Aus Ungarn nach Bayern: Ungarnflüchtlinge im Freistaat Bayern 1956-1973 379173184X, 9783791731841

Nach dem niedergeschlagenen Aufstand gegen das kommunistische Regime 1956 verließen rund 200.000 Personen Ungarn. Die Mo

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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Einleitung
1. Thema und Fragestellung
2. Forschungsstand
3. Methodisches Vorgehen und Quellenlage
4. Aufbau
II. Flucht aus Ungarn
1. Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg
2. Volksaufstand in Ungarn 1956
3. Vergeltungspolitik in der frühen Kádár-Ära
4. Flucht in den Westen
5. Ungarns Bevölkerungsverlust
6. Aufnahmestaaten und Statistiken
III. Auf dem Weg durch Bayern
1. Die Bundesrepublik Deutschland und Ungarn
2. Regierungsentscheidungen zur Aufnahme ungarischer Flüchtlinge
3. Transitland Bayern
3. 1. Durch Bayern in andere Länder der Bundesrepublik Deutschland
3. 2. Durch Bayern in den Westen
3. 3. Über die Luftbrücke von München nach Amerika
3. 4. Durch Bayern zurück nach Ungarn
IV. Aufnahmeland Bayern
1. Der Freistaat Bayern in den 1950er Jahren
2. Aufnahme von Ungarnflüchtlingen in Bayern
2. 1. Ankunft in Piding und Schalding
2. 2. Bedingungslose Kollektivaufnahme
3. Ungarnhilfe
3. 1. Hilfsgüter nach Ungarn
3. 2. Münchener Studenten als Flüchtlingshelfende an der Staatsgrenze zu Ungarn
3. 3. Hilfsmaßnahmen in Bayern
4. Arbeitsplätze, Wohnraum und Bildungsmöglichkeiten
4. 1. Arbeitsvermittlung
4. 2. Unterbringung in Notunterkünften, Heimen und Wohnungen
4. 2. 1. Wohnlager Wagenried bei Dachau in Oberbayern
4. 2. 2. Lager Voggendorf bei Feuchtwangen in Mittelfranken
4. 2. 3. Jugendheime und Wohnungen
4. 3. Bildungsangebote
4. 3. 1. Ungarisches Gymnasium Burg Kastl bei Amberg in der Oberpfalz
4. 3. 2. Integration in deutsche Klassen
4. 3. 3. Studenten
V. Gegenseitige Wahrnehmung
1. Medial vorgeprägtes Ungarnbild
2. Erste Eindrücke von den Ungarnflüchtlingen
2. 1. Unmittelbare Resonanz auf den Ungarnaufstand
2. 2. Begegnungen mit Ungarnflüchtlingen
3. Erste Eindrücke der Ungarn von Bayern
4. Missverständnisse, Schwierigkeiten und Konflikte
5. Altflüchtlinge und Neuflüchtlinge
5. 1. Der Weg der Altflüchtlinge nach Bayern
5. 2. Vernetzung durch Vereine
5. 3. Altflüchtlinge in der Eingliederungsarbeit
5. 4. Unterschiedliche Erziehung und Lebenserfahrungen
5. 5. Institutionalisierung der Pflege von Wissenschaft und Kultur Ungarns in Bayern
6. Die alte Heimat
VI. Zusammenfassung
VII. Anhang
1. Abkürzungsverzeichnis
2. Abbildungsverzeichnis
3. Tabellenverzeichnis
4. Quellenverzeichnis
4. 1. Ungedruckte Quellen
4. 2. Gedruckte Quellen
4. 3. Periodika
4. 4. Zeitzeugengespräche
5. Literaturverzeichnis
6. Personen- und Ortsnamenverzeichnis
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Rita Kiss Aus Ungarn nach Bayern Ungarnflüchtlinge im Freistaat Bayern 1956–1973

STUDIA HUNGARICA

Herausgegeben von

Zsolt K. Lengyel • Ralf Thomas Göllner • Horst Glassl (†) Band 56

Ungarisches Institut München e. V. Landshuter Straße 4, 93047 Regensburg

Rita Kiss

Aus Ungarn nach Bayern Ungarnflüchtlinge im Freistaat Bayern 1956–1973

Verlag Friedrich Pustet Regensburg

Redaktion: Ralf Thomas Göllner und Zsolt K. Lengyel mit Krisztina Busa

Der Druck wurde gefördert von:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar ISBN 978-3-7917-3184-1 © 2022 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlaggestaltung: www.martinveicht.de Umschlagmotiv: Die Verschmelzung der Steinernen Brücke (Regensburg) mit der Széchenyi Kettenbrücke (Budapest) sowie die Donau versinnbildlichen die traditionell engen Beziehungen zwischen Bayern und Ungarn, Regensburg und Budapest. Fotos und Idee: Ralf Thomas Göllner. Fotobearbeitung: Holger John Satz: Hungaricum – Ungarisches Institut der Universität Regensburg Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany 2022 Diese Publikation ist auch als eBook erhältlich: eISBN 978-3-7917-7300-1 (pdf) Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie auf www.verlag-pustet.de Kontakt und Bestellungen unter [email protected]

Inhaltsverzeichnis Vorwort

9

I.

Einleitung

11

1. 2. 3. 4.

Thema und Fragestellung Forschungsstand Methodisches Vorgehen und Quellenlage Aufbau

11 13 27 36

II.

Flucht aus Ungarn

39

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg Volksaufstand in Ungarn 1956 Vergeltungspolitik in der frühen Kádár-Ära Flucht in den Westen Ungarns Bevölkerungsverlust Aufnahmestaaten und Statistiken

39 45 50 52 56 59

III.

Auf dem Weg durch Bayern

63

1. 2.

Die Bundesrepublik Deutschland und Ungarn Regierungsentscheidungen zur Aufnahme ungarischer Flüchtlinge Transitland Bayern Durch Bayern in andere Länder der Bundesrepublik Deutschland Durch Bayern in den Westen Über die Luftbrücke von München nach Amerika Durch Bayern zurück nach Ungarn

64

3. 3. 1. 3. 2. 3. 3. 3. 4.

66 71 72 78 84 90

6

IV.

In h a l t s v e r z e i c h n i s

Aufnahmeland Bayern

1. 2. 2. 1. 2. 2. 3. 3. 1. 3. 2.

Der Freistaat Bayern in den 1950er Jahren Aufnahme von Ungarnflüchtlingen in Bayern Ankunft in Piding und Schalding Bedingungslose Kollektivaufnahme Ungarnhilfe Hilfsgüter nach Ungarn Münchener Studenten als Flüchtlingshelfende an der Staatsgrenze zu Ungarn 3. 3. Hilfsmaßnahmen in Bayern 4. Arbeitsplätze, Wohnraum und Bildungsmöglichkeiten 4. 1. Arbeitsvermittlung 4. 2. Unterbringung in Notunterkünften, Heimen und Wohnungen 4. 2. 1. Wohnlager Wagenried bei Dachau in Oberbayern 4. 2. 2. Lager Voggendorf bei Feuchtwangen in Mittelfranken 4. 2. 3. Jugendheime und Wohnungen 4. 3. Bildungsangebote 4. 3. 1. Ungarisches Gymnasium Burg Kastl bei Amberg in der Oberpfalz 4. 3. 2. Integration in deutsche Klassen 4. 3. 3. Studenten

101 101 104 107 111 122 122 129 133 145 145 156 157 165 167 168 170 188 194

V.

Gegenseitige Wahrnehmung

205

1. 2. 2. 1. 2. 2. 3. 4. 5. 5. 1. 5. 2. 5. 3.

Medial vorgeprägtes Ungarnbild Erste Eindrücke von den Ungarnflüchtlingen Unmittelbare Resonanz auf den Ungarnaufstand Begegnungen mit Ungarnflüchtlingen Erste Eindrücke der Ungarn von Bayern Missverständnisse, Schwierigkeiten und Konflikte Altflüchtlinge und Neuflüchtlinge Der Weg der Altflüchtlinge nach Bayern Vernetzung durch Vereine Altflüchtlinge in der Eingliederungsarbeit

206 210 210 215 225 231 250 253 255 256

In h a l t s v e r z e i c h n i s

5. 4. 5. 5.

7

6.

Unterschiedliche Erziehung und Lebenserfahrungen Institutionalisierung der Pflege von Wissenschaft und Kultur Ungarns in Bayern Die alte Heimat

260 263 264

VI.

Zusammenfassung

275

VII. Anhang

283

1. 2. 3. 4. 4. 1. 4. 2. 4. 3. 4. 4. 5. 6.

283 284 284 285 285 287 290 291 291 306

Abkürzungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis Quellenverzeichnis Ungedruckte Quellen Gedruckte Quellen Periodika Zeitzeugengespräche Literaturverzeichnis Personen- und Ortsnamenverzeichnis

Vorwort Vorliegende Arbeit wurde im März 2020 als Dissertation an der Fakultät für Geschichts- und Kulturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht und für die Drucklegung überarbeitet. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Ferdinand Kramer, der meine Forschungen stets gefördert hat. Prof. Dr. Margit SzöllösiJanze bin ich für die Übernahme des Zweitgutachtens und wertvolle Hinweise dankbar. Dem Deutschen Akademischen Auslandsdienst danke ich für die Gewährung eines Stipendiums, das mir die ersten Schritte bei der Forschungsarbeit finanziell ermöglichte. An den Direktor des Ungarischen Instituts der Universität Regensburg, Dr. habil. Zsolt K. Lengyel, geht mein besonderer Dank für die Aufnahme meiner Arbeit in die Buchreihe „Studia Hungarica“ und für das Lektorat. Florian Besold, dem Vorsitzenden der Bayerischen Volksstiftung und Präsidenten der Bayerischen Einigung e. V., danke ich für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung. Auch für die Druckbeihilfe aus Mitteln des Oskar-Karl-Forster-Stipendiums gilt mein herzlicher Dank. Darüber hinaus möchte ich mich bei allen Archivaren und Zeitzeugen bedanken, die meine Recherchen unterstützten und für die Lösung von offenen Fragen zur Verfügung standen. Meiner Nachbarin, Grace Pampus, danke ich für erste Korrekturvorschläge, und meiner besten Freundin, Dr. Kinga Szűcs, für die stetige Unterstützung bei der Fertigstellung der Arbeit. Mein abschließender Dank gebührt meiner Familie, meinem Mann, Harald Mathes, und unseren Kindern, Lili und Felix, die mich in all den Jahren motiviert und begleitet haben. Ihnen allen und meinen verstorbenen Großeltern ist diese Arbeit gewidmet. Schwabhausen (Oberbayern), April 2022

Rita Kiss

I. Einleitung 1. Thema und Fragestellung 1956, elf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, führte der Aufstand1 der Ungarinnen und Ungarn2 gegen das kommunistische Regime zu einer erneuten Krise im Zeitalter des Kalten Krieges. Zugleich verschärfte der Suez-Konflikt die Spannungen zwischen den vier Großmächten Frankreich, Großbritannien, den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion.3 Beide Ereignisse, der Ungarnaufstand und der Suez-Konflikt, wurden in der westlichen Öffentlichkeit als tiefgreifende Krisen wahrgenommen, was die Angst vor einem erneuten Weltkrieg schürte und die ohnehin vorhandene antikommunistische Stimmung in den westlichen Ländern verstärkte. Infolge des Ungarnaufstands flohen im Spätherbst 1956 täglich mehrere tausend Ungarn in das einzige nichtkommunistische Nachbarland Österreich sowie nach Jugoslawien.4 Radiosender und Tageszeitungen berichteten ausführlich über die ungarische Tragödie, die weltweit Solidarität hervorrief. Vor allem in der Bundesrepublik Deutschland wurden Erinnerungen an Flucht und Vertreibung in den Jahren ab 1945 wach. Die aus Ungarn geflohenen Ungarnflüchtlinge wurden als Helden des ungarischen Freiheitskampfes gefeiert. Allerdings rechnete wohl niemand damit, dass ihre Zahl die 200.000er Marke erreichen würde.5 Österreich und Jugoslawien konnten die Aufnahme so vieler Menschen alleine nicht bewältigten, so dass sie auf internationale Hilfe angewiesen waren. Weltweit bekundeten Staaten ihre Bereitschaft, eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland. Internationale 1

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Nachfolgend werden die Ereignisse vom 23. Oktober bis zum 4. November 1956 als Volksaufstand oder Ungarnaufstand bezeichnet. Zu weiteren Bezeichnungen jener zweiwöchigen Zeitspanne: Alföldy: Ungarn; Kende: Ungarn. Für die einfache Lesbarkeit verwendet diese Arbeit für die männliche und weibliche Form gleichermaßen die Ungarn. Das internationale Krisenjahr 1956. Eger: Krisen; Etschmann – Scheer – Schmidl: An der Grenze; Rauchensteiner: Spätherbst; Schmidl: Die erste Bewährung. Murber: Flucht; Soós: Ausztria és a magyar menekültügy 1956–1957; Stanek: Verfolgt.

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Einleitung

Hilfsorganisationen kümmerten sich um die Weiterreise in das jeweilige Zielland. Eine zentrale Rolle bei der Aufnahme und Weiterleitung der Ungarnflüchtlinge spielte der Freistaat Bayern. Drei der fünf bundesdeutschen Hauptaufnahmestellen lagen in Bayern, nämlich die Durchgangslager Piding bei Bad Reichenhall in Oberbayern, Schalding bei Passau in Niederbayern und Voggendorf bei Feuchtwangen in Mittelfranken.6 Als unmittelbarer Nachbar Österreichs war Bayern vor allem Transitland: Zwischen November 1956 und August 1957 überschritten etwa 90.000 Ungarnflüchtlinge die österreichisch-bayerische Staatsgrenze und wurden in andere deutsche Länder beziehungsweise Staaten der westlichen Welt weitergeleitet. Die Errichtung einer Luftbrücke ermöglichte es, dass gut 15.000 Ungarnflüchtlinge vom Flughafen München-Riem und vom Flugplatz München-Neubiberg in die USA, nach Kanada und Norwegen ausgeflogen werden konnten. 14.500 ungarische Flüchtlinge fanden in verschiedenen westdeutschen Ländern eine neue Bleibe, davon in Bayern 1.541, also ein gutes Zehntel (siehe Tabelle 2 und 6). Die Reaktionen auf die eintreffenden Ungarn und deren Wahrnehmung waren überaus positiv, was zunächst überrascht, denn der Umgang mit verschiedenen Gruppen von Neubürgern (Displaced Persons, Vertriebene, DDR-Flüchtlinge und Gastarbeiter) war in den westlichen Besatzungszonen, in der frühen Bundesrepublik Deutschland und im Freistaat Bayern alles andere als konfliktfrei. Die Ungarnflüchtlinge genossen allerdings besonderes Entgegenkommen. Woher kam dieses Wohlwollen, und wie wirkte es sich auf die Wahrnehmung durch die Einheimischen aus? Diese Arbeit untersucht, unter welchen Umständen die Integration der Ungarn in Bayern gelingen konnte beziehungsweise erschwert war. Des Weiteren geht sie den Fragen nach, wie die Ungarnflüchtlinge agierten, wie Staat und Politik sowie die bayerische Bevölkerung in den ausgehenden 1950er Jahren auf die Aufnahme der Ungarnflüchtlinge reagierten und welche staatlichen sowie nichtstaatlichen Maßnahmen die Eingliederung förderten beziehungsweise verzögerten.

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Die anderen beiden waren Bocholt (Nordrhein-Westfalen) und Friedland (Niedersachsen).

Fo r s c h u n g s s t a n d

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2. Forschungsstand Der Ungarnaufstand gegen die kommunistische Regierung beziehungsweise die sowjetische Besatzungsmacht, der mit einer Demonstration am 23. Oktober 1956 begonnen hatte und am 4. November 1956 endete, löste mit seiner Niederschlagung eine Emigrationswelle aus, während der etwa 200.000 Ungarn ihre Heimat verließen. Unmittelbar danach bezeichnete das nach János Kádár7 benannte Regime die Ereignisse als »Konterrevolution«8 und tabuisierte das Thema, so dass eine historische Aufarbeitung in Ungarn bis zur politischen Wende 1989/1990 kaum möglich war.9 Die ersten Untersuchungen über die ungarischen Exilanten wurden in den 1960er Jahren in den USA,10 in Kanada,11 in der Schweiz,12 in Öster-

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War seit 1945 Mitglied des Politbüros, von 1948 bis 1950 Innenminister. Nach seiner Amtsenthebung wurde er aus der Partei ausgeschlossen, 1954 jedoch rehabilitiert. 1956 war er Mitglied der Regierung von Imre Nagy, bildete aber im November 1956 eine Gegenregierung und bat um sowjetische militärische Intervention. 1956–1988 war er Generalsekretär der Staatspartei, 1956–1958 und 1961–1965 zudem Ministerpräsident. Kádár war 32 Jahre lang an der Macht; schon zu seinen Lebzeiten wurde diese Epoche nach ihm als Kádár-Ära benannt. Romsics: Magyarország, 401–402. Die konterrevolutionäre Verschwörung von Imre Nagy und Komplizen. Die Geschehnisse öffentlich als Revolution zu bezeichnen, wurde geahndet, Aufständische mussten mit Bestrafung rechnen. Das Kádár-Regime bezeichnete die Flucht aus Ungarn als unberechtigten Grenzübertritt, eben als strafbare Handlung. In der Alltagssprache verwendete man das Verb dissidieren für das Verlassen der Heimat und das Nomen Dissident für die Menschen, die aus der Heimat flüchteten. (Lendvai: Leben, 11.) Die ungarische Regierung im Dezember 1956 sicherte jenen, die bis zum 31. März 1957 freiwillig nach Ungarn zurückkehrten, eine Amnestie zu. Dennoch kamen nicht alle Heimkehrer ohne Strafe davon. Vgl. Robert: Mindennek ellenére. Weinstock: Acculturation. Cnossen: Integration. Pintér: Wohlstandsflüchtlinge. Als Flüchtlingsarzt beschrieb Pintér Ungarnflüchtlinge, die 1956–1963 in der Schweiz in staatliche oder private Kliniken, Anstalten und Sanatorien eingewiesen worden waren. Es handelte sich dabei nicht nur um Kranke, sondern auch um schwer integrierbare Personengruppen, etwa straffällig gewordene Flüchtlinge. Psychische Erkrankungen reichten von Alkoholabhängigkeit bis zu Verhaltensauffälligkeiten. Diese internierten Ungarnflüchtlinge machten ein Fünftel aller Kranken in der Schweiz aus, wodurch der Problematik der Anpassungsschwierigkeiten ausländischer Arbeitskräfte große Bedeutung beigemessen wurde.

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Einleitung

reich13 und in der Bundesrepublik Deutschland14 durchgeführt. Diese Studien legen den Schwerpunkt auf die erste Phase der Integration unmittelbar nach der Ankunft. Sie verarbeiten Umfragen sowie Interviews und betonen das Anderssein der Ungarn, außerdem die Schwierigkeit ihrer Eingliederung, wobei sie zugleich darauf hinweisen, dass die Integration ein langjähriger Prozess war. 1960 erschien das Buch „Heimatlos in der großen Welt“ von Miklós Szabó, welches das Schicksal der Ungarnflüchtlinge in den jeweiligen Aufnahmeländern auf der ganzen Welt behandelt. Wie der Titel suggeriert, ging es hier um die Schilderung der Integrationsprobleme der Landesflüchtigen, was auch als Motivation für die Rückkehr nach Ungarn dienen sollte.15 Sicherheitspolitische Probleme in Verbindung mit den Ungarnflüchtlingen an der österreichisch-ungarischen Grenze sowie der erste österreichische Bundesheereinsatz, der die Gefahr einer Eskalation des Ost-WestKonflikts in sich barg, rückten erst in den 1980er Jahren in den Mittelpunkt der Forschungen.16 Österreich war das erste Land, das mit den Ungarnflüchtlingen konfrontiert wurde. Zahlreiche Studien mit jeweils unter-

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Kern: Österreich. Hans Strotzka, Psychoanalytiker, Gründer der Universitätsklinik für Tiefenpsychologie und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Wien, wurde mit der Leitung der psychohygienischen Arbeitsgruppe für Ungarnflüchtlinge beauftragt. 1958 kam über die zweijährige Tätigkeit dieser Arbeitsgruppe ein Bericht heraus, in dem unter anderem über die Betreuung und Verpflegung der ungarischen Neuankömmlinge sowie über die Schwierigkeit der Koordination der österreichischen und internationalen Hilfsorganisationen berichtet wurde. Hoff – Strotzka: Die psychohygienische Betreuung. Sebode: Ungarische Flüchtlinge. Szabó: Heimatlos. Der Verfasser war im Jahr 1955 Flüchtling in Österreich, 1957 Rückkehrer und veröffentlichte 1960 seine Erfahrungen. Zu ihm und seinem Werk siehe Kapitel V. 6. Im Fokus der Studien steht neben der Rolle Österreichs als Erstaufnahmeland auch die Sicherheitspolitik des neutralen Landes, das ein Jahr zuvor seine Souveränität wiedergewonnen hatte. Thematisiert wurde die Herausforderung des ersten Einsatzes des eben erst in Aufstellung befindlichen österreichischen Bundesheeres an der ungarisch-österreichischen Grenze. Dieses Heer wäre im Spätherbst 1956 bereit gewesen, die Unabhängigkeit Österreichs vor einem eventuellen sowjetischen Angriff oder vor einem erneuten Einmarsch sowjetischer Besatzungstruppen zu verteidigen. Vgl. Eger: Krisen; Etschmann – Scheer – Schmidl: An der Grenze; Rauchensteiner: Spätherbst; Schmidl: Die erste Bewährung; Soós: 1956 és Ausztria; Vom Traum zum Trauma. Zur Handhabung der Neutralität durch die österreichische Regierung vgl. Wohnout: Die Haltung.

Fo r s c h u n g s s t a n d

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schiedlichen Schwerpunkten behandeln dieses Thema.17 Eduard Stanek, damals Hofrat im Innenministerium Oskar Helmers, schildert die Aufgaben des Erstasyllandes Österreich wie die Aufnahme der Ungarn an der Grenze, Bereitstellung von Notunterkünften sowie die Organisation der Weiterreise in Drittländer. Im Mittelpunkt stehen staatliche Maßnahmen für die Integration verschiedener Gruppen wie Kinder, Jugendliche (Schüler, Studenten sowie Lehrlinge) und Erwerbsfähige. Stanek unterstreicht die Rolle Österreichs, das in einer politisch brisanten Situation die Herausforderung von Aufnahme und Weiterleitung von fast 200.000 Ungarn in kurzer Zeit meisterte.18 Aus ungarischer Sicht bedeutete die Flucht von etwa zwei Prozent der damaligen Einwohnerschaft Ungarns einen Bevölkerungsverlust, über den man vor 1989 kaum gesprochen hat.19 Der Exilungar Gyula Borbándi20 legte noch vor 1989 eine umfassende Darstellung der Geschichte des ungarischen Exils in der westlichen Welt zwischen 1945 und 1985 vor, die als Grundlagenwerk der ungarischen Emigrationsgeschichte gilt.21 Kázmér Nagy, Verleger der Exilzeitschrift „Független Magyarország“ (Unabhängiges Ungarn) in Sidney, befasste sich vornehmlich mit dem ungarischen politischen Exil im Westen. Seine langjährige Tätigkeit als Journalist ge-

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Vgl. zum Aspekt der Neutralität Österreichs und zur Frage von deren Vorbildcharakter für Ungarn: Mlynar – Heinrich – Kolfer – Stankovsky: Die Beziehungen; Gehler: The Hungarian Crisis. Da die Studie die Geschichte aller Flüchtlinge in Österreich von 1945 bis 1983 umfasst, als rund zwei Millionen Menschen über Österreich in die freie Welt gelangten, sind die Ungarnflüchtlinge nur eine kurze Episode. Stanek, der seit 1946 in der Flüchtlingsabteilung des Bundesministeriums für Inneres und ab 1960 als Geschäftsführer des Flüchtlingsfonds der Vereinten Nationen tätig war, zeigt die Bewältigung der Flüchtlingsproblematik aus Sicht des Staates auf. Stanek: Verfolgt. Vgl. Deák: Adatok; Murber: Arcok; Puskás: Elvándorlások; Soós: 1956-os menekültek; Szabó: Egy millióval kevesebben. Publizist, Historiker, Redakteur, verließ Ungarn 1949 aus politischen Gründen. Nach zweijährigem Aufenthalt in der Schweiz lebte er in München und arbeitete beim Sender Freies Europa. Er war Mitbegründer und einer der Chefredakteure der in München erschienenen ungarischen Exilzeitschrift „Látóhatár“ (Horizont, ab 1951), später „Új Látóhatár“ (Neuer Horizont, bis 1989), eines der bedeutendsten Foren der ungarischen schöngeistigen und kulturpolitischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunders. Vgl. … Elvégeztem, amire rendeltettem. Borbándi: A magyar emigráció. Zu bedeutenden exilungarischen Persönlichkeiten: Borbándi: Emigránsok.

16

Einleitung

währte ihm dabei einen umfassenden Einblick in dessen publizistischen Tätigkeiten.22 Die politische Wende 1989/1990 ermöglichte die systematische Quellenbearbeitung sowohl in Ungarn als auch in der Sowjetunion und führte in der Forschung zu einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit. Das ungarische Parlament, das 1990 nach vierzig Jahren zum ersten Mal wieder frei gewählt wurde, begann seine Tätigkeit mit einer symbolisch wirkmächtigen Handlung: Es erklärte den 23. Oktober, den Tag, an dem 1956 der Aufstand ausbrach und die 1989 freie Ungarische Republik ausgerufen wurde, zum Nationalfeiertag.23 Somit wurde ein Neubeginn für die Aufarbeitung der Vergangenheit und eine Grundlage für eine neue Erinnerungskultur geschaffen.24 Ab den frühen 1990er Jahren behandelte das Dokumentations- und Forschungsinstitut für die Geschichte der Ungarischen Revolution 1956 die ungarische Nachkriegszeit von 1945 bis 1990 mit Schwergewicht auf den Volksaufstand 1956. Zu den runden Jahrestagen abgehaltene internationale Konferenzen rückten die Thematik in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit.25 Neben der politischen Geschichte des ungarischen Volksaufstands gelangten immer mehr Akteurinnen und Akteure26 in den Fokus der Forschung. Während in erster Linie Amtsträger und politisch Aktive beziehungsweise Aufständische im Mittelpunkt standen, stieg das Interesse nach und nach auch an den abertausenden Geflüchteten und deren Lebenswegen. In 18 europäischen und 22 außereuropäischen Staaten fanden Ungarn eine neue Heimat.27 Károly Gaál, 1956 selbst aus Ungarn geflohen, stellte den Einsatz der burgenländischen Bevölkerung bei der Rettung und Betreuung der Ungarnflüchtlinge in den Mittelpunkt seiner Forschungen, welche die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Burgenländer hervorhoben.28 Peter Haslinger beschrieb die vielschichtige Herausforderung der Flüchtlingsaufnahme 22 23 24 25 26

27 28

Nagy: Elveszett alkotmány. Die ungarische Revolution 1956, 13. Vgl. Horel: Die Revolution. Eine umfassende Liste der Fachliteratur: Ungarn 1956. Zeitgeschichte online. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die gleichzeitige Verwendung weiblicher und männlicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beide Geschlechter. Kastner: Die Ungarnflüchtlinge, 88. Gaál: Einleitung zur Dokumentation.

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17

in Österreich.29 Das Buch von Wolfgang Bachkönig, dessen Eltern aus dem deutschsprachigen Dorf Wolf in der Nähe (heute Teil) von Ödenburg vertrieben worden waren und sich 1949 in Rust am Neusiedler See niedergelassen hatten, basiert auf Erzählungen. Ungarnflüchtlinge und Akteure der Gendarmerie, des Bundesheeres, der Zollwache sowie des Roten Kreuzes, der Malteser und anderer Hilfsorganisationen beschreiben, was an der österreichisch-ungarischen Grenze unmittelbar vor und nach dem Ungarnaufstand geschah. Durch zahlreiche Facetten werden Themen wie Österreich als Tor zu Sicherheit und Freiheit, die Hilfsbereitschaft und Solidarität der Grenzbevölkerung, die plötzliche Aufnahme sehr vieler Menschen, Ängste und Sorgen der Einsatzkräfte im grenznahen Gebiet sowie Tragödien bei der Flucht häufig pathetisch dargestellt. Sowohl der persönliche Bezug – als Sohn einer vertriebenen volksdeutschen Mutter –, als auch sein Beruf als Polizeibeamter im burgenländischen Gebiet haben Bachkönig geprägt und motiviert, diese Gedenkschrift herauszugeben.30 Mit der Aufnahme der Ungarnflüchtlinge in Vorarlberg und Liechtenstein befasste sich Ibolya Murber. Sie konzentrierte sich auf behördliche Maßnahmen auf Vorarlberger Landes- und österreichischer Bundesebene, indem sie das noch unerforschte Quellenmaterial über die Ungarnflüchtlinge im Vorarlberger Landesarchiv in Bregenz und im Liechtensteiner Landesarchiv untersuchte.31 Alexandra Haas beschrieb die Schicksale der Ungarnflüchtlinge in Tirol von 1945 bis 1956 anhand der Biografie von György Szentkereszty, der im Rahmen der Marianischen Kongregation in Innsbruck eine Gastfamilienaktion für ungarische Flüchtlingskinder durchführte. Dabei nahmen 110 Familien 113 ungarische Kinder auf, die aus den Wiener Auffanglagern abgeholt wurden.32 Dieses Engagement der 29 30 31

32

Haslinger: Zur Frage. Bachkönig: Ungarnaufstand. Murber: Flucht. Mit Hilfe der von den Vorarlberger Ämtern über die ungarischen Flüchtlinge erstellten Personalkarteien sowie der statistischen Erhebungen des österreichischen Ministeriums für Inneres und des Berichts des ungarischen Zentralen Statistischen Amtes über die 1956er Dissidenten gibt die Verfasserin einen Überblick über die Geschlechterverteilung, Familien-, Alters- und Berufsstruktur, außerdem über die Religionszugehörigkeit. Sie untersucht auch die Rolle Österreichs als Transitland bis zur Weiterreise der Ungarn in europäische und außereuropäische Staaten. Ihre Erkenntnisse auf der österreichischen Landesebene verglich sie mit dem Nachbarland Liechtenstein. Szentkereszty war 1949 aus der Bischofsstadt Kalocsa (Mittelungarn) nach Österreich geflüchtet, lebte seit 1955 in Innsbruck und war (damals) Mitglied des Jesuitenordens, dessen Einrichtung, die Marianische Kongregation, er seit 1955 leitete. Der wichtigste

18

Einleitung

Tiroler Bevölkerung war eine bedeutende Voraussetzung für die Integration der Flüchtlinge.33 Die geografische Lage der Steiermark, die besonders von den Fluchtbewegungen über Jugoslawien nach Österreich betroffen war, stellte Edda Engelke ins Blickfeld ihrer regionalhistorischen Studie.34 Sie wertete die Akten der Sicherheitsdirektion der Steiermark aus den Jahren 1956/1957 aus, in denen die konkreten Maßnahmen für die Aufnahme, Unterbringung und Weiterleitung der Ungarnflüchtlinge auf der steiermärkischen Landesebene dargelegt wurden. Besonderes Augenmerk legte Engelke auf die Betreuung der minderjährigen Ungarn ohne Begleitung, die einerseits nicht gehindert wurden, nach Hause zu ihren Eltern zurückzukehren, andererseits aber auch das Recht hatten, frei über ihr Schicksal zu entscheiden und weiterzureisen.35 1997 fasste Ernő Deák anlässlich einer Ausstellung in den Räumen des Zentralverbandes Ungarischer Vereine und Organisationen in Österreich die Geschichte der ungarischen Mittelschulen in Österreich nach 1956 zusammen.36 Das Schicksal der ungarischen Jugendlichen bot sich András Lénárt als Untersuchungsthema an, da etwa 1.000 ungarische Schüler die ungarischen Gymnasien in Österreich besucht und erfolgreich mit einem Abitur abgeschlossen hatten.37 Ferner schilderte Lénárt die Erlebnisse ehemaliger ungarischer Studenten beim ersten Besuch in Ungarn in den 1960er Jahren. Als österreichische Staatsbürger mit einem österreichischen Pass, der auch die Ausreise aus Ungarn gewährleistete, kehrten die ungarischen Exilanten zum ersten Mal seit ihrer Flucht in die Heimat zurück. Trotz der Angst vor den Grenzkontrollen freuten sich die Ungarn voller Erwartungen auf das Wiedersehen mit ihrer Familie.38 Neben der Rolle Österreichs als Vermittlungsstelle für die Weiterreise in andere Länder39 wurden auch die Überforderung und die Belastung des

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Ansprechpartner ungarischer Flüchtlinge in Innsbruck war Oberregierungsrat Hanns Inama-Sternegg, zuständig für das Flüchtlingswesen in der Tiroler Landesregierung. Alföldi: Ungarische Flüchtlingsschulen, 69–73; Haas: Ungarn in Tirol, 55–59, 93–109. Haas: Ungarn in Tirol, 7–10. Engelke: »Einem besseren Leben entgegen?« Engelke: Die Aufnahme. Deák: Ungarische Mittelschulen. Lénárt: 1956-os diákok; Lénárt: Deutschland-Varianten. Lénárt: Újra »otthon«. Cseresnyés: Ötvenhatosok; Soós: 1956 és Ausztria; Soós: Ausztria; Sós: Magyar exodus.

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Landes durch die andauernde Ausnahmesituation thematisiert, die durch hohe Kosten der Flüchtlingsbetreuung, ausgelastete Beherbergungskapazitäten und erschwerte Weiterreisemöglichkeiten auftraten, so dass die gesellschaftliche Akzeptanz ungarischer Flüchtlinge in Frage gestellt wurde.40 Georg Kastner untersuchte die Rolle der UNO und von deren Organisationen bei der Handhabung des ungarischen Flüchtlingsproblems. Dabei zog er im Dschungel der statistischen Daten über die Flüchtlingszahlen eine klare Linie.41 Mit den Auswanderungen aus Ungarn in die USA befasste sich Julianna Puskás.42 Über die Ungarn, die sich im mittleren Westen der Vereinigten Staaten niedergelassen hatten, führte Balázs Balogh eine volkskundliche Untersuchung durch, in der er den Integrationsprozess der Ungarnflüchtlinge von 1956 in Amerika analysierte. In den Fokus seiner Studie stellte der Verfasser die Motivation zur Flucht, die Bindung zur ungarischen Kultur und zu ungarischen Altexilanten sowie den Umgang der Einheimischen mit den ungarischen Einwanderern, die er mit Schilderungen einzelner Lebenswege exemplarisch veranschaulichte.43 Michael Walther beschäftigte sich mit der Schweizer Flüchtlingspolitik und plädierte dafür, die gruppenweise Aufnahme von Flüchtlingen wieder zu einem festen Bestandteil der Schweizer Asylpolitik zu machen. Erfolgsgeschichten von ehemaligen Flüchtlingen aus Ungarn, Somalia, Tibet, Chile, der Tschechoslowakei, dem Iran, Vietnam, Polen und Bosnien sollten dieses Ziel unterstützen. Da im Falle der Ungarn innerhalb von zwei bis acht Wochen eine Arbeitsaufnahme erreicht worden war und es diesbezüglich keine Probleme gab, folgerte Walther, dass weitere Forschungsanreize nicht bestünden.44 Im Gegensatz dazu thematisierte Urban Stäheli den Verlauf der Akkulturation der in der Schweiz lebenden Ungarn und verglich die emigrationsspezifischen Probleme mit jenen anderer Flüchtlingsgruppen.45 Der auf Zeitzeugeninterviews gestützte, von Georg Zabratzky herausgegebene Sammelband beschreibt individuelle Erfahrungen 40

41 42 43 44 45

Rásky: »Flüchtlinge haben auch Pflichten«; Stajiċ: Ungarn; Zierer: Willkommene Ungarnflüchtlinge. Kastner: Die Ungarnflüchtlinge. Puskás: Kivándorló magyarok; Puskás: Elvándorlások; Puskás: Ties That Bind. Balogh: Az 1956-os menekültek. Sie waren einst Flüchtlinge. Stäheli: »Zu Hause, aber nicht daheim.«

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der Ungarnflüchtlinge in der Schweiz, wobei er einerseits deren Sicht, andererseits jene der Schweizer Studenten bei der Unterstützung der Hilfsaktion einbezieht.46 Tamás Kanyó bearbeitete mit Hilfe der Oral HistoryMethode die Lebenswege von 21 in der Schweiz aufgenommenen Ungarn. Als Ergebnis hebt er die Gemeinsamkeiten der individuellen Erlebnisse vor der Flucht in Ungarn, während und nach der Flucht in die Schweiz hervor. Auch wenn diese nicht unbedingt gemeinsam auftraten, stellen sie innerhalb der Flüchtlingsgruppe ein verbindendes Band dar.47 In einem Aufsatz über die ungarische Emigration in die Schweiz 1956 thematisierte Brigitte Mihok den Umschwung der damaligen zurückhaltenden schweizerischen Asylpraxis aufgrund der Aufnahme des größten Kontingents an Ungarnflüchtlingen im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl.48 Die Entscheidung des Bundesrates über die sofortige Einreise von zunächst 4.000, dann insgesamt etwa 12.500 Ungarn aus Österreich war nur mit einer breiten Zustimmung der Schweizer Bevölkerung möglich. Landesweit genossen die Ungarn große Sympathie und Solidarität, unterstützt durch die schweizerische Medienberichterstattung, die der Thematik breiten Raum gab. Die Niederschlagung des »ungarischen Freiheitskampfes« veranlasste die Schweiz zur Aufrüstung und Verstärkung der Landesverteidigung und bestärkte die Regierung bei der Ablehnung der Mitgliedschaft in der UNO und der Beibehaltung ihrer Neutralität.49 Tiphaine Robert widmete sich hauptsächlich der West-Ost-Bewegung und untersuchte die Rückkehr ungarischer Flüchtlinge aus der Schweiz. Die entsprechenden Diskurse analysierte sie anhand zeitgenössischer ungarischer und schweizerischer Zeitschriften, der Berichte des ungarischen Gesandten in der Schweiz sowie von Interviews mit Heimkehrern.50 Trotz der Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen kehrten viele Ungarn zurück, was die ungarische Regierung mit einer aktiven Propaganda unterstützte. Die Heimkehr nach Ungarn steht auch im Mittelpunkt der Studie von Juliet Szabó über die Po46 47 48 49

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Flucht in die Schweiz. Kanyó: 56-os menekültek Svájcban. Mihok: Die ungarische Emigration. Im Gegensatz zu den deutschen benutzten die schweizerischen Printmedien für die ungarischen Ereignisse einheitlich den Begriff Freiheitskampf. Die „Süddeutsche Zeitung“ benutzte abwechselnd die Begriffe Aufstand, Bürgerkrieg oder Freiheitskampf. Mihok: Die ungarische Emigration, 796. Robert: Magyar menekültek; Robert: Mindennek ellenére.

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litik der Kádár-Regierung bezüglich Förderung und Beurteilung der Rückkehrer beziehungsweise ihrer gezielten Instrumentalisierung.51 Über die Ungarnflüchtlinge in den Niederlanden liegt eine Magisterarbeit von Jan-Willem Ten Doesschate vor.52 Zudem beschäftigte sich Marjoleine Zieck mit den juristischen Regelungen für den Status der Flüchtlinge von 1956.53 Gusztáv D. Kecskés untersuchte die Hintergründe der internationalen Aufnahme der Ungarnflüchtlinge, die seiner Ansicht nach maßgeblich sowohl zur schnellen Weiterleitung aus den Erstaufnahmeländern als auch zur erfolgreichen Aufnahme in Drittstaaten beigetragen haben.54 Hier erwähnt er nicht nur die Anfänge des wirtschaftlichen Aufschwungs sowie eine breite Unterstützung durch die westliche Gesellschaft, sondern auch die Kooperation der Institutionen von NATO und UNO, welche die Integrationschancen der Ungarn vermutlich wesentlich verbesserte. Im Mittelpunkt der Forschungen von Kecskés standen auch die Beziehung zwischen Frankreich und Ungarn, die Auswirkungen des Ungarnaufstandes auf die französische Politik sowie die Aufnahme der Ungarn in Frankreich.55 Zu den Ungarnflüchtlingen in Westdeutschland liegen die Ergebnisse einiger systematischer Forschungen vor. Die zeitgenössische Untersuchung von Gerhard Sebode wurde zwei Jahre nach der Ankunft der Ungarn in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt.56 An der Befragung nahmen 150 männliche Ungarn zwischen 18 und 30 Jahren teil – überwiegend Arbeiter im Ruhrgebiet, aber auch Studenten in größeren deutschen Städten. Da die Befragten lange Zeit in einem autoritären Staat mit weitreichender Kontrolle des persönlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens gelebt hatten, weigerten sie sich häufig aus Angst vor möglichen Repressalien, Auskünfte zu geben. Sebode zeigte die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensumstände in Ungarn auf und stellte unter den Flüchtlingen eine erhebliche, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Aversion gegen

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Szabó: »…s várja eltévedt fiait is.« Doesschate: Het Nederlandse; Doesschate: Ungarnflüchtlinge. Zieck: The 1956 Hungarian Refugee. Kecskés: A francia diplomácia; Kecskés: Egy humanitárius csoda; Kecskés: Die Aufnahme. Kecskés: A francia diplomácia; Kecskés: Franciaország. Sebode: Ungarische Flüchtlinge.

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Russen fest.57 Die befragten Ungarn kamen ursprünglich aus allen Schichten der Bevölkerung; die Mehrheit von ihnen gab an, in irgendeiner Form am Aufstand beteiligt gewesen zu sein. Der Möglichkeit zur Rückkehr beraubt, waren sie bereit, in Deutschland zu bleiben und sich in die Wirtschafts- und Sozialordnung zu integrieren. Allerdings nahmen sie bis 1958 nicht am politischen Leben in Deutschland teil. Überrascht stellte Sebode fest, dass die meisten Befragten trotz kommunistischer Erziehung wenig Kenntnisse über den dialektischen Materialismus hatten. Obwohl sie den Kommunismus verurteilten, bewerteten sie »die ›sozialistischen Errungenschaften‹ durch den ›sozialistischen Staat‹« durchweg positiv.58 Einen Überblick über die ungarische Emigrationswelle in die Bundesrepublik Deutschland gibt die Magisterarbeit von Sándor Csík, die sich auf Hamburg konzentriert. Die Integration der etwa 600 in Hamburg aufgenommenen Ungarnflüchtlinge wurde durch ihre kommunistische Erziehung und Unkenntnis über den Westen erschwert. Die Anpassung an das wirtschaftliche Leben und die gesellschaftlichen Normen verlief mühselig. Laut Csík könne die Eingliederung nur als Scheineingliederung betrachtet werden, da die Ungarn in Hamburg zwar materielle Sicherheit genossen, aber ihre kulturelle und soziale Geborgenheit vermissten. Sie waren also nicht integriert, sondern eher heimatlos.59 Über die seit 1945 bestehenden ungarischen Schulen in Westdeutschland, die Vorgängereinrichtungen des 1958 gegründeten Ungarischen Gymnasiums in der Gemeinde Kastl (bei Amberg, Bayern, Oberpfalz), verfasste Lajos Koncz eine Monografie.60 Ferenc Cseresnyés beschäftigte sich in einer Studie mit dem Schicksal ungarischer Flüchtlingsstudenten in Westdeutschland. Diese stützt sich auf einen Bericht des Deutschen Bundesstudentenringes vom 15. Februar 1958 an das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, in dem auf 40 Seiten 57

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Die ungarische Revolution von 1848 mündete 1849 in den antihabsburgischen Freiheitskampf, der mit Hilfe des zaristischen Russland niedergeschlagen wurde. Der ungarische Nationalfeiertag am 15. März erinnert an den Ausbruch der Revolution 1848. Deren heldenhaften Teilnehmern Lajos Kossuth, István Graf Széchenyi, Sándor Petőfi und (dem polnischen General) Józef Bem kam im Ungarnaufstand 1956 eine symbolische Funktion zu. Ebenda, 13, 83. Ebenda, 85. Csík: Die Flüchtlingswelle. Der Verfasser zog Akten des Staatsarchivs Hamburg und vorwiegend Artikel zeitgenössischer Tageszeitungen und Zeitschriften heran. Koncz: … az írás megmarad.

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mit zehn statistischen Tabellen Familienstand, Religionszugehörigkeit, Altersstruktur, Personalangaben, vorherige Ausbildung (Abitur, absolvierte Hochschulsemester) und Beruf des Vaters der Flüchtlingsstudenten analysiert werden. Da die Bundesrepublik Deutschland 1956/1957 die meisten ungarischen Studenten, nämlich insgesamt 1.136 Personen aufnahm und ihnen mit Stipendien das Weiterstudieren ermöglichte, waren die Chancen zur Fortführung eines Studiums in Westdeutschland so günstig, dass auch viele Ungarn in der Bundesrepublik Deutschland studieren wollten, die bereits in Drittländern aufgenommen worden waren.61 Mit den bilateralen Beziehungen und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn beschäftigten sich Andreas Schmidt-Schweizer und Tibor Dömötörfi.62 Schmidt-Schweizer untersuchte die Rolle der ungarischen Exilanten in den Wechselbeziehungen beider Staaten, wobei er für den Zeitraum bis 1973, also vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, keine wesentliche Rolle des ungarischen Exils in Westdeutschland feststellte.63 Zudem befasste sich Schmidt-Schweizer mit der Aufnahme der Ungarnflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland, wobei er besondere Faktoren herausarbeitete, die seiner Ansicht nach maßgeblich zur erfolgreichen kurz- und langfristigen Integration der Ungarn beitrugen. Als ersten Faktor nennt Schmidt-Schweizer die Anzahl der Ungarnflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland, die mit etwa 14.500 Personen relativ klein war. Als zweiten Faktor gibt er die soziale und berufliche Schichtung der Flüchtlinge an: Der Umstand, dass sie junge Männer waren, die eine abgeschlossene Berufsausbildung oder bereits Berufserfahrungen in der metallverarbeitenden Industrie, dem Bergbau und dem Handwerk hatten, begünstigte ihre Eingliederung in die bundesdeutsche Wirtschaft. Drittens spielten der Sympathiefaktor und die große Hilfsbereitschaft der westdeutschen Bevölkerung bei der schnellen Aufnahme der Ungarnflüchtlinge eine große Rolle. Viertens zählt Schmidt-Schweizer den Integrationswillen der Ungarnflüchtlinge auf, fünftens den europäischen kulturellen Hintergrund. Beim letzteren waren die seit Jahrhunderten bestehenden wirtschaftlichen, 61 62

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Cseresnyés: Magyar egyetemisták. Schmidt-Schweizer – Dömötörfi: Adenauer; Schmidt-Schweizer – Dömötörfi: A magyar– nyugatnémet kapcsolatok. Schmidt-Schweizer: Ungarndeutsche.

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kulturellen und persönlichen Bindungen zwischen Deutschland und Ungarn maßgeblich.64 Die ungarische Flüchtlingsaufnahme in Bayern im Jahr 1956 stellen Ferenc Majoros und Bernd Rill in ihrem Band über die Geschichte der elfhundertjährigen Beziehungen zwischen Bayern und Ungarn kurz dar. Sie heben das Ausbleiben der militärischen Hilfe des Westens hervor. Im Hinblick auf westliche Unterstützungsmaßnahmen stellte auch die Suez-Krise, die sich zeitlich parallel zum Ungarnaufstand zu einem Konflikt der Supermächte entwickelte, ein Hindernis dar. Westliche Unterstützung erfolgte erst, als die Ungarn die Grenzen zu Österreich und zu Jugoslawien überschritten hatten. Über die Hilfsbereitschaft der Bayern, die Ausreise in die USA im Rahmen der Operation Sicherer Hafen, das Ungarische Gymnasium in Burg Kastl und die Integration der Ungarn in Bayern erfährt man zwar einige Details, jedoch leider ohne nachvollziehbare Quellenangaben. Dennoch leisten diese knappen Ausführungen erste Orientierungshilfe.65 Die bayerische Landesausstellung 2001 „Bayern und Ungarn. Tausend Jahre“66 brachte die bayerisch-ungarischen Beziehungen auch in zeithistorischer Perspektive in den Fokus der Öffentlichkeit. Als Asylland hatte Bayern seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die ungarische Präsenz im Freistaat gefördert. 1944/1945 hatten viele Ungarn die erste Flucht angetreten, die kommunistische Machtübernahme 1947/1948 löste die zweite aus, so dass man 1956 von der dritten ungarischen Flüchtlingsbewegung sprach. Die Landesausstellung stellte sowohl die Wirkung der deutschen Unterhaltungsfilme, die ein klischeehaftes Ungarnbild verbreitet hatten, als auch die sportlichen Leistungen der Ungarn kurz dar.67 2008, zum 850. Jahrestag der Gründung Münchens, erschien ein Sammelband mit 16 Beiträgen zur Geschichte der Wechselbeziehungen zwischen Ungarn und Bayern beziehungsweise von deren Hauptstädten. Er behandelt die jahrhundertelange Beziehungsgeschichte beider Länder von den Verbindungen der bayerischen Dynastie der Wittelsbacher mit Ungarn bis hin zu den bayerisch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen in der Gegenwart exemplarisch, anhand vieler Stationen, in einem breiten Themen64 65 66 67

Schmidt-Schweizer: »Bevorzugte Behandlung.« Majoros – Rill: Bayern. Bayern – Ungarn. Tausend Jahre. Lankes: Stationen; Lengyel: Stationen.

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spektrum.68 Gyula Borbándi beschreibt darin die Organisation und Tätigkeit des Senders Radio Freies Europa (Radio Free Europe/Radio Liberty), der ab 1951 seine Programme von München aus hinter den Eisernen Vorhang sendete.69 Über die Ungarnflüchtlinge in Bayern fehlen bislang systematische Studien. Einzig der Aufsatz des Kreisheimatpflegers Michael Schmiedberger schildert am Beispiel des Zeitzeugen Pál Takács die Integration eines ungarischen Flüchtlings in Bayern. Hier steht ein aktiv am Ungarnaufstand Beteiligter im Mittelpunkt, wobei die Suche nach weiteren Ungarnflüchtlingen auf den Landkreis Aichach-Friedberg begrenzt wurde.70 Einen kurzen Überblick über die Caritashilfe für Ungarn gibt Manfred Eder.71 Außerdem liegt eine Masterarbeit zur Ungarnhilfe der Caritas in Passau vor.72 Die besondere Rolle der Stadt Passau bei der Aufnahme und Betreuung der Flüchtlinge behandeln Werke zur Geschichte der Stadt Passau; von den Fluchtbewegungen aus Ungarn war 1945–1947 vor allem das südöstliche Bayern 1945–1947 betroffen.73 Von der Autorin steht eine Magisterarbeit über die Lebensgeschichte der Ungarn, die 1944 und 1945 Un68

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München – Budapest, Ungarn – Bayern. Der Ungarnaufstand 1956 trug dazu bei, dass die Ungarn auch als revolutionäres und freiheitsliebendes Volk wahrgenommen wurden, das »sich als kleiner David den Großmacht-Goliaths widersetzt«. Seewann: Ungarnbild, 15. Der Sender wurde 1950 in München mit der Finanzierung des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes Central Intelligence Agency (CIA) errichtet. Obwohl er unter amerikanischer Leitung und unter Aufsicht des amerikanischen Außenministeriums stand, waren die nationalen Abteilungen, so die tschechoslowakische, polnische, ungarische, bulgarische und rumänische Redaktion weitgehend selbständig, wobei sie der gemeinsame Einsatz gegen den Kommunismus verband. Etwa 100 ungarische Exilanten arbeiteten beim Sender, die auch während des Volksaufstands über Tagesgeschehnisse und deren Rezeption in den internationalen Medien informierten. Die ungarische Redaktion sendete vom 6. Oktober 1951 bis 31. Oktober 1993 ganztätig. Borbándi: Radio. Zur Rolle des Senders in der amerikanischen Osteuropa-Politik vgl. Gati: Zur Neubewertung. Schmiedberger: Der Volksaufstand. Der Verfasser stellt anhand der Erinnerungen von Takács die Ereignisse in Ungarn 1956 dar. Takács kam über Österreich nach Bayern und wohnt seit 1963 als einziger von 200.000 Ungarn in Schiltberg im Landkreis AichachFriedberg. Eder: Helfen, 556–560. Donaubauer: Die Ungarnhilfe. Passau als zentrales Sammellager 398–402, Nr. 84. Diese Region nahm in den ersten Nachkriegsjahren die Ungarn vorwiegend als Belastung wahr. Aus diesem Grund sprach man in Passau nicht von Fremdarbeitern oder DPs, sondern vom »Ungarnproblem«. Smolorz: Displaced Persons, 22.

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garn verließen und das Kriegsende in Bayern erlebten, zur Verfügung.74 Jene Menschen, die Mitglieder der Emigrationswellen 1944/1945 und 1947/1948 nannte man »Altflüchtlinge«, während die 1956 Geflohenen »Neuflüchtlinge« hießen.75 Die Bezeichnungen Altflüchtling (régi menekült) und Neuflüchtling (új menekült) verwendeten sowohl die bayerischen (und österreichischen) Behörden als auch die ungarischen Exilvereine. Im Hinblick auf Zuwanderung fiel Mitte bis Ende der 1950er Jahre die organisierte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ins Gewicht. Die Geschichte der Gastarbeiter rückte ab den 1980er Jahren in den Mittelpunkt der Forschung.76 Bei der organisierten beziehungsweise gesteuerten Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland und nach Bayern fanden die Gastarbeiter zunehmend Aufmerksamkeit. Die Ungarnflüchtlinge kamen in Bayern an, als die Eingliederung der Heimatvertriebenen vorangeschritten war, und unmittelbar vor der Ankunft der Gastarbeiter.77 Die Aufnahme und die Eingliederung der Ungarnflüchtlinge kann weder in qualitativer noch quantitativer Größenordnung mit der Aufnahme und Eingliederung der Heimatvertriebenen oder Gastarbeiter verglichen werden, was auf die geringe Anzahl der Ungarn im Vergleich zu den anderen zwei Gruppen und auf die kurze Episode ihrer Aufnahme zurückzuführen ist. Aus diesem Grund haben die Ungarnflüchtlinge in Bayern bisher wenig Beachtung gefunden. 74 75 76 77

Kiss: Magyarok Németországban. Soós: 1956-os magyar menekültek, 59. Vgl. Bade: Exodus; Crossing Munich; Steinert: Migration. Martin Kornrumpf gibt in seiner Dokumentation „In Bayern angekommen“ einen kurzen Bericht über »eine herausfallende Aktion für ausländische Flüchtlinge«, womit die Ungarnhilfe 1956/1957 gemeint war. Er bezieht sich auf den Bericht der österreichischen Sektion der AER/AWR (Association Européenne pour l’Etude du Problème des Réfugiés/ Association for the Study of the World Refugee Problem), der für deren 7. Generalversammlung im niederländischen Arnheim 1957 angefertigt wurde (vgl. Folberth: Ungarnhilfe). Außerdem zitiert Kornrumpf aus den Haushaltsreden (vom 26. März 1957 und 11. Juni 1958) des Staatsministers Walter Stain, der bezüglich der Hilfsmaßnahmen vor dem Bayerischen Landtag Bilanz zog. Kornrumpf behauptet, dass die Aufnahme der Ungarnflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland ausschließlich durch die zwei bayerischen Grenzlager Piding und Schalding vonstattenging, was jedoch nicht den Tatsachen entspricht. Kornrumpf: In Bayern, 258–259. – Im Stadtarchiv München fand am 20. Juli 2010 das Kolloquium „Migranten in München. Archivische Überlieferungen und Dokumentation“ statt. In der Ausstellung zum Kolloquium präsentierte ein Foto die Ungarn »als Vorreiter« der Gastarbeiter. Vgl. Landeshauptstadt München, Direktorium. Stadtarchiv: Migranten in München.

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3. Methodisches Vorgehen und Quellenlage Diese Studie handelt von einer Gruppe Ungarn, die 1956 ihre Heimat gezwungenermaßen oder freiwillig verließen und sich in Bayern niederließen. Diese Akteure verbindet das gemeinsame Schicksal: die Flucht aus Ungarn und ein Neuanfang im Freistaat Bayern. Der methodische Ansatz der prosopografischen Kollektivbiografie bietet die Möglichkeit, Lebensläufe von sozialen oder politischen Gruppen zu beschreiben und auszuwerten. Diese Forschungsmethode geht auf Lawrence Stone zurück, der Kollektivbiografie als »Untersuchung der allgemeinen Merkmale des Werdegangs einer Gruppe von handelnden Personen der Geschichte durch ein zusammenfassendes Studium ihrer Lebensläufe« definiert.78 Die Untersuchung von Lebensschicksalen im zeitlichen Wandel ermöglicht die Erforschung der Geschichte über die verschiedenen Epochen der deutschen beziehungsweise bayerischen und ungarischen Zeitgeschichte sowie über Räume und politische Grundformationen hinaus. Diese biografische Analyse hilft, Erkenntnisse über das Allgemeine oder Typische, aber auch über das Abweichende oder Individuelle zu gewinnen.79 Diese akteurszentrierte Forschungsperspektive konzentriert sich auf die handelnden Subjekte mit deren Handlungsspielräumen und -strukturen, wobei sie individuelle Entscheidungsmöglichkeiten und Erfahrungen rekonstruiert. Ungarnflüchtlinge, die 1956 volljährig waren, sind inzwischen über 80 Jahre alt. Sie in die Arbeit einzubeziehen, bietet einen Zugang zur Zeitgeschichte, die nicht unumstritten ist.80 Obwohl Zeitzeugen aus einer rückblickenden Perspektive erzählen, gewinnen Interviews und Befragungen immer mehr an Bedeutung. Zahlreiche mit Ungarnflüchtlingen geführte Interviews wurden bereits vor Beginn der Forschungsarbeit an vorliegender Studie publiziert.81 Zum 50. Gedenktag und danach entstanden zudem

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Stone: Prosopographie, 42. Gallus: Biographik, 43. Vgl. Hockerts: Zugänge. Meleghy: Die ungarische Emigration; Nagymihály: A magyar csoda; Rheingauschule Geisenheim: Die Rheingauschule; Rheingauschule Geisenheim: Berichte; Ungarnaufstand 1956.

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Biografien, Rückblicke und Erzählungen.82 Die anschließenden Oral History-Gespräche der Autorin zeigen, dass die Befragten dem in den oben genannten Dokumenten bereits gedruckten Text treu geblieben sind. Deswegen wurden keine weiteren narrativen Interviews mit ehemaligen Flüchtlingen geführt, sondern die veröffentlichten Interviewtexte herangezogen. Eine Ausnahme ist das Interview mit Peter Kepser, der als deutscher Student an der Ungarnhilfe teilnahm. Die historische Migrationsforschung beschäftigt sich mit Bewegungen der Menschen über Raum- und Staatsgrenzen hinweg sowie mit der Begegnung ihrer Kulturen.83 An diesen Forschungsansatz angelehnt, wird nachfolgend die Emigration der Ungarn als Prozess in drei Phasen unterteilt und unter dem Aspekt der Fluchtgründe, der Fluchtwege sowie der Aufnahme und Eingliederung in Bayern untersucht. Dabei stehen unterschiedliche staatliche beziehungsweise nichtstaatliche Akteure im Mittelpunkt, die bei Aufnahme, Verteilung und Unterbringung der Ungarn Entscheidungen trafen oder daran beteiligt waren. Erfolg oder Misserfolg der Integration hingen weitgehend von den in den Verwaltungsakten überlieferten Entscheidungen von Bund, Land und Kommune ab. Somit lässt sich der Weg der Ungarn aus Österreich und Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland – wie zu sehen sein wird – über fünf Durchgangslager rekonstruieren, von wo aus sie auf verschiedene Unterkünfte im Bundesgebiet verteilt wurden. Diese Vorgehensweise entspricht dem Konzept, das die Vielfalt räumlicher Wanderungen, die »unvergleichbar größere Bandbreite von Entscheidungs- und Verhaltensmustern sowie Verhaltensmöglichkeiten von Individuen und Gruppen« betont.84 Auch die »Vorstellung von in sich geschlossenen, homogenen Kulturen« und das unausweichliche »Verschwinden traditioneller Kulturen im Assimilationsprozess« werden in Frage gestellt.85 »Migration und Integration sind Teil übergreifender und langwährender politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Prozesse«86 82

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Czibulás: Festrede anlässlich des 50jährigen Jubiläums; Czibulás: Festrede zum ALUMNI Treffen; Kristóf: Die Analphabetin; Küttel: 1956; Mészáros: Die zweite Heimat. Ackermann: Ethnologische Migrationsforschung; Deutsche im Ausland, Fremde in Deutschland; Hoerder – Lucassen – Lucassen: Terminologien; Oltmer: Migration. Hoerder – Lucassen – Lucassen: Terminologien, 28. Ackermann: Ethnologische Migrationsforschung, 20. Hoerder – Lucassen – Lucassen: Terminologien, 47.

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und können sich über mehrere Generationen erstrecken. Der ältere Ansatz des linearen Assimilationsprozesses im Land der Niederlassung wurde durch ein deutlich nuancenreicheres und differenzierteres Paradigma ersetzt, in dem die Integration nicht in Assimilation oder Akkulturation enden muss.87 Mit Assimilation sei das spurlose Aufgehen in der aufnehmenden Gesellschaft, mit Akkulturation die partielle Übernahme der Gebräuche, Wertorientierung und Verhaltensmuster der aufnehmenden Gesellschaft gemeint, wobei auch eine Annäherung beider Seiten an ein gemeinsames Neues möglich sei.88 Durch Kulturkontakte können Veränderungen von Werten, Normen, Verhaltens- und Lebensweisen hervorgerufen sowie neues Wissen, neue Kenntnisse und Fähigkeiten erworben werden, wodurch dann wiederum die eigene Identität geprägt und verändert werde.89 Die Erinnerung an die Herkunft, an Tradition und Kultur spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, denn die Zukunft lasse sich nur gewinnen, wenn man die Erfahrungen aus der Vergangenheit annehme, so Marita Krauss.90 Statt von einem »Identitätswechsel« geht die Verfasserin von »Hybridität« aus, das heißt, vom vielschichtigen Überlappen und Zusammenwirken verschiedener kultureller Prägungen und Einflüsse, die in einer Person vereint sind beziehungsweise auf diese einwirken.91 Konzentriert sich die Migrationsforschung auf die Wanderungsbewegungen von Menschen und deren Auswirkung auf die Aufnahmege87

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Die Theorie vom linearen Assimilationsprozess geht auf die Chicago School of Sociology unter Leitung von Robert Ezra Park zurück, der eine Verschmelzung von Einwanderern mit Einheimischen annahm, wobei er Aufnahmegesellschaft und Einwanderer gleichermaßen als statisch beschrieb. Ackermann: Ethnologische Migrationsforschung, 4–6; Hoerder – Lucassen – Lucassen: Terminologien, 48–49. Krauss: Die Integration Vertriebener, 47. »Assimilierung und Akkulturation sind aus Sicht der Person bewusste, zum Teil aber auch ungeplante und unbewusste Anpassungsund Lernprozesse; sie vollziehen sich innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Politikrahmens, der Bedingungen setzt, Möglichkeiten schafft, aber auch Zwänge beinhaltet.« Stäheli: »Zu Hause, aber nicht daheim«, 33. Ebenda, 33. Krauss: Integration, 13. Krauss: Migration, 266. »Die meisten Zuwanderer übernehmen keineswegs bedingungslos neue Werte und Gebräuche. Sie schaffen sich vielmehr ein Netz ethnischer Institutionen, gestalten aktiv ihren Akkulturationsprozess, formen ihr eigenes Bild von der Aufnahmebevölkerung und sehen sich nur selten als Opfer eines Verdrängungs- oder Entwurzelungsprozesses. Viel eher kombinieren die Zuwanderer und ihre Kinder multiple Identitäten und nutzen sie situationsabhängig.« Hoerder – Lucassen – Lucassen: Terminologien, 48.

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sellschaft sowie den Umgang mit kultureller Vielfalt, »rekonstruiert die Exilforschung einzelne Lebens- und Emigrationswege oder Kollektivbibliographien fest umrissener Gruppen«.92 Da die Exilforschung näher untersucht, wie das Exil eine Schicksalsgemeinschaft schafft, wie ein kollektives Gedächtnis oder eine Art von Nationalstolz entsteht, mit dem sich Exilanten von anderen Menschen abgrenzen, welchen Rückbezug Exilierte zum Herkunftsland herstellen und welche Aufgaben sie durch den Bezug zur Heimat übernehmen, bietet sie eine zusätzliche Perspektive zur Migrationsforschung an.93 Um festzustellen, wie einheimische Bayern mit den Ungarn umgingen, wie sie einander wahrnahmen, werden Orte erfasst, an denen sich Ungarn und Bayern trafen – zum Beispiel das bayerische Durchgangslager Piding. Hier kamen die meisten Ungarnflüchtlinge an. Einbezogen werden auch ihre Unterkünfte, so das Wohnlager Wagenried, und Bahnhöfe, wo sie für kurze Zeit versorgt wurden. Helfer diverser Hilfsorganisationen, Vertreter verschiedener Ministerien, Geistliche, Reporter oder Sympathisanten, die in direktem Kontakt mit den Neuankömmlingen standen, überlieferten ihre Handlungsmotive und Eindrücke in Berichten, Briefen und Aufzeichnungen. Was die bayerische Bevölkerung vor Ort über die Ereignisse in Ungarn erfuhr und wie sie auf die Aufnahme der Ungarnflüchtlinge in den ausgehenden 1950er Jahren reagierte, spiegelt sich in der Tagespresse wider. Informationen über innen- und außenpolitische Ereignisse bezogen die Bayern zumeist aus bayerischen Tages- und Wochenzeitungen sowie Berichten des Bayerischen Rundfunks. In jenem Jahrzehnt galt in Bayern der Hörfunk als führendes Informationsmedium, der Fernseher sollte diese Rolle erst in den 1960er Jahren übernehmen. Außerdem beeinflussten Kinofilme und Operettenvorführungen mit der Thematik Ungarn die Wahrnehmung beziehungsweise Stereotypenbildung der Einheimischen. Dies gilt auch für die zeitgenössischen bayerischen Zeitungen, deren Artikel nicht nur informierten, sondern auch zur Meinungsbildung beitrugen. Journalisten und Reporter traten als Akteure auf und prägten durch ihre Berichterstattung 92

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Schulz: Exilforschung, 30–31. Die Verfasserin weist auf die Erforschung des deutschsprachigen Exils nach 1933 in der Schweiz hin, in deren Fokus »die Rekonstruktion individueller Lebensgeschichten von Exponentinnen und Exponenten deutscher Kultur im Ausland und die Sammlung ihrer Werke« standen. Ebenda, 29. Ebenda, 45.

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positive oder negative Denkweisen über das Ungarnland und die Ungarn selbst, indem sie nicht nur Tatsachen über Geschehnisse vermittelten, sondern auch die Meinung der Menschen formten. Die Sprache beziehungsweise die Wortwahl, welche die Tagespresse im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1956 sowie den Ungarnflüchtlingen verwendete, spiegelt das Denken der Zeitgenossen über die Ungarn wider. Für die Presseberichterstattung wurden Ausgaben der für Bayern relevanten Presseorgane „Süddeutsche Zeitung“, „Bayerische Staatszeitung“, „Münchner Merkur“ und „Der Spiegel“ gesichtet. Ebenfalls ausgewertet wurden Berichte der Lokalpresse, so die „Passauer Neue Presse“, das „Passauer Bistumsblatt“, das „Reichenhaller Tagblatt“ sowie die „Dachauer Nachrichten“ und die „Amberger Nachrichten“. Die Auswahl orientierte sich an Orten, wo sich Ungarn und Bayern begegneten.94 Die bayerischen Tages- und Wochenzeitungen berichteten seit dem 24. Oktober 1956, dem Tag nach dem Ausbruch des Aufstands, über die Ereignisse in Ungarn. Bis zur Niederschlagung am 4. November 1956 war die Ungarnkrise täglich in den Schlagzeilen der bayerischen Printmedien. Danach rückte die Flucht der Ungarn in den Westen in den Vordergrund. Anfänglich wurde vor allem über die Flüchtlingsaufnahme in Österreich sowie über die Hilfe für Ungarn berichtet. Nachdem die ersten Ungarn am 16. November 1956 in Piding bei Bad Reichenhall angekommen waren, richtete die bayerische Presse ihr Hauptaugenmerk auf die bundesdeutsche Flüchtlingsaufnahme. 1957 ließ die Intensität der Berichterstattung deutlich nach, und ab der zweiten Jahreshälfte 1957 fand das Ungarnthema nur noch selten Erwähnung. Eine Ausnahme stellten Jubiläen, Jahrestage und besondere Vorkommnisse dar.95 Die Regierung Konrad Adenauers bot den Ungarnflüchtlingen an, aus den Erstaufnahmeländern in die Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise nach Bayern zu kommen. Über diese Entscheidung sowie die 94

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Da die Ungarn über die Durchgangslager Piding bei Bad Reichenhall und Schalding bei Passau in Niederbayern einreisten, war die Berichterstattung hier besonders intensiv. Dies galt auch für Dachau, wo sich eines der zentralen Wohnlager für Ungarn befand. Da das Ungarische Gymnasium im oberpfälzischen Burg Kastl untergebracht war, wurden auch die Artikel der Amberger und Neumarkter Zeitungen herangezogen. Kiss: Magyaren; Kiss: Ungarnflüchtlinge. 1966 erfuhr in deutschen Tageszeitungen nicht einmal der zehnte Jahrestag eine so große Beachtung wie in Österreich. Josef Mühlenhöver (Deutsche Botschaft, Wien) an Direktor Helmut Krausnick (IfZ). Wien, 17. November 1966. IfZ ID 103, 17.

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Abwicklung der Aufnahme der Ungarn aus Österreich und Jugoslawien geben die Bundestagsprotokolle, der Briefwechsel zwischen der deutschen Botschaft in Wien und dem Bonner Auswärtigen Amt Auskunft.96 Die Komplexität der Aufgabe zeigt sich in der Vielzahl der Bundes- und Landesministerien, die mit der Aufnahme und Eingliederung der Ungarn beschäftigt waren.97 Die niedergelassenen oder durchreisenden Ungarn wurden in Statistiken erfasst.98 Die Gegenüberstellung von anonymen Daten mit persönlichen Alltagserfahrungen ermöglicht die Betrachtung des Einzelfalls in Bezug auf den allgemeinen beziehungsweise typischen Lebenslauf eines Ungarnflüchtlings. Die Ungarnflüchtlinge 1956 verband das kollektive Erlebnis der Geschehnisse in Ungarn 1956 sowie Flucht und Aufnahme in einem Land, in dem sie ein neues Leben begannen. Eine Kollektivbiografie lässt Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede der Lebensgeschichten der Ungarnflüchtlinge erkennen. Die Befragungen ermöglichten es, persönliche Schicksale der in Bayern sesshaft gewordenen Ungarn in diese Arbeit mit einzubeziehen.99 Zudem wurden Ego-Dokumente wie Redemanu96

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Da zu dieser Zeit zwischen der Volksrepublik Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland keine diplomatischen Beziehungen bestanden, wurden nicht nur die Einreise, sondern auch die Rückreise, also die Repatriierung der Ungarn über die deutsche Botschaft in Wien in Absprache mit der österreichischen Regierung abgewickelt. Das ungarische Außenministerium bezog seine Informationen über die Lage der Geflohenen von der ungarischen Botschaft in Wien. Die Korrespondenz des ungarischen Botschafters in Wien, Frigyes Puja, mit dem ungarischen Außenministerium untersuchte Murber: Flucht. Gesichtet wurden die Akten des Bundeskanzleramtes, des Bundesministeriums des Innern, des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, der Bundesanstalt für Arbeit, des Auswärtigen Amtes, der Bayerischen Staatskanzlei, des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren, des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge und des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus. Die Bayerische Grenzpolizei dokumentierte vom 24. Oktober 1956 bis zum 2. August 1957 die Grenzübertritte der Ungarn (BayHStA IM 97301). Ebenso informiert eine lange geheim gehaltene Aufzeichnung des ungarischen Zentralen Statistischen Amtes über die Anzahl der Personen, die Ungarn zwischen dem 30. Oktober 1956 und dem 30. April 1957 verließen. Außerdem gibt es eine Fülle von statistischem Datenmaterial zum Beispiel aus dem Büro des UNHCR, dem österreichischen Innenministerium, der Liga der Rotkreuz-Gesellschaften sowie der zeitgenössischen internationalen Presse. Vgl. Kastner: Die Ungarnflüchtlinge. Bei den Interviews fällt auf, dass Zeitzeugen akribisch darauf achteten, wortgetreu zu erzählen, was bereits gedruckt war, beispielsweise in diesen Ausgaben: Nagymihály: A

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skripte zu verschiedenen Jubiläumsfeiern, Fotos, gedruckte Schilderungen der Fluchterlebnisse und Autobiografien herangezogen. Die Wahrnehmung der in Bayern ankommenden Ungarn lässt sich mit Hilfe der ungarischen Exilpresse analysieren. Deren Organe stellten ungarischsprachiges Lese- und Informationsmaterial bereit. Indem sie praktische Tipps und Orientierungshilfe boten, beschrieben sie auch die Unterschiede zwischen den ungarischen und bayerischen Lebensweisen, Wertvorstellungen und Traditionen. Die wohl umfangreichste einschlägige Periodika-Sammlung des Ungarischen Instituts München wurde 2002 dem Petőfi Literaturmuseum (Petőfi Irodalmi Múzeum) in Budapest übereignet. Das Schriftgut besteht aus vollständigen oder fragmentarischen Reihen der in den ersten Nachkriegsjahren von ungarischen Exilanten in Bayern herausgegebenen Zeitungen und Zeitschriften.100 Anhand dieser Berichterstattungen können Erkenntnisse über Alt- und Neuflüchtlinge, ihre Beziehungen zueinander und zum Gastland sowie über ihre Erfahrungen in Bayern gewonnen werden. Ein ungarisches Gymnasium mit einem Standort in Bayern für alle in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommenen ungarischen Oberschüler sollte jungen Ungarn ermöglichen, ihren Bildungsweg fortzusetzen. Zur Einrichtung einer weiterführenden Schule für das gesamte Bundesgebiet in Burg Kastl bei Amberg war nicht nur die finanzielle Unterstützung der Länder, sondern auch deren Kooperation unentbehrlich. Die federführende Koordination oblag dem bayerischen Arbeitsministerium.101 Ergänzend wurden die Satzungen, Jahresberichte und Jubiläumsausgaben des

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magyar csoda; Ungarnaufstand 1956. In Deutschland lebende Augenzeugen und Revolutionäre blicken nach 50 Jahren zurück. Das „Archiv der ungarischen Exilpresse“ wurde vom Ungarischen Institut München in den 1960er Jahren angelegt und später für den Zeitraum 1945–1990 bibliografisch erschlossen (Mildschütz: Bibliographie; Lengyel – Kulcsár-Ebeling: Bibliographie). Bei der Übereignung 2002 umfasste es rund 23.000 Bände von über 900 verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Lengyel: Die Bibliothek, 262–263; Petőfi Irodalmi Múzeum: Periodikagyűjtemény. BayHStA AM LFV 1861. Die Schulgenehmigung erteilte das Bayerische Kultusministerium, der Mietvertrag wurde durch das bayerische Finanzministerium abgewickelt und die Flüchtlingsverwaltungen der Länder beteiligten sich bei der Finanzierung der staatlich genehmigten, privaten ungarischen Schule.

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Einleitung

Ungarischen Gymnasiums sowie veröffentlichte Erinnerungen ehemaliger Schüler herangezogen.102 Anhand von Aktenbeständen der Landesarbeitsämter Süd- und Nordbayern sowie der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung konnte die Arbeitsvermittlung von ungarischen Flüchtlingen eruiert werden.103 Auch hier unterstützen statistische Erhebungen den Vergleich mit anderen in Bayern lebenden Ausländern und lieferten Angaben zu Familienstand, Geschlecht, Altersaufbau und berufliche Qualifikation der in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommenen Ungarn.104 Umfangreiches Material über die Ungarnhilfe des Bayerischen Roten Kreuzes sowie der Caritasverbände der Erzdiözese München und Freising und der Erzdiözese Passau zeigt die Hilfs- und Einsatzbereitschaft der bayerischen Bevölkerung.105 Die intensive Berichterstattung weist auf die Relevanz der Ungarnhilfe sowie auf die besondere Rolle der Stadt Passau hin.106 Anhand der seelsorgerischen und karitativen Tätigkeit bei der Betreuung der Ungarn lässt sich die Rolle der Kirchen bei ihrer Aufnahme und Eingliederung erkennen.107 Die bereits in Bayern lebenden Ungarn, die Altflüchtlinge, wurden durch die muttersprachliche Seelsorge sowie durch Nutzung von Netzwerken in die Flüchtlingsbetreuung einbezogen.108

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Jahresbericht des Ungarischen Gymnasiums 1957/1958, 1975/1976, 1977/1978, 1998/1999, 1999/2000; Jahresbericht des Europäisch-Ungarischen Gymnasiums 2000/2001, 2001/2002; 20 Jahre Ungarisches Gymnasium. Die Unterlagen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung im Bundesarchiv Koblenz (BArch B 149), des Landesarbeitsamtes Südbayern und des Arbeitsamtes Rosenheim im Staatsarchiv München (StAM LAA 5149 und StAM AAR 1357) waren besonders aussagekräftig. Zur Zahl der Ausländer in Bayern wurden die statistischen Erhebungen des Bayerischen Statistischen Landesamtes, zur Zahl der Arbeitslosen die Veröffentlichungen der Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung sowie die Statistiken der Bundesstelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg (PAAA B 12, 572) gesichtet. ADiCVMF, ADiCVP; Bayerisches Rotes Kreuz: Jahresbericht; Ca; CD. ABP NlNK Z2 und NlSKL 534. Mit umfangreichem Bildmaterial: ADiCVMF, ADiCVP; AEB Rep. 80. AEMF GV REG, SBI und SBD; AEB Rep. 3. Für die Ungarn, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Bayern lebten, gab es eine Ungarnseelsorge (AEMF GV REG, 0741). Bereits vorhandene karitative Organisationen wie der Ungarische Caritas Dienst in München halfen den Ungarnflüchtlingen 1956. BayHStA StK 13369.

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Die Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956 löste eine Fluchtbewegung aus, die den Anfang der vorliegenden Studie markiert. Trotz dieser zeitlichen Zäsur kann das Verlassen der Heimat keineswegs als punktuelles Ereignis betrachtet werden, denn dahinter verbargen sich mittel- oder langfristige Entscheidungs- und Handlungsabläufe, die maßgeblich von der ungarischen Nachkriegsgeschichte bestimmt waren. Der europäische Kontext nach 1945 wirkte sich auf die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Ungarns und auf die Lebenswelt seiner Bewohner aus. Aufnahme und Eingliederung in Bayern führten für die Ungarn zu einem neuen Lebensabschnitt, der mit einem Neubeginn im Zielland und mit einer generationsübergreifenden, soziokulturellen, beruflichen und individuellen Integration begann. Die Berichterstattung hatte in den Jahren 1956 und 1957 eine hohe Intensität, ließ aber in den nachfolgenden Jahrzehnten stark nach. In den 1950er Jahren beschränkten sich die bilateralen politischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit der Volksrepublik Ungarn auf ein Minimum. Konsularische Vertretungen Ungarns existierten weder in Bayern noch in den anderen Ländern der Bundesrepublik. Allerdings entwickelten sich die Wirtschaftsbeziehungen seit den 1960er Jahren stark, so dass 1964 aufgrund des Handelsabkommens eine deutsche Handelsvertretung in Budapest und eine ungarische in Frankfurt eingerichtet wurden.109 Dieser Umstand und eine Generalamnestie der Kádár-Regierung 1963110 ermöglichten den in Bayern lebenden Ungarn die ersten Besuche im Herkunftsland und erleichterten sogar Rückwanderungen.111 Mit Willy Brandts neuer Ostpolitik kam es zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Rumänien, Jugoslawien und auch mit Ungarn. Im Dezember 1973, nach Abschluss der Verhandlungen mit Ungarn, wurde in West-Berlin das ungarische Generalkonsulat eröffnet.112 Im gleichen Jahr setzte mit der Ölkrise auch die Wirtschaftskrise ein – eine Zäsur, auf die ein Anwerbestopp für Gastarbeiter folgte. Die Arbeit bewegt sich im chronologischen Rah109 110

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Vgl. Schmidt-Schweizer – Dömötörfi: A magyar–nyugatnémet kapcsolatok. Die historischen Studien zu den 1960er Jahren in Ungarn beginnen üblicherweise mit dem Jahr 1956 und enden mit den späten 1960er oder frühen 1970er Jahren. Zum Problem der Periodisierung: »Die sechziger Jahre« in Ungarn. Vgl. Okváth: Die Repressalien; Robert: Mindennek ellenére; Szabó: »…s várja eltévedt fiait is.« Horváth: Die Sonne, 125.

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Einleitung

men von 1956 bis 1973, wobei die biografische Methode einen Blick über diesen zeitlichen Rahmen hinaus ermöglicht.

4. Aufbau Nach der Einleitung werden Fluchtgründe und -bewegungen chronologisch thematisiert. Im zweiten Kapitel werden die Entscheidungs- und Handlungsmotive der ungarischen Auswanderer, das gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben im Nachkriegsungarn und die Ereignisse des Aufstandes betrachtet, um die Umstände der Abwanderung aus der Heimat zu eruieren. Im dritten Kapitel wird der Weg aus den Erstaufnahmestaaten in die Bundesrepublik Deutschland beschrieben. Bundesdeutsche Regierungsmaßnahmen regelten die Aufnahme, Verteilung und Unterbringung der Ungarn, wobei der Freistaat Bayern wegen seiner geografischen Lage eine besondere Aufgabe bewältigen musste. Wer die Entscheidungen traf und wie die Aufnahme und Einreise der Ungarn abgewickelt wurde, wird hier dargelegt. Außerdem war Bayern auch eine Station auf einer Heimkehr der Ungarn über das Grenzdurchgangslager Schalding. Vermehrt reisten Ungarn legal oder illegal aus anderen Drittstaaten über Bayern nach Wien zurück, um nach Amerika auszuwandern oder nach Ungarn heimzukehren. Da die Repatriierungsvorschriften der ungarischen Regierung, damit auch jene des österreichischen Bundeskanzleramtes verschärft wurden, entstand ein Stau der ungarischen Rückwanderer in Passau. Dieses Beispiel zeigt, wie sich zentrale Entscheidungen auf internationaler Ebene und auf Bayern bis hin zu einzelnen Kommunen auswirkten. Im vierten Kapitel steht das Aufnahmeland Bayern im Mittelpunkt. Durch die Akteure und ihre Beteiligung an der Aufnahme und Hilfe für Ungarn werden Ankunft, Unterbringung und Eingliederung in die Arbeitswelt beziehungsweise die Fortführung der Ausbildung der Ungarn dargestellt. Die Betreuung der Ungarn richtete sich nach Alter und Beruf: Kinder, Oberschüler, Studenten, Arbeiter mit oder ohne Ausbildung und Sprachkenntnisse. Welche staatlichen Regelungen die Integration förderten oder hemmten, welche Rolle die Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise der Freistaat Bayern bei der Aufnahme der Ungarn einnahm, wie sie diese Aufgabe definierten beziehungsweise sich dabei darstellten, wird hier ebenfalls dargelegt.

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Das fünfte Kapitel konkretisiert, an welchen Orten sich die Ungarn und Bayern begegneten und welche Eindrücke sie voneinander gewannen. Hier werden Wahrnehmungen aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaft und der Ankommenden gegenübergestellt. Außerdem werden die Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise Bayerns in der Flüchtlingsaufnahme sowie die Beziehung des Herkunftslandes zu den ausgewanderten Landsleuten untersucht.

II. Flucht aus Ungarn Die meisten Ungarnflüchtlinge, die 1956 ihre Heimat verließen, wurden vor 1945 geboren und wuchsen im sowjetisch besetzten Ungarn auf, in dem nach 1945 das sowjetische Modell systematisch in allen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgebaut wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg beeinflussten Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Alltagsleben in Ungarn die individuellen Erfahrungen der späteren Ungarnflüchtlinge und somit auch ihr Denken und Handeln, bewusst oder unbewusst. Die betreffenden Personen trafen ihre Entscheidung zur Auswanderung im ungarischen Ausgangsmilieu, in dem die »vorgegebenen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Rahmen- und Lebensbedingungen« ausschlaggebend waren und als »Push-Faktoren« wirkten.113 Welche Lebensbedingungen im Nachkriegsungarn herrschten und welche Faktoren wanderungsfördernd waren, wird im Folgenden mit der Darstellung politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen in Ungarn nach 1945 skizziert.

1. Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg Ungarn beendete den Zweiten Weltkrieg als Verbündeter des Deutschen Reiches und gehörte nach der sowjetischen Besetzung zum Einflussbereich der Sowjetunion. Der am 10. Februar 1947 in Paris geschlossene Friedensvertrag legte seine Staatsgrenzen beinahe mit dem Verlauf identisch fest, der am 4. Juni 1920 im Friedensvertrag von Trianon verankert worden war.114 113

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Die Ausgangsgesellschaften werden »nach demographischen Charakteristika, politischem System, sozialer Stratifikation, wirtschaftlicher Struktur und Entwicklung unter Einbeziehung von Industrialisierungs- und Urbanisierungsgrad, nach ethnisch-kultureller und/oder religiöser Zusammensetzung, dem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen im allgemeinen und zu Bildungseinrichtungen im besonderen« beschrieben. Hoerder – Lucassen – Lucassen: Terminologien, 32. Im Sinne des Friedensvertrags von Trianon hatte sich Ungarns Landfläche von 282.870 auf 92.963 Quadratkilometer reduziert, und seine Bevölkerung war von 18.264.533 auf 7.615.117 Personen gesunken. Die Wiener Schiedssprüche vom 2. November 1938 und 30. August 1940, die Teile des historischen Staatsgebiets in Oberungarn und Siebenbürgen Ungarn rückgliederten, wurden 1945 für ungültig erklärt. Rainer – Barth: Ungarische Revolution, 222; Romsics: Magyarország, 141–149, 297–305.

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Nach der kommunistischen Machtübernahme 1948/1949 änderten sich die politischen Grundformationen in Ungarn. Mátyás Rákosi115 errichtete eine Einparteiendiktatur, indem er die Opposition gewaltsam ausschalten ließ. Verhaftungen, Hinrichtungen und Massenrepressalien bestimmten den Alltag der Menschen, die unter ständiger Angst und Unsicherheit lebten.116 Durch ein ausgefeiltes Spitzelsystem schürte der ungarische Staatssicherheitsdienst (Államvédelmi Hatóság) Misstrauen unter der Bevölkerung, was zu Verunsicherung und Angst vor Verrat führte.117 Selbst die Parteimitglieder fühlten die Unberechenbarkeit sowie fehlende Stabilität und Sicherheit, die auch die Haltung der Heranwachsenden beeinflusste. Rákosi prägte mit seinem Personenkult diese Ära, in der seine Politik nicht nur sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens sowie soziale, wirtschaftliche und mentalitätsgeschichtliche Tiefenstrukturen, sondern auch die Privatsphäre bestimmte.118 Infolge der Umgestaltung der ungarischen Agrar- und Industriestruktur nach sowjetischem Vorbild vollzog sich bis Mitte der 1950er Jahre ein Wandel in der ungarischen Wirtschaft und Arbeitswelt. Die Förderung der Schwer- und Rüstungsindustrie bestimmte wie in den anderen Satellitenstaaten der Sowjetunion den wirtschaftspolitischen Kurs, der durch staatliche Planung, Steuerung und Kontrolle gekennzeichnet war. Nach einer Bodenreform119 nach sowjetischem Vorbild vollzog man auch in der 115

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Kommunistischer Politiker, nach dem in Ungarn die Ära zwischen 1948 und 1956 benannt wird. Ab 1948 Generalsekretär der Partei der Ungarischen Werktätigen (Magyar Dolgozók Pártja), 1952/1953 zugleich Ministerpräsident. Auf Anweisung Moskaus legte Rákosi den Ministerpräsidentenposten nieder, blieb aber bis 1956 Parteichef. Nach 1956 hielt er sich bis zu seinem Tod 1971 in der Sowjetunion auf. Romsics: Magyarország, 335–384. Die ungarische Revolution 1956, 28–29; Murber: Flucht, 20–21. Bachkönig: Ungarnaufstand, 25; Rainer – Barth: Ungarische Revolution, 219–226. Worüber, wann und mit wem man sprechen konnte, musste die ungarische Gesellschaft erlernen (vgl. Rainer: Ungarn im Schatten der Sowjetunion, 81). Gegen 1,5 Millionen Menschen wurden Verfahren eingeleitet, so dass jede sechste Person der Gesamtbevölkerung Ungarns betroffen war. Die ungarische Revolution 1956, 28–29; Wilke – Hegedüs: Der gescheiterte Gesellschaftsvertrag, 292. Rainer: Ungarn im Schatten der Sowjetunion, 90; Schmidt-Schweizer: Die Staatspartei, 195. Mit der Bodenreform von 1945 wurde der Großgrundbesitz verstaatlicht. 35 Prozent aller Ackerflächen des Landes (5,6 Millionen Morgen Land) wurden in je rund fünf Hektar große Flurstücke unterteilt und an Kleinbauern vergeben. Es erhielten viele landlose Bauern Bodenbesitz, wodurch bei ihnen das Ansehen Imre Nagys als Landwirt-

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ungarischen Landwirtschaft die Kollektivierung und zwang die Bauern zum Eintritt in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Folglich ging die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft innerhalb des ersten Fünfjahresplanes (1950–1954) stark zurück, während die Zahl der Beschäftigten in der Industrie deutlich anstieg.120 Aus diesem Grund gab es später unter den Ungarnflüchtlingen deutlich weniger Agrararbeiter und wesentlich mehr Arbeitskräfte aus der eisenverarbeitenden Industrie.121 Im Ungarn der 1950er Jahre erschwerten hohe Abgaben und Zwangsablieferungen das Leben der Landbevölkerung. Außerdem herrschten Knappheit an Lebensmitteln und Konsumgütern sowie Engpässe in der Versorgung, so dass der Lebensstandard 1952 niedriger war als in den ersten Nachkriegsjahren.122 Zwischen 1949 und 1956 lebten etwa 65–75 Prozent der ungarischen Bevölkerung am Existenzminimum, stellt Tibor Valuch in seiner Untersuchung der alltäglichen Konsum- und Versorgungsprobleme der ungarischen Gesellschaft nach 1945 fest.123 Angefangen von nationalen Feiertagen bis hin zu nationalen Symbolen veränderte die Sowjetisierung die Traditionen Ungarns, die den Alltag der Menschen prägten.124 Die Umstrukturierung des Bildungswesens, die Li-

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schaftsminister stieg. Pölöskei – Gergely – Izsák: 20. századi magyar történelem, 273–274; Romsics: Magyarország, 284. Romsics: Magyarország, 347. BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen und zuständige Ministerien. Bonn, 5. Mai 1958: Statistische Unterlagen über ausländische Flüchtlinge aus Ungarn. PAAA B 12, 572 c. Vgl. Romsics: Magyarország, 346–358. Valuch: Hétköznapi élet, 76. Der Verfasser, Historiker und Soziologe, untersucht die Einkommens- und Wohnverhältnisse sowie Ernährung, Bekleidung und Konsum der ungarischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte der 20. Jahrhunderts. Sein Kapitel zu Ernährung und Essgewohnheiten in der Zeit von 1949–1965 trägt den Titel „Vom Hunger bis zum ,Gulaschkommunismus‘“. Erst ab Ende der 1960er Jahre trat eine Wende hin zu einem verhältnismäßigen Wohlstand ein. Statt nationaler und katholischer Feiertage wurde die Befreiung Ungarns am 4. April und der Tag der Arbeit am 1. Mai gefeiert. Anstelle nationaler Symbole traten sowjetische wie der Rote Stern, der auf Fahnen, Uniformen, Dächern und sogar als Monument omnipräsent wurde. Während des Ungarnaufstandes wurden die Machtsymbole, die mit der sowjetischen Besatzungsmacht in Verbindung gebracht werden konnten, zerstört, so das überdimensionale Stalin-Denkmal in Budapest, die roten Sterne auf Gebäuden und sowjetische Heldendenkmäler. Lendvai: Der Ungarnaufstand, 37; Rainer – Barth: Ungarische Revolution, 231.

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quidierung der katholischen Kirche125 und die Verstaatlichungen126 wirkten sich auch auf das Privatleben aus. Die Jugend wuchs mit dem obligatorischen Russischunterricht auf, weitere Fremdsprachen boten die Schulen nicht an. Aus diesem Grund konnten die meisten Ungarn, die ihr Land verließen, kaum Fremdsprachenkenntnisse vorweisen.127 Durch Auflösung der Kirchenverbände, Abschaffung des Religionsunterrichts, sogar Verbot des Kirchenbesuchs veränderten sich in der Rákosi-Ära die Bräuche und Lebensgewohnheiten.128 Nicht konforme politische Einstellungen und Verhaltensweisen einzelner Familienmitglieder konnten persönliche Nachteile und Repressalien zur Folge haben, die den privaten Lebensweg der Angehörigen stark beeinflussten.129 Die Politisierung aller Lebensbereiche bestimmte diese Zeit, in der Mentalität und Wertvorstellungen von Generationen durch Umerziehung verändert wurden.130 Nach Josef Stalins Tod am 5. März 1953 schwenkte Imre Nagy131 auf einen Reformkurs ein. Eine Reihe von Maßnahmen – wie Beendigung der Polizeiwillkür, Auflösung der Integrierungslager, Amnestie politischer Häftlinge, Freilassung von Internierten und Häftlingen, Einstellung von 125

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Am 26. Dezember 1948 wurde József Kardinal Mindszenty, Oberhaupt der katholischen Kirche in Ungarn, festgenommen und in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Zahlreiche Geistliche wurden verhaftet, katholische Schulen verstaatlicht und der Religionsunterricht abgeschafft. Solymár: Religiöse Bildung; Valuch: Hétköznapi élet. Vgl. Klimo: Ungarn, 98–108. In Ungarn war ab der 5. Klasse Russisch Pflichtfach und Latein Wahlfach. Unterricht im Griechischen erfolgte nicht. Wegen der Dominanz der russischen Sprache beherrschten auch unter den Studenten nur wenige Fremdsprachen. Cseresnyés: Magyar egyetemisták, 143; Kecskés: Franciaország, 234. Valuch: Hétköznapi élet, 152–171. Die politische Einstellung der Eltern konnte beispielsweise zum Ausschluss von Gymnasien oder Hochschulstudien führen oder bei Bauern, die nicht in die LPG eintreten wollten, als Druckmittel eingesetzt werden. Trotz alledem wuchs die Anzahl der Schüler und Studenten aus Arbeiter- und Kleinbauerfamilien. Romsics: Magyarország, 361–363, 420, 456. Valuch: Hétköznapi élet, 154. Rainer: Ungarn im Schatten der Sowjetunion, 84, charakterisiert die Rákosi-Ära als »System des Misstrauens und des Schreckens […]. Die Gesellschaft war voller Misstrauen und lebte in ständiger Furcht, welche Schicksalsschläge wohl der nächste Tag für sie bereithalten mochte.« Agrarökonom, Reformkommunist, von 1944 bis 1945 Landwirtschaftsminister Ungarns, von 1945 bis 1946 Innenminister, ab 1953 ungarischer Ministerpräsident. 1955 wurde er abgesetzt und aus der kommunistischen Staatspartei ausgeschlossen, in die er im Oktober 1956 wieder aufgenommen wurde. Zwischen dem 24. Oktober und dem 4. November 1956 war Nagy erneut Ministerpräsident. Rainer: Imre Nagy.

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Deportationen, Auflösung der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft, Senkung der Arbeitsnormen sowie Steigerung des Lebensstandards – brachte spürbare Veränderungen für die ungarische Bevölkerung. Die Lockerungen wurden allerdings 1955 zurückgenommen, und das politische System aus der Zeit vor 1953 kehrte zurück.132 Solange der Friedensvertrag zwischen Österreich und den alliierten Besatzungsmächten nicht abgeschlossen wurde, blieben sowjetische Soldaten zur Sicherung des Nachschubs für die in Österreich unter sowjetischem Kommando stehenden Einheiten in Ungarn stationiert. Entgegen aller Hoffnungen erfolgte der Abzug der sowjetischen Truppen in Ungarn auch nicht nach dem österreichischen Staatsvertrag 1955. Mit der Einbindung Ungarns in den Warschauer Pakt im gleichen Jahr wurde der Verbleib sowjetischer Kräfte in Ungarn ratifiziert.133 Österreich beendete die Besatzungszeit mit dem Abschluss des Staatsvertrages, gewann seine Souveränität wieder, wurde unabhängig und neutral und galt als Vorbild für Ungarn.134 Die Wiedererlangung der Unabhängigkeit und Souveränität gehörte 1956 zu den Forderungen der Aufständischen. Obwohl Ministerpräsident Imre Nagy am 1. November 1956 Ungarns Austritt aus dem Warschauer Pakt sowie eine Neutralitätserklärung bekanntgegeben hatte, gelang es Ungarn erst mit der politischen Wende 1989, diese Ziele zu verwirklichen.135 Zum internationalen Hintergrund sei kurz angerissen, dass die Sowjetunion ihre Einflusssphäre nach 1945 im Ost-West-Konflikt zu erweitern versuchte, wobei die USA mit der Containment- und anschließend mit der Rollback-Politik dagegenhielten. Während des Kalten Krieges bestand die latente Gefahr einer Verschärfung des Konflikts, was zu einem erneuten Weltkrieg mit Atomwaffen hätte führen können. Deshalb herrschte ständige Angst vor einer militärischen Konfrontation der Supermächte. Die amerikanische Außenpolitik sicherte zum Kampf um Freiheit und gegen 132

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Lendvai: Der Ungarnaufstand, 47; Rainer: Imre Nagy, 85–108; Rainer: Ungarn 1953– 1956. Gosztony: Die langfristigen Auswirkungen, 505. In Ungarn befanden sich vier sowjetische Divisionen mit einer Gesamtstärke von rund 55.000 bis 60.000 Soldaten. Gosztony: Die Sowjetarmee, 622. Vgl. Gehler: The Hungarian Crisis; Rauchensteiner: Spätherbst, 11–12. Am 20. Januar 1957 schlug der österreichische Bundeskanzler Julius Raab vor, auch Ungarn den Neutralitätsstatus zu gewähren. Die Neutralität blieb aber ein Sonderfall und konnte nicht auf weitere Staaten übertragen werden. Vgl. Heinrich: Die Entwicklungen.

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die kommunistische Unterwerfung offiziell ihre Unterstützung zu. Deshalb hofften die Exilungarn, die ihre Heimat vor 1956 verlassen hatten, die Altflüchtlinge, bei einem eventuellen Kampf um die Unabhängigkeit Ungarns auf militärische Hilfe der USA.136 Diese amerikanische Befreiungsrhetorik wurde auch vom Radio Freies Europa propagiert.137 Die Exilanten fühlten sich verpflichtet, gegen die amtierende kommunistische ungarische Regierung und die Abschaffung der Demokratie in Ungarn zu protestieren. Mit einer inneren Wandlung und politischen Veränderung rechneten die Altflüchtlinge aber nicht. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges gingen sie davon aus, dass die von der Sowjetunion unterdrückten Völker in einem dritten Weltkrieg befreit werden würden. Sie wollten den demokratischen Aufbau des befreiten Ungarn unterstützen, wofür sie Pläne einer Einflussnahme auf Vorgänge jenseits des Eiserenen Vorhangs schmiedeten.138 Zur Mitte der 1950er Jahre änderte sich jedoch die internationale Politik. Im Februar 1956 verurteilte Nikita Sergejewitsch Chruschtschow in einer Geheimrede auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion die Verbrechen in der Stalin-Ära, thematisierte die Möglichkeit unterschiedlicher nationaler Realisierungsformen des Sozialismus und propagierte die Verhinderung eines möglichen Krieges durch den politischen Grundsatz der »friedlichen Koexistenz«.139 Statt einer militärischen Konfrontation zwischen Ost und West strebte Chruschtschow eine friedliche außenpolitische Beziehung insbesondere zu den USA an.140 Dieses Prinzip veränderte auch die amerikanische Außenpolitik vor allem in Bezug auf die Unterstützung der durch die sowjetische Besetzung unterdrückten Staaten in Ostmitteleuropa. Nachdem die Rollback-Politik während der Präsidentschaft von Dwight D. Eisenhower auf die Zurückdrängung des sowjetischen Hegemonialstrebens abgezielt hatte, verkündete Außenminister John Foster Dulles Ende Oktober 1956, dass die USA die osteuropäischen Staaten nicht in ihre Allianz einbeziehen würden. Somit blieb der Status quo erhalten. Dementsprechend würden die USA die Wiedererlangung der Souveränität sowie die Veränderung von Interessensphä136 137 138 139 140

Ostermann: Das Ende, 515–533; Wettig: Die sowjetische Militärintervention, 284–286. Vgl. Dockrill: Ungarn. Borbándi: A magyar emigráció; Nagy: Elveszett alkotmány. Rainer: Ungarn 1953–1956, 197; Wettig: Die sowjetische Militärintervention, 287. Wettig: Die sowjetische Militärintervention, 287–288.

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ren in Europa nicht anstreben und dafür auch keinen Krieg führen.141 In Ungarn hoffte man dennoch auf ein militärisches Eingreifen des Westens, mit dem sie an einen Sieg über die mächtige Sowjetunion glaubten.142

2. Volksaufstand in Ungarn 1956 Der Volksaufstand 1956 ist eine Zäsur in der ungarischen Nachkriegsgeschichte. Er gehörte zu den Massenprotesten im Ostblock, wie der Aufstand vom 17. Juni 1953 in Berlin, der Prager Frühling 1968 und die polnischen Unruhen 1980/1981, die als Teile eines Prozesses zum politischen Systemwechsel 1989/1990 führten.143 Der Volksaufstand in Ungarn war das Schlüsselereignis einer ganzen Generation – nicht nur in Ungarn, sondern auch in Bayern und sogar weltweit. 1956 war ein internationales Krisenjahr, da es im Ost-West-Verhältnis zu Konflikten in Polen, Ungarn und Suez kam.144 Im Juni forderten polnische Arbeiter in Posen die Verbesserung sozialer und wirtschaftlicher Lebensbedingungen. Die Streiks weiteten sich zu politischen Protesten aus. Bereits im Frühling 1956 hatte sich in Ungarn eine reformkommunistische Bewegung insbesondere innerhalb der Intelligenz formiert. Sie drängte auf die offene Aufarbeitung der schweren Rechtsbrüche durch die Staatspartei. Als eine Folge dieser Reforminitiative wurde einer der frühen Opfer der innerparteilichen Säuberungen, der 1949 hingerichtete Innen- und Außenminister László Rajk, rehabilitiert. Seine Beisetzung am 6. Oktober 1956, an der Hunderttausende teilnahmen, war eine offene Kundgebung für die Beendigung des Stalinismus in Ungarn.145 Nach dem Wechsel in der politischen Führung Polens am 21. Oktober 1956146 forderte die ungarische Studentenschaft die Beendigung der mili141

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Beer: Zwischen »Rollback« und Ohnmacht, 13–42; Békés: Az 1956-os magyar forradalom, 15–17, 35–38; Ostermann: Das Ende, 528–529. Im Vertrauen auf eine amerikanische Intervention kämpften die Aufständischen 1956 auch dann weiter, als der Kampf militärisch aussichtslos geworden war. Als die Hilfe aus dem Westen ausblieb, fühlten sie sich im Stich gelassen. Nach der Flucht bestätigten 97 Prozent der Ungarnflüchtlinge ihre Hoffnung auf eine westliche Hilfe und 77 Prozent auf ein militärisches Eingreifen. Békés: A magyar forradalom és az ENSZ, 7. Dippel: Tagungsbericht, 1; Wettig: Die sowjetische Militärintervention, 289–292. Das internationale Krisenjahr 1956. Rainer: Ungarn 1953–1956, 212–217. Rainer – Barth: Ungarische Revolution, 237–248.

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tärischen, politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Sowjetunion, die Durchführung demokratischer Wahlen, die Einführung eines Mehrparteiensystems, Pressefreiheit sowie den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn.147 Zudem forderten sie die Beseitigung nichtungarischer Symbole aus dem öffentlichen Leben, so den Austausch des kommunistischen Staatswappens mit Hammer und Ähre durch das historische Kossuth-Wappen,148 die nach sowjetischem Muster gefertigten Uniformen sowie das überdimensionale Stalin-Denkmal in Budapest, die Wiedereinführung der traditionellen Feiertage sowie die Abschaffung des obligatorischen Russisch-Unterrichts. Weitere Forderungen waren die Freilassung des inhaftierten Kardinals József Mindszenty und die Wiedereinsetzung Imre Nagys als Ministerpräsident.149 Am Nachmittag des 23. Oktober organisierten Studenten der Technischen Hochschule Budapest einen Demonstrationszug zum Platz des Denkmals des im ungarischen Freiheitskampf von 1849 berühmt gewordenen polnischen Generals Józef Bem. Diese Veranstaltung galt als Zeichen der Solidarität mit der etwa zeitgleichen polnischen Reformbewegung. Hunderttausende, neben den Studenten auch Arbeiter der staatlichen Betriebe sowie Jugendliche schlossen sich den Demonstrationszügen an, die an mehreren Orten gleichzeitig stattfanden. Vor dem Parlament rief die Menge nach Imre Nagy, vor dem Gebäude des Hörfunks skandierte sie ihre Forderungen und am Stadtwald von Budapest wurde das Stalin-Denkmal gestürzt.150 147

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Forderungskataloge setzte der neu gegründete Verband der Ungarischen Universitätsund Hochschulvereine (Magyar Egyetemisták és Főiskolai Egyesületek Szövetsége) auf. Revolution – Flucht – Integration 5–15. Das alte ungarische Staatswappen geht zurück auf Lajos Kossuth, den Anführer des antihabsburgischen ungarischen Freiheitskampfes von 1849. Dessen Akteure wurden Vorbilder für den Aufstand 1956. Der Petőfi-Klub der reformkommunistischen Intellektuellen wurde 1956 nach dem Dichter und Volksheld der Märzrevolution von 1848, Sándor Petőfi benannt. Rainer – Barth: Ungarische Revolution, 227. Die ungarische Revolution 1956, 60–70; Lendvai: Der Ungarnaufstand, 54–77; Rainer – Barth: Ungarische Revolution, 230–258. Rainer: Ungarn 1953–1956, 157–158. »Große Hoffnungen wurden in ihn [Imre Nagy, R. K.] später gesetzt, da er als Ministerpräsident (Juli 1953–April 1955) mit dem ›Neuen Kurs‹, d. h. mit einer fühlbaren Lockerung der Verhältnisse nach Stalins Tod, personifiziert wurde.« (Kenéz: Polen, 14.) Außerdem war Nagy sowohl kommunistischer Politiker als auch Reformer. »Er war gleichzeitig ein früherer Verfechter des Nationalkommunismus, aber auch eine von der Gesellschaft akzeptierte Führungsperson.« Rainer – Barth: Ungarische Revolution, 225.

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Am Abend des 23. Oktober eröffneten Einheiten des Staatssicherheitsdienstes das Feuer auf die Demonstranten vor dem Hörfunkgebäude. Daraufhin eskalierten die Kundgebungen zum blutigen Straßenkampf. Da sich viele ungarische Offiziere und Soldaten den Protesten angeschlossen hatten, hielt die Regierung die ungarischen Streitkräfte aus dem Kampf gegen den Aufstand heraus. Die in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen hingegen griffen in dieser Nacht und an den folgenden Tagen gewaltsam in die Auseinandersetzungen ein.151 Gemäß den Forderungen der Aufständischen ernannte das kommunistische Zentralkomitee Imre Nagy erneut zum Ministerpräsidenten.152 Von ihm und seiner neuen Regierung erhofften sich die Ungarn einen politischen Neubeginn. Nagy kündigte demokratische Wahlen und ein Reformprogramm an, das einen Teil der revolutionären Forderungen erfüllen sollte. Zusätzlich begann Nagy Verhandlungen über einen Abzug der sowjetischen Truppen. In einer Radioansprache sicherte er den Abzug der kämpfenden sowjetischen Truppen zu, sobald die öffentliche Ordnung wiederhergestellt und die tägliche Arbeit wiederaufgenommen werde. Die sowjetische Gegenseite erklärte sich – wenn auch nur scheinbar – bereit, die Nagy-Regierung anzuerkennen und den Forderungen der Aufständischen stattzugeben. Am 30. Oktober entfernten sich die sowjetischen Truppen vorerst aus der Hauptstadt Budapest. Der Abzug der Besatzungstruppen bedeutete einerseits eine größere nationale Eigenständigkeit, andererseits blieb Ungarn dennoch Teil des sowjetischen Imperiums.153 Nagy versuchte für Ungarn einen eigenen Weg zum Sozialismus zu verwirklichen. Allerdings musste er sowohl die Aufständischen als auch den Kreml überzeugen, dass er in der Lage war, die Interessen beider Seiten miteinander zu vereinbaren. Zwischenzeitlich hatten sich in den ländlichen Regionen Revolutionskomitees und Arbeiterräte gegründet, die weitere Forderungen wie eine staatliche Neutralitätserklärung und den vollständigen Rückzug der sowjetischen Truppen stellten. Die Streiks und Demonstrationen nahmen kein Ende. »Es verbreitete sich die Losung: Solange die Russen nicht abmarschieren, soll niemand arbeiten.«154 Jedoch wurde am 151

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Dockrill: Ungarn, 541; Lendvai: Der Ungarnaufstand, 97; Zachar: Der Warschauer Vertrag, 17. Rainer: Imre Nagy, 124. Rainer – Barth: Ungarische Revolution, 237–258. Rainer: Die Ungarische Revolution, 32.

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31. Oktober in Moskau die zweite militärische Intervention beschlossen, wobei umstritten ist, inwieweit bei dieser Entscheidung die Suez-Krise eine Rolle spielte. Der Konflikt am Suez-Kanal lenkte jedenfalls die Weltöffentlichkeit von Ungarn ab. Auch das Ausbleiben einer erhofften militärischen Reaktion des Westens wird mit der doppelten Problemlage erklärt.155 Radio Freies Europa ermutigte aus München die unterdrückte Bevölkerung in den ehemaligen Ostblockstaaten, sich der sowjetischen Vorherrschaft zu widersetzen. Seine Sendungen erweckten den Eindruck, dass die Vereinigten Staaten in der Tat für die Freiheit jener Völker eintreten würde, dies sogar militärisch. Obwohl Eisenhowers Politik der Befreiung mit friedlichen Mitteln keine militärische Hilfe vorsah, erweckte seine Propagandaund Informationsstrategie bei vielen Ungarn Hoffnungen auf eine amerikanische Intervention. Als der Einsatz amerikanischer Befreiungstruppen ausblieb, machte sich bittere Enttäuschung breit. Die Äußerung von Außenminister Dulles, dass Amerika die Ungarn nicht als potenzielle militärische Verbündete betrachte, war eindeutig.156 Entgegen anderslautender Versprechen deuteten die sowjetischen Truppenbewegungen nicht auf einen Abzug hin, sondern vielmehr auf die Zusammenführung mehrerer Spezialkorps zur Vorbereitung einer Invasion in die Hauptstadt.157 Kurz darauf, am 1. November 1956 verkündete Imre Nagy den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt, erklärte die Neutralität des Landes und somit die Unabhängigkeit von der Sowjetunion, was eine der wichtigsten Forderungen der Aufständischen, Demonstrierenden und Streikenden gewesen war. Für den 5. November kündigten die Arbeiterräte die Wiederaufnahme der Arbeit an und sagten der Regierung ihre Unterstützung zu.158 Doch am 4. November 1956 rückten sowjetische 155

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Obwohl der UNO-Sicherheitsrat am 28. Oktober die ungarische Frage auf die Tagesordnung gesetzt hatte, wurde diese wegen des Suez-Konflikts vertagt. Überdies lenkte in den Vereinigten Staaten die Präsidentschaftswahl am 6. November 1956 die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Innenpolitik. Ebenda, 36–37. Békés: Az 1956-os magyar forradalom, 57; Dockrill: Ungarn, 543; Gati: Zur Neubewertung, 138–153; Lendvai: Die ungarische Revolution, 12–14. Der Publizist und Schriftsteller György Dalos war zur Zeit des Ungarnaufstands dreizehn Jahre alt: »Wir Ungarn hingen am Weltempfänger, ließen uns von dem magischen grünen Auge verzaubern und erwarteten von den Radiowellen jenseits aller Störsender nicht einfach nur Nachrichten, sondern Trost, Erlösung und Rettung. Wir wurden betrogen, aber wir haben uns auch selbst betrogen.« Dalos: Die ungarische Katastrophe. Zur sowjetischen Militäroperation Wirbelwind: Zachar: Der Warschauer Vertrag. Rainer: Die Ungarische Revolution, 38.

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Truppen in Budapest und in mehrere Provinzstädte ein. Gegen 5:20 Uhr gab Nagy als Ministerpräsident über den Freien Sender Kossuth der ungarischen Bevölkerung und der westlichen Welt bekannt, dass sowjetische Truppen im Morgengrauen in Budapest einmarschiert waren, um die legitime ungarische Regierung zu stürzen.159 Die übermächtigen sowjetischen Streitkräfte schlugen die ungarische Revolution blutig nieder und setzten János Kádár als neuen Ministerpräsidenten ein. Obwohl Kádár Mitglied der Regierung Nagys war, bildete er im November 1956 eine Gegenregierung und bat um sowjetische militärische Intervention gegen die volksfeindlichen reaktionären Kräfte, womit er das militärische Eingreifen der sowjetischen Führung rechtfertigte. Moskau wollte nicht nur den Sieg der Konterrevolution verhindern, um die sozialistische Ordnung wiederherzustellen, sondern auch die Zugehörigkeit Ungarns zum Sowjetblock sichern, die durch die Ankündigung des Austritts aus dem Warschauer Pakt und der Neutralität gefährdet war.160 Nach der Niederschlagung des Ungarnaufstands wurden Beteiligte und Sympathisanten Opfer der Vergeltung.161 Weder die weltweiten Protestaktionen noch der Bericht von 1957 über die ungarische Frage der UNOSonderkommission konnten am sowjetischen Vorgehen etwas ändern. Am 4. November 1956 floh Ministerpräsident Nagy in die jugoslawische Botschaft in Budapest und ersuchte um Asyl. Als er Ende November die Botschaft wieder verließ, wurde er verhaftet und nach Rumänien deportiert. Zwei Jahre später wurde er in Ungarn in einem Schauprozess am 16. Juni 1958 zusammen mit anderen Teilnehmern des Aufstands wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet.162 Das Kádár-Regime bezeichnete in dem vom Informationsamt des Ministerrats der Ungarischen Volksrepublik 1956 herausgegebenen „Weißbuch“ den Volksaufstand 1956 als eine »konterrevolutionäre Verschwö159

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Moskau würgt Ungarns Freiheit ab. In: SZ 12 (1956) 265, 5. November, 1. Der Wortlaut der Rede auf Deutsch: http://www.ungarn1956.de/node/106 (13. Januar 2022). Wettig: Die sowjetische Militärintervention, 293–294. 1956 und in den darauffolgenden drei Jahren wurden trotz Amnestieversprechen mehr als 20.000 Menschen inhaftiert, 13.000 interniert sowie über 230 Menschen wegen Beteiligung an der Revolution hingerichtet. Okváth: Die Repressalien; Rainer: Die Ungarische Revolution, 40. Ihre heimlich verscharrten sterblichen Überreste wurden 31 Jahr später exhumiert und am 16. Juni 1989 feierlich beigesetzt. Imre Nagy wurde zu einer Symbolfigur der demokratischen Umgestaltung Ungarns. Vgl. Rainer: Imre Nagy, 13, 213–217, 220.

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rung« beziehungsweise eine »nationale Tragödie« und Imre Nagy als Verräter.163 Nach einer Vergeltungs- und Repressionswelle wurde das Thema des Aufstands in Ungarn jahrzehntelang tabuisiert.

3. Vergeltungspolitik in der frühen Kádár-Ära Bilder von Toten, Verletzten, ausgebrannten Panzern und zerstörten Straßen in Budapest erinnerten an die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs und füllten weltweit die Titelseiten der Tageszeitungen.164 János Kádár bildete eine Gegenregierung und übernahm die Führung der ungarischen kommunistischen Partei mit dem Ziel, in der Ungarischen Volksrepublik die sozialistische Ordnung wiederherzustellen. Bis 1988 prägte er die schon zu seinen Lebzeiten nach ihm benannte Epoche der ungarischen Geschichte. Bis 1962/1963 bestimmten restaurative Maßnahmen die Kádár-Ära als Reaktion auf den Aufstand, während die Phase nach 1963 infolge der Amnestieverordnung zunehmend von einer innenpolitischen Entspannung und außenpolitischen Konsolidierung gekennzeichnet war.165 Nach Ansicht der Kádár-Regierung wäre der Sturz der ungarischen Volksdemokratie mit Hilfe des Westens durch die Einschleusung reaktionär-imperialistischer Elemente aus Österreich geplant worden.166 Auch Moskau beschuldigte Österreich, die Konterrevolution aktiv unterstützt und dadurch seine Neutralität verletzt zu haben. Diese Vorwürfe gegen Österreich dienten in erster Linie als Rechtfertigung für die massive militärische Intervention gegen die Konterrevolution in Ungarn,167 hinter der eine

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Die konterrevolutionäre Verschwörung von Imre Nagy und Komplizen; Die ungarische Revolution 1956, 173–175; Rainer: Imre Nagy, 211–213. Die ungarische Revolution 1956, 121–125. Die ungarische Frage wurde erst 1963 von der Tagesordnung der UNO genommen. Békés: Az 1956-os magyar forradalom, 73. Pressekampagnen im Ostblock warfen auch den USA Spionagetätigkeit und eine aktive Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung des Aufstands mit Hilfe des Senders Radio Freies Europa vor. Gémes: »Schade, schade, immer Spionage!«; Heinrich: Die Entwicklungen; Wohnout: Die Haltung. Die Abriegelung der österreichisch-ungarischen Grenze sollte Anschuldigungen bezüglich einer österreichischen Unterstützung des Aufstands unterbinden. Außerdem verbot Österreich ungarischen Exilanten jegliche politische Aktivität. Ferenc Nagy, dem ungarischen Ministerpräsidenten von 1946/1947, der seit 1947 im amerikanischen Exil lebte und am 29. Oktober 1956 Wien einen Besuch abstattete, wurde jedwede politische

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internationale Verschwörung vermutet wurde.168 Kádár warf auch der Bundesrepublik Deutschland vor, den Ungarnaufstand mit Waffen und der Einschleusung ehemaliger ungarischer Offiziere unterstützt zu haben. Bundeskanzler Konrad Adenauer dementierte die Beschuldigungen und bezeichnete diese Meldung als reine Erfindung.169 Aktive Revolutionäre, aber auch sonstige Beteiligte wie Anhänger und Sympathisanten wurden verhaftet. Allein im November 1956 inhaftierte der ungarische Staatsschutz mit Hilfe des sowjetischen Abwehrdienstes mehr als 7.000 Personen, gegen die Standgerichte im Schnellverfahren ohne Anklageschrift harte Urteile verhängten. Bis Ende 1958 wurden 64.225 Menschen zu einer Gefängnisstrafe und 229 Personen wegen der Teilnahme am Ungarnaufstand zum Tode verurteilt.170 Erst ab 1959, als die politischen Verurteilungen seltener wurden, und eine Teilamnestie erlassen wurde, lockerte das Kádár-Regime den Kurs der rücksichtslosen Verfolgung von Aufständischen. Mit der Auflösung der Internierungslager 1960 und der Einstellung der Volksgerichte 1961 nahmen die Repressalien ab, bis sie 1963 im Zuge der allgemeinen Amnestie vollständig entfielen.171 Zudem sicherte die Amnestieverordnung denjenigen Straffreiheit zu, die das Land ohne Erlaubnis verlassen hatten, was zuvor als Verbrechen geahndet wurde. Nach Beendigung der Unterdrückung wurde es für viele geflohene Ungarn möglich, kurz- oder langfristig in ihr Heimatland zurückzukehren, ohne eine Bestrafung fürchten zu müs-

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Tätigkeit verboten. Borbándi: A magyar emigráció, I, 400–401; Wohnout: Die Haltung, 102–103. Okváth: Die Repressalien, 487. Kádár musste die sowjetische Militärintervention für notwendig und rechtmäßig erklären, weshalb er den Aufstand als »konterrevolutionäre Verschwörung« bezeichnete. Diese offizielle Deutung wurde über dreißig Jahre, während seiner gesamten Amtszeit aufrechterhalten. Eine Neubewertung wurde erst mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems möglich. Rainer: Imre Nagy, 212–215. Adenauer mahnt zu Einigkeit und Wachsamkeit. In: SZ 12 (1956) 265, 5. November, 5; Auch Kadars Lügen haben kurze Beine. Budapester Schauermärchen über Traunsteiner Flüchtlingslager widerlegt. In: RT 116 (1956) 190, 28. November, 8; Empörung über Verschleppung junger Ungarn. In: RT 116 (1956) 183, 16. November, 1. Von den 64.225 Verurteilungen wurden 13.451 mit »Verbrechen an der Volksrepublik Ungarn« begründet. Innenminister Béla Biszku, der die Vergeltungsmaßnahmen leitete, forderte radikale Strafmaßnahmen gegen Aufständische. Okváth: Die Repressalien, 485– 486, 489–490, 492–496. 1963 wurden im Rahmen der Amnestie 4.132 Verurteilte aus der Haft entlassen. Okváth: Die Repressalien, 499–500.

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sen. Nach 1963 hatte sich Ungarn »von einem totalitär-stalinistischen System zu einer autoritär-paternalistischen Ein-Parteien-Ordnung gewandelt, die auf eine ideologische Durchdringung aller Lebensbereiche verzichtete, der Bevölkerung oftmals beachtliche Freiräume eröffnete und ökonomischen Aspekten im Wirtschaftsleben einen wesentlich größeren Stellenwert einräumte.«172

4. Flucht in den Westen Die Niederschlagung des Ungarnaufstands löste eine der größten Fluchtbewegungen seit Ende des Zweiten Weltkriegs aus. 1944 waren im Zuge der ersten Fluchtbewegung viele Ungarn nach Österreich ausgereist, darunter nicht ausschließlich die Mitglieder der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler-Regierung von Ferenc Szálasi173 und der ungarischen Armee. Im Mai 1945 hielten sich Soldaten und die im Rahmen der Umsiedlungsmaßnahmen ausgereisten Politiker, aber auch viele Privatpersonen in Westösterreich und Südostbayern auf. Ein Bruchteil von ihnen blieb endgültig in Bayern.174 Infolge der Beseitigung der demokratischen Opposition 1947/1948 erfolgte die zweite Emigrationswelle vor allem in die USA, wo sich die ungarischen Flüchtlinge für die Befreiung Ungarns einsetzten. Die Niederschlagung des Ungarnaufstands löste die dritte Fluchtbewegung aus, mit der Österreich, aber auch Jugoslawien als Erstaufnahmeländer und Vermittler für die Weiterreise in Drittstaaten konfrontiert waren. Die plötzlich steigende Zahl an Flüchtlingen überstieg die Aufnahmekapazität der Erstaufnahmeländer, so dass sie den Hochkommissar der Vereinigten Nationen für Flüchtlinge und die NATO-Länder zur Bewältigung der Flüchtlingsaufnahme heranzogen. Damit wurde die Ungarnhilfe zu einer internationalen Angelegenheit.175 Erstes Ziel vieler Flüchtender war 1956 Österreich, das einzige nichtkommunistische Nachbarland, das ein Jahr zuvor seine Neutralität erklärt 172 173

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Schmidt-Schweizer: Der Kádárismus, 186. War Parteiführer der ungarischen Nationalsozialisten, der Pfeilkreuzler (nyilaskeresztesek). Er kam Mitte Oktober 1944 mit deutscher Hilfe an die Macht und regierte Ungarn bis April 1945. Szöllösi-Janze: Die Pfeilkreuzlerbewegung. Borbándi: A magyar emigráció, I, 13–130; Kiss: Magyarok Németországban; Nagy: Elveszett alkotmány, 33–45; Romsics: Magyarország, 266–270. Kiss: Magyarok Németországban; Kiss: Magyaren.

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hatte, und aus dem die alliierten Besatzungstruppen abgezogen worden waren. Zwischen Mai und September 1956 wurden an der österreichischungarischen Grenze die Minenfelder und Stacheldrahtzäune entfernt.176 Dies stellte nach dem österreichischen Staatsvertrag 1955 eine Friedensgeste der ungarischen Regierung dar.177 Anstelle des Minengürtels wurde auf ungarischer Seite der Grenzdienst aufgestockt, wobei sowohl ungarische als auch sowjetische Truppen die Grenzwache stellten. Da die ungarischen Streitkräfte und Grenzsoldaten mit den Aufständischen sympathisierten, ließen sie die Flüchtlinge ohne Weiteres oder gegen Abgabe von Wertsachen die Grenze passieren. Häufig waren die Wachposten gar nicht besetzt, so dass die Grenze praktisch offenstand.178 Neben Österreich war auch Jugoslawien Fluchtziel. Nach der Niederschlagung des Aufstands am 4. November versuchte die von der Sowjetunion eingesetzte Kádár-Regierung die Grenzen wieder zu schließen und alle Gebiete Ungarns unter ihre Kontrolle zu bringen. Solange die ungarische Grenze nicht hermetisch abgeriegelt war, gelang etwa 200.000 Menschen die Flucht.179 Die Flüchtenden gelangten mit dem Zug oder dem Bus bis zur österreichischen oder jugoslawischen Grenze, von wo aus sie zu Fuß weitergingen.180 In der Nähe der Grenze warteten Wegführer auf die Flüchtenden, die sie für Geld oder Wertsachen über die Grenze brachten. Die Ungarn nutzten sämtliche sich bietende Wege zur Flucht. Felder und schlammige Sumpfgebiete waren häufig genutzte Fluchtrouten. Einige Flüchtlinge über-

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Am 8. Mai 1956 beschloss der ungarische Ministerrat die technische Grenzsperre mitsamt den Minen zu entfernen. Gémes: Grenze, 79. Heinrich: Die Entwicklungen, 21–29. Infolge des Hochwassers 1954 gelangten zahlreiche Minen nach Österreich, was zu mehreren Unfällen führte. Statt der Sprengmittel installierte Ungarn weiter im Landesinneren Signalanlagen. Rauchensteiner: Spätherbst, 23; Révész: Grenzschutz. Gémes: Grenze; Haslinger: Zur Frage, 147; Rauchensteiner: Spätherbst, 82. Kastner: Die Ungarnflüchtlinge, 90; Kovács: A magyar menekültkérdés. Die Hauptlinien der Eisenbahn nach Westen führten über Budapest. Die drei wichtigsten Verbindungen von Ost- nach Westungarn waren Budapest–Hegyeshalom, Budapest–Steinamanger und Budapest–Groß-Kanizsa, mit den jeweiligen Endstationen. Auf der österreichischen Seite waren Dörfer im Burgenland betroffen: bei Hegyeshalom Keylehof, Karlshof, Halbturn und Deutschlandhof, bei Ödenburg Klingenbach, Baumgarten und Rohrbach, bei Steinamanger Schachendorf, Dürnbach und Schandorf. Gaál: Einleitung zur Dokumentation, 62–68.

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querten kleine Brücken181 oder schwammen durch den Einser-Kanal.182 Ab Mitte November gestaltete sich die Flucht aufgrund der Wiedererrichtung des Minengürtels und der winterlichen Wetterlage bei Temperaturen von bis zu minus zehn Grad immer schwieriger.183 Auf der österreichischen Seite der Grenze zu Ungarn stand das eben erst aufgestellte Bundesheer in Alarmbereitschaft. Da sich die Neutralität Österreichs auf dem Prüfstand befand, herrschte große Anspannung.184 Die Grenzkontrollposten mussten verstärkt werden, da eine Grenzüberschreitung kämpfender Truppen nach Österreich nicht ausgeschlossen werden konnte. Außerdem wurde eine Sperrzone entlang der burgenländischen Grenze eingerichtet. Um den Grenzverlauf des österreichischen Territoriums für die ungarischen und sowjetischen Soldaten deutlich zu markieren, steckten rot-weiß-rote Fähnchen entlang der Staatsgrenze im Boden. Die Heeresverbände erhielten Schießbefehl und sollten das Feuer eröffnen, sobald bewaffnete Personen oder Gruppen den Befehl verweigerten, die Waffe niederzulegen oder nicht zum Rückzug bereit waren. Alle Grenzüberquerer mussten entwaffnet werden.185 Obwohl der österreichische Bundeskanzler Julius Raab die Beibehaltung der Neutralität des 181

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Andau liegt unmittelbar an der ungarisch-österreichischen Grenze, im burgenländischen Bezirk Neusiedl am See, und zählte damals etwa 3.000 Einwohner. Diese und andere Gemeinde – wie Tadten, Wallern, Pamhagen – lagen an einer der Hauptfluchtlinien. Die kleine Holzbrücke von Andau, über die etwa 7.000 flüchtende Ungarn gingen, wurde zum Symbol der Freiheit (Soós: Ausztria, 83). Vom 17. bis 21. November 1956 verbrachte der amerikanische Journalist Martin A. Bursten fünf Tage in der Gegend von Andau. Von diesem Grenzgebiet aus wurden die Ungarnflüchtlinge nach Eisenstadt oder ins Lager Traiskirchen, 20 Kilometer südlich von Wien, weiterbefördert. Bursten: Escape, 69–81. Der Einser-Kanal (Hanság-Főcsatorna) verläuft auf ungarischem Gebiet parallel zur Grenze zwischen Österreich und Ungarn. Hier lotsten die Münchener Studenten Peer Lange und Peter Kepser zahlreiche Ungarnflüchtlinge über die Grenze. Siehe dazu Kapitel IV. 3. 2. Haslinger: Zur Frage, 149. Zu Fluchtgeschichten vgl. Bursten: Escape; Michener: Die Brücke. Rauchensteiner: Spätherbst, 5–10; Schmidl: Die erste Bewährung. Rauchensteiner: Spätherbst, 34–35, 43–47. Ende November 1956 ereignete sich bei Rechnitz ein Zwischenfall, als zwei bewaffnete sowjetische Soldaten ungarische Flüchtlinge verfolgten und dabei die österreichisch-ungarische Grenze überschritten. Da einer der sowjetischen Soldaten auf mehrmalige Aufforderung die Waffe nicht niederlegte und nicht stehenblieb, wurde er von österreichischen Zollwachbeamten erschossen. Dieses Vorgehen wurde seitens der Sowjetunion widerspruchlos anerkannt. Speckner: Das Bundesheer, 271; Vom Traum zum Trauma 146.

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Landes und die Vermeidung jeglicher Provokation, die zu einer sowjetischen Intervention Anlass gegeben hätte, im Auge hatte, musste er zum ungarischen Aufstand und dessen Niederschlagung klare Stellung beziehen. Da die militärische Neutralität keinen weltanschaulichen Neutralismus bedeutete, öffnete die österreichische Regierung ihre Grenzen für die ungarischen Flüchtlinge und akzeptierte keine Grenzverletzung sowjetischer Truppen. Mit der zweiten militärischen Intervention und damit der Niederschlagung des Aufstands riegelte die Sowjetunion auch die ungarische Grenze zu Österreich ab, mit der Absicht, reaktionäre Hilfe für die Konterrevolution aus dem Westen zu verhindern. Im Hintergrund standen die sowjetischen Vorwürfe gegenüber Österreich, den Ungarnaufstand mit Waffen oder mit Einschleusung von imperialistischen Kräften unterstützt zu haben.186 Die Sowjetunion benutzte den Einsatz massiver Propaganda gegen Österreich als Rechtfertigung für den militärischen Eingriff in Ungarn und für »eine Schadensbegrenzung, was den mit der Intervention einhergehenden Ansehensverlust der UdSSR in der Welt betraf«.187 Nach dem 4. November weiteten sich die einzelnen Fluchtversuche zu einer breiten Fluchtbewegung aus. Sowohl Zivilpersonen als auch ungarische Soldaten und Aufständische gelangten scharenweise über die österreichisch-ungarische Staatsgrenze, wo sie aufgefangen und in provisorischen Notunterkünften versorgt wurden.188 »Hunderte von Flüchtlingen aus Ungarn. Männer, Frauen und Kinder, nur mit wenigen Habseligkeiten beladen«189 warteten im Grenzgebiet auf die Weiterleitung ins Landesinnere. Da aber die Anzahl der Flüchtenden vorerst schwer einschätzbar war, und Österreich auf eine größere Anzahl nicht vorbereitet war, überforderte diese Aufgabe binnen kurzer Zeit die Behörden. »Der Flüchtlingsstrom schuf Verhältnisse, die an den Krieg und an die unmittelbare Nachkriegszeit gemahnten«, erinnerte sich der damalige österreichische Bundesin186 187

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Wohnout: Die Haltung, 102–105. Ebenda, 101. Noch nach der zweiten sowjetischen Invasion waren viele Ungarn davon überzeugt, dass die USA Ungarn unterstützen würden. Die Ungarnflüchtlinge, die auf eine militärische Unterstützung aus dem Ausland gehofft hatten, wunderten sich über die sofortige Entwaffnung bei der Ankunft an der österreichisch-ungarischen Grenze, und ihre Enttäuschung war groß. Zu den Fluchtwegen in den Grenzgebieten zwischen Österreich und Ungarn: Gaál: Einleitung zur Dokumentation, 62–78. Elendzug der Flüchtlinge. In: SZ 12 (1956) 265, 5. November, 3.

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nenminister Oskar Helmer.190 Problematisch war vor allem die Koordination und die Kommunikation zwischen den einzelnen Hilfsorganisationen – wie Caritas und Rotes Kreuz – sowie ihr Dialog mit den staatlichen Behörden. Ad hoc-Lösungen herrschten vor, bis Ende November absehbar wurde, dass Österreich die Aufnahme von täglich rund 8.000 ungarischen Flüchtlingen, also von damals schon insgesamt rund 70.000 Flüchtlingen alleine nicht bewältigen konnte.191

5. Ungarns Bevölkerungsverlust Das Kádár-Regime schwieg über die 200.000 Menschen, die Ungarn 1956 in Richtung westliches Ausland verlassen hatten.192 In erster Linie bedeuteten die Geflüchteten einen Bevölkerungsverlust für Ungarn. Wenngleich das Zentrale Statistische Amt (Központi Statisztikai Hivatal) in Budapest Anfang 1957 eine Untersuchung über die illegalen Grenzübertritte durchführte, wussten nur sehr wenige Ungarn davon. Die Publikation mit der Zahl der Landesflüchtigen oder – laut offizieller Bezeichnung – Dissidenten enthielt nur einen Teil der Untersuchungsergebnisse. Dennoch wurde sie streng geheim gehalten. Erst 1991 wurde dieser Bericht der breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.193 Über die Zahl der Ungarnflüchtlinge veröffentlichten die Aufnahmeländer verschiedene Statistiken, die aber stark voneinander abwichen, da die Bestandsaufnahmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorgenommen worden waren. Die Quellen bestätigen die häufig verwendete Zahl von

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Helmer: 50 Jahre, 303. 63 Flüchtlingslager wurden zur Verfügung gestellt, außerdem Schulen, Gasthäuser und Kasernen zu Übergangsunterkünften umfunktioniert. Helmer: 50 Jahre, 305–307; Rásky: »Flüchtlinge haben auch Pflichten«, 5–7; Stanek: Verfolgt, 60–78. Siehe zum Grenzgebiet Folbert: Ungarnhilfe, 82. Kastner: Die Ungarnflüchtlinge, 75. KSH jelentés. Laut Verordnung 2/1957 des ungarischen Innenministeriums musste jeder, der sich im Ausland aufhielt, bis zum 20. Februar 1957 bei der Polizei abgemeldet werden (Murber: Flucht, 43). Anhand der Abmeldungen verfasste das KSH Statistiken über diejenigen Personen, die Ungarn 1956 und 1957 verlassen hatten (Stand: 31. März 1957). Die Geheimhaltung erklärt sich aus der verordneten »kollektiven Amnesie«, mit der das Kádár-Regime den Aufstand in Vergessenheit geraten lassen wollte, um das private Leben zu entpolitisieren. Alföldy: Ungarn, 52; Die ungarische Revolution 1956, 163.

Un g a r n s B e v ö l k e r u n g s v e r l u s t

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rund 200.000 Ungarnflüchtlingen, von denen der größte Teil nach Österreich gelangte (siehe Tabelle 1).194 Tabelle 1: Anzahl der Ungarnflüchtlinge, November 1956 – März 1957195 Datum

Zahl der nach ÖsterZahl der nach Jugoslareich geflohenen Ungarn wien geflohenen Ungarn 9. November 1956 15.000 23. November 1956 30.000 30. November 1956 80.000 7. Dezember 1956 100.000 14. Dezember 1956 120.000 21. Dezember 1956 135.000 28. Dezember 1956 150.000 18. Januar 1957 163.000 25. Januar 1957 167.000 8. Februar 1957 183.000 15. Februar 1957 17.000 1. März 1957 18.000 Die Auswanderungen in Richtung Westen bewirkten in Ungarn innerhalb weniger Monate einen Bevölkerungsrückgang. Ibolya Murber gab ihren demografisch-statistischen Untersuchungen über die 1956er Flüchtlinge den Titel „Gesichter aus der Menge“, wodurch sie deutlich machte, dass hinter jeder Zahl ein Individuum und ein Einzelschicksal steht.196 Der Anteil der Auswanderungen betrug 1,5 bis 1,7 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung Ungarns (etwa 9,5 Millionen), und war damit etwa um 194

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Soós: Az 1956-os menekültek, 58, stützt sich auf den Halbjahresbericht des Ungarischen Flüchtlingsdienstes in Österreich vom 31. Mai 1958, laut dem 183.667 Ungarn nach Österreich geflohen sind. 17.499 Geflohene blieben in Österreich, 154.993 emigrierten in westliche Länder und 11.175 kehrten nach Ungarn zurück. Die Exilzeitung „Új Hungária“ (München) notierte wöchentlich die Flüchtlingszahlen; sie registrierte bis zum 1. März 1957 183.000 Ungarn in Österreich und 18.000 in Jugoslawien (siehe die Ausgaben ÚH 4 [1956] 44, 9. November – 5 [1957] 9, 1. März). Puskás: Elvándorlások, 247–249, verwendet den „Report of the Intergovernmental Committee for European Migration (ICEM) on the Hungarian Refugee Situation“ (Stand: 31. Dezember 1957). Berechnungen der Münchener ungarischen Exilzeitung „Új Hungária“: ÚH 4 (1956) 44, 9. November – 5 (1957) 9, 1. März. Murber: Arcok.

58

Einleitung

70 Prozent höher als die natürliche Bevölkerungszunahme im Jahr 1956. Insbesondere das Alter- und Geschlechterverhältnis veränderte sich deutlich. Zwei Drittel der Auswanderer waren Männer, was einen ähnlich großen Frauenüberschuss wie 1949 zur Folge hatte.197 Auffällig hoch war auch der Anteil der jungen Erwachsenen unter 25 Jahren: Laut ungarischen Erhebungen handelte es sich um mehr als die Hälfte aller Ungarnflüchtlinge, und auch die österreichischen Statistiken liegen hier bei fast 50 Prozent.198 Von den in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommenen Ungarn waren sogar 61,9 Prozent jünger als 25 Jahre.199 Ein bedeutender Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, vorwiegend Männer, die nach dem Zweiten Weltkrieg im kommunistischen System aufwuchsen, verließ Ungarn. Dies wirkte sich nicht nur auf den Arbeitsmarkt und auf die Familienstrukturen aus, sondern bedeutete auch, dass gerade jene Generation auswanderte, die durch das kommunistische Regime erzogen worden war. Laut Murber folgte daraus besonders vehemente Kritik am bestehenden politischen System in Ungarn.200 45 Prozent aller Ungarnflüchtlinge waren zwischen 15 und 29 Jahre alt. Die Altersklasse von 40 bis 59 war nur mit zwölf Prozent, jene der über 60jährigen mit weniger als ein Prozent vertreten. Dies bedeutete, dass vor allem der Anteil der jungen Menschen im arbeitsfähigen Alter besonders ins Gewicht fiel. Gleichzeitig blieben vor allem ältere Menschen in Ungarn, wobei der Anteil der Männer auch hier verhältnismäßig hoch war.201 Zwar hatte die Gesundheitsministerin Anna Ratkó in den 1950er Jahren 197

198 199

200

201

Kecskés: Franciaország, 232; KSH jelentés 199. Bei der Volkszählung 1949 fielen auf 1.000 Männer 1.081 Frauen. Kecskés: Die Aufnahme, 70; Murber: Arcok, 960; Valuch: Magyarország társadalomtörténete, 48–50. Murber: Arcok, 965. BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen und zuständige Ministerien. Bonn, 5. Mai 1958: Statistische Unterlagen über ausländische Flüchtlinge aus Ungarn. PAAA B 12, 572 c, 3. Murber: Arcok, 962. Zehn Jahre nach dem Ungarnaufstand schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ rückblickend, dass die aktiven Aufständischen »Lieblingskinder der kommunistischen Partei« waren: »eine Jugend, die acht Jahre lang intensiv in kommunistischem Geist erzogen worden war, eine Studentenschaft, die die Kommunisten nach streng proletarischem Ausleseprinzip vorsorglich von allen ›Klassenfeinden‹ gesäubert hatten«. Die Bevölkerungsschichten, »auf die der Kommunismus alle seine Zukunftshoffnungen gesetzt hatte, waren hier in Ungarn aufgestanden, um ihn zu stürzen und aus dem Lande zu jagen«. Konitzer: Der Aufstand der Ungarn. KSH jelentés 199–200.

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mit staatlichen Regelungen, etwa dem Verbot der Abtreibung und der Einführung der Kinderlosensteuer, den natürlichen Bevölkerungszuwachs erfolgreich gefördert. Dennoch fehlte ein Großteil der jungen Generation im arbeitsfähigen Alter.202 Die demografischen Probleme entstanden nicht nur aufgrund des Alters, sondern auch wegen des Familienstandes der geflüchteten Ungarn. 59 Prozent der Ungarnflüchtlinge waren ledig, was den Anteil der in Ungarn verblieben ledigen Jugendlichen dementsprechend verringerte. Auch hier waren Männer stärker betroffen als Frauen.203

6. Aufnahmestaaten und Statistiken In den 1980er Jahren geriet das Thema der Ungarnflüchtlinge in Österreich in den Blickpunkt der Forschung. Zunächst lag das Hauptaugenmerk auf der Rolle Österreichs als Erstaufnahmeland sowie auf dem Einsatz des österreichischen Bundesheeres an der Staatsgrenze zu Ungarn und die damit verbundene Herausforderung der Beibehaltung der Neutralität.204 Eduard Stanek ordnete die Aufnahme der Ungarn in die Geschichte der Flüchtlinge der österreichischen Nachkriegszeit ein und gab anhand der Akten des österreichischen Bundesinnenministeriums erste Darstellungen über die Ungarnflüchtlinge bekannt. Weitere Quellen sind Berichte der internationalen Flüchtlingsorganisation Zwischenstaatliches Komitee für europäische Auswanderung (Intergovernmental Committee for European Migration), die an der Weiterleitung der Ungarn aus Österreich in Drittstaaten maßgeblich beteiligt war, sowie, zum Vergleich, des ungarischen Zentralen Statistischen Amtes (siehe Tabelle 2). Österreich nahm laut Stanek 180.432 Ungarnflüchtlinge auf, von denen 7.722 nach Ungarn zurückkehrten und 154.309 in einen Drittstaat auswanderten.

202 203

204

Szabó: Egy millióval kevesebben, 170; Valuch: Hétköznapi élet, 105. Anfang Januar 1956 kamen 797 ledige Frauen auf 1.000 ledige Männer. Binnen eines Jahres erhöhte sich diese Quote auf 830. Der Anteil der ledigen Jugendlichen sank insbesondere bei den Männern. KSH jelentés 200–201. Vgl. Eger: Krisen; Rauchensteiner: Spätherbst.

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Einleitung

Tabelle 2: Anzahl der Ungarnflüchtlinge, die aus Österreich weiterreisten205 E. Stanek ICEM-Bericht Europäische Aufnahmeländer Großbritannien 20.290 20.590 Bundesrepublik Deutschland 13.317 14.270 Schweiz 12.063 11.962 Frankreich 10.240 10.232 Schweden 6.002 5.453 Italien 3.849 3.849 Belgien 3.461 3.416 Niederlande 3.447 3.556 Dänemark 1.178 1.173 Norwegen 1.123 1.159 Andere europäische Länder 9 845 Insgesamt 74.979 76.505 Außereuropäische Aufnahmeländer USA 37.058 35.026 Kanada 24.513 24.525 Australien 10.156 9.423 Israel 1.897 1.893 Südafrika 1.323 1.309 Neuseeland 1.012 960 Brasilien 1.009 977 Argentinien 914 906 Venezuela 706 549 Andere außereuropäische 742 1.666 Aufnahmeländer Insgesamt 79.330 77.234

205

KSH-Bericht 19.698 14.485 11.200 8.346 4.768 3.806 3.139 4.535 1.120 1.429 1.547 74.073 30.487 18.059 5.622 1.832 1.163

1.801 58.964

Eduard Stanek arbeitete ab 1946 als Hofrat in der Flüchtlingsabteilung des österreichischen Bundesministeriums für Inneres und ab 1960 als Geschäftsführer des Flüchtlingsfonds der Vereinten Nationen. Seine Angaben basieren (Stand: April 1958) auf Berichten der ICEM-Flüchtlingsorganisation sowie des Flüchtlingslagers Traiskirchen (Stanek: Verfolgt, 223). Zum Vergleich: Kastner: Die Ungarnflüchtlinge; Kecskés: Egy humanitárius csoda. „Report of the Intergovernmental Committee for European Migration on the Hungarian Refugee Situation“ (Stand: 31. Dezember 1957) bei Puskás: Elvándorlások, 247–249; KSH jelentés.

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Jugoslawien nahm 19.857 Ungarnflüchtlinge auf. Auch von hier aus war sowohl eine Auswanderung in einen Drittstaat als auch eine Rückwanderung nach Ungarn möglich. 634 Personen ließen sich in Jugoslawien nieder, 2.773 Personen kehrten nach Ungarn zurück, 76 Personen sind verschwunden und 16.374 Ungarn wanderten von hier aus in einen Drittstaat aus (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Anzahl der Ungarnflüchtlinge, die aus Jugoslawien weiterreisten206 Europäische AufUngarnAußereuropäische Ungarnnahmeländer flüchtlinge Aufnahmeländer flüchtlinge Frankreich 2.455 USA 2.509 Belgien 2.376 Kanada 1.765 Schweden 1.295 Australien 1.500 Bundesrepublik 1.131 Brasilien 568 Deutschland Schweiz 744 Israel 167 Österreich 381 Neuseeland 70 Norwegen 344 Argentinien 15 Großbritannien 287 Kuba 6 Dänemark 212 Südafrika 6 Italien 170 Chile 5 Niederlanden 80 Uruguay 3 Finnland 1 Türkei 2 Griechenland 1 Irak 1 Andere lateiname280 rikanische Länder Insgesamt 9.477 Insgesamt 6.897

206

Kovács: A magyar menekültkérdés, 445–447.

III. Auf dem Weg durch Bayern Am 24. Oktober 1956 erreichten die Nachrichten über den Ausbruch des Ungarnaufstands die westdeutsche Bevölkerung. Bis Ende Dezember beschäftigten sich die überregionalen Tageszeitungen in Westdeutschland täglich in irgendeiner Form mit den Ungarn. Bis zur Niederschlagung des Aufstands herrschte die Sorge vor einer Eskalation der Kämpfe, gar einem erneuten Weltkrieg.207 Die Vorgänge in Ungarn riefen weltweit Solidarität hervor, die sich insbesondere in großer Hilfsbereitschaft, antikommunistischen Protesten, Sympathiekundgebungen und Schweigeminuten offenbarte. Das Ausmaß der Einsatzbereitschaft und Spendenfreude der westdeutschen Bevölkerung übertraf alle Erwartungen. In jeder kleinen deutschen Ortschaft war die Ungarnhilfe präsent. Sie wurde elf Jahre nach 1945 durch die gute Wirtschaftslage begünstigt.208 Die Bundesrepublik Deutschland übernahm etwa 14.500 Ungarnflüchtlinge aus den Erstaufnahmestaaten und ermöglichte die Durchreise Tausender Ungarn in einen Drittstaat. Dabei wurde Bayern wegen seiner geografischen Lage, in der unmittelbaren Nachbarschaft Österreichs, nicht nur für die Verteilung der aufgenommenen Ungarn auf die einzelnen Länder der Bundesrepublik Deutschland zuständig. Der Freistaat beteiligte sich auch an der Weiterleitung der Ungarnflüchtlinge aus Österreich in europäische sowie außereuropäische Länder. Etwa 90.000 Ungarn passierten die bayerisch-österreichische Grenze, wobei die Mehrheit auf der Durchreise von Österreich in ein westliches Land war. Nur etwa 15 Prozent der Flüchtenden blieben in der Bundesrepublik Deutschland.209 Wie kam es zum Entschluss, ungarischen Flüchtlingen zu helfen und sie in Deutschland aufzunehmen? Wer traf die Entscheidungen über die Anzahl der Aufzunehmenden? Welche Kriterien bestimmten, wer aufgenom207 208

209

Das internationale Krisenjahr 1956. Zu Sach- und Geldspenden: 65. Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Bundestag. Bonn, 16. November 1956, Tagesordnungspunkt 1. PAAA B 12, 550 b. Zur Hilfsbereitschaft: Aufgabe der Caritas-Ungarnhilfe. In: Ca 58 (1957) 330–331; Der Ruf aus Ungarn. In: CD 9 (1956) 85; Immer neue Hilfsangebote für Ungarn. Spenden und Solidaritätskundgebungen in der ganzen Bundesrepublik. In: RT 116 (1956) 176, 3. November 1956, 3. Siehe Kapitel III. 3. 2.

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men wurde und wer nicht? Da Bayern unmittelbar von der Aufnahme der Ungarn betroffen war, beeinflussten die von der Bundesregierung gefassten Beschlüsse in besonderem Maße die bayerische Landespolitik. Aufgrund der Diskussionen in den betroffenen Ministerien konnte die Ungarnfrage auch im Freistaat nicht vernachlässigt werden.

1. Die Bundesrepublik Deutschland und Ungarn Nach 1945 bestimmten die zunehmende Blockbildung und die deutsche Teilung die bilateralen Kontakte beider Staaten.210 Die Bundesrepublik Deutschland gehörte zu den Westmächten, die Volksrepublik Ungarn zum sowjetischen Hegemonialbereich. Bereits 1946 hatte auch Winston Churchill den Ausdruck Eiserner Vorhang verwendet, der für Europa nicht nur eine ideologische, sondern auch eine physische Trennung darstellte.211 1949 war die 356 Kilometer lange österreichisch-ungarische Grenze praktisch abgeriegelt worden. In der 15 Kilometer breiten Grenzzone hielten Wachtürme und Minengürtel Eindringlinge fern. Dennoch konnte von einer hermetischen Abriegelung nicht die Rede sein, die Lokalbevölkerung pflegte durchaus Kontakte über der Grenze. Der Eiserne Vorhang sollte Ausländer an der Einreise nach Ungarn und ungarische Bürger an der Ausreise hindern, außerdem Schutz vor westlichen Ideen und Ideologien bieten. Durch diese Undurchlässigkeit entstanden falsche Vorstellungen über das Leben im Westen, die auch dessen Idealisierung begünstigten.212 Moskaus außenpolitische Linie prägte Ungarns staatliche Beziehungen. In Berlin, der Hauptstadt der DDR, war 1953 eine ungarische Botschaft eingerichtet worden, nicht aber in Westdeutschland, weshalb es bis 1973 keine diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Ungarn gab.213 Trotzdem waren beide Seiten an der Pflege ihrer wirtschaftlichen Beziehungen interessiert, da Deutschland Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte aus Ungarn und Ungarn Industriezeugnisse aus der Bundesrepublik importierten. Auch wenn die Handelsbeziehungen in der Öffentlichkeit nicht thematisiert wurden, be210

211 212 213

Kiss: Az első államközi megállapodástól; Masát: Magyarország; Schmidt-Schweizer – Dömötörfi: Adenauer. Balbier: Der Kalte Krieg, 7. Vgl. Gémes: Grenze. Masát: Magyarország, 127.

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standen wirtschaftliche Kontakte zwischen beiden Staaten. Zu Beginn der 1950er Jahre wurde in Frankfurt am Main sogar ein ungarisches Außenhandelsbüro eingerichtet, allerdings mit ungeregeltem Rechtsstatus; es nahm in begrenztem Maße auch konsularische Aufgaben wahr, dies unter Duldung der westdeutschen Behörden.214 Die Außenpolitik der Adenauer-Regierung wurde durch die HallsteinDoktrin bestimmt, die ein Hindernis für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen war.215 Annäherungsversuche hatte es schon vor dem Aufstand gegeben, und zwar in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.216 So kam es zu einem Zahlungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn,217 zum Austausch auf wissenschaftlichen Konferenzen sowie zur Verbreitung von deutschen Filmen in Ungarn und deutschem Interesse an der ungarischen Kultur. 1955 und 1955–1957 kamen der Spielfilm „Ich denke oft an Piroschka“ beziehungsweise die Trilogie „Sissi“ in die Kinos und »lenkten – bei all ihrer verklärenden Romantik – ein lebhaftes und gutwilliges Publikumsinteresse auf Land, Volk und Geschichte der Magyaren«.218 Darüber hinaus brachte der Fußball-Sport den Ungarn internationale Bekanntheit. Sowohl die Erfolge der ungarischen Fußballnationalmannschaft vom gewonnenen olympischen Fußballturnier in Helsinki 1952 bis zum siegreichen Spiel des Jahres 1953 gegen England als auch ihre Finalniederlage gegen Westdeutschland bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in Bern, die gleichzeitig als Wunder von Bern in die Fußballgeschichte einging, fesselten Millionen. Die ungarische Nationalmannschaft, die Wunderelf, war weltberühmt.219

214 215

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Schmidt-Schweizer: Rückblick, 14. Nach dieser Doktrin, benannt nach Walter Hallstein, dem Staatsekretär im Auswärtigen Amt, war die Bundesrepublik Deutschland einzige legitime Vertretung der Deutschen. Im Sinne dieses Alleinvertretungsanspruchs unterhielt die Bundesrepublik keinen Kontakt mit Drittstaaten, die mit der DDR diplomatische Beziehungen pflegten oder diese anerkannten. Schmidt-Schweizer – Dömötörfi: Adenauer, 59–60. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Bayern und Ungarn wurden erst Anfang der 1970er Jahre intensiviert. Locher: Wirtschaftsbeziehungen. Vgl. Fischer: Die deutsch-ungarischen Wissenschaftsbeziehungen. Es wurde am 17. Oktober 1955 geschlossen, wobei der ungarisch-westdeutsche Handel auf der Grundlage der Deutschen Mark abgewickelt werden sollte. Schmidt-Schweizer: Rückblick, 18. Lengyel: Stationen, 354. Siehe dazu Kapitel V. 1. Fußball-Weltmeister durch 3:2. In: PNP 9 (1954) 104, 5. Juli, 4.

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Die Niederschlagung des Ungarnaufstands verhinderte die weitere Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn und war ein Rückschlag für die gegenseitigen Annäherungen, auch wenn die Verhandlungen über die bilateralen Handelsbeziehungen bereits 1957 fortgesetzt wurden. 1963 kam es zu einem Handelsabkommen und zur Errichtung von Handelsvertretungen in Budapest und Frankfurt am Main.220 Erst am 21. Dezember 1973 wurde es im Rahmen der neuen Ostpolitik Willy Brandts möglich, diplomatische Beziehungen zwischen der Volksrepublik Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen. Damit begann eine neue, dynamische Phase der bilateralen Beziehungen, die durch gegenseitige Besuche hochrangiger Politiker gefestigt wurden.221

2. Regierungsentscheidungen zur Aufnahme ungarischer Flüchtlinge Ab Anfang November 1956 richtete der österreichische Bundesinnenminister Helmer mehrere Aufrufe an die internationale Öffentlichkeit. Die österreichischen Auffanglager waren bereits zehnfach überfüllt. Helmer hielt das »Schicksal der ungarischen Flüchtlinge« für ein Problem, »das die ganze Welt angeht«.222 Er forderte die westlichen Staaten zur Aufnahme von Ungarnflüchtlingen auf: »Sie [die Ungarnflüchtlinge, R. K.] alle benötigten ein Obdach, Verpflegung, medizinische Versorgung, Kleider. All das wäre leicht aufzutreiben gewesen, wenn es sich bloß um ein paar tausend Menschen gehandelt hätte. Aber die Flüchtlingszahlen stiegen in einem Ausmaß, das niemand für möglich gehalten hätte.«223 Bald zeigte sich weltweit eine große Bereitschaft, den Flüchtlingen zu helfen. Europäische und überseeische Länder meldeten sich, um den Un220

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Das entsprechende Abkommen wurde am 10. November 1963 unterschrieben. Am 8. Juli 1964 nahmen die Handelsvertretungen ihre Tätigkeit auf. Sie galten als Vorstufe zu diplomatischen Beziehungen und erhielten 1969 das Recht auf Visaerteilung. Horváth: Die Sonne, 124; Kiss: Az első államközi megállapodástól, 42–43; Masát: Magyarország, 140; Schmidt-Schweizer – Dömötörfi: A magyar–nyugatnémet kapcsolatok, 20–24. Helmer: 50 Jahre, 306. Ebenda, 303. Am 29. Januar 1957 schilderte Helmer vor dem Exekutivkomitee des UNFlüchtlingshochkommissariats in Genf in scharfem Ton, dass Österreich die Hauptlast des ungarischen Problems trage und um die Übernahme jedes einzelnen Flüchtlings betteln müsse. Folberth: Ungarnhilfe, 108–109.

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garn eine neue Heimat zu bieten. Um die internationale Hilfe und die Auswanderung der Ungarnflüchtlinge zu organisieren, bildete sich bereits Anfang November 1956 ein Koordinationsausschuss des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen, der die internationale Flüchtlingsorganisation ICEM mit der Durchführung der Auswanderung der Ungarn aus Österreich beauftragte.224 Am 6. November 1956 begannen fünf Teams mit der Registrierung zur Abreise aus den österreichischen Lagern Traiskirchen und Judenau in europäische und überseeische Drittländer.225 Bei der Betreuung der Ungarn unterstützten die Liga der Rotkreuzgesellschaften sowie mehr als 60 internationale und freiwillige Hilfsorganisationen das österreichische Bundesinnenministerium, das für die Flüchtlingsfrage zuständig war. Das Flüchtlingskommissariat der UNO erkannte die Ungarn als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention von 1951 an und finanzierte einen Teil der Versorgung aus dem Flüchtlingsfond mit.226 Der deutsche Beauftragte des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, Rohrolt, und der deutsche Vertreter der ICEM, Aaroe, nahmen Kontakt mit den zuständigen deutschen Bundesministerien auf, um über eine Unterstützung einer Umsiedlung von ungarischen Flüchtlingen zu beraten.227 Am 30. Oktober 1956 beriet die deutsche Bundesregierung, wie sich die Bundesrepublik Deutschland in dieser politischen Lage verhalten sollte. Den zuständigen Politikern war durchaus bewusst, dass sie »Zeugen einer weltgeschichtlichen Stunde« waren, in der sie voller Sorge auf das Verhalten der beiden Großmächte blickten.228 In der Kabinettsitzung am 7. November meinte Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß, »dass die Gefahr eines dritten Weltkrieges noch nicht vorüber sei«.229 Diese außen224

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Sitzungsprotokoll vom Wiener Vertreter des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR). Wien, 11. November 1956. BArch B 106, 47465. Helmer: 50 Jahre, 306; Folberth: Ungarnhilfe, 108; Flüchtlingslager füllen sich wieder. In: RT 116 (1956) 179, 9. November, 1. Um mögliche sowjetische Anschuldigungen zu vermeiden, wurde die Rolle der NATO in der internationalen Hilfsaktion nicht an die Öffentlichkeit gebracht. Kecskés: A menekülő egyén; Kecskés: Eine Geschichte, 46–47, 52–53. Vermerk über die Ressortbesprechung im Auswärtigen Amt. Bonn, 7. November 1956. BArch B 106, 47465. Sondersitzung der Bundesregierung am 30. Oktober 1956. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 671. Sondersitzung der Bundesregierung am 7. November 1956. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 695.

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politische Einschätzung förderte die antikommunistische Haltung, welche die Politik der frühen Bonner Republik bestimmte.230 Die Ungarn, die gegen die sowjetische Unterdrückung und für die Freiheit ihres Landes kämpften, gewannen die uneingeschränkte Zuneigung nicht nur der deutschen, sondern auch der westlichen Bevölkerung weltweit.231 Demonstrationen vor den sowjetischen Botschaften in London, Paris, Kopenhagen, Wien und Berlin gegen das Eingreifen der Sowjetunion forderten den Abbruch der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit der Sowjetunion und bekundeten die Solidarität der freien Welt mit Ungarn.232 Bundeskanzler Konrad Adenauer verurteilte das Eingreifen der Sowjetunion in Ungarn und dementierte die Meldung des Moskauer Rundfunks, die Bundesrepublik schleuse ungarische Offiziere nach Ungarn ein.233 Er betonte jedoch die Fortsetzung des vor einem Jahr begonnenen Dialogs mit der Sowjetunion234 hinsichtlich der »Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands«, die sich »nicht ohne die Zustimmung und die Mitwirkung der Sowjetunion« verwirklichen ließe.235 Der bayerische Land230 231

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Franz: »Wir wählen die Freiheit!«, 145; Wentker: Antikommunismus, 356. »Die Anteilnahme der ganzen freien Welt kommt in überwältigenden Kundgebungen der Sympathie und tatkräftiger Hilfe zum Ausdruck. Zu helfen gebieten humanitäre Pflicht und christliche Nächstenliebe. In der Bundesrepublik wie in vielen anderen Ländern der Welt hat man zur Hilfe für die Opfer des ungarischen Freiheitskampfes aufgerufen.« Bundeskanzler Adenauer zu Hilfsmaßnahmen für Ungarn. Sondersitzung der Bundesregierung am 30. Oktober 1956. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 670. Schwere Ausschreitungen in Wien. Ungarnproteste führen zu Übergriffen gegen Kommunisten. In: PNP 11 (1956) 190, 10. November, 2; Trauer und Bestürzung über Ungarn. In: SZ 12 (1956) 265, 5. November, 5. Vgl. Tréfás: Die Illusion, 218–223. Adenauer mahnt zu Einigkeit und Wachsamkeit. In: SZ 12 (1956) 265, 5. November, 5. Laut eines Berichtes von Radio Budapest existierte in Traunstein ein Ausbildungslager unter amerikanischer Kontrolle, in dem ehemalige ungarische Soldaten, die nach 1945 nach Deutschland geflüchtet waren, militärisch ausgebildet würden. Das Kádár-Regime behauptete, diese Guerillakämpfer wären im August 1956 von Traunstein aus nach Österreich in Bewegung gesetzt und von dort aus auf dem Luftweg nach Ungarn gebracht worden, um die deutsche Minderheit gegen die ungarische Regierung aufzuwiegeln. Die Meldung war ein wichtiger Bestandteil der sowjetischen Propaganda, mit der das Kádár-Regime behauptete, die Schuldigen am Volksaufstand seien im Ausland zu finden. Auch Kadars Lügen haben kurze Beine. Budapester Schauermärchen über Traunsteiner Flüchtlingslager widerlegt. In: RT 116 (1956) 190, 28. November, 8. Im September 1955 waren 10.000 deutsche Kriegsgefangene aus den sowjetischen Lagern heimgekehrt. Daraufhin nahm die inzwischen souveräne Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion auf. 2. Deutscher Bundestag. 168. Sitzung. Bonn, 8. November 1956. In: DBP 9261.

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tagspräsident Hans Ehard drückte die Erschütterung über die Vorgänge in Ungarn aus, die »wenige hundert Kilometer von hier entfernt, […] vor unseren Augen und vor den Augen der ganzen Welt geschieht«.236 Am 7. November folgte die Bundesregierung dem Vorschlag von Bundesfinanzminister Fritz Schäffer und beschloss die sofortige Aufnahme von »vorerst 3.000«237 ungarischen Flüchtlingen. Der zuständige Referatsleiter Kurt Breull238 wurde mit der Registrierung der Ungarn in Österreich betraut und bildete eine Aufnahmekommission aus Beamten des Bundesinnenministeriums, die mit dem Personal der deutschen Botschaft eng zusammenarbeitete. »Kein Flüchtling wird besonders aufgefordert, nach Deutschland zu kommen, und keiner wird abgelehnt, wenn er nach Deutschland kommen will. […] Wir registrieren diejenigen, die sich melden, und sorgen für ihren Abtransport. Wir suchen sie auch nicht nach Berufen aus. Dies ist eine Hilfsaktion für Flüchtlinge und kein Unternehmen zur Entlastung des deutschen Arbeitsmarktes«,239 erläuterte Breull sein Vorgehen in der Presse. Am 11. November 1956 begann die Aufnahmekommission ihre Tätigkeit im österreichisch-ungarischen Grenzgebiet und blieb in ständigem Kontakt mit dem Auswärtigen Amt. In dieser Zeit passierten täglich mehrere Tausend Ungarn die Grenze nach Österreich. Schon bald schilderte die österreichische Regierung Raab in einem „Aide-Mémoire“, das an mehr als 20 Auslandsvertretungen in Wien weitergeleitet wurde, die Notlage in den österreichischen Lagern und bat um schnelle Übernahme von Flüchtlingen durch die einzelnen Staaten.240 Graf Welczeck von der deutschen Botschaft leitete das Ersuchen an das Auswärtige Amt weiter und bat um Erhöhung des auf 3.000 Personen festgesetzten deutschen Anteils.241 Am 22. November beschloss das Bundeskabinett, Flüchtlinge aus Ungarn 236

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Bayerischer Landtag. 3. Legislaturperiode. Stenographischer Bericht. 79. Sitzung, 6. November 1956. In: BLP 2699. Sondersitzung der Bundesregierung am 7. November 1956. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 695. War von 1951 bis 1964 Leiter des Aufenthalts- und Ausländerrechtsreferats im Bundesinnenministerium. Kontinuitäten, Brüche, Neuanfang. Erster Ungarntransport kommt heute. In: RT 116 (1956) 183, 16. November, 1. Aide-Mémoire vom österreichischen Auswärtigen Amt an die deutsche Botschaft. Wien, 14. November 1956. PAAA B 12, 550 b. Graf Welczeck (Deutsche Botschaft) an LR Stubbe (AA). Wien, 14. November 1956. PAAA B 12, 550 b.

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»auch über die bisher genannte Zahl von 3.000 Flüchtlingen hinaus« aufzunehmen. Bundeskanzler Adenauer schlug die Unterbringung von 10.000 Flüchtlingen vor, ohne eine Höchstzahl festzulegen.242 »Wir haben bekannt gegeben, dass wir von der Begrenzung auf 3.000 abgegangen sind und so viele übernehmen wollen, wie wir überhaupt können, d. h. wir haben keine Grenze gesetzt und hoffen, in den nächsten Wochen noch wesentlich mehr aufnehmen zu können. Es ist schwer eine genaue Zahl zu geben, weil es allein vom Wohnraum abhängt«, erklärte Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer243 am 27. November 1956 dem Rundfunksender RIAS (Radio in the American Sector) in einem Interview.244 Im Jahr 1956 lebten in der Bundesrepublik Deutschland über 180.000 deutsche Heimatvertriebene und rund 30.000 ausländische Flüchtlinge in Sammellagern, die bis dahin in Wohnungen untergebracht werden konnten. Außerdem hielt der Zustrom aus der DDR mit durchschnittlich 20.000 Flüchtlingen pro Monat an. Damit waren die Aufnahmekapazitäten für neue Flüchtlinge nahezu erschöpft.245 Trotz begrenzter Unterbringungsmöglichkeiten hielt es die deutsche Bundesregierung für ihre »humanitäre Pflicht und christliche Nächstenliebe«, den bedürftigen Ungarn zu helfen und sie auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland zu verteilen.246 Gesundheitliche Kriterien oder Arbeitsfähigkeit spielten bei der Aufnahme zwar keine Rolle. Dennoch bestand seitens der Wirtschaft Interesse an gut ausgebildeten Flüchtlingen, die sofort in den Arbeitsprozess eingegliedert werden konnten. In erster Linie wollte man Ungarn mit deutscher Volkszugehörigkeit, Studenten und Familienangehörige der bereits in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ungarn aufnehmen. Eine gewisse Auswahl nach Berufen hielt Legationsrat Raimund Hergt sogar für eine Entlastung der überfüllten Unterkünfte. Die Unternehmen bestimmter Wirtschaftsbereiche boten den Ankömmlingen nämlich nicht nur Arbeit, sondern auch 242

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160. Kabinettssitzung der Bundesregierung am 22. November 1956. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 737. War von 1953 bis 1960 Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Schönwald: Integration, 1043–1044. Wortlaut im Druck: Interview von Theodor Oberländer über die Flüchtlingsfrage (27. November 1956). LR Hergt (AA) an Deutsche Botschaft (Wien). Bonn, 21. Dezember 1956. BArch B 106, 47465. Sondersitzung der Bundesregierung am 30. Oktober 1956 und Kabinettsitzung am 28. November 1956. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 670, 747.

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Wohnmöglichkeit an, wodurch deren sofortige Eingliederung in die Wirtschaft möglich wurde.247 Laut den Unterlagen der Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg übernahm die Bundesrepublik Deutschland insgesamt 13.577 Ungarnflüchtlinge, die mehrheitlich schon im November und Dezember 1956 im Bundesgebiet angekommen waren.248

3. Transitland Bayern Neben den Ungarn, die sich für die Bundesrepublik Deutschland entschieden hatten, reisten zahlreiche Flüchtlinge durch Bayern, die in ein Drittland in Europa oder nach Übersee befördert wurden. Außerdem begann Ende Dezember 1956 eine Rückwanderung nach Österreich, da die Auswanderung in die USA nur von hier möglich war. Etliche Ungarnflüchtlinge, die bereits in einem Drittstaat angekommen waren, machten sich auf den Weg zurück nach Wien, um sich dort für eine Reise in die USA registrieren zu lassen, was für Verwirrung sorgte. Wie konnte man unterscheiden, ob ein Rückreisender seine Heimkehr oder die Auswanderung in die USA plante? Einerseits bemühte sich Österreich, so viele Ungarn wie möglich aus dem Grenzgebiet in andere Aufnahmestaaten zu bringen, andererseits durfte einer freiwilligen Rückkehr nach Ungarn nichts im Wege stehen. Folglich mussten die österreichischen Behörden die Rücknahme bereits ausgereister Ungarn genau überprüfen und mit der ungarischen Botschaft zusammenarbeiten, die auf Unterstützung der Rückwanderer bestand. Die vielfältigen Grenzbewegungen an der österreichisch-bayerischen Grenze erforderten einen ständigen Dialog zwischen deutschen und 247

248

Sitzung im Auswärtigen Amt am 6. November 1956. Vermerk von Sozialreferent Johannes Maurer vom 7. November 1956 (BayHStA AM LFV 1913). Im Gegensatz zu diesen Plänen betonte Legationsrat Hergt im Auswärtigen Amt, dass bei den ersten 10.000 übernommenen Ungarn kein Unterschied gemacht worden sei. Aber er hielt es über diese Quote hinaus für notwendig, eine gewisse Auswahl zu treffen. So kämen etwa noch 3.000 Ungarn mit Familienzusammenführung in Frage. Außerdem bestünde ein Interesse an Bergarbeitern, mit einem Bedarf von 2.000 bis 4.000. LR Hergt (AA) an Deutsche Botschaft (Wien). Bonn, 21. Dezember 1956. BArch B 106, 47465. BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen und zuständige Ministerien. Bonn, 5. Mai 1958: Statistische Unterlagen über ausländische Flüchtlinge aus Ungarn. PAAA B 12, 572.

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österreichischen, bayerischen und bundesdeutschen sowie ungarischen und österreichischen Behörden. Da aber die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Ungarn keine diplomatischen Beziehungen zueinander unterhielten, gab es keine konsularischen Vertretungen und somit keine Möglichkeit zur Kommunikation. Sämtliche die Ungarn betreffenden Angelegenheiten mussten durch Vermittlung der österreichischen Behörden mit der deutschen Botschaft in Wien abgewickelt werden. Trotz Wohlwollen mussten Abreise aus Österreich und Heimreise nach Ungarn koordiniert und sogar kontrolliert werden. Dennoch kam es im bayerischen Grenzgebiet zu Verzögerungen und Staus auf der Heimfahrt, die auch zu Konflikten führten.

3. 1. Durch Bayern in andere Länder der Bundesrepublik Deutschland Ziehen wir in Betracht, dass sich die Bundesregierung am 7. November 1956 für die Übernahme von vorerst 3.000 Ungarn entschied und binnen zehn Tagen, am 16. November, die ersten 250 Ungarn in Bayern ankamen, so erklärt es sich von selbst, dass die Arbeit der zuständigen Bundes- und Landesverwaltungen auf Hochtouren lief. Am 22. November beschloss die Bundesregierung die Erhöhung der Aufnahmequote auf 10.000 Personen. Da die Ungarnflüchtlinge überwiegend im November und Dezember 1956 im Bundesgebiet ankamen, löste der Andrang in den Durchgangslagern Hochbetrieb aus (siehe Tabelle 4 und 5).249 Ständige Ressortbesprechungen fanden im Auswärtigen Amt und im Bundesvertriebenenministerium mit Bundesinnenminister Gerhard Schröder, Bundesjustizminister Hans-Joachim von Merkatz, Bundesarbeitsminister Anton Storch sowie Vertretern der Landesflüchtlingsverwaltungen statt. Laut Bericht des Referatsleiters Breull über die Aufnahmetätigkeit in Wien stand der Eingliederung nichts im Wege, da die für die Einreise nach Deutschland registrierten Ungarn um die 20 Jahre alt waren und gut die Hälfte von ihnen in der eisenverarbeitenden Industrie tätig gewesen war.250 Bereits in der Sitzung des Bundes249

250

In den zeitgenössischen Quellen wurde der Begriff »Transport« oder »Ungarntransport« für die Einreise der Ungarnflüchtlinge 1956 verwendet. Niederschrift über die Sitzung im BMVt am 20. November 1956 in Bonn. BArch B 106, 24545. Bundesvertriebenenminister Oberländer und Staatssekretär Peter Paul Nahm führten das Gespräch mit den Landesflüchtlingsverwaltungen. Regierungsdirektor Otto

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ausschusses für Flüchtlingsfragen am 14. November 1956 meldeten die Länder ihre Aufnahmekapazität an. Der erste vorläufige Verteilungsplan nach einem zwischen den Ländern beschlossenen Schlüssel, dem ValkaSchlüssel,251 sah bei einer Aufnahme von zunächst 3.000 Flüchtlingen folgende Quoten für die einzelnen Länder vor: Schleswig-Holstein 120, Hamburg 120, Niedersachsen 120, Bremen 60, Nordrhein-Westfalen 1.260, Hessen 270, Rheinland-Pfalz 300, Baden-Württemberg 630, Bayern 120.252 Die Länder Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg konnten ihre festgelegten Quoten wegen Unterbringungsschwierigkeiten nicht einhalten. Stattdessen waren Bayern und Niedersachsen bereit, zusätzliche Ungarnflüchtlinge aufzunehmen. In der Sitzung am 20. November beauftragten die 33 Sitzungsteilnehmer Regierungsdirektor Otto Siebke vom Bundesvertriebenenministerium mit der detaillierten Ausarbeitung eines Verteilungsplanes.253

251

252

253

Siebke (BMVt) hielt den Kontakt mit dem Vertreter des deutschen Botschafters in Wien. Unter der Leitung von Kurt Breull registrierte die Sonderkommission des Bundesinnenministeriums die Ungarnflüchtlinge, deren Verteilung in – von den Ländern zu benennende – Unterkünfte, unter Berücksichtigung der verabredeten Quoten, in die Zuständigkeit von Regierungsdirektor Siebke gehörte. Die Benennung stammt aus dem DP-Lager (ehemaliges Kriegsgefangenenlager Langwasser) in Nürnberg, in dem bis 1949 vorwiegend Letten und Esten wohnten, die das Lager nach der estnisch-lettischen Grenzstadt Valka benannt hatten. Der Valka-Schlüssel regelt die Aufteilung der Flüchtlinge gemäß Länderanteil. Der Königsteiner Schlüssel hingegen setzt sich zu zwei Dritteln aus dem Steueraufkommen und zu einem Drittel aus der Bevölkerungszahl der Länder zusammen. Dieser Schlüssel wird jedes Jahr neu berechnet. Heute wird der Königsteiner Schlüssel verwendet. Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Erstverteilung. Niederschrift über die Sitzung im BMVt am 20. November 1956 in Bonn. BArch B 106, 24545, 51. Vermerk über die Ressortbesprechung im BMI am 20. November 1956. BArch B 106, 47465.

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Tabelle 4: Ungarn-Transporte in die Grenzlager Piding und Schalding, November und Dezember 1956254 Schalding Piding Datum Personenzahl Datum Personenzahl 15. November 11 16. November 250 18. November 448 17. November 68 26. November 440 22. November 112 26. November 229 27. November 321 28. November 28 29. November 364 30. November 150 4. Dezember 489 5. Dezember 194 6. Dezember 262 7. Dezember 528 9. Dezember 490 13. Dezember 446 15. Dezember 52 15. Dezember 205 16. Dezember 96 18. Dezember 416 Einzelreisende 328 Schalding insgesamt 899 Piding insgesamt 5.028 Abzüglich 118 Auswanderung: Piding 4.910 nach Auswanderung Insgesamt 5.809

254

Zusammengestellt anhand BayHStA AM LFV 1913.

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Tabelle 5: Transporte der Ungarn-Flüchtlinge, November 1956255

255

RR Käthe Arndt an BMI Gerhard Schröder. Wien, 29. November 1956. BArch B 106, 47465.

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Seit 1953 war in Bayern Walter Stain (GB/BHE) als Staatssekretär für das Flüchtlingswesen zuständig. Diese Funktion behielt er auch als Staatsminister für Arbeit und soziale Fürsorge bei, nachdem das Flüchtlingswesen 1955 aus dem Innenministerium als Abteilung VII ins Arbeitsministerium eingegliedert worden war.256 Bereits Anfang November versicherte Stain, dass Bayern alles tun werde, um die Aufnahme der Ungarn zu bewältigen, obwohl die bayerischen Unterbringungskapazitäten ausgeschöpft seien.257 Auch er reiste Mitte November nach Wien, um sich persönlich über die Situation der ungarischen Flüchtlinge zu informieren.258 Regierungsdirektor Georg Nentwig, der in den Besprechungen in Bonn die Landesflüchtlingsverwaltung des bayerischen Arbeitsministeriums vertrat, stimmte dem Vorschlag zu, Piding als zentrales Durchgangslager für alle Ungarnflüchtlinge bereitzustellen. Von hier aus sollten die Ungarn weiter auf die Länder verteilt werden, wobei für das Verfahren normalerweise ein Zeitraum von drei Tagen vorgesehen war.259 Berücksichtigen wir, dass etwa die Hälfte der im Bundesgebiet aufgenommenen Ungarn über das Durchgangslager Piding einreiste, ist nachvollziehbar, warum der Freistaat Bayern zum Mittelpunkt der deutschen Ungarnhilfe wurde, wie die „Süddeutsche Zeitung“ am 28. November 1956 berichtete.260 Der zweite Verteilungsplan für die Unterbringung von 10.000 Ungarnflüchtlingen strebte auch eine Arbeitsvermittlung nach Berufen an. Die Tabelle 6 zeigt die Berechnungen des Verteilungsplanes im Vergleich mit dem Aufnahmestand vom Januar 1957. Daraus geht hervor, dass fast viermal so viele wie ursprünglich geplant, nämlich statt 400 letztendlich 1.541 Ungarnflüchtlinge in Bayern Aufnahme fanden.

256

257

258

259

260

100 Jahre Bayerisches Staatsministerium für Familien, Arbeit und Soziales 28; Schönwald: Integration, 526–527, 534, 1050. Erklärung zur Unterbringung ungarischer Flüchtlinge vom 8. November 1956. BayHStA AM LFV 1913. BayStMA an Presse und Rundfunk. München, 14. November 1956. BayHStA AM LFV 1913; Täglich ein Hilfszug des Roten Kreuzes nach Budapest. In: SZ 12 (1956) 274, 15. November, 14. Niederschrift über die Sitzung im BMVt am 20. November 1956 in Bonn. BArch B 106, 24545, 51. Bayern als Mittelpunkt der deutschen Ungarn-Hilfe. In: SZ 12 (1956) 28, 28. November, 2.

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Tabelle 6: Verteilungsplan vom 7. Dezember 1956 und Stand der Aufnahme vom 18. Januar 1957261 Deutsche Länder Verteilungsplan 7. 12. 1956 Aufnahme 18. 1. 1957 Baden-Württemberg 2.100 2.684 Bayern 400 1.541 Bremen 200 273 Hamburg 400 369 Hessen 900 1.234 Niedersachsen 400 598 Nordrhein-Westfalen 4.200 2.904 Rheinland-Pfalz 1.000 834 Schleswig-Holstein 400 393 Saarland – 241 Berlin – 12 Insgesamt 10.000 11.083

Unter Berücksichtigung der Berufe wurden Personen mit geeigneter Ausbildung oder Interesse für Bergbau, Landwirtschaft und Metallindustrie jenen Ländern zugeteilt, die einen entsprechenden Arbeitskräftebedarf hatten.262 Dazu war eine Koordination auf höchstem Niveau erforderlich. Einerseits mussten Betriebe den Landesarbeitsämtern ihren Arbeitskräftebedarf melden, um zu erfassen, wo Fachkräfte fehlten, andererseits mussten sich die Behörden bei der Ankunft der Flüchtlinge im Bundesgebiet ein genaues Bild über ihre Ausbildung machen, um ihnen eine geeignete Arbeitsstelle vermitteln zu können. Dabei musste auch der Verteilungsschlüssel berücksichtigt werden. Einige Länder besaßen nur wenige Unterbringungsmöglichkeiten für die Neuankömmlinge, andere hatten zwar mehr, aber nur wenig Arbeitsmöglichkeiten. Außerdem wollte man vermeiden, 261

262

Verteilungsplan 1956: Präsident Julius Scheuble (BAA) an Präsidenten der Landesarbeitsämter. Nürnberg, 7. Dezember 1956. BArch B 149, 6262. Aufnahme 1957: BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 18. Januar 1957: Niederschrift über die Besprechung im BMVt am 10. Januar 1957 in Bonn. BArch B 106, 24545, 108– 110. – Diese Zusammenstellung ist die berichtigte Fassung der bei Kiss: Ungarnflüchtlinge, 115, abgedruckten Tabelle. Präsident Julius Scheuble (BAA) an Präsidenten der Landesarbeitsämter. Nürnberg, 7. Dezember 1956. BArch B 149, 6262.

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dass Unternehmer durch willkürliche Werbung bereits in den Durchgangslagern eine Auslese der Flüchtlinge vornahmen.263 Seit Mitte November standen für die Einreise der Ungarn ins Bundesgebiet vier Hauptstellen zur Verfügung. Über Bocholt (Nordrhein-Westfalen) wurden etwa 17 Prozent, über Friedland (Niedersachsen) 31 Prozent, über Piding und Schalding (Bayern) 52 Prozent der Ungarnflüchtlinge aufgenommen. Davon weichen die prozentualen Anteile in der Bilanz des Bundesvertriebenenministers Oberländer mit statistischen Angaben über die aufgenommenen Ungarn minimal ab. Darin wurde auch Voggendorf als Durchgangslager erwähnt. Von hier aus wurden 411 Ungarn weitergeleitet, obwohl Voggendorf in allen anderen Quellen nicht – wie die anderen vier Orte – als Vermittlerstelle, sondern als Wohnlager genannt wurde.264 Im Mai 1957 reisten die fast 600 aus Jugoslawien265 übernommenen Ungarnflüchtlinge auch über Piding ins Bundesgebiet ein.266 Die Quellen bestätigen, dass gut die Hälfte der Ungarn über Bayern nach Deutschland kam.

3. 2. Durch Bayern in den Westen Bayern war als Österreichs unmittelbarer Nachbar Transitland. In wenigen Monaten passierten fast 90.000 Ungarn die österreichisch-bayerische Grenze. Der Höhepunkt des Ansturms erfolgte von Ende Oktober bis Ende 263

264

265

266

Vermerk über eine telefonische Rücksprache zwischen MR Becker (BMA) und MR Breull (BMI) am 21. Dezember 1956. BArch B 149, 6262. BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen und zuständige Ministerien. Bonn, 5. Mai 1958: Statistische Unterlagen über ausländische Flüchtlinge aus Ungarn. BArch B 12, 572. Laut dieser Erfassung wurden über Bocholt 2.162 (15,9 Prozent), über Friedland 3.078 (22,7 Prozent), über Piding 5.287 (39 Prozent), über Schalding 1.143 (8,4 Prozent) und über Voggendorf 411 (3 Prozent) Ungarnflüchtlinge im Bundesgebiet aufgenommen. Etwa 1.500 Personen reisten außerhalb der gruppenmäßigen Beförderung als Einzelreisende ein. Beinahe 20.000 Ungarn waren nach Jugoslawien geflüchtet, deren Großteil mit Hilfe der ICEM in einen Drittstaat befördert wurde. Kovács: A magyar menekültkérdés, 445–447. Siehe auch Kapitel II. 6. Zwischen dem 16. und dem 31. Mai 1957 trafen zehn Transporte mit Ungarnflüchtlingen in Salzburg ein, die zuvor Jugoslawien aufgenommenen hatte. Davon wurden acht Transporte mit 593 Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland, ein Transport mit 58 Personen nach Frankreich und ein Transport mit 497 Personen nach Belgien weitergeleitet. Karl Riedl (Präsidium der Bayerischen Grenzpolizei) an BayStMI, BayStMA, BayLfV und Passkontrolldirektion Koblenz über die Ungarn-Transporte an der bayerisch-österreichischen Grenze. München, 7. Juni 1957. BayHStA IM 97301.

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Dezember 1956. Der Zulauf endete erst Mitte 1957, so dass die letzten Aufzeichnungen über die Grenzbewegungen am 2. August 1957 erstellt wurden. Die Bayerische Grenzpolizei dokumentierte die Grenzübertritte mit Angaben über Einzelreisende und Gruppentransporte. Dabei unterschied sie zwischen Personen mit dem Ziel Deutschland und solchen, die im Transitverkehr von Österreich in andere westliche Länder reisten. Laut dieser Aufzeichnungen reisten 12.718 Ungarn zumeist in Gruppen (11.971) und selten als Einzelreisende (747) ins Bundesgebiet ein. Zusätzlich passierten fast 76.000 Ungarn die österreichisch-bayerische Staatsgrenze und gingen in andere europäische Länder oder nach Übersee.267 Über Bayern reisten die Ungarn in zehn europäische Aufnahmeländer, und zwar 88 in die Schweiz, 9.754 nach Frankreich, 4.661 nach Belgien, 4.307 in die Niederlande, 1.071 nach Dänemark, 5.882 nach Schweden, 169 nach Luxemburg, 14.098 nach England, 155 nach Irland, 243 nach Norwegen, außerdem in sechs außereuropäische Staaten, nämlich 6.636 nach Kanada, 25.382 in die USA, 2.772 nach Australien, 653 nach Neuseeland, 152 in die Südafrikanische Union, 35 nach Argentinien. Knapp 90.000 Ungarn mussten in den Durchgangslagern in Piding und Schalding sowie an Bahnhöfen und am Flughafen in München betreut werden (siehe Tabelle 7).268

267

268

Ebenda, 2. und 15. Januar, 8. und 27. Februar, 8. März, 6. April, 3. Mai, 7. Juni, 2. Juli, 2. August 1957. Ebenda, 2. August 1957.

Bis 2.1.1957

Bis 15.1.1957

1.1. Einzelreisende 1.2. Transporte Einreise insgesamt (1.1.+1.2.)

640 10.397 11.037

661 10.708 11.369

2.1. In die Schweiz 2.2. Nach Frankreich 2.3. Nach Belgien 2.4. Nach Holland 2.5. Nach Dänemark 2.6. Nach Schweden 2.7. Nach Luxemburg 2.8. Nach England 2.9. Nach Irland 2.10. Nach Kanada 2.11. In die USA

57 8.241 3.032 2.940 1.071 3.989 169 5.649 155 2.251 16.468

2. Durchreiseverkehr aus Österreich in andere westliche Länder 57 57 57 57 88 88 8.524 8.702 8.941 9.028 9.095 9.311 3.032 3.039 3.134 3.134 3.200 3.200 3.770 4.307 4.307 4.307 4.307 4.307 1.071 1.071 1.071 1.071 1.071 1.071 3.989 4.016 4.016 4.136 4.854 5.533 169 169 169 169 169 169 7.191 9.777 11.520 12.291 14.034 14.034 155 155 155 155 155 155 2.479 3.433 5.572 5.775 6.578 6.578 18.132 22.416 22.911 23.061 23.778 24.363

269

Zusammengestellt anhand BayHStA IM 97301.

Bis Bis Bis Bis Bis 8.2.1957 27.2.1957 8.3.1957 6.4.1957 3.5.1957 1. Einreise in die Bundesrepublik Deutschland 703 713 719 726 735 11.086 11.086 11.086 11.142 11.165 11.789 11.799 11.805 11.868 11.900

Bis 7.6.1957

Bis 2.7.1957

Bis 2.8.1957

737 11.758 12.495

744 11.971 12.715

747 11.971 12.718

88 9.369 4.190 4.307 1.071 5.858 169 14.034 155 6.578 24.800

88 9.505 4.661 4.307 1.071 5.882 169 14.098 155 6.615 25.367

88 9.574 4.661 4.307 1.071 5.882 169 14.098 155 6.636 25.382

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Von 24.10.1956

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Tabelle 7: Überschreitungen der österreichisch-bayerischen Staatsgrenze durch Ungarnflüchtlinge, Oktober 1956 – August 1957269

1.078 349

1.078 349

1.247 349

1.247 349

2.765 349

2.765 653

2.765 653

2.765 653

2.772 653

148 75

234 152

234 152

234 152

234 152

234 152

234 152

234 152

234 152

35

35

35

35

35

35

35

35

50.219

58.990

63.870

65.201

70.864

72.648

74.458

75.757

75.869

61.588

70.779

75.669

77.006

82.732

84.548

86.953

88.472

88.587

61

86 302 20

173 402 33

187 547 48

255 1.175 75

269 1.334 90

271 1.455 90

276 1.540 92

276 1.632 92

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2.12. Nach Australien 481 349 2.13. Nach Neuseeland 2.14. Nach Norwegen 148 2.15. In die Süd75 afrikanische Union 2.16. Nach Argentinien Durchreise insgesamt 45.075 (2.1.+2.16. alle zusammen) Durchreise und Ein56.112 reise insgesamt (1.1.+1.2. + alle unter 2.) Rückkehr nach illegal Ungarn legal Aus den USA Wegen zurücktransportiert falscher Personalien

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Der Durchreiseverkehr verlief überwiegend über die Bahnhöfe Passau, München, Augsburg, Treuchtlingen, Regensburg und Würzburg, wo die örtlichen Kreisverbände des Bayerischen Roten Kreuzes für die Verpflegung und Betreuung der Flüchtlinge sorgten. Zusätzlich verpflegte die Katholische Bahnhofsmission Durchreisende in Passau, Würzburg und Aschaffenburg. Die Reisegruppen trafen oft mit Verspätung und häufig in der Nacht an den bayerischen Bahnhöfen ein. Von November bis Ende Dezember 1956 waren Helfer Tag und Nacht für die Betreuung der Flüchtlinge im Einsatz. »Ein kräftiger Eintopf – Reis mit Fleisch oder Nudeln mit Fleisch und dem beliebten Paprika – Kakao, Milch und Semmeln, auch Tee wurden gereicht. Kinder, Kranke, Alte und werdende Mütter erhielten zusätzlich Zwieback, Schokolade und Kekse«, schrieb Annemarie Hackenberg in ihrem Jahresbericht über die Arbeit der Katholischen Bahnhofsmission in Passau, die bis Ende 1956 in Tag- und Nachtarbeit 47 Transporte mit 23.680 Ungarnflüchtlingen versorgte (siehe Abbildung 1). Die Helferin schilderte ihre Eindrücke über die Ungarn wie folgt: »Männer, auch Jugendliche und Frauen verlangten stürmisch nach Zigaretten, die sie auch bekamen. In Ungarn raucht bald jedes Kind! Medikamente, Säuglingswäsche, Windeln, Milchflaschen, Sauger, Decken, Kleidungsstücke konnten ebenfalls gegeben werden.«270 Dieses Schriftstück ist einer der wenigen zeitgenössischen Berichte, die nicht nur die Sammlung und Weiterleitung von Spenden an die Ungarnhilfe, sondern auch Eindrücke von Begegnungen zwischen Bayern und Ungarn dokumentiert. Es hält eine Wahrnehmung von den Ungarn fest, in der abweichend von der Regel nicht die idealisierten Helden von Budapest erschienen.

270

Annemarie Hackenberg: Bericht der Katholischen Bahnhofsmission über das Jahr 1956. Passau, 11. Februar 1957. ADiCVP 46.23.

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Abbildung 1: Ungarnhilfe 1956–1958271

Anfangs reichte für die Reise der Ungarnflüchtlinge durch Bayern in den Westen eine Bescheinigung des Ziellandes.272 Ab Dezember 1956 benötigten die Sammeltransporte einen Sammelpass für die Ausreisenden, der eine Namensliste mit einer Durchreisegenehmigung der deutschen Botschaft in Wien enthielt. Ohne diesen wurden die Gruppen an der bayerischen Grenzstation aufgehalten, bis ein Kurier bei der deutschen Botschaft in Wien den Stempel für die Durchreise besorgt hatte. Diese Prozedur konnte drei bis vier Tage dauern; in der Zwischenzeit musste die Reisegruppe in Bussen und Zügen in der Kälte ausharren. Der Bitte des schwedischen Gesandten Göransson, dieses Verfahren zu vereinfachen, wollte die deutsche Botschaft nicht nachkommen, da immer mehr Ungarnflüchtlinge während der Durchreise die Auswanderergruppe verließen.273 271

272

273

ADiCVP III 81, 31 c. Foto: H. Duyfjes, Passau. In: PB 22 (1957) 3, 20. Januar, 6. Die Katholische Bahnhofsmission Passau versorgte bis Ende 1956 in Tag- und Nachtarbeit 47 Transporte mit 23.680 Ungarnflüchtlingen. Annemarie Hackenberg war eine der Helferinnen, die in ihrem Bericht die Arbeit der Katholischen Bahnhofsmission schilderte. ADiCVP 46.23. Diese Bescheinigung, zum Beispiel für die Durchreise nach Schweden, enthielt unter anderem die Anzahl der Reisenden und Namen des Gruppenleiters und wurde von der deutschen Botschaft ausgestellt. Gesandter Göransson von der schwedischen Botschaft an das Auswärtige Amt am 23. November 1956, mit der Bitte um Verzicht auf diese Formalitäten für die Durchreise der Ungarn nach Schweden. PAAA B 82, 148. Aufzeichnung des Referats des Auswärtigen Amtes für Flüchtlingsfragen vom 23. November 1956 über die Erteilung von Durchreisesichtvermerken für ungarische Flüchtlinge, die in andere Länder ausreisten. PAAA B 82, 148.

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3. 3. Über die Luftbrücke von München nach Amerika Österreich ermöglichte den Ungarnflüchtlingen eine unbürokratische Anmeldung zur Weiterreise in ein westliches Land. Mitte November 1956 stand eine große Zahl an Aufnahmeländern zur Verfügung.274 Sie gaben bekannt, wie viele Flüchtlinge sie übernehmen wollten und schickten ihre Aufnahmekommissionen nach Österreich, um sie für die Ausreise zu registrieren. Jeder Flüchtling konnte sich frei entscheiden, in welches Land er umsiedeln wollte. »Wir können die Leute nicht zwingen«, erklärte in der Presse der Rittmeister der Sicherheitsdirektion Eisenstadt, der bei der Verteilung der Flüchtlinge behilflich war, »in die Züge zu steigen, die sie ins Ausland bringen. Wir können ihnen nur gut zureden, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, doch von der Möglichkeit, nach England, Frankreich, Italien und Deutschland zu kommen, Gebrauch zu machen«.275 Die Gründe für die Auswahl des Ziellandes waren sehr unterschiedlich. Bekannte, Verwandte oder Freunde, aber auch Gerüchte, Flüsterpropaganda sowie Erfüllung von Träumen eines (ehemaligen) Familienmitglieds konnten die Entscheidung beeinflussen. Im Flüchtlingslager wurde über Lautsprecher bekanntgegeben, welche Abfahrten in welche Länder bevorstanden. Dies verursachte eine rasche, oft unüberlegte Anmeldung für ein Land, das gerade freie Plätze für die Abreise bereitstellte.276 Es kam vor, dass ein Zug an einem österreichischen Provinzbahnhof, in diesem Fall Traiskirchen, direkt nach Westeuropa abfuhr. Die entsprechende An274

275 276

Kastner: Die Ungarnflüchtlinge, 88, nennt 18 europäische und 22 außereuropäische Staaten, die Ungarn aufnahmen. Wohin jetzt – fragt der Friseur aus Budapest. In: SZ 12 (1956) 285, 28. November, 3. Im Fall der Familie Abdai verzögerte eine schwere Erkrankung der kleinen Tochter die Abreise nach Amerika. Als sie wieder genesen war, empfing nur noch die Schweiz weitere Ungarnflüchtlinge. Also wählten die Abdais die Schweiz (Abdai: Alle Wege). Stefan Funk beschreibt, wie einfach man die Auswanderungswünsche änderte, wenn das Kontingent des Traumlandes aufgebraucht war. »Alle wollten wir nach Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Da tauchte aber bereits die erste Grenze der amerikanischen Möglichkeiten auf, das Kontingent USA war begrenzt und überbucht. Australien sollte auch nicht schlecht sein, hörte mein Vater. Auch hier war das Kontingent bereits überzogen. Als dritte wünschenswerte Wahlheimat nannte mein Vater die Schweiz. Das Kontingent war bereits hier weitgehend ausgeschöpft, doch weil Vater Deutsch konnte, gab es Plätze in der Schweiz für Vater und Sohn Funk.« Stefan Funk: Ich fand meine neue Heimat in der Schweiz. In: Flucht in die Schweiz 90–100, hier 94.

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sage verbreitete sich wie Lauffeuer. Da die Bahnstation nur zehn Gehminuten vom Lager entfernt war, und die Registrierung im Zug vorgenommen wurde, konnte jeder zusteigen, auch diejenigen, die schon vor 1956 geflüchtet waren, notierte sich der evangelische Ungarnseelsorger des österreichischen Flüchtlingslagers Traiskirchen, István Szépfalusi.277 Eduard Stanek erwähnte die Umsteigemöglichkeit vom Bahnhof Schwechat-Kleidering nach Schweden und bestätigte gleichzeitig dieses Vorgehen. Aus dem Grenzgebiet ankommende Ungarnflüchtlinge konnten hier in einen Zug nach Schweden steigen. »Im Durchgehen wurde gefragt, wer nach Schweden auswandern wolle. Schwechat-Kleidering – umsteigen nach Schweden!«278 Diese Spontaneität der Weiterreise aus Österreich in den Westen nach der anstrengenden Flucht fand die Mitarbeiterin der deutschen Aufnahmekommission in Wien, Regierungsrätin Käthe Arndt, unangebracht. Als die deutsche Registrierung im Grenzauffanglager Eisenstadt begann, trafen hier mehrmals täglich Autobusse mit Flüchtlingen von den Grenzdörfern ein. Dieses Lager im Burgenland galt mit einer Durchschnittsbelegung zwischen 2.000 und 3.000 Personen gewissermaßen als musterhafte Auffangstelle für Geflüchteten. Mehrmals täglich kamen Busse mit Geflohenen aus den Grenzdörfern an. Höchstens nach einem Tag oder einer Nacht wurden die Neuankömmlinge von hier aus in andere österreichische Lager geschickt, damit genug Schlafplätze für weitere Flüchtende zur Verfügung standen. Es kam häufig vor, dass Ungarn wenige Stunden nach der Flucht – nach einer erschöpfenden und gefährlichen Tages- oder Nachtwanderung – von einer Länderkommission für eine Reise ins Ausland eingetragen wurden. Ohne die Möglichkeit, sich auszuruhen und die Geschehnisse zu verarbeiten, seien diese Leute zu einer eigenen Meinungsbildung über die Auswanderungsmöglichkeiten kaum fähig gewesen. Auch die einzelnen Kommissionen hätten die Wahl des Ziellandes gezielt beeinflusst, meinte noch Arndt und kam zu dem Schluss, dass die Registrierung für die Aufnahme in einem Drittstaat nicht unter solchen Umständen und nicht unter dem erheblichen Zeitdruck hätte geschehen dürfen.279 277 278 279

Szépfalusi: A legújabb felismerések, 116. Stanek: Verfolgt, 64. Über die Tätigkeit und Erfahrungen der Aufnahmegruppe: RR Käthe Arndt an BMI Gerhard Schröder. Wien, 29. November 1956. BArch B 106, 47465, 4. Das Leben ungarischer Flüchtlinge im Lager Traiskirchen unweit von Wien dokumentiert ein Film der

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Bei der Auswahl des Ziellandes bildeten sich zwei Gruppen der Ungarnflüchtlinge heraus. Während die einen möglichst nahe an der ungarisch-österreichischen Grenze bleiben wollten, beabsichtigten die anderen so weit wie möglich von Ungarn wegzukommen. Trotz der Angst etwa vor einer Deportation nach Sibirien hofften manche auf eine baldige Heimkehr, sollte sich die Situation in Ungarn entspannen. Deshalb bevorzugten sie die Nähe zur Heimatgrenze.280 Andere fürchteten Repressalien und waren derselben Meinung wie der Werkzeugmacher aus einer großen ungarischen Fabrik: »Fort, nur fort von hier. In Amerika sind die Russen weit.«281 Nach den Strapazen der Flucht glaubten viele Ungarn, gerettet zu sein, wenn sie über die ungarisch-österreichische Grenze gekommen waren. Was anschließend passieren, wie es weitergehen solle, war ungewiss. Sie waren fest überzeugt, dass hinter der Grenze alles besser sein werde. Aber die eigentliche Herausforderung begann erst mit der Wahl des fremden Ziellandes und dem dortigen Neuanfang.282 Die USA stellte die Aufnahme einer großen Anzahl ungarischer Flüchtlinge in Aussicht. Unmittelbar nachdem Präsident Eisenhower am 1. Dezember 1956 die amerikanische Einwanderungsquote von 6.500 auf 21.500 erhöht hatte, begann die Ausreise der Ungarnflüchtlinge aus Österreich in die Vereinigten Staaten sowohl auf dem Luftweg als auch per Schiff.283 Einige Flüge starteten in Wien und Salzburg. Im Dezember 1956 musste der

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UNESCO. Dort wurden bis zu 3.000 Flüchtlinge beherbergt, wobei ständig Abgänge durch die Registrierung für Drittländer erfolgten. Die deutsche Aufnahmekommission registrierte hier wöchentlich etwa 400 Ungarn für Deutschland. Die Darstellungen des Films über die Not der Flüchtlinge nutzte die ungarische Propaganda für die Argumentation zur Rückkehr. Büro für Heimvertriebene Ausländer an LR Stubbe (AA). Düsseldorf, 2. September 1957. PAAA B 85, 398. Die neue Flüchtlingsnot. Bayern tut, was in seinen Kräften steht. In: BSZ (1956) 48, 1. Dezember, 3. Wir wollen Arbeit – nicht Barmherzigkeit. In: SZ 12 (1956) 277, 19. November, 3. Vgl. So weit wie möglich von den Russen weg. In: PNP 11 (1956) 204, 27. November, 6. Gerald Boland, irischer Justizminister und Mitglied des Flüchtlingsausschusses des Europarates, setzte sich dafür ein, dass alle europäischen Länder Österreich bei der Flüchtlingshilfe unterstützten. Vor Ort hatte er den Eindruck gewonnen, dass viele Ungarn in panischer Angst weit weg von ihrem Heimatland wollten. DRK – Hilfszug aus Budapest zurück. In: SZ 12 (1956) 276, 17./18. November, 5. Hoff – Strotzka: Die psychohygienische Betreuung, 9. Geplant war, am 18., 23.und 29. Dezember 1956 5.300 Ungarn per Schiff aus Bremerhaven ausreisen zu lassen, und 9.700 Personen aus München mit amerikanischen Militärflugzeugen auszufliegen. LRI Brückmann (AA, Referat Staats- und Verwaltungsrecht) an

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Flugverkehr in Salzburg wegen schlechter Wetterlage eingestellt werden, weshalb man auf den nächstgelegenen Flughafen München-Riem auswich.284 Mit Hilfe der internationalen Auswanderungskommission ICEM wurden Flüge vom Flugplatz München-Riem und später auch vom USFlugplatz München-Neubiberg für die Ungarnflüchtlinge organisiert.285 Brigadegeneral Georg B. Dany, der Kommandeur der Transportabteilung beim europäischen Oberkommando der Luftwaffe, leitete die Operation Sicherer Hafen (Safe Haven). Beteiligt waren daran die Luftwaffe, die Marine sowie der südliche Kommandobereich der amerikanischen Armee. Seit der Berliner Luftbrücke 1948/1949 hatte es keine derartigen Unternehmungen mehr gegeben.286 Vom 10. Dezember 1956 bis Ende Juni 1957 wurden 15.311 Ungarn mit der Aktion Sicherer Hafen von München aus in die USA, nach Kanada, Neuseeland und Norwegen ausgeflogen.287 Die Flüchtlingsgruppen wurden in Österreich zusammengestellt und mit Bussen nach München überführt. Da die amerikanische Auslandsvertretung nur in Österreich Visa für Ungarn ausstellte, war es in der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich, zusätzliche Flüchtlinge in die Gruppe aufzunehmen.288 Vom Camp Roeder bei Salzburg wurden täglich 500 bis 1.000 Ungarn nach München überführt und vorübergehend in der Luitpold-Kaserne an der Schwere-Reiter-Straße untergebracht. Für den Fall, dass es wegen

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MD Hans Berger (Leiter Rechtsabteilung AA). Bonn, 11. Dezember 1956. PAAA B 82, 148. Gegen die Benutzung des Flugplatzes München-Riem durch die amerikanischen Militärflugzeuge gab es keine Einwände. Außerdem sind der Bundesregierung aus dieser Aktion keine zusätzlichen Kosten entstanden. Ebenda. Die österreichische Regierung beauftragte die Flüchtlingsorganisation ICEM mit dem Abtransport der Flüchtlinge. Täglich reisten 700 Ungarn nach England und etwa 1.000 in die USA. Auch Flüge nach Kanada, Australien, Südafrika, Neuseeland und Südamerika wurden ermöglicht. Luftbrücke für Ungarn-Flüchtlinge. In: RT 116 (1956) 194, 5. Dezember, 1; Sicherer Hafen. In: DZ 11 (1956) 51, 20. Dezember, 4. Von Juni 1948 bis Mai 1949 wurden die Bürgerinnen und Bürger in West-Berlin über eine Luftbrücke versorgt, da die Sowjetunion den gesamten Verkehr auf dem Landweg unterbrochen hatte. Flucht über die Luftbrücke. In: SZ 12 (1956) 296, 11. Dezember, 4. Präsidium der Bayerischen Grenzpolizei an BayStMI, BayStMA, BayLfV und Passkontrolldirektion Koblenz über die Ungarn-Transporte an der bayerisch-österreichischen Grenze. München, 2. und 15. Januar, 8. und 27. Februar, 8. März, 6. April, 3. Mai, 7. Juni, 2. Juli, 2. August 1957. BayHStA IM 97301. Vermerk von LRI Brückmann (AA) über die Mitteilung des amerikanischen Generalkonsuls Donald Smith. Bonn, 11. Dezember 1956. PAAA B 82, 148.

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schlechten Wetters zu Verspätungen kam, wurden auch in den Kasernen Bad Tölz und Lenggries Unterkünfte bereitgestellt.289 Am 11. Dezember startete die erste Maschine mit 50 Flüchtlingen, weitere drei noch am selben Tag. Diese Flugaktion war die größte zivile Übersiedlung von Menschen über eine so große Entfernung in der Geschichte der Luftfahrt. Aus München starteten täglich acht viermotorige Militärmaschinen und Charterflugzeuge, die in einem 23-Stunden-Flug bis zu zehntausend Ungarn nach Amerika brachten.290 Die Air Force nutzte zwei Routen nach New Jersey. Auf der Flugbasis McGuire erwartete ein Empfangskomitee die Passagiere: drei Generäle, mehrere Oberste, der persönliche Beauftragte von Präsident Eisenhower, ein Kongressabgeordneter und ein Admiral, außerdem zahlreiche Fotografen und Kameraleute. Als wären die Staatsmänner nur zum Händeschütteln und zum Schnapsschuss vorbeigekommen, fuhren sie schon nach wenigen Minuten in ihren Limousinen davon. Nach dem Empfang am Flughafen brachten Busse die Flüchtlinge in das Camp Kilmer, das offizielle Aufnahmelager für Ungarnflüchtlinge.291 Die ersten Tage im Land der Freiheit verliefen ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland. Die Ungarn wurden zunächst im Aufnahmelager untergebracht, von einem Arzt untersucht und registriert. Camp Kilmer, eine ehemalige Kaserne, in der amerikanische Truppen während des Zweiten Weltkriegs auf den Abtransport nach Europa vorbereitet worden waren, wurde für die Ungarn umgestaltet. Räume für Besucher, amerikanische Bekannte und Verwandte der Flüchtlinge, aber auch für prominente Besucher wurden zur Verfügung gestellt. Auch für kirchliche Einrichtungen, die Verwaltung, eine Außenstelle des Arbeitsamtes und sogar für Journalisten schuf man Platz.292 Hatten die Flüchtlinge Verwandte in den Vereinigten Staaten, konnten diese sie vom Camp Kilmer (New Jersey) abholen. Bis zum 1. Januar 1957 nahmen die USA von den ursprünglich geplanten 289 290 291

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Flucht über die Luftbrücke. In: SZ 12 (1956) 296, 11. Dezember, 4. Auf dem Weg in ein freies Leben. In: F.A.Z. 17. Dezember 1956, 5. Sandra fliegt zu den Wolkenkratzern. In: SZ 12 (1956) 306, 22./23. Dezember, 3; Safe Haven. In: The New York Times 106 (1956) 36, 26. Dezember, 1. Das „Passauer Bistumsblatt“ brachte ein Foto vom Camp Kilmer, in dem die Ungarnflüchtlinge aufgenommen wurden: Bilder der Woche. In: PB 22 (1957) 3, 20. Januar, 16. Ebenda. Das Armeelager Camp Kilmer wurde auch Camp Mercy (Lager Erbarmen) genannt.

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21.500 Flüchtlingen 15.000 auf. Der amerikanische Vizepräsident Richard Nixon gab bekannt: »Unsere Politik sollte es sein, gemeinsam mit anderen Nationen der freien Welt, den der kommunistischen Gewaltherrschaft entronnenen Flüchtlingen ohne zahlenmäßige Einschränkung Aufnahme zu gewähren.«293 Bereits Mitte Dezember 1956 bereiste Nixon das Burgenland, um sich ein unmittelbares Bild vom Flüchtlingsproblem zu verschaffen.294 Dort bekundete er die Sympathie der amerikanischen Regierung sowie deren Anerkennung für das Engagement der österreichischen Regierung und Bevölkerung für die Ungarnflüchtlinge. Am 20. Dezember 1956 traf er in Wien ein.295 Auf der Rückreise am 22. Dezember 1956 besuchte Nixon den bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner und lobte beim Staatsempfang auf dem Flughafen München-Riem die deutsche Hilfsbereitschaft für die Ungarn. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die US-Luftwaffe 69 Flüge mit 4.747 Ungarnflüchtlingen in die USA abgewickelt.296 Nachdem die USA weit über die geplante Quote Ungarnflüchtlinge aufgenommen hatte, wurde im Juni 1957 die Einwanderung unterbunden. Die weitere Aufnahme beschränkte sich nur noch auf Einzelfälle im Rahmen einer Familienzusammenführung. Unter den Ungarn, die als Ausreiseziel Amerika bevorzugten, löste die Einwanderungssperre große Beunruhigung aus. Aus Protest gegen diese Sperre traten die Ungarnflüchtlinge im Lager Siezenheim bei Salzburg vom 7. bis 10. Mai 1957 in einen Hungerstreik. Sie hatten schon seit fünf Monaten auf ihre Reiseerlaubnis gewartet.297 293

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Nixon über die Lage der Ungarnflüchtlinge. In: AD 9. Januar 1957, in: PAAA B 85, 398. Das Original: Bracker: Nixon. Nixon traf in Andau mit dem österreichischen Bundespräsident Theodor Körner, dem österreichischen Bundeskanzler Julius Raab, dem österreichischen Vizekanzler Adolf Schärf und dem österreichischen Außenminister Leopold Figl zusammen. Diese Szene wurde vom ungarischen Maler Ferenc Daday im Gemälde „Nixon in Andau“ (1972) festgehalten, das er dem späteren Präsidenten Nixon schenkte. Bachkönig: Ungarnaufstand, 57. Zierer: Willkommene Ungarnflüchtlinge, 164. Nixon besucht Ungarnflüchtlinge. In: RT 116 (1956) 186, 21. Dezember, 1; Nixon würdigt deutsche Ungarn-Hilfe. In: RT 116 (1956) 188, 24. Dezember, 2; Nixon in München und Staatsempfang an der Luftbrücke. In: SZ 12 (1956) 307, 24./25./.26. Dezember, 6, 10. Vgl. Bracker: Nixon; Frankel: Nixon. Gerhard von Mende (Büro für Heimatvertriebene Ausländer, Düsseldorf) an LR Stubbe (AA). Düsseldorf, 2. September 1957. PAAA B 85, 398.

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Viele Ungarn glaubten, eine Ausreise in die USA sei nicht nur aus Österreich, sondern auch aus einem anderen europäischen Aufnahmeland möglich. Als bekannt wurde, dass die Ausreise nach Amerika ausschließlich von Österreich aus erfolgen konnte, löste das große Verunsicherung aus. Eine Rückwanderung der bereits im gewählten Einwanderungsland untergebrachten Ungarn begann. Der Weg führte unweigerlich durch die Bundesrepublik Deutschland und durch Bayern bis nach Österreich oder endete für diejenigen in Bayern, die dann doch bleiben wollten.298

3. 4. Durch Bayern zurück nach Ungarn Ungarnflüchtlinge, die sich für eine Rückkehr entschlossen hatten, reisten aus der Bundesrepublik Deutschland nach Ungarn zurück. Da es keine diplomatischen oder konsularischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn gab, wurden die Rückkehrwilligen nach Absprache mit der ungarischen Botschaft in Wien von Österreich nach Ungarn überführt. Da die Rückführung der Ungarn hauptsächlich über das Grenzdurchgangslager Schalding bei Passau erfolgte, war der Freistaat Bayern unmittelbar für die Heimkehrer zuständig. Die Bewegungen über die bayerisch-österreichische Grenze kontrollierte die Bayerische Grenzpolizei, die aufgrund der Sammeltransporte in Richtung Westen und der Rückreisegruppen an den Grenzübergängen den regen Verkehr dokumentierte.299 Die Gründe für die Heimkehr waren vielfältig. Einerseits wurden Geflüchtete in den österreichischen Auffangstellen über die Konsequenzen ihrer Entscheidung für ein Aufnahmeland, wo sie ihr zukünftiges Leben verbringen sollten, nicht aufgeklärt. Die spontane Wahl eines Ziellandes begünstigte zwar die Weiterreise aus den überfüllten Aufnahmelagern, nicht aber eine überlegte Entscheidung, die auf das weitere Leben auswirkte. Außerdem hatten die Ungarn nur vage oder illusorische Vorstel298

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Da es immer häufiger vorkam, dass Ungarn aus einem Drittstaat einzeln oder in Gruppen, legal oder illegal die bundesdeutsche Grenze übertraten, um nach Ungarn zurückzukehren, dabei aber versuchten, in der Bundesrepublik Deutschland zu verbleiben, musste Bundesinnenminister Gerhard Schröder strenge Anordnungen erlassen. BMI Schröder an Innenminister und Senatoren der Länder. Bonn, 13. März 1957. PAAA B 82, 498. BayHStA IM 97301.

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lungen über den Westen, weswegen sie die Folgen einer Registrierung für einen Drittstaat nicht einzuschätzen vermochten. Andererseits traten viele Flüchtlinge die Reise in ein europäisches Land in der Annahme an, es handele sich nur um eine vorübergehende Unterbringung, so dass sie von dort aus in die Vereinigten Staaten auswandern könnten. Viele wollten zurück in die Heimat oder nach Österreich mit der Absicht, nach Amerika auszuwandern, wenn das gewählte Land ihren Erwartungen nicht entsprach oder der Unterschied zwischen der nüchternen Realität und ihren Träumen von paradiesischen Zuständen im Westen bittere Enttäuschungen auslöste.300 Anfänglich verlief die Rückreise der Ungarn, die auf einer einfachen Abmachung zwischen Bundesinnenminister Gerhard Schröder, Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer und dem österreichischen Bundesinnenminister Oskar Helmer beruhte, problemlos. Anfang 1957 verschärfte die österreichische Bundesregierung Raab II allerdings die Vorschriften. Gaben die Ungarn bei der Einreise nach Österreich den Wunsch zur Heimkehr nach Ungarn an, wurde ein solches Vorhaben eher bewilligt als der eigentliche Wunsch einer Emigration in die USA.301 Da viele Ungarn nach ihrer Ankunft in Österreich trotz anderslautender Angaben nicht nach Ungarn zurückkehrten, und die Kádár-Regierung die Rücknahme jedes einzelnen Flüchtlings überprüfte, verweigerte Österreich den Rückkehrwilligen die Einreise. Von Anfang 1957 an galten strenge Rückreiseregeln: Nur diejenigen durften zurückreisen, die im Besitz des ungarischen Einreisezertifikats waren.302 Darüber hinaus sollten die deutschen Behörden die Kosten des Rücktransports bis zur ungarischen Grenze tragen und zusätzlich diejenigen, die von der Repatriierung zurücktreten

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Nixon über die Lage der Ungarnflüchtlinge. In: AD 9. Januar 1957. Dieser Artikel informierte den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika über den Stand der Hilfsaktionen für die ungarischen Flüchtlinge. Er wurde dem Legationsrat Stubbe im Auswärtigen Amt zugeschickt: PAAA B 85, 398. Robert: Mindennek ellenére, 118, bestätigt, dass der Grund für eine Rückkehr aus der Schweiz in mehreren Fällen die Enttäuschung über eine nicht verwirklichte Auswanderung nach Amerika war. Erlass der Republik Österreich, Bundesministerium für Inneres, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit vom 7. Februar 1957 über die Ein- und Durchreise ungarischer Flüchtlinge, die bereits in einem anderen Staat Aufnahme gefunden haben. PAAA B 85, 398 (Abschrift).

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wollten, wieder in Deutschland aufnehmen.303 Schwierigkeiten verursachten die Fälle, in denen Ungarn aus anderen europäischen Ländern zwecks Auswanderung in die Bundesrepublik Deutschland kamen, aber ohne Heimreisezertifikate und Durchreisevisum nicht nach Österreich einreisen durften. Trotz allem wollten diese Ungarn nicht mehr an die Ausgangsorte zurückkehren, aber sie konnten auch nicht in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen werden. Dadurch sammelten sich an der Grenze zu Österreich Personengruppen, die weder nach Österreich einreisen durften noch in die Ausgangsländer abgeschoben werden wollten.304 Am 19. Dezember 1956 wurden 739 Heimkehrer aus dem Bundesgebiet über das bayerische Grenzdurchgangslager Schalding bei Passau ins Lager Scheyr bei Linz weitergeleitet.305 Im Januar 1957 übernahm die Abwicklung der Repatriierung Kurt Breull, Leiter des Aufenthalts- und Ausländerreferats im Bundesinnenministerium.306 Einzelne Rückkehrwillige aus dem Bundesgebiet wurden nach Schalding gebracht, und von hier aus erfolgte die Rückreise in einer geschlossenen Gruppe. Insgesamt trafen 255 Ungarn (90 aus Baden-Württemberg, 15 aus Bremen, fünf aus Hamburg, fünf aus Niedersachsen, 80 aus Nordrhein-Westfalen, fünf aus Rheinland-Pfalz, 15 aus Schleswig-Holstein, zehn aus Saarland und 30 aus Bayern) in Schalding ein, die in einer Erklärung versichern mussten, Deutschland freiwillig verlassen und sich wieder in ihrer Heimat niederlassen zu wollen.307 Als sich 303

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Ministerpräsident Hoegner an Bundeskanzler Adenauer. München, 28. Januar 1957. BayHStA StK 12124 und PAAA B 85, 397, 3. Bereits im November 1956 sicherte die österreichische Regierung zu, Rückkehrwillige wieder aufzunehmen. Dennoch änderte sie mehrmals und einseitig das Repatriierungsverfahren. Abteilung VII (BayStMA) an Arbeitsminister Stain zur Vorlage für die Sitzung in Bonn, über gelöste und ungelöste Probleme der Ungarnflüchtlinge. München, 20. Februar 1957. BayHStA AM LFV 1913. Aktenvermerk über den Stand der Aufnahme und Weiterleitung von Ungarnflüchtlingen vom 4. Januar 1957, vorgelegt an Staatssekretär Karl Weishäupl (BayHStA AM LFV 1913); Präsident Julius Scheuble (BAA) an Landratsämter. Nürnberg, 20. Februar 1957. BArch B 149, 6262. BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 18. Januar 1957: Niederschrift über die Besprechung im BMVt am 10. Januar 1957. BArch B 106, 24545, 114–117. Eine weitere Besprechung über die Aufnahme weiterer Ungarnflüchtlinge aus Österreich und über die Repatriierung der Ungarn fand am 14. Januar 1957 im Auswärtigen Amt mit MR Breull (BMI) und MR Siebke (BMVt) statt. Vermerk LR Stubbe (AA) vom 14. Januar 1957. PAAA B 85, 397. BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 18. Januar 1957: Niederschrift über die Besprechung im BMVt am 10. Januar 1957 in Bonn. BArch B 106, 24545, 117.

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die Ausreise verzögerte, und die Heimkehrer nicht nur die mündliche Erklärung über den freien Entschluss zur Rückkehr, sondern auch eine Zusatzklausel für die Übergabe an die ungarischen Behörden unterschreiben mussten – womit das österreichische Innenministerium den Verbleib der Rückkehrwilligen und die Rückwanderung nach Österreich zwecks Auswanderung nach Amerika verhindern wollte –, kam es zu Unruhen und Protesten in Schalding.308 Die Ungarn vermuteten, dass die deutschen Behörden sie nicht ausreisen lassen und sogar gegen ihren Willen festhalten wollten. 114 Personen, die ohne Ausreisegenehmigung das Lager Schalding verlassen hatten, um aus Passau mit dem Zug nach Wien zu gelangen, wurden von der bayerischen Grenzpolizei aufgehalten. Die Ungarn weigerten sich, ins Lager Schalding zurückzukehren und wurden provisorisch in der Turnhalle der Passauer Altstadtschule untergebracht, weshalb der Schulbetrieb zehn Tage lang eingestellt werden musste.309 Nachdem weitere Personen die Grenze illegal zu passieren versucht hatten, wurden die Grenzgänger im Rahmen einer großen Polizeiaktion ins Landgerichtsgefängnis überstellt.310 Am 19. Januar 1957 klärte Arbeitsminister Walter Stain persönlich mit dem Passauer Oberbürgermeister Stephan Billinger, dem Referenten im bayerischen Arbeitsministerium, Fritz Hiltmann, T. Radspieler vom Nürn308

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Die Titelseite des „Dachauer Anzeiger“ zeigt ein Foto aufgebrachter ungarischer Flüchtlinge: Aufgewiegelt haben kommunistische Agenten. In: DA 12 (1957) 13, 22. Januar, 1. Minister Stain vermutete kommunistische Agenten hinter den Protesten der Ungarn, die ihre Landsleute zum Widerstand gegen die deutschen Behörden aufforderten. Da die ungarische Regierung die Übernahmemodalitäten für die Rückkehrer verändert hatte und Bedingungen stellte, änderte auch die österreichische Regierung das Repatriierungsverfahren. Dadurch entstand die geschilderte Lage in Passau. Der Chefredakteur der „Passauer Neuen Presse“, Hans Kapfinger, erlaubte einem Wortführer der Ungarn, aus der Redaktion Telefonate mit der ungarischen Botschaft in Wien zu führen, um ihre Einreise nach Österreich zu beschleunigen. Erste Hürde auf dem Weg nach Wien genommen. In: PNP 12 (1957) 16, 21. Januar, 7; Das Lager Schalding wird renoviert. Minister Stain stoppte die Übernahme von Ungarnflüchtlingen. In: PNP 12 (1957) 18, 23. Januar, 4. Gepäckmarsch in die Freiheit endete in Schalding. Die Ungarn haben das Lager nun doch dem Gefängnis vorgezogen. In: PNP 12 (1957) 17, 22. Januar, 7. Mit diesem UngarnRücktransport beschäftigte sich auch der bayerische Ministerrat am 22. Januar 1957 (IfZ NlH 401, 17–18). Oberstaatsanwalt Weiß vom Landgericht Passau ordnete zur Verhinderung der illegalen Grenzübertritte verstärkte Grenzüberwachung für dieses Gebiet an. Polizeirat Mulzer (Präsidium der Bayerischen Grenzpolizei) an BayStMI. München, 22. Januar 1957. BayHStA, IM 97301.

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berger Büro des UN-Hochkommissars und Rudolf Niemann, dem Sachgebietsleiter für Flüchtlingsfragen bei der Regierung von Niederbayern diese Angelegenheit, die nicht nur lokalen Wirbel ausgelöst, sondern auch internationale Aufmerksamkeit auf Passau gelenkt hatte.311 Stain sperrte die weitere Aufnahme ungarischer Flüchtlinge aus Österreich, solange die Rückreise der in Passau und Schalding wartenden Ungarn nach Wien nicht genehmigt wurde.312 Bei der nächsten Gruppe aus Wien, die für den 24. Januar 1957 angekündigt worden war, handelte es sich um 150 Personen, vorwiegend Ungarndeutsche. Stain hielt an seinem Einreisestopp fest und machte die Übernahme der Personen von der Abnahme des Passauer Rücktransports abhängig.313 Auf Bitten des bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner klärte Bundeskanzler Konrad Adenauer persönlich mit der österreichischen Bundesregierung die Frage der Rückkehrer, so dass schlussendlich die für den 24. Januar erwartete Ungarngruppe in Piding angenommen wurde, und am 30. Januar 1957 die rückkehrwilligen Ungarn aus dem Lager Schalding die Rückreise antraten. Die Passauer Altstadtschule konnte geräumt und der Schulbetrieb wieder aufgenommen werden.314

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»Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS hat den Vorgang bereits aufgegriffen und stellt ihn so dar, als ob die rückkehrwilligen Flüchtlinge von der Bundesrepublik gegen ihren Willen hier festgehalten würden. Die Passauer Bevölkerung verlangt von ihrem Oberbürgermeister die unverzügliche Wiederaufnahme des Schulbetriebs, was nur nach Räumung der Schule unter Einsatz eines erheblichen Polizeiaufgebots möglich wäre.« Ministerpräsident Wilhelm Hoegner an Bundeskanzler Konrad Adenauer. München, 28. Januar 1957, 3–4. BayHStA StK 12124 und PAAA B 85, 397. Rücktransport ungarischer Flüchtlinge nach Österreich. Mitteilung an den Ministerrat und Herrn Ministerpräsidenten vom 25. Januar 1957 (BayHStA StK 12124); Staatsminister Stain über den Rückkehrtransport (Ministerrat vom 22. Januar 1957. IfZ NlH Nl 401, 17–18); Erste Hürde auf dem Weg nach Wien genommen. In: PNP 12 (1957) 16, 21. Januar, 7; Bayern sperrt Aufnahme ungarischer Flüchtlinge. In: PNP 12 (1957) 18, 23. Januar, 3. In einem vierseitigen Schreiben legte der bayerische Ministerpräsident Hoegner Bundeskanzler Adenauer die Gegebenheiten der Abwicklung des Rückkehrtransportes dar, um die Haltung des bayerischen Staatsministers Walter Stain zu begründen und die entstandene »unerträgliche« Lage in Passau zu lösen. Hoegner an Adenauer. München, 28. Januar 1957. BayHStA StK 12124 und PAAA B 85, 397. Die Stadt Passau versorgte die Ungarn, denen der Grenzübertritt nach Österreich verwehrt wurde, als Obdachlose. Oberbürgermeister Stephan Billinger an BayStMI und BMF. Passau, 25. Januar 1957 und 1. März 1957. PAAA B 85, 397.

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Die Heimkehrer mussten, da es in der Bundesrepublik Deutschland keine diplomatische Vertretung Ungarns gab, ihr Einreisevisum in einem ungarischen Konsulat in einem anderen Land beantragen. Mit den strengen österreichischen Anordnungen bei der Rückkehr nach Ungarn sowie dem Anstieg der Rückkehrer aus anderen Ländern, insbesondere aus Frankreich, häuften sich die Probleme an der bayerisch-österreichischen Grenze. Da die französische Regierung von den Ungarnflüchtlingen die Arbeit im Bergbau oder den Eintritt in die Fremdenlegion verlangte, wanderten immer mehr Flüchtlinge über Deutschland zurück nach Ungarn.315 Anfang 1957 registrierte das Valka-Lager in Nürnberg täglich sechs bis acht Ungarn, die wegen schlechter Lebensbedingungen aus Frankreich nach Bayern gekommen waren.316 Aus diesen Gründen ordnete Bundesinnenminister Gerhard Schröder im März 1957 an, dass alle Ungarn, die die deutsche Grenze überschreiten wollten, einen Sichtvermerk benötigten.317 Obwohl die Passkontrolldirektionen strikte Anweisungen für Ein- und Durchreise der Ungarn hatten, waren die lokalen Grenzstationen über die Vorschriften nicht informiert, wie ein Beispiel zeigt.318 Im August 1957 weigerten sich die österreichischen Grenzbehörden, eine ungarische Rückreisegruppe aus Ulm zu 315

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Der bayerische Ministerrat beschäftigte sich am 22. Januar 1957 mit den ungarischen Flüchtlingen aus Frankreich und dem Artikel Frankreich fordert von ungarischen Flüchtlingen Fremdenlegion oder Arbeit im Bergbau. In: AZt 19. Januar 1957. IfZ NlH 401, 17– 18. Polizeipräsident Hess (Städtisches Polizeipräsidium) an Regierung von Mittelfranken. Nürnberg, 6. Februar 1957. PAAA B 85, 397. BMI Schröder an Innenminister und Senatoren der Länder. Bonn, 13. März 1957. PAAA B 82, 498. Die Regelung über die Ein -und Durchreise sowie Weiterbeförderung von ungarischen Flüchtlingen setzte im Fall der Ungarnflüchtlinge die Passverordnung vom 12. Mai 1956 außer Kraft, nach der die Angehörigen der Staaten, mit denen die Bundesrepublik Deutschland in politischen Beziehungen stand, vom Pass- und Sichtvermerkzwang befreit waren. Ebenda. Dieser Sichtvermerkzwang für die ungarischen Flüchtlinge wurde erst 1961 wieder aufgehoben. BMI an AA. Bonn, 30. November 1961. PAAA B 82, 498. Außerdem wurde der Sichtvermerkzwang allgemein für Flüchtlinge gemäß Anwendung des Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959 aufgehoben. In der Bundesrepublik Deutschland trat diese Regelung am 6. Dezember 1961 in Kraft, und zwar zwischen des Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Dänemark, Niederlande, Norwegen und Schweden, wenn die Inhaber der Flüchtlingsausweise a) nicht die Aufnahme einer Tätigkeit im Bundesgebiet beabsichtigten, b) in ihrem Reiseausweis eine Rückkehrberechtigung eingetragen war und c) die Einreise spätestens vier Monate vor Ablauf der Rückkehrberechtigung erfolgte. Von Haeften (AA, Referat Sozialpolitik und Flüchtlingsfragen) an

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übernehmen, da die Heimkehrwilligen, bis auf eine Familie, keine Heimreisezertifikate besaßen. Da bis zu diesem Zeitpunkt allen Rückkehrern die Durchreise über Österreich gestattet worden war, wunderte sich der Ulmer Transportleiter Dick über diese neue Regelung, die angeblich nicht einmal den deutschen Behörden bekannt war.319 Der genannte Transport wurde am 20. August 1957 aus Ulm nach Passau geleitet und musste mehrere Stunden an der Grenze verweilen. Trotz der Bemühungen der Bayerischen Grenzpolizei und des Schaldinger Grenzlagerleiters Horst Ritter hielten sich die Österreicher an ihre Vorschriften. Durch Einschaltung des Konsulats in Linz und nach telefonischer Rücksprache mit den zuständigen österreichischen Behörden wurde die Durchreise letztendlich doch genehmigt.320 Es stellte sich heraus, dass die ungarische Botschaft in Wien die unvollständigen Anträge von rückkehrwilligen Ungarn unerledigt zurücksandte. Die Rückkehranträge mussten persönliche Angaben der Bewerber mit der Anschrift des letzten Wohnorts sowie der letzten Arbeitsstätte in Ungarn beinhalten (siehe Abbildung 2). Da die Botschaft mindestens zwei Monate für die Bearbeitung brauchte, verzögerten sich die Rücktransporte.321 Wenn die Rücküberstellung nicht durchgeführt werden konnte, blieben die Flüchtlinge in Österreich. Aus diesem Grund teilte das österreichische Bundeskanzleramt der deutschen Botschaft die ungarischen Regelungen für die Rückführung der Flüchtlinge mit. Die österreichischen Grenzbehörden achteten bei der Durchreise der Ungarn akribisch auf deren Einhaltung, wie bei dem genannten Rücktransport aus Ulm am 20. August 1957.322

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alle diplomatischen und berufskonsularischen Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland und Wahlkonsulate. Bonn, 20. Dezember 1961. PAAA B 82, 498. Erlass der Republik Österreich, Bundesministerium für Inneres, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit vom 7. Februar 1957 über die Ein- und Durchreise ungarischer Flüchtlinge, die bereits in einem anderen Staat Aufnahme gefunden haben. PAAA B 85, 398 (Abschrift). Abschrift aus dem Bericht des Angestellten Dick, Durchgangslager Ulm (Donau) – Römerstraße. 20. August 1957. PAAA B 85, 398. Dr. Wottge (MVt, Baden-Württemberg) an AA. Stuttgart, 8. September 1957; Werner Füßlein (BMI) an Innenminister und Senatoren der Länder. Bonn, 12. August 1957. PAAA B 85, 398. AA an BMI und BMVt. Bonn, 17. Januar 1957: Repatriierung von heimkehrwilligen ungarischen Flüchtlingen. BArch B 106, 47465.

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Abbildung 2: Vorschrift für die Rückführung von Ungarnflüchtlingen aus der Bundesrepublik Deutschland nach Ungarn, 1957323

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Werner Füßlein (BMI) an Innenminister und Senatoren der Länder. Bonn, 12. August 1957. PAAA B 85, 398 (neue Signatur: B 85–REF. 505/V6, Band 398).

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Die Zahl der ungarischen Rückkehrer aus der Bundesrepublik Deutschland ging fortlaufend zurück. Im Jahr 1960 verzeichnete Professor Gerhard von Mende vom Forschungsdienst Osteuropa insgesamt 70 bis 80 rückkehrende Ungarn. 1961 sank die Zahl auf die Hälfte, etwa auf acht bis zehn pro Quartal. Die Heimkehrbewegungen aus der Bundesrepublik Deutschland wurden dann für das Jahr 1962 als bedeutungslos eingestuft.324 Die gesichteten Quellen liefern vergleichbare Angaben über die Rückkehrbewegungen aus der Schweiz und den Niederlanden. 1957 kehrten monatlich etwa 35 Personen aus der Schweiz zurück. Nach der Hinrichtung von Imre Nagy im Juni 1958 ging diese Zahl schlagartig zurück, aber im Juli 1958 stieg die Zahl wieder auf 25 an. Der Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements erklärte die erhöhten Rückwanderungen damit, dass bereits beantragte Bewilligungen erst im Juli eintrafen und viele der Flüchtlinge ihre Rückkehr nach Ungarn nicht mehr rückgängig zu machen wagten. Ende des Jahres jedoch beschränkte sich die Rückkehr nur noch auf Einzelfälle.325 Die Ungarn mussten bei der ungarischen Botschaft in Bern eine Heimkehrbewilligung beantragen, die einem Gnadengesuch ähnelte, in dem ein Flüchtling detailliert Auskunft über seine früheren und gegenwärtigen Verhältnisse geben musste. In der Regel nahm die Bearbeitung acht bis neun Wochen in Anspruch.326 Bis Ende 1958 kehrten zwölf Prozent – 453 Personen – der in den Niederlanden aufgenommenen Ungarn in ihr Vaterland zurück. Etwa 200 wanderten in ein anderes Aufnahmeland aus. 300 reisten aus anderen Ländern in die Niederlande ein. Dieses Beispiel zeigt, dass die Ungarn, ähnlich Deutschland, in das Land einreisten oder es durchreisten, gegebenenfalls nach Ungarn zurückreisten oder aber aus einem Drittstaat, wo sie bereits untergebracht waren, wieder in dieses Land einwanderten.327 Nach Überzeugung der Kádár-Regierung waren unter den Geflüchteten viele Abenteurer, die nicht an den Kämpfen teilgenommen, sondern die 324

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Gerhard von Mende an AA. Düsseldorf, 9. Januar 1961, 25. Mai 1962: Überblick über die ungarischen Rückkehrbewegungen. PAAA B 12, 572 b. Bericht über die Erfahrungen mit ungarischen Rückwanderern im Jahre 1958. Beilage im „Mitteilungsblatt der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements“, Dezember 1958. Der Bericht erwähnte insgesamt 1.420 Heimkehrer aus der Schweiz bis Ende November 1958. PAAA B 85, 398. Ebenda. Zur Rückkehr aus der Schweiz vgl. Robert: Magyar menekültek; Robert: Mindennek ellenére. Deutsche Botschaft an AA. Den Haag, 27. Oktober 1958. PAAA B 85, 398.

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Möglichkeit der offenen Grenzen zur Ausreise genutzt hatten. Sie sollten mit Propagandamaßnahmen überzeugt werden, heimzukehren.328 Eine Beeinflussungsmaßnahme war die Schilderung von Enttäuschungen in den Aufnahmestaaten. Der Nürnberger Polizeirat Weniger machte die Regierung von Mittelfranken auf Sendungen des Rundfunksenders Petőfi aufmerksam, die von den Enttäuschungen der Rückkehrer berichteten. In der Sendung vom 12. März 1957 schilderte die aus Westdeutschland zurückgekehrte Etelka Marcel (geboren am 15. Dezember 1937) ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in Ulm. Die Heimkehrerin führte aus, dass ihr Verdienst kaum für Unterkunft und Verpflegung gereicht habe. Der Lohn, von dem er nicht angemessen habe leben können, bewegte auch einen Mann aus Frankreich über Deutschland nach Ungarn zurückzukehren. Empört gab er an, dass er in Deutschland sogar seine Fahrtkosten habe abarbeiten müssen.329 Regierungsrätin Käthe Arndt machte den enormen Zeitdruck, dem die Flüchtlinge bei ihrer Entscheidung für die Weiterreise ausgesetzt waren, für die hohe Rückwanderungsquote verantwortlich. Die grenznahen Auffanglager, zum Beispiel Eisenstadt im Burgenland, ließen den Geflohenen so gut wie keine Zeit, verschiedene Möglichkeiten der Auswanderung zu prüfen.330 Die Zustände in Massenunterkünften dokumentierte ein von der UNESCO im Lager Traiskirchen gedrehter Film. Die ungarische Propaganda unterstrich mit dieser Dokumentation die aussichtslose Lage der Ungarn im Westen.331 Schilderungen der Leidenswege der Zurückgekehrten sollten den Daheimgebliebenen beweisen, dass die Darstellungen der westlichen Radiosender falsche Versprechungen über das Leben im Westen 328

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Solche Agitation der ungarischen Regierung bewegte viele Ungarn zur Rückkehr. Vgl. Szabó: »…s várja eltévedt fiait is.« Polizeirat Weniger (Städtisches Polizeipräsidium, Nürnberg) an Regierung von Mittelfranken. Nürnberg, 15. März 1957. BayHStA IM 97301. In der Reihe des Rundfunksenders Petőfi stellte am 12. März 1957 eine Rückkehrerin die Lebensverhältnisse in Deutschland und am 13. März 1957 ein Heimkehrer aus Frankreich den Leidensweg seiner Rückkehr dar. Diese Aussagen standen vermutlich im Dienst der Kádár-Regierung, die damit weitere Landsleute nach Hause zu locken versuchte. Deutsche Botschaft an AA. Den Haag, 27. Oktober 1958. PAAA B 85, 398. Siehe dazu Kapitel III. 3. 3. Gerhard von Mende (Büro für Heimatvertriebene Ausländer, Düsseldorf) an LR Stubbe (AA). Düsseldorf, 2. September 1957, PAAA B 85, 398.

100 Au f d e m We g d u r c h B ay e r n machten. Zudem sollte signalisiert werden, dass das Leben in Ungarn weitaus mehr Vorteile böte als jenes der Auswanderer im Westen.332 Im Frühjahr 1957 berichtete Ewald Struwe, Redakteur der „Bild-Zeitung“, von einer regelrechten Rückwanderungswelle. Obwohl im März 1957 weiterhin täglich drei bis fünf Flüchtlinge aus Ungarn nach Österreich kamen, gingen 300 Ungarn pro Tag zurück – eine Kehrtwende der Grenzübertritte in Nickelsdorf. Struwe meldete 18.000 enttäuschte Heimkehrer, vor allem aus den USA, England, Westdeutschland und Skandinavien. Er interviewte Rückkehrer in Budapest, unter anderen den Schlosser György Kurucs. Warum er nie wieder in den Westen gehen würde, begründete Kurucs wie folgt: »Ihr habt Decken, Pullover und Baracken gegeben. Aber in eure Wohnungen und Herzen lasst ihr uns nicht hinein. Wir waren immer Fremde geblieben. Darum sind wir gegangen.« Struwe stellte in diesem Artikel die provokative Frage, ob der Westen versagt habe, gab aber zu bedenken, dass für die vermehrte Rückreise auch die Ablauffrist der Amnestie Ende März 1957 eine Erklärung gewesen sein könnte.333 Die Aufzeichnungen der Bayerischen Grenzpolizei wiesen im März 1957 ebenfalls einen plötzlichen Anstieg der Heimkehrer auf. Während bis Anfang Februar insgesamt etwa 400 Rückkehrer registriert wurden, stieg deren Anzahl bis Anfang April auf über 1.400 und bis Anfang August auf 1.908 (siehe Tabelle 7). Die meisten Ungarn kamen aus Frankreich, Belgien, England und den Niederlanden und reisten durch Bayern zurück in ihre Heimat. Die zur Rückkehr Entschlossenen erhielten von der jeweiligen diplomatischen Vertretung der ungarischen Regierung Rückreiszertifikate (Certifikat de Retour) und reisten in geschlossenen Gruppen mit Durchreiseerlaubnissen der deutschen und tschechoslowakischen Vertretungen in Brüssel, Den Haag und London zurück nach Ungarn. Vornehmlich die aus England heimkehrenden Ungarn erklärten, dass sie lieber unter dem kommunistischen Regime in Ungarn als unter den entwürdigenden sozialen Bedingungen leben wollten, die man ihnen in England zugemutet hatte.334

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Robert: Mindennek ellenére, 113–116; Szabó: »…s várja eltévedt fiait is«, 190. Ungarn fliehen zurück! Versagte der Westen? In: Bild-Zeitung 13. März 1957, in: BayHStA AM LFV 1914. Karl Riedl (Präsidium der Bayerischen Grenzpolizei) an BayStMI, BayStMA, BayLfV und Passkontrolldirektion Koblenz über die Ungarn-Transporte an der bayerisch-österreichischen Grenze. München, 8. Februar 1957. BayHStA IM 97301.

IV. Aufnahmeland Bayern 1. Der Freistaat Bayern in den 1950er Jahren Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Bayern einen Neuanfang unter amerikanischer Besatzung. Als Grundlage des politischen und gesellschaftlichen Lebens diente die Bayerische Verfassung, die am 8. Dezember 1946 in Kraft trat.335 Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 gehörte Bayern als eines der elf Länder zum föderalen Westdeutschland. Durch die politische Teilung Deutschlands geriet Bayern an der Grenze des Eisernen Vorhangs in eine Randlage zwischen Ost und West, wodurch sich seine politisch-geografische Situation wesentlich veränderte.336 Die früheren Hauptverkehrslinien und Handelsbeziehungen zum mitteldeutschen und osteuropäischen Raum wurden abgeschnitten. So drehte sich die Verkehrsachse Bayerns von Nordost nach Nordwest.337 Durch die Evakuierung der deutschen, städtischen Bevölkerung in ländliche Regionen während des Zweiten Weltkriegs und die Aufnahme der Heimatvertriebenen danach wuchs die Einwohnerzahl Bayerns um beinahe zwei Millionen auf neun Millionen an. Die Eingliederung der Heimatvertriebenen, die 21,1 Prozent der bayerischen Bevölkerung ausmachten, bestimmte wesentlich die Arbeit der Landesregierungen.338 In der unmittelbaren Nachkriegszeit herrschte in Bayern – wie in ganz Deutschland – in fast allen Lebensbereichen Mangel. Deshalb stand die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Wohnungen an erster Stelle. Jedoch ab Mitte der 1950er Jahre verbesserten sich die Lebensverhältnisse stetig. Von 1950 bis 1960 erhöhte sich die Zahl der Wohnungen bundesweit um 50 Prozent. Am Anfang der 1960er Jahre konnte jeder dritte Bundesbürger in eine Neubauwohnung ziehen. Auch Bayern wurde in dieser Zeit von Lagerauflösungen und Unterbringung vieler, in desolaten Notunterkünften lebender Menschen in komfortable Wohnungen bestimmt. 1963 wurde das 335 336

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Hartmann: Bayerns Weg, 530–547; Volkert: Geschichte Bayerns, 98–101. Von der insgesamt 2.715 Kilometer langen Grenze verliefen 775 Kilometer unmittelbar am Eisernen Vorhang. Lehning: Bayerns Weg, 116. Vgl. Deutinger: Vom Agrarland; Gall: »Gute Straßen bis ins kleinste Dorf!« Gelberg: Vom Kriegsende, 737–742; Kornrumpf: In Bayern, 9; Schönwald: Integration, 28.

102 Au f n a h m e l a n d B ay e r n letzte Flüchtlingslager aufgelöst.339 Zur Mitte der 1950er Jahre entwickelte sich die Wirtschaftslage hervorragend, und die Arbeitslosenzahl sank.340 Immer weniger Menschen wurden in der Landwirtschaft und immer mehr in der Industrie beschäftigt, was zu einem Strukturwandel der bayerischen Wirtschaft führte. Die Ansiedlung außeruniversitärer Forschungsinstitute – wie der Max-Planck-Institute – trug zur Expansion der Forschungstätigkeit bei, so dass sich Bayern Schritt für Schritt vom Agrar- zum Industrieland entwickelte.341 Die dynamische Entwicklung der bayerischen Industrie verlangte immer mehr technisch qualifizierten Nachwuchs, was sich auch auf das Angebot des höheren Schulwesens auswirkte.342 Die ausgeglichenen Staatshaushalte machten es möglich, den Forderungen des Zeitgeistes nach höheren Investitionen im Bildungssektor nachzukommen. In den 1960er Jahren wurden weiterführende Schulen und Hochschulen in ganz Bayern gegründet, die das Bildungsbedürfnis breiter Schichten stillten. Nicht nur Wirtschafts-, Berufs- und Realschulen sowie Gymnasien wurden neu errichtet, sondern es kamen zu den drei Landesuniversitäten München, Würzburg und Erlangen fünf staatliche Universitäten in Regensburg, Augsburg, Bamberg, Bayreuth und Passau, eine nichtstaatliche Gesamthochschule in Eichstätt und die Hochschule der Bundeswehr in München hinzu. Die Lehrerbildung wurde akademisiert, und die Pädagogischen Hochschulen wurden den Universitäten angegliedert.343 Gegen Ende der 1950er Jahre wirkte sich die rasante Entwicklung der bayerischen Industrie auf den Alltag der Menschen aus. Mit dem Ausbau 339

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Hartmann: Bayerns Weg, 541–543; Daxenmüller: Alltag, 232–237; Lindner: „Wir unterhalten uns ständig über den Milchpfennig, aber auf die Gesundheit wird sehr wenig geachtet“; Schönwald: Integration, 573–587; Volkert: Geschichte Bayerns, 105–111. Die Arbeitslosenzahl in Bayern halbierte sich 1955 gegenüber dem Vorjahr von 234.982 auf 111.272. Kramer: Wirtschaftswunder; Lanzinner: Zwischen Sternenbanner, 242–266; Lehning: Bayerns Weg, 137, 1198; Treue: Von der Demontage. 1962 sprach Ministerpräsident Alfons Goppel in seiner Regierungserklärung von einem Prozess der Umwandlung Bayerns vom Agrarstaat zu einem vorwiegend industriell ausgerichteten Staat. 1971 berichtete er, dass die Umwandlung vollzogen worden sei. Deutinger: Vom Agrarland, 28. Die Stellenangebote auf dem technischen Sektor verfünffachten sich zwischen 1950 und 1954, dennoch gab es nur 5.400 Studienplätze an den bayerischen Ingenieursschulen. Benötigt hätte man aber 20.000 Studienplätze. Lehning: Bayerns Weg, 557–575. Lehning: Bayerns Weg, 261, 795–1001; Müller – Schröder – Mößlang: »Vor uns liegt ein Bildungszeitalter«, 319–356.

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der Elektrizitätsversorgung konnten alle Ortschaften mit Strom versorgt werden. Die günstigen Energie- und Bereitstellungskosten förderten die Elektrifizierung der Beleuchtung sowie die Anschaffung von Haushaltsund Unterhaltungsgeräten. Der Fernseher wurde zum führenden Informations- und Unterhaltungsmedium und verdrängte den Rundfunkempfänger vom ersten Platz.344 Mit dem Ausbau der Infrastruktur entstand ein dichtes Straßenverkehrsnetz. Hinzu kam die zunehmende Motorisierung, die sich auf das Mobilitätsverhalten der Bürger auswirkte.345 Die Einführung der fünftägigen Arbeitswoche brachte mehr Freizeit, technische Entwicklungen und Modernisierungen verbesserten die Lebensqualität und den Lebensstandard der Menschen. Das neue Freizeitverhalten, Erleichterungen bei der Hausarbeit, mehr Konsum und Tourismus veränderten den Lebensstil.346 Seit 1955 herrschte in weiten Teilen Bayerns Vollbeschäftigung, und das Wirtschaftswunder machte sich bemerkbar. Zwischen 1950–1954 waren mehr Menschen aus Bayern ab- als zugewandert. Ab 1955 stieg die Zahl der Zuzüge stark an, so dass Bayern 1957 einen Wanderungsgewinn verbuchen konnte.347 Außerdem hielt der Zustrom aus der DDR bis zum Mauerbau 1961 an.348 Der wirtschaftliche Aufschwung und ein erhöhter Arbeitskräftebedarf löste bundesstaatliche Anwerbungen ausländischer Arbeitskräfte aus. 1955 nahm die deutsch-italienische Anwerbekommission ihre Tätigkeit auf. 1956 kamen 7.500 Italiener (1957 5.400, 1958 knapp 7.000) ins Bundesgebiet. Bei anhaltendem Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung stieg die Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften. Daher schloss Bundesarbeitsminister Theodor Blank in den 1960er Jahren weitere Anwerbevereinbarungen mit Spanien und Griechenland (1960), der Türkei

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1958 besaßen nur fünf Prozent, 1965 hingegen fast jede zweite Wohnung einen Fernseher. Deutinger: Eine »Lebensfrage für die bayerische Industrie«, 91. Siehe dazu Kapitel V. 1. Die Zahl der zugelassenen Personenkraftwagen in Bayern hat sich zwischen 1958 und 1968 vervierfacht. Deutinger: Eine »Lebensfrage für die bayerische Industrie«, 98. Schildt: Hegemon; Schildt: Der Beginn. In der ersten Hälfte der 1950er Jahre verließen jährlich im Durchschnitt 60.000 Personen den Freistaat. BiZ 12 (1958) 51. 1956 kamen durchschnittlich 20.000 Flüchtlinge pro Monat aus der DDR nach Westdeutschland. LR Hergt (AA) an Deutsche Botschaft (Wien). Bonn, 21. Dezember 1956. BArch B 106, 47465.

104 Au f n a h m e l a n d B ay e r n (1961), Portugal (1964) und Jugoslawien (1968) ab.349 Von 1959 bis 1965 nahm die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik um eine Million zu und stieg von 1968 bis 1973 von 1,014 auf 2,595 Millionen. Trotz der kurzen Rezessionsphase 1966/1967 stieg die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer kontinuierlich bis zur Ölkrise im Jahr 1973, als die Bundesrepublik Deutschland einen Anwerbestopp verhängte.350 Nach der Bewältigung der Kriegsfolgen und bei stabiler Wirtschaftslage wuchs der Wohlstand in Bayern. Vollbeschäftigung und Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften wirkten sich günstig auf die Aufnahme der Ungarn – vorwiegend beruflich ausgebildete, junge und ledige Männer – aus. Zudem bewirkte die steigende Angst vor der kommunistischen Bedrohung eine wachsende Sympathie für die Ungarn, die gegen die Unterdrückung Moskaus kämpften, und steigerte das Interesse an der Ungarnaufnahme sogar weltweit.351

2. Aufnahme von Ungarnflüchtlingen in Bayern Von 1954 bis 1957 regierte im Freistaat die Viererkoalition.352 Zum ersten Mal wurde die CSU im Bayern der Nachkriegszeit in die Opposition verbannt. Obwohl sie 1954 bei den Landtagswahlen 38 Prozent erzielt hatte, bildete die SPD mit den Kleinparteien GB/BHE, BP und FDP eine Koalition.353 Wilhelm Hoegner (SPD) wurde zum zweiten Mal Ministerpräsident und behielt in der Besetzung der Ministerien eine gewisse personelle Kontinuität bei. Allerdings kam es mit Kultusminister Professor August Ru349

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Dunkel – Stramaglia-Faggion: Zur Geschichte; Herbert: Geschichte; Herbert – Hunn: Gastarbeiter; Steinert: Migration, 277–310. 1973 war jeder neunte Arbeiter ein Ausländer. Bis 1969 bildeten die Italiener die größte nationale Gruppe, nach 1971 waren es die Türken. Außerdem lebten 1,37 Millionen nichterwerbstätige Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland. Der Anwerbestopp verringerte zwar die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer. Dennoch nahm die Zahl der nichterwerbstätigen Ausländer zu. Immer mehr Ausländer blieben langfristig in Deutschland und holten ihre Familien nach, wodurch die ausländische Wohnbevölkerung weiter stieg. Herbert: Geschichte, 201; Herbert – Hunn: Gastarbeiter, 281–310. In der Geschichte der Zuwanderungspolitik der Bundesrepublik Deutschland stellt die Aufnahme von Ungarn eine Besonderheit dar. Steinert: Migration, 279. Tautenberger: Licht. Bei den Landtagswahlen am 28. November 1954 erreichte die SPD 28,1 Prozent, die BP 13,2 Prozent, der GB/BHE 10,2 Prozent und die FDP 7,2 Prozent. Gelberg: Vom Kriegsende, 818; Hartmann: Bayerns Weg, 562–563.

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cker zu einer Veränderung im Kultusministerium. Am 8. November 1956 verhandelte der bayerische Landtag den Rucker-Plan, in dem der Kultusminister den Bedarf an höheren Schulen darlegte und einen umfassenden Entwicklungsplan für die folgenden zehn Jahre vorstellte. Da die Defizite der Staatshaushalte in den Nachkriegsjahren keine Bildungsinvestitionen erlaubt hatten, war der Bildungssektor lange Zeit vernachlässigt worden.354 Nachdem 1956 das Flüchtlingswesen vom Innenministerium in das Ressort des Arbeitsministeriums übergegangen war, gehörte die Aufnahme der Ungarnflüchtlingen zur Zuständigkeit des bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge unter Walter Stain (GB/ BHE), der seit 1953 als Nachfolger von Theodor Oberländer im Amt des Staatsekretärs für Flüchtlingswesen tätig gewesen war.355 Seit Ende des Zweiten Weltkriegs bestand die größte Herausforderung in der Eingliederung von Heimatvertriebenen, Kriegsgefangenen und Heimkehrern.356 Für diese Aufgaben wurde eine Sonderkommission gegründet, die von 1945 bis 1955 dem Innenministerium unter Wolfgang Jaenicke als Staatskommissar (ab 1947 Staatssekretär) untergeordnet war.357 Bei Wohnraum- und Lebensmittelknappheit in der unmittelbaren Nachkriegszeit gestaltete sich die Betreuung und die Unterbringung der Flüchtlinge äußerst schwierig.358 Mit dem Recht, Wohnräume zu beschlagnahmen, griffen Regierungs- und Kreisflüchtlingskommissare unmittelbar, manchmal sogar drastisch in das Leben vieler Menschen ein, die ohnehin dramatische Erfahrungen und

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Lehning: Bayerns Weg, 531–575; Müller – Schröder – Mößlang: »Vor uns liegt ein Bildungszeitalter«, 275–289. Siehe dazu Kapitel III. 3. 1. Dazu ausführlich: Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge; Hockerts: Integration; Lehning: Bayerns Weg; Oberländer: Bayern; Prinz: Integration. Am 2. November 1945 wurde zunächst in Bayern und in den westlichen Besatzungszonen eine Sonderverwaltung für Flüchtlinge ins Leben gerufen. Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge 11; Prinz: Integration, 64. »In dieser Zeit und noch lange Jahre danach konnten die Menschen allein oder mit ihrer Familie auch bei bescheidensten Bedürfnissen oft nur sehr elend vegetieren, wenn sie nicht arbeiteten und Geld verdienten. Sie mussten also arbeiten. Aber die weitaus meisten arbeitsfähigen Flüchtlinge, Vertriebenen und Heimkehrer wollten auch mit aller Gewalt arbeiten, Überstunden machen, an Sonn- und Feiertagen tätig sein – ebenso wie viele Einheimische –, um wieder zu einer Wohnung, zu Möbeln und Kleidung, zu einer menschenwürdigen Existenz zu gelangen.« Treue: Von der Demontage, 65.

106 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Verluste zu verarbeiten hatten.359 Wohnung und Arbeit für die Eingliederung in die Gesellschaft und Wirtschaft – das war das Ziel damals, ebenso wie 1956. Zur Mitte der 1950er Jahre war die Wirtschaftslage allerdings günstiger: Hunger und Not der Nachkriegszeit war zumeist überstanden, die Kriegszerstörung beseitigt, und mit kontinuierlichem Wirtschaftswachstum wurde Wohlstand für breite Schichten der bayerischen Gesellschaft erkennbar.360 Obwohl Bayerns Unterbringungskapazitäten weitgehend erschöpft waren, bestimmte Walter Stain das Durchgangslager Piding bei Bad Reichenhall als Verteilungsstelle und sicherte der Bonner Regierung die Unterstützung bei der Ungarnaufnahme zu.361 Weitere Unterkünfte in Wagenried (Landkreis Dachau), Voggendorf (Landkreis Feuchtwangen) und Oberelsbach (Landkreis Neustadt an der Saale) mit je etwa 250 Plätzen standen bereit.362 Stain sah Bayerns Rolle in erster Linie als Verteiler und nicht als Aufnahmeland. »Bayern hatte schon bisher stets die höchste Zahl an Lager für ausländische Flüchtlinge im Bundesgebiet«, erläuterte er und forderte von den anderen deutschen Ländern, die Unterbringung der Ungarn gleichermaßen mitzutragen.363 Dennoch nahm Bayern mehr Ungarn auf, als in den Verteilungsplänen vorgesehen war, dies einerseits wegen der ständigen Erhöhung des Aufnahmekontingents, andererseits weil andere deutsche Länder (wie Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg) wesentlich weniger Unterbringungsmöglichkeiten hatten als Bayern.364 359 360 361

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Bauer: Flüchtlinge, 41; Prinz: Integration, 67–70. Vgl. Daxelmüller: Alltag. Vgl. Kramer: Wirtschaftswunder. In dieser Zeit beherbergte Bayern 10.000 bis 12.000 Flüchtlinge aus der DDR, die eigentlich nur vorübergehend aufgenommen werden sollten, bis Baden-Württemberg für sie Unterkünfte bereitstellte. Außerdem befanden sich einige tausend ausländische Flüchtlinge in Bayern. Erklärung zur Unterbringung ungarischer Flüchtlinge vom Staatsminister Stain an die Presse am 8. November 1956. BayHStA AM LFV 1913. MDir Adolf Riedel (BMVt) an BayStMA Stain. Bonn, 16. November 1956. BayHStA AM LFV 1913. Ab dem 20. November 1956 waren sowohl das nordrhein-westfälische Durchgangslager in Bocholt als auch das niedersächsische in Friedland mit einer Kapazität von 300 sowie 500 Personen aufnahmebereit. Telegramm von MDir Riedel (BMVt) an MR Breull (Deutsche Botschaft, Wien). Bonn, 16. November 1956. BArch B 106, 47465. Erklärung zur Unterbringung ungarischer Flüchtlinge vom Staatsminister Stain an die Presse am 8. November 1956. BayHStA AM LFV 1913. Laut erstem Verteilungsplan fielen 120 und im Gastverfahren für Nordrhein-Westfalen zusätzlich 400 (insgesamt 520) Ungarn auf Bayern. Bis Mitte Januar nahm jedoch Bayern 1.541 Ungarnflüchtlinge auf. Deswegen forderte Regierungsdirektor Georg Nentwig

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Von den anfangs geplanten 3.000 wollte Bayern 500 Ungarn aufnehmen. Nachdem die Höchstgrenze der Aufgenommenen aber nach oben verschoben und nicht endgültig festgesetzt worden war, kamen letztendlich etwa 14.500 Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland. Von ihnen fanden 1.541 eine endgültige Bleibe in Bayern, unter ihnen auffallend viele Studenten und Jungarbeiter. Durch die Gründung des Ungarischen Gymnasiums 1957 im bayerischen Burg Kastl bei Amberg gelangten später auch viele Oberschüler nach Bayern.

2. 1. Ankunft in Piding und Schalding Am 16. November 1956 wurde die erste Gruppe Ungarn mit großer Euphorie in Piding begrüßt. Das „Reichenhaller Tagblatt“ berichtete: »Als der Sonderzug mit 10 Minuten Verspätung langsam in den Bahnhof einlief, erhoben sich zahllose Hände zu herzlichem Willkommen, Kameras surrten, Fotoverschlüsse klickten. Gesichter erschienen an den Fenstern, die sorgenvollen Mienen der Flüchtlinge aus dem Grauen der letzten Tage erhellten sich […]. Dasselbe Bild, das wir nun schon von den zahlreichen Transporten Ausgewiesener und Flüchtender kennen: bescheidenes neben gutem Gepäck, verhärmte neben strahlenden Gesichtern, Männer, überwiegend jung, Frauen, Halbwüchsige, Kinder.«365 Die ersten 250 Ungarnflüchtlinge wurden von hochrangigen Vertretern des Bayerischen Innen- und Arbeitsministeriums, Geistlichen beider Konfessionen, Ärzten, der Lagerleitung, Helfern des Roten Kreuzes sowie Abgesandten des ungarischen Komitees des Nachkriegsexils in Empfang genommen; außerdem kamen zahlreiche Journalisten und Kameramänner der Pressagenturen. An der Spitze des Empfangsausschusses stand Staatsminister Walter Stain.366 Ministerialrat Ludwig Seemeier vom bayerischen Innenministerium begrüßte die Ankommenden als Gäste der Bundesrepublik Deutschland. Auch Lagerleiter

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(BayStMA) die Übernahme von 525 Ungarn als Entlastung Bayerns. BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 18. Januar 1957: Niederschrift über die Besprechung im BMVt am 10. Januar 1957 in Bonn. BArch B 106, 24545, 111–112. Aus der Hölle in die Freiheit. In: RT 116 (1956) 184, 17. November, 1. Erster Ungarntransport kommt heute. In: RT 116 (1956) 183, 16. November, 1; Aus der Hölle in die Freiheit. In: RT 116 (1956) 184, 17. November, 1; Staatsminister Stain heißt Ungarn willkommen. In: RT 116 (1956) 185, 19./20. November, 6.

108 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Georg Worbs und ein Pfarrer als Direktor der ungarischen Caritas,367 hießen die Ungarn willkommen, die frühmorgens am Wiener Westbahnhof die Reise angetreten hatten. Da die österreichische Bundesbahn überlastet war, stellte die Deutsche Bundesbahn einen Zug zur Verfügung, der nun im Pendelverkehr Flüchtlinge aus Österreich in die Bundesrepublik fuhr. Die Neuankömmlinge wurden mit ungarischem Gulasch empfangen und in höchstens drei Tagen registriert, ärztlich versorgt und beraten. In den folgenden Novembertagen stieg die Zahl der Flüchtenden stark an. Täglich erreichten Tausende das burgenländische Grenzgebiet, und die Weiterreise aus den österreichischen Auffanglagern lief an. Am 18. November 1956 startete der Pendelverkehr zwischen Wien und Bayern mit zwei weiteren Ungarngruppen, die in Schalding bei Passau ankamen (siehe Abbildung 3). Wie in Piding, empfingen Vertreter der bayerischen Regierung die Ungarn – vorwiegend junge Männer um die Zwanzig, nur wenige Frauen und Kinder. Alle 450 kamen auf eigenen Wunsch nach Deutschland, nachdem sie die deutsche Kommission in den österreichischen Grenzlagern für die Reise registriert hatte.368 Mittellos und mit spärlichem Gepäck oder leeren Händen kamen die Flüchtlinge aus Ungarn an, ebenso wie zuvor die deutschen Heimatvertriebenen. Diese Bilder riefen nur allzu vertraute Erinnerungen wach. Aber zuvor war den ankommenden Heimatvertriebenen weder große Sympathie noch Euphorie entgegengebracht worden; obwohl die Menschen der deutschen Sprache mächtig waren und »überwiegend der mitteleuropäischen Kultur angehörten«, waren sie

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Bei der namentlich nicht genannten Person handelte sich höchstwahrscheinlich um den Ungarnseelsorger Ernő Eperjes, der auch den Ungarischen Caritas Dienst leitete. 1952 aus Ungarn geflohen, war er von 1955 an Ungarnseelsorger der Erzdiözese München und Freising. Zudem stand er der Ungarischen Katholischen Mission in München vor. Cserháti: Magyarok, 67. Die deutsche Kommission registrierte in folgenden österreichischen Lagern: Wöllersdorf, Traiskirchen, Spratzern bei St. Pölten, Kaisersteinbruch, Judenau, Grenzauffanglager Eisenstadt sowie in den Konsulatsbezirken Graz, Linz, Salzburg, Bregenz und Innsbruck. Überraschenderweise kam es Ende November 1956 vor, dass registrierte Ungarn zur Abfahrt nicht erschienen, denn inzwischen boten auch andere Länder eine Aufnahme an und ermöglichten einen eventuell früheren Transport. So traten nicht alle Registrierten die Reise nach Deutschland an. RR Käthe Arndt an BMI Schröder über die Tätigkeit und Erfahrungen der Aufnahmegruppe. Wien, 29. November 1956. BArch B 106, 47465.

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fremd in Bayern.369 Wie damals, konnten Flüchtlinge auch 1956 vorerst nur in den Baracken heruntergekommener Lager untergebracht werden. »Der Weg in die Freiheit führt über die Baracke«, las man am 19. November 1956 in der „Passauer Neuen Presse“. Zwar war sich Stain bewusst, dass die ersten Eindrücke, welche die gefeierten ungarischen Helden von Bayern bekamen, marode und zugige Baracken waren, aber »Deutschland ist leider nicht in der Lage, Sie gleich in Wohnungen zu nehmen, wir hatten ja selbst 14 Millionen Flüchtlinge in den letzten Jahren«, wies Stain in seiner Begrüßung auf die Unterbringungsschwierigkeiten hin.370 In der Tat lebten etwa in der Stadt Passau 7.600 (23 Prozent der Einwohner) und im Landkreis 13.000 (21,7 Prozent) amtlich registrierte Vertriebene,371 von denen viele immer noch in Notunterkünften wohnten. Allerdings ging man anfänglich von überschaubaren 3.000 Flüchtlingen aus, deren Unterbringung verteilt auf das Bundesgebiet realisierbar erschien. Außerdem handelte es sich um viele junge Facharbeiter und Studenten, die schon bei der Ankunft versicherten, keine »Barmherzigkeit«, sondern Arbeit haben zu wollen.372 »Wir wollen die deutsche Gastfreundlichkeit durch fleißige Arbeit, durch Mithilfe am deutschen Wiederaufbau wenigstens zu einem bescheidenen Teil in Dankbarkeit entgelten«,373 sagte ein Sprecher der Ungarn zu Arbeitsminister Walter Stain bei der Ankunft im Lager Piding.

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»Abgerissen wie Bettler, wurden vorher oft gut situierte Bürger von einer Stelle zur anderen und schließlich in Lager, Notunterkünfte oder beschlagnahmten Wohnraum gebracht. Dass sie nicht willkommen waren, muss nicht betont werden.« Ziegler: Der Beitrag, 148. Der Weg in die Freiheit führt über die Baracke. In: PNP 11 (1956) 197, 19. November, 6. Als eine Art Ratgeberbroschüre wurde auf Vorschlag vom Bundesvertriebenenministerium ein „Wegweiser für Ungarnflüchtlinge“ auf Ungarisch und Deutsch herausgegeben. Er enthielt als Beilage die Begrüßung von Stain, in der der Staatsminister unter anderem auf die schwierige Wohnungslage und rasche Eingliederung in den Arbeitsprozess hinwies. BayStMA Stain an BMVt Oberländer. München, 8. Januar 1956: Wegweiser für Ungarnflüchtlinge. BayHStA AM LFV 1885. Laut Erhebung des Statistischen Bundesamtes vom 1. Juli 1956 hatte der Landkreis Landshut mit 26 Prozent den höchsten Anteil von Heimatvertriebenen. Die meisten Vertriebenen waren in den Städten Kaufbeuren (53,5 Prozent), Wolfsburg und Salzgitter (fast 50 Prozent) untergekommen. Durchschnittlich ein Viertel der 50,6 Millionen Einwohner der Bundesrepublik Deutschland waren ehemalige Vertriebene. In Passau leben 7.600 Heimatvertriebene. In: PNP 11 (1956) 197, 19. November, 7. Wir wollen Arbeit – nicht Barmherzigkeit. In: SZ 12 (1956) 277, 19. November 1956, 3. Freiheit und Frieden, Obdach und Arbeit. In: RT 116 (1956) 194, 5. Dezember, 8.

110 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Abbildung 3: Empfang von Ungarnflüchtlingen im Lager Schalding374

Die Medien berichteten über dramatische und grauenvolle Schicksale, gefährliche Kampf- und Fluchterlebnisse aus erster Hand, die bei der Ankunft häufig verbunden mit einer Wut auf Russen erzählt wurden. Dies steigerte die ohnehin große Erschütterung über die Niederschlagung des Ungarnaufstands und brachte die nicht allzu weit entfernte sowjetische Bedrohung in greifbare Nähe. Die Bilder der blutigen Straßenkämpfe in Budapest und die Erzählungen der Menschen, die vor einigen Tagen bei kalter Novemberwitterung ihre Heimat verlassen mussten, bewegten die bayerischen Leser so sehr, dass sie den Ungarn jede erdenkliche Hilfe zu374

Am 18. November 1956 trafen zwei Gruppen mit insgesamt 450 Ungarnflüchtlingen in Schalding ein. Wie einst die Heimatvertriebenen, kamen auch die jungen Ungarn ohne Gepäck, mit leeren Händen an. Für den Empfang der jungen Ungarn wurde die rotweiß-grüne Fahne gehisst. Von rechts: Staatsminister Walter Stain, Regierungspräsident Ludwig Hopfner und ein Vertreter der niederbayerischen Regierung mit den Ungarnflüchtlingen im Lager Schalding. 450 Ungarn-Flüchtlinge im Lager Schalding. In: PNP 11 (1956) 198, 20. November, 3. Foto: Schlosser, PNP-Archiv.

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teilwerden ließen. Das zeigte sich nicht nur beim herzlichen Empfang, sondern auch in der Hilfsbereitschaft in ganz Bayern. Große Zuneigung und Solidaritätskundgebungen sensibilisierten die Einheimischen für die Aufnahme der Ungarn, die sogar öffentliche Erwartungen an die bundesdeutsche Politik erzeugte.375

2. 2. Bedingungslose Kollektivaufnahme Anfang November 1956 rechnete die Bonner Regierung zunächst nicht mit einer raschen Aufnahmeentscheidung, weil sie annahm, Österreich würde die Unterbringung und Verpflegung der Neuflüchtlinge bewältigen. Allerdings trafen die ersten Ungarn bereits am 16. November in Bayern ein.376 Danach begann ein reger Betrieb: 17 weitere Transporte folgten nach Piding und drei nach Schalding (siehe Abbildung 4 sowie Tabelle 4 und 5). Im November und Dezember kamen die Flüchtlinge fast täglich in Gruppen von 100 bis 500 Personen an. Allein in diesen zwei Monaten trafen insgesamt 5.809 Ungarn in den zwei Ortschaften des Freistaats ein.377 Piding trug mit der Aufnahme und Weiterleitung von rund 5.000 Ungarn die Hauptlast). Damit diese Menschen untergebracht werden konnten, mussten die Bewohner des ehemaligen staatlichen Vertriebenenlagers Piding im Rahmen des Lagerauflösungsprogramms in Neubauwohnungen umgesiedelt werden.378 Dennoch befanden sich immer noch 214 Personen in 15 Holzbaracken.379 Dadurch, dass zur Mitte der 1950er Jahre Ostvertriebene, Spätheimkehrer und Flüchtlinge aus der DDR in Westdeutschland angekommen waren und für unbestimmte Zeit in diesen Notunterkünften 375 376

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Poutrus: Zuflucht, 29–30. Siehe dazu Kapitel IV. 2. »Bonn ist allerdings der Auffassung, es sei nicht damit zu rechnen, dass ungarische Flüchtlinge in größerer Zahl überraschend in Deutschland eintreffen.« Ungarnflüchtlinge und Ländersolidarität. In: BSZ 29 (1956) 45, 10. November, 4; ORR Thumser (BMI, Bonn) an BayStMA Stain. Bonn, 6. November 1956. BayHStA AM LFV 1913. Die anfängliche Zurückhaltung des Bundesinnenministers Gerhard Schröder bei der Ungarnaufnahme erklärt Poutrus: Zuflucht, 30, »mit den aus der Nachkriegsemigration sowie der anhaltenden innerdeutschen Zuwanderung aus der DDR erwachsenden Belastung«. Ungarn-Transporte in die Grenzlager Piding und Schalding, November und Dezember 1956. BayHStA AM LFV 1913. Briefwechsel zwischen der Regierung Oberbayern und dem Landratsamt Berchtesgaden. 9. Januar 1956 bis 23. August 1958. StAM LRAB 198600. Sachbearbeiter Leistner (Landratsamt Berchtesgaden) an Regierung Oberbayern. Berchtesgaden, 30. Januar 1956. StAM LRAB 198600.

112 Au f n a h m e l a n d B ay e r n untergebracht werden mussten, ging die planmäßige Auflösung der Lager nur langsam voran.380 Bis zum Juni 1955 lebten bundesweit insgesamt fast 370.000 Menschen in 3.000 Wohnlagern.381 Abbildung 4: Durchgangs- und Wohnlager Piding382

Die vorher kaum bekannte oberbayerische Ortschaft Piding galt als »das Schleusentor für den Elendsstrom von Flüchtlingen, Heimkehrern und Aussiedlern aus dem Südosten«.383 Somit wurde für fast zwei Millionen Heimatvertriebene und deren Angehörige nicht das Dorf, sondern das 380

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Aufruf der deutschen Bischöfe zur Behebung der Lagernot vom 1. Dezember 1956. ABP OA Varia I, 18–19. Diese Quelle schildert die Lebenssituation der Heimatvertriebenen, die in Notunterkünften lebten. Sie hebt vor allem die notwendige Betreuung der Katholiken durch die Flüchtlingsseelsorge hervor. Flüchtlingsanzeiger Nr. 9, 4. September 1956. BayHStA AM LFV 573. Foto: Rita Kiss, 2021. Das ehemalige Heeresverpflegungslager der Wehrmacht wurde im September 1945 als Durchgangs- und Wohnlager für Heimatvertriebenen mit einer Kapazität von 4.500 Personen betrieben. Vier große Hallen, Wohnbaracken, ein Krankenrevier mit 150 Betten gehörten zum Gelände, das dem Landrat untergeordnet war. Von 1946 bis 1948 betreute das Bayerische Rote Kreuz, anschließend der Staatssekretär für Flüchtlingsaufgaben das Lager. 1962 wurde das Grenzdurchgangslager Piding geschlossen, 1965 wurde dieses Gebiet in die Gemeinde Piding eingegliedert. Welser: Überlebenskraft, 114, 135; Zeitzeugengespräch mit Max Wieser. Erna Welser, Sachbearbeiterin im Grenzdurchgangslager Piding, in: Wieser: Pidinger Heimatbuch, 131–133. Vgl. Tag der Heimat 1985. Rückblick auf das Jahr 1945. In: HB 5. September 1985, 1–2.

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Lager Piding – das größte Durchgangslager Bayerns – zum Begriff, einem Ort für den Eintritt in eine neue Zukunft.384 Mit den neu Angesiedelten kamen auch neue Industriebetriebe, die Arbeitsplätze boten, so der Holzwaren-Hersteller Schowanek, der 1956 auch Ungarn beschäftigen sollte.385 1956 geriet nämlich das Pidinger Lager wieder in den Blick der Weltöffentlichkeit: es wurde für die Ungarn zum Tor zur Freiheit.386 Der Empfang der Neuankommenden zog zahlreiche Medienberichterstatter an. Auch später herrschte in Piding ein ständiges Kommen und Gehen. Einheimische Helfer, Vertreter der Bundesanerkennungsstelle und der Bundesstelle für Arbeitsvermittlung gingen ein und aus. Werbekommissionen der Unternehmer zeigten großes Interesse an neuen Fachkräften. Privatpersonen brachten Spenden, holten ihre Verwandten ab oder äußerten die Bereitschaft, elternlose Kinder aufzunehmen (siehe Abbildung 5). Ungarische Altflüchtlinge und Ungarndeutsche wurden als Dolmetscher eingesetzt, hiesige und ungarische Seelsorger betreuten die Geflohenen.387

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Heimatvertriebene, Kriegsgefangene und Heimkehrer wurden im Lager Piding registriert, entlaust, ärztlich untersucht, verpflegt und weitergeleitet. Es gab dort eine Arztbaracke. Für die Behandlung der Kranken standen in Bad Reichenhall Hilfskrankenhäuser und sogar eine Entbindungsstation zur Verfügung. Welser: Überlebenskraft, 116–117. 1949 wurde aus Dessendorf (Nordböhmen) die 1896 gegründete Firma J. Schowanek (http://www.aps-schowanek.de/firma.html [18. Januar 2022]) nach Piding umgesiedelt. Sie beschäftigte in zwei Hallen Lagerbewohner bei der Herstellung von Holzwaren für die Textilindustrie (Holzperlen, Knöpfe und Spielwaren). Auch einige Ungarnflüchtlinge bekamen hier Arbeit, während sie auf den Nachzug ihrer Familien warteten. BayHStA AM LFV 3128; Zeitzeugengespräch mit Roland Pager. Anlässlich der Schließung des Lagers Piding fünfzig Jahre zuvor präsentierte die Gemeinde Piding am 16. September 2012 eine Ausstellung mit dem Titel „Piding – das Tor zur Freiheit“, zusammengestellt von der örtlichen Gemeindearchivarin Ursula Koch. GAP DP. Vgl. Prosinger: Piding. Freiheit und Frieden, Obdach und Arbeit. In: RT 116 (1956) 194, 5. Dezember, 8.

114 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Abbildung 5: Empfang von Heimkehrern im Durchgangslager Piding, Dezember 1953 (Volksdeutsche aus Kriegsgefangenschaft) / Grenzdurchgangslager Piding aus der Vogelperspektive, 1948388

Nach Ankunft und Erstversorgung erfolgte in Piding und Schalding die vorläufige Anerkennung als ausländischer Flüchtling.389 Die Rechtsgrundlage bildeten internationale Übereinkommen390 und das Grundgesetz, das in Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 bestimmte: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.«391 Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, die Genfer Flüchtlingskonvention, gewährte allen Ungarn den internationalen Schutz der Vereinten Nationen. Das Grundrecht auf Asyl beinhaltete Sicherheit gegen Ausweisung, aber auch die Freiheit, jederzeit in die Heimat zurückzukehren. Die Genfer Flüchtlingskonvention besagt: »Flüchtling ist jede Person, die aus begründeter Furcht vor Verfol388

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Links: ADiCVMF III/F 134, 38. Foto: Gustl Tögel. Rechts: GAP AMW. Foto: Anton Hafner. – Das Foto links zeigt die erste Halle, die eigentlich als Durchgangslager diente. Die auf ein Nebengleis des Bahnhofs geleiteten Züge konnten unter das Hallendach fahren. So war das Verladen auch bei schlechter Witterung möglich. Anordnung IB 3–13532 B–703/56 des BMI vom Dezember 1956. BArch B 106, 47465. Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet, die als völkerrechtlich unverbindliche Empfehlung galt. Zum Aufgabenbereich des im Dezember 1950 ernannten Hochkommissars für Flüchtlinge gehörten Rechtsschutz, Repatriierung und Soforthilfe. Die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 trat in der Bundesrepublik Deutschland am 22. April 1954 in Kraft. Poutrus: Zuflucht, 30–31; Zierer: Willkommene Ungarnflüchtlinge, 157–158. Artikel 105 der Bayerischen Verfassung vom 2. Dezember 1946 garantiert: »Ausländer, die unter Nichtbeachtung der in dieser Verfassung niederlegten Grundrechte im Ausland verfolgt werden und nach Bayern geflüchtet sind, dürfen nicht ausgeliefert und ausgewiesen werden.« Handbuch des Asylrechts 191–192.

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gung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung das Heimatland verlassen musste.« Zwar wird hier die Rechtsstellung eines bereits anerkannten Flüchtlings geregelt, aber nicht die Asylgewährung an sich, die eigentlich Voraussetzung für die Anwendung des Abkommens war.392 Außerdem enthielt die Flüchtlingskonvention eine Stichtagsregelung: War die Verfolgung auf Ereignisse vor dem 1. Januar 1951 zurückzuführen, so wurde Asyl gewährt. In der Bundesrepublik Deutschland regelte die „Verordnung über Anerkennung und Verteilung von ausländischen Flüchtlingen (Asylverordnung)“ vom 6. Januar 1953 die Gewährung des Asylrechts an ausländische Flüchtlinge mit dem Flüchtlingsstatus der Genfer Konvention.393 Wegen politischer Verfolgung durch das kommunistische Regime in Ungarn bekamen alle ungarischen Flüchtlinge ausnahmslos Asyl in der Bundesrepublik Deutschland, wodurch eine individuelle Überprüfung oder Zurückweisung entfiel.394 Auch eine festgelegte Anzahl, das heißt ein Kontingent der Ungarnflüchtlinge, die in einem Erstaufnahmeland Zuflucht gefunden hatten, aber dort nicht bleiben konnten, wurde übernommen. Man bezeichnet sie als Kontingentflüchtlinge.395 Ihre Fluchtgründe wurden nicht auf die Verfolgung wegen Beteiligung am Volksaufstand 1956 zurückgeführt, sondern pragmatisch als Folge der kommunistischen Machtübernahme 1948/1949 gesehen. Somit lag der Fluchtgrund vor 1951. Deshalb fanden die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention und die Asylverordnung vom 6. Januar 1953 Anwendung, weshalb die Flüchtlinge den Sonderstatus eines bedingungslosen Asyls genossen.396 Erst nach 392 393 394

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Ebenda, 542; Zierer:Willkommene Ungarnflüchtlinge, 159. Poutrus: Asyl, 22–24. BMI an Innenminister der Bundesänder. Bonn, 20. Dezember 1956. BArch B 149, 6262. Die individuelle Verfolgung musste nicht in jedem Einzelfall dargelegt werden. So haben nicht nur die Ungarn von 1956, sondern auch Flüchtlinge des Prager Frühlings 1968, Flüchtlinge aus Chile 1973 und Indochina 1979/1980 Asyl in Deutschland erhalten. Vgl. Handbuch des Asylrechts 207; Poutrus: Zuflucht, 30–31. Schemmer: Internationalisierung, 104–105; Sie waren einst Flüchtlinge 145. Für die Schweiz merkt Mihok: Die ungarische Emigration, 793, an: »Der Wunsch, in die Schweiz zu kommen, reichte als Asylgrund.« Auch für Westdeutschland reichte die Bereitschaft aus, dort zu wohnen. Gemäß dem Asylrecht unterschied die Bundesrepublik Deutschland die Ungarn nicht nach Geschlecht, Alter oder Arbeitsfähigkeit. Vermerk von MR Becker (BMA) über die Vermittlung der ungarischen Flüchtlinge in Arbeit. Ende Dezember 1956. BArch B 149, 6262.

116 Au f n a h m e l a n d B ay e r n der Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland musste ein Antrag auf Anerkennung als ausländischer Flüchtling gestellt werden. Zuständig dafür waren die Ausländerpolizeibehörden am Ort der Unterbringung und die 1953 gegründete Bundesdienststelle für Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg.397 Die Bundesdienststelle bildete drei Kommissionen, die jeweils aus einem Mitarbeiter des Anerkennungsausschusses, einem Dolmetscher und einer Schreibkraft bestanden. Am 26. November nahm die erste Kommission die Arbeit in Piding auf; sie war auch für das Lager Schalding zuständig. Die zweite war im niedersächsischen Lager Friedland tätig, und die dritte stand in Nürnberg zur Verfügung.398 Im Schnellverfahren erfassten die Beamten die Angaben der Flüchtlinge – Familienname, Vorname, Staatsangehörigkeit, Geburtsdatum, Geburtsort, letzter Wohnsitz, Familienstand, Kinder, Beruf – und erteilten einen Beschluss für die vorläufige Anerkennung (siehe Abbildung 6 und 7).399 Nach Zuweisung an ein bestimmtes Land konnte vor Ort das Anerkennungsverfahren zur Asylgewährung eingeleitet werden. Auch die Zugehörigkeit zu den Volksdeutschen wurde in der Regel erst am Bestimmungsort im Rahmen des Anerkennungsverfahrens festgestellt.400

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Die örtlichen Ausländerpolizeibehörden erhielten von der Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge gesonderte Antragsvordrucke. Auch Einzelreisende und illegal aus anderen Staaten in die Bundesrepublik Deutschland eingereiste Ungarn waren verpflichtet, bei der Ausländerpolizeibehörde ein Asylverfahren einzuleiten. RD Nentwig (BayStMA) an von Bertrab (BRK, Direktion München, Abteilung Fürsorge). München, 27. März 1957. BHStA AM LFV 1913. Vermerk von MR Breull (BMI) über das Schnell-Anerkennungsverfahren für UngarnFlüchtlinge vom 26. November 1956. BArch B 106, 47465. BMI Schröder an Senatoren und Innenminister der Länder. Bonn, 20. Dezember 1956. BArch B 149, 6262. BMI Schröder an die Bundesländer. Bonn, 10. Dezember 1956. BArch B 106, 24545, 85– 86.

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Abbildung 6: Formblatt eines Antrags auf Anerkennung als ausländischer Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland, November 1956401

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BMI Schröder an Innenminister der Bundesländer. Bonn, 20. Dezember 1956. BArch B 149, 6262.

118 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Abbildung 7: Formblatt eines Beschlusses über die vorläufige Anerkennung als ausländischer Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland, November 1956402

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BMI Schröder an Innenminister der Bundesländer. Bonn, 20. Dezember 1956. BArch B 149, 6262.

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Der in Piding ausgestellte, vorläufige Beschluss galt auch als Ausweis und als ausländerpolizeiliche Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von vier Monaten. In dieser Zeit mussten die Ungarn die örtlich zuständige Ausländerpolizeibehörde aufsuchen, um ein Anerkennungsverfahren einzuleiten und einen Ausweis entsprechend ihrer Rechtsstellung im Bundesgebiet zu beantragten.403 Die Bundesstelle in Nürnberg überprüfte die Anträge, ob Personen als ausländische Flüchtlinge oder Vertriebene, das heißt als Deutsche im Sinne von Artikel 116, Absatz 1 des Grundgesetzes anerkannt werden konnten. Obwohl bei der Übernahme der Flüchtlinge aus Österreich Ungarndeutsche bevorzugt wurden und besonderer Wert auf die Familienzusammenführung mit ihren in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Familienangehörigen gelegt wurde, blieb die Anzahl der Volksdeutschen mit etwa drei bis fünf Prozent gering.404 Bis zum 31. Dezember 1958 prüfte die Bundesstelle 6.786 Anträge. 1959 besaßen immer noch viele Ungarn vorläufige Anerkennungsbeschlüsse. Um die Klärung der Rechtsstellung der Ungarn zu beschleunigen und die Übergangszeit zu beenden, befristete Bundesinnenminister Schröder die Gültigkeitsdauer der vorläufigen Bescheinigungen auf den 30. April 1959.405

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Bundesinnenmister Schröder verwies bei der Klärung der Rechtsfrage auf die Bestimmungen der seit 1938 gültigen Ausländerpolizeiverordnung, nach der Ausländer eine besondere Aufenthaltserlaubnis brauchten, wenn sie arbeiten oder länger als drei Monate im Bundesgebiet bleiben wollten. Den Ungarn wurde diese Aufenthaltserlaubnis sofort mit Beschluss der vorläufigen Anerkennung als ausländischer Flüchtling erteilt. Während der Bearbeitungszeit bekamen alle Ungarn Reiseausweise mit einer Geltungsdauer von sechs Monaten, die von den örtlich zuständigen Passbehörden ausgestellt wurden. BMI Schröder an Senatoren und Innenminister der Bundesländer. Bonn, 20. Dezember 1956. BArch B 149, 6262, 2–4. Die Angabe beruht auf der Einschätzung der deutschen Botschaft. Einige wenige Vermerke weisen auf die außerordentlich geringe Zahl der Volksdeutschen hin, jedoch geben spätere Aufstellungen keine Auskunft über die Zugehörigkeit zu den Volksdeutschen (BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 18. Januar 1957: Niederschrift über die Besprechung im BMVt am 10. Januar 1957 in Bonn. BArch B 106, 24454, 113). Ungarn, die als Vertriebene gemäß Artikel 116, Absatz 1 des Grundgesetzes im Bundesgebiet anerkannt wurden, erhielten eine entsprechende Urkunde und wurden mit den deutschen Staatsbürgern gleichgestellt. BMI Schröder an Innenminister und Senatoren der Bundesländer. Bonn, 20. Dezember 1956. BArch B 149, 6262, 2–4. BMI Schröder an Innenminister der Bundesländer. Bonn, 17. Februar 1959. BArch B 149, 1514.

120 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Arbeitsrechtlich genossen die Ungarn den gleichen Schutz wie Deutsche. Mit der vorläufigen Anerkennung als ausländischer Flüchtling bekamen sie eine Arbeitserlaubnis für einen Arbeitsplatz (beschränkte Arbeitserlaubnis), aber keinen Befreiungsschein, der es ihnen gestattet hätte, sich frei im Bundesgebiet niederzulassen und zu arbeiten (keine Freizügigkeit).406 Auf diese Weise wollte Bundesarbeitsminister Anton Storch unerwünschte räumliche Ballungen verhindern. Außerdem bestimmte die nach Aufnahmekapazität und Arbeitskräftebedarf erwogene Zuteilung an ein Bundesland ihre vorläufige Bleibe.407 Auch nach der Klärung ihrer Rechtsstellung und nach dem Erhalt eines zunächst für sechs Monate gültigen Reisepasses hielt Storch die Ausstellung eines Befreiungsscheins für nicht angebracht. Beim Wechsel des Arbeitsplatzes wurde eine Arbeitserlaubnis aber ohne Schwierigkeiten erteilt.408 Die Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn barg auch einige Gefahren in sich. Da sie unter großem Zeitdruck stand, war es unmöglich, die Flüchtlinge in den Grenzlagern eingehend zu überprüfen. Dennoch wurden bei der Ankunft die persönlichen Angaben der Neuankömmlinge aufgenommen und in einer Zentralkartei festgehalten.409 Angestrebt war eine Prüfung der Angaben durch Befragung anderer, aus demselben Wohnort stammenden Personen.410 Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz schlug sogar vor, die Gewährung des Flüchtlingsstatus »an die Bedingung zu knüpfen, dass sich der Flüchtling während einer bestimmten Probezeit einwandfrei verhalten hat. Es wäre jedoch kaum ratsam, dies in einer öffentlichen Versammlung zu proklamieren. Es genügt, diese Nachricht auf dem Weg der Flüsterpropaganda in kürzester Zeit unter allen Flüchtlingen zu verbreiten. Eine solche Maßnahme wird vermutlich viele 406

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BMI Schröder an Präsident Scheuble (BAA) über die Ausländergenehmigungsverfahren bei ungarischen Flüchtlingen. Bonn, 1. Mai 1957. BArch B 149, 6262. R. Terrillon (Vertreter des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Nebenzweigstelle München) an RD Nentwig (BayStMA). München, 10. Dezember 1956: Rundschreiben an die Flüchtlinge. BayHStA AM LFV 1913 (Deutsch und Ungarisch). Präsident Julius Scheuble (BAA) an BMA Anton Storch. Nürnberg, 5. April 1957; Storch an Scheuble. Bonn, 1. Mai 1957. BArch B 149, 6262. Es waren folgende Daten: Vorname, Name, Mädchenname der Mutter, absolvierte Schulen, Beruf und letzter Arbeitsplatz, ständiger Wohnsitz im Jahr 1956. RD Leuckart (BayStMI) an BayStMA, Freiherrn von Godin (Präsidium der Bayerischen Landpolizei), Präsident Mulzer (Bayerische Grenzpolizei). München, 29. November 1956. BayHStA AM LFV 1913.

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kriminelle Elemente zur Zurückhaltung und Vorsicht zwingen.«411 Ob der Vorschlag als Abschreckung gegen Kriminalität umgesetzt wurde, lässt sich anhand der Quellen nicht belegen. Bei Überprüfung durch die Bundesdienststelle in Piding konnten jedenfalls einige sowjetische Agenten unter den Ungarn entlarvt werden.412 Vermehrte Schwierigkeiten im Umgang mit den Ungarn meldeten die Landesflüchtlingsverwaltungen in BadenWürttemberg, Hessen und Niedersachsen. Außerdem waren unter den Ungarn auch ehemalige Straftäter, Kriminelle und randalierende Jugendliche, die beim Bundesvertriebenenministerium gemeldet und vom Bundesinnenministerium überprüft wurden.413 Der Umgang mit Unruhestiftern oder Kriminellen lässt sich in den Akten nicht weiterverfolgen. Zusammenfassend sei festgehalten, dass jeder politisch Verfolgte, der wegen seines Widerstands gegen die sowjetische Unterdrückung fliehen musste, in der antikommunistisch ausgerichteten Bundesrepublik Deutschland Schutz genoss und Zuflucht erhielt, so wie 1956 die Ungarn und 1968 Tschechen und Slowaken. 1973, nach dem Militärputsch gegen die linksgerichtete Regierung in Chile, wurde das Asylrecht auf politisch Verfolgte jeglicher diktatorischen Herrschaft ausgedehnt, was zur Aufnahme von Chilenen führte.414 1956 ermöglichte die Bundesrepublik 411

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Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz: Das Problem der Flüchtlinge des ungarischen Aufstandes. München, 16. November 1956. BayHStA StK 12124, 4. Unterstreichung im Original. Die vorläufige Anerkennung von drei ungarischen Flüchtlingen wurde abgelehnt, da sie mit hinreichender Sicherheit als sowjetische Agenten durch den amerikanischen Nachrichtendienst und die zuständige Polizei enttarnt worden waren. Das Arbeitsministerium ordnete die Überprüfung und die Zurückstellung nach Piding an. Wie das Verfahren ausging, ist den Akten nicht zu entnehmen. Vermerk über die Mitteilung von ORR Kramer (Bundesdienststelle für Anerkennung ausländischer Flüchtlinge) vom 13. Dezember 1956. BArch B 106, 47465. Baden-Württemberg übernahm eine Jugendgruppe aus einem Jugendgefängnis. Niedersachsen meldete Insassen eines geschlossenen Fürsorgeheimes und Zigeuner. Hessen identifizierte in einer Gruppe zehn Prostituierte. Aus Frankreich illegal eingewanderte Ungarn waren in eine Messerstecherei verwickelt. BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 18. Januar 1957: Niederschrift über die Besprechung im BMVt am 10. Januar 1957 in Bonn. BArch B 106, 24545, 120. »Allerdings weist die politische Auseinandersetzung um die Gewährung von Asyl für politisch Verfolgte der Pinochet-Diktatur in den Jahren 1974 und 1975 auf eine Auflösung des antitotalitären Konsenses der 1950er und 1960er Jahre zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien hin und offenbart, dass die Liberalisierung bei der Aufnahme politisch Verfolgter in der Bundesrepublik an ihre Grenzen stieß.« Poutrus: Zuflucht, 34.

122 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Deutschland den Ungarn die Einreise mit unbürokratischen Aufnahmemodalitäten. Drei Tage nach der Niederschlagung des Ungarnaufstands beschloss die Bundesregierung die sofortige Aufnahme von 3.000 Flüchtlingen. Bereits am 22. November erhöhte sie die Quote auf 10.000, ohne eine Höchstgrenze festzulegen und ohne besondere Aufnahmekriterien, was ungewöhnlich war. Das anfängliche Zögern und die darauffolgende außergewöhnliche Hilfsbereitschaft spricht für ein grundlegendes Umdenken, das Patrice G. Poutrus als Wende von der Abwehr ausländischer Flüchtlinge zur pragmatischen Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland darstellt.415 Dieser Umschwung galt auch für andere Staaten, insbesondere die Schweiz.416 Die Bereitschaft 18 europäischer und 22 außereuropäischer Staaten, Ungarn aufzunehmen, war erstaunlich.417 Darüber hinaus beschleunigte die Kooperation der Institutionen von NATO und UNO maßgeblich die rasche Weiterleitung aus den Erstaufnahmeländern und die Aufnahme in Drittstaaten.418

3. Ungarnhilfe Das Schicksal der Ungarn regte die bayerische Bevölkerung zu vielfältigen Formen der Unterstützung an. Die Ungarnhilfe war in jeder bayerischen Ortschaft aktuelles Thema, mit dem sich Schule, Kirche, Gemeinde und Vereine beschäftigten. Jeder wollte helfen, die große Spendenbereitschaft überstieg alle Erwartungen. Die Hilfe für Ungarn umfasste die Sammlung und Lieferung von Hilfsgütern nach Ungarn sowie die Direkthilfe an der österreichisch-ungarischen Grenze. Sobald die Ungarnflüchtlinge in Bayern eintrafen, ging es um deren materielle und seelische Unterstützung.

3. 1. Hilfsgüter nach Ungarn Die westdeutsche und bayerische Medienberichterstattung widmete dem Ungarnaufstand viel Aufmerksamkeit. Zudem verstärkten Fotos als wich415 416

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Ebenda, 29. Im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl nahm die Schweiz eines der größten Kontingente an Ungarnflüchtlingen auf, was im Widerspruch zu ihrer vorherigen Asylpraxis stand. Mihok: Die ungarische Emigration, 787–788. Vgl. Kastner: Die Ungarnflüchtlinge, 88. Kecskés: Egy humanitárius csoda; Kecskés: A menekülő egyén.

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tigste Bildmedien die Wahrnehmung der schwierigen Situation in Ungarn und sensibilisierten die bayerische Bevölkerung zusätzlich. »Lesenswert war in den vergangenen Wochen nur die erste Seite der Zeitung, wo berichtet wurde über den Heldenkampf eines kleinen Volkes, das den Tod nicht scheute, um ein bei uns so abgegriffenes Ideal wie Freiheit zu erlangen. Wie ein Heldenepos klingen die Berichte von dem todesmutigen Einsatz der Kinder, von dem Sterben der Jugend und der Hingabe der Männer und Frauen, die alles opferten für eine Idee. Wie klein und schäbig erscheinen da unsere Probleme, die die übrigen Seiten der Zeitungen füllen«, schrieb Monsignore Oskar Jandl, Diözesan-Caritasdirektor für München und Freising voller Mitgefühl.419 Ein Großteil der bayerischen Bevölkerung bekundete Sympathie für den Freiheitskampf der Ungarn und zeigte sich bereit, den Opfern des Aufstands Sachen und Geld zu spenden. Die Dimension der Gutwilligkeit zeigte sich am Andrang an den Sammelstellen. »Das Herz der Münchner schlägt für Ungarn«, kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“ den Spendenstrom bei der Caritas-Zentrale in München.420 Aber nicht nur in München, auch in anderen kleinen und größeren Ortschaften dachte man an die Ungarn, betete und sammelte Spenden für sie. Mit der Enzyklika „Luctuosissimi eventus“ rief Papst Pius XII. die Katholiken in aller Welt auf, Bittgottesdienste für den Frieden in Ungarn abzuhalten.421 Am 30. Oktober 1956 beschloss die Bundesregierung, eine Million Deutsche Mark sowie weitere materielle Unterstützung für die Ungarnhilfe bereitzustellen. Mit der Leitung der Hilfeleistungen an Ungarn beauftragte sie das Deutsche Rote Kreuz.422 Als im November 1956 Sammelstellen und 419 420 421

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Der Ruf aus Ungarn. In: CD 9 (1956) 85. Das Herz der Münchner schlägt für Ungarn. In: SZ 116 (1956) 260, 30. Oktober, 4, Papst ruft zu Gebet für Ungarn auf. In: PB 21 (1956) 45, 4. November, 11. In den Pfarrgemeinden wurden Betstunden und Rosenkranzgebete für die Ungarn abgehalten. Am 1. November protestierte Papst Pius XII. gegen das sowjetische Vorgehen in Ungarn. Seine Enzyklika beginnt mit den Worten »Datis nuperrime«. Ungarisches Blut schreit zu Gott. In: PB 21 (1956) 47, 18. November, 4. Sondersitzung der Bundesregierung am 30. Oktober 1956. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 670. Auf Anfrage einer ungarisch-deutschen Vereinigung, ihre selbst errichtete Auffangstelle in Österreich finanziell zu unterstützen, entschied die Bundesregierung, die Hilfsmaßnahmen der ungarisch-deutschen Vereinigung nur innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu fördern. Auch der bayerische Ministerrat beschloss, die Spenden dem Deutschen Roten Kreuz und nicht einem Komitee der ungarischen Exilanten in München zu überlassen. Protokoll der Sitzung des bayerischen Ministerrats vom 30. Oktober 1956. IfZ NlH 399, 10–11.

124 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Konten für die Ungarnhilfe eingerichtet wurden, gingen in wenigen Wochen fünf Millionen Deutsche Mark ein.423 In Bayern stiftete Ministerpräsident Wilhelm Hoegner aus seinem Dispositionsfonds 1.000 Deutsche Mark, darüber hinaus stellte der bayerische Ministerrat 5.000 Deutsche Mark für die Ungarnhilfe zur Verfügung. Auch die Landtagsfraktion der CSU spendete 1.000 Deutsche Mark, die Landesleitung und Landtagsfraktion der SPD je 1.000 Deutsche Mark, die GB/BHE-Fraktion 500 und die FDP-Fraktion 250 Deutsche Mark.424 Am 4. November 1956 löste die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands weltweit antisowjetische Demonstrationen aus, bei denen man der Opfer gedachte. Bundeskanzler Konrad Adenauer im Deutschen Bundestag425 und Landtagspräsident Hans Ehard im Bayerischen Landtag äußerten Bewunderung für den ungarischen Freiheitskampf und zugleich Erschütterung über den sowjetischen Einmarsch. Die Adjektive freiheitsliebend, mutig, tapfer und edel förderten die Solidarität. Zugleich ermutigte das Lob, zu »helfen, die Verwundeten und Kranken zu pflegen, die Hungernden zu speisen und den Vertriebenen Obdach zu geben«.426 Auf Vorschlag von Walter Becher (GB/BHE) wurde Anfang November eine dreiminütige Verkehrsstille in ganz Bayern als Zeichen des Protests »gegen den unmenschlichen Gewaltakt der Sowjets in Ungarn« durchgeführt.427 In München warf eine Gruppe von etwa 30 hier lebenden Ungarn einen Trauerkranz »für die gefallenen ungarischen Freiheitskämpfer« von der Cornelius-Brücke in die Isar. Der Kranz wurde auf dem Wasserweg nach Budapest geschickt.428 Bereits die Anerkennung des Kampfes der Ungarn für Freiheit und Demokratie, aber auch Bilder und Nachrichten über die notleidenden Ungarn

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65. Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Bundestag am 16. November 1956: Tagesordnungspunkt 1. PAAA B 12, 550 b. Protokoll der Sitzung des bayerischen Ministerrats vom 30. Oktober 1956. IfZ NlH 399, 10–11; Ungarn – Hilfe aus aller Welt. In: SZ 116 (1956) 260, 30. Oktober 1956, 2; Die ganze Welt will Ungarn helfen. In: SZ 116 (1956) 261, 31. Oktober 1956, 20. Deutscher Bundestag. 168. Sitzung. Bonn, 8. November 1956. In: DBP 9259–9261. Bayerischer Landtag. 3. Legislaturperiode. Stenographischer Bericht. 79. Sitzung. München, 6. November 1956. In: BLP 2700. Telegramm von Walter Becher (MdL, GB/BHE) an Ministerpräsident Hoegner. [München], 4. November 1956. BayHStA StK 13369. Spendenstrom in Richtung Ungarn. In: SZ 116 (1956) 262, 1. November, 4.

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veranlassten die Bayern, Hilfsmaßnahmen zu ergreifen.429 Aufrufe im Bayerischen Rundfunk zu Geld- und Sachspenden führten zu einer Flut von finanziellen und materiellen Zuwendungen. »Es genügte ein kurzer Aufruf über die Presse, den Rundfunk, um schon in den ersten Stunden einen Strom von Gaben in die Büros der Wohlfahrtstellen einzuleiten. […] bald waren die Räume der Caritas verstopft von den Geschenken für Ungarn«, schrieb Caritasdirektor Jandl.430 Die plötzliche Überlastung trat nicht nur in Bayern auf, wie der folgende Bericht der Journalistin Marianne Zehnder die ersten Wochen der Hilfstätigkeit für Ungarn im Zentralsekretariat des Schweizerischen Roten Kreuzes beschreibt. »Mit einemmal wurde aus dem ruhigen und geregelten Betrieb des Zentralsekretariates eine Verbindungszentrale, ein Kommandoposten, ein Leuchtturm mitten in brandender See. Tag und Nacht hat die Telephonzentrale nicht Ruhe.«431 Die Lawine der Spenden löste in den bayerischen Wohlfahrtsorganisationen Hochbetrieb aus. Mit einem solchen Ausmaß der Hilfsbereitschaft hatte niemand gerechnet, wie die Caritas berichtete.432 Als internationale Organisation war nicht nur das Rote Kreuz, sondern auch die Caritas Internationalis zum Mitwirken bei der Hilfeleistung aufgerufen. Um die in den Bezirksstellen der Caritas eingegangenen Sachspenden weiterleiten zu können, wurde der Caritasverband der Diözese Passau zur zentralen Leit- und Sammelstelle für Bayern und das gesamte Bundesgebiet bestimmt und Ende Oktober 1956 damit beauftragt, ein Sammellager zu mieten und den Weiterversand der Güter abzuwickeln.433 Außerdem bestand eine historische Verbindung zwischen der Bischofsstadt und dem Land des Heiligen Königs Stephan, wodurch sich das Bistum Passau mehr oder weniger verpflichtet fühlte, den Ungarn zu helfen.434 Als am 7. November 1956 der Bund der Deutschen Katholischen Jugend und die Junge 429

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»Keine von allen Nachrichten hat mich so erschüttert wie das Bild, das die Passauer Neuen Presse am Montag brachte [5. November 1956, 1, R. K.] – das Bild auf dem die Gräber gefallener Freiheitskämpfer mitten auf der Straße zu sehen waren, und unter dem zu lesen stand: Die Straßen von Budapest sind zum Friedhof geworden«, sagte Caritasdirektor Johann Lampert im Gedenkgottesdienst am 7. November 1956 in Passau. Sie haben auch für uns gekämpft. In: PNP 11 (1956) 188, 8. November, 5. Der Ruf aus Ungarn. In: CD 9 (1956) 85. Reinhard: Die Ungarnhilfe, 19. Caritas hilft Ungarn. In: CD 9 (1956) 86–87. Eder: Helfen, 556–560; Rester: Die Caritas-Hilfsaktion. Passau hilft Ungarn. In: PB 21 (1956) 45, 4. November 1956, 13.

126 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Aktion der Ackermann-Gemeinde zum Schweigemarsch aufrief, versammelten sich Tausende Menschen auf der Straße. Jung und Alt zogen nach dem Gedenkgottesdienst vom Dom durch die Stadt zur Nibelungenhalle und demonstrierten mit Fackeln und Transparenten gegen die sowjetische Unterdrückung in Ungarn. Das Ausmaß der Beteiligung in Passau war ein Zeichen für die große Anteilnahme der Bayern am Schicksal der Ungarn.435 Das zeigte sich auch in der Spendenbereitschaft. Die Sachspenden füllten das 750 Quadratkilometer große Hafenlager innerhalb von drei Wochen, so dass der Passauer Caritasdirektor, Monsignore Ludwig Penzkofer ein zweites Lager mit 1.300 Quadratkilometer anmietete. Aber auch dieses erschöpfte innerhalb von fünf Tagen seine Kapazität. Vier Wochen lang, vom 10. Dezember 1956 bis 10. Januar 1957 wurden die Spenden ins Ausweichlager Regensburg ausgelagert, damit das Spendengut in Passau sortiert und versandfertig gemacht werden konnte.436 Die ersten Lieferungen enthielten Medikamente, Verbandsmaterial, Decken und Lebensmittel für die ungarischen Krankenhäuser.437 Aber nicht nur aus der Bundesrepublik Deutschland, sondern aus der ganzen Welt gingen Hilfssendungen ein, bis die Staatsgrenze Ungarns am 4. November 1956 abgeriegelt wurde. Erst ab Januar 1957 war es der Caritas wieder möglich, Hilfsgüter direkt nach Budapest zu liefern. Dort sicherte die ungarische Actio Catholica die gerechte Verteilung der Spenden in den ungarischen Diözesen und Pfarreien zu.438 Medikamente, Blutplasma, Fens435

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Bittgottesdienst am Grabe der Ungarnkönigin. In: PNP 11 (1956) 186, 6. November, 5; Trauer um Ungarn. In: PB 21 (1956) 45, 11. November, 13; Sie haben auch für uns gekämpft. In: PNP 11 (1956) 188, 8. November, 5. Am 21. November gedachten Einwohner von Dachau auf einem Bittgang des Leidens der Ungarn. Jung und Alt zogen betend und singend zur Basilika am Petersberg. Bittgang für Ungarn. In: DN 11 (1956) 279, 21. November, 1. Caritasverband für die Diözese Passau an die Diözesan-Caritasverbände. Passau, 28. Februar 1957: Zusammenfassender Bericht über die Tätigkeit des Sammellagers Passau für die Zeit vom 29. Oktober 1956 bis 28. Februar 1957. ADiCVP 82. Am 30. Oktober 1956 startete der erste Hilfszug des Deutschen Roten Kreuzes von München aus nach Ungarn. Ungarn – Hilfe aus aller Welt. In: SZ 12 (1956) 260, 30. Oktober 1956, 2. Die Ungarische Katholische Aktion wurde mit dem Empfang und der Verteilung der Spenden der westlichen Kirche beauftragt. Sie unterhielt 14 Großküchen für die Versorgung der Menschen mit warmen Speisen. Da die Kirche in Ungarn vom Staat keine finanzielle Unterstützung erhielt, außerdem das Kirchenoberhaupt, József Kardinal Mindszenty seit 1948 im Gefängnis festgehalten wurde, war sie auf die Hilfe des Westens angewiesen (Caritashilfe für Ungarn. In: CD 10 [1957] 11). Selbst Werenfried van Straa-

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terglas, Kohle, Lebensmittel und Bekleidung, über 2.000 Tonnen Hilfsgüter wurden mit Lastkraftwagen und Lieferwagen des Allgemeinen Deutschen Automobil-Clubs (ADAC) von privaten Firmen, mit der Eisenbahn sowie per Schiff nach Ungarn befördert.439 Um den Versand zu erleichtern, bestand für die Spenden bis Ende März 1957 eine Ausfuhrerleichterung, wenn der Spendencharakter unzweifelhaft und der Absender das Deutsche Rote Kreuz oder ein anderer anerkannter Wohlfahrtsverband war. Damit entfiel eine vorherige Genehmigung der Sendungen durch die zuständigen Bezirksregierungen in Bayern.440 Bis Ende März 1957 gewährleistete die Deutsche Bundesbahn Frachtfreiheit für die Hilfesendungen. Außerdem verlängerte die ungarische Regierung die Zollfreiheit bis Ende Juni 1957.441 Die Passauer Caritas entwickelte sich zu einem internationalen Spendenbetrieb, der nicht nur die Sachspenden koordinierte, sondern auch die Sondersendungen nach Ungarn weiterleitete. Am 1. Juli 1957 beendeten das Internationale Rote Kreuz und andere Wohlfahrtorganisationen die Hilfsaktion – bis auf die Caritas, die diese 1958 sogar auf Jugoslawien ausweitete. Mit der Ungarnhilfe begann die Hilfstätigkeit für die kirchlichen Institutionen in den Ostblockstaaten. In Passau erwuchs daraus die Diözesanabteilung Ostkirchenhilfe, die in Zusammenarbeit mit der Ostpriesterhilfe ihre Tätigkeit fortführte.442

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ten („Speckpater“) brachte im Rahmen der Ostpriesterhilfe Hilfsgüter nach Ungarn und besuchte den aus dem Gefängnis befreiten Kardinal Mindszenty. Van Straaten: Sie nennen mich Speckpater, 96–99. Caritashilfe für Ungarn. In: CD 10 (1957) 11; Eder: Helfen, 558. Bis Ende Mai 1957 gingen zwei Schiffsendungen mit über 300.000 Kilogramm Spendengut und 170 Eisenbahnwaggons nach Budapest (Rester: Die Caritas-Hilfsaktion, 188). Die Caritas sammelte in der Erzdiözese München und Freising Spenden in Höhe von 1.700.000 Deutsche Mark, die größtenteils nach Passau weitergeleitet wurden. Zudem verteilte sie in den Lagern Piding und Wagenried an durchreisende Ungarnflüchtlinge Textilien, Schuhe und Sonstiges im Wert von 351.000 Deutsche Mark. Die Höhe der Hilfsleistungen in Bargeld betrug 43.088 Deutsche Mark. Jahresbericht 1956 des Caritasverbandes der Erzdiözese München-Freising. In: CD 10 (1957) 68. Regierung Oberfranken an die Landratsämter. Bayreuth, 30. November 1956. StAB LRA Rep. K 15, 2367. Caritasverband Passau an Diözesan-Caritasverbände. Passau, 14. März 1957. ADiCVP 82. Die Ostkirchenhilfe begann 1956 mit der Ungarnhilfe. Ab 1958 wurde sie auf Jugoslawien, ab 1963 auf Rumänien, die Tschechoslowakei, Bulgarien und Polen erweitert. Ab 1963 wurde die finanzielle Last von der von Pater Werenfried van Straaten gegründeten Ostpriesterhilfe mit Unterstützung der Deutschen Bischofskonferenz getragen. Bartl Re-

128 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Die Spenden wurden nicht nur vor Ort beim Deutschen Roten Kreuz oder bei der Caritas-Sammelstelle abgegeben (siehe Abbildung 8), sondern häufig auch per Post befördert. Wegen der vielen Päckchen und Pakete musste die Deutsche Bundespost einen Sonderzustelldienst einrichten, damit die Lieferungen schnellstmöglich nach Passau ins Sammellager gelangten. Das Bundespostministerium hob für Geschenksendungen nach Ungarn die Einfuhrsteuer auf. Laut Bestimmungen durfte mit Ausnahme alkoholischer Getränke, von Betäubungsmitteln und Waren zu Handelszwecken alles gesendet werden.443 Abbildung 8: Ungarnhilfe in Piding 1956444

Das Deutsche Rote Kreuz richtete in Ebenhausen (Unterfranken) ein Zentralwarenlager als Sammelstelle für alle Spenden ein, wo die Waren sortiert und verpackt wurden. Mit 2.000 Tonnen Sachspenden war das Lager in kurzer Zeit ausgelastet. Dementsprechend musste sein Personal von zwölf auf 240 aufgestockt werden. Geldspenden in Höhe von 1,4 Millionen Deutsche Mark gingen auf das Postscheckkonto des Bayerischen Roten Kreuzes

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ster: Kurzbericht über die Leistung der Diözesanabteilung „Ostkirchenhilfe“ in der Zeit von 1956 bis 1982. Passau, 22. Februar 1982. ADiCVP 83. Es war auch möglich, für 10 Deutsche Mark ein Paket mit 1000g Mehl, 500g Zucker, 100g Schokolade, 500g Pflanzenfett, 250g Haferflocke, 410g Kondensmilch, 500g Reis, 400g Fleisch, 200g Wurst, 170g Fisch, 200g Traubenzucker, 100g Kakao, 50g Kaffee und 25g Tee zu bestellen. Geschenksendungen nach Ungarn. In: CD 10 (1957) 15. Links: Kinder und eine Schwester füllen die Hilfspakete mit Schokolade und Seife. Rechts: Eingang der Caritasstelle im Grenzdurchgangslager Piding. ADiCVMF III/F 134, 31 und 35. Fotos: Gustl Tögel.

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ein. Sie wurden einerseits für die Hilfssendungen nach Ungarn und für die Flüchtlinge in Österreich, andererseits für die Betreuung der Flüchtlinge in den bayerischen Lagern verwendet.445 In jedem kleinen Dorf zeigte sich also die spontane Hilfsbereitschaft der bayerischen Bevölkerung. Die Priester vor Ort nahmen die Spenden bereitwillig entgegen und leiteten sie an das Bayerische Rote Kreuz oder die Caritas weiter. Manche spendeten Geld, Sachen und Blut, andere beteten in der Kirche für Ungarn. Fleißige Hände packten Hilfspakete für die Ungarnhilfe der Caritas. Manche engagierten sich bei der Flüchtlingshilfe in Bayern, andere fuhren direkt zur ungarischen Grenze, so wie die Münchener Studenten Peter Kepser und Peer Lange.

3. 2. Münchener Studenten als Flüchtlingshelfende an der Staatsgrenze zu Ungarn Die Sympathie für die Ungarn sowie für deren Kampf gegen den Kommunismus veranlasste die Menschen nicht nur zu spenden, sondern auch als Flüchtlingshelfer an die österreichisch-ungarische Grenze zu gehen. Auch der 24-jährige Peter Kepser446 brach auf, um den Flüchtlingen vor Ort zu helfen. Als Student in München schloss er sich der freiwilligen Studentenhilfe der Ludwig-Maximilians-Universität an und fuhr zusammen mit Peer Lange447 einen Lebensmitteltransport durch Österreich direkt an die ungarische Grenze. Da die Sowjetarmee inzwischen in Ungarn einmarschiert war, blieben sie im Grenzgebiet stecken, wo sie mehrere Wochen in den Grenzdörfern Pamhagen und Tadten, im österreichischen Burgenland, Hilfsdienste leisteten.448 Hier, nahe des Neusiedler-Sees, bildete der Einser445 446

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Bayerisches Rotes Kreuz: Jahresbericht 1956, 43–45. Peter Kepser studierte 1956 Philologie in München und arbeitete anschließend als katholischer Religionslehrer. »Ich wollte dabei sein. Ich war ja ein Kriegskind. Ein Grenzkind«, sagte Kepser, der an der niederländisch-deutschen Grenze aufwuchs. Zwei seiner Kommilitonen, die beim Grenzeinsatz in Österreich dabei waren, hatten die russische Gefangenschaft in Workuta überlebt. Dieses schreckliche Erlebnis veranlasste sie, den Ungarn zu helfen. Zeitzeugengespräch mit Peter Kepser. Peer Lange wurde 1952 in der DDR verhaftet und in das Arbeitslager Workuta deportiert. 1955 kehrte er aus der Sowjetunion zurück. Nach Studium der Osteuropageschichte und Slawistik war er ab 1971 Politikberater. Zeitzeugengespräch mit Peer Lange. Peer Lange erklärte seine Einsatzbereitschaft wie folgt: »Wir haben das Sowjetsystem erlebt, wir wussten, was das war. Und wir waren auch Studenten, wir hatten noch keine Familien, infolge dessen haben wir uns da reingehängt. Das andere war die Befreiung vom

130 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Kanal die Grenze zwischen Österreich und Ungarn. Die Flüchtlingshelfer legten Baumstämme und spannten Seile über den Kanal. Sobald die Dunkelheit hereinbrach, wateten sie durchs Wasser. Näherten sich Flüchtlinge, nahmen sie sich ihrer an und halfen ihnen auf die andere Seite.449 Wochenlang führten die Studenten ungarische Flüchtlinge durch morastiges Gelände von der Grenze zur ersten Auffangstelle. Der nächtliche Einsatz war anstrengend und gefährlich, da die Grenzübergänge von russischen Soldaten bewacht wurden. Als Kepser kurz vor Weihnachten 1956 erkrankte, kehrten die beiden Studenten nach München zurück.450 Mit privaten Fotos und Postkarten dokumentierte Kepser seinen Einsatz. Die Bildquellen sind wertvolle Ergänzungen zu den Verwaltungsakten (siehe Abbildung 9, 10 und 11). Peer Lange hielt seine Erfahrungen in einem 16-mm-Film fest.451

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Sowjetsystem. Die Österreicher waren vor allen Dingen mit der Aufnahme der Flüchtlinge beschäftigt, mit der Aufgabe, denen zu helfen. Aber für die Einsätze von uns war es wichtig, die Solidarität des Westens zur Freiheitsbewegung unter Beweis zu stellen.« Zeitzeugengespräch mit Peer Lange. Von Filmleuten bekamen Peer Lange und Peter Kepser sogar ein Schlauchboot. Schauspieler, aber auch Journalisten wollten am Ort des Geschehens sein und boten beim Grenzeinsatz praktische Hilfe an. »Es kamen viele Leute. Es war damals eine Sensation.« Zeitzeugengespräch mit Peter Kepser. Die Erlebnisse des Grenzeinsatzes waren für Kepser so intensiv, dass er über Weihnachten nicht zu seinen Eltern nach Hause fuhr. Im Rückblick erklärte er, dass ihn diese Erfahrung allen autoritären Systemen gegenüber skeptisch gemacht hat. Zeitzeugengespräch mit Peter Kepser. Zeitzeugengespräch mit Peer Lange.

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Abbildung 9: Empfang an der österreichisch-ungarischen Staatsgrenze / Verköstigung in der Dorfschule Pamhagen, Ende 1956452

Abbildung 10: Überquerung des Einser-Kanals, Ende 1956453

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Nach ihrem Einsatz kehrten die Fluchthelfer mit den Flüchtlingen erschöpft nach Pamhagen zurück, wo sie von den Dorfbewohnern freundlich aufgenommen wurden. Auch in Schulen wurden Notunterkünfte bereitgestellt. Einzeln sowie in kleinen oder großen Gruppen erreichten die Flüchtlinge die Staatsgrenze und wurden in die nächsten Dörfer geleitet. Pamhagen, Tadten und Andau sind Grenzgemeinden in diesem Gebiet. Fotos: Privatbesitz Peter Kepser. Fotos: Privatbesitz Peter Kepser.

132 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Abbildung 11: Postkarte von Peter Kepser aus Tadten454 und Bestätigung des Österreichischen Roten Kreuzes von dessen Teilnahme an der Ungarnhilfe, Dezember 1956455

Neben freiwilligen Studenten waren Journalisten vor Ort und berichteten über ihre Erlebnisse, unter ihnen der Bestsellerautor James A. Michener, dessen Buch „The Bridge at Andau“ 1957 in New York erschien und 2001 verfilmt wurde.456 Über diese berühmt gewordene Holzbrücke von Andau kamen Zehntausende über den Einser-Kanal nach Österreich, bis sie am 21. November 1956 gesprengt wurde. Der amerikanische Journalist Mar454

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Österreich, Burgenland, Bezirk Neusiedl am See. Auf der Rückseite der an die Familie versandten Postkarte steht: »Meine Lieben, Ihr werdet Euch wundern von mir Post aus Österreich zu bekommen. Ich bin hier, um dem Roten Kreuz bei der Betreuung der Ungarn zu helfen. Es gibt sehr viel Arbeit. Bald werde ich Euch genaueres schreiben. Die Universität hat mich beurlaubt. Ihr braucht Euch keine, gar keine Sorgen um mich zu machen. […] Viele Grüße Euer Peter. Tadten, 3. Dezember 1956.« Auf einer Postkarte an seine spätere Frau schrieb Kepser am 5. Dezember 1956: »Liebe Alruna, noch immer sind wir hier. Nachts liegen wir an der Grenze, am Tage verteilen wir Lebensmittel. Nur wenige Stunden schlafen wir, oft 48 Stunden überhaupt nicht. Du kannst dir denken, in welcher Verfassung wir sind. Heute Morgen wurde ein Film über unsere Arbeit gedreht, von der UNO. Im Augenblick wird die Bewachung der Grenze verschärft durch die Staatspolizei. Von dem, was hier nachts geschieht, kann ich Dir nicht schreiben. Ich erzähle es später. Hervorragend ist die Hilfe, die die einheimische Bevölkerung leistet. Aus den Gesprächen mit den Ungarn lernen wir mehr als an der Uni. Wann wir wieder nach München kommen, wissen wir noch nicht. Vorläufig sind wir unentbehrlich. Wann werde ich Dich wiedersehen? Viele Grüße sendet Dir Dein Peter.« Postkarte und Bestätigung: Privatbesitz Peter Kepser. Bestätigung der österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuz, 1. Dezember 1956: »Kepser Peter ist im Rahmen der Ungarnhilfe bei der Bezirksstelle des Roten Kreuzes in Neusiedl a/See tätig.« „Der Brockerer III. Die Brücke von Andau“. Regie: Franz Antel. Epo-Film 2001. Die deutsche Fassung der literarischen Vorlage: Michener: Die Brücke von Andau (Marktgemeinde im Bezirk Neusiedl am See, Österreich), direkt an der ungarisch-österreichischen Grenze im Burgenland, war einer der frequentiertesten Übergangsorte. Vgl. Bursten: Escape; Schwarz: »Ungarn 1956«, 313–330.

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tin A. Bursten schilderte in seinem 1958 erschienenen Buch seine Grenzerlebnisse in den Novembertagen 1956.457 Die Erlebnisse vor Ort im grenznahen Gebiet prägten nicht nur freiwillige Helfer, sondern auch österreichische Zöllner, Gendarmen und Soldaten des Bundesheeres, die für die logistische Bewältigung der Flüchtlingsaufnahme eingesetzt wurden. Tragödien, dramatische Rettungen und grauenvolle Schicksale gingen an den Einsatzkräften nicht spurlos vorbei und ließen sie die Folgen der Entscheidungen hoher Politik unmittelbar spüren. Besonders die Schicksale von frierenden Kleinkindern bewegten die Menschen.458 Nicht selten wurden Babys mit Schlafmitteln ruhiggestellt, damit ihr Geschrei sie nicht verriet.459

3. 3. Hilfsmaßnahmen in Bayern Das Bild der Bayern über die Ungarn beeinflusste stark ihre eigene Vorstellung von der Hilfe, welche die Ungarnflüchtlinge erwarteten und benötigten. Zu diesem Bild gehörten Vermutungen darüber, welche materielle oder ideelle Gaben Ankommende in der neuen Heimat brauchten und erwarteten, welche Vorstellungen sie vom Land hatten, das sie aufnehmen sollte. Was die als Helden und Verfechter des Antikommunismus gefeierten Ungarn eigentlich über Bayern, die Bundesrepublik Deutschland und die westliche Welt zu wissen schienen, beschrieb die „Passauer Neue Presse“ folgendermaßen: »Der Hunger, das Chaos, die Sowjets treiben sie fort. Sie kommen und weinen und hoffen. […] Sie haben schon soviel vom Westen gehört, daß überall Wohlstand und Überfluss seien, daß alle hier satt zu essen hätten, daß niemand die Staatspolizei, das KZ zu befürchten habe, daß Friede und Liebe die Menschen vereinten. Jetzt warten sie auf Hilfe.«460 Die meisten Ungarn hatten nur Gutes über die Lebensbedingungen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gehört. Laut Hörensagen lebten in dieser freien, reichen und glücklichen Welt alle Menschen im Wohlstand. Wiederholt wird in den Quellen darauf hingewiesen, dass die meisten Ungarn romantische Vorstellungen »von paradiesischen Zuständen im Wes457 458 459 460

Bursten: Escape. Bachkönig: Ungarnaufstand, 13, 51. Zeitzeugengespräch mit Judith Gräfin Dezasse. Flüchtlingselend in Traiskirchen. In: PNP 11 (1956) 196, 17. November, 2.

134 Au f n a h m e l a n d B ay e r n ten« hätten, die der nüchternen Wirklichkeit nicht entsprachen, woraus oft große Enttäuschungen und Rückkehrwünsche entstanden.461 Das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte ging davon aus, dass die Ungarn nur geringe Kenntnisse über die Bundesrepublik Deutschland besaßen. Aus diesem Grund gab das Ministerium eine 32 Seiten starke Broschüre heraus, die auf Deutsch und auf Ungarisch allgemeine Informationen über politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland und in Bayern erklärte. Das Heft orientierte sich an dem „Wegweiser für Aussiedler“,462 der im August 1956 erschienen war. Der „Wegweiser für Ungarnflüchtlinge“463 vermittelte umfangreiches Wissen und Ratschläge für eine Eingliederung in das Aufnahmeland. Auf dem DIN–A5 großen, hellblauen Heft waren drei Staatswappen zu sehen: das ungarische Kossuth-Wappen, der Bundesadler und das bayerische Wappen. Eine Landkarte zeigte die Bundesrepublik mit allen Ländern, eine weitere Bayerns Regierungsbezirke und deren Hauptstädte sowie die Ortschaften mit den Lagern, in denen Ungarn untergebracht waren. Die wichtigsten Grundrechte wurden erklärt, notwendige Begriffe erläutert sowie Informationen über Unterbringung, Arbeitsvermittlung und Behörden vermittelt.464 Der „Wegweiser“ wurde bei der Ankunft in Piding verteilt und auch an Jungendheime und Notunterkünfte verschickt, wo Ungarn bereits untergebracht waren.465 Walter Stain bedauerte in seinem Grußwort die Lagerunterbringung, betonte aber, dass selbst die Heimatvertriebenen zunächst in Notunterkünften untergebracht 461 462 463

464

465

Das Heimweh, Herr, das reißt uns um. In: MM 12 (1957) 11, 14. Januar, 3. Wegweiser für Aussiedler. In der Landesflüchtlingsverwaltung wurde eine Akte zur Herausgabe und Verteilung des „Wegweisers für Ungarnflüchtlinge“ und zu Sprachbüchern angelegt (BayHStA AM LFV 1885). In der Presse wurde er als „Merkblatt für Ungarn-Flüchtlinge“ genannt. Bayern vorbereitet auf Tausende von Ungarnflüchtlingen. In: RT 116 (1956) 188, 24. November, 3. Martin Kornrumpf, Autor des Aufsatzes über Bayern, machte vergleichende Angaben zu Ungarn und Bayern, zählte die Regierungsbezirke mit Verwaltungsstädten sowie die Universitäten Bayerns auf und informierte über Religionszugehörigkeit, Arbeitslosenzahlen und Berufsstruktur in Bayern. BayHStA AM LFV 1885. Mit dem Druck der Broschüre in einer Auflage von 6.000 Exemplaren Ende November 1956 wurde die Firma Deschler beauftragt. Der „Wegweiser“ wurde bereits in den Durchgangslagern verteilt. 1.200 Exemplare erhielt Piding, 500 Bocholt und 300 Friedland. ORR Lüder (BMVt) an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 19. Dezember 1956; Vormerkung von Maurer (BayHStA) vom 4. Dezember 1956. BayHStA AM LFV 1885.

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waren (siehe Tabelle 8).466 Stain bat um »Geduld und Zuversicht« und empfahl den Ungarn, rasch die deutsche Sprache zu erlernen, denn die Sprache sei der Schlüssel zur Verständigung in Alltag und Beruf. Aus diesem Grund enthielt der „Wegweiser“ auch ein Wörterbuch, insbesondere für Behördengänge. Bereits beim Eintreffen in Piding erkannten die Flüchtlinge, dass das Erlernen der deutschen Sprache unentbehrlich war. Um sich verständigen zu können, sich in den neuen Lebensverhältnissen zurechtzufinden und eine Arbeit auszuüben, mussten sie die Landessprache beherrschen. Die Erfahrung mit der Eingliederung von deutschen Heimatvertriebenen und DDR-Flüchtlingen half in diesem Punkt nicht. Denn der Großteil der Ungarn war der deutschen Sprache nicht mächtig. Mit dem Einsatz von ungarischen Altflüchtlingen und Ungarndeutschen wurde in Piding und in den Notunterkünften versucht, in der ersten Zeit muttersprachliche Betreuung zu bieten. Um die ersten Sprachschwierigkeiten zu überbrücken, gab die Vertretung des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge in München ein zweisprachiges Rundschreiben über die Asylgewährung heraus, in dem Fragen zur Rechtsstellung und Unterbringung erklärt wurden.467

466

467

»Jeder 4. Deutsche erlebte nach dem Krieg das Schicksal eines Lagerbewohners. Aus diesem Grunde bitte ich Euch um Verständnis, dass auch Ihr vorerst nur in einem Lager untergebracht werden könnt.« Grußwort von Staatsminister Walter Stain im „Wegweiser für Ungarnflüchtlinge“. BayHStA AM LFV 1885. Das zweisprachige Rundschreiben fing mit folgenden Sätzen an: »Die deutsche Bundesrepublik hat Sie in ihrem Gebiet aufgenommen, um Ihnen nach Ihrer Flucht aus der Heimat Asyl zu gewähren. Sie unterstehen von nun ab dem unmittelbaren Schutz der deutschen Behörden, darüber hinaus genießen Sie den internationalen Schutz der Vereinten Nationen, der vom Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge ausgeübt wird.« Gedruckt und in den Unterkünften verteilt wurden 1.000 Exemplare. R. Terrillon (Vertreter des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Nebenzweigstelle München) an RD Nentwig (BayStMA). München, 10. Dezember 1956. BayHStA AM LFV 1913.

136 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Tabelle 8: Unterbringung der Ungarnflüchtlinge: Verzeichnis der Orte und Heime in Bayern, 1956/1957468 Ort

Heim

Anzahl der Ungarnflüchtlinge

Stand: 28. Februar 1957 Augsburg

Kolpinghaus

7 Jungarbeiter

Augsburg

Lehrlingsheim St. Ulrich Wackernheim

15 Jungarbeiter

Bad Schachen/Lindau Bamberg Ebermannstadt Erlangen

Erlangen

Kolpinghaus 10 Jungarbeiter Jugendheim 57 Studenten und 2 Burg Feuerstein Oberschüler Jugendsozialwerk Alexandrinum Lagemarckplatz 30

Grafenaschau Jugendheim Lindenhof Grafenaschau Studentenheim Günzburg

Kolpinghaus

Ingolstadt

Tilly-JugendWohnheim Lehrlings- und Jugendheim Pasing, Avenariusstraße Collegium Augustinum Pasing Dachauer Straße 19 Salesianum St. Wolfgangsplatz 10

München

München

München

468

52 Studenten, darunter 6 weibliche und einige Oberschüler

33 Oberschüler und Studenten, darunter 7 weibliche 17 Studenten 23 Jungarbeiter und Lehrlinge 11 Jungarbeiter 89, darunter 19 Studenten und 30 Oberschüler 18 Studenten, Oberschüler und Jungarbeiter

„Wegweiser Häckel: für Ungarn- Deutsch Flüchtlinge“ für Ungarn Stand: Stand: 22. Januar 12. März 1957 1957 10 50

18

80

55 12

100

63 12

50

20 20

50

26

50

120

95

50

18

20

10

8 Jungarbeiter

Zusammengestellt anhand BayHStA AM LFV 1885 und 1913; StAM AAR 1357; StAM LRAM 148466 und 148468.

Un g a r n h i l f e

München

München

Studentenheim Türkenstraße Studentenwohnheim am Biederstein Studentenwohnheim Adelheidstraße Lager Aindorferstraße Lager Ungererstraße Lager Allach II

2 (bis 31.12.1956)

München

Ludwigsfeld

8

München

München

München München

Neutraubling Lehrlingsheim bei RegensSt. Gunther burg Neu-Ulm Lehrlingsheim St. Michael Nördlingen

Kolpinghaus

Nürnberg

Weinstadel

Oberelsbach

Wohnlager

15 10

6 40 (bis 31.12.1956) 23 (bis 31.12.1956)

18 Jungarbeiter und 2 Lehrlinge 47 Jungarbeiter, darunter 2 weibliche, 10 Lehrlinge, 2 Schüler 20

Wohnlager

Wagenried

Wohnlager

Würzburg

Jahnstraße 7

20

23

50

65

10 500

Piding bei Grenzlager Bad Reichenhall Schalding Grenzlager Voggendorf

137

4.000 500 500 500 30 „Wegweiser“ erhielten die Landes- und Bundesministerien sowie die ungarischen Hilfsorganisationen Anzahl der gelieferten Exemplare insgesamt

243

210 7.093

447

138 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Auf den Spracherwerb wurde von Anfang an besonders großer Wert gelegt. Erste Sprachförderung war jedoch in den Durchgangslagern kaum möglich, da hier der Aufenthalt im Durchschnitt nur 48 Stunden dauerte. Die Münchner Volkshochschule plante kostenlose Sprachkurse in den Notunterkünften.469 Jedoch ist nicht von einer Federführung der Münchner Volkshochschule in der Sprachvermittlung auszugehen, da diese eher von der Initiative ehrenamtlicher Helfer abhing. Der Deutschunterricht wurde beispielsweise von Studienrat Martin Werger in der Villa Wacker in Lindau, von einem Flüchtlingsstudenten im Lehrlingsheim der Ackermann-Gemeinde Neutraubling bei Regensburg sowie von dem in Altomünster ansässigen ungarischen Kaplan Stephan Varadi im Lager Wagenried abgehalten.470 Schon bald stellte es sich heraus, dass es kaum Lehrmittel für den Deutschunterricht gab. Viele Verlage nutzten diese Marktlücke aus und verlegten Lehrbücher, Sprachhilfen und Wörterbücher. Die Ungarische Kanzlei, eine Hilfsorganisation der Altflüchtlinge in Bayern, gab ein kleines Lehrbuch mit den wichtigsten Phrasen und Vokabeln auf Deutsch und Ungarisch sowie einen kurzen grammatischen Überblick heraus.471 Der Kessler Verlag bot das Unterrichtswerk „Deutsch für Ausländer“ an.472 Beim Hueber Verlag erschien die neu bearbeitete Auflage des Sprachlehrbuchs von Ernst Häckel, das seit 1934 in mehreren Auflagen das meist benutzte Lehrbuch für Deutsch in Ungarn war und sich sowohl zum Schulunterricht als auch zum Selbstunterricht eignete.473 Vom Langenscheidt Verlag kam 469

470

471

472 473

Am 10. Januar 1957 richtete die MVHS einen Deutschkurs mit 25 Teilnehmern ein. Direktor Karl Witthalm (MVHS) an Dr. Jering (BayStMA): Erste Sprachhilfe für Ungarnflüchtlinge. München, 9. Dezember 1956. BayHStA AM LFV 1885; Kurs Nr. 168 im Winterlehrplan 1957 der MVHS: Johann Andrássy: Eine erste Sprachhilfe für Flüchtlinge aus Ungarn. StadtAM Bibl. L 430, 1953–1959: Lehrpläne MVHS, Winter 1957 (Januar bis April), 56. Studienrat Martin Werger an BayStMA. Lindau, 5. April 1957. BayHStA AM LFV 1862; Ein Hemd ist ein Vermögen. Junge ungarische Freiheitskämpfer lernen die deutsche Sprache. In: DA 12 (1957) 18, 31. Januar, 7; Kaplan will Sprachkurs halten. In: DN 11 (1956) 280, 22. November, 3. Sozialreferent Johannes Maurer (BayStMA) an [Frau oder Herr] Pager (Internationaler Bund für Sozialarbeit, Jugendsozialwerk). Tübingen, 6. Dezember 1956. BayHStA AM LFV 1885. Hermann Kessler an BayStMA. Essen, 31. Januar 1957. BayHStA AM LFV 1885. Häckel: Deutsch für Ungarn. Urfassung: Häckel: Tanuljunk. Ernst Häckel war 1925 Honorarprofessor für deutsche Sprache in Budapest. In einer Besprechung am 3. Januar 1957 entschieden sich die Vertreter des Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge, des Ministeriums für Kultus und Unterricht, des Goethe-Instituts und

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139

das „Deutschlehrbuch für Ungarn“ heraus.474 Lehrbücher für Deutsch als Fremdsprache erlebten einen regelrechten Boom.475 An der Unterstützung für die Eingewöhnung beteiligten sich auch die Altflüchtlinge, die schließlich das gleiche Schicksal teilten: Sie waren aus Ungarn geflüchtet, sprachen Ungarisch und lebten in Bayern. Mitte 1948 lebten 21.922 Ungarn in Bayern. Durch Heimkehr und Emigration sank ihre Zahl stetig, so dass es 1956 nur noch 6.222 Ungarn waren. 1956 wohnten in Bayern 122.570 Ausländer, so dass der Anteil der Ungarn gut fünf Prozent betrug.476 In der bayerischen Landeshauptstadt, dem Zentrum der Altflüchtlinge, gab es rege kulturelle Aktivitäten, darunter Exilzeitungen. Die in München seit 1953 erschienene „Új Hungária“ (Neue Hungaria) brachte am 1. März 1957 die zweiseitige Beilage mit dem Titel „Új Magyar Élet“ (Neues Ungarisches Leben) auf den Weg. Das Stammblatt bot praktische Tipps und Orientierungshilfe in ungarischer Sprache, außerdem Leseund Informationsmaterial. Sein Beiblatt erschien wöchentlich, ab Juli 1957 nur mehr als Rubrik.477 Zudem sollte ein „Taschenbuch für Flüchtlinge“ als Anpassungshilfe dienen.478 Nützliches für den täglichen Gebrauch, vor allem Bekleidung, Unterwäsche, Socken, Hemden, Taschentücher, Handtücher, Rasierzeug, Waschzeug, Schuhwerk, Essbesteck und ähnliche Bedarfsartikel sowie Koffer er-

474

475

476

477 478

drei ungarische Sprachwissenschaftler, Häckels Kursbuch neu aufzulegen. Häckel erklärte sich bereit, diese Ausgabe für westdeutsche Verhältnisse zu überarbeiten. Dank der Spende der Bürgermeister-Reuter-Stiftung (Berlin) konnte das Kursbuch kostenlos an die ungarischen Flüchtlinge verteilt werden. Vermerk von Sozialreferent Johannes Maurer (BayStMA) über die Herausgabe eines Lehrbuches der deutschen Sprache für Ungarn. München, 8. Januar 1957; Maurer an Kessler Verlag für Sprachmethodik. München, 22. Februar 1957. BayHStA AM LFV 1885. Vgl. Löffler: Nachruf. MDir Adolf Riedel (BMVt) an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 1. Februar 1957. BayHStA AM LFV 1885. Vgl. Griesbach – Schulz: Deutsche Sprachlehre für Ausländer [1956, 1957]; Häckel: Deutsch für Ungarn; Schulz – Sundermeyer: Deutsche Sprachlehre. BiZ 10 (1956) 358–359. Unter Ausländer verstand man diejenigen Personen, die weder die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen noch Vertriebene waren. Heimatlose Ausländer waren Staatenlose oder fremde Staatsangehörige, die unter der Obhut des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge standen und sich am 30. Juni 1950 im Bundesgebiet befanden. BiZ 11 (1957) 34–35. Borbándi: A magyar emigráció, I, 98–99, 236–239; Mildschütz: Bibliographie, 124. Thury: Menekültek. Ein Exemplar erhielt Ministerpräsident Wilhelm Hoegner. Zoltán Thury (Redaktion „Új Hungária“) an Ministerpräsident Hoegner. München, 27. Juni 1957. BayHStA AM LFV 1885.

140 Au f n a h m e l a n d B ay e r n hielten die Ungarn aus den Sachspenden in den Unterkünften.479 Über die materielle Hilfe hinaus bekamen die Ungarn auch seelische Unterstützung in der Muttersprache, wofür ungarische Seelsorger aus der Reihe der Altflüchtlinge eingesetzt wurden. György Ádám war seit 1950 katholischer Oberseelsorger für die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ungarn; unter seiner Leitung betreuten 17 hauptamtliche Ungarnseelsorger die Neuflüchtlinge.480 Im Büro des ungarischen Seelsorgedienstes in München war auch der Ungarische Caritas Dienst untergebracht, dessen Vorsitz Ernő Eperjes innehatte.481 Bereits seit 1945 setzte sich der Ungarische Hilfsdienst unter der Leitung von Krisztina Ordódy für das Wohl der Ungarnflüchtlinge ein. Der Hilfsdienst übte schon seit 1948 seine überkonfessionelle und karitative Tätigkeit unter dem Protektorat des Bayerischen Roten Kreuzes aus. Außer der Sammlung und Verteilung von Spenden versorgte das Büro in einer Gemeinschaftsküche die bedürftigen Neuflüchtlinge mit unentgeltlichen Speisungen.482 Die Presse nutzte die Wirkung der Bilder, um Mitgefühl und Unterstützung der bayerischen Bevölkerung zu erlangen. Insbesondere Ablichtungen von Waisenkindern bewegten zur Spende, wofür Herbert Biletzke ein Beispiel ist. Ein Foto von ungarischen Jugendlichen, deren Eltern in Ungarn zurückgeblieben waren, bewegte ihn so sehr, dass er diesen Teenagern ein Weihnachtsgeschenk zukommen lassen wollte. Er schrieb an den Caritasverband der Erzdiözese München und Freising, um die Ad479

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Katholisches Pfarramt Aichach (Diözese Augsburg) an Caritasverband München und Freising. Aichach, 11. Dezember 1956. ADiCVMF II-ZTR Verband 16; SOS 104. Ungarnflüchtlinge. In: PB 21 (1956) 50, 9. Dezember, 11. Seit 1945 waren in der Bundesrepublik Deutschland 28 ungarische Seelsorger tätig. Bericht über die Tagung ungarischer Seelsorger in Königstein/Taunus vom 15.–16. Januar 1957. AEMF GV REG, 0741. Tätigkeitsberichte des Ungarischen Caritas Dienstes mit Sitz in der Maria-TheresiaStraße 19 in München. BayHStA StK 13369. Krisztina Ordódy leitete den Ungarischen Hilfsdienst mit Sitz in der Maria-TheresiaStraße 19 (München) bis 1957. Sie erhielt nicht nur die Unterstützung des Internationalen, sondern auch des Bayerischen Roten Kreuzes, das ab 1948 den Ungarischen Hilfsdienst unter sein Protektorat genommen hatte (Tätigkeitsberichte des Ungarischen Caritas Dienstes. BayHStA StK 13369; BayHStA AM LFV 2043). Nach ihrem Tod übernahm Géza Czanik die Leitung. Im Januar 1957 zog das Büro des Hilfsdienstes in die Ismaninger Straße 68 um, wo auch eine Wohlfahrtsküche eröffnet wurde. Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit des Ungarischen Hilfsdienstes in den Jahren 1956 und 1957. München, 22. November 1958. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16.

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resse des Caritasheimes zu erfragen, in dem die ungarischen Waisen untergebracht worden waren. Das fotografisch veranschaulichte Schicksal der dreizehn- und vierzehnjährigen Mädchen und Jungen weckte sein Mitleid und bewog ihn zur Hilfe.483 Auch die Bereitschaft zur familiären Betreuung ungarischer Kinder war groß. Allerdings gab es viel weniger Waisenkinder, als angenommen wurde.484 Familien boten sich an, ungarische Kinder in den Weihnachtsferien aufzunehmen. Diese Einladungen wurden an die Caritas-Fürsorge in den Flüchtlingslagern weitergeleitet. Anhand der vorliegenden Akten lässt sich die konkrete Umsetzung der Weihnachtseinladungen nicht verfolgen.485 Zeitzeugen bestätigen, dass sie solche Einladungen erhalten beziehungsweise angenommen hatten.486 Beim Caritasverband München meldeten sich zahlreiche Privatpersonen, die den Ungarn Weihnachtsgeschenke überreichen wollten. Darüber hinaus stellten Schulklassen in München und im Umland Weihnachtspakete mit Spielzeugen und Kuscheltieren für ungarische Flüchtlingskinder zusammen.487

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Biletzke an Caritasverband der Erzdiözese München und Freising. Rendsburg, 7. Dezember 1956. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16. Dem Brief wurde ein Ausschnitt aus einer Tageszeitung vom 6. Dezember 1956 beigefügt. Leider wurde das Foto so ausgeschnitten, dass nicht feststellbar ist, um welche Tageszeitung es sich handelte. Auch Vizepräsident Richard Nixon sieht man mit einem ungarischen Kind auf dem Arm, als er sich kurz vor Weihnachten 1956 in Österreich über das Flüchtlingsproblem informierte und Andau an der ungarisch-österreichischen Grenze besuchte. Bachkönig: Ungarnaufstand, 57. Eine Frau reiste aus Hamburg nach Piding, um einer ungarischen Familie Heim und Unterstützung anzubieten (Wir wollen Arbeit – nicht Barmherzigkeit. In: SZ 12 (1956) 277, 19. November, 3) Diözesan-Caritasdirektor Oskar Jandl konnte von den zahlreichen Angeboten für Aufnahme oder Adoption von Ungarnkindern keinen Gebrauch machen, da vorwiegend junge Männer kamen (ADiCVMF II/ZTR-Verband 16). Ein weiteres Beispiel liefert aus Baden-Württemberg der Aufruf in der Frauenbeilage der „Stuttgarter Zeitung“, woraufhin 80 Stuttgarter Familien ihre Bereitschaft erklärten, ungarische Flüchtlingskinder aufzunehmen. Else Goelz (Frauenredaktion der „Stuttgarter Zeitung“) an BMVt Oberländer. Stuttgart, 7. November 1957. BArch B 106, 24454. Caritasverband Landshut an Caritasverband der Erzdiözese München und Freising. Landshut, 23. November 1956; Katholisches Stadtpfarramt Hl. Kreuz München-Giesing an Caritasverband München und Freising. München, 30. November 1956, ADiCVMF II/ZTR-Verband 16. Nagymihály: A magyar csoda, 191–197. Katholisches Pfarramt Palling an Caritasverband München und Freising. Palling, 10. Dezember 1956; Diözesan-Caritasdirektor Jandl an Studienrätin Wagner. München, 4. Januar 1957. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16.

142 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Unterhaltungsangebote machten das Leben in den Unterkünften abwechslungsreicher. So spielte in Wagenried die Dachauer Knabenkappelle, außerdem veranstaltete die Dachauer Katholische Jugend einen musikalischen Abend. Bei solchen Festlichkeiten wurde gesungen und getanzt, wodurch kulturelle Unterschiede und auch Sprachschwierigkeiten überwunden wurden.488 Für die Betreuung der Studenten und Jungarbeiter rief der Caritasverband der Erzdiözese München und Freising das Jugendgemeinschaftswerk St. Stephan in der Christophstraße 12 in München ins Leben. Dieses betätigte sich als Beratungsstelle und kulturelles Zentrum. Die jungen Ungarn erhielten hier auch Rat und Hilfe bei behördlichen Anträgen, bei der Arbeitsvermittlung und beim Einleben ins neue Umfeld.489 Bei der Hilfeleistung in der Form staatlicher Finanzierung der Unterbringung musste zwischen Bund und Land geklärt werden, in welchem Umfang jeweils die Kosten der Ungarnaufnahme getragen wurden. Obwohl das Bundeskabinett am 14. November 1956 beschloss, diese Kosten außerhalb der pauschalierten Kriegsfolgenhilfe zu Lasten des Bundes zu übernehmen,490 war die Kostenverteilung ständiges Thema der Besprechungen.491 In den Sitzungen im Bundesvertriebenenministerium vertrat Regierungsdirektor Georg Nentwig vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge Bayerns Interessen. Aufgrund der stockenden 488

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Musik als Dolmetscher der Verbundenheit in Wagenried. In: DA 11 (1956) 186, 30. November, 3; Dachauer Katholische Jugend klatscht zum Czardas. In: DA 11 (1956) 190, 7. Dezember, 3. Ungarisches Jugendgemeinschaftswerk St. Stephan. Ungarnhilfe. In: CD 11 (1958) 90, 95. Zu den finanziellen Schwierigkeiten meinte Bundeskanzler Adenauer, »dass der Kabinettsbeschluss vom 7. November 1956 über die Aufnahme von vorerst 3.000 Flüchtlingen einschließe, dass hierfür auch Mittel vom Bund zur Verfügung gestellt würden«. 159. Kabinettssitzung am 14. November 1956. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 724. Am 20. November 1956 fand eine Besprechung zwischen den Ländervertretern und Verantwortlichen des Bundesvertriebenenministeriums, des Bundesinnenministeriums, des Auswärtigen Amtes, des Bundesfinanzministeriums und des Bundesarbeitsministeriums statt. Zwar wurde auf Wunsch der Ländervertreter eine weitere Sitzung für den 30. November 1956 anberaumt. Laut Quellen fand die nächste Besprechung aber erst am 10. Januar 1957 statt. Den Klärungsbedarf für die Kostenübernahme beweisen die Schreiben des Bundesinnenministeriums, die auf die Anfragen der Länder Weisungen zur Kostenabrechnung enthielten. BMI Schröder an die Bundesländer. Bonn, 20., 26., 29. November und 10. Dezember 1956. BArch B 106, 24454, 27–120.

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Rücktransporte und des Hochbetriebs in den Durchgangslagern Piding und Schalding plädierte er für die Entlastung Bayerns, das »weit mehr Ungarnflüchtlinge aufgenommen hat, als Bayern nach dem zunächst ausgehandelten Schlüssel (vier Prozent für Bayern) hat aufnehmen sollen«.492 Der bayerische Arbeitsminister Stain signalisierte bereits Ende November 1956, dass Bayerns Kapazitäten schon lange ausgeschöpft waren. Gegen die Passivität der anderen Bundesländer appellierte er an den Regierungschef in Bonn: »Der Bundeskanzler sollte endlich die Ministerpräsidenten zusammenrufen und mit der Faust auf den Tisch schlagen.«493 Stain drückte seine Verärgerung aus, da Bayern all seine Kräfte mobilisiert hatte, die 2.500 bereitgestellten Lagerplätze jedoch schon innerhalb weniger Wochen belegt worden waren. Für die Kosten der Einrichtung und der Ausstattung von Wohnlagern stellte der Bund eine Pauschale von 250 Deutsche Mark pro Kopf zur Verfügung, sofern das Lager mindestens mit zehn Flüchtlingen belegt wurde.494 Weiterhin übernahm der Bund 100 Prozent der Aufwendungen für die individuelle Fürsorge und 80 Prozent der Kosten für die lagermäßige Unterbringung. Falls Flüchtlinge in den Wohnlagern keinen Platz fanden und in Heimen untergebracht wurden, galt ein Tagespflegesatz von höchstens 4,50 Deutsche Mark für die Dauer von acht Wochen.495 Die Grundlage für die Erstattung war das erste Überleitungsgesetz für Fürsorgeleistungen.496 Bei der Fürsorge wurden die Ungarnflüchtlinge genauso wie Zugewanderte aus der DDR behandelt.497 Die Kostennachweise

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BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 18. Januar 1957: Niederschrift über die Besprechung im BMVt am 10. Januar 1957 in Bonn. BArch B 106, 24545, 111. Bayern als Mittelpunkt der deutschen Ungarn-Hilfe. In: SZ 12 (1956) 285, 28. November, 2. BMI Schröder an die Bundesländer. Bonn, 10. Dezember 1956. BArch B 106, 24545, 85. BMI Schröder an die Bundesländer. Bonn, 20. und 29. November 1956. BArch B 106, 24545, 27–28, 73–74; StAM AAR 894. Erstes Gesetz zur Überleitung von Lasten und Deckungsmitteln auf den Bund (1. Überleitungsgesetz) vom 28. November 1950, neu gefasst am 28. April 1955 (4. Überleitungsgesetz). Es regelte den Bundesanteil an den individuellen Fürsorgekosten. Nachdem bis 1955 die tatsächlichen Fürsorgeaufwendungen durch den Bund erstattet worden waren, wurde mit dem 4. Überleitungsgesetz in fast allen Bereichen eine pauschalierte Abrechnung eingeführt. Bundesministerium für Justiz: Erstes Gesetz. Artikel 1, Absatz 1, Ziffer 3 des 1. Überleitungsgesetzes. BMI Schröder an die Bundesländer. Bonn, 10. Dezember 1956. BArch B 106, 24545, 85–86.

144 Au f n a h m e l a n d B ay e r n wurden vierteljährlich in den Abrechnungen über die Aufwendungen der Kriegsfolgenhilfe beim Bund eingereicht und später erstattet.498 Die Fürsorgekosten für die Volksdeutschen aus Ungarn wollte der Bund im Rahmen der Kriegsfolgenhilfe abrechnen. Da die Zugehörigkeit zu den Volksdeutschen erst im Rahmen des Anerkennungsverfahrens des zuständigen Bundesamts festgestellt werden konnte, war es nicht möglich, ihre Fürsorge gesondert zu verwalten. Deshalb wurden die Fürsorge- und Unterbringungskosten sowie Transportkosten bis zur Unterkunft für alle Ungarnflüchtlinge mit dem Bund verrechnet.499 Jeder ungarische Flüchtling bekam in den Durchgangslagern des Bundesgebiets ein Taschengeld in Höhe von 10 Deutsche Mark aus dem Spendenaufkommen des Deutschen Roten Kreuzes.500 Dessen Präsidiumsmitglied, Kurt Wagner, sicherte zu, das Taschengeld aus besagter eigener Quelle auszuzahlen, denn innerhalb weniger Wochen war das Spendenkonto gut gefüllt worden und konnte den Betrag gänzlich aufbringen.501 Volksdeutsche sollten bei ihrer Ankunft auch ein Begrüßungsgeld in Höhe von 100 Deutsche Mark erhalten.502

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Ebenda. Die volksdeutschen Ungarn waren im Sinne des Artikels 1 der 1. Durchführungsverordnung zum 1. Überleitungsgesetz vom 27. Februar 1955 Heimatvertriebene. Deswegen beabsichtigte der Bund ihre Fürsorgekosten im Rahmen der Kriegsfolgenhilfe abzurechnen. Der hessische Innenminister an die Regierungspräsidenten Darmstadt, Kassel, Wiesbaden und den Verwaltungsausschuss des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Wiesbaden, 29. November 1956; BMI Schröder an die Bundesländer. Bonn, 10. Dezember 1956. BArch B 106, 24545, 73–74, 85–86. Anne Vogl (BMVt) an ORR Lüder und RD Siebke (BMVt). Bonn, 29. November 1956: Vermerk über „Taschengeld“ für Ungarnflüchtlinge. BArch B 106, 24545, 60. Die Bundesrepublik Deutschland finanzierte die Hilfsmaßnahmen für die Ungarn in Höhe von 1.187.763,70 Deutsche Mark. Dieser Betrag wurde dem Deutschen Roten Kreuz und der Vertretung der Ungarndeutschen für die Ungarnhilfe sowie weitere Hilfsmaßnahmen und Erstattung von Transportkosten ausgezahlt. Bundesrechnungshof an BMI Schröder. Frankfurt am Main, 8. Juli 1957. BArch B 106, 27375, 356. 159. Kabinettssitzung am 14. November 1956. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 724.

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4. Arbeitsplätze, Wohnraum und Bildungsmöglichkeiten 4. 1. Arbeitsvermittlung Als das Bundeskabinett am 22. November 1956 beschloss, die Anzahl der aufzunehmenden Ungarnflüchtlinge zu erhöhen, ging es davon aus, ungarische Arbeitskräfte vor allem im Bergbau und in der Landwirtschaft einsetzen zu können.503 Alle Bauernverbände waren aufgerufen, die Einstellung ungarischer Flüchtlinge zu prüfen, denn das Kabinett nahm an, dass sich viele Landwirte unter den geflüchteten Ungarn befänden, die am besten wieder in der Landwirtschaft Arbeit finden könnten.504 Die vorwiegend jungen Männer hatten ihren Arbeitswillen bereits bei der Ankunft geäußert. Also sah auch Bundesvertriebenenminister Oberländer bei der damaligen Wirtschaftslage keine Schwierigkeiten für ihre Eingliederung in den Arbeitsprozess. Dennoch betonte er, dass es bei der Übernahme der Ungarn nicht auf ihre Arbeitskraft ankomme.505 In erster Linie ginge es um eine humanitäre Hilfsaktion und nicht um die Entlastung des deutschen Arbeitsmarktes, unterstrich auch Ministerialrat Kurt Breull (BMI) während der Arbeit der deutschen Aufnahmekommission in Österreich.506 Aus diesem Grund sprach sich Staatssekretär Peter Paul Nahm (BMVt) gegen den Einsatz von Beamten der Bundesanstalt für Arbeit aus, die ab Januar 1957 die Aufnahmekommission unterstützen sollten.507 Richte sich 503 504

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160. Kabinettssitzung am 22. November 1956. In: Ebenda, 737–738. Rundschreiben Nr. 215/56 des BMI an Deutschen Bauernverband. Bonn, 29. November 1956. BArch B 149, 6262. Interview von Theodor Oberländer über die Flüchtlingsfrage (27. November 1956); Kabinettssitzung am 28. November 1956. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 746. Nach Károly Gaál wählten viele Aufnahmestaaten die Ungarnflüchtlinge nach bestimmten Kriterien aus. Dabei spielten wirtschaftliche Gründe eine große Rolle. Daher deutet Gaál die Entstehung eines »Menschenmarktes« an, wobei die Aufnahmekommissionen vor allem nach Hilfskräften und Facharbeitern suchten (Gaál: Einleitung zur Dokumentation, 361). Auch Großbritannien verband Menschlichkeit mit wirtschaftlichem Nutzen, indem es unter den Ungarn Bergarbeiter aussuchte. England. Ungarn-Flüchtlinge. In: DS 11 (1957) 10, 5. März, 46. Erster Ungarntransport kommt heute. In: RT 116 (1956) 183, 16. November, 1. Privates Abholen von Ungarn aus Österreich wurde unterbunden. Ein Beispiel hierfür ist das Vorhaben des Iserlohner Stadtverordneten Axel Klute, 50 ungarische Flüchtlinge aus Österreich nach Iserlohn, Nordrhein-Westfalen, zu holen. Trotz der Einsatzbereitschaft der Iserlohner durften die Flüchtlinge nur über die amtlichen Wege zugewiesen werden. Freie Zimmer und Arbeitsplätzte sollten dem örtlichen Arbeitsamt gemeldet, Sach- und

146 Au f n a h m e l a n d B ay e r n die Aufnahme nach dem Bedarf auf dem Arbeitsmarkt, so würde der humanitäre Aspekt nicht mehr berücksichtigt werden, meinte Nahm. Gegen die Arbeitsvermittlung der Bundesanstalt oder des Ruhrbergbaus innerhalb der Bundesrepublik Deutschland hatte er keine Bedenken. Dennoch unterband er das willkürliche Anwerben von Arbeitskräften durch einzelne Unternehmen.508 Vertreter der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung standen in allen Aufnahmelagern für Beratungen zur Verfügung. Eine Berücksichtigung der Berufsausbildung wurde angestrebt, indem die an Bergbau, Landwirtschaft und Metallindustrie Interessierten direkt in die Länder mit diesem Arbeitskräftebedarf vermittelt wurden. Einerseits meldeten die Firmen ihren Arbeitskräftebedarf den örtlichen Arbeitsämtern und Landratsämtern, andererseits warben sie die Ungarn direkt in den Notunterkünften an.509 Als erstes kündigte der Unternehmensverband Ruhrbergbau im Dezember 1956 an, dass für 3.100 ledige und 120 verheiratete bergbautaugliche Flüchtlinge in den Zechen des Ruhr- und Aachener Steinkohlebergbaus ab sofort Unterkunft und Arbeitsplätze zur Verfügung stünden.510 Außerdem bekamen die bayerischen Grenzlager weit über 100 Zuschriften von Betrieben und Einzelpersonen, die den Ungarn Arbeit und Heim anboten.511 Vertreter der Firmen kamen persönlich in die Notunterkünfte, um geeignete Fachkräfte zu suchen.512 Der Andrang in Wagenried war so groß, dass die Parkplätze auf dem Lagergelände kaum ausreichten. Aus

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Geldspenden beim DRK abgegeben werden. Hilfe verboten! In: IKZ 3. Dezember 1956, 3. In der Diskussion zwischen den Vertretern des Bundesarbeitsministeriums, des Bundesinnenministeriums und des Bundesvertriebenenministeriums fiel das Wort »Sklavenmarkt«. Das Aussuchen der Flüchtlinge nach bestimmten Auswahlkriterien wurde nicht angestrebt. Vermerk über eine telefonische Rücksprache zwischen MR Becker (BMA) und MR Breull (BMI) am 21. Dezember 1956. BArch B 149, 6262. Bundesvertriebenenministerium und Bundesinnenministerium arbeiteten eng mit dem Bundesarbeitsministerium zusammen. Zur Frage der Anwerbung von Ungarnflüchtlingen für den Bergbau wurden das Landessozialministerium und das Landesarbeitsministerium Nordrhein-Westfalens hinzugezogen. Rundschreiben Nr. 110 des Unternehmensverbandes Ruhrbergbau an die Mitgliedschaften und Zechen vom 29. November 1956. BArch B 149, 6262. BMA Storch an BMVt Oberländer. Bonn, 7. Dezember 1956. BArch B 149, 6262. Bayern vorbereitet auf Tausende von Ungarnflüchtlingen. In: RT 116 (1956)188, 24. November, 3; Sie wollen nur in Freiheit leben. In: PNP 11 (1956) 200, 22. November, 5. Vermerk über eine telefonische Rücksprache zwischen MR Becker (BMA) und MR Breull (BMI) am 21. Dezember 1956. BArch B 149, 6262.

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der ganzen Bundesrepublik Deutschland kamen Personenkraftwagen und Busse, um Ungarn sofort mitnehmen zu können. Insbesondere »nach den so knappen Hausangestellten, billigen Landarbeitern und verhinderten Piroschkas«513 wurde gesucht. Eigenmächtig warben Kommissionen einzelner Bergwerksgesellschaften mit einer Vorauszahlung bis zu 100 Deutsche Mark Ungarn für den Bergbau an. Einige Zechen zahlten ein Handgeld von bis zu 70 Deutsche Mark, um den Ungarn die Entscheidung für den Bergbau schmackhafter zu machen.514 Um diese willkürliche Auswahl der Flüchtlinge zu verhindern, ordnete Bundesarbeitsminister Storch eine Gemeinschaftswerbung für den westdeutschen Steinkohlebergbau an. Dementsprechend forderte der Unternehmerverband Ruhrbergbau die Zechen und Betriebe auf, anstatt für einzelne Zechen zu werben, je eine Werbekommission in die Durchgangslager zu schicken, die den Bergbau in seiner Gesamtheit vertreten sollten.515 Die Werbekommission bestand aus einem leitenden Angestellten aus dem Bergbau, einem Werksarzt für die Voruntersuchungen und zwei Mitgliedern, die der ungarischen Sprache mächtig sowie bergbaukundig waren.516 Die Broschüre „Neue Heimat im westdeutschen Steinkohlenbergbau“ sowie die wichtigsten Tarifregelungen und Bergpolizeiverordnungen (Bildwörterbuch und Sicherheitsfibel) wurden ins Ungarische übersetzt.517 Die für den Bergbau gewonnenen Ungarn 513

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In scharfem Ton beklagte die „Bayerische Staatszeitung“ nicht nur die Ausnutzung der Ungarn als billige Arbeitskraft, sondern auch, dass die Ungarn diese Angebote ablehnten, statt sie dankbar anzunehmen. Bayern tut, was in seinen Kräften steht. In: BSZ 29 (1956) 48, 1. Dezember, 3. BMA Storch an BMVt Oberländer. Bonn, 7. Dezember 1956. BArch B 149, 6262. Rundschreiben Nr. 110 des Unternehmensverbandes Ruhrbergbau an die Mitgliedschaften und Zechen. Essen, 29. November 1956, BArch B 149, 6262. Der Eisenerzbergbau Siegerland in Westfalen hoffte, 100 neue Arbeitskräfte aus dem Kreis der Ungarnflüchtlinge zu gewinnen. Der niedersächsische Minister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte entschied sich aber gegen die Einzelanwerbung und bevorzugte eine allgemeine Anwerbung für den Unternehmensverband Ruhrbergbau, der dann den Bergwerken Arbeitskräfte zur Verfügung stellte. Aus diesem Grund verzichtete der Erzbergbau auf eine eigene Werbekommission. Landesarbeitsamt Südbayern an BAA. München, 10. Dezember 1956; BAA an Landesarbeitsamt Südbayern. Nürnberg, 20. Dezember 1956. StAM LAA 5149. Rundschreiben Nr. 110 des Unternehmensverbands Ruhrbergbau an die Mitgliedschaften und Zechen. Essen, 29. November 1956. BArch B 149, 6262. Die Werbebroschüre informierte die Ungarn über die Anforderungen und Anlernzeit im Bergbau. In den ersten sechs Wochen erhielten sie täglich zwei Stunden Sprachunterricht und wurden nur über Tage eingesetzt. Für die Übertagetätigkeit wurde ein Schicht-

148 Au f n a h m e l a n d B ay e r n kamen in das Durchgangslager Essen-Heisingen und wurden von dort aus auf die einzelnen Bergwerksgesellschaften verteilt. In erster Linie nahmen die Zechen Ungarn auf, die bereits ungarischsprachige Belegschaftsmitglieder hatten, um Sprachschwierigkeiten zu umgehen und die Sicherheit der Bergleute nicht zu gefährden. Ohne bergbautechnische Kenntnisse und Beherrschung der Fachausdrücke durften Arbeitskräfte in den ersten sechs Wochen nur über Tage beschäftigt werden. Erst nach dem Nachweis ausreichender Deutschkenntnisse erfolgte der Einsatz im Untertagebetrieb.518 Über Vorbildung und Arbeitserfahrung der Ungarn war wenig bekannt. Arbeitgeber bezogen ihre Informationen über die Ungarn aus Zeitungsberichten und Aufrufen des Bundeskabinetts. Demnach war nur bekannt, dass die Ungarn ein schweres Schicksal zu ertragen hatten und Hilfe brauchten. Aber wer sie waren und über welche Kenntnisse und Fähigkeiten sie verfügten, war unklar. Als erster berichtete Ministerialrat Kurt Breull, Leiter der Aufnahmekommission, nach seiner Rückkehr aus Wien über die für die Bundesrepublik Deutschland registrierten Ungarn. Sie seien vorwiegend um die 20 Jahre alt, gut die Hälfte in der eisenverarbeitenden Industrie und etwa zehn Prozent im Bergbau und ebenso viele in der Landwirtschaft tätig gewesen. Weitere 15 Prozent der Flüchtlinge hatten einen für den Bergbau in Frage kommenden Beruf, und ein Zehntel waren Lehrlinge eines Handwerks.519 Diese berufliche Verteilung zeigt, dass nur wenige Ungarn aus der Landwirtschaft kamen, weil in Ungarn unter sowjetischem Einfluss ein wirtschaftlicher Strukturwandel stattgefunden hatte. Das landwirtschaftlich geprägte Land sollte das Land des Eisens und Stahls werden. In diesem Sinne unterstützte die ungarische Regierung unter Mátyás Rákosi nach sowjetischem Modell insbesondere den Bergbau, die Metall-, Elektro-, Bau- und Chemieindustrie sowie den Maschinenbau. Währenddessen wurden die Bauern mit Zwangskollektivierung in staatliche Kolchosen, in LPG, vereinigt. Zwischen 1949 und 1953 wuchs die Zahl der Beschäftigten

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lohn von 13,63 Deutsche Mark brutto gezahlt, also bei 26 Schichten 354,38 Deutsche Mark brutto, wovon nach den Abzügen bei Ledigen ein Nettobetrag von 288,53 Deutsche Markt im Monat übrigblieb. BMA Storch an BMVt Oberländer. Bonn, 7. Dezember 1956. BArch B 149, 6262. Steinert: Migration, 213. Niederschrift über die Sitzung im BMVt am 20. November 1956 in Bonn. BArch B 106, 24545.

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in der Industrie von 20 auf 28 Prozent, während die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft von 55 Prozent auf 44 Prozent sank. Am Anfang der fünfziger Jahre erhöhte sich der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt von 44,8 Prozent auf 52,4 Prozent, während der Anteil der Bauindustrie nur leicht von 9,1 auf 10,8 Prozent stieg, und die Landwirtschaft von 36,7 auf 29,5 Prozent abnahm.520 Dieser Wandel der ungarischen Wirtschaft- und Erwerbstätigenstruktur innerhalb von fünf Jahren, nämlich während des ersten Fünfjahresplans zwischen 1950 und 1954, spiegelte sich auch in der Berufsstruktur der Ungarnflüchtlinge wider. Die Veröffentlichung des Bundespresseamtes sowie Aufrufe im Bayerischen Rundfunk und in den Tageszeitungen zielten in erster Linie auf eine Beschäftigung der Ungarn in der Landwirtschaft. Zwar warnte der Bayerische Bauernverband vor voreiligen Bekanntmachungen. Dennoch gingen aufgrund der Presseveröffentlichungen 70 Prozent aller Arbeitsangebote für land- und hauswirtschaftliche Arbeitskräfte ein. Doch die Annahme, die Ungarn seien vor allem an Landwirtschaft interessiert, erwies sich als falsch. Ab Mitte Dezember 1956 dokumentierte die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung anhand der Berichte der Landesarbeitsämter den Stand der Arbeitsvermittlung. Die Landesarbeitsämter legten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 7. Dezember 1956 bis Anfang Februar 1957 einen wöchentlichen Kurzbericht über die Arbeitsvermittlung der Ungarn vor. Fortan war eine ausführliche Darlegung nur noch für zwei Kalendervier520

Durch staatliche Interventionen entstanden neue Stahl- und Eisenwerke, um die Kohleförderung und Energieproduktion zu steigern. Da die Rohstoffquellen erstmals 1920 und dann 1947 nicht mehr genutzt werden konnten, war Ungarn auf die Kohle- und Erzlieferung aus Russland angewiesen. Mit der Bodenreform wurden 1945 die ungarischen Großgrundbesitzer enteignet und der Grundbesitz neu verteilt. Insgesamt wurden 5,6 Millionen Morgen Land enteignet und 3,2 Millionen Morgen Land in je fünf Morgen große Feldstücke unterteilt. In der Landwirtschaft produzierten die LPG 20–25 Prozent weniger als die Bauern auf ihren privaten Höfen. Die Gründe hierfür lagen in der Beschäftigung vieler nicht qualifizierter Landarbeiter in den LPG, dem geringen Eigeninteresse und der fehlenden Motivation. Bei der Bewirtschaftung der Äcker wurde der Anteil der Nutzpflanzen wie Zuckerrübe, Sonnenblume, Flachs, Hanf und Tabak auf das Fünffache erhöht. Währendessen ging der Anteil des Weizenanbaus um 21 Prozent zurück. Infolge der geringen Anwendung von Kunstdünger und der Benutzung von veralteten landwirtschaftlichen Maschinen waren die durchschnittlichen Ernteerträge schlechter als vor dem Zweiten Weltkrieg. Romsics: Magyarország, 283–284, 346–359.

150 Au f n a h m e l a n d B ay e r n teljahre (jeweils bis zum 3. April und 3. Juli 1957) vorgesehen (siehe Abbildung 12). Bis zum 15. Dezember 1956 meldeten sich 7.387 Ungarn bei den einzelnen Landesarbeitsbezirken als Arbeitssuchende an (siehe Tabelle 9). Abbildung 12: Formblatt eines Kurzberichts über die Unterbringung von Ungarnflüchtlingen, 1956521

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Präsident Julius Scheuble (BAA) an Präsidenten der Landesarbeitsämter. Nürnberg, 7. Dezember 1956. BArch B 149, 6262.

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Tabelle 9: Arbeitssuchende Ungarn (Stand: 15. Dezember 1956)522 Baden-Württemberg Nordbayern Südbayern Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Pfalz Rheinland-Hessen-Nassau Schleswig-Holstein Insgesamt

2.026 535 331 199 166 680 396 2.438 175 137 304 7.387

Die Zahl der arbeitssuchenden Ungarn stieg bis Ende März auf 7.952. Von ihnen fanden 7.605 – 6.633 Männer und 972 Frauen – Arbeit im Bundesgebiet. Diese Zahl entsprach 95,6 Prozent der Registrierten (siehe Tabelle 10). Tabelle 10: Arbeitsvermittlung der Ungarn nach Wirtschaftszweigen, 1957523 Wirtschaftszweige Mitte Februar 1957 Ende März 1957 Landwirtschaft 216 243 Bergbau 1.367 1.383 Betriebe der Metallerzeugung und 2.517 2.786 -verarbeitung Betriebe des Baugewerbes 261 375 Hauswirtschaft 106 124 Betriebe der übrigen Wirtschafts2.378 2.694 zweige Insgesamt 6.845 7.605

522

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Präsident Julius Scheuble (BAA) an BMA Anton Storch. Nürnberg, 19. Dezember 1956. BArch B 149, 6262. Präsident Julius Scheuble (BAA) an die Landratsämter. Nürnberg, 7. Dezember 1956 und 20. Februar 1957. BArch B 149, 6262; Scheuble an BMA Theodor Blank. Nürnberg, 8. April 1958. StAM LAA 5149.

152 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Schüler, Lehrlinge, Studenten und Kinder kamen für die Arbeitsvermittlung nicht in Frage, und die Zahl der im Bundesgebiet aufgenommenen Ungarn betrug Anfang Februar 1957 etwa 11.500 bis 12.000. So wird deutlich, dass sich etwa zwei Drittel der Ungarn für die Arbeitsvermittlung gemeldet hatten. Bis Ende Juni 1957 erhöhte sich die Zahl der als arbeitslos registrierten Ungarn von 7.957 auf 8.078. Von ihnen nahmen 8.012 Personen erstmals eine Arbeit im Bundesgebiet auf. Diese Erfolgsrate von 99,2 Prozent zeigt eine gelungene Eingliederung in den Arbeitsprozess. Bis Ende März 1957 wurden im Freistaat Bayern 193 Männer und 25 Frauen vom Landesarbeitsamt Nordbayern sowie 428 Männer und 113 Frauen vom Landesarbeitsamt Südbayern in der Arbeitswelt untergebracht. Mit diesen insgesamt 759 Arbeitsvermittlungen von 866 Registrierten wurden 88 Prozent der arbeitslosen Ungarn in den Arbeitsprozess eingegliedert.524 Dieser Wert lag zwar unter dem Bundesdurchschnitt, war dennoch ein Erfolg (siehe Tabelle 11). Den Akten ist nicht zu entnehmen, in welchen Wirtschaftszweigen die Ungarn in Bayern eingesetzt wurden. Tabelle 11: Arbeitsvermittlung der Ungarn nach Landesarbeitsamtsbezirken (Stand: März 1957)525 Baden-Württemberg Nordbayern Südbayern Bremen Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Pfalz Rheinland-Hessen-Nassau Schleswig-Holstein Insgesamt 524

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Männer 1.873 193 428 389 331 2.441 233 237 120 6.245

Frauen 314 25 113 30 71 32 241 43 43 28 940

Präsident Anton Sabel (BAA) an BMA Theodor Blank. Nürnberg, 8. April 1958. StAM LAA 5149. Präsident Anton Sabel (BAA) an BMA Theodor Blank. Nürnberg, 8. April 1958. StAM LAA 5149.

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Die Erhebung des Bundesvertriebenenministeriums vom 5. Mai 1958 fasste in fünf Tabellen statistische Angaben über die Ungarnflüchtlinge zusammen. Diese Daten über Geschlecht, Familienstand, Alter und Beruf geben einen Überblick über die Ungarn im gesamten Bundesgebiet. Das Dokument enthält keine Auflistung nach Ländern, weshalb es hier keine Informationen über die in Bayern aufgenommenen Ungarn gibt. Laut dieser Statistik wurden größtenteils Männer vermittelt, was nicht verwundert, da 75,2 Prozent der Ungarnflüchtlinge männlich waren. Auffallend war, dass viele Ungarn in der metallverarbeitenden Industrie als Schlosser, Schweißer, Dreher, Fräser, Elektriker, Mechaniker, Monteur, Schmied und Feinmechaniker arbeiteten (22,2 Prozent). 10,8 Prozent von ihnen waren in der Hauswirtschaft, 4,1 Prozent in der Landwirtschaft, fünf Prozent im Bergbau und 4,5 Prozent im Handel tätig. 10 Prozent der Ungarn waren ungelernte Arbeiter und 15,3 Prozent befanden sich noch in der Ausbildung, waren Schüler, Lehrlinge oder Studenten. Im Gesundheitswesen waren 1,4 Prozent der Ungarn tätig, unter ihnen gab es 36 Ärzte und sechs Zahnärzte. 6,9 Prozent hatten akademische Berufe, darunter Chemiker, Physiker, Techniker und Ingenieure. Im Baugewerbe waren drei Prozent tätig, vor allem als Maurer, Zimmerer, Dachdecker und Steinmetz. Im Bekleidungsgewerbe waren 3,6 Prozent als Weber, Stricker, Schneider oder Schuhmacher beschäftigt. Die Berufsgruppen Holzverarbeitung (0,7 Prozent), Lederverarbeitung (0,2 Prozent), Nahrungs- und Genussmittelgewerbe (1,6 Prozent), Hotelgewerbe (1,1 Prozent) und Druckereigewerbe (0,4 Prozent) waren schwach repräsentiert.526 Diese statistischen Unterlagen veröffentlichte Ferenc Cseresnyés 2005 auf Ungarisch. Die verbreitete Annahme, dass viele Schüler, Studenten und Akademiker geflohen waren, wird von der Statistik nicht gestützt. Auch Cseresnyés wies darauf hin, dass der Anteil der Ungelernten mit 10,2 Prozent überraschend hoch war. Unter den Auszubildenden (15,3 Prozent) waren 2,5 Prozent Lehrlinge, 4,5 Prozent Schüler und 8,4 Prozent Studenten.527

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BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen und zuständige Ministerien. Bonn, 5. Mai 1958: Statistische Unterlagen über ausländische Flüchtlinge aus Ungarn. PAAA B 12, 572 c. Cseresnyés: 1956-os magyar menekültek.

154 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Die Unterlagen des ungarischen Zentralen Statistischen Amtes über alle Dissidenten, die zwischen dem 23. Oktober 1956 und 30. April 1957 Ungarn verließen, weisen auch einen hohen Anteil an Industriearbeitern (34,6 Prozent) und Hilfsarbeitern aus. Unter den Akademikern befanden sich viele Ingenieure (10,6 Prozent), Ärzte (4,9 Prozent) und Universitätsprofessoren (4,1 Prozent).528 Die ungarischen Statistiken enthalten nur Informationen über die Gesamtheit der Geflüchteten, weshalb ein Vergleich mit den bundesdeutschen Angaben nur ansatzweise möglich ist. Konkrete Angaben über Einstellungen bei Firmen und Betrieben erwähnen die Quellen nur vereinzelt. Für die Aufteilung der Flüchtlinge auf den südbayerischen Raum war das Lager Wagenried zuständig. Hier nahm am 26. November 1956 das Arbeitsamt München in Form einer Nebenstelle seine Tätigkeit in Dachau auf. Zum einen wurde eine rasche Vermittlung angestrebt, um den Lageraufenthalt zu verkürzen. Zum anderen wurde darauf geachtet, ganze Gruppen zu vermitteln, um die Eingewöhnung zu erleichtern und die Sprachschwierigkeiten besser zu überwinden. Die Nebenstelle Dachau vermittelte etwa 700 Ungarn an den Ruhrbergbau, die von Bayern nach Essen ins Lager Heisingen gingen.529 Das Volkswagenwerk stellte 57 Ungarnflüchtlinge im Wolfsburger Werk und 22 im Werk Hannover ein.530 Zeitungsartikel berichteten von Betrieben, in denen Ungarn erfolgreich in den Arbeitsprozess integriert werden konnten. Häufig wurden Fotos von arbeitenden Ungarn gezeigt und deren Dankbarkeit für die freundliche Aufnahme hervorgehoben.531 Ein Beispiel hierfür ist János 528

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KSH jelentés 190–193. Die ungarische Statistik gibt die Anzahl der Schüler mit 38 Prozent, der Studenten mit 6,5 Prozent und der Berufsschüler mit 9,7 Prozent an. Ebenda, 194. Vermerk des Landesarbeitsamtes Südbayern vom 9. Januar 1957. StAM LAA 5149. Präsident des Landesarbeitsamtes Südbayern an Direktoren der Arbeitsämter. München, 27. November 1956. StAN LAA 5145. Hilfsaktion auf vollen Touren. In: RT 116 (1956) 192, 1. Dezember, 1. Der Jahresbericht 1956 der Hauptabteilung Personalwesen bestätigte die Aufnahme der Ungarn, aber es mangelt an weiteren Unterlagen. Aus diesem Grund kann die Beschäftigung der Ungarn im Volkswagenwerk Wolfsburg nicht weiter belegt werden. Die Ungarn wurden von der Belegschaft jedenfalls positiv aufgenommen, worauf auch die Spende der Belegschaft in Höhe von 35.000 Deutsche Mark im Rahmen der Ungarnhilfe hinweist. E-Mail-Mitteilung von Manfred Grieger (Historische Kommunikation der Volkswagen Aktiengesellschaft) an die Autorin. Wolfsburg, 9. Mai 2015. Das Exilblatt „Új Magyar Élet“ zeigte in einer großen Abbildung Frauen, die bei einem westdeutschen Hersteller für Fotoapparate Kameraverschlüsse montieren. Das Foto

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Magyar, der bei der Nähmaschinenfabrik Pfaff in München als Lagerarbeiter beschäftigt wurde.532 Bereits am 1. Dezember 1956 berichtete die „Passauer Neue Presse“ über die Anstellung von elf ungarischen Drehern und Schlossern in der Zahnradfabrik Passau-Grubweg. Obwohl die Ungarn kaum Deutsch sprachen, schätzte man ihre Erfahrung an der Werkbank.533 Sprachschwierigkeiten wurden häufig mit Zeichensprache überbrückt, wie im Fall des ungarischen Metzgermeisters, der als Hilfsarbeiter in einer Ulmer Fahrzeugfabrik beschäftigt wurde.534 Vergleichbare Angaben sind über die Arbeitsvermittlung aus Nordrhein-Westfalen überliefert. Eine Quellensammlung berichtet über die Aufnahme von Ungarn in der Gegend von Iserlohn, unweit von Dortmund.535 Da sie jung und gut ausgebildet waren, außerdem Facharbeitermangel auf dem deutschen Arbeitsmarkt herrschte, wurden die Ungarn rasch und weitgehend ihrer Berufsausbildung entsprechend ins Arbeitsleben eingegliedert. »Die Ungarn kommen uns wie gerufen«, fasste die Betriebsleitung der Zahnradfabrik in Passau-Grubweg ihre Eindrücke zusammen.536

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sollte die Eingliederung ungarischer Frauen belegen, als Quelle war der „Münchner Merkur“ angegeben. Hier handelte es sich um die Firma Friedrich Deckel. Mitte der fünfziger Jahre standen in München-Sendling Fabrikgebäude, in denen 3.000 Menschen arbeiteten. Das Foto von den arbeitenden Frauen in der Fabrikanlage an der Waakirchner Straße in München, das die Exilzeitschrift verwendete, war im „Münchner Merkur“ erschienen, allerdings ohne Hinweis auf die arbeitenden ungarischen Frauen. Asszonykezek csodája. In: ÚMÉ 1 (1957) 10, 3. Mai, 2; Präzision – beinahe schon Hexerei. In: MM 12 (1957) 101, 26. April, 9. »Jeder hilft mir und lehrt mich in allem mit großer Liebe. Sie haben mich eingekleidet und haben mir Wohnung verschafft. Ich weiß von meinen Kameraden, dass es ihnen ähnlich ergeht.« Ein Ungarnflüchtling dankt. In: MM 12 (1957) 4, 14. Januar, 20. Die ersten Ungarn stehen schon an der Werkbank. In: PNP 11 (1956) 208, 1. Dezember, 14. In der Gegend von Ulm wurden die Ungarn vorwiegend in Industrie- und Handwerksbetrieben untergebracht. Das Heimweh, Herr, das reißt uns um. In: MM 12 (1957) 11, 14. Januar, 3. Vom Lager Bocholt kamen 15 Ungarn nach Lethmathe, Stadtteil von Iserlohn, um bei einer Glasbaufirma zu arbeiten. In Hemer, einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen, fanden 38 Ungarn Arbeit und Unterkunft. Iserlohn nahm 19 Ungarn auf. Wie in München, hatte das Arbeitsamt in Iserlohn mit der Ankunft der Ungarn schlagartig mehr Aufgaben. Die Arbeitsämter in Nordrhein-Westfalen schickten Mitarbeiter ins Lager Bocholt und vermittelten mit Hilfe von Dolmetschern Ungarn in die umliegenden Ortschaften. Trotz Verständigungsschwierigkeiten nahm man die Ungarn auch in Iserlohn freundschaftlich und verständnisvoll auf. Die Frage der Ungarn-Flüchtlinge von 1956 in Iserlohn. Die ersten Ungarn stehen schon an der Werkbank. In: PNP 11 (1956) 208, 1. Dezember 1956, 14.

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4. 2. Unterbringung in Notunterkünften, Heimen und Wohnungen Ein wichtiges Anliegen des Bundesvertriebenenministeriums war es, die Flüchtlinge so schnell wie möglich aus den Lagern in angemessene Wohnsituationen zu bringen.537 Bei der Verteilung auf die Länder kamen die Ungarn aus den fünf Durchgangslagern Piding, Schalding und Voggendorf in Bayern, Friedland in Niedersachsen und Bocholt in Nordrhein-Westfalen in verschiedene Wohnlager. Der bayerische Staatsminister Stain setzte sich dafür ein, Bayern auf die Unterbringung der Ungarn vorzubereiten. Nachdem er sich in Eisenstadt über die Situation der Flüchtlinge informiert hatte, wollte er für eine menschenwürdige Unterbringung der Ungarn sorgen.538 In dieser Zeit war es schwierig, eine unübersehbare Anzahl von Menschen in Bayern zu beherbergen. Es standen nur ehemalige, bereits aufgelöste oder teilweise abgerissene Flüchtlingslager zur Verfügung, deren Zahl wie auch die des Personals der Flüchtlingsverwaltungen stetig sank. In wenigen Wochen wurden drei bayerische Wohnlager mit jeweils bis zu 250 Plätzen wiederhergerichtet: Oberelsbach im Landkreis Bad Neustadt an der Saale (Unterfranken), Wagenried im Landkreis Dachau (Oberbayern) und Voggendorf im Landkreis Feuchtwangen (Mittelfranken). Der Aufenthalt der Flüchtlinge in den Durchgangslagern sollte nur solange dauern, bis ihre Registrierung und vorläufige Anerkennung als ausländischer Flüchtling abgeschlossen war. Anschließend wurden sie einem Wohnlager zugewiesen. Von hier aus konnten sie mit Unterstützung Arbeit oder Unterkunft in Jugendheimen oder privaten Wohnungen finden. In den Notunterkünften mussten sich bis zu 30 Personen verschiedenen Geschlechts und Alters eine Barackenstube ohne jedwede Privatsphäre tei537

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Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465. Am 14. November 1956 reiste Stain im Auftrag vom Ministerpräsident Wilhelm Hoegner nach Österreich. Am 16. November begrüßte er die ersten Ungarn in Piding und am 18. November in Schalding. Am 20. und 22. November berichtete er dem Ministerrat. Am 24. November überprüfte er die Aufnahmekapazität in Voggendorf. Am 9. März 1957 berichtete er dem Bayerischen Landtag über die Aufnahme der Ungarn. IFZ NlH 399, 401; BayHStA AM LFV 1913; Bayerischer Landtag. 3. Wahlperiode. Stenographischer Bericht. 94. Sitzung. 26. März 1957. In: BLP 3291–3292; Kornrumpf: In Bayern, 258–259.

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len. Es fehlte an Decken, Bettwäsche und Hygieneartikeln. Etwa 20 Prozent der bayerischen Bevölkerung waren Heimatvertriebene, die das Lagerleben aus eigener Erfahrung kannten und wussten, dass die qualvolle Enge Monate oder Jahre dauern konnte, was eine enorme psychische Belastung darstellte.539 Der Walter-Stain-Plan erntete viel Kritik, weil er auf marode und abgewohnte Notunterkünfte abzielte. Die Dachauer waren der Meinung, dass die Ungarn, die durch die Hölle gegangen waren, bessere Quartiere verdienten.540 Auch in Österreich wurden die Ungarn vorübergehend in ehemaligen Sowjet-Kasernen und Notunterkünften in denkbar schlechten Wohnverhältnissen beherbergt.541 4. 2. 1. Wohnlager Wagenried bei Dachau in Oberbayern Das Wohnlager Wagenried befand sich in der Nähe von Langenpettenbach im Landkreis Dachau. Die Baracken des Lagers wurden 1943 auf dem Gelände der Landwirte Mathias Krimmer und Simon Riedl gebaut und dienten den Nationalsozialisten als Luftbeobachtungsstelle.542 Nach 1945 wohnten für kurze Zeit polnische Kriegsgefangene in Wagenried. Ab Oktober 1945 lebten hier Heimatvertriebene aus Ungarn, Jugoslawien, dem Sudetenland und Schlesien. Das Lager konnte etwa 200 Personen beherbergen, war jedoch nie eine Massenunterkunft, denn jede Familie hatte einen abgeschlossenen Bereich. Es gab eine Schule, einen Kindergarten, eine Kirche, einen Krämerladen und sogar ein Schwimmbecken. Aber auch eine Kläranlage und eine Gastwirtschaft mit Tanzsaal gehörten zum Lager, das wie ein kleines Dorf funktionierte.543 Wagenried war keineswegs von der Umgebung abgeschottet, da die Veranstaltungen und Angebote auch 539

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Zu den Verhältnissen im Grenzdurchgangslager Piding: Nachdenklichkeiten. Von Hölle zu Hölle. In: Kirchlicher Anzeiger für die katholischen Gemeinden von Dortmund 24. November 1956, Nr. 48, in: ORR Graebe (BMVt) an RD Nentwig (BayStMA). Bonn, 8. Dezember 1956. BayHStA AM LFV 1913. 200 Ungarn sollen nach Wagenried kommen. In: DN 11 (1956) 275, 16. November, 1; Keine andere Wahl als Wagenried. In: DN 11 (1956) 277, 19. November, 1. Siehe dazu Kapitel II. 4. 1940 wurde das Gelände formlos in Anspruch genommen. Am 1. November 1946 schloss der Freistaat Bayern mit den Landwirten einen Pachtvertrag ab, aber erst nach langwierigen Verhandlungen wurde ihnen dafür eine monatliche Pacht zuerkannt. Steiner: »Damit es nicht vergessen wird!«; Zeitzeugengespräch mit Hans Steiner. Fast die Hälfte der Lagerbewohner waren Deutschstämmige aus Ungarn, viele aus dem Dorf Szomor, das 30 Kilometer von Budapest entfernt liegt. Die ehemaligen Lagerbe-

158 Au f n a h m e l a n d B ay e r n von den umliegenden Dörfern wahrgenommen wurden. Hier kamen Menschen zusammen, und manche Paare fanden sich.544 Laut dem Ungarndeutschen Hans Steiner, der sieben Jahre hier verbrachte, gehörte Wagenried zu den schönsten Lagern Bayerns.545 Es lag auf einer Anhöhe in der Nordwestecke des Landkreises, wurde an zwei Seiten von Wäldern eingerahmt und von seinen fleißigen Bewohnern peinlich sauber gehalten. Aber die Baracken wurden im Laufe der Jahre trotz Instandhaltung stark abgenutzt (siehe Abbildung 13). 1953 wurde im Rahmen des Lagerauflösungsprogramms auch Wagenried geräumt. Seine Bewohner zogen entweder in Neubauwohnungen der Friedlandsiedlung in Dachau und mit Ringtausch546 in Altbauwohnungen oder ins Wohnlager DachauOst.547 Ein Teil der Bewohner blieb jedoch hier. Da die Baracken auf steinernen Fundamenten standen und noch in gutem Zustand waren, überdies kurz vorher in die Renovierung größere Summen investiert worden waren, wollte man das Lager nicht abreißen.548 In die freien Räumlichkeiten konnten Leute umziehen, die anderswo unter menschenunwürdigen Zuständen untergebracht waren.549 Auch der Schulunterricht für 27 Kinder ging im

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wohner trafen sich nach 30 Jahren 1985 in Arnzell. 2004 erschien die Lagerchronik. Zeitzeugengespräch mit Hans Steiner. Ligsalz: Wohin geht Dein Weg, 89–94. Zeitzeugengespräch mit Hans Steiner. Die Neubauwohnungen wurden aus dem Lastenausgleich teilfinanziert. Wer nicht in der Lage war, von den Einkünften die Miete zu bezahlen, konnte mit einem Ringtausch zu einer Altbauwohnung kommen. Die Wohnungssuchenden, die in einer Altbauwohnung in Dachau wohnten, konnten mit diesem Ringtausch die Neubauwohnungen beziehen, wodurch ihre Altbauwohnungen den Lagerbewohner zur Verfügung gestellt wurden. Die Lagerauflösung auf vollen Touren. In: DA 8 (1953) 144, 5. Dezember, 3. Zu dieser Zeit gab es im Landkreis Dachau vier Vertriebenenlager: das Regierungsdurchgangslager an der Bayerstraße in Dachau, das Wohnlager Dachau-Ost, Wagenried und Hebertshausen. Steiner: »Damit es nicht vergessen wird!«; Lagerauflösung mit Lichtund Schattenseiten. In: DN 8 (1953) 291, 5./6. Dezember, 3. Eine Baracke wurde neu gedeckt und das Aborthäusel neu gebaut, wofür der Staat über 10.000 Deutsche Mark ausgab. Lagerbewohner fragen: Was wird nun? In: DN 8 (1953) 291, 5./6. Dezember, 3. 1951 lebten im Landkreis Dachau 18.940 Heimatvertriebene, die rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachten. 20 Prozent von ihnen lebten in Wohnlagern (Dulag Dachau-Ost, Wagenried, Schwabhausen, Gemeindelager Hebertshausen) sowie in Dachauer Stadtbaracken. Um dem Barackendasein ein Ende zu machen, baute die Regierung Oberbayern im Jahr 1951 rund 100 Wohnungen. So wurden die vorhandenen Lager nach und nach geräumt. Nimmt das Barackenleben bald ein Ende? In: DN 6 (1951) 76, 29. März, 1; Von Lagerauflösung keine Rede. In: DN 9 (1954) 18, 21. Januar, 1.

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September 1954 weiter, obwohl die Schule offiziell schon aufgelöst worden war.550 Pfarrer Stephan Varadi, Kaplan in Altomünster, betreute das Lager Wagenried. Er stammte aus Ungarn, war Ehrendomherr der KathedraleBasilika zu Raab und 1953 im Wiener Stephansdom zum Priester geweiht worden.551 In der Gegend von Wagenried gab es Arbeit auf Bauernhöfen, wo viele Menschen im Haus und auf dem Feld aushalfen, und in den Münchener Fabriken von MTU, MAN, Krauss-Maffei sowie in der Papierfabrik in Dachau. 1956 wurde die Apparatewerk Bayern GmbH von der Grundig-Radio-Werke GmbH übernommen und nahm ihr Werk VI zur Herstellung von Rundfunkgeräten in den Dachauer Werkanlagen in Betrieb. Die Dachauer Belegschaft wuchs von 110 auf 800 Mitarbeiter, die größtenteils aus dem Dachauer Landkreis stammten. 40 Prozent von ihnen waren Flüchtlinge. Außerdem wurden immer mehr Frauen für die Arbeit am Fließband eingestellt. Während zur Mitte 1956 nur 27 Prozent der Gesamtbelegschaft Frauen waren, stieg ihr Anteil bis Anfang Februar 1957 auf 70 Prozent an. Im Dachauer Werk wurden Rundfunkempfänger mit Plattenspielern und Musikschränke für den Export nach Europa und Übersee hergestellt.552 Außerdem bot die geografische Nähe zu München weitere Arbeitsplätze, aber auch einen unguten Stadtgeist, der die alten Klostertraditionen grundlegend veränderte, so klagte Pfarrer Maximilian Beyer über die Verweltlichung des öffentlichen Lebens. Seiner Meinung nach lenkten die vielfältigen Angebote an Tanzabenden, Filmvorführungen, sportlichen Veranstaltungen wie Boxen und Fußball vom religiösen Leben ab. Zwölf Gastwirtschaften in der Pfarrei Indersdorf luden zu Vergnügungen ein und lockten die Jugend von der Kirche weg. Auch in der aufkommenden Mo550

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Kleines Einmaleins in aufgelöster Schule (23. September 1955). In: Steiner: »Damit es nicht vergessen wird!« (ohne Paginierung). Hans Steiner, Ungarndeutscher aus Szomor, stellte der Autorin seine private Sammlung an Zeitungsausschnitten und Dokumenten zum Lager Wagenried zur Verfügung. Die Privatsammlung enthält einerseits umfangreiches Material zum Leben der Ungarndeutschen in Szomor und Wagenried, andererseits Informationen geringeren Umfangs zu Ungarnflüchtlingen 1956. Die Zeitungsartikel wurden oft ohne Seitenangabe datiert. Die hier herangezogenen Quellen stammen größtenteils aus Steiners Privatsammlung. Steiner engagierte sich 2004 bei der Herausgabe der Lagerchronik und 2015 bei der Wanderausstellung über die Nachkriegszeit im Landkreis Dachau. Steiner: »Damit es nicht vergessen wird!«; Zeitzeugengespräch mit Hans Steiner. Grundig Dachau beschäftigt jetzt schon 800 Leute. In: DA 12 (1957) 24, 9. Februar, 4.

160 Au f n a h m e l a n d B ay e r n torisierung sah Pfarrer Beyer »eine Gefahr für die Kirche«, da die neuen Kraftfahrzeuge an Sonntagen zu Ausflügen einluden.553 Abbildung 13: Die Baracken in Wagenried, November 1956554

Da Bayern seit Jahren vorübergehend Sowjetzonenflüchtlinge für BadenWürttemberg beherbergte, waren die Aufnahmekapazitäten Wagenrieds begrenzt. Den Vorschlag, die Ungarn in Erholungsheimen statt in Lagern unterzubringen, lehnte Stain ab.555 Zu dieser Zeit konnte niemand vorhersehen, wie lange man die Erholungsheime in Beschlag nehmen würde. Die Bevölkerung des Landkreises Dachau hielt Wagenried für zu abgelegen und verwohnt, denn es stand seit 1953 leer und sollte abgerissen werden. 553

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Seelsorgebericht des Pfarrers Maximilian Beyer vom 1. März 1958. AEMF SBI 760. Vgl. Seelsorgeberichte der Pfarrei Indersdorf für die Jahre 1958 bis 1960; Jahresbericht der Stadtpfarrei St. Jakob (Dachau) für 1949 vom 10. Februar 1950. AEMF SBI 191 und SBD 257. Keine andere Wahl als Wagenried. In: DN 11 (1956) 277, 19. November, 1. Arbeitsminister Walter Stain entschied sich für das ehemalige Vertriebenenlager Wagenried im Landkreis Dachau. Hier standen 220 Betten in 80 Doppelzimmern für die Ungarn zur Verfügung. In jedem Zimmer waren die Möbel gestrichen und mit den unbedingt nötigen Einrichtungsgegenständen sowie mit Wolldecken und Bettwäsche ausgestattet. Ein Tagesraum und freie Räume für einen Kindergarten oder eine Schule standen zur Verfügung. Heute erinnert in Wagenried nichts mehr an die Lagerzeit. Ein Gegenbeispiel dafür ist das Wacker-Erholungsheim in Lindau, Bad Schachen. Die Villa Wacker diente als Erholung für die Mitarbeiter der Wacker-Chemie GmbH und unter der Obhut der Caritas als Caritasheim. Vom November 1956 bis April 1957 bot das im Winter leerstehende Heim Unterkunft für 60 ungarische Studenten. Diözesan-Caritasdirektor Oskar Jandl an Wolfgang Wacker. München, 6. Dezember 1956. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16.

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Die Dachauer Lokalbevölkerung war über Stains Plan überrascht, sogar empört, wie ein Kommunalpolitiker der CSU klagte: »Diese Menschen, die sich todesmutig für die Freiheit nicht nur ihres Landes, sondern für Europa eingesetzt haben, sollen nun abseits auf einsamer Höhe bei Wagenried über die Schrecken, die sie erlebt haben, hinwegkommen. Das ist einfach unglaublich. Wagenried gehört längst abgerissen und ist keine Heimstätte für die verzweifelten Menschen.«556 Die Dachauer fürchteten die Isolierung der Ungarn in einer gottverlassenen Gegend, die den Freiheitskämpfern unwürdig war. In der Lokalpresse wurden die erbärmlichen Zustände in Wagenried verurteilt, die insbesondere im Winter unmenschlich und unerträglich gewesen seien.557 Obwohl sich Wagenried im Vergleich zu den anderen Lagern in einem besseren Zustand befand, warfen die Dachauer Stain sogar vor, »daß man aus Ministerwohnungen und Ministerien heraus nicht mehr nach elf Jahren nachempfinden kann, wie es Flüchtlingen zu Mute ist, die unter dem Feuer russischer Panzer unter Zurücklassung von Heimat, Hab und Gut in ein Land kommen, von dem sie echte menschliche Hilfe erwarten. Sollen die Tränen der ungarischen Witwen und Waisen nun in alten, zum Teil abrissfähigen Baracken weiterfließen und die Trostlosigkeit sie ganz erdrücken?«558 Stain nannte die unzumutbare Lage in Österreich als Grund für die notwendige schnelle Hilfe und Belegung der noch vorhandenen Notunterkünfte. Da er selbst Heimatvertriebener war, wies er die Kritik von sich: »Ich wäre froh gewesen, wenn ich 1946 nach meiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft in meiner neuen Heimat in Unterfranken solche Verhältnisse angetroffen hätte.«559 Stain bestätigt hier, dass die Lebensverhältnisse 1945 und 1956 nicht vergleichbar waren. Durch die Verbesserung von Lebensmittelversorgung und Wohnsituation wurden auch die Bedingungen für die Aufnahme der Ungarn erleichtert. Dennoch war die Unterbringungskapazität einer der bedeutendsten Faktoren für die Aufnahme der Ungarn.560 556 557

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200 Ungarn sollen nach Wagenried kommen. In: DN 11 (1956) 275, 16. November, 1. Der „Münchner Merkur“ berichtete über die Unterbringung der Ungarn in Wagenried. Die Dachauer waren empört, dass sie diese Nachricht aus der Zeitung erfahren mussten. Die scharfe Tonlage brachte Verwunderung und sogar Empörung zum Ausdruck. 200 Ungarn sollen nach Wagenried kommen. In: DN 11 (1956) 275, 16. November, 1; Keine andere Wahl als Wagenried. In: DN 11 (1956) 277, 19. November, 1. 200 Ungarn sollen nach Wagenried kommen. In: DN 11 (1956) 275, 16. November, 1. Keine andere Wahl als Wagenried. In: DN 11 (1956) 277, 19. November, 1. Siehe dazu Kapitel III. 3. 1.

162 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Am 20. November 1956 trafen 140 Ungarnflüchtlinge aus Piding in Wagenried ein, unter ihnen etwa 90 jüngere Ledige und 19 Familien mit Kindern (siehe Abbildung 14). Nach wenigen Tagen kamen weitere 43 Personen aus Schalding.561 Bis Anfang Januar 1957 wurden hier insgesamt 322 Ungarn vorübergehend untergebracht, von denen sich zu dieser Zeit noch 83 im Lager befanden. Zusätzlich musste Wagenried die Bewohner der beiden anderen bayerischen Ungarnlager Voggendorf und Oberelsbach aufnehmen, weswegen eine Auflösung des Lagers zu dieser Zeit nicht in Frage kam.562 Abbildung 14: Ankunft der Ungarnflüchtlinge in Wagenried, November 1956563

Rotkreuzhelferinnen wirkten bei der Betreuung der Ungarn mit und versorgten die Ankommenden mit den nötigsten Hygieneartikeln. Der Geschäftsführer des Roten Kreuzes Dachau setzte täglich zwei Helferinnen 561

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Ungarn in Wagenried eingetroffen. In: DN 11 (1956) 279, 21. November, 1; Zweiter Ungarntransport trifft in Wagenried ein. In: DA 11 (1956) 182, 24. November 1956, 3. Aus Oberelsbach kamen 13 Ungarnflüchtlinge nach Wagenried. MR Seemeier (BayStMA) an die Regierung Oberfranken. München, 4. Januar 1957. StAW RegUF 24271. Ungarnflüchtlinge – vom Roten Kreuz betreut. In: DN 11 (1956) 280, 22. November, 3. Der Geschäftsführer des Dachauer Roten Kreuzes, Herr Hammer, und seine Helferinnen bei der ersten Päckchenausgabe.

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in Wagenried ein, hinzu kam ein Arzt für die medizinische Versorgung. Lagerleiter Liebig sorgte für genügend Heizmaterial für den Winter und stellte die Gemeinschaftsküche auf den ungarischen Geschmack um.564 Eine Kommission des Arbeitsamtes München, die im Lager durch zwei Angestellte vertreten war, übernahm die Arbeitsvermittlung der Ungarn.565 Bei den hier Angekommenen handelte es sich größtenteils um Industrieund Bergarbeiter sowie Handwerker, die problemlos in Arbeitsstellen wie bei der Papierfabrik in Dachau, bei MAN und Siemens vermittelt werden konnten. Landwirtschaftliche Arbeitskräfte und Haushaltshilfen waren im Landkreis besonders gefragt. Jedoch gab es so gut wie keine Bauern unter den Ungarn und auch keine Interessenten für die Landwirtschaft. Was die Haushaltshilfen betraf, konnten diese Arbeitsangebote auch nicht genutzt werden, da nur sehr wenige ungarische Mädchen gekommen waren, und die meisten weiblichen Flüchtlinge verheiratet waren.566 Die schlechte Verkehrsanbindung zu den Firmen in Dachau und München erschwerte die Arbeitsvermittlung. Das Lager lag ziemlich abgelegen. Um einen Pendler-Betrieb zu vermeiden, suchte man mit den Arbeitsstellen gleichzeitig auch Unterkünfte. Doch oft fehlten geeignete Quartiere in der Nähe der Arbeitsplätze. Die Tuchfabrik Bernstein in Erdweg und die Volkswagen-Reparaturwerkstätte Greger in Dachau boten ebenfalls Arbeitsstellen an.567 Unterhaltung wurde durch das musikalische Programm der Dachauer Knabenkapelle unter der Leitung von Kapellmeister Winkler geboten. Die Buben in ihrer bunten Tracht begeisterten die Ungarn, die spontan einen Chor bildeten und ein eindrucksvolles ungarisches Freiheitslied sangen. Kreisjugendamtsleiter Frank veranstaltete unterhaltsame Abende, häufig 564

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Kaplan will Sprachkurs halten. In: DN 11 (1956) 280, 22. November, 3; Flucht vor Sklaverei und Galgen. In: RT 116 (1956) 188, 24. November, 6. Ein Vorschlag, in den Unterkünften ungarische Köche einzustellen: Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz: Das Problem der Flüchtlinge des ungarischen Aufstands. München, 16. November 1956. BayHStA StK 12124. Präsident des Landesarbeitsamtes Südbayern an Präsident Julius Scheuble (BAA). München, 29. November 1956. StAN LAA 5145; Präsident des Landesarbeitsamtes Südbayern an Präsident Julius Scheuble (BAA). München, 31. Januar 1957. StAM LAA 5149. 322 Ungarn bis jetzt durch Wagenried geschleust. In: DA 12 (1957) 7, 11. Januar, 3; Arbeitsamt vermittelt in Wagenried. In: DN 11 (1956) 284, 27. November, 1; Budapester Expressionist malt jetzt in Wagenried. In: DA 12 (1957) 16, 26. Januar 1957, 5. Arbeitsamt vermittelt in Wagenried. In: DN 11 (1956) 284, 27. November, 1.

164 Au f n a h m e l a n d B ay e r n mit musikalischen Darbietungen, um die Verständigungsschwierigkeiten zu überbrücken. Da die Ungarn kaum Deutsch sprachen und nur wenige alteingesessene Ungarn im Landkreis lebten, nutzte man die Universalsprache der Musik für die Unterhaltung. Die Katholische Jugend aus Dachau stellte sich für einen Abend zur Verfügung und sang den Ungarn vom Volkslied bis zum Schlager alles, was die Jugend liebte. Als Höhepunkt des Abends führten die Ungarn den Dachauer Gästen den Csárdás-Tanz vor.568 Auch die berühmte ungarische Opernsängerin Sári Barabás, die sich nach ihrer Flucht 1948 in München niedergelassen hatte, besuchte die Ungarn in Wagenried.569 Wegen ihres Freiheitskampfes genossen die Ungarn große Achtung, aber die Sympathie der Dachauer wurde durch die Begegnung mit den tanzenden und singenden Ungarn noch stärker. Allein Taxifahrten lösten Empörung aus. Sich ein Taxi zu leisten, passte nicht zum Bild der notleidenden Flüchtlinge. Ob sie zu den Fahrten eingeladen wurden, wie Lagerleiter Liebig beteuerte, oder diese selbst finanzierten, war nicht zu beweisen.570 Aber der Ärger der Einheimischen zeigte die Grenzen ihrer Toleranz auf. Auch die Wiener beschwerten sich darüber, dass die Ungarnflüchtlinge dieselben Cafés besuchten oder in denselben teuren Geschäften einkauften wie die Einheimischen. Das entsprach nicht dem Bild der armen Flüchtlinge und führte zu Empörung und Ablehnung.571 Auch Angehörige intellektueller Berufe befanden sich unter den Ungarn. Ein Kunstmaler aus Budapest, ein Expressionist, ging im Lager Wagenried seiner Kunst nach.572 Mangelnde Deutschkenntnisse waren das größte Hindernis bei der Integration der Ungarn. Um dieses Problem zu lösen, bat Pfarrer Huber aus Langenpettenbach den in Altomünster ansässigen ungarischen Kaplan Stephan Varadi, nicht nur die Seelsorge zu übernehmen, sondern auch beim Erlernen der deutschen Sprache mitzuwirken.573 568

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Dachauer Katholische Jugend klatscht zum Czardas. In: DA 11 (1956) 190, 7. Dezember, 2. Knabenkapelle begeistert die Ungarn. In: DN 11 (1956) 287, 30. November, 1. Dichtung und Wahrheit über das Lager Wagenried. In: DA 11 (1956) 192, 15. Dezember 1956, 3. Hoff – Strotzka: Die psychohygienische Betreuung, 7; Rásky: »Flüchtlinge haben auch Pflichten«, 6–7. Budapester Expressionist malt jetzt in Wagenried. In: DA 12 (1957) 16, 26. Januar 1957, 5. Kaplan will Sprachkurs halten. In: DN 11 (1956) 280, 22. November, 3.

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Ins Lager Wagenried kamen viele Besucher. Einheimische brachten Hilfspakete, Unternehmer suchten Arbeitskräfte. Mit dem Werben um Arbeitskräfte begann ein reges Kommen und Gehen im Lager, das von der Dienststelle des Arbeitsamtes koordiniert werden musste. Unternehmer aus Schwaben, sogar aus Westfalen, aber vor allem aus München trafen ein, um den Neuankömmlingen Arbeitsstellen und oft auch Wohnungen anzubieten. Wurde mit dem Arbeitsangebot auch eine Unterkunft zugesichert, fuhr so mancher sofort mit den Unternehmern mit.574 Alle Seiten begrüßten eine schnelle Vermittlung der arbeitswilligen Ungarn, um den Lageraufenthalt zu verkürzen und die Eingliederung zu beschleunigen. Die Baracken des Lagers wurden am 25. Februar 1957 der Bundesvermögensstelle München übergeben.575 Das Lager Wagenried wurde zum 30. September 1958 aufgelöst und abgerissen.576 4. 2. 2. Lager Voggendorf bei Feuchtwangen in Mittelfranken Die wenigen Quellen des Landratsamts Feuchtwangen bestätigten, dass die Situation im mittelfränkischen Voggendorf jener in Wagenried ähnelte.577 Das damals letzte, bereits geschlossene und teilweise demontierte Flüchtlingslager in Mittelfranken wurde für die Unterbringung der Ungarn neu hergerichtet. Ab 27. November 1956 bot Voggendorf 417 Ungarn eine vorübergehende Bleibe. Spenden der Caritas, der Inneren Mission und des Roten Kreuzes trafen im Lager ein und wurden verteilt. Auch hier sorgte eine Zweigstelle des Arbeitsamtes dafür, dass Arbeitgeber und Arbeitsuchende zueinander fanden. Vertreter der hiesigen Fabriken holten geeig574 575

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Erfolgreiche »Zweigstelle Wagenried«. In: DN 12 (1957) 19, 22. Januar, 3. Landratsamt Dachau an Regierung von Oberbayern. Dachau, 20. Dezember 1956: Bericht zum vierten Kalendervierteljahr 1956; Bericht zum ersten Kalendervierteljahr 1957. StAM LRAD 221231, 21232. Mit diesem Datum endete das Pachtverhältnis zwischen dem Freistaat Bayern und den Grundstücksbesitzern. Da die Abbruchfirma bauliche Überreste nicht vollständig abräumte, konnten die Besitzer die Fläche von sechs Tagwerk, etwa zwei Hektar, weder für Land- noch für die Forstwirtschaft nutzen (zum Briefwechsel in dieser Angelegenheit: Steiner: »Damit es nicht vergessen wird!«). Vom 28. April bis zum 20. September 2015 erinnerte eine Ausstellung über „Kriegsende und Nachkriegszeit im Landkreis Dachau 1945–1949“ im Augustiner-Chorherren-Museum in Markt Indersdorf auch an die Geschichte des Wohnlagers Wagenried. Vgl. GeschichtsWerkstatt im Landkreis Dachau. StAN LRA 282.

166 Au f n a h m e l a n d B ay e r n nete Facharbeiter direkt aus dem Lager.578 Eine Kommission westdeutscher Zechen warb Grubentaugliche an. Interessierte wurden sofort von einem Arzt im Krankenrevier untersucht. Volksdeutschen mit einer Zuzugsgenehmigung war es möglich, sofort zu ihren Verwandten zu ziehen. Der Suchdienst des Bayerischen Roten Kreuzes erfasste die Ungarn, um die Familien zusammenzuführen, die auf der Flucht getrennt worden waren. Sobald der Aufenthaltsort der bereits früher geflüchteten Angehörigen bekannt wurde, reisten die Ungarn zu ihren Familienmitgliedern. Studenten und Oberschüler wurden in Jugendheime überführt. In kürzester Zeit fanden viele Flüchtlinge andere Unterkünfte, so dass innerhalb einer Woche über hundert Ungarn das Lager verließen. In diesem Wirbel von Ereignissen mussten Flüchtlinge häufig Verständigungsschwierigkeiten überwinden und sich über aktuelle Angebote für Arbeit und Bildung informieren, wodurch große Unruhe entstand, was zu Unsicherheiten und Stress führte. Dieser Hochbetrieb überforderte nicht nur die Ungarn, sondern selbst die freiwilligen Helfer, die den Geflüchteten mit Rat und Tat zur Seite standen. Insbesondere die verantwortlichen Lagerleiter sahen sich plötzlich mit einer Vielzahl neuer Aufgaben konfrontiert. Flüchtlinge gaben sich in Voggendorf wie auch in Schalding im Büro der Lagerleitung die Türklinke in die Hand. Diversen Anliegen und dringenden Hilfeersuchen musste Rechnung getragen werden.579 Voggendorf stand vorübergehend auch als Durchgangslager zur Verfügung.580 Dennoch schrumpfte die

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16 Eisendreher fanden sofort in einer Maschinenfabrik Arbeit. Über hundert Ungarn verließen bereits Voggendorf. In: FL 11 (1956) 286, 7. Dezember, 7, in: StAN LRA 282. Menschenschicksale wie in einem endlosen Film. In: FL 11 (1956) 284, 5. Dezember, 10; Sie wollen nur in Freiheit leben. In: PNP 11 (1956) 200, 22. November, 5. Auf Initiative des Landrats Paul Keim sollte das Lager Voggendorf zu einem Regierungslager ernannt werden, damit ein Fünftel der Unterbringungskosten für die Ungarn von der Regierung von Mittelfranken und nicht vom Landkreis Feuchtwangen getragen werden musste. Das Flüchtlingsamt hatte mit der Betreuung der Ungarn einen größeren Aufwand und musste zusätzlich Personal für die Verwaltungsarbeit einstellen. Deswegen sollte die Regierung die Kosten ersetzen. Über den weiteren Verlauf geben die Akten keine Auskunft. Allerdings wird das Voggendorfer Lager in den Unterlagen des Bundesvertriebenenministeriums als Durchgangslager für Ungarnflüchtlinge angeführt. Das könnte mit der Abrechnung der Fürsorgekosten zusammenhängen. Vgl. StAN LRA 282; BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen und zuständige Ministerien. Bonn, 5. Mai 1958: Statistische Unterlagen über ausländische Flüchtlinge aus Ungarn. PAAA B 12, 572 c.

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Anzahl der Bewohner stetig, so dass im Januar 1957 die restlichen Bewohner mit denen von Oberelsbach nach Wagenried verlegt wurden.581 4. 2. 3. Jugendheime und Wohnungen Zahlreiche Jugendheime in Bayern nahmen Ungarn auf. Jungarbeiter, Lehrlinge, Oberschüler und Studenten wurden zeitnah auf Heime in Augsburg, Bamberg, Ebermannstadt, Günzburg, Ingolstadt, Lindau, Neu-Ulm, Neutraubling und München verteilt (siehe Tabelle 8).582 Bei der Ankunft brachten die Ungarn kaum mehr mit, als das, was sie am Leib trugen. Die Ausstattung an Kleidung und Gegenständen des täglichen Bedarfs erfolgte durch Spenden von Firmen und Privatpersonen, die mit Hilfe der Caritas und des Bayerischen Roten Kreuzes verteilt wurden. Im Wacker-Erholungsheim im Lindauer Stadtteil Bad Schachen, das die Wackerstiftung zur Verfügung stellte, wurden 52 Ungarn in Zwei-, Drei- und Vier-Bettzimmern untergebracht. Das sonst im Winter leerstehende Haus lag in einem Park am See und bot in seinen Zimmern mit fließend Kalt- und Warmwasser eine ideale Unterkunft.583 Im Jugendheim Burg Feuerstein in Ebermannstadt wurden Halbwüchsige nicht nur mit Mahlzeiten, sondern auch mit Zigaretten, Taschengeld und Fernsehern versorgt. Hier tranken die jungen Burschen zum ersten Mal Coca-Cola, das kapitalistische Getränk, und warteten neugierig auf seine Wirkung. Auch die Musikbox war für die Ungarn eine echte Neuheit.584 Im Lehrlingsheim St. Gunther des Sozialwerks der Ackermann-Gemeinde in Neutraubling wurden den Jugendlichen Filme, Vorträge und 581

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Nach der Zusammenlegung befanden sich 130 Ungarn in Wagenried. Erfolgreiche »Zweigstelle Wagenried«. In: DN 12 (1957) 19, 22. Januar, 3; Budapester Expressionist malt jetzt in Wagenried. In: DA 12 (1957) 16, 26. Januar 1957, 5. RD Nentwig (BayStMA) an BMVt. München, 4. Januar 1957: Belegung von Heimen mit ungarischen Flüchtlingen. Stand: 3. Januar 1957; Hannes Kramer (Eingliederungsberater des Deutschen Caritasverbandes, Landesverband Bayern, Beratungsstelle für heimatlose Ausländer) an BayStMA. München, 8. Januar 1957. BayHStA AM LFV 1913. Dr. Hauck – Dr. Hutter: Bericht über die Beratung ungarischer Studenten im WackerErholungsheim Lindau/Bodensee, Bad Schachener Straße, 11.–14. Dezember 1956. StAM LAA 5149; Diözesan-Caritasdirektor Oskar Jandl (Caritasverband der Erzdiözese München und Freising) an Wacker-Chemie GmbH. München, 6. Dezember 1956. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16. Coca-Cola, die es in Ungarn nicht zu kaufen gab, galt als Symbol für die imperialistischen Vereinigten Staaten von Amerika. Zeitzeugengespräch mit Pongrác Pastyik.

168 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Konzerte geboten. Das Jugendsozialwerk St. Michael in Neu-Ulm richtete Förderkurse für technisches Zeichnen, Werken und Mathematik ein. Auch Musizieren und Sportmöglichkeiten erweiterten das Angebot, da lange Untätigkeit vermieden werden sollte. Es mangelte aber an Musikinstrumenten, Fahrrädern und ungarischem Lesestoff sowie an Radio- und Fernsehgeräten, beklagten die Betreuer.585 Die Heime unterstützten die Jugendlichen bei der Vorbereitung auf das erste Semester oder das Berufsleben, wobei der Deutschkurs fester Bestandteil des Heimlebens war. Sobald die Jugendlichen einen Platz an der gewünschten Universität bekamen oder eine Arbeit aufnahmen, zogen sie aus den Heimen aus. Ab diesem Zeitpunkt wohnten sie in Firmenwohnungen oder privaten Unterkünften und verteilten sich im ganzen Bundesgebiet. Patenschaften586 und Kontakte mit der deutschen Heimjugend erleichterten die Gewöhnung an die neuen Verhältnisse.587 Im Vergleich dazu sei die Gastfamilienaktion von György Szentkereszty in Tirol erwähnt.588 Eine solche wäre auch in Bayern erfolgreich gewesen, denn die Bereitschaft, Kinder aufzunehmen, war sehr groß, wie die Zuschriften an die Caritas belegen. Es kamen aber nur wenige Kinder ohne Eltern in die Bundesrepublik Deutschland.589

4. 3. Bildungsangebote 61,9 Prozent der in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommenen Ungarn waren jünger als 25 Jahre. Der Anteil der Minderjährigen betrug 20,5 Prozent, etwa die Hälfte waren ohne Familie geflüchtet. Es handelte sich 585

586

587

588 589

Geschäftsführer Ruf (Vorstand Jugendsozialwerk, Neu-Ulm) an BayStMA. Neu-Ulm, 27. März 1957. BayHStA AM LFV 1885. Hier ging es weniger um eine finanzielle Förderung, sondern vielmehr um eine Ferienbetreuung bei deutschen Familien außerhalb der Schule. Patenschaft für 200 Ungarn. In: NüNa 30. April 1958, in: BayHStA AM LFV 1862; Flüchtlinge als Weihnachtsgäste. In: RT 116 (1956) 205, 24. Dezember, 2. Ebenda; [Frau oder Herr] Geier (Lehrlingsheim St. Gunther) an BayStMA. Neutraubling, 22. Februar 1957. BayHStA AM LFV 1885. Siehe dazu Kapitel I. 2. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465, 13. Diözesan-Caritasdirektor Oskar Jandl bekam zahlreiche Angebote für die Aufnahme und Adoption von Ungarnkindern: ADiCVMF II/ZTRVerband 16.

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überwiegend um alleinstehende junge Männer zwischen 14 und 25 Jahren, Frauen waren nur spärlich vertreten.590 Da die Ungarnflüchtlinge auf alle Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland verteilt wurden, beherbergte jedes Land eine unterschiedliche Anzahl an Schülern, Studenten und Jungarbeitern. Erstes Ziel war es, ihre Deutschkenntnisse zu verbessern, damit sie ihre Laufbahn an einer Schule oder Hochschule fortsetzen konnten. Ihre kulturelle Betreuung und schulische Bildung waren Aufgabe der Länder, in deren Zuständigkeit laut Artikel 30 des Grundgesetzes die Kultur- und Bildungspolitik fielen.591 Angesichts der unterschiedlichen Anzahl und der Vorkenntnisse und schulischen Interessen der Jugendlichen war es schwierig, eine einheitliche Verfahrenslinie festzulegen. Zwei Vorgehensweisen boten sich an: Entweder wurden die Ungarn in staatlichen deutschen Schulen unterrichtet oder man richtete eigene Schulen für sie ein. Allerdings erschwerten fehlende Sprachkenntnisse eine sofortige Integration in deutsche Schulklassen. Es stellte sich die Frage, ob jedes Land eigene Privatschulen einrichten oder eine zentrale Institution für alle jugendlichen Ungarn geschaffen werden sollte. Als Vorbild diente hierfür die ungarische Schule im baden-württembergischen Bauschlott bei Pforzheim, in der ungarische Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet wurden. Allerdings reichte die Kapazität dieser Schule für die große Anzahl an Anmeldungen nicht aus. Das Bundesvertriebenenministerium koordinierte die Bildungsaufgabe und bot finanzielle Hilfe an. Im Rahmen der Gesamtbetreuung der heimatlosen Ausländer legte das Ministerium großen Wert auf die Erhaltung der eigenen, also der ungarischen Kultur. Eine Assimilierung wurde nicht nur nicht angestrebt, sondern sogar abgelehnt.592 Der Deutsche Bundestag beschloss, den Ungarn eine eigenständige Kulturpflege und Fortsetzung des 590

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BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen und zuständige Ministerien. Bonn, 5. Mai 1958: Statistische Unterlagen über ausländische Flüchtlinge aus Ungarn. PAAA B 12, 572 c, 3; Die neue Flüchtlingsnot. Bayern tut, was in seinen Kräften steht. In: BSZ 29 (1956) 48, 1. Dezember, 3. In Bayern legt die Bayerische Verfassung in den Artikeln 128–144 die schulrechtlichen Grundsätze fest. Lehning: Bayerns Weg, 173. Am 4. Februar 1957 beschäftigte sich der Ausschuss für Heimatvertriebene mit der kulturellen Betreuung der Ungarn in der Bundesrepublik Deutschland. An der Sitzung nahmen Vertreter des Bundesvertriebenenministeriums, der Ständigen Konferenz der Kultusminister und des Bundesrates teil. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465.

170 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Bildungsweges zu ermöglichen.593 Diesen Ansatz förderte auch die Ständige Konferenz der Kultusminister, die für kulturelle Angelegenheiten von überregionaler Bedeutung aller Bundesländer zuständig war. Die Kreisverwaltungsbehörden und Landesflüchtlingsverwaltungen, örtliche Jugendbehörden sowie Wohlfahrtsorganisationen übernahmen die Betreuung der Ungarn in den Bundesländern. Gestützt auf Erfahrungen mit der Eingliederung der aus der DDR geflüchteten Jugendlichen wurde in erster Linie ein kurzer Lageraufenthalt und die baldige Unterbringung in Lehrlingsund Jugendheimen angestrebt. Statt Einzelunterbringung und Isolierung war die Zusammenfassung in Gruppen von entscheidender Bedeutung. 4. 3. 1. Ungarisches Gymnasium Burg Kastl bei Amberg in der Oberpfalz Etwa 450 bis 480 ungarische Oberschüler im Bundesgebiet wollten ihre Schulbildung fortsetzen.594 Im Februar 1957 erörterte der Bundestagsausschuss für Heimatvertriebene verschiedene Möglichkeiten der schulischen Betreuung jugendlicher Ungarn und unterbreitete den Vorschlag, alle Oberschüler in einer Internatsschule unterzubringen.595 Gegen eine Aufnahme der Ungarn in deutsche Schulen, den integrativen Ansatz,596 sprachen fehlende Deutschkenntnisse und Bildungslücken.597 Eine eigene 593

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2. Deutscher Bundestag. 181. Sitzung. Bonn, 14. Dezember 1956: Beratung des mündlichen Berichts des Ausschusses für Heimatvertriebene über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, FVP [Freie Volkspartei] und DP [Deutsche Partei] betr. Hilfe für ungarische Flüchtlinge und den Antrag der Fraktion der SPD betr. Hilfe für Flüchtlinge aus Ungarn. In: DBP 10036–10037. Abschrift: StAM LAA Südbayern 5149. Antrag des Ungarischen Schulvereins für die Einrichtung eines Gymnasiums mit Internat für ungarische Oberschüler an BMI mit Begründung und Beschreibung der Maßnahme. München, 28. Januar 1957. BayHStA AM LFV 1861. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465. In Bezug auf die Integration der Kinder der Gastarbeiter weist Schemmer: Internationalisierung, 99, auf den integrativen und exklusiven Ansatz hin. Erst ab den 1970er Jahren setzte sich das Integrationsmodell durch, so dass ausländische Kinder (in diesem Fall aus Griechenland) gemeinsam mit deutschen Kindern in staatlichen Schulen unterrichtet wurden. Die Kultusministerkonferenz beauftragte Oberregierungsrat Franz Treppesch vom Bayerischen Kultusministerium, sich mit den Belangen der ungarischen Schüler und Studenten zu befassen. Die Vertreter der Bundesländer in der Ständigen Konferenz der Kultusminister waren der Meinung, dass die Ungarn an einer deutschen Oberschule keinen erfolgreichen Schulabschluss mit Hochschulzugang erreichen konnten. Trotz der Bega-

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Schule für Ungarn gab es bereits in Bauschlott bei Pforzheim in BadenWürttemberg. Sie blickte auf eine jahrzehntelange Erfahrung zurück und pflegte ungarische Tradition und Sprache.598 Die staatlich anerkannte Oberschule in Bauschlott verfügte über ein Internat und nahm ab Oktober 1956 zu seinen 78 Schülern auch 96 Neuankömmlinge auf. Jedoch lagen darüber hinaus etwa 200 Anmeldungen vor, die wegen Platz- und Personalmangel nicht berücksichtigt werden konnten.599 Die ungarische Exilschule war kein Präzedenzfall, da es bereits ein privates litauisches Gymnasium im Schloss Rennhof in Baden-Württemberg sowie eine lettische Schule in Münster, Nordrhein-Westfalen, gab. Die Schüler dieser Schulen kamen ebenfalls aus dem gesamten Bundesgebiet, dennoch beteiligten sich die Bundesländer nicht an deren laufenden Kosten (siehe Tabelle 12).600

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bung der Ungarn hielten sie einen eigenen Lehrplan und separaten Unterricht für erforderlich. BMI Schröder an Innenminister der Bundesländer. Bonn, 14. Mai 1957. BayHStA AM LFV 1861. Nach 1945 lebte eine ungarischstämmige Gruppe im Freistaat Bayern, die ihrem Nachwuchs die Weiterführung der schulischen Traditionen ermöglichen wollte. Im Lager Passau-Waldwerke, in Rosenheim, in Niederaudorf-Reisach, in Plattling und in Künzing entstanden ungarische Schulen, deren Schülerzahl aufgrund von Heimkehr und Emigration stetig sank. Mit der Zusammenlegung aller Schüler ab 1951 bot Lindenberg, ab 1954 das Jagdschloss in Bauschlott den Ungarn ein neues Zuhause. Ungarische Lehrer, zumeist selbst Flüchtlinge, übernahmen den Unterricht und organisierten den Alltag der Jugendlichen. Galambos: Kastl; Kiss: Magyarok Németországban; Koncz: …az írás megmarad; 20 Jahre Ungarisches Gymnasium 17–35. Oberseelsorger György Ádám und Imre Baron Pongrácz (Ungarischer Schulverein) an BMI Schröder. München, 19. Juli 1957: Namenslisten der gemeldeten und abgelehnten Schüler. BayHStA AM LFV 1861. MR Preuss (BayStMA) an BayStMUK. München, 31. Oktober 1958. BayHStA AM LFV 1861. Mit Schreiben vom 1. April 1958 an den Ungarischen Schulverein lehnte das Land Nordrhein-Westfalen ab, sich an den Kosten des Ungarischen Gymnasiums zu beteiligen, da es bereits alle Lasten der lettischen Schule trug. MR Seemeier (BayStMA) an Arbeits- und Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen. München, 28. Mai 1957. BayHStA AM LFV 1861.

172 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Tabelle 12: Exil-Gymnasien in der Bundesrepublik Deutschland, 1963601 Herkunftsländer der Lettisches Ungarisches Litauisches Schüler Gymnasium Gymnasium Gymnasium Münster Burg Kastl, Schloss Rennhof (Nordrhein- Landkreis (Hemsbach, BadenWestfalen) Neumarkt/ Württemberg), seit Oberpfalz 1983 Lampertheim (Bayern) (Hessen) Baden-Württemberg 7 29 14 Bayern 9 84 15 Berlin – 1 – Bremen – 1 – Hamburg 7 2 5 Hessen 1 4 7 Niedersachsen 10 1 16 Nordrhein-West49 26 17 falen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein Bundesrepublik Deutschland insgesamt Ausland insgesamt Schüler insgesamt

Insgesamt

50 108 1 1 14 12 27 92

1 – 4 88

3 3 – 154

8 3 2 87

12 6 6 329

3 91

102 256

1 88

106 435

Der Ungarische Caritas Dienst,602 eine der seit 1945 tätigen Hilfsorganisationen in Bayern, stellte beim Bonner Innenministerium einen Antrag auf Errichtung eines ungarischen Gymnasiums mit Internat.603 Zu diesem Zweck wurde der Ungarische Schulverein als Träger der Schule gegründet, in dem sich kirchliche und weltliche ungarische Exilinstitute sowie Wohl-

601

602 603

Auszug aus dem Ergebnisprotokoll vom 28. Mai 1963 des Bundesvertriebenenministeriums in Bonn über Fragen der ausländischen Flüchtlinge. Punkt 2: Finanzierung der Exil-Gymnasien. BayHStA AM LFV 1861. Siehe dazu Kapitel IV. 3. 3. MR Seemeier (BayStMA) an BMI Schröder. München, 14. April 1957. BayHStA AM LFV 1861.

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fahrtsverbände zusammenschlossen.604 Zum ersten Vorsitzenden wurde György Ádám gewählt, Oberseelsorger der Ungarn in der Bundesrepublik Deutschland, der bis zu seinem Tod 1978 dieses Amt innehatte.605 Der Schulverein bezweckte die schulische, erzieherische, geistige, religiöse und materielle Förderung heimatloser ungarischer Schülerinnen und Schüler im christlichen und europäischen Geiste, mit besonderer Berücksichtigung der ungarischen Muttersprache, Literatur, Geschichte und Landeskunde.606 Die Verantwortlichen versicherten in einer schriftlichen Erklärung, keine nationalungarische Propaganda zu betreiben.607 Da der Schulverein kein Schulgebäude besaß, stellte er einen Antrag auf Zuschuss für den Bau eines Gymnasiums mit Internat aus dem 8. Bundesjugendplan, der Mittel für die Eingliederung jugendlicher Zuwanderer vorsah.608 Die Finanzierung des Projekts war umstritten. Da eine einzige Schule für das gesamte Bundesgebiet geplant war, wurde erwartet, dass sich alle Länder an der Finanzierung beteiligten. Nach langwieriger Suche 604

605 606

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Dem Schulverein gehörten der römisch-katholische Seelsorger für die Ungarn in Deutschland, der Leiter des ungarischen reformierten (calvinistischen) Seelsorgedienstes in Deutschland, der Leiter des ungarischen evangelisch-lutherischen Seelsorgedienstes, der Leiter der Ungarischen Flüchtlingskanzlei, der Leiter des Ungarischen Hilfsdienstes, der Beauftragte des Ungarischen Caritas Dienstes, der Beauftragte der Actio Catholica Hungarorum in Germania, der Vorsitzende des Studienwerkes für heimatvertriebene Schüler und Schülerinnen (Recklinghausen), der Beauftrage des territorial zuständigen Caritasverbandes, der Direktor des Katholischen Auslandssekretariats und der Vertreter der Hauptgeschäftsstelle der Inneren Mission und des Hilfswerks der evangelischen Kirche Deutschlands an. Der Verein wurde am 17. April 1957 im Vereinsregister (Bd. 48, Nr. 51) mit Sitz in der Gabelsbergerstraße 23/IV in München eingetragen. BayStMA an Kultusminister der Länder. München, 24. Februar 1958: Satzung des Ungarischen Schulvereins. BayHStA AM LFV 1861. 20 Jahre Ungarisches Gymnasium 37. Artikel 2 der Satzung des Ungarischen Schulvereins. BayStMA an Kultusminister der Länder. München, 24. Februar 1958. BayHStA AM LFV 1861. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465; Sitzung der Sonderkommission 5 (BMI). Bonn, 19. Oktober 1957: Ergebnis der Beratung über den Antrag des Ungarischen Schulvereins vom 14. Oktober 1957; Oberseelsorger György Ádám an BMI Schröder. München, 21. Oktober 1957. BayHStA AM LFV 1861, 7. Den ersten Antrag vom 28. Januar 1957 stellte der Ungarische Caritas Dienst München an den Bundesinnenminister. Daraufhin lief das Verfahren über den Deutschen Caritasverband (Freiburg/Breisgau) und über das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge. MR Seemeier (BayStMA) an BMI Schröder: Antrag auf Förderung von Schülerinternaten aus dem 8. Bundesjugendplan. München, 18. April 1957. BayHStA AM LFV 1861.

174 Au f n a h m e l a n d B ay e r n wurde ein Standort im Freistaat Bayern gefunden, weshalb die Federführung Bayerns für dieses Projekt unumstritten war. Dennoch sollte Bayern die finanzielle Last nicht allein tragen. Der Schulverein legte eine Bewerberliste mit 306 ungarischen Oberschülern vor: Baden-Württemberg 69, Bayern 73, Hamburg 6, Hessen 31, Niedersachsen 27, Nordrhein-Westfalen 85, Rheinland-Pfalz 10, Schleswig-Holstein 5. Von den jeweiligen Ländern wurde eine Mitfinanzierung erbeten.609 Die 73 bayerischen Anmeldungen stammten aus verschiedenen Städten, mehr als die Hälfte kam aus München.610 Wie der zuständige Ministerialdirektor im Bundesvertriebenenministerium bemerkte, sprach allein die hohe Zahl an Anmeldungen für die Gründung einer Exilschule. August R. Lindt, Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, befürwortete die Förderung des Bildungsprojektes für die Flüchtlingskinder. Trotzdem waren Erfolg und Finanzierbarkeit der Schule unter den Verantwortlichen umstritten.611 Ministerialdirigent Schönfeld (BMI, Gruppe Jugend) prophezeite, dass die Schule nicht länger als fünf Jahre bestehen würde, da durch Aus- und Rückwanderung die Zahl der Jugendlichen ständig sank. Zudem befürchtete der Vorsitzende der Sonderkommission 5 für Jugendfragen des Bundesinnenministeriums, Günther Feuser, dass andere größere Emigrantengruppen, wie die Polen, Ukrainer, Russen und Litauer, ähnliche Wünsche äußern könnten. Eine wesentliche Reduzierung der Schülerzahl ergebe sich auch, wenn die Ungarn nach Begabung eingeteilt würden.612

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MR Seemeier (BayStMA) an BMI Schröder. München, 21. Mai 1957: 8. Bundesjugendplan, Förderung von Schülerinternaten. BayHStA AM LFV 1861. Antrag des Ungarischen Schulvereins auf Zuschuss aus dem 8. Bundesjugendplan. München, 10. April 1957. BayHStA AM LFV 1861. Laut Namensliste kamen folgende Anmeldungen für die Ungarische Schule aus Bayern: Amberg 1, Aschaffenburg 2, Berchtesgaden 1, Erlangen 1, Fürth 2, Garmisch-Partenkirchen 1, Grafenaschau/Murnau 5, Günzburg 1, Ingolstadt 3, München 40, Münchingen 1, Nürnberg 1, Percha/Starnberg 1, Piding/Lager 3, Rogglfing 2, Schondorf 1, Uffenheim 1, Wagenried/Lager 2, Weilheim 1, Zirndorf 1. Für das Projekt war das Bundesinnenministerium, nach 1957 das Bundesministerium für Familie und Jugendfragen zuständig. Im Freistaat Bayern waren die Staatsministerien für Arbeit, Unterricht und Kultus, der Finanzen und des Innern mit der Schulgründung beschäftigt. Vermerk von Sozialreferent Maurer über Sitzung im BayStMUK am 23. Juli 1957. BayHStA AM LFV 1861.

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Trotz dieser Bedenken reichte der Ungarische Schulverein einen Antrag mit einem Wirtschafts- und Ausbildungsplan sowie einer Namensliste des Lehrkörpers beim Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus ein, das für die Anerkennung nichtstaatlicher Bildungsinstitute zuständig war. Im Frühjahr 1957 begann die intensive Suche nach einem geeigneten Anwesen. Vorschläge gingen aus sämtlichen Regierungsbezirken beim Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge ein. Die Quellen aus der Landesflüchtlingsverwaltung dokumentieren die eingehende Diskussion über die in Erwägung gezogenen Objekte: das ehemalige Kloster Wessobrunn im Besitz der Missions-Benediktinerinnen Tutzing,613 das Schloss Schwarzenfeld (Oberpfalz),614 Donar Spezialfabrik Grafenau (Niederbayern),615 das Parkhotel in Bad Tölz616 und das Kurheim Wiggers in Garmisch-Partenkirchen.617 Schließlich stellte Johannes Maurer, Ministerialreferent des bayerischen Arbeitsministeriums, die Vermietung der Klosterburg Kastl bei Amberg in der Oberpfalz zur Diskussion.618 Daraufhin besichtigte eine Kommission aus Bonn und München die einem 613

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Oberseelsorger Ádám an BMI Schröder. München, 28. Januar 1957. BayHStA AM LFV 1861. Vorschlag von Herrn Niemann (Regierung Oberpfalz) an BayStMA. [O. O.], 3. Juni 1957. BayHStA AM LFV 1861. [Frau oder Herr] Seuss (Oberfinanzdirektion) an BayStMA. München, 22. Juli 1957. BayHStA AM LFV 1861. Eine Ortsbesichtigung fand am 9. August 1957 statt, an der Oberregierungsrat Kobe (BMI), Oberseelsorger György Ádám (Ungarischer Schulverein), Oberbaurat Strobl (Landbauamt Weilheim) und Ministerialrat Seemeier (BayStMA) teilnahmen. Da jedoch bei diesem Projekt eine Finanzierungslücke entstanden wäre, wurden andere Vorschläge herangezogen, so Buchenhöhe (Obersalzberg) und das ehemalige Klostergebäude Rottenbach (Landkreis Schongau). Vermerk von MR Seemeier und von Sozialreferent Maurer (BayStMA). München, 12. und 19. August 1957. BayHStA AM LFV 1861. Die Verwendung des Kurhotels als Schulgebäude stieß in den Kreisen der Partenkirchener Bevölkerung auf Widerstand. Trotzdem meinte der Bürgermeister von Markt Garmisch-Partenkirchen, dass das Projekt dem Ortsteil Impulse geben würde (erster Bürgermeister Georg Schütte an BayStMUK. Markt Garmisch-Partenkirchen, 3. August 1957). Wegen der Proteste beschloss der Ungarische Schulverein, vom Projekt in Garmisch-Partenkirchen abzusehen. MR Seemeier an Staatssekretär Karl Weishäupl. München, 9. September 1957. BayHStA AM LFV 1861. Der Vorschlag kam vom Bayerischen Staatsministerium der Finanzen und wurde von Ministerialreferent Maurer laut eigenen Vermerks vom 19. September 1957 in der Sitzung der Sonderkommission 5 des Bundeskuratoriums für Jugendfragen beim Bundesministerium des Innern am 17. September 1957 in Bonn vorgetragen. BayHStA AM LFV 1861.

176 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Landschulheim gewidmeten Räume. Allseits wurde das Objekt für die ungarische Oberschule für geeignet befunden.619 Der umfangreiche Gebäudekomplex der Klosterburg Kastl nahe Nürnberg, eine ehemalige Benediktinerabtei, liegt auf einem Berg oberhalb der Ortschaft Kastl mitten in der Oberpfalz. Die Klosterburg war im Besitz des Freistaats Bayern und wurde im Jahr 1957 für Schul- und Internatszwecke umgebaut.620 Die Räume des Klosters eigneten sich gut für die Errichtung eines Internats mit 240 Plätzen, aber es fehlten Klassenzimmer, Lehrerzimmer und Lehrmitteln. Außerdem brauchte die Schule einen Gymnastikraum, eine Bibliothek, eine Wäscherei und eine Küche. Das Obergeschoss mit 60 Plätzen war nur für Mädchen vorgesehen, da die Schule sowohl Mädchen als auch Jungen aufnehmen wollte.621 Nachdem der Standort festgelegt worden war, stellte der Ungarische Schulverein seinen Erstantrag vom 28. Januar 1957 auf das Projekt Burg Kastl um und reichte erneut seinen Kosten- und Finanzierungsplan samt 619

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An der Besichtigung der Burg Kastl am 21. September 1957 nahmen Oberstudiendirektor und Ministerialbeauftragter für das höhere Schulwesen der Oberpfalz Johann Bengl vom alten Realgymnasium Regensburg im Auftrag des bayerischen Kultusministeriums, Regierungsrat Maier vom Landbauamt Amberg (Oberpfalz) im Auftrag des bayerischen Finanzministeriums und Innenministeriums (als oberste Baubehörde), Oberseelsorger György Ádám, Baron Pongrácz, Pater Galambos (vorgesehener Schuldirektor) vom Ungarischen Schulverein, der beauftragte Architekt Gärtner aus München und Ministerialreferent Johannes Maurer vom bayerischen Arbeitsministerium teil (Protokoll der Besichtigung am 25. September 1957. BayHStA AM LFV 1861). Eine weitere Ortsbesichtigung fand am 28. Oktober 1957 statt, wobei Oberregierungsrat Kobe das Bundesinnenministerium, Oberregierungsrat Wolfrum das Bundesvertriebenenministerium und Günther Feuser die Sonderkommission 5 für Jugendfragen vertraten. G. Feuser: Protokoll der Besichtigung am 28. Oktober 1957 in Burg Kastl. 10. November 1957. BayHStA AM LFV 1861. Die Klosteranlage diente früher nicht nur klösterlichen und schulischen Zwecken. Sie war Arbeitslager für Frauen, danach Flüchtlingslager und nach Kriegsende Kaserne der Besatzungsmacht. Anschließend stand der Gebäudekomplex mehrere Jahre leer. Anton Fingerle, Vorsitzender des Verbands Bayerischer Schullandheime, leitete die Vorbereitungen zum Umbau. Vermerk von Sozialreferent Johannes Maurer (BayStMA) vom 19. September 1957. BayHStA AM LFV 1861; Burg Kastl wird ungarische Realschule. In: PNP 12 (1957) 258, 9. November, 3. Vermerk von Sozialreferent Johannes Maurer (BayStMA) über die Errichtung einer ungarischen Oberschule mit Internat in Burg Kastl, Landkreis Neumarkt (Oberpfalz): Projektbesichtigung am 25. September 1957. BayHStA AM LFV 1861; Oberstudiendirektor und Ministerialbeauftragter Johann Bengl an BayStMUK. Regensburg, 23. September 1957: Realgymnasium mit Internat für ungarische Schüler in Burg Kastl. BayHStA AM LFV 1861.

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Wirtschaftlichkeitsberechnung, Unterrichtsplan und Liste der vorgesehenen Lehrer in Bonn ein.622 1957 hatte der Freistaat Bayern bereits mit dem Ausbau der Burg begonnen und 574.000 Deutsche Mark als Vorleistung investiert. Die gesamte Finanzierung für Bau und Einrichtung der Ungarischen Schule belief sich auf 1.306.000 Deutsche Mark, davon 541.000 Deutsche Mark für die Schule und 765.000 Deutsche Mark für das Internat. Der Ungarische Schulverein besaß 300.000 Deutsche Mark Eigenmittel: 200.000 Deutsche Mark Zuschuss des Deutschen Caritasverbands und 100.000 Deutsche Mark Spenden. Außerdem beteiligten sich die Bundesländer mit einem Zuschuss von 122.000 Deutsche Mark (hiervon Bayern mit 30.000 Deutsche Mark) und das Deutsche Rote Kreuz mit 100.000 Deutsche Mark am Ausbau. Für die Deckung der Ausbaukosten wurden 210.000 Deutsche Mark aus dem 8. Bundesjugendplan bereitgestellt (siehe Tabelle 13). Tabelle 13: Finanzierungsplan für das Ungarische Gymnasium mit Internat in Burg Kastl, 1957623 Schule Internat Eigenmittel des Ungarischen 185.000 DM 115.000 DM Schulvereins Bayern (Vorleistung) 134.000 DM 440.000 DM Bundesländer (hiervon 122.000 DM Bayern 30.000 DM) Deutsches Rotes Kreuz 100.000 DM Bund (8. Bundesjugendplan) 210.000 DM Insgesamt 541.000 DM 765.000 DM

Gesamt 300.000 DM 574.000 DM 122.000 DM 100.000 DM 210.000 DM 1.306.000 DM

Nach Fertigstellung blieb der Gebäudekomplex weiterhin im Besitz des Freistaats Bayern und wurde an den Ungarischen Schulverein verpach-

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Ungarischer Schulverein an BMI. München, 14. Oktober 1957: Antrag auf Gewährung eines Zuschusses aus dem 8. Bundesjugendplan. BayHStA AM LFV 1861. Vermerk von Sozialreferent Johannes Maurer (BayStMA) über die Errichtung einer ungarischen Oberschule mit Internat in Burg Kastl, Landkreis Neumarkt (Oberpfalz): Projektbesichtigung am 25. September 1957. BayHStA AM LFV 1861, 5.

178 Au f n a h m e l a n d B ay e r n tet.624 Deshalb wurden kleinere Baumaßnahmen sowie Bewirtschaftungskosten vom Ungarischen Schulverein getragen.625 Von den Ländern wurde nicht nur die Beteiligung an der Errichtung des Schulkomplexes erbeten, sondern auch an dessen laufenden Betriebskosten (siehe Tabelle 14). Der Jahreszuschuss der Länder wurde auf Vorschlag des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus auf 200 Deutsche Mark je Schüler festgelegt. Mit der Zahlung eines einmaligen Zuschusses waren Bremen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein einverstanden, nicht aber mit den laufenden Betriebskosten. Der Ungarische Schulverein war jedoch auf die jährlichen Zuschüsse der Länder angewiesen, um den Schulbetrieb aufrecht erhalten zu können. Unter Berücksichtigung der Kostenbeteiligung der Länder legte er den Schulgeldbetrag auf monatlich 30 Deutsche Mark pro Schüler fest. In der Sitzung der Ständigen Konferenz der Kultusminister am 19. August 1958 im rheinland-pfälzischen Leinsweiler wehrten sich die Länder jedoch gegen die Kostenbeteiligung.626 Dadurch verzögerten sich die Zahlungen, und der Ungarische Schulverein musste 1958 beim Bayerischen Staatsministerium des Innern einen Vorschuss für den Schulbetrieb aus Mitteln des Garantiefonds des Bundeshaushalts beantragen. Franz-Josef Wuermeling, Bundesminister für Familien- und Jugendfragen, betonte die besondere politische Bedeutung sowie die schulpädagogische Notwendigkeit des ungarischen Realgymnasiums und forderte die Länder am 9. August 1958 auf, 624

625

626

Am 16. November 1957 schloss der Ungarische Schulverein (Imre Baron Pongrácz, Schatzmeister) mit dem Bayerischen Staatsministerium der Finanzen (MD Kiefer) einen Pachtvertrag mit einer Laufzeit von 30 Jahren ab. Nach Ablauf dieses Zeitraums sollte sich der Vertrag um jeweils ein Jahr verlängern. Im Falle einer vorzeitigen Kündigung würde der Deutsche Caritasverband Freiburg den Pachtvertrag übernehmen. Die Pacht betrug jährlich 12.000 Deutsche Mark. BayHStA AM LFV 1861. Bayern trug im Wesentlichen die Kosten der Instandsetzung und Einrichtung der ungarischen Schule, was von Ministerialdirektor Bachl beanstandet wurde. Im Gegensatz dazu klagten andere Bundesländer, dass Bayern als Eigentümer des Gebäudekomplexes durch Bundes- und Landesmittel bereichert worden sei. Der Bundeszuschuss aus dem Bundesjugendplan war für die Ausstattung, aber nicht für den Bau des Internats vorgesehen. Vgl. MD Bachl (BayStMUK) an BayStMA. München, 9. Januar 1958; Otto-Werner Gehring (BMFJ) an BayStMA. Bonn, 9. Mai 1962 und 22. August 1962. BayHStA AM LFV 1861. MR Preuss (BayStMA) an BayStMUK. München, 31. Oktober 1958. BayHStA AM LFV 1861. Abdruck an Bayerisches Staatsministerium für Finanzen und den Ungarischen Schulverein.

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ihre in Aussicht gestellten und bewilligten Beiträge zu überweisen, denn mit der Schaffung dieses Instituts für das gesamte Bundesgebiet entfalle die Bildungsaufgabe und Errichtung von Einrichtungen gleicher Art in den einzelnen Ländern.627 Die Ausnahme war der Freistaat Bayern, der mit dem Standort den Hauptanteil an der Realisierung des Schulprojekts trug. Die finanzielle Hilfe wurde nicht im Verhältnis der in den Bundesländern untergekommenen ungarischen Oberschüler, sondern nach dem Königsteiner Schlüssel errechnet.628 Tabelle 14: Zuschüsse der Bundesländer an das Ungarische Gymnasium in Burg Kastl, 1958 (in DM)629 Bundesland

Baden-Württemberg Bayern Berlin Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Schleswig-Holstein Insgesamt

627 628 629

Einmaliger Zuschuss 16.922,62 19.622,48 4.812,90 1.820,24 6.034,12 10.313,88 13.662,78 36.620,74 6.900,32 5.289,92 122.000

Laufender Zuschuss 300 Schüler 8.322,60 9.650,40 2.367,00 895,20 2.967,60 5.072,40 6.719,40 18.010,20 3.393,60 2.601,60 60.000

für Betriebskosten (pro Jahr) 326 Schüler 9.043,892 10.486,768 2.572,140 972,784 3.224,792 5.512,008 7.301,748 19.571,084 3.687,712 2.827,072 65.200

Ebenda. Siehe dazu Kapitel III. 3. 1. Ministerialrat Seemeier dokumentierte die Diskussion über die Finanzierung mit den Argumenten der Bundesländer und hielt die Baukosten in einem neunseitigen Schreiben fest. MR Seemeier (BayStMA) an betroffene Ministerien der Bundesländer. München, 24. Februar 1958: Errichtung eines Realgymnasiums mit Internat für die in der Bundesrepublik Deutschland befindlichen ungarischen Oberschüler. BayHStA AM LFV 1861. Drei Nachkommastellen im Original.

180 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Am 18. Dezember 1957 erteilte der bayerische Kultusminister Theodor Maunz630 dem Ungarischen Realgymnasium Burg Kastl die Genehmigung zum Schulbetrieb.631 Zum Leiter der neu geschaffenen Einrichtung wurde der Benediktiner Ferenc Iréneusz Galambos ernannt.632 Schule und Internat unterstanden dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Die Schule berichtete an den Ministerialbeauftragten für das höhere Schulwesen in der Oberpfalz, der auch die Aufsicht führte. Die bayerische Schulordnung für höhere Schulen sowie die Schulordnung des Ungarischen Realgymnasiums vom 6. November 1957 regelten den Schulbetrieb. Die Reifeprüfung legten die ungarischen Schüler vor einer Kommission ab, deren Vorsitzende und Mitglieder vom bayerischen Kultusministerium berufen wurden. Neun vom Ungarischen Schulverein vorgeschlagenen Lehrkräfte bekamen die Genehmigung zum Unterricht ohne Nachweis einer Lehrbefähigung. Die übrigen notwendigen Lehrkräfte benötigten die Genehmigung des Bayerischen Kultusministerium für das Lehramt an höheren Schulen.633 Da sich die Instandsetzung des Gebäudes verzögerte, begann der Unterricht am 15. Oktober 1957 mit einer provisorischen Beschulung und Unterbringung in München-Fürstenried. Weihbischof Johannes Neuhäusler ermöglichte diese Übergangslösung im Exerzitienhaus des Erzbischöflichen Ordinariats, in das 194 ungarische Oberschüler einzogen, bis sie Anfang 1958 nach Burg Kastl übersiedelten. Die unteren Jahrgänge mit 132

630

631

632

633

Zur Tätigkeit von Theodor Maunz (CDU) als bayerischer Kultusminister 1957 bis 1964: Lehning: Bayerns Weg, 594–642. Staatsminister Maunz an Oberseelsorger Ádám (Vorsitzender des Ungarischen Schulvereins). München, 18. Dezember 1957: Genehmigung zum Antrag vom 15. November 1957. BayHStA AM LFV 1861. Er war Gymnasiallehrer für Deutsch und Ungarisch. 1953 erlangte er in Budapest das Doktorat der Theologie. Nach dem Ungarnaufstand 1956 flüchtete er aus Budapest, war Flüchtlingsseelsorger in Traiskirchen, von 1957 bis 1966 Direktor und von 1966 bis 1968 Lehrer des Ungarischen Gymnasiums in Burg Kastl. Nachfolger von Galambos war Ferenc Harangozó, von letzterem ab 1973 János Radics. Schulträger war der Ungarische Schulverein mit Monsignore György Ádám, dem ungarischen Oberseelsorger als erstem Vorsitzenden. Nach dessen Tod 1978 folgte Oberstudiendirektor Franz Mandl. Staatsminister Maunz an Oberseelsorger Ádám. München, 18. Dezember 1957. BayHStA AM LFV 1861; 20 Jahre Ungarisches Gymnasium 7–10, 48; Dr. Galambos ist verstorben. Staatsminister Maunz an Oberseelsorger Ádám. München, 18. Dezember 1957. BayHStA AM LFV 1861.

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181

Schülern verblieben bis September 1959 in Bauschlott bei Pforzheim (siehe Tabelle 15).634 Tabelle 15: Liste der für das Ungarische Gymnasium in Burg Kastl vorgesehenen Schüler in Fürstenried und Bauschlott, 1958635 Land Baden-Württemberg Bayern Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Schleswig-Holstein Insgesamt

Fürstenried 47 63 1 1 6 16 49 6 5 194

Bauschlott 68 38 – 1 4 5 13 3 – 132

Insgesamt 115 101 1 2 10 21 62 9 5 326

Zur offiziellen Eröffnungsfeier am 13. Mai 1958 kamen über 200 Gäste, darunter Repräsentanten der Bundes- und Landesregierungen, kirchliche Würdenträger, Vertreter der ausländischen und ungarischen Hilfsorganisationen sowie zahlreiche ungarische Flüchtlinge.636 Walter Stain hielt 634

635

636

Am 1. Januar 1958 zogen drei Klassen der Oberstufe aus Fürstenried samt Direktorat und Verwaltung und im September 1959 die Klassen der Unter- und Mittelstufe aus Bauschlott in die Klosterburg ein. Oberseelsorger Ádám (Vorsitzender Ungarischer Schulverein) an BayStMA Walter Stain. München, 24. Januar 1958. BayHStA AM LFV 1861; 20 Jahre Ungarisches Gymnasium 39. MR Seemeier (BayStMA) an zuständige Ministerien der Bundesländer. München, 24. Februar 1958: Errichtung eines Realgymnasiums mit Internat für die in der Bundesrepublik Deutschland befindlichen ungarischen Oberschüler. Anlage 2: Namentliche Liste der für das Ungarische Realgymnasium Burg Kastl vorgemerkten, in den Heimschulen Schloss Fürstenried und Bauschlott befindlichen ungarischen Schüler. BayHStA AM LFV 1861. Am Festakt nahmen unter anderen teil Gerhard Wolfrum, Ministerialrat des Bundesministeriums für Vertriebene, Otto Schedl, bayerischer Wirtschaftsminister, Josef Ulrich, Regierungspräsident aus Regensburg, Erzherzog Josef, Joseph Schröffer, Bischof von Eichstätt, und Oberstudiendirektor Johann Bengl, Ministerialbeauftragter für das Höhere Schulwesen der Oberpfalz. Jahresbericht des Ungarischen Gymnasiums 1957/1958, 20; 20 Jahre Ungarisches Gymnasium 44–45.

182 Au f n a h m e l a n d B ay e r n die Festrede zur Eröffnung der ungarischen Schule außerhalb Ungarns. Der Staatsminister und stellvertretender Ministerpräsident sprach über ein neues Europa, in dem die Völker die Freiheit bewahren und in freier Selbstbestimmung ihre Staatsform, die Form des Zusammenlebens, gestalten können. Dabei zitierte er den ungarischen Exil-Dichter Tibor Tollas,637 der über die Donau schrieb: »[…] vom Donaustrom mit seinen vielen Grenzen der Vergangenheit, die in Zukunft keine Grenzen mehr sein dürfen«. Stain blickte auf die welthistorischen Hintergründe dieser Schuleinweihung zurück, wobei er auch die Flucht und Vertreibung Deutscher erwähnte. Zuvor waren es Deutsche gewesen, nun waren es Ungarn, die um Hilfe baten, die teilweise nicht einmal der Landessprache mächtig waren. »Unser höchstes Ziel in Deutschland« sollte sein, umriss Staatsminister Stain das Bildungsvorhaben für Kastl, dass sich die jungen Ungarn zu noch besseren Ungarn entwickeln, damit sie »eines Tages als gut ausgebildete Rückkehrer« den zu Hause Gebliebenen beim Aufbau eines neuen Ungarn in einem neuen Europa helfen und Partner der Deutschen sein würden. Diesen Worten war zu entnehmen, dass dem Redner die Pflege der ungarischen Sprache und Kultur der Heimat wichtiger war, als die Eingliederung in die deutsche Gesellschaft.638 Die Unterrichtssprache in Kastl war mit Ausnahmegenehmigung Ungarisch. Deutsch war erste Fremdsprache, Englisch kam ab der 7. Klasse, Latein ab der 9. Klasse hinzu. In dem vom bayerischen Kultusministerium vorgeschriebenen Lehrplan standen neben der naturwissenschaftlichen und historisch-politischen Bildung auch die religiöse und musische Erziehung sowie Sport und Handarbeit, zusätzlich wurde ungarische Geschichte unterrichtet. Außer der Vermittlung von Wissen und Können waren Pflege und Erhalt der ungarischen Sprache, Kultur und Traditionen von besonderer Bedeutung. Auch ungarische Volkskultur wurde im Schulprogramm angeboten. Eine Volkstanzgruppe und ein Schülerchor trugen ungarisches Brauchtum in vielen Großstädten vor.639

637

638

639

Auch Tibor Tollas flüchtete 1956 aus Ungarn. Er war Schriftsteller, Journalist und Verleger der Exilzeitschrift „Nemzetőr“ (Donau-Bote). Zitat aus der Festrede von Staatsminister Stain in: Jahresbericht des Ungarischen Gymnasiums 1957/1958, 8. Festrede von Staatsminister Stain bei der offiziellen Eröffnung am 13. Mai 1958 in: Jahresbericht des Ungarischen Gymnasiums 1957/1958, 8–9. 20 Jahre Ungarisches Gymnasium 77.

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Im Juni und Juli 1958 wurden zum ersten Mal Abiturprüfungen am Ungarischen Gymnasium in Kastl vor einer staatlichen Prüfungskommission abgelegt. Von 46 Schülern bestanden 44 die Reifeprüfung, die mit der eines deutschen Gymnasiums gleichwertig war und zu einem Studium an deutschen Universitäten berechtigte. Einige Schüler erzielten sogar ein ausgezeichnetes Gesamtergebnis. Johann Bengl, Ministerialbeauftragter für das Höhere Schulwesen der Oberpfalz, Oberstudiendirektor am Alten Gymnasium Regensburg und Vorsitzender der Prüfungskommission, lobte bei seiner Beurteilung der ersten Reifeprüfung vom 12. Juli 1958 insbesondere die Fortschritte in Deutsch.640 In den folgenden drei Jahren legten weitere 134 ungarische Oberschüler erfolgreich das Abitur, was als Beweis für die Bewährung des Gymnasiums betrachtet wurde.641 Aber bereits im Schuljahr 1960/1961 ging die Schülerzahl rapide zurück und führte zu einer existenzbedrohenden Krise. Zu dieser Zeit sank auch in ganz Bayern die Zahl der Gymnasiasten, was mit den bis 1953 schwachen Geburtenraten zusammenhing.642 Das Ungarische Gymnasium verpflichtete sich, ausschließlich ungarische Schüler aus der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen.643 Die Schulleitung war jedoch der Meinung, dass man durch Bekanntmachung des Exilgymnasiums außerhalb der Bundesrepublik mehr Schüler aus dem Ausland gewinnen könnte. Durch die sinkende Schülerzahl fehlten auch die Einnahmen aus dem Schul- und Internatsgeld der Eltern, so dass die Schule vor enormen finanziellen Problemen stand. So blieben hauptsächlich Spenden 640 641

642

643

Ebenda, 47. Vgl. Jahresbericht des Ungarischen Gymnasiums 1957/1958, 21–24. MR Preuß (BayStMA) an BMFJ Franz-Josef Wuermeling. München, 7. Juli 1961. BayHStA AM LFV 1861. 1953 erreichte die Zahl der Lebendgeborenen einen Tiefstand, der sich im Schuljahr 1962/1963 bemerkbar machen sollte. Erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre steigerte sich die Geburtenzahl konstant und erreichte 1964 den Höchststand. Vgl. Lehning: Bayerns Weg, 131–133, 455–530, Tabelle A17, 1166. Mit etwa 30 ungarischen Schülern pro Jahrgang konnte die Lebensfähigkeit der Schule in den ersten drei Jahren als gesichert betrachtet werden. Die Schule war nur für die ungarische Jugend gedacht, nicht für deutsche Spätaussiedler oder Ungarn aus Drittländern. Der Vorsitzende des Schulvereins versicherte, dass die Schule keineswegs die Absicht habe, ungarische Schüler aus anderen Ländern in die Bundesrepublik Deutschland zu überführen, zumal die Zahl der vorliegenden Anmeldungen die Kapazität der Schule bereits übersteige. Sitzungsprotokoll der Sonderkommission 5 vom 29. Januar 1958: Sozialreferent Johannes Maurer an Bundestagabgeordneten Aigner. Bonn, 6. Februar 1958. BayHStA AM LFV 1861.

184 Au f n a h m e l a n d B ay e r n und Zuschüsse der Bundesrepublik Deutschland, des Freistaats Bayern, der Deutschen Bischofskonferenz und der Diözese Eichstätt. Die Sorge um das finanzielle Überleben war ständiger Begleiter des Instituts.644 Der Freistaat Bayern half nicht nur mit jährlichen Zuschüssen, sondern auch indirekt durch den Verzicht auf eine der Größe des Objekts angemessene Pacht für Schul- und Internatsgebäude sowie durch Zuschüsse für weitere Baumaßnahmen wie den Ausbau des Mädcheninternats und des Dachgeschosses.645 Im ersten Schuljahr 1957/1958 hatte das Ungarische Gymnasium 326 Schüler aus dem ganzen Bundesgebiet.646 Zu Beginn der 1960er Jahre erreichte die Schülerzahl mit 173 einen Tiefpunkt, stieg dann aber auf fast 300. In den 1970er Jahren hatte das Ungarische Gymnasium über 300 Schüler, von denen zwei Drittel aus der Bundesrepublik Deutschland – die meisten aus Bayern –, und ein Drittel aus dem Ausland kamen (siehe Tabelle 16). Schüler aus 22 Ländern und fünf Kontinenten lernten hier gemeinsam und unabhängig ihrer Konfessionen. 1977 betonte Ministerpräsident Alfons Goppel bei seinem von Bläserklang, Chorgesang und temperamentvollen ungarischen Tänzen umrahmten Besuch in Kastl die besondere Rolle des Ungarischen Gymnasiums als Brücke zwischen Ost und West und bezeichnete die Ungarn als einen wichtigen Pfeiler dieser

644

645

646

20 Jahre Ungarisches Gymnasium 49, 61. Am 30. Juni 1958 stellte der Ungarische Schulverein einen Antrag auf Gewährung eines Zuschusses aus den Mitteln der Kriegsfolgenhilfe, weil die notwendigen Aufwendungen für den laufenden Betrieb des Internats nicht gedeckt werden konnten. Da die Eltern vieler ungarischer Jugendlichen in ärmlichen Verhältnissen lebten oder aber keine Eltern beziehungsweise sonstige Kostenträger vorhanden waren, fielen die Schulgelder aus. Aus diesem Grund wurden für 139 von insgesamt 200 Schülern Ausbildungshilfen aus dem Garantiefonds beantragt. Die täglichen Verpflegungssätze für das Internat betrugen 4,80 Deutsche Mark, die Schulkosten 1,80 Deutsche Mark. Diese Summen entsprachen monatlichen Kosten von durchschnittlich 198 Deutsche Mark je Schüler. Durch den Ausfall der Schulgelder der nicht zahlenden Schüler entstand in den ersten acht Monaten ein Defizit von rund 70.000 Deutsche Mark. Direktor Ferenc Iréneusz Galambos an [Frau oder Herrn] Kaminski (BMI). Kastl, 30. Juni 1958. BayHStA AM LFV 1862. 1967 wurde das ehemalige Landespolizeigebäude neben der Klosterkirche zum Mädcheninternat für 90 Schülerinnen umgebaut. Der geplante Ausbau eines zweiten Stockwerks wurde 1972/1973 verwirklicht. 1977 wurden Sanierungs- und Modernisierungsarbeiten durchgeführt. 20 Jahre Ungarisches Gymnasium 61–63, 51–55, 57–59. Jahresbericht des Ungarischen Gymnasiums 1957/1958, 17.

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Brücke.647 Auf der Feier zum 20-jährigen Bestehen am 24. November 1978 führte Otto von Habsburg in seiner Festrede aus, dass Kastl in zwanzig Jahren ein Begriff unter den Ungarn der ganzen Welt, zum Symbol der Treue zur ungarischen Nation geworden sei. Der illustre Redner bezeichnete die Muttersprache als wichtigste Quelle des Nationalbewusstseins, auf deren Erhalt großer Wert zu legen sei.648 Tabelle 16: Ungarisches Gymnasium in Burg Kastl: Aufteilung der Schüler nach Wohnort der Eltern, 1957–1999649 Bundesland

Bundesrepublik Deutschland 1957/ 1961/ 1964/ 1976/ 1958 1962 1965 1977 115 20 27 101 79 99 1 4 2 2 5 5 10 26 21 2 5 62 25 28 9 3 7 5 3 4

Baden-Württemberg Bayern Bremen Berlin Hamburg Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein Bundesrepublik Deutschland insgesamt

647

648 649

326

158

141

203

1977/ 1978 28 95

1998/ 1999

4 17 5 30 6 3 188

126

Ministerpräsident Dr. Goppel: Eine Brücke schlagen in den Osten. In: AZ 12. November 1977. Aus der Privatsammlung von Franziska Hajmási-Auerbach, ehemalige Studienrätin im Europäisch-Ungarischen Gymnasium Kastl. 20 Jahre Ungarisches Gymnasium 147. Zusammengestellt anhand Jahresbericht des Ungarischen Gymnasiums 1957/1958, 1975/ 1976, 1977/1978, 1998/1999, 1999/2000. Zum Schuljahr 1957/1958: BayHStA AM LFV 1861, 24. Februar 1958. Zu den Schuljahren 1961/1962 und 1964/1965: BayHStA AM LFV 1862, 31. Juli 1962, 1. September 1964.

186 Au f n a h m e l a n d B ay e r n

1957/ 1958 Australien Belgien Brasilien Dänemark Frankreich Großbritannien Italien Jugoslawien Kanada Niederlande Norwegen Österreich Peru Slowakei Schweiz Schweden Spanien Ungarn USA Venezuela Insgesamt Schülerzahl insgesamt

Ausland 1961/ 1964/ 1962 1965 1

3

1 8

1 4 1 1

1

4 5

36 1

3

326

60 218

3 4 30

63 7 6 12 3 138 279

1976/ 1977 1 3 1 3 6 1 1 4 9 2

1977/ 1978

1998/ 1999

10 3

9

1

43 7 1

37 13

1 21 1

25 1 121 324

28

61 1

115 303

86 212

4 2 1 5 3 1 3 6 3

Durch die politische Wende 1989/1990 veränderte sich die Aufgabe des Exilgymnasiums. Fortan konnten die Exilungarn ihre Kinder zum Lernen und Studieren nach Ungarn schicken.650 Auch das Ziel der ungarischen 650

Einerseits sank das Spendenaufkommen der Exilungarn, andererseits veränderte sich die Rolle der Exilschule. Die Umbenennung in Europäisch-Ungarisches Gymnasium und ein neues Konzept erfolgten aber erst Ende der 1990er Jahre, nachdem der Bund 1997 das Ende seiner Förderung ankündigt hatte. Vgl. Kastl fehlt eine ganze Million, Kastl stirbt langsam. In: NN 26. Februar 1999; Ungewöhnlicher Krisengipfel: Kastl kämpft um Gymnasium. In: AN 19. März 1999. Aus der Privatsammlung Franziska Hajmási-Auerbach.

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Brauchtums- und Volkstumspflege änderte sich mit der Zeit. Allerdings wurde die Zweisprachigkeit beibehalten, da sie in der Schulgenehmigung für den Ungarischen Schulverein aufgeführt war. Ohne diese hätte eine neue Genehmigung ausgestellt werden müssen. Mit der Öffnung der Staatsgrenzen wurde dem Internat aber die ideelle Grundlage entzogen, und als absehbar wurde, dass Ungarn der Europäischen Union beitreten werde, fror der Bund die Fördermittel ein.651 In den 1990er Jahren kamen vorwiegend Kinder an die Schule, deren Eltern selbst Schüler des Internats gewesen waren, und es kamen viele aus Ungarn, der Slowakei und dem ehemaligen Jugoslawien, so dass die Zahl der Lernenden aus dem Ausland rund 40 Prozent der Gesamtschülerzahl ausmachte.652 Die Schule mit ihrem umfangreichen Lehrangebot zog auch Deutsche an. Es wurden neben Ungarisch mindestens vier Sprachen gelehrt: Deutsch, Französisch, Englisch und Latein. Seit 1989 kamen Schüler aus Ungarn, für die sich insbesondere das Erlernen der deutschen Sprache als attraktive Herausforderung erwies.653 1999 stellte der Bund die Zuschüsse ein.654 Deshalb musste der Freistaat Bayern die Hauptlast der Finanzierung des Exilgymnasiums tragen, in die noch das Schulgeld der Eltern einfloss.655 1999 wurde eine große Rettungsaktion für den Fortbestand der Schule mit ihrer über 40-jährigen Tradition gestartet, die kurzzeitig Erfolg hatte. Zum Überleben des Gymnasiums gehörte ein neues Schulkonzept. Die Bildungseinrichtung erhielt ab 2000 den neuen Namen Europäisch-Ungarisches Gymnasium. Zur Unterstützung wurde eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung gegründet, die Europäisch-Ungarisches Gymnasium gGmbH. Das Gymnasium hatte im Schuljahr 1999/2000 70 Beschäftigte und 220 Schüler, von denen 651

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655

Ungewöhnlicher Krisengipfel: Kastl kämpft um Gymnasium. In: AN 19. März 1999. Aus der Privatsammlung Franziska Hajmási-Auerbach. Im Schuljahr 1977/1978 stammten 188 Schüler aus der Bundesrepublik Deutschland und 115 aus dem Ausland. Im Schuljahr 1998/1999 kamen 126 Lernende aus dem Bundesgebiet und 86 aus dem Ausland, darunter 61 aus Ungarn. Siehe Tabelle 16. Zeitzeugengespräch mit Rudolf Geiss. Die Förderleistungen des Bundes machten 50 Prozent der Zuschüsse für die laufenden Kosten aus. Der Abzug dieser Fördermittel hinterließ eine Deckungslücke von rund einer Million Deutsche Mark. Kastl fehlt eine ganze Million, Kastl stirbt langsam. In: NN 26. Februar 1999. 2006 betrug das Schul- und Internatsgeld monatlich 570 Euro, hinzu kamen Fahrtkosten für die Heimreise. Zeitzeugengespräch mit Franziska Hajmási-Auerbach.

188 Au f n a h m e l a n d B ay e r n ein Drittel aus Ungarn stammte. Auch der Ungarische Staat beteiligte sich an der Finanzierung.656 Durch das Gymnasium Burg Kastl erlangte auch die Ortschaft einen hohen Bekanntheitsgrad. Kulturelle Schulveranstaltungen zogen internationale Besucher an. Das jährliche Alumni-Treffen zu Pfingsten brachte viele ehemalige Schüler wieder nach Kastl. Reger Fremdenverkehr, höhere Kaufkraft und eine Steigerung der Einwohnerzahl förderten die örtliche Konjunktur. Doch trotz aller Bemühungen wurde 2006 das Insolvenzverfahren gegen den Träger, die Ungarisch-Europäische Gymnasium gGmbH, eingeleitet. 110 Schüler mussten entlassen werden,657 und der Schulbetrieb wurde eingestellt. Damit ging eine Ära von fast 50 Jahren Bildungsarbeit zu Ende, die über 1.000 Schüler zum Abitur geführt hatte.658 4. 3. 2. Integration in deutsche Klassen Die Realisierung des Ungarischen Gymnasiums in Burg Kastl erfolgte nach mehrmonatigen Verhandlungen über Standort und Finanzierung. Gleichzeitig gründeten die Länder Ergänzungsschulen und Fördereinrichtungen, um ungarische Schüler auf den Besuch einer deutschen Schule vorzubereiten.659 Besonderen Wert legte das Bundesvertriebenenministerium auf die Betreuung der Menschen, die ihre Heimat verlassen und Zuflucht in der Bundesrepublik Deutschland gefunden hatten. Das Augenmerk lag auf der 656

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658

659

Eltern wollen eine Petition einreichen. In: NT 17./18. April 1999, Gymnasium gerettet? In: MZ 10. Mai 1999. Ungarn hatte 1999 eine jährliche finanzielle Unterstützung in Höhe von 350.000 Deutsche Mark in Aussicht gestellt. Gymnasium gerettet? In: MZ 10. Mai 1999. Diese Schüler bewarben sich bei anderen Gymnasien, waren allerdings bereit, diese Anmeldung rückgängig zu machen, falls ein neuer Träger die ungarische Schule übernommen hätte. Zeitzeugengespräch mit Rudolf Geiss. Franz A. Klimstein gibt in seinen Erinnerungen über die Schulzeit in Burg Kastl die Zahl der Abiturienten von 1957 bis 1986 mit 752 an (Klimstein: Kastlnak, 116). Aus den Jahresberichten geht hervor, dass von 1990 bis 2001 jährlich durchschnittlich 28 Abiturienten die Schule abgeschlossen haben. Vgl. Jahresbericht des Ungarischen Gymnasiums 1999/2000, 33; Jahresbericht des Europäisch-Ungarischen Gymnasiums 2000/2001, 21. In einer Sitzung des Heimatvertriebenenausschusses 1957 wurden folgende ungarische Ergänzungsschulen erwähnt: Osterrode in Niedersachsen, Oer-Erkenschwick in Nordrhein-Westfalen und Bauschlott in Baden-Württemberg. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465.

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Förderung ihres geistigen und kulturellen Lebens im Exil. Wie für die Vertriebenen, wurden auch für die Exilanten aus Osteuropa, »vom Schicksal so schwer betroffenen Menschen nichtdeutscher Zunge«660 Mittel vorgesehen. Aus der zeitgenössischen Diskussion des Deutschen Bundestages über eine Erhöhung der Mittel für die Betreuung heimatloser Ausländer geht hervor, dass die Förderung zur Wahrung der sprachlichen, kulturellen und religiösen Tradition nationaler Gruppen von Bund und Ländern erwünscht war. Aus diesem Grund war die Ablehnung der Finanzierung des Ungarischen Gymnasiums durch die Bundesländer nicht haltbar.661 Nicht nur die Finanzierung war Gegenstand der Kritik, sondern auch die Wirksamkeit einer Auslandsschule. Ob eine ungarische Insel in Bayern unter strenger Leitung von Benediktinern die ursprünglichen Ziele erreichen konnte, Deutschkenntnisse zu fördern und den Besuch einer deutschen höheren Schule zu ermöglichen, wurde in Frage gestellt. Oberstudiendirektor Sauer, der im Sommer 1961 als Ministerialkommissar die Reifeprüfung durchführte, warf der Schule Isolierung vor und bezeichnete sie als eine Art »Ghetto-Komplex«. Er beschrieb außerdem ein überspanntes Nationalbewusstsein der Ungarn, das er als »völlig wirklichkeitsfremd« empfand.662 Ein Dutzend Schüler verließen das Ungarische Gymnasium und wechselten in die Rheingauschule Geisenheim. 2006, anlässlich der 50-jährigen Gedenkfeier des Ungarnaufstandes, trafen sich die ehemaligen Gymnasiasten in der alten Schule und berichteten über ihren Schulwechsel nach Geisenheim.663 Die Schüler in Kastl hätten über den mangelhaften Deutschunterricht und die strengen Erziehungsmethoden ungarischer Benediktiner geklagt.664 Der erwähnte Oberstudiendirektor Sauer kritisierte die Unter660 661

662

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Deutscher Bundestag. 152. Sitzung. 3. Wahlperiode. Bonn, 16. März 1961. In: DBP 8721. Ebenda, 8713–8726. Oberregierungsrat Lüder wies später auf die Bundestagsdebatte vom 16. März 1961 über die kulturelle Förderung heimatloser Ausländer hin und begründete damit die Rechtmäßigkeit der gemeinsamen Schulfinanzierung. ORR Lüder (BMVt) an Höcherl (BMI). Bonn, 5. Juli 1963: Auszug aus dem Ergebnisprotokoll vom 28. Mai 1963 des Bundesvertriebenenministeriums in Bonn über Fragen der ausländischen Flüchtlinge. Punkt 2: Finanzierung der Exil-Gymnasien. BayHStA AM LFV 1861. Oberstudiendirektor Sauer an BayStMA Stain. [O. O.], 4. September 1961: Bericht vom 22. Juli 1961. BayHStA AM LFV 1862. Rheingauschule Geisenheim: Die Rheingauschule; Rheingauschule Geisenheim: Berichte. Ebenda. Árpád und Csaba Galambos, Gyula I., István Szász und Elemér Kiss verließen Kastl wegen mangelnden Lernerfolgs im Deutschen. Ihr Ziel war es, mit der deutschen Sprache schneller voranzukommen, was in Kastl nicht möglich war. Elemér Kiss berich-

190 Au f n a h m e l a n d B ay e r n richtsleitung des Benediktinerpaters Galambos und berichtete in seinem Prüfbericht über eine Rebellion gegen die Schulleitung im vorangegangenen Jahr. Innere Spannungen zwischen den Alt- und Neuflüchtlingen, strenge Erziehungsmaßnahmen und fehlender Kontakt mit der deutschen Außenwelt sowie anderen deutschen Schulen führten zu Diskrepanzen, so dass am Ende des Schuljahres vier Lehrer entlassen wurden.665 13 Schüler folgten dem Aufruf von Menyhért Gáldy in der ungarischen Exilpresse, in Geisenheim (Rheingau-Taunus-Kreis, Hessen) das Abitur nachzuholen, und verließen Kastl. Gáldy, der vor 1945 als Oberst an der Budapester Militärakademie Geschichte unterrichtet hatte, leitete das Internat Kölner Villa666 im hessischen Johannisberg, wo ungarische Schüler untergebracht waren. Bei ihm meldeten sich schulwillige Jugendliche, die in vier aufeinanderfolgenden Klassen der Rheingauschule aufgenommen und von deutschen und ungarischen Lehrern unterrichtet wurden. Gáldy erteilte Geschichtsunterricht, László Gondos Naturwissenschaften in der Muttersprache.667 Im Gegensatz zum Ungarischen Gymnasium in Burg Kastl, wo die Ungarn in einem separaten Bildungsinstitut vorwiegend auf Ungarisch unterrichtet wurden, war in Geisenheim die Integration in deutsche Klassen mit dem Angebot muttersprachlichen Unterrichts gelungen. Insgesamt 65 ungarische Schüler legten von 1958 bis 1961 im Rheingau-Gymnasium erfolgreich die Reifeprüfung ab.668

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tete über die brutalen Erziehungsmethoden des ehemaligen Militärpfarrers „Lothar“, der oft die Beherrschung verlor und als Erziehungsmittel nicht nur Hände, sondern auch Füße benutzte. László Halassy nutzte einen Ausflug zur Flucht aus Kastl und fuhr mit einigen seiner Kameraden per Anhalter nach Johannisberg. Rheingauschule Geisenheim: Berichte. Oberstudiendirektor Sauer an BayStMA Stain. [O. O.], 4. September 1961: Bericht von OStD Sauer vom 22. Juli 1961. BayHStA AM LFV 1862. Johannes Maurer, Sozialreferent im bayerischen Arbeitsministerium, wies die Beanstandungen Sauers im Schreiben vom 18. September 1961 zurück und schilderte die Entstehung und Entwicklung des ungarischen Internats. Dieses Schreiben wurde jedoch nicht an Sauer weitergeleitet, sondern Staatsminister Stain berichtete Sauer über Verbesserungen der Mängel. Stain an Sauer. München, 14. November 1961. BayHStA AM LFV 1862. Das Grundstück gehörte Peter Arnold Mumm, dem Gründer der gleichnamigen Champagner-Firma. Die Villa wurde 1873 vom späteren Geschäftsführer gebaut. Da sich der Geschäftssitz jedoch in Köln befand, entstand die Bezeichnung Kölner Villa. Rheingauschule Geisenheim: Die Rheingauschule. Rheingauschule Geisenheim: Berichte. 1958: 5, 1959: 20, 1960: 24 und 1961: 16. Rheingauschule Geisenheim: Die Rheingauschule.

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Die Möglichkeiten der Weiterbildung junger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland kann mit jenen in Österreich verglichen werden. Hier wurden fünf Mittelschulen für die Beschulung ungarischer Oberschüler gegründet: in Kammer am Attersee (Oberösterreich), in Innsbruck (Tirol) und in Grän-Haldensee (Tirol) mit jeweils etwa 120 Plätzen sowie in Iselsberg (Gemeinde Winklern, Kärnten) und in Wiesenhof bei Innsbruck (Tirol) mit jeweils etwa 200 Plätzen.669 Zwar wurden diese Privatschulen nach ein bis zwei Jahren wieder aufgelöst – ausgenommen das Ungarische Realgymnasium in Innsbruck, in dem erst Ende Juli 1963 der Schulbetrieb eingestellt wurde. Dennoch eröffneten diese Bildungsinstitute für etwa 1.000 ungarische Schüler Chancen, gut ins neue Leben zu starten. Sie waren nicht nur Bildungs- und Erziehungsanstalten, sondern ersetzten in vielen Fällen auch die Familie. In Österreich waren die Jahrgänge 1942/1943 stark vertreten, durch Kampf- und Fluchterlebnisse frühreife 13- bis 14-Jährige. Auch viele Jugendliche, denen der Besuch einer höheren Schule in Ungarn aus politischen Gründen verwehrt worden war, nahmen die Chance im Ausland wahr, das Abitur nachzuholen und zu studieren. Allerdings kam es auch vor, dass Schüler aus der Mittelschule ins Lehrlingsheim wechselten und eine Berufsausbildung wählten. Dennoch legten an den genannten fünf Gymnasien über 800 ungarische Schüler die Reifeprüfung ab.670 Die Inselfunktion dieser Schulen stand auch in Österreich in der Kritik. Oberstudienrat Julius Hölzl aus Wien, der mit der gesamten Studienaufsicht beauftragt worden war und bei den Abiturprüfungen den Vorsitz führte, bemängelte die unzureichenden Deutschkenntnisse der Schüler. Bereits 1959 plädierte er in der Vorstandssitzung in Iselsberg für die Einführung von Deutsch als Schulsprache. Hölzl war davon überzeugt, dass die Unterbringung der ungarischen Schüler bei österreichischen Familien besser gewesen wäre, da sie dadurch sowohl die deutsche Sprache als auch die österreichische Mentalität kennengelernt hätten.671 669

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Kirchliche, staatliche und weltliche, österreichische und internationale Hilfsorganisationen unterstützen die Obhut und Fürsorge der jungen Ungarnflüchtlinge. MR Seemeier (BayStMA) an Arbeits- und Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen. München, 28. Mai 1957. BayHStA AM LFV 1861; Alföldi: Ungarische Flüchtlingsschulen; Deák: Ungarische Mittelschulen; Haas: Ungarn in Tirol. Deák: Ungarische Mittelschulen, 3–11, 55; Haas: Ungarn in Tirol, 47. Deák: Ungarische Mittelschulen, 60.

192 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Ein Großteil der Jugendlichen im Ungarischen Gymnasium in Burg Kastl war ohne Familie nach Deutschland gekommen. Nur jeder achte der Betreuten war gemeinsam mit den Eltern geflüchtet.672 Durch die Trennung von Vater und Mutter sowie durch die Kampf- und Fluchterlebnisse seien die jungen Ungarn in eine innere und äußere Unruhe versetzt worden. Sie brauchten Normalität, »eine normale, natürliche, dem Streben des Einzelnen angepasste Lebenssituation«, meinte Hannes Kramer, der Eingliederungsberater des Deutschen Caritasverbandes in Bayern, zuständig für die Betreuung der heimatlosen Ausländer. Er hielt es für besonders wichtig, der Flüchtlingsjugend ein längeres Lagerleben zu ersparen und sie gezielt mit anderen, gleichaltrigen jungen Leuten in Jugendheimen unterzubringen.673 »Sie wirkten kaum wie Kinder, eher wie alte Krieger in einer Kampfpause, wenn sie mit finsterer Miene, die Mütze auf dem Kopf, um den Tisch herumsaßen und Karten spielten. Sie sahen ganz anders aus, als man sich die in der Presse gefeierten Helden des ungarischen Freiheitskampfes vorstellte.«674 Die Jugendlichen waren durch ihr Schicksal über ihr Alter hinaus gereift, und die Vorstellung von den Ungarn entsprach nicht der Realität. Zusammenhalt in der neuen Umgebung boten Traditionen und die Muttersprache, die es den Ungarn überdies ermöglichten, die Kontinuität ihrer früheren Lebensformen zu wahren. »Wenn sie ihr Schulleben in gleicher Weise absolvieren können wie in Ungarn«, sagte A. J. C. Visserde Jonge, Direktorin der Königin Juliana Schule in Iselsberg, »dann haben sie zumindest etwas, das eine Verbindung mit der Vergangenheit herstellt: so war es zuhause ja auch. Als Nicht-Ungar muss man versuchen zu verstehen, wie wichtig diese Dinge für die jungen Leute sind.«675

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Patenschaft für 200 Ungarn. In: NüNa 30. April 1958, in: BayHStA AM LFV 1862. Hannes Kramer (Eingliederungsberater des Deutschen Caritasverbandes, Landesverband Bayern, Beratungsstelle für heimatlose Ausländer) an BayStMA. München, 8. Januar 1957. BayHStA AM LFV 1913. So beschrieb ein Experte auf einer internationalen Konferenz im Mai 1957 in Wien die ungarischen Kinder und Jugendlichen in österreichischen Lagern. Zitiert von Deák: Ungarische Mittelschulen, 6. Zitat ebenda, 87. Die ungarische Mittelschule in Iselsberg wurde mit niederländischer Unterstützung vom Trägerverein Niederländischer Verein für die ungarische Mittelschule Königin Juliana am Iselsberg gegründet. Von 1958 bis zur Schließung 1960 führte das Ehepaar Frans Visser und Adrienne Justine Civile Visser-de Jonge die Schule und das Internat. Alföldi: Ungarische Flüchtlingsschulen, 178–182.

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Das Beibehalten ungarischer Sitten und Feiertage war für die Bewahrung der eigenen Kultur und die Fortführung früherer Lebensgewohnheiten auch deshalb von großer Bedeutung, weil die Ungarn nur gelegentlich Kontakt mit Einheimischen hatten. Deswegen schlug Oberstudiendirektor Sauer deutsche Lehrer als Amtshilfe am Ungarischen Gymnasium und Patenfamilien vor, um Erziehung und Bildung deutschen Verhältnissen anzupassen.676 Isolierung oder Integration ausländischer Kinder in das deutsche beziehungsweise bayerische Bildungssystem stand zur Diskussion – bei den Ungarn am Ende der 1960er, bei den Gastarbeitern verstärkt am Anfang der 1970er Jahre. Für die Bildungschancen ausländischer Kinder war es ausschlaggebend, ob sie von deutschen oder muttersprachlichen Lehrern, in deutschen Regelklassen oder national homogenen Klassen, in der deutschen oder der Herkunftssprache unterrichtet wurden. Durch die anfangs selbstverständliche Annahme eines zeitlich begrenzten Aufenthalts der Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland, das Rotationsprinzip, war es wichtig, Kultur und Sprache des Herkunftslandes zu fördern, um die Rückkehr in die Heimat zu erleichtern. Allerdings strebten die Gastarbeiter durch den Nachzug der Familien einen dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland an. Damit rückten das Integrationskonzept in der bundesdeutschen Schulpolitik und die Chancen zu sozialer, kultureller und politischer Gleichstellung in den Vordergrund. In diesem Fall stand das Erlernen der deutschen Sprache und die Integration in deutsche Klassen im Mittelpunkt.677 Die wegen des Ungarnaufstands Geflohenen mussten aber bei einer Rückkehr mit Repressalien rechnen, wodurch ihre Heimkehr in unmittelbarer Zukunft unmöglich schien, sie also – abweichend von den Gastarbeitern – zunächst notgedrungen in der Bundesrepublik Deutschland blieben. Dennoch gaben sie die Hoffnung auf ein freies und unabhängiges Ungarn nicht auf.678 Die einzigartige Einrichtung Burg Kastl ermöglichte ungarischen Jugendlichen die Fortsetzung ihrer Schulbildung und die Beibehaltung ihrer nationalen, kulturellen und sprachlichen Identität. Diese Lösung verzö676

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Oberstudiendirektor Sauer an BayStMA Stain. [O. O.], 4. September 1961: Bericht vom 22. Juli 1961; Stain an Sauer. München, 14. November 1961. BayHStA AM LFV 1862. Vgl. Rudloff: Im Schatten, 339–447. Siehe dazu Kapitel III. 3. 4. Vgl. Sebode: Ungarische Flüchtlinge.

194 Au f n a h m e l a n d B ay e r n gerte die Anpassung an die neue Umwelt, sie bot aber eine den deutschen Schulen gleichwertige Ausbildung. Wie die Rheingauschule in Geisenheim bewies, war auch die Integration in deutsche Klassen ein möglicher Weg hin zu einer erfolgreichen Reifeprüfung. 4. 3. 3. Studenten Am Ungarnaufstand waren vor allem Studenten beteiligt, die mit ihren Forderungen auch Arbeiter, Bauern und weitere Schichten der Intelligenz zu den Protesten anzogen. Nach der Niederschlagung des bewaffneten Widerstands wählten die meisten der beteiligten Studenten das Exil. Schätzungen zufolge verließ etwa ein Drittel der gesamten Studentenschaft Ungarn, das somit einen erheblichen Teil seiner akademischen Schicht verlor.679 Oberregierungsrat Franz Treppesch vom bayerischen Kultusministerium berichtete aus Wien über etwa 4.000 geflüchtete Studenten, die in der Nähe der Heimat bleiben und »ihre Ausbildung in benachbarten und verwandten Kulturräumen« beenden wollten. Die Aufgabe, diese intellektuelle Schicht zu retten, erklärte Treppesch nicht nur für eine humanitäre, sondern auch für eine »abendländische Verpflichtung«.680 Die Schilderungen des mutigen Einsatzes jugendlicher Freiheitskämpfer auf den Straßen von Budapest gegen sowjetische Panzer riefen Anerkennung und Bewunderung für die Ungarn hervor und ließen keinen Zweifel an der Richtigkeit der Hilfeleistungen aufkommen. Die Bundesregierung nahm sich ein Beispiel an Kanada, das 285 Studenten und 30 Professoren der Forsthochschule Ödenburg in Vancouver aufgenommen hatte. Sie plädierte mit Kanzler Adenauer dafür, Studentenschaften der Universitäten aus Ungarn geschlossen aufzunehmen. Bundesregierung und Bundestag waren sich einig darüber, dass Studenten, die ihr Studium in der Bundesrepublik Deutschland fortsetzen konnten, bevor679

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Über 3.200 Studenten verließen Ungarn. Ihr Anteil an der Studentenschaft wird mit 11,2 Prozent angegeben. KSH jelentés 176. Abendländische Verpflichtung. Die Not der ungarischen Studenten. In: BSZ 29 (1956) 48, 1. Dezember, 8; Studenten in Not. In: MM 12 (1957) 26, 31. Januar, 1. Treppesch wurde von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder nach Wien entsandt, um die Studentenfrage vor Ort zu prüfen. Am 13. Dezember 1956 legte er zur Plenarsitzung der Kultusminister in Hamburg seinen Erfahrungsbericht vor. Zudem informierte er die bayerischen Leser über seine Tätigkeit in Wien. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465.

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zugt werden sollten.681 Das bedeutete, dass diesen Studenten Studienplätze zugesichert wurden.682 Dafür stellte das Bundesinnenministerium Mittel aus dem Vorschuss- und Zuschussfonds zur Eingliederung jugendlicher Zuwanderer und eine Beihilfe für drei Semester zur Verfügung.683 Stiftungen amerikanischer Konzerne, wie jene von Ford und Rockefeller, unterstützten die ungarischen Studenten mit Stipendien.684 Die Rockefeller Foundation vergab 500 Stipendien an Ungarnflüchtlinge, damit sie in Österreich ihr Studium fortsetzen konnten. Ford-Stipendien wurden für die Fortsetzung des Studiums auch außerhalb Österreichs vergeben.685 Einige wenige Hinweise in den Quellen des Bundesinnenministeriums bestätigen, dass die Ford Foundation England, Frankreich, Belgien und der Bundesrepublik Deutschland anbot, über die geplante Anzahl hinaus je 200 Studenten zusätzlich vier Semester lang ein monatliches Stipendium von 150 Deutsche Mark zu gewähren. Nachdem die Bundesrepublik Deutschland dieses Angebot angenommen hatte, wählten die Vertreter des Bundesvertriebenenministeriums unter den in Österreich ankommenden

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2. Deutscher Bundestag. 176. und 181. Sitzung. Bonn, 5. und 14. Dezember 1956. In: DBP 9733–9736, 10036–10038; 164. Kabinettssitzung der Bundesregierung am 19. Dezember 1956: TOP E, Ungarnhilfe. In: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung 773. Bereits in der Sitzung am 6. November 1956 im Auswärtigen Amt wurde festgelegt, dass Volksdeutsche und Ungarn, die Familien in der Bundesrepublik Deutschland hatten, sowie Studenten und Oberschüler bei der Aufnahme bevorzugt werden sollten. Mit Theo Tupetz, dem Leiter des Sozialamtes des Deutschen Bundesstudentenrings, war eine Münchener Zweigstelle für die Betreuung der geflüchteten Studenten vorgesehen. Vermerk von Sozialreferent Maurer (BayStMA) vom 7. November 1956. BayHStA AM LFV 1913. Wie die DDR-Flüchtlingsstudenten erhielten auch die Ungarn Beihilfen. In der Vorbereitungszeit vor der Immatrikulation stand auch ihnen eine Eingliederungshilfe aus dem Garantiefonds (pauschal 150 Deutsche Mark) für ihre Lebenshaltung zu, allerdings musste hierfür der Besuch eines Deutschunterrichts belegt werden. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch, B106, 47465, 9; Diözesan-Caritasdirektor Jandl an [Frau oder Herrn] Thome (Katholisches Jugendhilfswerk für Baden-Württemberg). München, 24. April 1957. ADiCVMF II/ZTRVerband 16. Diese amerkanischen Stiftungen unterstützten auch ungarische Musiker, die 1957 in Wien das Orchester Philharmonia Hungarica gründeten. Das Flüchtlingsorchester bestand aus 47 Herren und acht Damen, die 1959 in der nordrhein-westfälischen Stadt Marl ein neues Zuhause fanden. BArch B 106, 120, 34203; B 136, 6490. Vgl. Zipernovszky: Das Flüchtlingsorchester. Borbándi: A magyar emigráció, I, 459; Kecskés: Az 1956-os magyar menekültek, 121.

196 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Studenten die Stipendiaten aus.686 Zwar gab es keine Vorschriften für die Vergabe von Ford-Stipendien an ungarische Bewerber. Dennoch wurden vornehmlich Studenten geisteswissenschaftlicher Fächer ausgewählt, da Studienplätze an den technischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten rar waren.687 Die Bundesrepublik Deutschland übernahm insgesamt etwa 1.000 Studenten,688 die über Piding anreisten und zunächst in bayerischen Studentenheimen, unter anderen im Collegium Augustinum in München, auf Burg Feuerstein bei Ebermannstadt, im Wacker-Erholungsheim in Bad Schachen und im Jugendheim Lindenhof bei Murnau untergebracht wurden (siehe Tabelle 8).689 Hochschulen und Universitäten stellten den Ungarn rund 600 Studienplätze zur Verfügung.690 686

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Die Ford-Stiftung stellte zunächst die Bedingung, dass die Bundesrepublik Deutschland außer der 200 von ihr unterstützten Studenten noch 150 auf eigene Kosten aufnahm. Sie verzichtete dann darauf, da die Bundesrepublik Deutschland mehr Studenten als andere Länder aufgenommen hatte. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465. Die Beherrschung der deutschen Sprache war bei der Auswahl keine Voraussetzung. Auch älteren Jahrgängen, die in Ungarn aus politischen Gründen oder wegen ihrer sozialen Herkunft nicht studieren konnten, sollte das Studium ermöglicht werden. [Frau oder Herr] Hamm (BMVt) an ORR Wolfrum (BMVt): Entwurf für die Antwort an das Auswärtiges Amt betreffend den Richtlinien für die Aufnahme von Bewerbern aus Ungarn für die Ford-Stipendien. Bonn, 17. Oktober 1957. BArch B 106, 27375, 452. Der Heimatvertriebenenausschuss gab die Studentenzahl mit 907 an (Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465). Laut Statistik des Bundesvertriebenenministeriums wurden insgesamt 992 ungarische Studenten in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen (BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 5. Mai 1958: Statistische Unterlagen über ausländische Flüchtlinge aus Ungarn. PAAA B 12, 572 c, 5). Cseresnyés: Magyar egyetemisták, analysiert den Bericht des Deutschen Bundesstudentenrings, der die Angaben von 1.136 ungarischen Studenten in der Bundesrepublik Deutschland bearbeitete. Die erste Studentengruppe traf am 22. November 1956 ein. Flucht vor Sklaverei und Galgen. Transport mit 112 ungarischen Studenten im Grenzdurchgangslager Piding. In: RT 116 (1956) 188, 24. November, 6; Abendländische Verpflichtung. Die Not der ungarischen Studenten. In: BSZ 29 (1956) 48, 1. Dezember, 8; RD Nentwig (BayStMA) an BMVt. München, 4. Januar 1957: Belegung von Heimen mit ungarischen Flüchtlingen. Stand: 3. Januar 1957. BayHStA AM LFV 1913. Folgende Hochschulen boten ungarischen Studenten Freiplätze an: Berliner Hochschulen (200), Hochschule für Sozialwissenschaften Wilhelmshaven-Rüstersiel (2), Kirchliche Hochschule Neuendettelsau (2), Medizinische Akademie Düsseldorf (2), Oscar von Miller-Polytechnikum München (3), Pädagogische Hochschule Osnabrück (1), Philosophisch-Theologische Hochschule Eichstätt (2), Philosophisch-Theologische Hochschule Paderborn (1), Technische Hochschule Aachen (15), Technische Hochschule

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Bereits bei der Aufnahme musste Treppesch feststellen, dass 95 Prozent der Flüchtlingsstudenten kein Deutsch sprachen. Obwohl zahlreiche Angebote hilfsbereiter Familien für eine kurzzeitige Aufnahme der jungen Flüchtlinge vorhanden waren, hielt er es für sinnvoll, sie in Jugendheime einzuweisen, um ihnen die erforderlichen Sprachkenntnisse und eine angemessene Vorbereitung auf das deutsche Hochschulleben zu ermöglichen. Letztere brauchten die Ungarn besonders deswegen, weil sie in einem abgeriegelten, kommunistischen Land aufgewachsen waren und das westliche Leben nur aus Radiosendungen kannten, wodurch auch sie »vielfach in romantischen Vorstellungen befangen waren«, wie Treppesch bemerkte.691 Bei der Betreuungsarbeit standen die zwei oben genannten Kernaufgaben im Mittelpunkt. Mangelnde Deutschkenntnisse erschwerten den Übergang auf die Hochschulen. Vorlesungen in der Muttersprache wie beim Unterricht in Kastl waren an den Universitäten nicht möglich. Allerdings gab es wegen fehlender Erfahrung im Bereich Deutsch als Fremdsprache keine Anweisungen oder Richtlinien. Auch fehlte es an Lehrbüchern und Lehrmitteln. Der Förderunterricht Deutsch wurde von Gymnasiallehrern, ungarischen Seelsorgern und ungarischsprachigen Fürsorgern geleistet, wobei die Fortschritte von individueller Begabung und Motivation der Schüler abhingen. Manche hatten Bedenken, den Anforderungen eines deutschen Studiums zu entsprechen und waren dementsprechend geringer motiviert. Dennoch erreichte die Mehrheit die sprachliche Grundlage für ein Studium, auch wenn einige Kandidaten nur unregelmäßig am Kurs teilnahmen, erklärte Studienrat Martin Werger. Der Lindauer Gymnasiallehrer unterrichtete 50 ungarische Studenten in der Villa Wacker, vorwiegend Anfänger.692

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Braunschweig (15), Technische Hochschule Darmstadt (10), Technische Hochschule Hannover (11), Technische Hochschule Karlsruhe (15), Technische Hochschule München (90), Technische Hochschule Stuttgart (10), Universität Bonn (25), Universität Erlangen (1), Universität Freiburg (21), Universität Göttingen (27), Universität Hamburg (25), Universität Mainz (30), Universität Marburg (13), Universität Münster (15), Universität Tübingen (12), Universität Würzburg (12), Wirtschaftshochschule Mannheim (1). [Frau oder Herr] Hofmeister (Bundesstudentenring) an BMI. Bonn, 4. Dezember 1956. BArch B 106, 47465. Studenten in Not. In: MM 12 (1957) 26, 31. Januar, 1. Siehe auch Abendländische Verpflichtung. Die Not der ungarischen Studenten. In: BSZ 29 (1956) 48, 1. Dezember, 8. Von Dezember 1956 bis April 1957 gab Studienrat Martin Werger ohne einen dienstlichen Auftrag Deutschunterricht im Jugendheim. Anfangs nutzte er für den Unterricht die Lesebücher der Unterstufe des Gymnasiums, die sich aber als zu schwer erwiesen.

198 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Die zweite Hauptaufgabe bei der Vorbereitung auf das Studium war die Einführung in das deutsche Studentenleben und die allgemeine Lebensweise in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei kam den ungarischsprachigen Fürsorgern wie auch den Ungarnseelsorgern eine besondere Rolle zu. Durch die Kenntnis der ungarischen Sprache und Mentalität konnten sie sich in die Lage der Ungarn hineinversetzen und sie verstehen. Das bewies auch Pater István Geröly, der die seelsorgliche und kulturelle Betreuung junger Ungarn im Jugendheim Avenariusstraße in München-Pasing übernahm. Nach der Gründung des Ungarischen Jugendgemeinschaftswerks St. Stephan, Christophstraße 12 in München, beauftragte ihn der Diözesan-Caritasdirektor Monsignore Oskar Jandl mit der Leitung der Eingliederungsarbeit, da sich deutsche Priester für diese Aufgabe als nicht geeignet erwiesen hatten.693 Um den ungarischen Studenten und Jungarbeitern bei Behördengängen sowie Arbeits- und Studienplatzvermittlungen mit Rat zur Seite zu stehen, wurde eine Beratungsstelle erforderlich.694 Die Flüchtlinge kannten sich in der Bundesrepublik Deutschland kaum aus, und ihre kommunistische Erziehung machte ihnen die Orientierung im neuen Umfeld schwer. In solchen Situationen Sorgen und Wünsche in der Muttersprache vortragen zu können, erleichterte ihnen die Eingewöhnung.695 Pater István Geröly beantragte einen Zuschuss zu einem Zeltlager in Feldafing am Starnberger See, wo die Ungarn drei Tage lang mit deutschen

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Werger an BayStMA. Lindau, 5. April 1957. Sozialreferent Maurer (BayStMA) an Werger. München, 16. April 1957. BayHStA AM LFV 1862. Vom 1. Mai 1957 bis 1. Februar 1958 leitete Pater István Geröly das Ungarische Gemeinschaftswerk des Katholischen Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising. Er war ein aus Ungarn geflüchteter junger Prämonstratenser und hauptamtlicher Ungarnseelsorger in München. Vier Gemeinschaftswerke führten die kulturelle Betreuung in München durch, die bis zum 30. Juni 1958 von der Caritas finanziert wurde. Oberseelsorger György Ádám an Erzbischöfliches Ordinariat. München, 19. Oktober 1956 (AEMF GV REG, 0741); Diözesan-Caritasdirektor Jandl an Prater Prior Anselm Nag. [O. O.], 4. April 1957; [Frau oder Herr] Koch an Jandl. [O. O.], 12. Februar 1958. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16; Cserháti: Magyarok, 88; Ungarisches Jugendgemeinschaftswerk St. Stephan. Ungarnhilfe. In: CD 11 (1958) 90, 95; 12 (1959) 63. Der Caritasverband München unterstützte die Beratungsstelle. Die Stadtverwaltung München stellte hierfür eine Wohnung in einem zum späteren Abbruch bestimmten Haus im Lehel für Klubräume, darunter eine Bücherei mit Leseraum sowie Sprech- und Geschäftszimmer zur Verfügung. Ungarnhilfe. In: CD 11 (1958) 95. Der Einsatz von Dolmetschern erleichterte die Verständigung und baute zwischen Einheimischen und Geflohenen eine Vertrauensbasis auf. Vgl. Die Frage der Ungarn-Flüchtlinge von 1956 in Iserlohn 41–45.

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Studenten über das hiesige Studentenleben, Hochschulorganisationen und Arbeitsmöglichkeiten diskutieren konnten.696 Des Weiteren bot die Innere Mission München in den Heimen Abenddiskussionen mit Themen wie „Das Verhältnis von Staat und Kirche“ und „Meinungen über Jazzmusik“ an.697 Das Studentenwerk München organisierte Exkursionen in verschiedene Universitätsstädte und Vorträge mit anschließenden Diskussionen. Vor allem die Grundlagen der Demokratie mussten vermittelt werden. Ein Vertreter des Studentenwerks stellte nach sechsmonatiger Betreuungsarbeit fest, dass die jungen Ungarn nicht nur aus einem anderen Land, sondern aus einer anderen Welt kamen.698 Aus diesem Grund waren die genannten Maßnahmen erforderlich, um den Ungarn das Einleben in das deutsche Studentenleben zu ermöglichen.699 Das bayerische Arbeitsministerium gab in einem internen Bericht über die Ungarnflüchtlinge an, dass ein Teil der Studenten große Schwierigkeiten habe, das Studium fortzusetzen – nicht nur wegen mangelhafter Sprachkenntnisse, sondern auch, weil ihre Ausbildung den deutschen Anforderungen nicht entspreche. So konnte das ungarische Abitur nicht als Berechtigung zum Studium anerkannt werden.700 Die Rektoren-Konferenz in Hamburg bemühte sich, jede eidesstattliche Erklärung der Studienberechtigung eines Ungarnflüchtlings anzuerkennen. Das führte dazu, dass neben Studenten auch Handwerker und Arbeiter immatrikuliert wurden.701 Im Freistaat Bayern beschloss das Innenministerium, von akademi696

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Antrag des Diözesan-Caritasverbands auf Gewährung eines Zuschusses aus dem Bundesjugendplan für ein dreitägiges Studentenlager. München, 14. Januar 1957. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16. Mit mond a »másik oldal«. In: ÚMÉ 1 (1957) 8, 19. April 1959, 1. Beszéljünk őszintén! In: ÚMÉ 1 (1957) 15, 7. Juni, 1. Das Landesarbeitsamt Südbayern empfahl den Heimen, neben dem Sprachunterricht auch Sozial- und Berufskunde zu vermitteln, um den Ungarn den Übergang in das Studium oder in den Beruf zu erleichtern. Landesarbeitsamt Süd: Bericht. München, 28. Januar 1957. StAM LAA 5149. BayStMA (Abteilung VII): Aktenvermerk über den Stand der Aufnahme und Weiterleitung von Ungarnflüchtlingen. Punkt 7: Besondere Schwierigkeiten und noch zu lösende Probleme. München?, 4. Januar 1957. BayHStA AM LFV 1913. Laut Oberregierungsrat Wolfrum (BMVt) besaßen von 900 Studenten 600 ein rechtmäßiges Abitur, der Rest stammte aus Arbeiter- und Bauernfakultäten. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch 106, 47465, 4–6. BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 18. Januar 1957: Niederschrift über die Besprechung im BMVt am 10. Januar 1957 in Bonn. Punkt 5 A: Studenten-Problem. BArch B 106, 24545, 106–120.

200 Au f n a h m e l a n d B ay e r n schen Berufsberatern der Landesarbeitsämter Nord- und Südbayern eine Eignungsprüfung der Flüchtlingsstudenten durchführen zu lassen.702 Solange die ungarischen Flüchtlinge Deutsch lernten und sich auf ein Studium vorbereiteten, waren für ihre Betreuung die Kreisverwaltungsbehörden zuständig. Nach der Immatrikulation an einer Hochschule nahmen die örtlichen Studentenwerke sie unter ihre Fittiche.703 Auf das Eignungsverfahren konnte nicht verzichtet werden, da über das ungarische Schulsystem und den Lehrstoff keine Informationen vorhanden waren. Erst im Rahmen der ersten Beratungen für Abiturienten und Hochschüler im Wacker-Erholungsheim in Lindau-Bad Schachen am Bodensee wurde dem bayerischen Kultusministerium ein Bericht über das Schulwesen in der Volksrepublik Ungarn vorgelegt.704 Daraus ging hervor, dass die allgemeine Schule mit acht Klassen vom 6. bis zum 14. Lebensjahr verpflichtend war. Die unteren Klassen entsprachen der deutschen Volksschule. Der Abschluss der 8. Klasse berechtigte zum Übertritt auf Gymnasien und Fachschulen, wo nach vier Jahren die Reifeprüfung abgelegt werden konnte. Die allgemeine Hochschulreife (Abitur) eines Gymnasiums oder Realgymnasiums berechtigte zum Studium an einer Universität, während mit dem Fachabitur an einer Fachhochschule in der betreffenden Fachrichtung (wie Kunst-, Sport- und Musikakademie, pädagogische, volkswirtschaftliche und landwirtschaftliche Hochschule) studiert oder ein Beruf ergriffen wurde. Sämtliche ungarischen Universitäten und Hochschulen mit Standort und Fachrichtungen wurden benannt, allerdings war über den Lehrstoff wenig Vergleichbares bekannt. Diese ersten Beratungen der Hochschüler in Lindau ergaben, dass fast alle 52 dort untergebrachten Studenten Nachweise (Reifezeugnisse, Lehrbriefe und Studienbücher) über ihre Abschlüsse besaßen. 24 wollten ihr Studium fortsetzen, 17 ein Studium im ersten Semester beginnen und drei hatten vor, auf eine technische Hochschule zu wechseln. Sechs Schüler 702

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Präsident des Landesarbeitsamtes Süd an Direktoren der Arbeitsämter. München, 21. Februar 1957: Jugendliche Flüchtlinge aus Ungarn. Abiturienten- und Studienberatung. StAM AAR 1357. Auszug aus dem Ministerialamtsblatt der bayerischen inneren Verwaltung Nr. 46/1956 vom 14. Dezember 1956: Gewährung von Ausbildungshilfen aus Mitteln des Bundeshaushalts zur Eingliederung jugendlicher Zuwanderer, hier: jugendliche Flüchtlinge aus Ungarn. BArch B 106, 24545, 90 sowie StAM LAA 5149. Dr. Hauck: Das Schulwesen in der Volksrepublik Ungarn. StAM LAA 5149.

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traten von ihren Studienabsichten zurück. Die Mehrzahl der Ungarn war zwischen 23 und 24 Jahre alt und männlich. Der Heimleiter János Ádám, ungarischer Jesuitenpater, der seit 1948 in München lebte und Theologie sowie Pädagogik studiert hatte, wirkte sowohl als Sprachvermittler als auch als Seelsorger mit. Dadurch, dass er sowohl die ungarischen als auch die deutschen Lebensverhältnisse kannte, eignete er sich auch aus der Sicht der Prüfer Dr. Hauck und Dr. Hutter in besonderer Weise als Vertrauensperson und Heimleiter.705 Bei der Studien- und Berufsberatung legte man großen Wert auf den persönlichen Eindruck. Besaßen die Ungarn keine Nachweise über Studium, Beruf oder Berufserfahrung, zählten ihre Berichte und ihre Persönlichkeit. In den Eignungsverfahren bezogen sich die Fragen in erster Linie auf Berufsziele, Abschlüsse und Praktika in Ungarn; fester Bestandteil der Fragebögen waren auch Fragen zur Persönlichkeit, politischen Einstellung, menschlichen Grundhaltung und zum Gesundheitszustand.706 Den Beratern in Lindau fiel auf, dass etliche Studenten in Ungarn als klassenfremd gebrandmarkt und zum Hochschulstudium nicht zugelassen worden waren. Andere waren aus politischen Gründen gezwungen worden, das Studium abzubrechen oder gegen ihren Willen ein bestimmtes Studium zu ergreifen. Solche von der Hochschule Verwiesene hatten eine Ausbildung in handwerklichen Berufen gemacht oder waren als Hilfsarbeiter tätig gewesen.707 705

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Ebenda. Die Ausführung beruhte auf einer Veröffentlichung des Jesuitenpaters Ádám im Mitteilungsblatt der Gesellschaft Jesu für Ungarn aus dem Jahr 1953 und den Auskünften ungarischer Studenten anlässlich der Berufsberatung vom 11.–14. Dezember 1956 im Wacker-Erholungsheim Lindau. Anwesend waren insbesondere die Geburtsjahrgänge 1930 bis 1938, und es gab je einen Studenten aus den Jahrgängen 1922 bis 1928. An der Beratung nahmen 46 männliche und sechs weibliche Studenten teil (Dr. Hauck – Dr. Hutter: Bericht über die Beratung ungarischer Studenten im Wacker-Erholungsheim Lindau/Bodensee, Bad Schachener Straße, 11.–14. Dezember 1956. StAM LAA 5149). Vergleichbare Angaben über die ungarischen Studenten in der Bundesrepublik Deutschland zeigen ähnliche Ergebnisse. Vgl. Cseresnyés: Magyar egyetemisták, 141–142. Siehe noch Kapitel II. 1. Bei der Beratung sollten die Beamten entscheiden, ob ein Kandidat für ein Studium oder für einen anderweitigen Berufsweg geeignet war. Beschluss des BayStMI vom 10. Dezember 1956. StAM AAR 1357. Dr. Hauck – Dr. Hutter: Bericht über die Beratung ungarischer Studenten im Wacker-Erholungsheim Lindau/Bodensee, Bad Schachener Straße, 11.–14. Dezember 1956. StAM LAA 5149.

202 Au f n a h m e l a n d B ay e r n In München prüfte ein Komitee aus Vertretern des bayerischen Kultusund Arbeitsministeriums die Studienbewerber, die in kleinen Gruppen Fragen auf Deutsch beantworten mussten. Sozialreferent Johannes Maurer, Vorsitzender des Prüfungsausschusses, stellte zwar fest, dass die allgemeinen Kenntnisse über die Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz und über Bayern Mängel aufwiesen. Dennoch war er mit den Fortschritten insbesondere bei den Deutschkenntnissen sehr zufrieden.708 Trotz noch weiterbestehender sprachlicher Hemmnisse waren die meisten Ungarn imstande, ihr Studium an einer deutschen Universität oder Hochschule fortzusetzen. Zu denen gehörte auch der 22-jährige Pongrác Pastyik709 aus Dunapataj,710 der sein Studium, das er im dritten Semester an der Technischen Universität Budapest hatte abbrechen müssen, dann in Aachen fortsetzen konnte. Pastyik war einer der 62 jungen Ungarn, die im Jugendheim Burg Feuerstein in Ebermannstadt aufgenommen wurden.711 Organisierte Ausflüge boten ihm die Möglichkeit, Universitätsstädte und Studiengänge in der Bundesrepublik Deutschland kennenzulernen. Anlässlich einer solchen Kulturreise lernte er die Universität Aachen kennen und entschloss sich, dort die Fakultät Bauingenieurwesen zu besuchen. Pongrác Pastyik musste bis zum 1. Mai 1957 wie alle anderen Ungarn eine Deutschprüfung ablegen und sich entscheiden, wo er weiterstudieren wollte. Danach musste er aus dem Jugendheim ausziehen. Er erhielt bis zum Vorexamen ein Stipendium von monatlich 150 Deutsche Mark und 708

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Obwohl die Prüflinge im sprachlichen Teil gut abschnitten, wies ihr Allgemeinwissen Lücken in Literatur, Geschichte und Politik auf. A szabadságharcosok és a »der-die-das«. In: ÚMÉ 1 (1957) 7, 12. April, 1. Pastyik hatte mit seinen Kommilitonen einen fünfzackigen roten Stern vom Dach der Markthalle in Budapest entfernt. Als er erfuhr, dass die Staatsgrenzen passierbar waren, fuhr er mit einem Bus nach Raab. Von dort aus gelangte er zu Fuß nach Österreich. Im Lager St. Pölten warb die Bonner Delegation Studenten für die Bundesrepublik Deutschland an. Da sein Vater Deutschland sehr schätzte, wählte er dieses Land. Über Piding kam er nach Burg Feuerstein in Ebermannstadt. Zeitzeugengespräch mit Pongrác Pastyik. Dunapataj, das Heimatdorf der Autorin, liegt 100 Kilometer südlich von Budapest an der Donau. Burg Feuerstein diente in den 1950er Jahren als Jugendheim des damaligen Diözesanjugendwerks St. Heinrich und St. Kunigund in Bamberg. Ein Foto im „Bamberger Volksblatt“ vom 28. November 1956 zeigt die ungarischen Freiheitskämpfer, die auf Burg Feuerstein herzlich empfangen wurden (AEB Rep. 80 Slg 6/3.1, 8152 A). Die Suche nach weiteren Informationen in den Unterlagen des Pfarrarchivs Ebermannstadt im Archiv des Erzbistums Bamberg und in den Akten des Landratsamts Ebermannstadt im Staatsarchiv Bamberg war erfolglos.

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zusätzlich Essensmarken für die Mensa. Nebenbei jobbte er bei der Schokoladenfabrik Trumpf. So konnte er es sich leisten, in noblen Kaffeehäusern zu verkehren, was manchen Einheimischen empörte.712 Ein kleiner Nebenverdienst zum Stipendium bot die Möglichkeit, sich etwas zu gönnen. Und es gab immer eine Gelegenheit, sich schnell ein Taschengeld zu verdienen, wie Zeitzeugen berichteten.713 Nicht nur das Geld habe bei den Gelegenheitsjobs eine Rolle gespielt, sondern auch der Umstand, dass man dabei Deutsch lernte.714 Stipendiaten der Wiener Universität jobbten in den Semesterferien in der Bundesrepublik Deutschland und bekamen Einblick in das Studentenleben. Als sie die Arbeitsbedingungen der zwei Länder verglichen, stellten sie fest, dass studentische Hilfsarbeiter hier besser bezahlt beziehungsweise behandelt wurden als in Österreich.715 Das Leben als Flüchtlingsstudent in der Bundesrepublik Deutschland war verglichen mit anderen Ländern wesentlich besser. Zahlreiche Studenten kamen aus Drittländern, um hier zu studieren. Allerdings erhielten die Flüchtlinge, die in einem anderen Land bereits Asyl erhalten hatten und erst danach in die Bundesrepublik Deutschland eingereist waren, keine Staatsstipendien. Anfang 1957 stieg die Zahl der Grenzübertritte aus benachbarten Ländern, vornehmlich aus Frankreich, Dänemark, Belgien und den Niederlanden stark an. Als Beispiel sei der Fall des Zoltán Boronkay genannt, der in den Niederlanden aufgenommen worden war, aber im Februar 1957 nach Bayern kam. Er wurde als Vermessungsingenieur bei der 712 713

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Zeitzeugengespräch mit Pongrác Pastyik. Elemér Kiss erinnerte sich gern an die Zeit in Bad Niedernau bei Rottenburg am Neckar, als er und seine Kameraden dort ihr Taschengeld aufbesserten, indem sie für die Stadtverwaltung Brennesseln am Straßenrand entfernten oder als Aushilfe auf dem Feld arbeiteten. Nach einer Kartoffellese hatten die Bauern die Helfer sogar mit einem Butterbrot und einer Flasche Bier belohnt. Rheingauschule Geisenheim: Berichte. Wie zum Beispiel die Brüder Szász, die als Hilfsarbeiter bei DEMAG in Düsseldorf tätig gewesen waren. Árpád und Csaba Galambos arbeiteten bei der Firma Jenaer Glaswerk Schott in Mainz, wo sie Kontakte mit Deutschen knüpften. Dadurch konnten sie bei einer deutschen Familie der Firma Schott ihr erstes Weihnachtsfest weit weg von der Heimat verbringen. Rheingauschule Geisenheim: Berichte. 2005 befragte András Lénárt mit Methoden der Oral History eine Gruppe Ungarnflüchtlinge in Österreich, die 1956 als Mittelschüler in ungarischen Gymnasien ihr Abitur abgelegt hatten. In den Interviews der 20 einstigen Absolventen tauchte teils durch die Art der Fragestellung, teils völlig spontan der Vergleich zwischen Deutschen und Österreichern beziehungsweise Deutschland und Österreich auf. Vgl. Lénárt: Deutschland-Varianten.

204 Au f n a h m e l a n d B ay e r n Firma Kogs in München angestellt, beabsichtigte jedoch, sein noch in Ungarn, an der Technischen Hochschule in Ödenburg begonnenes Studium abzuschließen. Da er bereits in den Niederlanden Asyl erhalten hatte, stand ihm kein deutsches Stipendium zu. Für ein privates Stipendium brauchte er Empfehlungen. Ohne Unterstützung der Familie war er auf die Betreuer angewiesen, die über seine Person, Zuverlässigkeit und Ernsthaftigkeit seiner Absichten Auskunft gaben. Ungarnseelsorger und Leiter der Jugendgemeinschaftswerke halfen bei solchen Angelegenheiten. Caritasdirektor Jandl betreute Bittschreiben für Privat-Stipendien.716 Nicht selten wurden Bürgschaften für Darlehen gebraucht, da nichtdeutsche Kreditnehmer bei der Darlehenskasse der Bayerischen Studentenwerke und der Studienhilfe e. V. zwei Bürgen stellen mussten. Die Bittsteller schilderten ausführlich Situation und Vorhaben. Nicht jedes Gesuch wurde bewilligt. Doch der Caritasverband der Erzdiözese München und Freising hatte auch Erfolge dokumentiert.717 Den Ungarn wurde weitgehend unbürokratisch die Fortsetzung ihres Studiums in der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht. Ein typischer Flüchtlingsstudent war 24 Jahre alt, ledig und sprach nicht gut oder gar kein Deutsch. Wie oben aufgeführt, wurden sie nach der Ankunft in Bayern in Jugendheimen untergebracht und auf das Studium vorbereitet. Sobald sie einen Studienplatz erhielten, verteilten sie sich in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Andere schlugen einen anderen Lebensweg ein. Wie viele Ungarn ihr Studium abbrachen oder erfolgreich abschlossen, ist in keiner Statistik festgehalten.718 716

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István Geröly an Deutschen Caritasverband. München, 13. August und 2. September 1957. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16. Die Wacker-Chemie GmbH gewährte Stipendien für drei Ungarn und stellte zwei Chemiker als Werkstudenten in ihrem Werk in Burghausen ein. Die Handwerkskammer für Oberbayern finanzierte mit einem Stipendium von 50 Deutsche Mark das veterinärmedizinische Studium von Pál Kántor. Oskar Jandl übernahm persönlich die Bürgschaft für ein Studiendarlehen für Kántor. Alexander Wacker an Diözesan-Caritasdirektor Jandl. München, 25. Januar und 5. Februar 1957; Jandl an Joseph Wild (Präsident der Handelskammer für München und Oberbayern). München, 17. Januar 1958; Pál Kántor an Jandl. München, 18. Juni 1961. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16. Im Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München endet die Überlieferung der Studentenkarteien im Jahr 1935. In der Nachkriegszeit wurden die gedruckten Personal- und Studentenverzeichnisse nicht mehr fortgeführt. Erst aus den 1980er Jahren sind detaillierte Universitätsstatistiken vorhanden (Briefliche Mitteilung von Wolfgang J. Smolka, Leiter des Archivs der Ludwig-Maximilians-Universität München, an die Au-

V. Gegenseitige Wahrnehmung Aufgrund ihrer Wahrnehmung aus direkten oder indirekten Kontakten zwischen der Aufnahmegesellschaft und den Ankommenden bildeten sich Bayern rasch ihr eigenes Bild über die Ungarnflüchtlinge. Mit direkten Kontakten sind hier die persönlichen Begegnungen zwischen Ungarn und Bayern gemeint, wohingegen sich die indirekten Kontakte auf bestehende, durch Kino, Radio und Presse vermittelte Vorstellungen beziehen.719 Dabei darf weder die Aufnahmegesellschaft noch die Gruppe der Ankommenden als homogene Gesellschaft verstanden werden. Marita Krauss spricht über »hybride Kulturen«, in denen verschiedene Traditionen und Prägungen zusammenwirken und sich überlappen.720 Die Integration der Ungarn kann nicht als einfacher Übertritt im Sinne einer Assimilation in eine andere Kultur dargestellt werden. Sie ist vielmehr in einem komplexen und vielschichtigen, oftmals über Generationen hinweg andauernden Prozess zu sehen.721 Nachfolgend wird zuerst untersucht, welche Ungarnbilder in der bayerischen Gesellschaft vorherrschend waren, und auf welche Weise sie von der Medienberichterstattung während des Ungarnsaufstands und danach beeinflusst wurde. Außerdem wird hinterfragt, ob Vorkenntnisse und Stereotype in der bayerischen Gesellschaft existierten, worauf sie basierten und wie sie sich auf die Erwartungen der Bayern gegenüber den ankommenden Ungarn auswirkten. Zu analysieren ist auch, mit welchen Hoffnungen die Ungarn in Bayern ankamen und wie sie agierten, außerdem inwieweit die Vorstellungen, die Bayern und Ungarn voneinander hatten, die Integration erleichtert beziehungsweise erschwert haben.

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torin. München, 4. Oktober 2006). Aus diesem Grund ist es nicht möglich festzustellen, wie viele Ungarn am Ende der 1950er und am Anfang der 1960er Jahre an der LudwigMaximilians-Universität München immatrikuliert waren. Vgl. Bisping: »Öffnung zur Welt«, 14. Krauss: Migration, 266. Vgl. Hoerder – Lucassen – Lucassen: Terminologien, 47; Krauss: Migration, 260.

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1. Medial vorgeprägtes Ungarnbild Ein Großteil der bayerischen Bevölkerung informierte sich anhand der bayerischen Tages- und Wochenzeitungen sowie aus den Sendungen des Bayerischen Rundfunks über die innen- und außenpolitischen Ereignisse. In den 1950er Jahren war der Hörfunk das führende elektronische Informationsmedium, das Radio stand im Mittelpunkt des privaten Lebens. Ab Mitte des Jahrzehnts besaß so gut wie jeder Haushalt ein Radiogerät, wodurch dieses vom Luxus- zum Alltagsgegenstand geworden war. Es gab nur sehr wenige Haushalte, die ein Fernsehgerät besaßen. Doch binnen zehn Jahren erhöhte sich die Anzahl der Fernsehbesitzer auf das 15fache.722 1957 betrug die Sendezeit der Fernsehstationen nur vier Stunden pro Tag, wohingegen in Bayern zwei Hörfunkprogramme ganztägig zur Verfügung standen.723 Dank seiner stetig wachsenden Dichte erreichte der Hörfunk einen Großteil der bayerischen Gesellschaft.724 Neben tagesaktuellen Informationen wurden auch besondere Berichte gesendet, die den bayerischen Hörern die Möglichkeit boten, nicht nur an regionalen und nationalen, sondern auch an internationalen Ereignissen teilzuhaben. Dies war zum Beispiel bei Übertragungen von Sportereignissen der Fall, wodurch die einheimischen und ausländischen Nationalsportler und -mannschaften bekannt wurden. Insbesondere die Olympischen Spiele standen im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und wurden von den Medienorganen detailliert kommentiert. 1952, bei der Olympiade in Helsinki, war Ungarn mit 16 Gold-, zehn Silber- und 16 Bronzeme722

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Die Rundfunkdichte basiert auf der Anzahl von Genehmigungen (nicht von Geräten), die auf 100 Haushalte entfallen. Während sich die Ton-Rundfunkdichte zwischen 1957 und 1968 von 81 auf 89 pro 100 Haushalte erhöhte, stieg die Fernseh-Rundfunkdichte von 4 auf 61 pro 100 Haushalte an. BiZ 22 (1968) 153. Wicht: Der Hörfunk, 286. Seit dem 18. August 1950 strahlte der Bayerische Rundfunk ein zweites Hörfunkprogramm aus, das aber erst 1958 ein eigenständiges Programm wurde. Der 6. November 1954 gilt als offizieller Sendestart des Fernsehens in Bayern. 1964 startete das Bayerische Fernsehen als erstes Drittes Programm. Gruber: 50 Jahre, 72–74. Schildt: Hegemon, 458–459. Bereits 1957 war beim Hörfunk mit etwa 80 Prozent ein verhältnismäßig hoher Sättigungsgrad erreicht. Innerhalb von zehn Jahren konnten »beim Hörfunk über 98 Prozent und beim Fernsehen rund 87 Prozent der Einwohner von Bayern ›rundfunkversorgt‹ angesehen werden«. BiZ 22 (1968) 151.

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daillen die drittbeste Nation hinter den USA und der Sowjetunion.725 Die ungarische Fußballnationalmannschaft »aus dem Lande der Puszta und des Tokajer Weines«726 wurde dank des legendären 6:3 gegen England im »Fußballmatch des Jahrhunderts«727 vom 25. November 1953 weltberühmt. Die ungarische Goldene Mannschaft (Aranycsapat) war seit Längerem ungeschlagen, und die englische Auswahl hatte seit 90 Jahren in keinem einzigen Heimspiel gegen eine Kontinentalmannschaft verloren.728 Vor allem rief dieser Sieg eine neue Welle des Nationalstolzes hervor, der die Widrigkeiten des Alltags vergessen ließ und suggerierte, dass es nichts gäbe, was nicht möglich wäre.729 Ganz Ungarn verfolgte das Spiel gespannt vor dem Rundfunkgerät, wie auch bei der Weltmeisterschaft, bei der die Bundesrepublik Deutschland am 4. Juli 1954 in Bern gegen die ungarische Nationalelf mit 3:2 gewann. Die Niederlage löste in Ungarn große Enttäuschung aus. Diesmal konnte das staatlich forcierte Ziel des Sports, »die Überlegenheit des Kommunismus« gegenüber dem Imperialismus durch Siege zu demonstrieren, nicht verwirklicht werden.730 Für die Deutschen jedoch war der Finalerfolg, das Wunder von Bern, »mehr als ein Fußballtitel. Es war der Tag, der die junge Republik veränderte. Aus den Besiegten wurden wieder Sieger«, schrieb „Der Stern“ über jenen Julitag des Jahres 1954.731 Bei den Olympischen Sommerspielen in Melbourne vom 22. November bis 8. Dezember 1956 zog die ungarische Delegation hinter der rot-weißgrünen Fahne ohne Sowjetstern ein und bekam einen Sonderapplaus, der die internationale Solidarität mit der Bevölkerung Ungarns vor dem Hin725

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»Fünf Olympiasieger stellten die Magyaren 1952 im Schwimmen beziehungsweise Wasserball, je zwei im Fechten, Turnen und Ringen. Ferner waren sie im Schießen, Modernen Fünfkampf, Fußball, im Hammerwerfen und Boxen siegreich. Amateurboxer Laszlo Papp wiederholte seinen Olympiasieg von London 1948 und nun will der jetzt 30jährige versuchen, seine dritte Goldmedaille einzuheimsen.« Sonderapplaus für Ungarns Olympiamannschaft. In: PNP 11 (1956) 184, 3. November, 18. Ebenda. Ungarns Fußballer entzauberten in 60 Minuten Englands Berufsspieler. In: PNP 8 (1953) 186, 28. November, 5. England Heimnimbus durch Ungarn mit 6:3 gestürzt. In: PNP 8 (1953) 185, 26. November, 9. Romsics: Magyarország, 375. Ebenda, 376. Zur zeitgenössischen ungarischen Sportpolitik: Marschik: Die »undankbare« Aranycsapat. Zitiert nach »Wir denken oft an Piroschka« 7. Vgl. Fußball-Weltmeister durch 3:2 über Ungarn. In: PNP 9 (1954) 104, 5. Juli, 4.

208 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g tergrund der Niederschlagung des Aufstands zum Ausdruck brachte. In Australien erreichten die Ungarn mit 26 Medaillen den vierten Platz. Fast ein Drittel der Olympiamannschaft kehrte nach den Spielen jedoch nicht mehr in die Heimat zurück, sondern blieb im Westen.732 Außer den sportlichen Erfolgen der Ungarn, über die in Bayern der Rundfunk und die Tageszeitungen berichteten, vermittelte das Kino Eindrücke vom Land, wobei es der bayerischen Bevölkerung einen idealisierten Alltag in Ungarn zeigte. Da das Fernsehen zu dieser Zeit das Radio noch nicht als Informations- und Unterhaltungsmedium verdrängt hatte, gehörte der Kinobesuch neben dem Rundfunkhören zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen.733 Seit Ende 1955 war in den westdeutschen Filmtheatern das nach dem gleichnamigen Roman von Hugo Hartung produzierte Streifen „Ich denke oft an Piroschka“ zu sehen.734 Die Geschichte einer Sommerliebe zwischen einem Deutschen und einer Ungarin spielt am Plattensee (Balaton) und in der Puszta, in einem Dorf mit dem für Deutsche wohl unaussprechlichen Namen HódmezővásárhelyKutasipuszta. Andreas, ein deutscher Austauschstudent, verliebt sich in Piroschka, Tochter des örtlichen Bahnvorstehers. Hauptdarstellerin Liselotte Pulver verkörperte das ideale ungarische Mädchen, die »Paprika im Blut« hatte.735 Der Kassenschlager stellte die Csárdás tanzende und Volkslieder singende ungarische Landbevölkerung als temperamentvoll und gastfreundlich, vor idyllischer Puszta-Kulisse dar. Er prägte das Ungarnbild einer Generation in der Bundesrepublik Deutschland und Bayern. Da das Reisen erst gegen Ende der 1950er Jahre einer breiten Bevölkerungsschicht möglich wurde, konnte der Realitätsbezug der vom Film propagierten Bil732

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Klimó: Ungarn, 80. Das Wasserballspiel zwischen Ungarn und der Sowjetunion musste beim Stand 4:0 für Ungarn wegen Fouls der Sowjets abgebrochen werden. Ungarn wurde Olympiasieger. Konrad: Die Weltpolitik, 10–11. Laut der Studie von Elisabeth Merkle, die das Verhältnis der Jugend zu Zeitung und Rundfunk am Anfang der 1950er Jahre untersuchte, konnten 92 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 25 in Bayern Radio empfangen. Ein großer Teil von ihnen (88 Prozent) besaß selbst einen Radioempfänger zu Hause und hörte am liebsten Sportsendungen, Nachrichten, Hörspiele, die Sendung „Glückswelle“ und Hörerwünsche. Jeder dritte Berufsschüler ging 4–5 Mal pro Woche ins Kino, höhere Schüler nur ein Mal pro Woche. Merkle: Das Verhältnis, 50, 88–90, 97. Hartung: Ich denke oft an Piroschka. Die Hauptrollen spielten Liselotte Pulver und Gunnar Möller. Regie führte Kurt Hoffmann. Kopp: Ein östliches Traumland; Nowiczki: Piroschka. Nowicki: Piroschka, 15. Vgl. Bein: Gulasch, 59.

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der von Ungarn als Sehnsuchts- und Urlaubsort nicht überprüft werden. Auf diese Weise beeinflusste der Film nachhaltig die Vorstellungen von Ungarn und den Magyaren.736 Im Sommer 1956 entstand der zweite Teil der Sissi-Trilogie.737 „Sissi. Die junge Kaiserin“ wurde ein großer Publikumserfolg. In diesem Film wurden die Ungarn nicht nur als temperamentvolles, gegen Habsburger rebellierendes Volk dargestellt, sondern auch als Volk der Romantiker, das für seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpft. Sissi, Kaiserin Elisabeth von Österreich und Königin von Ungarn, die alles Ungarische liebte, weckte bei den Zuschauern große Sympathien für die Ungarn und somit für deren Stereotypisierung durch Zigeunermusik und Rákóczi-Marsch.738 Diese Darstellung folgte der Tradition der Ungarnfilme, die in die Zwischenkriegszeit zurückreichte.739 Auch die ungarische Musik erlangte durch diese Spielfilme große Popularität, insbesondere Operetten, Melodien von Franz Liszt sowie moderne Tanzschlager aus den 1930er Jahren. Die unendliche Weite der Puszta-Landschaft mit den lebenslustigen hübschen Mädchen und heldenhaften Husaren wurden zu wichtigen Leitbildern. Diese Unterhaltungsfilme vermittelten das Bild einer ungarischen Gesellschaft voller Romantik, das auch in Frankreich, Italien und den USA in Umlauf gekommen war.740 Als gezielte Strategie unterstützten die ungarischen Regierungen der Zwischenkriegsjahre zum ersten Mal die Aufnahme der Volkskunst in das touristische Programmangebot. Gasthäuser stellten den Touristen zur Unterhaltung Traditionen verschiedener Regionen Ungarns vor, darunter Volkstänze und Volkslieder, Festtrachten, Strickereien, Töpferwaren und handbemalte Bauernmöbel. All das vermittelte eine stilisierte Version der ungarischen Lokaltraditionen und des Volkslebens. Die Gasthäuser waren 736

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Kopp: Ein östliches Traumland, 138–144; Lankes: Stationen im 20. Jahrhundert, 367; Nowicki: Piroschka, 6, 59–67. Die Hauptrollen spielten Romy Schneider und Karlheinz Böhm. Regie führte Ernst Marischka. Lankes: Stationen, 367, 370. Bachkönig: Ungarnaufstand, 23; Schwarz: »Ungarn 1956«, 314. Zwischen 1929 und 1939 entstanden 22 Ungarnfilme, darunter vier Operettenverfilmungen: „Die Csikósbaroness“ (1930), „Csárdásfürstin“ (1934), „Der Zigeunerbaron“ (1935) und „Wo die Lerche singt“ (1936). Gulyás: »Von der Puszta will ich träumen…«, 49, 55. Ebenda, 47–48, 112–116. Nowicki: Piroschka, 12, führt als Beispiel den internationalen Publikumserfolg von „Rákóczi-Marsch“ (1933) an.

210 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g häufig zugleich Volkskunsthäuser. Sie dienten als Museen und Geschäfte, in denen Besucher Souvenirs des traditionellen ungarischen Kunsthandwerks kaufen konnten und zudem lokale Volksbräuche und Tänze vorgeführt bekamen. Diese gastronomischen und kulturellen Angebote unterstützten und verbreiteten Vorstellungen eines exotischen ungarischen Bauernlebens, was zum idealisierten Ungarnbild erheblich beitrug.741 Die Kinoproduktion der 1950er Jahre stand in einer inhaltlichen und personellen Kontinuität zu den Unterhaltungsfilmen der zwanziger und dreißiger Jahre. Ungarn wurde erneut zur Kulisse in Operettenverfilmungen wie in Imre Kálmáns neu verfilmten „Csárdásfürstin“ mit Marika Rökk742 (1951), „Der Zigeunerbaron“ (1954), „Ungarische Rhapsodie“ (1954) und „Gräfin Maricza“ (1958). Ungarn wurde den Deutschen als Sehnsuchtsort präsentiert und war deshalb überaus positiv besetzt.743 Auch die ungarische Sprache, die zur finnougrischen Sprachfamilie gehört, klang für viele Touristen ungewohnt und fremdartig. In den Unterhaltungsfilmen wurden einige Sätze auf Ungarisch zur Betonung von Gefühlsausbrüchen eingefügt. Der unaussprechliche Name des Phantasieortes Hódmezővásárhely-Kutasipuszta »beschäftigte den Zuschauer und untermalte das Klischee der nicht lernbaren ungarischen Sprache«.744 Aufgrund der klischeehaften Darstellungen hatten viele Bayern das romantische Ungarnbild verinnerlicht, was sowohl die Idealisierung des gescheiterten Ungarnaufstands als auch Erwartungen gegenüber den Ungarn erzeugte.

2. Erste Eindrücke von den Ungarnflüchtlingen 2. 1. Unmittelbare Resonanz auf den Ungarnaufstand Für die Analyse der Berichterstattung wurde als eine der bedeutendsten deutschen Tageszeitungen die „Süddeutsche Zeitung“ herangezogen, die mit einer Auflage von 206.000 Stück nicht nur in Bayern, sondern über741 742

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Vgl. Fügedi: »Das unterhaltsame Exotikum«. Marika Rökk verkörperte mit ihrer ungarischen Herkunft die ideale Ungarin, die nicht nur hübsch und jung war, sondern auch gut tanzen konnte. Gulyás: »Von der Puszta will ich träumen…«, 87–93. Vgl. Nowiczki: Piroschka, 21–24. Bein: Gulasch, 59. Vgl. Gulyás: »Von der Puszta will ich träumen…«, 65.

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regional verbreitet war.745 Als zweitgrößte Tageszeitung Münchens wurde der „Münchner Merkur“ und als Lokalzeitung aus dem Grenzgebiet die „Passauer Neue Presse“ ausgewählt, die mit einer Auflage von 165.000 beziehungsweise von knapp über 100.000 Exemplaren erschienen.746 Als regionale Zeitung im grenznahen Gebiet, in dem sich das größte Durchgangslager Bayerns, Piding, befand, erschien das „Reichenhaller Tagblatt“ mit damals 8.200 Exemplaren.747 Von den Wochenzeitungen wurde die „Bayerische Staatszeitung“ gesichtet, deren Artikel das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben in Bayern in einer Auflage von damals 25.200 Stück widerspiegelten.748 Ab dem 24. Oktober 1956 war die Ungarnkrise täglich in den Schlagzeilen der bayerischen Printmedien. »Moskau würgt Ungarns Freiheit ab«, kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“ am 5. November den Einmarsch der Sowjets und widmete einen Großteil der Berichterstattung dem letzten Apell und Hilferuf der amtierenden Regierung Nagy, die westliche Staaten zur Unterstützung aufforderte.749 Die Ungarn wurden als »tapferes, kleines, heldenmütiges Volk«750 bezeichnet, das wie David gegen Goliath kämpfte.751 Sie erschienen in der Opferrolle als Verteidiger des christlichen Abendlandes, waren Tor zum Osten und Schutzwall gegen den Angriff von Feinden aus dem Osten.752 Der Direktor des Caritasverbandes Passau, Jo745

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Der Leitfaden für Presse und Werbung 112; Enzyklopädie der bayerischen Tagespresse 87– 105. Zur Untersuchung der Berichterstattungen der bayerischen Presse über die Ungarnflüchtlinge 1956 vgl. Hoser: Die Ungarnflüchtlinge. Der Leitfaden für Presse und Werbung 111, 117; Enzyklopädie der bayerischen Tagespresse 107–117, 259–270. Der Leitfaden für Presse und Werbung 119; Enzyklopädie der bayerischen Tagespresse 207–216. Der Leitfaden für Presse und Werbung 110; Enzyklopädie der bayerischen Tagespresse 75– 86. Moskau würgt Ungarns Freiheit ab. In: SZ 12 (1956) 265, 5. November, 1–2; Sowjetarmee erstickt Ungarns Freiheitskampf. In: PNP 11 (1956) 185, 5. November, 1; Letzter Apell Nagys an die ganze Welt. In: PNP 11 (1956) 185, 5. November, 1–2. Sowjetarmee erstickt Ungarns Freiheitskampf. In: PNP 11 (1956) 185, 5. November, 1; Der Ruf aus Ungarn. In: CD 9 (1956) 85; Die Freiheitsliebe des Ungarischen Volkes wirkt unbedingt symphatisch! In: DA 11 (1956) 176, 13. November, 3. David und Goliath. In: PB 21 (1956) 46, 11. November, 4. Vgl. Seewann: Ungarnbild, 15. »[…] Völker der Welt hört uns – helft uns. Nicht mit Rat, nicht mit Worten, mit der Tat, mit Soldaten und Waffen. Vergeßt nicht, dass es in dem brutalen Ansturm der Sowjets keinen Halt gibt. Das nächste Opfer werdet ihr sein. Helft uns, SOS – SOS. Völker Europas, wir haben euch jahrhundertelang gegen den Ansturm der asiatischen Barbaren

212 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g hann Lampert, der am 7. November 1956 im Passauer Stephansdom vor Tausenden eine Gedenkrede hielt, sagte: »Sie kämpfen für ein christlichabendländisches Europa, sie kämpfen für die ganze Welt.«753 Auch die Rede der FDP-Abgeordneten Herta Ilk im Bundestag für die Flüchtlingshilfe zeigte eine ähnliche Empfindung: »Sie brachten die Opfer für uns alle, für den Gedanken der Freiheit schlechthin, und daraus erwächst uns die Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen.«754 Dieses Wahrnehmungsmuster könnte die herrschende Sympathie der deutschen und bayerischen Bevölkerung für die Ungarn beflügelt haben. Der Gedanke der Verteidigung des christlichen Westens kann bis Kampf Ungarns gegen Mongolen, dann gegen Osmanen im Mittelalter beziehungsweise in der Frühen Neuzeit zurückverfolgt werden.755 Auch in der Zwischenkriegszeit wurde die nationale Identität Ungarns von der Vorstellung einer »Schutzbastion des christlichen Westens gegenüber den sich immer erneuernden Angriffen des östlichen Barbarentums«756 geprägt. Insbesondere die heranwachsenden Generationen beeinflusste diese Selbstwahrnehmung, die sie dann ins Erwachsenenalter mitnahmen. Der Wiener Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“, Raymund Hörhager, berichtete über die Ereignisse.757 Die Bilder rollender Panzer auf den Straßen von Budapest riefen Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs hervor, die zum einen die Empathie für die Ungarn, zum anderen die Angst vor einem bevorstehenden dritten Weltkrieg verstärkten. Beides löste Betroffenheit und Verunsicherung aus, da der Verlauf des ungarisch-sowjetischen Konflikts schwer einzuschätzen war.758 Diskussionen

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geschützt. Hört jetzt das Sturmgeläut der ungarischen Glocken, kommt und rettet uns. SOS – SOS…«, zitierte die „Süddeutsche Zeitung“ die letzte Meldung des ungarischen Radiosenders, die auf Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch gesendet wurde (Moskau würgt Ungarns Freiheit ab. In: SZ 12 [1956] 265, 5. November 1956, 2). Auch die schweizerische Zeitung „Vaterland“ griff in ihrer Ausgabe vom 31. Oktober 1956 auf den Abendlandgedanken zurück und stellte den heroischen Kampf der Ungarn als Dienst an Europa dar. Tréfás: Die Illusion, 211. Betstunden für Ungarn angeordnet. In: PB 21 (1956) 46, 11. November, 12. 2. Deutscher Bundestag. 176. Sitzung. Bonn, 5. Dezember 1956. In: DBP 9734. Vgl. Seewann: »Mégis huncut a német«, 63–73; Seewann: Ungarnbild. Seewann: »Mégis huncut a német«, 68. Hörhager: Blutiges Gemetzel. Vgl. Hoser: Die Ungarnflüchtlinge, 272. Wilhelm Staudacher, Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung, sagte aus Anlass des 50jährigen Jubiläums des Ungarnaufstands im Oktober 2006: »Ich erinnere mich bis zum heutigen Tag an die – für mich geradezu traumatischen – Bilder jener Ereignisse.

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über die Möglichkeiten einer humanitären Hilfe und über das Verhalten in einer internationalen Krise beschäftigten die Menschen weltweit. In Bayern wurde die Ungarnkrise im November 1956 zu einem der wichtigsten politischen Themen, das in den Landesmedien allgegenwärtig war. Die unsichere politische Lage löste sogar Panikkäufe aus; in München wurden große Mengen Öl, Reis, Zucker, Mehl und Fett gekauft. Die Geschäfte hatten in wenigen Tagen kaum noch Ware, manche Lebensmittel wurden knapp. Um Lebensmittelvorräte, Textilien, Schuhe, Benzin und Öl kaufen zu können, plünderten manche Menschen sogar ihre Sparbücher.759 Aufgrund der zeitgenössischen Pressedokumentationen ist feststellbar, dass viele Menschen in Bayern aus Solidarität mit der ungarischen Bevölkerung Hilfsprojekte unterstützten. Es gab kaum eine bayerische Organisation, die sich nicht an der Ungarnhilfe beteiligte. Ein Beispiel aus dem Landkreis Dachau belegt ein reges zivilgesellschaftliches Engagement in der großangelegten Ungarnhilfe. Der „Dachauer Anzeiger“ fasste die Hilfsaktion wie folgt zusammen: »Das Rote Kreuz und Caritas sammelten Geldund Sachspenden; der Erlös mehrerer Veranstaltungen floß der Ungarnhilfe zu; nicht materielle Dinge, aber Freude und Unterhaltung brachten die Chöre und Dachauer Knabenkapelle ins Ungarn-Flüchtlingslager Wagenried. In den letzten Wochen hielten die Schützengesellschaften, die Krieger-, Soldaten- und Kameradschaftsverbände und die Landsmannschaften des Kreises Dachau Freischießen zu Gunsten der Ungarnhilfe ab. Zum Abschluß veranstalteten alle diese Verbände gemeinschaftlich am Samstag ein großes Konzert im Dachauer Schloßsaal.«760 Am 6. November gedachte Landtagspräsident Hans Ehard im Bayerischen Landtag der Opfer des Aufstands und sprach von Mitgefühl, Trauer, aber auch von Entsetzen und Empörung, die man gegenüber den nicht weit entfernt stattfindenden Ereignissen empfand. Ebenso würdigte er die große Hilfs- und Spendenbereitschaft der Einheimischen, die selbst die

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Ich habe mein Gefühl nie vergessen, dass hier jemand versagt hat. Wir haben die Menschen allein gelassen, und eigentlich hätten wir irgendetwas tun müssen. Ich hätte als 11jähriger nicht gewusst, was dies hätte sein sollen; möglicherweise weiß ich es heute noch nicht. Aber selbst als 11jähriger hatte ich ein Gefühl der Hilflosigkeit, aber auch der Scham, dass hier nichts getan wurde und getan werden konnte.« Staudacher: Der Ungarn-Aufstand, 6. Panikkäufe leeren die Geschäfte. In: MM 11 (1956) 267, Extra-Ausgabe vom 7. November 1956, 3. Auf die Hamsterkäufe in Zürich verweist Tréfás: Die Illusion, 217. Großes Konzert unter der rot-weiß-grünen Fahne. In: DA 11 (1956) 192, 11. Dezember, 3.

214 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g Flüchtlingsnot erlebt hatten.761 An diesem Tag wehten die Flaggen auf dem Parlamentsgebäude und an allen anderen staatlichen Gebäuden auf Halbmast. Um zwölf Uhr wurde der Verkehr in ganz Bayern für drei Minuten stillgelegt.762 Auf Anweisung des Kultusministeriums unterbrachen die Lehrkräfte ihren Unterricht, um der Ereignisse in Ungarn zu gedenken.763 In der DDR legte eine Klasse in Storkow, in der Nähe von Berlin, während des Unterrichts aus Sympathie für den ungarischen Aufstand fünf Schweigeminuten ein. Allerdings führte die spontane Aktion der Abiturienten zu einer Untersuchung, zum Verhör und schließlich zum Schulverweis, weil sich die Gruppe weigerte, die Hauptverantwortlichen zu benennen. Dietrich Garstka, einer der Schüler, veröffentlichte 2006 seine Erinnerungen an diese Zeit unter dem Titel „Das schweigende Klassenzimmer“, die 2017 verfilmt wurden.764 Während die Schüler in Ostdeutschland wegen ihrer Sympathiebezeugungen für Ungarn die Schule verlassen und sogar aus der DDR flüchten mussten, konnten Menschenmengen in Westdeutschland gegen die Niederschlagung des Ungarnaufstands frei protestieren, mussten keine Repressalien befürchten. Vor allem Jugendliche initiierten Solidaritätskundgebungen. Nachdem Zehntausende dem Aufruf des Bundes der Katholischen Jugend und der Jungen Aktion in Passau gefolgt waren und am 7. November 1956 am Schweigemarsch teilgenommen hatten,765 stellte das „Passauer Bistumsblatt“ fest, dass seit dem 74. Deutschen Katholikentag im Jahr 1950 nicht mehr so viele Menschen auf die Straßen gegangen waren, außer bei Fronleichnamsprozessionen.766 Auch in London, Paris, Kopenhagen, Wien und Berlin demonstrierten Menschen gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn.767 761

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»Bei uns wurden in den letzten Wochen Geld- und Sachgüter in großen Mengen gespendet. Es kamen sehr große Einzelbeträge, es kamen aber auch viele kleine Scherflein von Leuten, die selbst karg genug leben, die aber die Flüchtlingsnot am eigenen Leib verspüren mußten.« Bayerischer Landtag. 3. Legislaturperiode. Stenographischer Bericht. 79. Sitzung. 6. November 1956. In: BLP 2699. AEB Rep. 80 Slg 6/3.1, 8128 A; Telegramm von Walter Becher (MdL, GB/BHE) an Ministerpräsident Hoegner. [München], 4. November 1956. BayHStA StK 13369. Vgl. Kock: Der Bayerische Landtag, 171. Drei Minuten Verkehrs- und Arbeitsruhe. In: PNP 11 (1956) 186, 6. November, 2. Garstka: Das schweigende Klassenzimmer. Trauer um Ungarn. In: PB 21 (1956) 46, 11. November, 13. Es steht ein Kreuz – so furchtbar und so riesengroß. In: PB 21 (1956) 48, 25. November, 3. Schwere Ausschreitungen in Wien. Ungarnproteste führen zu Übergriffen gegen Kommunisten. In: PNP 11 (1956) 190, 10. November, 2.

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Die antikommunistischen Kundgebungen forderten einen Einsatz gegen die sowjetische Gewalt und darüber hinaus den Abbruch diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen mit der Sowjetunion.768 Die Gefahr einer Ausweitung des kommunistischen Einflussbereichs schürte Ängste in der westlichen Bevölkerung und führte zu verschiedenen Formen der Solidarisierung gegen den Kommunismus und gegen das Expansionsstreben Moskaus. Die Niederschlagung des Ungarnaufstands war ein Beispiel dafür, dass ein Land »trotz einer legitimen Regierung und der Mitgliedschaft in der UNO vor dem sowjetischen Angriff nicht geschützt war«.769 Durch die Ereignisse in Ungarn fühlten sich viele in ihrer Angst vor dem kommunistischen Machtblock bestätigt, was zur weiteren Sensibilisierung für eine mögliche, von der Sowjetunion ausgehende Gefahr führte. Die Wahlplakate von 1957 erinnerten mit dem Slogan »Denkt an Ungarn: Seid wachsam!«770 an den Ungarnaufstand und illustrierten Bundeskanzler Adenauers antikommunistische Haltung. Der Feind des christlichen Abendlands, so die Interpretation, war die kommunistische Sowjetunion, zugleich aber auch die SPD, deren Politik der kommunistischen Bedrohung nichts entgegenzusetzen hatte. Vielmehr würde sie »dem Kommunismus Tür und Tor öffnen«. Laut Adenauer würde »der russische Kommunismus über uns Herr« werden und »in längerer oder kürzerer Zeit Deutschland zu einem russischen Satellitenstaat machen und damit den Untergang Deutschlands herbeiführen«.771

2. 2. Begegnungen mit Ungarnflüchtlingen Am 16. November 1956 wurden die Ungarnflüchtlinge am Pidinger Bahnhof begeistert empfangen. Eine große Menschenmenge, darunter zahlreiche Repräsentanten des Freistaates Bayern wie Staatsminister Stain, 768

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Trauer und Bestürzung über Ungarn. In: SZ 12 (1956) 265, 5. November 1956, 5. Zu Ausschreitungen gegen echte oder vermeintliche Kommunisten in der Schweiz vgl. Tréfás: Die Illusion, 218–223. Mihok: Die ungarische Emigration, 797. Kock: Der Bayerische Landtag, 115. Zitiert nach Franz: »Wir wählen die Freiheit!«, 155. Mihok: Die ungarische Emigration, 797, geht davon aus, dass die Tatsache der Niederschlagung des Ungarnaufstands auch ohne eine politische Instrumentalisierung zu antikommunistischen Parolen und zu einem starken Rückgang der Mitgliederzahl der Kommunistischen Parteien Westeuropas führte.

216 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g warteten auf die Einfahrt des Zuges. Kameramänner von Presseagenturen, Wochenschau und Illustrierten fotografierten die Ankunft der ersten 250 ungarischen Flüchtlinge. »Aus der Hölle in die Freiheit«772 lautete die Schlagzeile im „Reichenhaller Tagblatt“. Es folgte ein offizieller Empfang mit Grußworten von Ministerialrat Seemeier vom bayerischen Innenministerium und dem Pidinger Lagerleiter Georg Worbs. Im großen Speisesaal des Lagers wurden die Feierlichkeiten fortgesetzt. Staatsminister Stain begann seine Ansprache mit den Worten »Meine lieben ungarischen Freunde!« und hieß die Ungarn als Gäste der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Bayern herzlich willkommen. Obwohl die meisten Ungarn vermutlich wenig von der Rede verstanden, drückten sie ihre Dankbarkeit durch regen Beifall aus.773 Die Presseorgane beschrieben die Ungarn überwiegend als übermüdete und traumatisierte Freiheitskämpfer, die etwas Grauenvolles erlebt hatten. Ursula von Kardorff von der „Süddeutschen Zeitung“ berichtete über das Eintreffen der Ungarn in Piding. Trotz der Strapazen der Flucht schilderten einige Ungarn ihre Kampf- und Fluchterlebnisse sowie ihre Angst vor den sowjetischen Soldaten und drohenden Repressalien. Diese Schilderungen aus erster Hand verstärkten das Mitleid mit den Ungarn. Von Kardorff beschrieb die Ungarn, die bei ihrer Ankunft in Piding geduldig warteten, sich höflich entschuldigten und offen über die ungarischen Ereignisse berichteten, überaus positiv.774 Diese äußerst emotionale Berichterstattung beförderte das idealisierte Bild von den Ungarnflüchtlingen. Durch die detaillierten Darstellungen individueller Schicksale konnten die Leser an den Erlebnissen der Ungarn teilhaben und ihre Ängste während der Flucht nachvollziehen.775 Ihr Kampf für die Freiheit und gegen den Kommunis772 773

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Aus der Hölle in die Freiheit. In: RT 116 (1956) 184, 17. November, 1. Erster Ungarntransport kommt heute. In: RT 116 (1956) 183, 16. November, 1; Aus der Hölle in die Freiheit. In: RT 116 (1956) 184, 17. November, 1; Staatsminister Stain heißt Ungarn willkommen. In: RT 116 (1956) 185, 19./20. November, 6. Wir wollen Arbeit – nicht Barmherzigkeit. In: SZ 12 (1956) 277, 19. November, 3. Im Gegensatz hierzu meint Mihok: Die ungarische Emigration, 795, dass die Identifizierung mit den Ungarn erschwert wurde, da die westdeutsche Berichterstattung ab dem 4. November 1956 mit dem Ungarnaufstand zugleich auch die Intervention in Ägypten thematisierte und von einer Doppelkrise Suez – Ungarn sprach. Dass »dabei eine eindeutige Anteilnahme für die Ungarn nicht entstehen konnte, lag in der Natur der Sache: Die Menschen konnten sich nicht mit zwei völlig unterschiedlichen Ereignissen identifizieren oder sich mit ihnen solidarisieren«.

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mus machte die Gefahr einer sowjetischen Expansion spürbar. Die brutale Niederwerfung des Ungarnaufstands zeigte, dass die Sicherung der Freiheit Bayerns beziehungsweise der Bundesrepublik Deutschland nicht nur Rhetorik war, sondern dass es sich um eine durchaus realistische Einschätzung der von der Sowjetunion ausgehenden Gefahr handelte.776 Und die Ungarn galten als glühende Verfechter eines Antikommunismus. Die positive Haltung der bayerischen und deutschen Bevölkerung ihnen gegenüber und die breite Akzeptanz ihrer Aufnahme lassen sich größtenteils auf dieses Phänomen zurückführen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz befasste sich in einem Memorandum mit dem Thema „Das Problem der Flüchtlinge des ungarischen Aufstandes“ und schlug spezielle Maßnahmen vor.777 Andreas Schmidt-Schweizer stellt in diesem Zusammenhang eine »bevorzugte Behandlung«778 der Ungarnflüchtlinge fest, die übrigens nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland, sondern auch für andere europäische Länder typisch war.779 Als ersten Faktor zur schnellen und erfolgreichen Integration nennt Schmidt-Schweizer die Anzahl der Ungarnflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland, die mit etwa 14.500 Personen relativ klein war. Als zweiten Faktor gibt er die soziale und berufliche Schichtung der Flüchtlinge an: Der Umstand, dass sie junge Männer waren, die eine abgeschlossene Berufsausbildung oder bereits Berufserfahrungen in der metallverarbeitenden Industrie, dem Bergbau und dem Handwerk hatten, begünstigte ihre Eingliederung in die bundesdeutsche Wirtschaft. Drittens spielten der Sympathiefaktor und die große Hilfsbereitschaft der westdeutschen Bevölkerung bei der schnellen Aufnahme der Ungarnflüchtlinge eine große Rolle. Viertens zählt Schmidt-Schweizer den Integrationswillen der Ungarnflüchtlinge auf, fünftens deren europäischen kulturellen Hintergrund. Beim letzteren waren die seit Jahrhunderten bestehenden wirtschaftlichen, kulturellen und persönlichen Bindungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn maßgeblich.780

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Franz: »Wir wählen die Freiheit!«, 155–156. Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz: Das Problem der Flüchtlinge des ungarischen Aufstandes. München, 16. November 1956. BayHStA StK 12124. Schmidt-Schweizer: »Bevorzugte Behandlung«. Vgl. Kecskés: Egy humanitárius csoda. Schmidt-Schweizer: »Bevorzugte Behandlung«.

218 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g Idealisierte Vorstellungen über die Ungarn konnten auch in Ernüchterung oder gar Enttäuschung umschlagen. Die Bayern in Piding erwarteten die Helden des Ungarnaufstands. Gekommen waren jedoch Menschen, die zwar vor möglichen Repressalien oder Unterdrückungsmaßnahmen geflohen, jedoch an den Kämpfen häufig gar nicht beteiligt gewesen waren. Julianna Puskás mutmaßt, dass nur fünf Prozent der Ungarnflüchtlinge tatsächlich mit Waffen gekämpft hatte,781 weshalb der Großteil der Geflohenen nicht in die idealtypische Kategorie des Helden von Budapest fiel. Trotzdem sympathisierte die bayerische Bevölkerung mit den Ungarn, was die ungarischen Altflüchtlinge und deutschen Heimatvertriebenen kritisierten. »Eine so großangelegte Flüchtlingshilfe von Seiten der Bevölkerung unseren deutschen Flüchtlingen gegenüber ist mir nicht erinnerlich«, schrieb der Heimatvertriebene Franz Steinhübel aus Gilching in einem Leserbrief und beschwerte sich über die »Propagandaaktion«, die vorschlug, »dass jeder Mann von seinem Weihnachtsgeschenk einen Prozentsatz für die Ungarnhilfe spenden soll«. Steinhübel merkte an, dass es auch in Bayern viele arme Menschen gebe, »denen eine Hilfe sehr erwünscht wäre«.782 Der erste Teil des Leserbriefes weist auf die Aufnahme der Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg hin, als Evakuierte, Displaced Persons, Flüchtlinge und Vertriebene in einem zerstörten Bayern unter amerikanischer Bestatzungsmacht zusammenleben mussten. Es fehlte an Lebensmitteln und Wohnraum, und die Einstellung der Einheimischen gegenüber Fremden war bei Weitem nicht so positiv wie zehn Jahre später, als die Ungarn unter völlig anderen Bedingungen in Bayern ankamen.783 Der zweite Teil deutet an, dass es trotz günstigerer Wirtschaftslage und besserer Wohnverhältnisse immer noch Menschen gab, die unter Armut litten.784 Aber nicht nur Heimatvertriebe, sondern auch Ungarn, die vor 1956 nach Bayern geflohen waren, bemerkten den Unterschied in der Behandlung der Fremden zwischen der unmittelbaren Nachkriegszeit und dem Jahr 1956. Der ungarische Altflüchtling Gyula Borbándi bemerkte, dass die zuvor verschlossene und zurückhaltende Aufnahmegesellschaft die 1956er Flüchtlinge nun mit großer Zuneigung und offenen Armen empfing. Er 781 782 783 784

Puskás: Elvándorlások, 251. Nicht nur den Ungarn. In: MM 12 (1957) 4, 5./6. Januar, 20. Bisping: »Öffnung zur Welt«, 144–148. Zur Mitte der 1950er Jahre war der Mangel trotz erkennbaren Wohlstands vielfach noch spürbar. Kramer: Wirtschaftswunder, 120.

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meinte, dass ein persönliches Treffen mit diesen Flüchtlingen bereits als Ehre gelte, weshalb es beneidenswert sei, in dieser Zeit Ungarnflüchtling zu sein.785 Genau dieser beneidenswerte Status schuf eine gewisse Ungarneuphorie. Die ungarischen Exilanten nach 1945 wurden nicht so herzlich in Empfang genommen wie jene in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Aufgrund dieser bevorzugten Behandlung flammte Neid auf die Neuankömmlinge auf, weshalb viele Altflüchtlinge – bewusst oder unbewusst – gegenüber den 1956er Flüchtlingen negativ eingestellt waren.786 Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz schlug zwar vor, den Ungarn »Lebensverhältnisse zu bieten, die sich denen annähern, die sie in ihrer Heimat gewohnt waren« und sie nicht in den vorhandenen Auffanglagern unterzubringen, um einen besseren »Übergang zum Leben im Westen finden« zu können.787 Dennoch wurden die Ungarn zu Beginn in bereits bestehende Flüchtlingslager einquartiert. Wie die deutschen Heimatvertriebenen kamen auch die Ungarn im Durchgangslager Piding an, und das bayerische Arbeitsministerium stellte ihnen zahlreiche noch nicht aufgelöste Wohnlager zur Verfügung, in denen kurz zuvor noch Heimatvertriebe gewohnt hatten. Eine andere Form der Unterbringung war nicht möglich, da aufgrund der Wohnungsknappheit auch viele Einheimische in Notunterkünften leben mussten.788 Auch Bundesvertriebenenminister Oberländer machte die Aufnahmemöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland von den Beherbergungskapazitäten abhängig, denn er hob zwar die Begrenzung von 3.000 Ungarn auf, nannte jedoch keine Obergrenze.789 Da die österreichische Caritas überzeugt war, dass sich Lageraufenthalte negativ auf Geflohene auswirkten, brachte sie in einer Gasthofaktion möglichst viele Ungarnflüchtlinge statt in Massenquartieren in kleinen 785 786

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Borbándi: A magyar emigráció, I, 408. Bei den Alflüchtlingen traten emotionale Spannungen, sogar Aggressionen oder Frustrationen auf, weil die Neuflüchtlinge »eine unendlich größere materielle Hilfe, bessere Lebensverhältnisse, noch nie dagewesene Emigrationsmöglichkeiten hatten und mit übertriebener Begeisterung empfangen wurden und trotzdem unglücklich und unzufrieden waren«. Hoff – Strotzka: Die psychohygienische Betreuung, 41. Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz: Das Problem der Flüchtlinge des ungarischen Aufstandes. München, 16. November 1956. BayHStA StK 12124. Bundesweit lebten 366.140 Menschen in etwa 3.000 Notunterkünften (Durchgangs-, Wohn-, Ausländer- und Notaufnahmelager). Angaben des Statistischen Bundesamtes in: Flüchtlingsanzeiger Nr. 9, 4. September 1956. BayHStA AM LFV 573. Interview von Theodor Oberländer über die Flüchtlingsfrage (27. November 1956).

220 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g Gasthöfen, Pensionen und kirchlichen Heimen unter. Alois Eckert, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, befürwortete eine deutsche »Gasthofaktion«, damit »für möglichst viele Flüchtlinge nicht ›Endstation Lager‹ mit dem zermürbenden, demoralisierenden Massenelend und dem endlosen untätigen Warten der Ausklang ihres in der Zeit der Sensationen so gefeierten Freiheitskampfes sein muss«.790 Aber auch den Vorschlag, die Ungarn in Erholungsheimen unterzubringen, wies Arbeitsminister Stain ab, da es ungewiss war, wie lange diese in Anspruch hätten genommen werden müssen. Seine Unterbringungspläne stießen auf offene Kritik, insbesondere im Landkreis Dachau, wo die Ungarn im Wohnlager Wagenried unterkamen.791 Die Vorbehalte gegenüber einer Unterbringung in Notunterkünften beruhten darauf, dass die frühen Erfahrungen in der neuen Umgebung den ersten Eindruck von Deutschland entscheidend prägten. Provokant fragte ein anonymer Verfasser eines Artikels des „Kirchlichen Anzeigers für die katholischen Gemeinden von Dortmund“, ob die Ungarn »von der Hölle in die Hölle« gekommen seien. Er wies auf die mangelhaften baulichen und hygienischen Zustände, bedrückende Enge in den Lagern und auf die Tatsache hin, dass das Wohnlager kein kurzfristiger Aufenthaltsort, sondern eine Unterkunft für voraussichtlich zwei bis drei Jahre sei. Unter derart schlechten hygienischen Verhältnissen prophezeite er eine Häufung von Alkoholexzessen, Selbstmordversuchen, sexuellen Ausschreitungen und Tobsuchtsfällen.792 Im Dezember 1956 und Januar 1957 herrschte im Lager Piding Hochbetrieb, und die 800 Betten in 46 Zimmern reichten kaum aus. Lagerleiter Georg Worbs blieb nichts Anderes übrig, als einige Männer und Frauen im selben Zimmer unterzubringen. In den Gängen wurden zusätzliche Betten aufgestellt, die Enge war unerträglich. In der Nacht vom 10. Januar 1957 vergewaltigten drei ungarische junge Männer ihre Mitbewohnerin, ohne dass dies bemerkt wurde. Pfarrer Ludwig Klöck, der die ankommenden Ungarn im Durchgangslager Piding betreute, wo sie die ersten zwei bis drei 790 791 792

Aufgabe der Caritas-Ungarnhilfe. In: Ca 58 (1957) 330–331. Siehe dazu Kapitel IV. 4. 2. Nachdenklichkeiten. Von Hölle zu Hölle. In: Kirchlicher Anzeiger für die katholischen Gemeinden von Dortmund 24. November 1956, Nr. 48, in: ORR Graebe (BMVt) an RD Nentwig (BayStMA). Bonn, 8. Dezember 1956. BayHStA AM LFV 1913. Siehe noch Kapitel IV. 4. 2. 1.

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Tage verbrachten, empörte sich über das Verhalten mancher Bewohner der Flüchtlingsunterkunft. Die Vergewaltigung in Piding könne nicht allein mit der Überfüllung des Durchgangslagers erklärt werden, sondern lasse auf den »moralischen Zustand« breiter Schicht schließen. Die drei Ungarn wurden wegen »Notzucht« und Beihilfe zur Vergewaltigung angeklagt und mussten sich zwei Monate später vor dem Schöffengericht Traunstein verantworten.793 Pfarrer Klöck war von dem sexuellen Verhalten, der geringen Religiosität und der »Nikotinsucht« der Ungarn, deren Ursache er in ihrer kommunistischen Erziehung sah, zutiefst enttäuscht.794 Vorfälle ungewollter Schwangerschaften in österreichischen Lagern wurden nicht nur der »kommunistischen Erziehung«, sondern auch den »aufgepeitschten Nerven« sowie dem Fehlen »stark ausgeprägter sexueller Hemmungen« zugeschrieben, meinte die Psychologin Éva Bene.795 Unter den geschilderten Wohnverhältnissen boten die Mahlzeiten eine willkommene Abwechslung vom Lagerleben. In Bayern wurde bereits für den ersten Empfang der Ungarn ungarisches Gulasch zubereitet. Zudem stellte man in zahlreichen Wohnlagern die Küche auf ungarische Gerichte um.796 Zumindest die Speisen sollten den Neuankömmlingen vertraut sein und sie an ihre Heimat erinnern, um ihnen so die Ankunft in der Fremde zu erleichtern. Éva Bene stellte fest, dass bekannte Speisen und Geschmacksrichtungen für die Lagerbewohner von besonderer Bedeutung 793

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Der Täter, der 22-jährige Gy. B., wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Zimmergenossen konnten aufgrund mangelnder Beweise nicht verurteilt werden. Ist das Pidinger Verbrechen voll versühnt? In: RT 117 (1957) 16. März, 7. »Das Fehlen gültiger Ausweispapiere erleichterte falsche Angaben über den Personenstand. Die Lagerleitung hielt wohl ledige Personen an, den zugewiesenen Raum anzunehmen, doch war eine Kontrolle nicht möglich. Man kann wohl sagen, die Mädchen und Frauen warfen sich den Männern geradezu an den Kopf. Zweifellos war das Lagerleben – für den einzelnen dauerte es nur wenige Tage – eine ständige nächste Gelegenheit zur Sünde. Man möchte freilich annehmen, dass der einzelne im überfüllten Raum doch so viel Schamgefühl haben könnte, um ärgste Verfehlungen zu meiden.« Pfarrer Ludwig Klöck (Katholisches Pfarramt Piding) an Erzbischöfliches Ordinariat. Piding, 20. März 1957. AEMF GV REG, 0741. Éva Bene war eine alteingesessene ungarische Psychologin in England, die zur Betreuung ungarischer Flüchtlinge herangezogen wurde. Anhand ihrer Betrachtungen der Flüchtlingsprobleme in England konnte die Arbeitsgruppe für Flüchtlinge der Österreichischen Gesellschaft für psychische Hygiene ihre Erfahrungen bei der Betreuung der Ungarn mit jenen in England vergleichen. Hoff – Strotzka: Die psychohygienische Betreuung, 67–70. Siehe dazu Kapitel IV. 4. 2. 1.

222 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g waren, da die Mahlzeiten im monotonen Lageralltag auch körperliche und seelische Bedürfnisse erfüllten. Laut der Psychologin können fremde Gerichte nicht so wie einheimische Speisen zum Wohlbefinden beitragen.797 Dieses Argument führte auch Ágota Kristóf an, die 1956 mit ihrem Mann und ihrem Baby durch Österreich in die französischsprachige Schweiz geflüchtet war. Sie vermisste nicht nur die einheimischen Speisen und die Kommunikation mit anderen Menschen, sondern auch die soziale und kulturelle Einbindung in die Gesellschaft. Durch das Fehlen der gewohnten Speisen und des Austausches fühlte sie sich wie in einer sozialen und kulturellen »Wüste«.798 Die Ungarn, die über Bayern ein anderes Aufnahmeland erreichen wollten, wurden an Grenzbahnhöfen, zum Beispiel in Passau, von der Katholischen Bahnhofsmission betreut und versorgt. Auch wenn die Aufenthalte meist kurz waren, hatten die Helfer persönliche Begegnungen mit den durchreisenden Flüchtlingen, deren Zahl nicht zu unterschätzen ist: Etwa 90.000 Ungarn passierten die österreichisch-bayerische Grenze, um in ein Drittland zu reisen (siehe Tabelle 7). Die Flüchtenden wurden dabei nicht nur mit warmen Speisen und Getränken, sondern auch mit Kleidungsstücken, Medikamenten und Decken versorgt. Die Verfasserin des Jahresberichts der Katholischen Bahnhofsmission, Annemarie Hackenberg, war über den Zigarettenkonsum der Ungarn, insbesondere der Jugendlichen, empört.799 Dies entsprach nicht dem Idealtypus des Helden im Kampf gegen den Kommunismus oder dem Bild des armseligen Bedürftigen. 30.000 ungarische Männer, Frauen und Kinder fuhren durch Passau – lauter Einzelschicksale, egal ob Aktivisten, Sympathisanten oder Abenteurer. »Aber wir begehen sicherlich kein Unrecht, wenn wir auch die Mitläufer an den Verdiensten der echten Freiheitskämpfer teilnehmen lassen«,800 resümierte Bartl Rester, ein Mitarbeiter der Passauer Caritas und Mitorganisator der Ungarnhilfe, in seiner Dokumentation über die Ungarnhilfe 797 798

799

800

Hoff – Strotzka: Die psychohygienische Betreuung, 68. »Die Speisen unterscheiden sich so sehr von denen, die wir gewohnt sind, dass wir fast nichts essen. In der Kantine in der Fabrik sind alle nett zu uns. Man lächelt uns zu, man spricht mit uns, aber wir verstehen nichts. Hier beginnt die Wüste. Soziale Wüste, kulturelle Wüste.« Kristóf: Die Analphabetin, 58. Annemarie Hackenberg: Bericht der Katholischen Bahnhofsmission über das Jahr 1956. Passau, 11. Februar 1957. ADiCVP 46.23. Rester: Die Caritas-Hilfsaktion, 43.

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und manifestierte damit eine Grundhaltung gegenüber allen ungarischen Flüchtlingen unabhängig von ihrem Fluchtgrund. Diese positive Einstellung blieb erhalten, auch wenn Gerüchte über Messerstechereien, Zurückweisungen von angebotenen Kleidungsstücken und Taxifahrten der Ungarn im Lager Wagenried aufkamen. Insbesondere die teuren Taxifahrten waren den Bewohnern des Landkreises Dachau ein Dorn im Auge, da diese mit der Vorstellung des armen Flüchtlings nicht vereinbar waren. »Ist das nicht unerhört? Diese Zigeuner! Woher haben denn die so viel Geld, dass sie gleich mit dem Taxi fahren können? Und Kleidungsstücke nehmen sie auch nicht an, so etwas Hochmütiges! Da sieht mans wieder, Ausländer bleibt Ausländer […].«801 Obwohl Lagerleiter Worbs diese Vorwürfe dementierte, musste er zu Taxifahrten, die von Deutschen und Amerikanern finanziert wurden, detaillierter Stellung beziehen. Er nahm die Ungarn in Schutz und nannte die Einladungen zu Taxifahrten eine Privatsache.802 Wenngleich es sich hier um Gerüchte handelte, zeigt das Zitat, wie einige Einheimische auf Verhaltensweisen reagierten, die nicht ihren Erwartungen entsprachen. Die abfällige Bezeichnung Zigeuner oder die exkludierende Verwendung des Begriffs Ausländer verdeutlicht die Empörung und die offene Missbilligung der Dachauer Einwohner für fremdartiges Verhalten. Während in der Bundesrepublik Deutschland und in Bayern nur vereinzelt kritische Stimmen gegen die Ungarn laut wurden, schlug die Ungarn-Sympathie in Österreich in offene Kritik und Ablehnung um.803 Die steigende Anzahl der Ungarnflüchtlinge stellte Österreich vor eine immer größer werdende Herausforderung. Deren Ende war im November und Dezember 1956 nicht absehbar, und die Weiterreise der Ungarnflüchtlinge in Drittstaaten kam nur zögerlich voran. Auch reisten viele Ungarn 801

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Dichtung und Wahrheit über das Lager Wagenried. In: DA 11 (1956) 195, 15. Dezember, 3. Ebenda: »Die im Lager Wagenried untergebrachten Ungarn sind nicht etwa Internierte irgendeiner Art, sondern unsere Freunde, mit denen uns vor allem die Freiheitsliebe verbindet. Sollen nun diese Freunde der Freiheit nicht einmal nach München oder Dachau fahren dürfen? – Muß man da gleich fragen: Woher haben sie das Geld? – Aber man kann beruhigt sein: sie haben das Geld nicht gestohlen, sie fahren gratis!« Rásky: »Flüchtlinge haben auch Pflichten«, 6, verweist auf die Erklärung des österreichischen Bundesinnenministers Bruno Kreisky vom Januar 1957 mit dem Titel „Flüchtlinge haben auch Pflichten“ und meint, dass ab diesem Zeitpunkt die unterdrückten Vorurteile gegenüber den Ungarn offen ausgesprochen werden konnten.

224 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g aus einem Drittland wieder in Österreich ein, um nach Ungarn zurückzukehren oder in die USA zu emigrieren. So wurde die anfängliche Ausnahmesituation sowohl für die österreichischen Behörden als auch für die österreichische Bevölkerung zu einer Belastung. Hinzu kam, dass nicht alle Ungarn der Klischeevorstellung des notleidenden Flüchtlings entsprachen.804 Veränderungen in den österreichischen Medien zeigte Brigitte Zierer auf. Sie stellte fest, dass die den Ungarnflüchtlingen entgegenbrachte Sympathie von einer kritischen, zuweilen ablehnenden Berichterstattung abgelöst wurde. Man bezeichnete die Ungarn sogar als »Parasiten« des österreichischen Wohlfahrtsstaates.805 Im Hinblick auf die Schweiz wies Brigitte Mihok einen deutlichen Rückgang der Sympathien ab Februar 1957 nach, als die Ungarn offen als »undankbar«, »anspruchsvoll« und »verwöhnt« kritisiert wurden. »Die Idealisierung war abgeschlossen, und die Flüchtlinge waren als Menschen angekommen«.806 Eine junge Schweizerin, die drei Wochen lang ehrenamtlich den Ungarnflüchtlingen geholfen hatte, bemerkte ebenfalls einen deutlichen Stimmungsumbruch. Als Grund machte sie die unterschiedlichen Erwartungen der Schweizer und der Ungarn aus: »Auf der einen Seite erwarteten die Schweizer Gastgeber Engel aus Ungarn. Und auf der anderen Seite glaubten die Flüchtlinge, dass ihnen allen gebratene Tauben in den Mund fliegen werden.«807 Die Schweizer, aber auch die Bayern hatten Engel oder Helden aus Ungarn erwartet, aber es kamen Menschen, die gute und schlechte Eigenschaften hatten wie alle Menschen auf dieser Welt.808 Allerdings glaubten nicht wenige von den Flüchtlingen, dass sie im Westen ohne Anstrengungen Privilegien genießen würden. So verursachten die idealisierten Annahmen auf beiden Seiten Enttäuschungen. 804

805

806 807 808

»Die überwältigende, emotionale Zuwendung der österreichischen Bevölkerung zu den Flüchtlingen beinhaltet immanent die unbewusste Erwartung, dass diese Menschengruppe das Verhalten armer, hilfloser Kinder zeigen müsste. Wenn das nicht der Fall ist, wenn Flüchtlinge im gleichen Espresso verkehren, im gleichen Geschäft unter Umständen einmal etwas Besseres kaufen, spontan in anderer Weise handeln, als es dieser Rollenerwartung entspricht, so entsteht eine fast gesetzmäßige Aggression.« Hoff – Strotzka: Die psychohygienische Betreuung, 9. Zierer: Politische Flüchtlinge, 159. Der Untertitel von Stajić: Ungarn (Von armen Flüchtlingen zu »Parasiten des Wohlstands«) weist auf diese Veränderung hin. Mihok: Die ungarische Emigration, 792. Heti villámriportunk. In: ÚMÉ 1 (1957) 9, 26. April, 2. Die jungen Ungarn haben Fuß gefaßt. In: SZ 15 (1959) 47, 24. Februar 1959, 3.

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Die positive bayerische Grundhaltung in den Begegnungen mit den Ungarnflüchtlingen änderte sich aber weder durch die Tatsache, dass nicht alle von ihnen Freiheitskämpfer waren, noch durch einige negative Erfahrungen. Gegen Kritik wurden sie im Sinne der antikommunistischen Grundstimmung mit Verweis auf ihre Freiheitsliebe und Opferrolle für das Abendland in Schutz genommen. Ihre Aufnahme galt als humanitäre Hilfsaktion.

3. Erste Eindrücke der Ungarn von Bayern Dieses Kapitel richtet den Blick auf die Erfahrungen der anderen Seite: Es stellt anhand von Zeitzeugenberichten, Autobiografien und Ego-Dokumenten die Eindrücke der Ungarn den Wahrnehmungen der bayerischen Bevölkerung gegenüber. Subjektive Erfahrungen anhand retrospektiver Berichte zu dokumentieren, ist für die Geschichtsforschung problematisch. Auch wenn Erinnerungen und Vergangenheitskonstruktionen von der Gegenwart beeinflusst werden, stellen Oral-History-Dokumente wichtige Ergänzungen dar.809 Die Subjektivität der Darstellungen ist sowohl für die bayerische als auch für die ungarische Wahrnehmung charakteristisch. Im Folgenden wird analysiert, wie sich einige Ungarn über die erste Zeit in der neuen Umgebung äußerten. Wie nahmen sie die Aufnahmegesellschaft wahr und wie bewerteten sie diese? Was förderte oder erschwerte die Integration in Bayern aus ihrer Sicht? Wie wirkten die traditionellen ungarischen Verhaltensweisen im Aufnahmeland? Das Beiheft „Új Magyar Élet“ der Münchener Exilzeitschrift „Új Hungária“ thematisierte vor allem Unterschiede zwischen Bayern und Ungarn. Altflüchtlinge erklärten in den Artikeln auf Ungarisch, was etwa Asylrecht, Arbeitsamt, staatliche Fürsorge, Meldepflicht und Betriebsrat bedeuteten und wie sie funktionierten. Zudem lieferte das Blatt praktische Informationen zum Alltagsleben, etwa Anleitungen zum Fahrkartenkauf für eine Reise innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, aber auch Informationen zu einer Rückreise nach Ungarn oder einer Weiterreise in ein Drittland. Die erste Ausgabe wies auf die gravierenden Unterschiede zwischen der Volksrepublik Ungarn und dem »freien Westen« hin.810 Laut den un809 810

Vgl. Hockerts: Zugänge. A magyar menekültek és a szabad nyugat. In: ÚMÉ 1 (1957) 1, 1. März, 1.

226 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g garischen Altflüchtlingen bestand der größte Unterschied in der Rolle des Staates: Im Westen sei der Staat kein Feind, sondern vertrete die Interessen der Gemeinschaft freier Bürger. Während man in Ungarn den staatlichen Institutionen mit Misstrauen begegnete und Mitbürger der Bespitzelung verdächtigt wurden, war das Vertrauen Grundlage der demokratischen Grundordnung in der Bundesrepublik Deutschland. Die Ungarn müssten keine Angst vor dem Ausfüllen eines Formulars haben, da sich dahinter nicht die Staatssicherheit verberge. Der Hausmeister überwache nicht die Bewohner, der Postbote kontrolliere nicht die privaten Briefe. Auch Urteile fälle nicht die Staatssicherheit, sondern der Richter als neutrale Person in einem Gerichtsverfahren, hieß es aus der Sicht der Altflüchtlinge.811 Diese Ängste und Befürchtungen basierten auf den Erfahrungen der Ungarnflüchtlinge in den 1950er Jahren, als die ungarische Kultur und Gesellschaft im Rahmen der Sowjetisierung maßgeblich umgestaltet wurde. Da der ungarische Staat in der Rákosi-Ära als Terrorherrschaft die Bevölkerung überwachte und den Feind auch innerhalb der Partei suchte, lebten die Ungarn ständig in Angst. Politische Schauprozesse sollten zeigen, dass der Einzelne dem System ausgeliefert war. Jeder konnte in Spionageverdacht geraten und verurteilt werden. Tausende Menschen standen unter polizeilicher Beobachtung. Ein ausgebautes Spitzelsystem förderte das Misstrauen unter den Staatsbürgern und verbreitete das Gefühl der Verunsicherung im Alltagsleben. Die oben genannten Beispiele verdeutlichen, dass die Ungarn vor 1956 in Ungewissheit und Angst vor der Zukunft leben mussten.812 Gerhard Sebode stellte 1958 in seiner Untersuchung fest, dass die Ungarnflüchtlinge nach zwei Jahren Aufenthalt in Westdeutschland noch immer Bedenken hatten, persönliche Angaben und Meinungen in einem Fragebogen preiszugeben, da sie mögliche Konsequenzen fürchteten. Der Autor erklärte dieses Verhalten mit den Erfahrungen in einem autoritären Staat, der weitreichende Kontrolle des privaten, politischen und wirtschaftlichen Lebens ausgeübt hatte. Er hielt es für einen der Gründe dafür, dass die Ungarnflüchtlinge nicht am politischen Leben in der Bundesrepublik Deutschland teilnahmen.813 811 812 813

Ebenda. Vgl. Rainer: Ungarn im Schatten der Sowjetunion; Valuch: Hétköznapi élet, 152–171. Sebode: Ungarische Flüchtlinge.

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Der Neuflüchtling Gábor Czibulás, der seine Fahrt zur Jugendherberge in einer Straßenbahn mit der Reise der Mayflower nach Amerika814 verglich, betonte rückblickend, dass »das große Deutschland« vielen Ungarn als »neue, unsichere und fremde Welt« vorkam.815 Nach Czibulás, der sein Abitur 1959 im Ungarischen Gymnasium Burg Kastl ablegte, waren zwei Drittel seiner Klasse ohne Eltern oder Verwandten in der Bundesrepublik Deutschland auf sich alleine gestellt. Die Möglichkeiten einer freien Welt wirkten auf sie einerseits verlockend, andererseits verunsichernd.816 Die Psychiater Hans Hoff und Hans Strotzka, 1956–1958 Leiter der psychohygienischen Arbeitsgruppe für Ungarnflüchtlinge in Österreich, zogen zur Flüchtlingsarbeit einige Beobachtungen aus der Kinderpsychologie heran. Sie verglichen die Rückfindung in ein neues Leben nach einer Flucht mit dem Verhalten eines Neugeborenen, der sich in einem Zustand der Unsicherheit und des Sich-Nicht-Zurechtfinden-Könnens befindet, in dem er vollkommen von anderen abhängig ist und Sicherheit sowie Geborgenheit sucht. Der Erfolg oder Misserfolg des Anpassungsprozesses hänge maßgeblich von der Persönlichkeit und dem Charakter eines Individuums ab, wobei das Gefühl der Sicherheit, Stabilität, Zugehörigkeit sowie das Bedürfnis nach Bodenständigkeit und Heimat von großer Bedeutung sei. Durch Verluste an Bezugswerten und Bezugspersönlichkeiten brauche der Flüchtling das Gefühl der Kontinuität und Bodenständigkeit sowie Möglichkeiten, neue Bezugswerte zu schaffen. Unsicherheit, Schwierigkeiten, Leid und Angst begleiteten das Individuum in seinem neuen sozialen Umfeld und stellten es vor Herausforderungen, die verschiedene Menschen auf unterschiedliche Weise bewältigen.817 Wie anders die früher für allgemeingültig gehaltenen Normen in der neuen Umgebung waren, erfuhren die Ungarn auf vielerlei Weise. Als ein ungarischer Student auf die Frage, was er später werden möchte, lediglich mit einem Schulterzucken antwortete, überraschten ihn die Reaktionen der 814

815 816

817

»Unsere „Mayflower“ für die Fahrt in diese Neue Welt war kein Schiff mit dem Kapitän Christopher Jones, sondern ein weiß-blauer Straßenbahnwagen der Heidelberger Verkehrsbetriebe, der uns nach Handschuhsheim in die damalige Jugendherberge brachte!« Czibulás: Festrede anlässlich des 50jährigen Jubiläums. Czibulás: Festrede zum ALUMNI Treffen. Das 1958 eröffnete Ungarische Gymnasium führte 1959 zum zweiten Mal die Abiturprüfung unter der Aufsicht einer bayerischen Prüfungskommission durch. 76 Schüler, darunter 17 Mädchen und 59 Jungen, erhielten ihre Reifezeugnisse. Ebenda. Hoff – Strotzka: Die psychohygienische Betreuung, 74–84.

228 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g deutschen Kommilitonen, die mit einer solchen Antwort nicht gerechnet hatten. Da es in Ungarn vorkam, dass sich ein Abiturient für das Fach Medizin anmeldete, aber einen Studienplatz in Agrarwissenschaften erhielt, nahmen viele ungarische Jugendliche an, dass sie auf ihren Werdegang keinen oder nur geringen Einfluss besäßen. Aus diesem Grund akzeptierten sie, was die Zukunft für sie bereithielt. Die Unberechenbarkeit und Willkür des kommunistischen Systems förderten Gleichgültigkeit und das Gefühl von Machtlosigkeit. Verblüfft wurde dem ungarischen Studenten bewusst, dass sich die Zukunftserwartungen der deutschen Studenten deutlich von seinen eigenen Vorstellungen unterschieden, denn diese formulierten klare Pläne für ihre Zukunft.818 In Ungarn war nicht die Begabung oder die Motivation der Kandidaten, sondern die politische Einstellung der Eltern ausschlaggebend für die Aufnahme eines Studiums. Loyalität zur Partei führte zu Begünstigungen, politisch auffällige oder »auch nur einer ›feindlichen‹ Klasse angehörende Personen« wurden diskriminiert.819 Auch die ideologische Erziehung der Ungarn beeinflusste ihre Vorstellungen vom Westen. Ihre Religiosität wurde mit den traditionellen ungarischen Feiertagen und Bräuchen unterdrückt, die gesellschaftliche Rolle der Kirchen stark eingeschränkt. Hochrangigen Funktionären der kommunistischen Partei oder des Innenministeriums sowie ihren Familien war der sonntägliche Kirchenbesuch verboten. Die Zahl der am Religionsunterricht teilnehmenden Grundschüler nahm drastisch ab, denn eine religiöse Erziehung konnte sich negativ auf die beruflichen Chancen auswirken. Anstatt der Taufe bevorzugte man eine Namensgebungsfeier und statt der kirchlichen die standesamtliche Eheschließung.820 Die Abschaffung der traditionellen Feiertage änderte die Wertvorstellungen der Ungarn. Ostermontag, Pfingstmontag und der zweite Weihnachtsfeiertag waren keine Urlaubstage mehr. Der 4. April (Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft 1945), der 1. Mai (Tag der Arbeit) und der 7. November (Oktoberrevolution des Jahres 1917) wurden in Ungarn zu gesetzlichen Feiertagen erklärt, an denen festliche Veranstaltungen, Aufmärsche und große Militärparaden stattfanden. Fast jeder 818

819 820

Egy magyar diák Németországban. In: ÚMÉ 1 (1957) 6, 5. April, 1. Vgl. Rainer: Ungarn im Schatten der Sowjetunion, 82. Klimó: Ungarn, 136–137. Valuch: Hétköznapi élet, 152–171. 1955 nahmen 40 Prozent der Grundschüler am Religionsunterricht teil. 1965 sank ihre Zahl auf 10 Prozent, 1975 auf 6 Prozent. Ebenda, 159.

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nahm an diesen Festveranstaltungen teil; Pioniere in Uniform sangen, rote Fahnen und großflächige Propagandabilder schmückten die Straßen, Festtagsreden wurden gehalten und Auszeichnungen verliehen. In den 1950er Jahren bestimmte die Ideologie der kommunistischen Partei den Alltag der Ungarn. »Bestimmte Fragen konnten nicht gestellt werden, bestimmte Antworten konnten nicht formuliert werden. Der sozialen, geografischen und gedanklichen Mobilität des einzelnen Menschen wurden vom System Schranken gesetzt […]. Die Gesellschaft erlernte die Diktion dieser Ideologie, sie ›verstand‹ die Festreden und offiziellen Kommentare, sie nahm zur Kenntnis, wann, mit wem und worüber man nicht sprechen konnte, aber die Ideologie machte sie sich nicht zu eigen.«821 Aber die Überwachung durch die Staatssicherheit, die Unberechenbarkeit des Systems und die Angst vor der Zukunft führten bei den Menschen zu Lethargie und Gleichgültigkeit. Die politische Einstellung beeinflusste die beruflichen Chancen, die Weiterbildung oder das Studium, die Wohnungsvergabe und die Beantragung eines Reisepasses. Nicht einmal die Parteimitgliedschaft schützte vor Repressalien und Verfolgung, auch die Anhänger der Partei konnten jederzeit beschuldigt, verurteilt, verhaftet oder hingerichtet werden.822 Die Generation, die in der Rákosi-Ära der 1950er Jahre aufwuchs, erlebte die Sowjetisierung aller Lebensbereiche, und die einmalige Gelegenheit der offenen Grenzen bot ihr die Möglichkeit zur Flucht aus diesem Unrechtssystem. Ihre Mitglieder stellten sich den Westen »als Hochburg der ›Freiheit‹, des ›Wohlstandes‹ und der ›Sicherheit der Existenz‹«823 vor. Ein Leben im freien Westen konnte für sie nur besser sein als eines im kommunistischen Ungarn. Diese idealisierten Vorstellungen über den Westen wurden von der großen Zuneigung der westlichen Bevölkerung für die Ungarnflüchtlinge unterstützt und sogar verstärkt. Ein junger Ungar berichtete, wie sehr er sich gefreut hatte, endlich passende Bekleidung kaufen zu können. Anhand der Stecknadel mit der ungarischen Trikolore, die er auf seinem viel zu großen Mantel trug, wurde er von einem älteren Herrn auf der Straße als ungarischer Flüchtling erkannt. Der Herr schenkte ihm spontan 50 Deutsche Mark, damit er sich etwas kaufen konnte. Daraufhin suchte er sich im Schlussverkauf für 29 Deutsche Mark einen pas821 822 823

Rainer: Ungarn im Schatten der Sowjetunion, 81. Valuch: Hétköznapi élet, 177. Szabó: Heimatlos, 11.

230 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g senden Mantel und eine Hose, die er stolz seinen Freunden präsentierte. Einmal etwas kaufen zu können, das er vorher nur im Schaufenster bewundern konnte, machte diesem jungen Ungarn große Freude.824 Die in dieser Anekdote greifbare Spendenbereitschaft der Einheimischen war kein Einzelfall. Auch Ágota Kristóf notierte in ihrem Buch: »In der Straßenbahn nahmen gutgekleidete Damen mein Baby auf ihrem Schoß, steckten mir Geld in die Tasche.«825 Geld nicht von der Caritas oder einer staatlichen Stelle, sondern von Privatpersonen auf der Straße geschenkt zu bekommen, Einladungen zu Kaffee und Kuchen bei Familien waren Erfahrungen, die junge Ungarn in Bayern häufig machten.826 Die Bereitschaft, vorübergehend oder langfristig ungarische Kinder in Familien aufzunehmen oder zu adoptieren, war so groß, dass Monsignore Oskar Jandl, Caritasdirektor der Erzdiözese München und Freising, Ende November 1956 mit solchen Anfragen überhäuft wurde. Allerdings trafen im November 1956 nur wenige Kinder ohne Familie in Bayern ein, weshalb die Gesuche an den Wiener Caritasverband weitergeleitet wurden.827 Radioaufrufe von Schauspielern wie Maria Schell und Fotos ungarischer Kinder und Jugendlicher in den deutschen Zeitungen motivierten die Einheimischen zur Unterstützung der Flüchtlinge.828 Miklós Nagy erinnerte sich später in einem Interview an die Worte von Jupp Schneider, katholischer Pfarrer in Burg Feuerstein im Erzbistum Bamberg, der 57 ungarische Studenten mit folgenden Worten herzlich willkommen hieß: »Meine Söhne, ab heute seid ihr meine Gäste, ihr habt nichts anderes zu tun, als Deutsch zu lernen.«829 Der warmherzige Empfang kam den Vorstellungen der Ungarn von der westlichen Welt entgegen, auch wenn diese häufig idealisiert waren. Die enorme Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit der bayerischen Bevölkerung erschien den jungen Ungarn wie ein Märchen.

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29 márka és egy boldog ifjú magyar. In: ÚMÉ 1 (1957) 6, 5. April, 2. Kristóf: Die Analphabetin, 50–51. Zur Hilfsbereitschaft der Bevölkerung in Tirol vgl. Haas: Ungarn in Tirol. Zeitzeugengespräch mit Gábor Czibulás und Pongrác Pastyik. Siehe noch: Interview mit Dezső Korbuly. In: Nagymihály: A magyar csoda, 213; Interview mit Miklós Nagy. In: Ebenda, 222. Viele damalige ungarische Flüchtlingsstudenten erzählten, dass sie zu Weihnachten bei bayerischen Familien zu Gast gewesen waren. Siehe dazu Kapitel IV. 4. 2. 3. Siehe dazu Kapitel IV. 3. 3. Interview mit Miklós Nagy. In: Nagymihály: A magyar csoda, 222.

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4. Missverständnisse, Schwierigkeiten und Konflikte Die Berichterstattung setzte sich insbesondere mit der Ungarnaufnahme in den ersten Monaten zwischen November 1956 und Februar 1957 auseinander. Zuerst standen Einreise und Hilfestellungen sowohl in den Printmedien als auch in den Aufzeichnungen der zuständigen Ministerien im Vordergrund. Die Berichte über die Ungarn wurden dürftiger, sobald sie aus den Notunterkünften in private oder Werkswohnungen umgezogen waren. Deshalb steht über den Beginn der Flucht eine Fülle unterschiedlicher Quellen zur Verfügung, die eine rasche Aufnahme der Flüchtlinge als organisatorische Aufgabe betrachteten. Die Behörden definierten Einreise, Verteilung und Unterbringung, anschließend Arbeitsvermittlung und Bildung als zu lösende Probleme. Vereinzelt wurden in den Sitzungsprotokollen von Landtag, Bundestag und Landesflüchtlingsämtern auch Vorfälle als Hürden bei der Eingliederung der Ungarnflüchtlinge erwähnt. Die überaus positive Einstellung gegenüber den geflüchteten Ungarn verdeckte die Herausforderungen, die mit deren Aufnahme einhergingen. Dass die Ungarn als heterogene Gruppe gute und schlechte Charaktereigenschaften besaßen, wurde nicht nur vernachlässigt, sondern von einer Idealisierung überlagert. Wie im vorigen Kapitel verdeutlicht, hatten die Ungarn ebenso idealisierte Vorstellungen vom Westen. Die anfänglich unbegrenzten Möglichkeiten, aus Österreich auszuwandern, entsprachen ihrer Idealwelt. Doch bald wurde die Weiterreise schwieriger, denn es folgten Vorschriften und Einschränkungen für die Einreise in ein Drittland. Fehlendes Verständnis für diese Situation führte bereits in Österreich zu einer hohen psychischen Belastung, mit der einige gut, andere eher schlecht zurechtkamen.830 Die unrealistischen Vorstellungen erklärt András Gémes mit der Undurchlässigkeit des Eisernen Vorhangs, der die sozialistischen Länder von Westeuropa abschottete. So wurde die freie Welt zum goldenen Westen.831 Diese Ansicht bestätigt sich in Aussagen von Ungarnflüchtlingen über die Bundesrepublik Deutschland und Bayern als »andere« oder »neue Welt. 830 831

Zur Lagerpsychose vgl. Hoff – Strotzka: Die psychohygienische Betreuung. Gémes: Grenze, 73. Im Gegensatz dazu zeichneten Empfang und Unterbringung in primitiven Notunterkünften ein ganz anderes Bild vom Land der Verheißung.

232 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g »Damals, als wir ankamen, hatten wir ungeheure Schwierigkeiten […]. Wir konnten kein Deutsch. Wir hatten keine Ahnung vom Leben im Westen.«832 Mit diesen Worten eröffnete Tamás Szeberényi die Konferenz der ungarischen Exiljungend in Hennef. Die Dachorganisation der ungarischen Exiljugend in Deutschland hatte Mitglieder aus dem ganzen Bundesgebiet zusammengerufen, um über eigene Probleme und Wünsche zu diskutieren. Im Februar 1959 nahmen 95 Delegierte aus 44 Städten an diesem Jugendtreffen in der Sportschule in Hennef (Nordrhein-Westfalen) teil und berichteten, wie sie die ersten Jahre in der Bundesrepublik Deutschland erlebt hatten. Vorstandsmitglieder des geschäftsführenden Ausschusses waren Tamás Szeberényi, István Jákli, József Matuz, Tibor Pokorny und Mátyás Waldmann. Ziel des Kongresses war es, die zerstreut lebenden ungarischen Jugendgruppen zusammenzubringen und bei der Lösung ihrer Probleme behilflich zu sein. Die Gründung der Organisation wurde aktuell, da die Stipendien der Bundesrepublik Deutschland ab dem 1. April 1959 auslaufen sollten.833 Dass die Ungarn außer Sprachproblemen die Unkenntnis der westlichen Lebensumstände an erster Stelle nannten, lässt vermuten, dass daraus so manches Problem entstanden war. Sogar der Alltag erschien im Gegensatz zur ersehnten Traumwelt in der Freiheit trist, wie Ágota Kristóf erklärt. »Wir erwarteten etwas, als wir hier ankamen. Wir wussten nicht, was wir erwarteten, aber sicher nicht das: diese tristen Arbeitstage, diese stillen Abende, dieses erstarrte Leben, ohne Abwechslung, ohne Überraschung, ohne Hoffnung«, schreibt die Schriftstellerin in ihrer autobiografischen Erzählung „Die Analphabetin“.834 Dieser Titel bezieht sich auf die eigene Situation in der französischen Schweiz, wo die Verfasserin das Französische erst mühsam erlernen musste. Gegen Ende der 1970er Jahre schrieb Kristóf ihre Bücher schon auf Französisch, zu Beginn ihres Exils hatte sie aber in Neuchâtel große Verständigungsschwierigkeiten, auch wenn sie eine Arbeitsstelle, eine beheizbare Wohnung sowie ausreichend Lebensmittel zur Verfügung hatte: »Ich lächele, ich kann ihm [dem Schaffner, R. K.] nicht sagen, dass ich keine Angst vor Russen habe, und wenn ich traurig bin, dann eher wegen meiner jetzigen 832 833

834

Die jungen Ungarn haben Fuß gefasst. In: SZ 15 (1959) 47, 24. Februar, 3. Ebenda. Siehe noch: A hennefi konferencia után. In: ÚH 7 (1959) 6. März, 7. Vgl. Vermerk von Sozialreferent Maurer mit Bericht über den Ungarischen Jugendkongress von György Ádám. München, 5. Mai 1959. BayHStA AM LFV 1884. Kristóf: Die Analphabetin, 58.

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zu großen Sicherheit und weil ich nichts Anderes tun und denken kann als Arbeit, Fabrik, Einkaufen, Waschen, Kochen und auf nichts Anderes warten kann als auf die Sonntage, um ein bisschen länger zu schlafen und von meinem Land zu träumen. Wie soll ich ihm, ohne ihn zu kränken und mit den wenigen Worten, die ich auf Französisch kann, erklären, dass sein schönes Land für uns, die Flüchtlinge, nur eine Wüste ist, eine Wüste, durch die wir hindurch müssen, um zu dem zu kommen, was man ›Integration‹, ›Assimilation‹ nennt. In diesem Moment weiß ich noch nicht, dass manche nie so weit kommen werden.«835 Ágota Kristófs Beispiel veranschaulicht, dass materielle Dinge wie Arbeit und Wohnung zwar durchaus Voraussetzungen für die Integration waren, ein Flüchtling darüber hinaus aber vor allem soziale Kontakte brauchte. Ohne Beherrschung der jeweiligen Landessprache waren weder Verständigung noch menschliche Beziehungen mit der einheimischen Bevölkerung möglich. Da Ungarn »gerne und viel reden«, wie ein älterer Lehrer seine Landsleute charakterisierte, spielte das Sprechen und die Unterhaltung in der neuen Umgebung eine wichtige Rolle. »Wir Älteren sprechen zumeist Deutsch, aber die Jungen können es nicht. Und dieses Sichnicht-verständigen-können deprimiert unsere Menschen«, führte er aus.836 Verständigungsschwierigkeiten konnten sogar Grund für Rückwanderungen sein, wie der Fall der 15 Bergleute aus dem Ruhrgebiet zeigt. Wegen angeblich schlechter Bezahlung beschlossen die ungarischen Arbeiter, Westdeutschland umgehend zu verlassen. Sie kamen im Januar 1957 nach Schalding, wo sich ihre Rückreise wegen der Verschärfung der ungarischen Heimkehrregelungen verzögerte.837 Während sie auf ihre Rückreisegenehmigung warteten, stellte es sich heraus, dass ihre Lohntüte nicht den vollen Lohn enthielt, sondern davon bereits die Kosten für Verpflegung, Unterkunft sowie Arbeitskleidung abgezogen worden waren. Durch die vermeintlich schlechte Bezahlung fühlten sie sich ausgenutzt und benachteiligt. Die „Bayerische Staatszeitung“ schilderte ihre Verbitterung mit dem Hinweis, dass sie am liebsten sofort nach Ungarn zurückgekehrt wären. Nachdem man sie über die Lohnabrechnung aufgeklärt hatte, sahen sie 835

836 837

Ebenda, 60. Der letzte Satz verweist auf ihre Bekannten, von denen einige in ein anderes Land ausgewandert, nach Ungarn zurückgekehrt waren oder Selbstmord begangen hatten. Das Heimweh, Herr, das reißt uns um. In: MM 12 (1957) 11, 14. Januar, 3. Siehe dazu Kapitel III. 3. 4.

234 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g ein, dass es sich um ein Missverständnis handelte. So kehrten sie an ihren Arbeitsplatz zurück.838 Das Bonner Bundesinnenministerium unterband das Anwerben von Arbeitskräften durch westdeutsche Firmen in Österreich, und eine deutsche Regierungskommission registrierte die Flüchtlinge ungeachtet ihrer Berufsausbildung für das Bundesgebiet. Schon bald nahm das Anwerben von Arbeitskräften überhand, da praktisch jeder ungehindert in die Wohnlager gelangte. Deshalb begann man, Arbeitskräfte ausschließlich von zuständigen Arbeitsämtern vermitteln zu lassen. Der Ungarn-Experte des Unternehmensverbands Ruhrbergbau, Eduard Keintzel, ein Siebenbürger Sachse, wirkte bei der Bonner Registrierungskommission in Wien mit und hob in seinem Bericht über die Anwerbung der Ungarn hervor, dass den Bergleuten die privatwirtschaftliche Welt völlig fremd war.839 Sie konnten sich nicht vorstellen, dass man seinen Arbeitsplatz frei wählen durfte und dass Betriebe nicht verstaatlicht waren.840 Außerdem war ihnen der Unterschied zwischen Brutto und Netto nicht bekannt. Aus dieser Unkenntnis entstanden falsche Annahmen.841 Es schürte Misstrauen, wenn verwaltungstechnische Abläufe nicht verständlich erklärt wurden. So waren die oben genannten Heimkehrer davon überzeugt, dass sie an der deutsch-österreichischen Staatsgrenze grundlos festgehalten wurden, und es kam sogar zu Unruhen und Protesten gegen die deutschen Behörden. Die illegale Aktion, auf eigene Faust die Grenze zu passieren, endete mit einem größeren Polizeieinsatz und einem Notquartier in der Altstadtschule in Passau. Als die Vertreter der bayerischen Flüchtlingsverwaltung den Rückkehrwilligen erläuterten, dass die strengen Regelungen nicht von der deutschen, sondern der ungarischen Regierung eingeführt worden waren,842 erklärten sich die in Passau gestrandeten Ungarn bereit, nach Schalding zurückzukehren. Bemerkenswerterweise hatten sie nicht begriffen, dass sie ohne Ausreisepapiere einen illegalen 838 839

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Bayern hat geholfen, wo es konnte. In: BSZ 30 (1957) 4, 26. Januar, 4. Ungarn-Flüchtlinge. Die Alten kommen später. In: DS 10 (1956) 49, 4. Dezember, 13–14. Siehe noch Kapitel IV. 4. 1. Zwischenbericht von Eduard Keintzel [O. O., o. D.]. BArch B 106, 47465. Vgl. Steinert: Migration, 279–280. Cseresnyés: Magyar egyetemisták, 131; Csík: Die Flüchtlingswelle, 237; Pintér: Wohlstandsflüchtlinge, 182. Siehe dazu Kapitel III. 3. 4.

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Grenzübertritt begehen würden und deswegen mit einer Gefängnisstrafe rechnen mussten.843 Das Verhalten debattierender, aufgebrachter Ungarnflüchtlinge, die sich Anordnungen widersetzten, erklärte der bayerische Arbeitsminister Stain damit, dass kommunistische Agenten die Heimkehrer aufgewiegelt hätten. Eine solche Haltung passte nicht in das Bild von den Notleidenden. Die ungelöste Situation brachte Stain dazu, die Einreise weiterer Ungarn zu stoppen, solange den 150 Heimkehrwilligen in Passau die Rückreise nicht gestattet wurde. Der Ministerrat und der bayerische Ministerpräsident beschäftigten sich mit dem Problem der Rückkehrwilligen.844 Ab Januar 1957 mehrten sich Fälle unerlaubter Einreisen aus Belgien, der Schweiz und insbesondere aus Frankreich. Immer mehr Ungarn, die bereits in einem Drittland aufgenommen worden waren, wollten über die Bundesrepublik Deutschland zurück nach Österreich, um entweder heimzukehren oder von Wien aus nach Amerika auszuwandern. Da etliche Rückreisende von der Heimkehr absahen, als sie erfuhren, dass man sie den ungarischen Behörden übergeben würde, ließ Österreich nur diejenigen wieder einreisen, die von einem ungarischen Konsulat ausgestellte Heimreisezertifikate vorweisen konnten. Reisende ohne Bescheinigung, die illegal über die Grenze zu gelangen versuchten, wurden von der Bayerischen Grenzpolizei festgenommen und in das ursprüngliche Aufnahmeland abgeschoben.845 So war es auch bei Béla Sanyó, der während des Aufstands im Oktober 1956 verwundet worden war und seine Frau und drei Kinder verloren hatte. Sanyó kam über Österreich nach Frankreich, aber es gefiel ihm dort nicht, so dass er illegal in Bundesrepublik Deutschland einreiste, wo er bei einer Kontrolle festgenommen und nach Frankreich ab843

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Gepäckmarsch in die Freiheit endete in Schalding. Die Ungarn haben das Lager nun doch dem Gefängnis vorgezogen. In: PNP 12 (1957) 17, 22. Januar, 7. Oberbürgermeister Stephan Billinger an BayStMI und an BMF. Passau, 25. Januar 1957 und 1. März 1957. PAAA B 85, 397. Ministerpräsident Hoegner an Bundeskanzler Adenauer. München, 28. Januar 1957. BayHStA StK 12124 und PAAA B 85, 397; Protokoll der Sitzung des bayerischen Ministerrats vom 22. Januar 1957. IfZ NlH 401, 17–18. József Gaszo und Mihály Verbo wurden am 8. April 1957 am Hauptbahnhof München wegen illegaler Einreise festgenommen und nach Frankreich zurückgeführt. RD Leuckart (BayStMI) an Polizeipräsidium der Landeshauptstadt München. München, 13. April 1957. BayHStA IM 97301. Über ähnliche Fälle wurde aus Baden-Württemberg berichtet: Dr. Manner (MVt, Baden-Württemberg) an BMVt (Bonn). Stuttgart, 4. April 1957. BayHStA AM LFV 1913.

236 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g geschoben wurde. Er versuchte viele Male die deutsche Staatsgrenze illegal zu passieren, auch über die Schweiz und Tirol. Er wurde wegen unerlaubter Einreise angeklagt und verbüßte eine Haftstrafe im Amtsgerichtsgefängnis Miesbach. Die Bundesrepublik Deutschland stellte ihm keinen Personalausweis aus und nahm ihn nicht auf. Das Amt für öffentliche Ordnung der Landeshauptstadt München erließ gegen ihn ein dauerhaftes Aufenthaltsverbot für die Bundesrepublik Deutschland. Sanyó sollte nach Frankreich abgeschoben werden, weil eine Überführung nach Ungarn nur von dort aus möglich war. Unter dem Titel „In den Mühlen der Bürokratie“ erschien ein Artikel über ihn in der „Neuen Miesbacher Zeitung“, in dem seine Geschichte mit jener des Schusters Wilhelm Voigt – dem Hauptmann von Köpenick – verglichen wurde, dem sein Wunsch, einen Ausweis zu besitzen und zu einem vollwertigen Menschen zu werden, immer wieder von der Hydra der Bürokratie verwehrt wurde.846 Der Fall von Károly Ferenc Soos, dessen Rückreise von Toronto nach Budapest in Passau endete, zeigt, dass die Überschreitung der bayerischenösterreichischen Grenze ohne Einreisegenehmigung nicht nur 1957, sondern 1963 noch große Schwierigkeiten verursachte. Der 50-jährige Soos hatte in Kanada drei Jahre lang für die Heimreise gespart und wollte Weihnachten Zuhause feiern. Obwohl er einen gültigen kanadischen Pass besaß, benötigte er für die Einreise nach Österreich ein Einreisevisum für Ungarn oder mindestens 3.000 Schilling (500 Deutsche Mark). Konnte er eine dieser Bedingungen nicht erfüllen, musste er nach Kanada zurückkehren. Die Weihnachtsausgabe der „Passauer Neuen Presse“ schilderte den Fall von Soos, der Weihnachten schließlich im Passauer Obdachlosenheim verbringen musste, in allen Einzelheiten. Es stellte sich heraus, dass er 1956 Ungarn überstürzt verlassen hatte und über England nach Kanada gekommen war, wo er Lohn und Brot im Straßenbau fand. Nach einem Unfall halbseitig gelähmt, verlor er seine Arbeit. Seine prekäre Situation zehrte auch seine Ersparnisse auf, mit denen er seine Frau und seine sechs Kinder nach Kanada nachholen wollte. Ohne Englischkenntnisse hielt er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser und sparte eisern für die Heimreise. Als er sein Reisegeld zusammen hatte, flog er von Toronto nach Frankfurt 846

Landeshauptstadt München (Amt für öffentliche Ordnung) an Landratsamt Miesbach. 26. April 1960 sowie In den Mühlen der Bürokratie. In: NMZ 12./13. März 1960, in: StAM LRAMb 217775.

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und gelangte schließlich auf Umwegen nach Passau, wo ihn Grenzbeamte aus dem Zug holten. Mit einer großzügigen Spende ermöglichte eine Passauerin dem verzweifelten Mann die Reise nach Wien, von wo aus er mit einem Besuchervisum der kanadischen Botschaft nach Ungarn einreisen durfte.847 In einem internen Bericht des bayerischen Arbeitsministeriums über »gelöste und ungelöste Probleme« mit Ungarnflüchtlingen wurde festgestellt, dass das »Umherwandern« eines nicht sesshaft gewordenen Personenkreises innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, vom Fachreferenten als »Ungarntouristik« bezeichnet, eine besondere Problematik darstellte. Hierbei handelte es sich um Personen, die täglich in Dienststellen der Wohlfahrtsverbände und Flüchtlingsverwaltungen erschienen, um »unter fadenscheinigen Vorwänden in andere Gebiete des Bundesgebiets« zu gelangen. Um sie rasch »loszuwerden«, wurden ihnen Fahrkarten und Reisegeld ausgehändigt. Somit förderten die erwähnten Stellen ungewollt das »Umherwandern«. Im Vergleich zur Gesamtzahl der Ungarnflüchtlinge in Westdeutschland handelte es sich nur um wenige Personen. Dennoch hatten diese Fälle, wären sie vermehrt aufgetreten, das Potential, die »ursprünglich mit Begeisterung eingeleitete Hilfsbereitschaft in eine Ungarnfeindlichkeit« zu verwandeln, so der Bericht.848 Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz nahm sich dieser Problematik an, da es befürchtete, dass unzufriedene Zuwanderer Unruhe stiften könnten. Hinter dieser Vermutung standen »Verzweiflung und schwerste Erbitterung« vieler Flüchtlinge oder das unterminierende Wirken der »Hunderte Kommunisten und Funktionäre sowie Angehörige des A. V. H.« (des ungarischen Staatssicherheitsdienstes), die ebenfalls in den Westen geflüchtet waren.849 Aus diesem Grund rückte die politische Tätigkeit von Exilgruppen mit potentieller Gefährdung der demokratischen 847

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Am Heiligabend auf Wanderschaft zwischen Ost und West. In: PNP 18 (1963) 297, 24. Dezember 1963, 21; Ungarnflüchtling Soos auf der Fahrt nach Budapest. In: PNP 18 (1963) 300, 30. Dezember, 7. Vermerk von Referent Fritz Hiltmann über „Ungarnflüchtlinge, gelöste und ungelöste Probleme“ an BayStMA Stain. München, 20. Februar 1957. BayHStA AM LFV 1913. Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz: Das Problem der Flüchtlinge des ungarischen Aufstandes. München, 16. November 1956. BayHStA StK 12124. Die Behörde warnte: »Vor allem aber werden sie, ob beauftragt oder aus eigenem Antrieb, eine Zersetzungstätigkeit unter den Flüchtlingen treiben, Unzufriedenheit wecken, und Herde der Auflehnung und des Hasses bilden.«

238 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g Staatsordnung ins Visier des Verfassungsschutzes – so auch Der Kreis. Verein für Kultur und Heimatpflege, gegründet von Jenő Gerendás, der am 5. Dezember 1956 in Friedland eingetroffen war. Zusammen mit István Mészáros bezog er ein Quartier in der Quantiusstrasse 3 in Bonn, das sie auch als Büro nutzten. Laut Satzung pflegte der in Bonn eingetragene Verein Sitten, Gebräuche und Kultur der ungarischen Nation. Seine Tätigkeit war aber politischer Natur, nämlich die Organisierung des Kampfes gegen den Bolschewismus. Gerendás behauptete, unter Oberst Pál Maléter als Vorsteher des 8. Bezirks in Budapest am Ungarnaufstand teilgenommen zu haben und mit dem Auftrag nach Bonn gekommen zu sein, ungarische Freiwillige zu rekrutieren. In den Flüchtlingslagern Bocholt, Friedland, Düsseldorf und Hannover warb Gerendás mit seinem Sekretär Kálmán Soós, ebenfalls ungarischer Flüchtling, neue Mitglieder für diese Organisation. Durch eine Meldung der Bocholter Lagerleitung nahm zuerst das Bundesvertriebenenministerium und anschließend das Bundesamt für Verfassungsschutz Gerendás ins Visier. Befragungen von mehreren beteiligten Ungarn durch das Bundesvertriebenenministerium ergaben, dass die Aussagen von Gerendás über seine Beteiligung am Ungarnaufstand in Budapest nicht der Wahrheit entsprachen. Außerdem verfügte er über Geldmittel, dessen Herkunft er nicht glaubhaft erklären konnte. Ihm wurde zwar jede Tätigkeit im Rahmen seiner Organisation verboten. Dennoch betrieb er weitere Aktivitäten. Die vom Bundesamt für Verfassungsschutz durchgeführten Ermittlungen ergaben jedoch keine Hinweise dafür, dass die verdächtigen Personen im Dienst eines Scheinunternehmens oder eines Nachrichtendienstes standen.850 Anfang November 1956 deckte man eine ähnliche Aktion in Bayern auf. Imre Pataky sammelte als Präsident eines Ungarischen Rates in Deutschland Spenden für ungarische Freiheitskämpfer. In seinem deutschsprachigen Aufruf bat er nicht nur um Sach- und Geldspenden, sondern forderte auch Truppen- und Waffenhilfe für eine ungarische militärische Einheit. Es stellte sich heraus, dass Pataky ausschließlich in eigenem Namen handelte und hinter ihm keine Organisation stand.851 Die Schein850

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Bundesamt für Verfassungsschutz an BMI Schröder. Köln, 15. Februar und 7. Dezember 1957. BArch B 106, 63083. BayStMA (Abteilung VII) an Präsident Martin Riedmayr (BayLfV). München, 6. November 1956; MR Seemeier (BayStMA) an BRK. München, 15. März 1957. BayHStA AM LFV 1884.

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organisation Patakys wollte die Hilfsbereitschaft der bayerischen Bevölkerung zugunsten dubioser Privataktionen ausnutzen. Aufmerksamkeit und Besorgnis erregten rechtsradikale Umtriebe ungarischer Exilanten, die 1959 von der Münchener SPD und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Flüchtlinge aus dem Ostblock aufgedeckt und publik gemacht wurden.852 Der ungarische Journalist Ernő Király, Generalsekretär der freien ungarischen Gewerkschaften in der Bundesrepublik, stellte eine Dokumentation über die Untergrundtätigkeit und Propaganda ungarischer Exilgruppen zusammen. Der Vorsitzende der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der SPD, Alexander Tilpt, legte dem Bayerischen Justizministerium das Material vor, woraufhin die Münchener Staatsanwaltschaft Ermittlungen einleitete. Im „Weißbuch“ ging es um mehrere ungarische Kreise in Bayern.853 Eine Gruppe unter der Führung von Géza Alföldi hielt sich auf Schloss Teising bei Neumarkt-St. Veit (Niederbayern) auf, wo sie von 1948 bis 1962 die Zeitschrift „Hídverők“ (Brückenbauer) herausgab. Chefredakteur Alföldi, Journalist und Dichter, war ehemaliger Leiter der Propagandaabteilung der Pfeilkreuzler-Regierung von Ferenc Szálasi. 1952 startete Alföldi in den USA und anderen Ländern eine Spendenaktion, mit deren Ertrag er 1953 das Schloss Teising mit 40 Räumen erwarb. Dort wurden die Redaktion und der Verlag der Zeitschrift sowie ein von ihm gegründetes Institut für Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft untergebracht. Mit umfangreichem Archiv, Bibliothek und eigener Druckerei schuf Alföldi auf Schloss Teising ein Zentrum für ungarische Rechtsradikale im Exil. Nach Borbándi war „Hídverők“ durch geschickte Organisation zu einem bei Exilungarn populären Presseorgan herangewachsen.854 Die Ermittlungen der bayerischen Staatsregierung ergaben, dass Alföldis Institut keine wissenschaftliche Arbeit leistete. Ihm 852

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Das Bundesinnenministerium legte unter BArch B 106, 63083, eine Sammlung von Zeitungsartikeln zum Thema an: Keine Gesetze gegen Emigranten-Faschismus? In: BSZ vom 13. März 1959, 3; Antisemitismus bei den Exil-Ungarn. In: SZ 17. März 1959; Justizministerium antwortet der SPD. In: AZt 18. März 1959, 2; Offene Fragen an den Innenminister. In: AZt 21./22. März 1959, 3; »Hungaristen«. In: DW 15. Mai 1959; Hirngespinste ungarischer Faschisten. In: WA 22. Mai 1959; Ungarische Antisemiten in Bayern? In: GA 17. März 1959; Bayern ein Zentrum emigrierter Faschisten? In: F.A.Z. 17. März 1959; Deutscher Freibrief für Neofaschisten. In: FR 18. März 1959, 3. Siehe ebenda noch im SPDPressedienst: Ungarische Pfeilkreuzler wühlen von München aus. In: PPP 11. März 1959. Kraushaar: Die Protest-Chronik, 2135. Borbándi: A magyar emigráció, I, 96, 296–297, 490–492.

240 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g standen jedoch jährlich etwa 30.000 Deutsche Mark aus den Abonnements der Zeitschrift (36 Deutsche Mark) zur Verfügung, die ab April 1948 zweimal im Monat in einer Auflage von 900 Stück erschien.855 Das ursprüngliche Ziel der „Hídverők“ war es, wie ihr Name andeutet, eine Brücke zwischen ungarischen Exilgruppen mit Austausch- und Kontaktmöglichkeiten zu bilden. Ihre Rubrik „Így élünk“ (So leben wir) beschäftigte sich mit dem Alltag im Exil. Die Kolumne „Nyugatos lapszemle“ (Westliche Presseschau) informierte über Artikel anderer ungarischer Exilzeitschriften.856 Ermittlungen der bayerischen Staatregierung zufolge lehnte es Alföldi ab, seine Zeitschrift für die Ziele der Hungaristischen Bewegung einspannen zu lassen. Dennoch zählte „Hídverők“ mit antisemitischen und faschistischen Äußerungen zu den rechtsradikalen Presseorganen des ungarischen Exils.857 Ins Deutsche übersetzte Zitate aus ihren Artikeln, in denen die in Nürnberg 1946 verurteilten Hauptkriegsverbrecher als »die besten Männer Europas« verherrlicht wurden, offenbarte die Gesinnung dieser Gruppe.858 Die „Süddeutsche Zeitung“ wiedergab Textstellen mit der Behauptung, dass der Mord an Millionen Juden »die größte Lüge der Weltgeschichte« sei.859 Die 1935 von Ferenc Szálasi gegründete Hungaristische Bewegung (Hungarista Mozgalom) war in Bayern aktiv, nachdem sie 1957 in Österreich verboten worden, und ihre Anhänger nach München übersiedelt waren. Sie bezeichnete sich als Rechtsnachfolgerin der ehemaligen ungarischen nationalsozialistischen Pfeilkreuzlerpartei, deren Parteichef Szálasi 1946 wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Die Leitung der Pfeilkreuzler übernahm in Bayern Árpád Henney. Die Hungaristische Bewegung gab die Monatszeitschrift „Cél. Antibolsevista folyóirat“ (Ziel. Antibolschewistische Zeitschrift) heraus, Nachfolgerin der in Österreich verbotenen „Út és cél“ (Weg und Ziel). Seit 1958 erschien sie in München in 2.000–3.000 Exempla855

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MR Giesler (BMI): Vorschlag für eine Antwort an die Fragestunde im Deutschen Bundestag. Bonn, 16. und 18. März 1960. BArch B 106, 63083. Kiss: Magyaren, 139–140. Borbándi: A magyar emigráció, I, 297; Nagy: Elveszett alkotmány, 7. Zeitungsausschnitte aus der „Bayerischen Staatszeitung“ vom 13. März 1959, 3, in: BArch B 106, 63083. Antisemitismus bei den Exil-Ungarn. In: SZ 15 (1959) 65, 17. März, 18, in: BArch B 106, 63083.

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ren und verbreitete nationalsozialistisches Gedankengut. Ihr Herausgeber war Ferenc Nyerki, der seit 1945 in Westdeutschland lebte und als Zimmermann beim Wiederaufbau des Nationaltheaters in München arbeitete.860 Die Aktivität der Exilfaschisten beschäftigte das Bayerische Innenministerium, das Justizministerium sowie das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz. Außerdem überprüfte die Staatsanwaltschaft (Landgericht München I) die Propagandaschriften in strafrechtlicher Hinsicht. Das Justizministerium erklärte, dass eine Strafverfolgung weder für Beleidigung einer Kollektivgruppe (§ 185 Strafgesetzbuch) – gemeint war das Judentum –, noch für Staatsgefährdung durch Verbreitung von Schriften gegen die freiheitliche demokratische Ordnung (§ 93 Strafgesetzbuch) möglich war. Demnach war die Demokratie nicht unmittelbar gefährdet, da nur ein kleiner ungarischsprachiger Kreis in der Lage war, die entsprechenden Texte zu lesen. Also konnte man gegen diese Verbände auch nicht strafrechtlich vorgehen. Selbst das bayerische Gesetz gegen Rassenwahn und Völkerhass reichte für eine Strafverfolgung nicht aus.861 Wegen dieser Stellungnahme der Justizbehörde empörte sich die Öffentlichkeit darüber, dass die Exilanten, denen die Bundesrepublik Deutschland Asyl gewährt hatte, antisemitische Hetzschriften herausgaben.862 Die in der „Abendzeitung“ München an den bayerischen Innenminister Alfons Goppel gestellten offenen Fragen kritisierten die Untätigkeit der zuständigen Behörden. Voluntas wies darauf hin, dass ein Deutscher nicht ungestraft davongekommen wäre, wenn er solche Schriften verbreitet hätte.863 „Die Welt“ brachte die Angelegenheit auf den Punkt: »Antikommunistische Gesinnung, Flüchtlingsschick-

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MR Giesler (BMI): Vorschlag für eine Antwort an die Fragestunde im Deutschen Bundestag. Bonn, 16. und 18. März 1960; MR Leuckart (BayStMI) an MR Giesler (BMI). München, 7. September 1960. BArch B 106, 63083; Mildschütz: Bibliographie, 13, 129; Nagy: A németországi magyar emigrációs sajtó. Keine Gesetze gegen Emigranten-Faschismus? In: BSZ 13. März 1959, 3, in: BArch B 106, 63083. In einer amtlichen Verlautbarung berichtete das Innenministerium über die laufende Überprüfung der Sachlage und kam zu dem Schluss, dass diese kein härteres strafrechtliches Vorgehen zuließe. BayStMI an Presse und Rundfunk. München, 23. März 1959. BArch B 106, 63083. Justizministerium antwortet der SPD. In: AZt 18. März 1959, 2, in: BArch B 106, 63083. Offene Fragen an den Innenminister. In: AZt 21./22. März 1959, 3, in: BArch B 106, 63083. Diesen Artikel verfasste der Kolumnist Jochen Willke unter dem Pseudonym Voluntas; er war von 1945 bis 1959 auch Chefredakteur der „Münchner Illustrierten“. Hoser: Abendzeitung.

242 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g sal und ungarischer Pass dürfen niemals zum Freibrief für antisemitische Propaganda werden.«864 Als Géza Alföldi in der Ausgabe vom 15. April 1959 der „Hídverők“ erneut die Sozialdemokratische Partei, die Deutschen Gewerkschaften und andere demokratische Organisationen angriff, stellte der Bezirksleiter der IG Metall und SPD-Abgeordnete Erwin Essl im Bayerischen Landtag die Frage, warum die antidemokratische Tätigkeit ungarischer Exilanten nicht unterbunden werde. Essl bat auch um Klärung, ob das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge, wie Alföldi behauptete, die jungen Antibolschewisten, die aus den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs nach Westdeutschland gekommen waren, in einer einzigen antikommunistischen Organisation zusammenfassen wolle. Zudem sollte man sich erkundigen, woher die beträchtlichen finanziellen Mittel dieser Exilanten stammten, und ob eine deutsche Stadt das Institut von Alföldi mit 200.000 Deutsche Mark unterstützt hatte, wie in der „Hídverők“ behauptet wurde. Außerdem legte die SPD-Dokumentation eine finanzielle Hilfe durch Mitglieder des Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) nahe.865 Staatsminister Stain (GB/BHE) beteuerte, dass das bayerische Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge zu dieser Exilantengruppe keinerlei Kontakte unterhielt. Innenminister Goppel versicherte, dass beide Zeitschriften bereits laufend auf strafrechtlich relevante Inhalte überprüft wurden.866 Auf Anfrage des SPD-Bundestagsabgeordneten Josef Felder (SPD) informierte Staatssekretär Hans Ritter von Lex (CSU) den Deutschen Bundestag über die ungarischen Exilgruppen. Er behauptete, dass die Hungaristische Bewegung nicht nur gegen die Bestimmungen der Asylverordnung und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland verstoße, sondern auch den Zusammenschluss der »Faschisten aller Länder« geplant habe. Dass Alföldi Verbindungen zu Kreisen des internationalen Rechtsradikalismus pflegte, war der Bundesregierung und der bayerischen Staatsregierung bekannt. Alföldi selbst würde dabei allerdings keine führende Rolle spielen, erklärte Ritter von Lex. Weiterhin führte er aus, dass bereits im Mai 1959 den verantwortlichen Herausgebern der Zeitschriften 864 865

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»Hungaristen«. In: DW 15. Mai 1959. Ungarische Pfeilkreuzler wühlen von München aus. In: PPP 11. März 1959, in: BArch B 106, 63083. Bayerischer Landtag. 4. Wahlperiode. Stenographischer Bericht. 17. Sitzung. München, 23. April 1959. In: BLP 518–519.

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„Hídverők“ und „Cél“, Géza Alföldi und Ferenc Nyerki, untersagt wurde, sich antisemitisch oder im Sinne des Nationalsozialismus zu betätigen. Die Redakteure wurden aufgefordert, binnen zwei Jahren in einem anderen Staat um Aufnahme nachzusuchen.867 Die öffentliche Resonanz auf diese Vorkommnisse, bei denen ein strafrechtliches Vorgehen durch eine Gesetzeslücke erschwert wurde, zeigt die zeitgenössische Relevanz des Themas. Im Januar 1959 wies der Rechtsausschuss einen Gesetzentwurf gegen Volksverhetzung (§ 130 a Strafgesetzbuch) zurück, der die antisemitische Hetze, die den öffentlichen Frieden gefährdete, unter Strafe gestellt hätte.868 Die Machtlosigkeit der deutschen Justiz gegenüber der antisemitischen Propaganda bestürzte die Israelitische Kultusgemeinde in Bayern.869 Bei den Hungaristen handelte es sich zwar vorwiegend um Personen, die bereits um 1945 nach Deutschland gekommen waren. Doch auch sie waren, wie die Ungarnflüchtlinge von 1956, großzügig aufgenommen und unterstützt worden.870 In einem im Januar 1960 am Landgericht München I eröffneten Strafverfahren wurde Ferenc Nyerki wegen Verbreitung staatsgefährdender Schriften für schuldig gesprochen. Der Aufsatz „Iránytű nélkül“ (Ohne Kompass), erschienen in der Nummer 12 des Jahrgangs 1958 der Monatszeitschrift „Cél“, hatte für die Wiedereinführung des Nationalsozialismus nicht nur in Ungarn und in der Bundesrepublik Deutschland, sondern im ganzen christlichen Abendland geworben. Durch die Veröffentlichung sollte auf die ungarischsprachigen Bürger ein verfassungsfeindlicher Einfluss genommen werden. Obwohl der Aufsatz, für dessen Inhalt Nyerki als Verleger und Herausgeber die Verantwortung trug, auf Ungarisch erschien, war er verfassungsfeindlich und verstieß damit gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland.871 Mit diesem Urteil und der öffentlichen Aufmerksamkeit konnte die rechtsradikale Tätigkeit ungarischer Exilkreise in Bayern unterbunden werden. Das Ar867

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Deutscher Bundestag. 107. Sitzung. Bonn, 16. März 1960. In: DBP 5814–5815; MR Giesler (BMI): Vorschlag für eine Antwort an die Fragestunde im Deutschen Bundestag. Bonn, 16. und 18. März 1960. BArch B 106, 63083. MR Giesler (BMI): Vorschlag für eine Antwort an die Fragestunde im Deutschen Bundestag. Bonn, 16. und 18. März 1960. BArch B 106, 63083. Deutscher Freibrief für Neofaschisten. In: FR 18. März 1959, 3. Missbrauchte Gastfreundschaft. In: DR 85 (1959) 5, 21. Mai 1959, 387–388. MR Leuckart (BayStMI) an MR Giesler (BMI). München, 7. September 1960. BArch B 106, 63083 (mit Fotokopie des Urteils).

244 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g chiv Alföldis wurde geschlossen, das Schloss Teising versteigert. Ab August 1962 erschien die Zeitschrift „Hídverők“ nicht mehr. Ihr Nachfolgeblatt „Hídfő“ (Brückenkopf) kam in London heraus. Das antibolschewistische „Cél“ wechselte ebenfalls den Standort, 1960 ging sie nach Buenos Aires.872 Die Angst vor kommunistischem Gedankengut sei größer gewesen als die Furcht vor antisemitischer und neofaschistischer Propaganda der Exilungarn, behauptete der Kolumnist Voluntas in der Münchener „Abendzeitung“. Bei kommunistischer Aktivität hätte das bayerische Innenministerium nicht so lange untätig ihren Machenschaften zugesehen und wäre rigoroser vorgegangen.873 Diese Meinung vermag die vorliegende Arbeit weder bestätigen noch widerlegen. Die Quellen belegen jedenfalls, dass verdächtige Aktivitäten der Exilungarn sowohl in politischer Hinsicht als auch unter strafrechtlichem Aspekt überwacht wurden. Einbürgerungsakten der Regierung von Oberbayern weisen nach, dass Beziehungen der Flüchtlinge zu Exilorganisationen, zu etwaigen Spitzeln und zur alten Heimat genau überprüft wurden.874 Wegen der raschen Aufnahme war bei der Ankunft in den Durchgangslagern eine genauere Überprüfung nicht möglich. So entstand eine gewisse Angst vor der Einschleusung kommunistischer Agenten. Aber bei der Einreichung des Antrags auf Anerkennung als ausländischer Flüchtling oder Einbürgerung durchleuchtete das Landesamt für Verfassungsschutz die Antragsteller gründlich, rekonstruierte ihren Lebenslauf und befragte Zeugen, um die angegebenen Informationen zu verifizieren. Bestand der Verdacht auf eine kriminelle Tätigkeit, ermittelte das Bayerische Landeskriminalamt und kontaktierte bei Bedarf auch die österreichischen Behörden. So wurde im Fall von Franz Posch aufgedeckt, dass er in Österreich mehrere Betrügereien begangen und dort zudem in einer kommunistischen Widerstandsbewegung mitgewirkt hatte. Ergaben die Ermittlungen eine Gefährdung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik, so wurde – wie bei Posch – die Einbürgerung abgelehnt.875 872 873 874

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Borbándi: A magyar emigráció, I, 490–492. Offene Fragen an den Innenminister. In: AZt 21./22. März 1959, 3, in: BArch B 106, 63083. Vgl. StAM LRAMb 217769, 217775; StAM RObb. 93184, 93185, 93187, 93190, 93197, 93202. MR Leuckart (BayStdI) an RD Sodian (Regierung Oberbayern). München, 6. November 1962; RD Sodian an MR Leuckart. München, 5. Februar 1963; MR Zimmermann (BayStMI) an RD Sodian. München, 8. Mai 1965. StAM RObb. 93202.

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Aus der Einbürgerungsakte von Todor Vigyikan geht hervor, wie präzise seine Vergangenheit, Bindungen zu Ungarn und zu Exilkreisen sowie seine Beziehungen zur ungarischen Regierung überprüft wurden. Der Zahnarzt wurde mit rechtskräftigem Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 17. Juli 1962 als Vertriebener nach dem Bundesvertriebenengesetz, damit als deutscher Volkszugehöriger anerkannt. Die Regierung von Oberbayern lehnte allerdings den Einbürgerungsantrag ab, da das Landesamt für Verfassungsschutz aus seinen Ermittlungen darauf folgerte, dass sich Vigyikan nicht als Deutscher, sondern als Ungar fühlte. Man vermutete, dass er sogar für den ungarischen Nachrichtendienst arbeitete. Vigyikan hatte am Oktoberaufstand teilgenommen, flüchtete Ende November 1956 mit seinem ältesten Sohn nach Österreich und kam am 11. Dezember 1956 in die Bundesrepublik Deutschland. Seit dem 1. Januar 1957 war er in München polizeilich gemeldet, seine Ehefrau und zwei Kinder waren in Ungarn geblieben. Nachdem er gegen die Ablehnung seines Einbürgerungsantrags geklagt hatte, stellte das Bayerische Verwaltungsgericht fest, dass Vigyikan deutscher Volkszugehöriger gemäß § 6 des Bundesvertriebenengesetzes war, da er sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hatte, was Zeugenaussagen, sein Bekenntnis und die Abstammung seiner deutschen Mutter bestätigten.876 Durch den Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung für Leo Blumgrund wurde das Landratsamt Miesbach auf eine Gruppe Ungarn aufmerksam, die für Herzog Ludwig Wilhelm in Bayern arbeitete. Für den ab April 1957 zu eröffnenden Kurbetrieb stellte der Herzog Blumgrund als Kurverwaltungsdirektor in Wildbad Kreuth ein. Als das Arbeitsamt Holzkirchen den Antrag auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis überprüfte, stellte sich heraus, dass sein israelischer Pass am 15. Dezember 1956 abgelaufen war. Der Sachbearbeiter des Landratsamts Miesbach, Regierungsinspektor Regner, überprüfte Blumgrund, dessen Pass am 26. August 1955 von der israelischen Botschaft in Budapest ausgestellt und von der israelischen Botschaft in Wien am 12. November 1956 bis zum 15. Dezember 1956 verlängert worden war. Das Ehepaar besaß einen bis 30. November 1956 gültigen Einreisesichtvermerk, ausgestellt am 14. November 1956 von der deutschen Bot876

RD Sodian (Regierung Oberbayern) an Ministerialrat Kanein (BayStMI). München, 19. August 1963; MR Schitt-Lermann (BayStMI) an RD Sodian. München, 26. August 1963; RD Sodian an Todor Vigyikan. München, Oktober 1963. StAM RObb. 93185.

246 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g schaft Wien, mit dem es ins Bundesgebiet eingereist war. Leo Blumgrund bekannte sich als staatenlos und gab an, den israelischen Pass in Budapest nur bekommen zu haben, um aus dem Ostblock ausreisen zu können, da er mehrere Jahre in Budapest aus politischen Gründen inhaftiert gewesen war. Wegen Unstimmigkeiten im Pass stellte das Landratsamt Miesbach Nachforschungen über die Eheleute Blumgrund beim Bayerischen Landeskriminalamt München, dem Ausländerzentralregister Köln und dem Bundesstrafregister Berlin an. Durch die Ermittlungen wurden weitere sieben Ungarnflüchtlinge überprüft, die von einem Beauftragten des Herzogs im Durchgangslager Piding für verschiedene Tätigkeiten ausgesucht und nach Wildbad Kreuth gebracht worden waren. Obwohl die sieben Beschäftigten in keinem engeren Verhältnis zu Blumgrund standen, verließen bis auf zwei, die weiterhin im Dienst des Herzogs blieben, Kreuth.877 Nachdem die bis 28. Februar 1957 verlängerte Aufenthaltserlaubnis für Blumgrund abgelaufen war, verhängte das Landratsamt Miesbach ein Aufenthaltsverbot gegen ihn. Obwohl das Verwaltungsgericht München dieses aufhob, bekam er keine neue Aufenthaltsgenehmigung und wurde aufgefordert, die Bundesrepublik unverzüglich zu verlassen.878 Das Ehepaar Blumgrund legte dagegen Einspruch ein. Nachdem Blumgrund die Stelle als Kurdirektor verloren hatte, reiste das Ehepaar nach Wien aus, worauf der Einspruch beim Verwaltungsgericht zurückgezogen wurde.879 1965 erhielten fünf neu eingereiste ungarische Staatsangehörige Aufenthaltsverbot und wurden umgehend vom Flughafen München-Riem nach Ungarn ausgeflogen. Mit der Unterstützung eines Dolmetschers hatten sie erklärt, nicht aus politischen, sondern wirtschaftlichen Motiven Ungarn verlassen zu haben. Illegal Eingewanderte, die nicht wegen politischer Verfolgung aus dem Ostblock geflüchtet waren, wurden abgeschoben.880 Wie in der DDR, galt jede unerlaubte Ausreise als strafbare Repu-

877

878

879

880

Regierungsinspektor Regner (Landratsamt Miesbach) an Bundesdienststelle für Verwaltungsangelegenheiten (Ausländerzentralregister) Köln. Miesbach, 23. November 1956; Landratsamt Miesbach an BayStMI. Miesbach, 9. Januar 1957. StAM LRAMb 217769. Landratsamt Miesbach an Leo und Charlotte Blumgrund. Miesbach, 29. März 1957. StAM LRAMb 217769. Landrat Königsdorfer (Landratsamt Miesbach) an die Regierung Oberbayern. Miesbach, 25. Juli 1957. StAM LRAMb 217769. BayLfV an BayStMI. München, 18. Oktober 1965. BayHStA IM 97302.

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247

blikflucht.881 In einem solchen Fall klagte ein Heilbronner Jurist bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gegen diese harte Asylpraxis, weil der Ungar Fehér nach seiner Ausweisung in seiner Heimat wegen Landesverrat zu zehn Monaten Haft verurteilt worden war. Der Pressereferent des bayerischen Innenministeriums erklärte, mit dem Ostblock habe aber keine Anwerbevereinbarung bestanden wie mit Italien oder Spanien. Deshalb seien Einwanderer, die nicht wegen politischer Verfolgung, sondern wegen besseren Verdienstes einreisten, in ihre Heimat zurückgeschickt worden. Arbeitssuchende aus Ländern außerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wie Ungarn oder Jugoslawien wurden nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in anderen westlichen Ländern abgewiesen. Die Abschiebung der Ungarn, die keinen Anspruch auf Asyl in der Bundesrepublik hatten, galt als Präzedenzfall, womit »eine Lawine in die Bundesrepublik Deutschland, in das Eldorado« verhindert worden sei, so das bayerische Innenministerium.882 Trotz Kritik an der rigorosen Abschiebung erklärte der bayerische Innenminister Junker: »Wer allerdings illegal einreise, könne sich nicht darauf berufen, er würde lieber in der Bundesrepublik Deutschland und vor allem in Bayern leben.«883 1956 war Ungarnflüchtlingen ohne Nachweis der aktiven Teilnahme am Ungarnaufstand Asyl gewährt worden, nachdem für Ihre Einreise der Wunsch ausgereicht hatte, in der Bundesrepublik Deutschland leben zu wollen. Knapp zehn Jahre später genügte die gleiche Äußerung nicht mehr. 1965 wurde Ungarn als illegalen Wirtschaftsflüchtlingen884 kein Asyl gewährt. Auf die gleiche spontane Weise, wie sie sich zur Flucht entschieden hatten, traten sie bei vorübergehenden Misserfolgen oder materiellen Schwierigkeiten übereilt die Rückkehr an, konstatiert ein Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements in der Schweiz.885 Über ähnliche 881

882

883 884

885

Anzeige wegen Ausweisung eines ungarischen Flüchtlings. In: SZ 21 (1965) 284, 27./28. November, 5. Kein Platz für »Illegale«. In: DK 9. Oktober 1965; BMI an Presse und Rundfunk. Bonn, 19. November 1965. BayHStA IM 97302. Überprüfung im Lager Zirndorf. In: SZ 21 (1965) 264, 4. November, 15. Bereits 1965 wurden Flüchtlinge ohne politische oder religiöse Beweggründe im Behördenjargon als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, denen kein Asyl gewährt wurde. Die Asylpraxis in Bayern. In: SZ 21 (1965) 290, 4./5. Dezember 1965, 4. Bericht über die Erfahrungen mit ungarischen Rückwanderern 1958. Enthalten im „Mitteilungsblatt der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements“. Dezember 1958. PAAA B 85, 398.

248 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g Erfahrungen berichteten die Vertreter der deutschen Landesflüchtlingsverwaltungen in einer Besprechung im Bundesvertriebenenministerium und machten auf wachsende Probleme mit den Ungarn aufmerksam.886 Die untersuchten Verwaltungsakte erwähnen Ungarnprobleme in der Anfangszeit nur sporadisch, so unzufriedene »Ruhestörer«, die sich nur »widerstrebend in die Lagerordnung und die neuen Umweltverhältnisse« einfügten.887 Gewaltdelikte, grundloses Verlassen der zugewiesenen Arbeitsplätze oder des Wohnheims ohne Abmeldung finden sich in den Quellen ebenfalls nur vereinzelt.888 Verdächtige Aktivitäten, auffällig viele Reisen zwischen Österreich und Bayern, Kontakte zu Exilkreisen waren ein Grund für Ermittlungen des Verfassungsschutzes. Aufenthaltsverbote und Abschiebungen wurden auch wegen strafbarer Handlungen vorgenommen. Ein Beispiel hierfür sind die noch schulpflichtigen Gebrüder Magyar, die aus Lahr (Baden-Württemberg) nach Ungarn abgeschoben wurden, nachdem beide Diebstähle begangen hatten.889 1961 wurde der Hilfsarbeiter Josef Abraham wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu vier Jahren Haft verurteilt. Nachdem Abraham drei Jahre seiner Strafe in der Strafanstalt Kaisheim abgesessen hatte, stellte er ein Gesuch für die Heimkehr mit vorzeitiger Entlassung.890 Im Fall Károly Csepke, der im Oktober 1957 wegen Bigamie und Notzucht zu zwei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt worden war und sich 1959 selbst für die Rückkehr aussprach,

886

887

888

889

890

»Allgemein wird darüber geklagt, dass die Ungarn-Flüchtlinge in ihren Entschlüssen außerordentlich schnell wechselnd seien. Die Gesetze der Logik seien bei ihnen geradezu aufgehoben. Es wird gesagt, man sei ewig im Zweifel, ob man ins Lager ein Kindermädchen oder einen Polizisten schicken soll.« BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 18. Januar 1957: Niederschrift über die Besprechung im BMVt am 10. Januar 1957 in Bonn. BArch B 106, 24545, 120. Vermerk des Bundesinnenministeriums über zwangsweise Rückführung ungarischer Flüchtlinge vom 12. Januar 1957. BArch B 106, 47465; BMVt Oberländer an Landesflüchtlingsverwaltungen. Bonn, 18. Januar 1957: Niederschrift über die Besprechung im BMVt am 10. Januar 1957 in Bonn. BArch B 106, 24545, 119–120. Ebenda; [Frau oder Mann] Geier (Lehrlingsheim St. Gunther) an BayStMA. Neutraubling, 22. Februar 1957; Leiter des Kolpinghauses Günzburg Jugendwohnheim an BayStMA. Günzburg, 2. März 1957. BayHStA AM LFV 1885. Stadtamtmann Reichel (Stadtverwaltung Lahr) an Städtisches Jugendamt Lahr. 31. August 1957. PAAA B 85, 397. Oberstaatsanwalt Wiedemann (Landgericht München I.) an Generalstaatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht München. 11. Juni 1963. BayHStA JM 23147.

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befürwortete der Vorstand der Strafanstalt Bernau die Rückführung.891 Solche Einzelfälle werden hier nicht gezielt weiterverfolgt, die Aufarbeitung der Flüchtlingskriminalität bleibt späteren Forschungen vorbehalten. Die Intensität der Berichterstattung ließ ab Mitte 1957 deutlich nach. Bereits Ende Februar 1957 schrieb das „Passauer Bistumsblatt“: »Um die ungarischen Flüchtlinge ist das Gespräch allmählich verstummt, doch braucht es noch vieler Liebeskraft, um ihnen zu helfen.«892 Mit einem Foto von einem kleinen Flüchtlingsmädchen im Lager wurde an das Dauerthema der vorangegangenen Monate erinnert, als ob die Ungarnhilfe in der Öffentlichkeit kein brennendes Thema mehr gewesen wäre. Monsignore Oskar Jandl bat Ende März 1957 Arbeitsminister Stain persönlich, die Maßnahmen für die Ungarnflüchtlinge fortzuführen, insbesondere im Hinblick auf deren angespannte Wohnsituation.893 Im Gegensatz dazu stellte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ 1961 fest: »Ungarnflüchtlinge eingegliedert.« Der Artikel verarbeitete Aussagen des Bundesvertriebenenministeriums und der ungarischen Flüchtlingsorganisationen, die mit einer Umfrage bestätigten, dass sich die Ungarnflüchtlinge »arrangiert« hätten. »Es gibt praktisch keine Arbeitslosen mehr unter ihnen, die meisten arbeiten wieder in ihren alten Berufen. Nahezu sämtliche Familien haben Wohnungen erhalten. Nur noch wenige Ungarn leben in Lagern.« Dass ihre Landsleute kaum noch Ungarisch sprachen und die Kinder besser Deutsch als Ungarisch verstanden, bedauerten zwar Flüchtlingsvertreter, womit sie aber wenigstens bestätigten, dass die Sprachschwierigkeiten überwunden worden waren.894 Bis dahin hatte sich der größte Teil der Flüchtlinge in die neuen Verhältnisse eingefügt. Außer den rechtsradikalen Aktivitäten zeigen sich in 891

892 893

894

Csepke war am 23. November 1956 nach Westdeutschland gekommen, heiratete am 6. April 1957 die 19-jährige Mária Magdolna Kovács, obwohl er in Ungarn verheiratet war. Staatsanwalt Jantsch (Landgericht München II) an Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht. München, 3. August 1959. BayHStA JM 23147. Bilder der Woche. In: PB 22 (1957) 8, 24. Februar, 16. »Unsere Unterstützungsstellen in München sind täglich überlaufen von ungarischen Flüchtlingen jeder Altersstufe, vor allem aber von Jugendlichen beiderlei Geschlechts. Alle haben das Asylrecht, stehen aber jetzt vor der Schwierigkeit der wohnlichen Unterbringung, die die Voraussetzung dafür ist, dass sie entweder Arbeit finden, oder, soweit dies nicht möglich ist, wenigstens der ordnungsmäßigen Fürsorge unterstellt und nicht bloß der Obdachlosenfürsorge anheimgegeben werden.« Jandl an Stain. [O. O.], 26. März 1957. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16. Ungarnflüchtlinge eingegliedert. In: F.A.Z. 24. Februar 1961, 7.

250 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g den zeitgenössischen Diskursen kaum Hindernisse bei der Eingliederung der Ungarn. Typische Ungarnflüchtlinge waren jung und männlich, Arbeiter oder Studenten, die bei der damaligen Wirtschaftslage leicht integriert werden konnten, zumal der Anteil von rund 14.500 aufgenommenen Ungarn im Vergleich zu jenem der Heimatvertriebenen und der Gastarbeiter sehr gering war. So wirkten sich die wenigen Problemfälle nicht übermäßig negativ aus.

5. Altflüchtlinge und Neuflüchtlinge Die kulturellen, karitativen, kirchlichen und politischen Vereine der Exilungarn entfalteten eine rege Aktivität in Bayern (siehe Tabelle 17). Ihre Anträge auf Unterstützung bei zuständigen Ministerien, Veröffentlichungen, Einladungen zu Festschriften und Jahresberichte machen den wesentlichen Teil der untersuchten Quellen aus. Im Mittelpunkt der Analyse stehen nachfolgend die gegenseitige Wahrnehmung der Alt- und Neuflüchtlinge. Äußerungen beider Seiten insbesondere in ungarischen Exilzeitungen, in bayerischen Tageszeitungen sowie in der Korrespondenz zwischen den Vereinen und der bayerischen politischen und kirchlichen Verwaltung lassen auf bestimmte Denk- und Verhaltensweisen der Exilungarn schließen. Tabelle 17: Nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete exilungarische Organisationen in Bayern und in der Bundesrepublik Deutschland (Auswahl)895 Name

Sitz

Leitung/Vorstand/ Protagonisten

Gründung

Arbeitsgemeinschaft der Ungarischen Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland (A Németországi Magyar Szervezetek Munkaközössége)

München

György Ádám, István Jákli, Pál Juhász, Gyula Meleghy

1957

Bewegung Ungarische Freiheit (Magyar Szabadság Mozgalom)

Mühlthal bei Starn- Pál Bokor, berg Ferenc Farkas, München Pál Jámbor, Lajos Liptay

1946

895

Erfaßt sind aus den gesichteten Quellen karitative, kirchliche, politische und kulturelle Institutionen der Exilungarn. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Al t f l ü c ht l i n g e u n d Ne u f l ü c ht l i n g e

Der Kreis. Verein für Kultur und Heimatpflege e. V. (A Kör. Kulturális és Hagyományörző Egylet)

Bonn Quantiusstraße 3

Jenő Gerendás, Kálmán Soós

251

1956

Károly Kollányi, München Europäischer Kongress der Zweibrücken Straße Zoltán Makra, Freien Ungarn (Európai Antal Radnóczy Szabad Magyar Kongresszus) 2

1970

Hungaristische Bewegung (Hungarista Mozgalom)

München

Árpád Henney

1958

Institut für Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft (Történelmi és Társadalomtudományi Intézet)

Schloss Teising bei Neumarkt-Sankt Veit (Bayern, Landkreis Mühldorf am Inn)

Géza Alföldi

1953

Kameradschaftsverband der Ungarischen Kämpfer (Magyar Harcosok Bajtársi Közössége)

Klagenfurt München Ohlmüller Straße 15/III

Ferenc Adonyi, Miklós Korponay, Lajos Nádas, Antal Radnóczy, Kálmán Szeöke, Lajos Szilágyi, András Zákó

1948 (Klagenfurt) 1955 (München)

Vertretung des Ungarischen Nationalkomitees in Deutschland (Magyar Nemzeti Bizottmány Németországi Képviselete)

München

Gusztáv Hennyey

1949

Philharmonia Hungarica

Wien ab 1959: Marl (NordrheinWestfalen)

Heinrich Kraus, Zoltán Rozsnyai

1957

Pro Libertate 1956 (Magyar Szabadságharcos Szövetség)

München

József Nagy, Antal Radnóczy, Tibor Tarkányi

1957

Reformierter Diakoniedienst München (Református Diakóniai Szolgálat)

Zoltán Czeglédy

k. A.

Ungarische Arbeitsgemeinschaft (Magyar Munkaközösség)

1957 Ungarische Flüchtlingskanzlei/Ungarisches Büro München, Ungarischer Hilfsdienst und Ungarischer Kulturbund

München

252 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g Gusztáv Hennyey, Ungarische Flüchtlingskanz- München lei/Ungarisches Büro Mün- Widenmayer Straße László Taubinger chen (Magyar Menekültügyi 49/III Iroda/Müncheni Magyar Iroda)

1945

Ungarische Reformierte Seelsorge in Deutschland (Magyar Református Lelkigondozás Németországban)

München

1945

Ungarischer Caritas Dienst e. V. (Magyar Caritas Szolgálat)

München Béla Almay, Ernő Gabelsberger Straße Eperjes, Ferenc 23/4 Rozsály, Gábor Stoll

Zoltán Czeglédy, Kálmán Göndöcz, Sándor Nagy, Sándor Zayzon

1947

Ungarischer Hilfsdienst e. V. München (Magyar Segítő Szolgálat) Maria-TheresiaStraße 19 ab 1958: Ismaninger Straße 68

Géza Czanik, Béla Liszka, Krisztina Ordódy, Árpád Vitéz

1945

Ungarischer Jugendkongress Hennef (Sieg) in Deutschland (Németországi Magyar Ifjúsági Kongresszus)

Tamás Szeberényi, István Jákli, József Matuz, Tibor Pokorny, Mátyás Waldmann

1959

Ungarischer Kulturbund e. V. (Magyar Kulturális Szövetség)

Gusztáv Baranyai Lőrincz

1948

Imre Pataky

1947

k. A.

München Winzererstraße 32

Ungarischer Rat in Deutsch- München land (Németországi Magyar Tanács) Ungarischer Reformierter Seelsorgedienst (Magyar Református Lelkigondozói Szolgálat)

München

Sándor Zayzon

Ungarischer Schulverein e. V. (Magyar Iskolabizottság)

München Gabelsbergerstraße 23/IV ab 1964: Trogerstraße 48/I

1957 Vertreter (exilungarischer und deutscher) christlicher Kirchen und sozialer sowie kultureller Einrichtungen

Ungarischer YMCA/YWCA Verband (Magyar YMCA/ YWCA Szövetség)

München Kálmán Szeöke Schwanthaler Straße 73

Ungarisches Institut München e. V. (Müncheni Magyar Intézet Egyesület)

Tamás Bogyay 1962 München Rosenheimer Straße (Thomas von Bogyay), Georg Stadtmüller 141 Clemensstraße 2 Beichstraße 3

k. A.

Al t f l ü c ht l i n g e u n d Ne u f l ü c ht l i n g e

253

Ungarisches Katholisches Oberseelsorgeamt (Magyar Katolikus Főlelkészi Hivatal)

München György Ádám, Gabelsberger Straße Ernő Eperjes, Tibor 23/4 Marczell, Géza Valentiny, Gábor Vargha

1947

Ungarisches Komitee in Deutschland (Magyar Bizottság Németországban)

Überregional

Imre Baron Pongrácz

1956

Verband der Ungarischen Pfadfinder (Magyar Cserkészszövetség)

München

Ernő Eperjes

k. A.

Verband der Ungarnfreunde München (Magyarbarátok Szövetsége) Ottostraße 3/1

Dirk Haubold, Sándor 1956 Katona, Tivadar Kovács

Verein Ungarischer Handwerker, Kaufleute und Unternehmer e. V. (Magyar Iparosok, Kereskedők és Vállalkozók Egyesülete)

München

Gyula Dobos

k. A.

Zentralverband Ungarischer Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland (Németországi Magyar Szervezetek Központi Szövetsége)

München Rosenheimer Straße 141 Zweibrückenstraße 2/I

Géza Czanik, Sándor Katona, Károly Kollányi, Aladár Melczer, Attila Sándor

1962

5. 1. Der Weg der Altflüchtlinge nach Bayern Nachdem das Land 1944 Kriegsschauplatz geworden war, flohen viele aus Ungarn über Österreich nach Deutschland. Mit den Organen der Pfeilkreuzler-Regierung gingen auch Privatpersonen in den Westen. Die Kampfhandlungen in Ungarn endeten am 4. April 1945, wenngleich einige ungarische Einheiten, die sich mit den Deutschen zurückgezogen hatten, bis Mai in Österreich weiterkämpften. Soldaten dieser Einheiten sowie geflohene Politiker und Privatpersonen hielten sich im Mai 1945 in Österreich und Bayern auf. Fast eine Million Ungarn erlebten das Ende des Zweiten Weltkriegs im Ausland, überwiegend in Westeuropa. Nach Kriegsende kehrten viele in ihr Heimatland zurück. Eine weitere Auswanderungswelle erfolgte von 1947 bis 1949 während der Machtübernahme der ungarischen kommunistischen Partei unter der sowjetischen Besatzungsmacht, als politische Gegner ausgeschaltet wurden. Wegen des gewaltsamen Vorgehens gegen die demokratische Opposition verließen nicht nur viele Politiker, Parteimitglieder und führende Staatsangestellte, son-

254 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g dern auch Verleger, Journalisten und Schriftsteller Ungarn.896 Sie reisten in erster Linie in die USA. Ab 1948 emigrierten viele Ungarn aus Bayern in die USA, nach Großbritannien, Australien, Kanada, Argentinien und Brasilien. Danach wurden die USA zum Zentrum des ungarischen Exils, wo 1949 das Ungarische Nationalkomitee (Magyar Nemzeti Bizottmány) gegründet wurde, das sich als Führungsorgan der im westlichen Ausland lebenden Ungarn verstand.897 Mitte 1948 lebten 21.922 Ungarn in Bayern.898 Ab 1950 sank deren Zahl, so dass 1952 nur noch 7.302 Ungarn im Freistaat registriert waren.899 1956 machten die Ungarn mit 6.222 Personen etwa fünf Prozent aller in Bayern lebenden Ausländern aus. Obwohl die Zahl der Ausländer binnen eines Jahres abnahm, vergrößerte sich die Gruppe der Ungarn um 1.281 auf 7.503 Personen.900 Damit stellten die Ungarn 1957 bei einer Einwohnerzahl von 9.125.300 die drittgrößte Ausländergruppe.901 Zu Beginn der 1960er Jahre stieg die Anzahl der Ungarn abermals auf knapp 8.000, gleichzeitig nahm auch die Zahl anderer Ausländer, insbesondere jene der Italiener, Österreicher, Griechen und Spanier, stark zu. Dadurch sank der Anteil der Ungarn an der Gesamtzahl der Ausländer stetig, bis sie 1962 896

897

898 899 900

901

Das Grundlagenwerk über die ungarischen Emigrationswellen 1945, 1947, 1956, 1963 und 1975 ist Borbándi: A magyar emigráció. Vgl. Nagy: Elveszett alkotmány. Zwischen der ersten und der zweiten Welle gab es Spannungen, »da für die zumeist konservativen und rechtsstehenden Altflüchtlingen die neue Gruppe bereits zu weit links stand«. Haas: Ungarn in Tirol, 34. Das Ungarische Nationalkomitee setzte sich für die Wiedererlangung der Unabhängigkeit Ungarns ein. Ihre Gründer waren ungarische Exilpolitiker wie Miklós Kállay, 1942–1944 Ministerpräsident Ungarns, Imre Kovács aus der Nationalen Bauernpartei (Nemzeti Parasztpárt), Dezső Sulyok, 1946 Begründer der Ungarischen Freiheitspartei (Magyar Szabadság Párt), 1945–1947 Mitglied der ungarischen Nationalversammlung, Ferenc Nagy aus der Unabhängigen Partei der Kleinlandwirte, der Landarbeiter und des Bürgertums (Független Kisgazda-, Földmunkás- és Polgári Párt), 1946/1947 Ministerpräsident Ungarns, Tibor Eckhardt aus der Kleinlandwirtepartei, Béla Varga ebenfalls aus der Kleinlandwirtepartei, 1946/1947 Präsident der ungarischen Nationalversammlung. Borbándi: A magyar emigráció, I, 141–162; Nagy: Elveszett alkotmány, 54–60. Kiss: Magyaren, 132–134. BiZ 11 (1957) 34. Die Zahl der Ausländer nahm 1956 gegenüber dem Vorjahr um 6.417 auf 116.153 ab. BiZ 10 (1956) 358–359 und 11 (1957) 34, 102. Österreicher und Polen waren mit 37 Prozent aller Ausländer im Freistaat am stärksten vertreten. Auch im Jahr 1959 stellten sie ein Drittel aller Ausländer, mit Abstand gefolgt von Italienern (7 Prozent), Ungarn, Jugoslawen und Amerikanern (je 6 Prozent). BiZ 12 (1958) 34, 102.

Al t f l ü c ht l i n g e u n d Ne u f l ü c ht l i n g e

255

die siebt- und 1964 die neuntgrößte Ausländergruppe in Bayern stellte.902 1950–1954 verzeichnete Bayern einen jährlichen Wanderungsverlust von etwa 60.000 Personen. Ab 1957 verließen durchschnittlich nur noch 20.000 Personen den Freistaat. Die Zuzüge nahmen ab 1955 zu, so dass Bayern letztendlich einen Wanderungsgewinn verbuchte.903

5. 2. Vernetzung durch Vereine Bayern war nach dem Zweiten Weltkrieg das Zentrum der Exilungarn, die kulturelle Aktivitäten initiierten, um ihre Traditionen auf der Bühne, in der Schule und in der Presse zu pflegen. Dafür gründeten sie Vereine und Hilfsorganisationen, gaben Zeitungen und Zeitschriften auf Ungarisch heraus. Die häufig kurzlebigen Organisationen versuchten, das Zusammengehörigkeitsgefühl der in Bayern lebenden Ungarn zu fördern. Diese Aufgabe war jedoch nicht immer einfach, da die einzelnen Gruppierungen unterschiedliche politische Ansichten vertraten. Die Meinungsvielfalt polarisierte die Diskussionen zunehmend, erschwerte die Zusammenarbeit und schwächte den Zusammenhalt innerhalb der Exilgemeinschaft. Ein Thema beschäftigte jedoch alle Exilungarn und erzeugte ein Gemeinschaftsgefühl: das Ringen um die Befreiung Ungarns von der kommunistischen Herrschaft. Nachdem die USA Hilfe für die Wiedererlangung der Souveränität der sowjetisch unterdrückten Länder in Ostmitteleuropa zugesagt hatten, erhofften sich nicht wenige die Einlösung dieses Versprechens sogar in Form einer militärischen Intervention. Das ungarische Exil sah seine Aufgabe im Allgemeinen darin, den Kampf um die Freiheit und den demokratischen Aufbau Ungarns mit allen Mitteln zu unterstützen.904 Die Exilperiodika dienten als Plattform für die Kommunikation in der Muttersprache. Neben Nachrichten und Berichten veröffentlichten sie auch literarische Werke. Zudem boten sie ein Forum für die Diskussion 902

903

904

1958 lebten 7.763 Ungarn in Bayern (6,61 Prozent aller Ausländer); 1959 7.680 (6,14 Prozent); 1960 7.557 (5,29 Prozent); 1961 7.610 (4,22 Prozent); 1962 7.726 (3,5 Prozent); 1963 7.904 (3,14 Prozent); 1964 7.987 (2,8 Prozent). BiZ 13 (1959) 366; 16 (1962) 1; 17 (1963) 6; 19 (1965) 3. Bayerns Bevölkerung wuchs von 9.205.000 (1958) auf 9.976.153 (1964). BiZ 17 (1963) 75; 19 (1965) 372. Die Bevölkerungszahl stieg auch durch die Geburtenzahl. Vgl. Lehning: Bayerns Weg, 131–133, Tabelle A 17, 1166. Borbándi: A magyar emigráció, I, 343–393; Nagy: Elveszett alkotmány, 29–60; Radnóczy: A magyar katonai emigráció.

256 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g von Themen, die in Ungarn aus der Öffentlichkeit verbannt worden sind. Die Presseorgane waren für die Exilanten die einzige Möglichkeit zur Meinungsäußerung und waren so die bedeutendsten Foren des Informationsund Meinungsaustausches. Sie trugen auch zur Solidarisierung innerhalb der Exilgemeinschaft bei. Personen, die in der Heimat aktiv am Gesellschaftsleben teilgenommen hatten, fanden in Vereinen und deren Pressewesen neue Aufgaben. Bereits am Ende der 1940er Jahre war die Presse ein wichtiges Informationsmedium vor allem für jene Exilanten, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren.905

5. 3. Altflüchtlinge in der Eingliederungsarbeit Altflüchtlinge kannten sich in Bayern gut aus, waren aber zugleich mit Sprache und Tradition der alten Heimat vertraut. So konnten sie nicht nur als Dolmetscher, sondern auch als Vermittler zwischen den zwei Kulturen eingesetzt werden. In der Sitzung des Heimatvertriebenenausschusses des Deutschen Bundestages wies Oberregierungsrat Gerhard Wolfrum (BMVt) darauf hin, dass sich vor 1956 bereits 12.000 ungarische Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland befanden.906 Seit Beginn des Aufstands wurden insgesamt 14.500 Ungarn aufgenommen. Bei der kulturellen Betreuung zählte Wolfrum auf die Mitwirkung vorhandener ungarischer Einrichtungen. Diese waren in der Ungarnhilfe genauso aktiv wie bayerische Wohlfahrtsverbände. Als älteste Hilfsorganisation war der überkonfessionelle und unparteiische Ungarische Hilfsdienst in München tätig.907 »Wir haben sehr viele Neuflüchtlinge aus unseren Lagerbeständen eingekleidet, haben geldliche Beihilfen verteilt und unentgeltliche Speisungen verabreicht, wie auch Pakete direkt an Anschriften in Ungarn geschickt«, so der Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit der Jahre 1956 und 1957.908 Katholische, evangelische und reformierte Ungarnseelsorger halfen ebenso bei 905

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Nagy: Elveszett alkotmány, 11. Von 1945 bis 1989 gaben die Exilungarn in Deutschland 194 Zeitungen und Zeitschriften heraus (Nagy: A németországi magyar emigráns sajtó, 1). Zur ungarischen Exilpresse in Bayern vgl. Kiss: Magyaren. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465. Siehe dazu Kapitel IV. 3. 3. Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit des Ungarischen Hilfsdienstes in den Jahren 1956 und 1957. München, 22. November 1958. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16.

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der Betreuung der Neuflüchtlinge. Regierungsdirektor Manner (MVt, Baden-Württemberg) hielt die Betreuung der jungen Ungarn in den Jugendgemeinschaftswerken für unzweckmäßig, da diese auf die Jugendlichen aus der DDR ausgerichtet waren. Hierfür brauchte man Altflüchtlinge, die sowohl Deutsch als auch Ungarisch beherrschten und zudem sozialpädagogisch geschult waren.909 Die Landsmannschaft der Ungarndeutschen in Bayern hielt es für ihre Aufgabe, den Flüchtlingen Kenntnisse über soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten zu vermitteln, weil »das Wissen um diese Fragen bei diesem Personenkreis für das Gelingen einer sinnvollen Eingliederung entscheidend ist«. Bundessprecher Heinrich Reitinger empfahl diesen Menschen, die aus einer Diktatur gekommen waren, eine allgemeine Aufklärung im Rahmen von Beratungstagen in den Notunterkünften.910 Maßnahmen in anderen Bundesländern unterstrichen die Bedeutung solcher Beratungen.911 Pater István Geröly, Leiter des Ungarischen Jugendgemeinschaftswerkes in München, fiel auf, dass die Neuflüchtlinge Autoritäten zurückwiesen, die sie beeinflussen wollten. Er erklärte dieses Verhalten mit der kommunistischen Erziehung, die sie zu einem Gemeinschaftsleben gezwungen habe, das die meisten von ihnen ablehnten. Ferner führte er aus, dass diesen Menschen als Individualisten und Einzelgänger in einer für sie neuen und ungewohnten Umgebung die große Gefahr drohe, unterzugehen. Daraus erwachse die Notwendigkeit der weiteren Betreuung und Förderung des ungarischen Gemeinschaftslebens.912 Auf der Konferenz in Hennef 909

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Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465, 2–3, 7–8. Heinrich Reitinger an BMVt Oberländer. München, 3. April 1959. BArch B 106, 27375, 473. In Niedersachsen wurden monatliche Treffen abgehalten, bei denen Ungarn ihre Sorgen vortrugen und Probleme zusammen mit Einheimischen zu lösen versuchten (Bericht über die Tagung der Eingliederungsberater im Albertus-Magnum-Kolleg in Königstein vom 15.–16. April 1957. StAM LAA 5149). In Baden-Württemberg berichtete Regierungsdirektor Manner vom Bundesvertriebenenministerium, dass die Ungarn auf alle Beeinflussungsversuche misstrauisch und auf jeden Zwang ungewohnt heftig reagierten. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465, 7–8. Denkschrift des Ungarischen Jugendgemeinschaftswerkes vom 13. August 1958. ADiCVMF II/ZTR-Verband 16. Der Ungarnseelsorger des Erzbistums Bamberg sprach von »misstrauischer Verschlossenheit« bei den Neuflüchtlingen, und dass bei ihnen

258 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g 1959 räumte die ungarische Exiljugend ein, dass sie anfänglich Schwierigkeiten nicht nur wegen der Differenzen hatten, die sich aus ihrer Erziehung ergaben, sondern auch weil die Exilorganisationen eine Tradition pflegten, zu der sie sich nicht bekannten. Eben deshalb sollte das Treffen die im Bundesgebiet zerstreut lebenden Ungarn in der Achtung vor den nationalen Traditionen zusammenführen. Dass fast alle jungen Ungarn »auf Brautschau« waren, wurde nicht thematisiert. Nach dem Eindruck des Sprechers war »die reinste Heiratswelle ausgebrochen«, welche die Integration nachhaltig gefördert habe.913 Hilfe leisteten Altflüchtlinge und Ungarndeutsche auch wenn sie Verwandte oder Bekannte aus den bayerischen Durchgangslagern holten.914 Wegen allgemeiner Unterkunftsknappheit war die sofortige Aufnahme der Ungarn bei Verwandten oder Bekannten von großer Relevanz. Einerseits wurde diesen Menschen das Lagerleben erspart, andererseits genossen sie persönliche Betreuung und soziale Beziehungen. Ab diesem Zeitpunkt verliert sich in den Verwaltungsakten die Spur der privat untergebrachten Ungarn, ebenso wie jener, die keine Straftaten begingen und in keine Konflikte verwickelt waren, sondern schnell Arbeit und Unterkunft fanden. 19 Ungarische Exilverbände in Westdeutschland und Österreich schlossen sich Ende Oktober 1956 in München zusammen, um die Ungarnhilfe gemeinsam zu koordinieren. Ihr Ungarisches Komitee in Deutschland bestand etwa zwei Monate.915 In Zusammenarbeit mit den Landsmannschaften der Ungarndeutschen organisierte es eine Hilfsaktion und bat die Regierungen des freien Westens um Hilfe im Kampf gegen die Sowjetar-

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»Lug und Betrug, Listigkeit und Schlauheit« ein »Bedürfnis« gewesen sei, was nicht verwundere, denn »sie kommen aus einer Welt, deren Zielsetzung es ist, eine willenlose, amoralische Klasse zu produzieren«. Gábor Vargha: Bericht über die Seelsorgetätigkeit. Michelfeld, 15. Januar 1958. AEB Rep. 3, 3231/03–10. Die jungen Ungarn haben Fuß gefasst. In: SZ 15 (1959) 47, 24. Februar, 3. Vgl. A hennefi konferencia után. In: ÚH 7 (1959) 6. März, 7; Vermerk von Sozialreferent Maurer vom 5. Mai 1959 mit Bericht über den Ungarischen Jugendkongress von György Ádám. BayHStA AM 1884. Die wenigen dieser Aktionen wurden amtlicherseits stillschweigend zugelassen, weil sie keine finanziellen Verpflichtungen ergaben. Aktenvermerk im AA (Referat Staats- und Verwaltungsrecht) vom 19. Dezember 1956. PAAA B 82, 148. Borbándi: A magyar emigráció, I, 516. Das Komitee formierte sich aus Vertretern christlicher Kirchen sowie karitativer, berufsständischer, gesellschaftlicher und kultureller Organisationen. Ungarisches Komitee an Ministerpräsident Hoegner. München, 27. Oktober 1956 und 29. Oktober 1957. BayHStA StK 13669 und 13677.

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mee.916 Eine Stellungnahme zu diesem Memorandum fehlt in den Akten der Bayerischen Staatskanzlei. Dokumentiert ist hingegen die Unterstützung der Hilfsmaßnahmen durch den bayerischen Ministerrat in Höhe von 5.000 Deutsche Mark. Diesen Betrag überließ Ministerpräsident Hoegner nicht dem in München gebildeten Ungarischen Komitee, sondern dem Bayerischen Roten Kreuz, das alle Spenden auf einem Sonderkonto sammelte und die gesamte Ungarnhilfe koordinierte.917 Die bayerische Staatsregierung ließ bei der Kooperation mit den Exilvereinen zum einen eine gewisse Vorsicht walten, zum anderen förderte sie die Erhaltung und Pflege der ungarischen Kultur, etwa anläßlich von Gedenktagen des in Ungarn tabuisierten Aufstands. Exilungarn in München erinnerten bereits nach einem Jahr feierlich an »den glorreichen Freiheitskampf vom Oktober 1956 und seinen tragischen Ausgang«, wie es in der Einladung zur öffentlichen Gedenkveranstaltung zu lesen stand.918 Organisiert wurde sie von der Ungarischen Arbeitsgemeinschaft, die 1957 aus der Ungarischen Flüchtlingskanzlei, dem ungarischen Flüchtlingsdienst, dem Ungarischen Studentenbund und dem Ungarischen Kulturbund entstanden war.919 Die Staatsregierung stellte den Herkulessaal der Residenz München kostenlos zur Verfügung, und Staatsminister Stain hielt die Festrede. Am 4. November 1957 gedachte man mit einem Requiem in der Theatinerkirche und einem Schweigemarsch mit Fackelzug der Niederschlagung der ungarischen Erhebung gegen die Sowjetunion. Die Erinnerung an den Ungarnaufstand wurde 1957 in ähnlichem Rahmen wachgehalten.920 916

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»Das ungarische Volk lehnt den Kommunismus und jegliche Form der Diktatur ab und möchte sich dem demokratischen Leben und der europäischen Völkergemeinschaft anschließen. Es geht nicht nur um die Sache Ungarns, sondern um die Sache der Freiheit und der Zukunft der Welt.« Mit diesen Worten forderten die in Westdeutschland und in Österreich lebenden ungarischen Flüchtlinge, den Einsatz sowjetischer Truppen in Ungarn zu verhindern. Ungarisches Komitee an Ministerpräsident Hoegner. München, 27. Oktober 1956. BayHStA StK 13669. Protokoll der Sitzung des bayerischen Ministerrats vom 30. Oktober 1956. IfZ NlH 399, 10–11 und BayHStA StK 13677. Einladung zur Gedenkfeier des ungarischen Freiheitskampfes 1957. ADiCVMF II/ZTRVerband 16. Ungarische Arbeitsgemeinschaft an Sozialreferent Maurer (BayStMA). [O. O.], 25. September 1957. BayHStA AM LFV 1884. Berichte über die Gedenkfeier 1957 im Herkulessaal der Münchener Residenz und 1958 im Sophiensaal der Oberfinanzdirektion München: Stain helyettes miniszterelnök beszéde

260 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g Außerdem wurden Ereignisse des Ungarnaufstands im Dokumentarfilm „Ungarn in Flammen“ dargestellt. Der 75-minütige Dokumentarfilm überblickt – nach einer historischen Einführung – anhand von Wochenschau-Aufnahmen die Nachkriegsgeschichte Ungarns und stellt Beginn, Verlauf und Niederschlagung der Volkserhebung dar.921 Vom Gutachterausschuss der Landesbildstellen Nord- und Südbayern wurde er für die Schulen ab der 7. Klasse zugelassen. Zwischen dem 20. April 1958 und dem 30. Juni 1962 wurde er in fast 2.000 deutschen Städten ungefähr 10.000 Mal vor knapp zwei Millionen Besuchern vorgeführt.922 Die Filmbewertungsstelle Wiesbaden verlieh dem Film das Prädikat besonders wertvoll. Als Zeitdokument habe er sich gut für den Geschichtsunterricht und die staatsbürgerliche Erziehung geeignet, stellte die Landesbildstelle Nord- und Südbayern fest, und befürworteten seinen Schuleinsatz ab dem 13. Lebensjahr. Mit ihm konnte jungen Menschen gezeigt werden, dass »die persönliche Freiheit vielen Menschen sogar den Einsatz ihres Lebens wert ist«.923 Für das politische Gespräch mit jungen Menschen boten sich Themen wie Demokratie und Diktatur, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit sowie die Rolle der Jugend bei der Volkserhebung an.924

5. 4. Unterschiedliche Erziehung und Lebenserfahrungen Die Erfahrungen zeigten und den Referenten zuständiger Ministerien war durchaus bewusst, dass die Neuflüchtlinge anders waren als die Altflüchtlinge.925 Aber worin bestand diese Andersartigkeit? Altexilanten und ältere Neuexilanten waren in der Zwischenkriegszeit aufgewachsen, als Ungarn nach dem Friedensvertrag von Trianon zwei

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Münchenben. In: ÚH 5 (1957) 44, 1. November, 4; A müncheni magyarok emlékünnepélye. In: ÚH 6 (1958) 44, 31. Oktober, 7. „Ungarn in Flammen“. Regie: Ferdinand Khittl. Karpat Film. Bundesrepublik Deutschland 1957. Präsident des Ungarischen Kulturbundes (Unterschrift unleserlich) an Staatsminister Maunz (BayStMUK). München, 16. Oktober 1962. Anlage: Gesamtbericht über nichtgewerbliche Vorführung des Films „Ungarn in Flammen“. BayHStA KM 51858. Vorsitzender Krings (Filmbewertungsstelle Wiesbaden) an Karpat Film (München). Wiesbaden-Biebrich, 2. Mai 1957. Mit Filmbeiblatt der Landesbildstelle Nord- und Südbayern. BayHStA KM 51858. Ebenda. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465, 10.

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Drittel seiner Territorien verloren hatte.926 Der Wunsch nach Zurückgewinnung der verlorenen Gebiete bestimmte die ungarische Politik der 1920er Jahre und breitete sich auch in der breiten Gesellschaft aus. Kultusminister Kuno Graf Klebelsberg, von 1922 bis 1931 ungarischer ungarischer Minister für Kultur und Religion, wollte den Verlust »staatsnationaler Größe durch überdurchschnittliche Bildung wettmachen«, mit »Hilfe einer Schar bestens ausgewiesener Gelehrter vor aller Welt kundzutun, dass die ungarische Nation ›gewichtiger‹ sei als die ›sie umgebenden Völker‹«.927 In dieser Zeit erlebten in Ungarn Kultur und Wissenschaft ihre Blütezeit. Auch das Schulsystem wurde weitgehend ausgebaut, so dass allen gesellschaftlichen Schichten der Zugang zur Bildung ermöglicht wurde. Die Generationen vor 1945 wuchsen im Geiste der Revision des Friedensvertrags von Trianon und der Idee von der kulturellen Überlegenheit Ungarns auf.928 Während Altflüchtlinge, unter ihnen frühere Oppositionspolitiker, einst leitende Beamte, Schriftsteller und Verleger, einer oberen Schicht angehörten, kamen die Neuflüchtlinge aus allen Schichten der ungarischen Gesellschaft. Sie waren vorwiegend jung und während der Rákosi-Ära in einem kommunistischen Ungarn aufgewachsen, in dem christliche Werte und Normen durch Unterdrückung der Religiosität, Verbot des Kirchenbesuchs sowie Abschaffung kirchlicher Feiertage und des Religionsunterrichts grundlegend verändert wurden.929 Die Altflüchtlinge sahen in der kommunistischen Erziehung der Neuflüchtlinge einen Grund für deren Andersartigkeit. Daraus leiteten sie eine materialistische Einstellung, lückenhafte Bildung und geringen religiösen Eifer ab.930 Der Pidinger Pfarrer Ludwig Klöck erwähnte zwar, dass manche der ankommenden Flüchtlinge das heilige Bußsakrament zu empfangen wünschten, als er in der Lagerkirche Gottesdienst hielt. Dennoch meinte er, dass ihre Religiosität – zumindest in Piding, wo sie durchschnittlich zwei bis drei Tage verbrachten – zu

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Siehe dazu Kapitel II. 1. Lengyel: Hungarologie, 77. Vgl. Seewann: Ungarnbild, 1–17. Romsics: Magyarország, 174–188. Valuch: Hétköznapi élet, 152–171. Nagy: Elveszett alkotmány, 68–69; Gábor Vargha (Ungarnseelsorger des Erzbistums Bamberg): Bericht über die Seelsorgetätigkeit. Michelfeld, 15. Januar 1958. AEB Rep. 3, 3231/03–10.

262 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g wünschen übrig ließ.931 Auch Klöck begründete »ärgste Verfehlungen« der Ungarn mit dem ausgeprägten Materialismus der kommunistischen Erziehung.932 Selbst Ungarnseelsorger beschwerten sich über Neuflüchtlinge, die mit ihrem Kirchenbesuch nur gegen das Regime demonstrieren wollten, aber sonst eine Abneigung gegen Kirche und Priester empfunden hätten. Aus diesem Grund hielten sie die Betreuung dieser Jugendlichen, die politisch wie weltanschaulich zwischen West und Ost standen, für eine besonders schwierige Aufgabe.933 Manche Altflüchtlinge und einige Heimatvertriebene fanden die große Aufmerksamkeit und Zuneigung, die man den Neuflüchtlingen entgegenbrachte, ungerecht. Sie selbst wurden nämlich ehedem nicht so herzlich empfangen und großzügig unterstützt.934 Eine Bevorzugung zeigte sich auch in der Verpflegung, denn alle Ungarn, die in den bayerischen Notunterkünften ankamen, erhielten eine warme Mahlzeit nach ungarischem Rezept. Für jeden in den Grenzlagern Piding und Schalding Ankommenden wurde ein Beköstigungsgeld für die Gemeinschaftsverpflegung und ein Zuschuss von täglich 0,20 Deutsche Mark vornehmlich für Brot verwendet. Für die Ungarn war zu dem festgesetzten Verpflegungsgeld ein Betrag von täglich 0,70 Deutsche Mark in den ersten zehn Tagen nicht nur in den Grenzlagern, sondern auch in den neu eingerichteten Lagern Oberelsbach, Voggendorf und Wagenried vorgesehen. Als Staatsminister Stain vorschlug, diese Zuwendung auf den gesamten Aufenthalt auszudehnen, warnten ihn seine Referenten vor einer Ungleichbehandlung gegenüber Heimatvertriebenen, heimatlosen Ausländern und DDR-Flüchtlingen, die auch in diesen Gemeinschaftsunterkünften lebten.935 Die vorübergehende Extraverpflegung galt als »rein menschliches Gebot«, jedoch sollten Un-

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Deshalb bat Pfarrer Klöck Erzbischof Joseph Wendel um die Herausgabe eines Beichtbüchleins in ungarischer und deutscher Sprache. Klöck an Erzbischöfliches Ordinariat. Piding, 28. November 1956. AEMF GV REG, 0741. Siehe noch Kapitel V. 2. 2. Klöck an Erzbischöfliches Ordinariat. Piding, 20. März 1957. AEMF GV REG, 0741. Undatierter Bericht über die Seelsorgetätigkeit bei ungarischen Flüchtlingsstudenten und Hochschülern, ohne Unterschrift. Vermutlich aus der Feder von ungarischen katholischen Seelsorgern. München 1957. AEMF GV REG, 0741. Vgl. Borbándi: A magyar emigráció, I, 408. Siehe noch Kapitel V. 2. 2. ORR Hübner (BayStMA) an Regierung von Oberbayern, Nieder-, Mittel- und Unterfranken. München, 21. November 1956; Vermerk von Fritz Hiltmann vom 13. Dezember 1956. BayHStA AM LFV 1913.

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garn den anderen Lagerbewohner gleichgestellt werden.936 Diese Überzeugung protokollierte 1957 die Aussage des Oberregierungsrats Gerhard Wolfrum vom Bundesvertriebenenministeriums: »Auf die Dauer könne man die Altflüchtlinge aus den anderen Ländern nicht schlechter behandeln als die Neuankömmlinge.«937

5. 5. Institutionalisierung der Pflege von Wissenschaft und Kultur Ungarns in Bayern Eine Gruppe des Exils sah ihre Aufgabe in der Pflege und Weiterentwicklung der ungarischen Wissenschaft und Kultur. Diese Zielsetzung zeigte sich nirgendwo so ausgeprägt wie im Rahmen des Ungarischen Instituts München (UIM). Die Idee zu dieser am 12. Dezember 1962 gegründeten Einrichtung stammte vom exilungarischen Publizisten und Redakteur István Jákli.938 Das UIM wurde im Frühjahr 1963 als unabhängiger, privater Trägerverein mit eigenem Institut beim Münchener Registergericht unter der Leitung des Kunsthistorikers und Geschichtswissenschaftlers Thomas von Bogyay eingetragen.939 Seine Vorbilder waren die ungarischen Auslandsinstitute in der Zwischenkriegszeit, in erster Linie das schon 1916 gegründete Ungarische Institut an der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin und das 1924 eingerichtete Collegium Hungaricum Berolinense, die mit ungarischer staatlicher Förderung bis 1945 im Zentrum der kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Ungarn waren. Der erste Leiter des Ungarischen Instituts zu Berlin, Robert Gragger, führte den Begriff Hungarologie (in der Urform Ungarologie) für die mit Ungarn befassten Wissenschaften in die deutsche und die ungarische Fachsprache ein.940 Bogyay, der 1933 selbst wissenschaftlicher Stipen936

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ORR Hübner an RD Nentwig (BayStMA). München, 15. Dezember 1956. BayHStA AM LFV 1913. Kurzprotokoll der 39. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene. Bonn, 4. Februar 1957. BArch B 106, 47465, 14. Jákli: Anfang. Vgl. Lengyel: Ursprünge. Bogyay war 1945 aus Ungarn emigriert und seit 1951 hauptberuflicher Redakteur im Münchener Sender Radio Freies Europa. Von 1962 bis 1968 war er Direktor, danach Vorstandsmitglied des UIM. Sein Hauptarbeitsgebiet umfasste die Kunst-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte Ungarns sowie Ostmitteleuropas. Lengyel: Der gelehrsame Exilant. Ujváry: Auswirkung; Ujváry: »Tudós kolostor, csöndes kolostori kerttel.«

264 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g diat in Berlin gewesen war, wollte die in der Zwischenkriegszeit begründete Tradition der interdisziplinären Regionalwissenschaft Hungarologie in München fortführen, allerdings ohne Unterstützung des ungarischen Staates. Hierbei betonte er die unpolitische Einstellung der außeruniversitären Forschungseinrichtung, die er aus der Bekämpfung des kommunistischen Regimes in Ungarn, der leitenden Zielvorgabe des politischen Exils, heraushielt. Ab 1964 gab das UIM die Buchreihe „Studia Hungarica“ und ab 1969 die Fachzeitschrift „Ungarn-Jahrbuch“ heraus. Um die grundsätzliche Distanz zur Exilpolitik beibehalten zu können, übergab Bogyay 1968 den Vorsitz an Georg Stadtmüller, Professor für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die erneuerte Vereinssatzung von 1972 legte die Ungarn-Forschung mit Publikationen und Veranstaltungen als Grundziel fest und drängte damit die exilbezogene Kulturarbeit zurück.941 Das UIM wurde zwar von Exilanten gegründet, diente aber nicht als nationalpolitische Arbeitsstätte oder als Kampfinstrument der Exilungarn. Mit Übergabe der Leitung in deutsche Hände ermöglichte Bogyay die langfristige Integration des Instituts in das deutsche wissenschaftliche Leben.942

6. Die alte Heimat Diese Studie erfasst mit der alten Heimat den Ausgangsstaat der Ungarnflüchtlinge. Nach Überschreitung der Staatsgrenze wurden deren Kontakte mit der alten Heimat nicht gänzlich abgeschnitten. Im Folgenden wird untersucht, wie die Kádár-Regierung auf die Abwanderung von 200.000 Menschen reagierte und inwieweit es in ihrem Interesse lag, ihre Landsleute zur Heimkehr zu bewegen. Behandelt wird auch die Einstellung der Neuflüchtlinge zur alten Heimat. Dabei stellt sich die Frage, ob ungarische Exilanten als Vermittler in den bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn auftraten. Zusätzlich wird das Verhältnis zwischen dem Kádár-Regime und den ungarischen Exilanten näher betrachtet. Die Kádár-Regierung bezeichnete den Volksaufstand als »konterrevolutionäre Verschwörung« und die Flucht als unberechtigten Grenz941 942

Lengyel: Hungarologie im Ungarischen Institut; Lengyel: Hungarologie. Lengyel: Ursprünge, 117.

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übertritt, somit als Straftat.943 Daheimgebliebene nannten die Geflüchteten »Dissidenten«.944 Das ungarische Innenministerium veranlasste mit der Anordnung 2/1957 die offizielle Abmeldung der Personen von ihren Wohnsitzen, die seit dem 23. Oktober 1956 ins Ausland gegangen waren.945 Ihnen konnte gemäß Staatsangehörigkeitsgesetz 5/1957 sowie Gesetzerlass 32/1957 über die Regelung der vermögensrechtlichen Lage der nach dem 23. Oktober 1957 rechtswidrig ins Ausland geflohenen Staatsbürgern sowohl die ungarische Staatsangehörigkeit als auch das Vermögen entzogen werden.946 Sofern sich diese Personen bis zum 31. März 1957 bei den ungarischen Auslandsvertretungen zur Heimkehr registrieren ließen oder bis zu diesem Datum heimgekehrt waren, wurden sie nicht wegen des illegalen Grenzübertritts bestraft.947 Das Politbüro des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (Magyar Szocialista Munkáspárt) hielt die Mehrheit der Geflüchteten für »entwurzelte«, »verirrte« und von westlichen Radiosendungen »getäuschte« Abenteurer. Es betonte, dass die Flüchtlinge nicht wegen politischer Unzufriedenheit und aktiver Teilnahme am Aufstand ihre Heimat verlassen hätten. Aus dieser Sicht stand der Rückkehr der »verirrten Söhne« nichts im Weg.948 Das für die Rückführung zuständige ungarische Innenministerium veranlasste die Bildung eines Komitees zur Durchführung der Heimkehr.949 Die österreichische Regierung wollte die Heimreise auf keinen Fall verhindern, aber auch niemanden dazu zwingen, weshalb das Komitee nicht ausschließlich aus ungarischen Mitarbeitern bestand, sondern auch aus einem österreichischen Vertreter, einem Mitarbeiter des Flüchtlingskomitees der UNO sowie einem Dolmetscher und einer Sicher943

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Die konterrevolutionäre Verschwörung von Imre Nagy und Komplizen; Die ungarische Revolution 1956, 173–175; Rainer: Imre Nagy, 211–213. Lendvai: Leben, 11; Meleghy: Die ungarische Emigration, 166. KSH jelentés. Murber: Flucht, 43; Institut für Ostrecht an AA. München, 13. März 1959. PAAA B 82, 331. Szabó: »…s várja eltévedt fiait is«, 192–194, geht davon aus, dass nur wenigen Ungarnflüchtlingen die ungarische Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Die Verfasserin verweist auf eine Studie, die für den Zeitrraum von 1957 bis 1981 insgesamt 203 Ausbürgerungen nachweisen konnte. Verordnung über Amnestie 27/1956 für die nach dem 23. Oktober 1956 ins Ausland geflohenen Personen, veröffentlicht im Gesetzblatt „Magyar Közlöny“ am 1. Dezember 1956. Murber: Flucht, 95–96; Szabó: »…s várja eltévedt fiait is«, 187. Szabó: »…s várja eltévedt fiait is«, 208. Okváth: Die Repressalien, 492–496.

266 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g heitskraft. Die Rückkehrer versicherten mit ihrer Unterschrift, dass sie aus freiem Entschluss heimreisten.950 Eine solche Erklärung mussten Heimkehrwillige auch in der Bundesrepublik Deutschland unterschreiben.951 Die Tätigkeit der Repatriierungskommission löste in den österreichischen Notunterkünften scharfe Proteste aus.952 In Salzburg verfassten Ungarnflüchtlinge einen offenen Brief mit 2.500 Unterschriften an die österreichische Regierung, in dem sie gegen den Besuch der Kommission protestierten. Sie hegten eine deutliche Abneigung gegen die Abgesandten der ungarischen Regierung: »Wir wollen die Mörder unserer Väter und Mütter nicht sehen, wir wollen die Henker unserer Kinder und Zuchthauswächter nicht mehr sehen und wir erlauben nicht, dass sie sich in unsere Angelegenheit einmischen oder dass sie das versuchen.«953 Repatriierungskommissionen waren ausschließlich in Österreich und Jugoslawien tätig. In anderen Aufnahmestaaten ließ das Kádár-Regime Informationen über Rückreisemöglichkeiten aus den Auslandsvertretungen verbreiten.954 Die ersten Rückkehrer wurden in den Wintermonaten 1956 nicht registriert, und manche waren illegal über die grüne Grenze gegangen. Deshalb kann die Anzahl der Heimkehrer nur geschätzt werden. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen gab 18.220 Personen an, etwa zehn Prozent aller Ungarnflüchtlinge.955 Laut Angaben des Ungarischen Statistischen Amtes kehrten bis Ende Mai 1957 11.447 Personen zurück.956 Am 15. Oktober 1960 sprach János Kádár vor der Generalversammlung 950

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Murber: Flucht, 95–100. Zur Tätigkeit der Repatriierungskommission in Jugoslawien vgl. Kovács: A magyar menekültkérdés, 443–444. Erlass der Republik Österreich, Bundesministerium für Inneres, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit vom 7. Februar 1957 über die Ein- und Durchreise ungarischer Flüchtlinge, die bereits in einem anderen Staat Aufnahme gefunden haben. PAAA B 85, 398 (Abschrift). Murber: Flucht, 96–97. „Hinaus mit den Henkern unserer Kinder!“ Resolution von 2.500 ungarischen Freiheitskämpfern an die ungarische Kadar-Kommission. In: SN 6. Februar 1957, 6, zitiert nach Erdős: Neue Heimat, 371. Graf Welczeck (Deutsche Botschaft) an AA. Wien, 11. November 1957. PAAA B 85, 397; LR Stubbe (AA) an MR Breull (BMVt). Bonn, 22. November 1957. PAAA B 85, 398. Für die Rolle der ungarischen Botschaften in Frankreich, Österreich und der Schweiz: Kecskés: A francia diplomácia; Kecskés: Franciaország; Murber: Flucht; Robert: Mindennek ellenére. Robert: Magyar menekültek, 413. KSH jelentés 198–199.

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der Vereinten Nationen von etwa 40.000 Heimkehrern und sagte, dass der Anteil der Heimkehrenden viel höher wäre, wenn die westlichen Regierungen die Ungarn nicht an der Rückreise hindern würden.957 Kádár warf den Aufnahmestaaten vor, mit ihren integrationsfördernden Maßnahmen die Rückkehr der Ungarn zu erschweren und versuchte selbst, seine Landsleute zur Heimkehr zu bewegen. Dafür betrieb seine Regierung mit Hilfe der ungarischen Auslandsvertretungen und des Weltverbandes der Ungarn (Magyarok Világszövetsége) regelrecht Propaganda. Auch Artikel der Tageszeitung „Népszabadság“ (Volksfreiheit) und das Programm „Szülőföldünk“ (Unser Heimatland) des Senders Radio Kossuth stellten die Erzählungen der Rückkehrer vor, um »ins Ausland ausgerissene ehrliche Landsleute« nach Hause zu locken.958 Herausragende Beispiele für die Rückkehrpropaganda sind Bücher von Miklós Szabó, die in mehreren Sprachen erschienen. Der Autor, früheres Mitglied der KleinlandwirtePartei, war von 1949 bis 1953 politischer Gefangener und flüchtete 1955 nach Österreich, wo er sich mit den ungarischen Flüchtlingen in Wien beschäftigte. Nachdem er 1957 nach Ungarn zurückgekehrt war, veröffentlichte er seine überwiegend negativen Erlebnisse. In seinem 1960 erschienenen Buch „Heimatlos in der großen Welt“ stellte Szabó die Ungarnflüchtlinge als »irregeführte« und von Programmen der westlichen Rundfunksender »getäuschte« Abenteurer dar, die Ungarn »Hals über Kopf« verlassen hätten. Statt eines sorglosen Lebens im »Land der Verheißung« fanden diese Menschen Quartier in heruntergekommenen Notunterkünften, schlechte Kost und hohe Anforderungen in ungünstigen Arbeitsverhältnissen. Sie fühlten sich in der »Hochburg der Freiheit und des Wohlstandes« enttäuscht und fremd, von Heimweh gequält.959 Die anfängliche Freundlichkeit, Offenheit und Euphorie, die den Ungarn entgegengebracht wurde, ebbte mit der Zeit ab. Dazu merkte Szabó an: »Die unlängst noch verwöhnten ›Freiheitshelden‹ hat man schnell vergessen. Der Lorbeerkranz, den man ihnen aufgesetzt hatte, war schnell verwelkt, und sie gerieten als schäbig gekleidete, graue Landstreicher auf die Straße.«960 957 958

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Szabó: »…s várja eltévedt fiait is«, 208. A hónap elejéig 28 ezer szökött magyar tért vissza. In: EH 27. Januar 1957. http:// w3.osaarchivum.org/files/holdings/selection/rip/4/pc/300-5-46--5-1-7_000120.jpg (29. Januar 2022); Robert: Mindennek ellenére, 111–116; Robert: Magyar menekültek. Szabó: Heimatlos, 8, 11. Ebenda, 80.

268 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g Das Komitee zur Durchführung der Heimkehr der Ungarn besaß eine Zentrale in Raab, wo Beamte der Staatspolizei die Heimgekehrten verhörten.961 Die angefertigten Protokolle erfassten die persönlichen Daten der Befragten und geben ausführlich Auskunft über die Flucht, Erfahrungen in Österreich und in anderen Drittstaaten, die Rückreise nach Ungarn und deren Gründe. Die meisten gaben als Beweggrund die Sehnsucht nach der Heimat und den Verwandten sowie Enttäuschungen an. Die Mehrheit gestand ein, dass sie Ungarn aus Abenteuerlust verlassen habe,962 und versicherte, ihre Flucht zu bereuen. Die Geständnisse ähneln einander sehr und lassen vermuten, dass Zurückgekehrte der Staatspolizei vorzugsweise Heimweh und Enttäuschungen als Gründe nannten, wobei sie aus Angst vor Vergeltung Belastendes, etwa eine Teilnahme am Volksaufstand, verschwiegen.963 Die Angst der Heimkehrer vor Repressalien war trotz Amnestieversprechen begründet, wie Verhaftungen oder sogar Todesstrafen belegen.964 Auch Zeitzeugenberichten ist zu entnehmen, dass die Entscheidung, Ungarn zu verlassen, häufig kurzfristig und intuitiv getroffen worden war. Ein Beispiel dafür war die Mitfahrgelegenheit in einem Lastwagen und die Frage, Einsteigen oder Bleiben – ein schneller Entschluss, der sich auf den weiteren Lebensweg gravierend auswirkte.965 So schnell wie sich Flüchtlinge zur Ausreise entschlossen hatten, traten sie mitunter auch die Rückreise an, zu der kurzzeitige Misserfolge und enttäuschte Erwartungen bei961

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Die Aufzeichnungen enthalten Anweisungen für die Überwachung der Heimkehrer. Die Staatspolizei kontrollierte, ob sie sich unter der angegebenen Adresse anmeldeten und prüfte eventuelle, zum Zeitpunkt der Flucht bestehende Vorstrafen. ÁBTL O–9634 und O–9827, 609. Häufig mit dem Begriff »Hysterie zur Dissidenz« (»disszidálási hisztéria«) umschrieben. Zum Beispiel: Protokolle vom 26. September 1957 (Ernő Király und seine Frau) sowie 19. September 1957 (József Varga). ÁBTL O–9827, 54–55, 65. Robert: Mindennek ellenére, 107. Kecskés: Az 1956-os magyar menekültek, 133–136, stellte fest, dass die ungarische Auslandsvertretung in Paris ihrem Außenministerium genau das meldete, was diese von ihr erwartete. Deshalb sind diese Dokumente mit gehöriger Kritik zu behandeln. Erzsébet Márton wurde nach ihrer Rückkehr aus Belgien trotz Amnestieversprechen zuerst zum Tode und dann zu lebenslanger Haft verurteilt, aus der sie erst 1963 im Rahmen der allgemeinen Amnestie frei kam (Szabó: »…s várja eltévedt fiait is«, 202). Katalin Havrilla kehrte 1957 aus der Schweiz nach Ungarn zurück, wo sie verurteilt und 1959 hingerichtet wurde. Robert: Mindennek ellenére, 99. Balogh: Az 1956-os magyar menekültek, 476; Nagymihály: A magyar csoda, 192–193; Zeitzeugengespräch mit Gábor Czibulás.

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trugen. 1957 kehrten zehn Prozent der Geflüchteten nach Ungarn zurück, danach sanken die Zahlen Jahr für Jahr.966 Auch die Generalamnestie 1963, die zur Entlassung der wegen Beteiligung am Ungarnaufstand Verurteilten führte und Rückkehrern Straffreiheit zusicherte,967 wirkte sich nicht signifikant auf die Rückwanderungsquote aus.968 1963 lebten die Ungarnflüchtlinge seit sieben Jahren in der neuen Umgebung, hatten sich bereits integriert und anfängliche Schwierigkeiten überwunden. Außerdem hatten viele eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen oder Arbeit gefunden.969 Deshalb war es auffällig, wenn jemand nach jahrelangem Aufenthalt im Bundesgebiet zurückkehrte, wie Wilhelm Schuksz, der im Herbst 1957 wegen politischer Aktivitäten aus Ungarn zu seinen Großeltern nach Neufahrn bei Freising geflüchtet war. Wegen einer Knieverletzung brach er seine Friseursausbildung in Freising ab. Nachdem er die deutsche Sprache in der Handelsschule Dr. Graf Freising erlernt hatte, machte er dort eine dreijährige Lehre, die er 1961 mit guter Leistung abschloss. Nach seiner Ausbildung, für die er aus dem Garantiefonds eine monatliche Beihilfe in Höhe von 200, insgesamt rund 7.500 Deutsche Mark erhalten hatte, entschloss er sich zur Heimkehr. Das Jugendamt versuchte ihn davon abzuhalten und klärte ihn über die Gefahren sowie eventuelle Strafmaßnahmen auf. Schuksz verließ im Oktober 1961 dennoch das Bundesgebiet.970 966

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Kende: Mi történt a magyar társadalommal 1956 után, 9. Bis 1961 kehrten aus Jugoslawien und Österreich 14.866 Personen zurück (Szépfalusi: A legújabb felismerések, 118– 119). Die abnehmenden Rückwanderungszahlen (1958: 4.731; 1959: 1.632; 1960: 1.127 Personen) bei Szabó: »…s várja eltévedt fiait is«, 208. Das Schreiben der deutschen Botschaft in Wien an das Auswärtige Amt vom 14. August 1964 weist auf den Beschluss über die Amnestieregelung hin, der im Gesetzblatt der ungarischen Regierung („Magyar Közlöny“ 8. August 1964, 393) erschienen war. Handelsvertretung der Bundesrepublik Deutschland an AA (Bonn). Budapest, 25. Oktober 1965. PAAA B 82, 498. Zwischen 1963 und 1967 kehrten 2.628 Personen nach Ungarn zurück. Szabó: »…s várja eltévedt fiait is«, 208. Die australische Exilzeitschrift „Független Magyarország“ (Unabhängiges Ungarn) behauptete in ihrer Ausgabe vom 1. Oktober 1957, dass »die allgemeine Unzufriedenheit bei jedem Einwanderer verschwindet, wenn die Neuangekommenen zu einem eigenen Heim, zu einer ihrer Fachbildung entsprechenden Stelle gelangen und Fortschritte in der englischen Sprache machen. Dieser Prozess dauert im allgemeinen 4 bis 6 Jahre«. Zitiert nach Szabó: Heimatlos, 85. RR Zick (Landratsamt Freising) an die Regierung Oberbayern. Freising, 13. Oktober 1961; RD Laubenthal an BayStMI (Sachgebiet Verfassungsschutz). Freising, 23. März 1962. BayHStA IM 97302.

270 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g Freiherr Friedrich Traugott Leuckart von Weißdorf, für Verfassungsschutz zuständiger Ministerialrat im Bayerischen Innenministerium, stellte fest, dass es keine Möglichkeit gab, Schuksz gegen seinen Willen von seinem Vorhaben abzuhalten, da das Auswanderungsrecht Teil der demokratischen Grundordnung war. Leuckart schloss nicht aus, dass die ungarische Staatssicherheit Schuksz wegen seiner Sprachkenntnisse und Vertrautheit mit dem Leben in der Bundesrepublik Deutschland für ihre Dienste einsetzen würde.971 Im Einvernehmen mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz entschloss sich das bayerische Innenministerium, Rückwanderungen von Jugendlichen zu beobachten.972 Bemerkenswerterweise schickte Schuksz nach seiner Heimkehr Briefe an das Jugendamt (wohl in Freising), in denen er mitteilte, in Ungarn als unzuverlässig zu gelten, keine Arbeit gefunden zu haben und deswegen nach Freising zurückkehren zu wollen.973 Die Akten legen seinen weiteren Lebensweg nicht offen. Obwohl das Regime Kádárs die Heimkehr der Landsleute aus dem Westen unterstützte, waren nicht alle Rückkehrer willkommen. Exilanten, die entweder vor ihrer Flucht in Ungarn oder nach der Flucht im Ausland straffällig geworden waren, gewährte das Innenministerium keine Wiederaufnahme. Denjenigen, die in verschiedenen Exilorganisationen aktiv waren, wurde die Heimkehr ebenfalls verwehrt, da sie die volksdemokratische Staatsordnung stürzen und die Herauslösung Ungarns aus dem sowjetischen Machtbereich erreichen wollten.974 Das ungarische Staatsparteisystem stufte Altflüchtlinge als feindlich ein und beschrieb die 1956er Neuflüchtlinge als verirrt, verführt oder konterrevolutionär. Letztere wollte es zur Rückkehr bewegen, soweit sie keine Aktivisten der Konterrevolution und keine Straftäter waren, während es erstere bekämpfte, in dem es ihre Exilorganisationen zu zersetzen suchte.975 971 972

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MR Leuckart (BayStMI) an BayLfV. München, 23. November 1961. BayHStA IM 97302. Dabei sollten die Kreisverwaltungsbehörden einschlägige Fälle dem bayerischen Innenministerium melden. MR Leuckart an BayLfV. München, 10. April 1962; MR Walter (BayStMI) an Regierungen und Kreisverwaltungsbehörden. München, 30. Mai 1962. BayHStA IM 97302. RD Laubenthal an BayStMI (Sachgebiet Verfassungsschutz). München, 23. März 1962. BayHStA IM 97302. Szabó: »…s várja eltévedt fiait is«, 194–197. Akten der Observierung von Organisationen der ungarischen Exilanten in der Bundesrepublik Deutschland und deren Tätigkeiten: ÁBTL O–8–487/3, O-8-487/3, 410. ÁBTL O–8–487/3, 410. Vgl. Schmidt-Schweizer: Ungarndeutsche.

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Die ungarische Exilgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland gehörte zu den größten und bedeutendsten im Westen, wie ein gewisser Dániel Szabó in seiner 1980 an der Polizeiakademie Budapest angefertigten Diplomarbeit darlegte. Ihre Schlagkraft begründete der Verfasser zum einen mit der Aktivität der radikalsten, einst Horthy-treuen Mitglieder, zum anderen mit der Unterstützung der CDU/CSU. Nachdem die Adenauer-Regierung Ungarnflüchtlinge finanziell und ideologisch gefördert habe, seien diese Unterstützungsmaßnahmen von der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt stark verringert, somit die Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten des ungarischen Exils in der Bundesrepublik Deutschland begrenzt worden.976 Der ungarische Staatssicherheitsdienst beschaffte sich als politische Polizei des Innenministeriums mit Hilfe von Agenten Informationen über exilungarische Aktivisten und Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland.977 Insbesondere das Ungarische Gymnasium in Burg Kastl stand unter seiner Beobachtung.978 Die Kádár-Regierung befürchtete, dass Bayern durch finanzielle Subventionen Einfluss auf die ungarische Exilgemeinschaft nehmen könnte, dies in erster Linie über die CSU, die in der Nachkriegszeit – mit Ausnahme der Viererkoalition 1954–1957 – stets Teil der bayerischen Staatsregierung gewesen war.979 1985 schätzte die ungarische Botschaft in Bonn die Wirkungskraft des ungarischen Exils zwar noch als bedeutsam ein, stellte aber fest, dass die Zahl von dessen aktiven Mitgliedern stetig gesunken sei. Die Hauptakteure alterten, und viele der Organisationen bestanden nur noch auf dem Papier, ihre Tätigkeiten beschränkten sich auf wenige Jahresveranstaltungen. Gleichzeitig verlagerten sich die Interessen der Exilvereine von der politischen Einflussnahme zunehmend auf die Kulturarbeit, insbesondere die Pflege der ungarischen Muttersprache und Kultur.980 976 977

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ÁBTL A–4488, 499. So berichtete Agent „Vékony“ über ungarische Exilanten in München. Unter anderem beobachtete er deren Veranstaltungen, fotografierte Gebäude und erkundete Einzelpersonen und ihre Kontakte. ÁBTL M–19134, 337. ÁBTL O–8–837/1–2, 472. Abteilungsleiter Sándor Józan (Ungarisches Innenministerium III/I–7) an Abteilungsleiter István Berényi (III/I–11). Budapest, 14. Juli 1977. ÁBTL O–8–437/1, 80–82. Abschlussbericht der ungarischen Botschaft in Bonn über den Arbeitsbereich Exil. Ferenc Kéri (Sekretär) an Außenminister Péter Várkonyi. Bonn, 10. Mai 1985. ÁBTL O–8–

272 G e g e n s e i t i g e Wa h r n e h m u n g Wie das Ungarische Institut München, lehnten die Exilungarn grundsätzlich eine Zusammenarbeit mit den Regierungen Ungarns ab. Dieser Weigerung entsprach es, dass auch die ungarischen Regierungen eine ablehnende bis feindselige Haltung gegenüber den Ungarnflüchtlingen einnahmen. So spielte das ungarische Exil keine Vermittlerrolle für die bilateralen Beziehungen beider Staaten. Erst in den 1980er Jahren begann das Kádár-Regime, Kontakte zu regimetreuen Kreisen des ungarischen Exils auszubauen.981 Bereits in den 1960er Jahren suchte Kádár eine Art Ausgleich mit der ungarischen Bevölkerung, nachdem er mit den – aus seiner Sicht konterrevolutionären – Aktivisten rigoros abgerechnet hatte.982 Der Slogan des konsolidierten Kádárismus lautete: »Wer nicht gegen uns ist, der ist mit uns.«983 Mit der Treue zur Sowjetunion und zum Einparteiensystem unter der alleinigen Führung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei verwirklichte Ungarn das ungarische Modell des Staatssozialismus, das auch »Gulaschkommunismus« genannt wurde.984 Ab Mitte der 1960er Jahre machte eine Entspannungspolitik mit verbesserter Lebensmittelversorgung und einer Vollbeschäftigung das Leben in Ungarn erträglicher. Innerhalb des Ostblocks reisten die Ungarn ohne Visumzwang in alle Bruderländer.985 Das im Jahr 1961 gegründete staatliche Fremdenverkehrsamt erleichterte die Ein- und Ausreisen, und nach einem Gesuch im ungarischen Außenministerium gestattete das Politbüro den Ungarnflüchtlingen auch Besuchsreisen in der alten Heimat. Ehemaligen Anhängern des Horthy-Regimes und Aktivisten des Ungarnaufstands war die Einreise jedoch nicht gestattet. Mit der Erlaubnis der Besucherreisen wollte das Kádár-Regime zeigen, dass es sich lohnt, in ein politisch und gesellschaftlich stabiles und wirtschaftlich aufstrebendes Ungarn zurückzukehren.986 Bereits 1966 mel-

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487/3, 47–54. Vgl. Horváth: Sonne. Der Autor war zwischen 1984 und 1991 Botschafter Ungarns in Bonn. Schmidt-Schweizer: Ungarndeutsche, 183–184. Kende: Mi történt a magyar társadalommal 1956 után, 13–14, spricht nicht von Ausgleich, sondern von Konsolidierung, die eine Normalisierung in den Arbeits- und Lebensbereichen bewirkt habe. Rainer: Nyugatról visszatekintve, 100. Romsics: Magyarország, 401, 451. Ohne Visum konnten die Ungarn ab 1960 in die Tschechoslowakei, ab 1961 nach Polen, ab 1964 nach Bulgarien und ab 1968 nach Rumänien reisen. Klimó: Ungarn, 84. Szabó: »…s várja eltévedt fiait is«, 207.

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dete die UFA-Wochenschau in einem Rückblick auf den Ungarnaufstand 1956, dass Kádárs behutsame Politik fühlbare Verbesserungen erreicht habe, so dass die Ungarn behaupteten, in der »lustigsten Baracke des Ostblocks« zu leben.987

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UFA-Wochenschau 534/1966 vom 18. Oktober 1966, 10:00:00–10:03:45, bei 3:19.16. https://www.filmothek.bundesarchiv.de/video/584724?q=534%2F1966 (22. Januar 2022).

VI. Zusammenfassung Als die Niederschlagung des Ungarnaufstands Tausende Ungarn nach Bayern trieb, war es nicht das erste Mal, dass Menschen im Freistaat Zuflucht suchten. Wie die bayerische Landesregierung und die deutsche Bundesregierung sowie die bayerische Bevölkerung auf die Zuwanderung der Ungarn zur Mitte und gegen Ende der 1950er Jahre reagierten und was deren Integration im Freistaat förderte oder erschwerte, sind zentrale Fragen der vorliegenden Arbeit. Anhand der Darstellung bundesdeutscher Entscheidungen über Aufnahme, Verteilung und Unterbringung der Ungarnflüchtlinge konnte gezeigt werden, wie und wodurch die Integrationschancen der Neuankömmlinge beeinflusst wurden. Zunächst entschloss sich die Bundesrepublik Deutschland, von den zwischen Oktober 1956 und Mitte 1957 rund 200.000 geflohenen Ungarn 3.000, kurz darauf 10.000 aufzunehmen. Allerdings wurde die Begrenzung schon bald aufgehoben, so dass letztendlich etwa 14.500 Ungarn in der Bundesrepublik Deutschland eine Bleibe fanden, davon 1.541 in Bayern. Ihnen wurde politisches Asyl ohne komplizierte Aufnahmeverfahren gewährt. Sie wurden von der deutschen Aufnahmekommission des Bundesinnenministeriums bereits in Österreich registriert, wobei sie ihre persönlichen Fluchtgründe nicht darlegen mussten; auch die Teilnahme am Ungarnaufstand stellte kein erforderliches Kriterium dar. Soweit es die jeweiligen Quoten zuliessen, konnte jeder für seine Ausreise den Staat wählen. Nahezu alle Flüchtlinge kamen freiwillig in die Bundesrepublik Deutschland oder nach Bayern. Allein eine ausgeschöpfte Quote konnte die anfänglich unzähligen Möglichkeiten einer Weiterreise aus Österreich und Jugoslawien, den Erstaufnahmeländern, in ein Zielland begrenzen und Wünsche beeinflussen. Eine rasche Ausreise brachte zwar eine Entlastung dieser Erstasylländer. Der Zeitdruck verursachte aber häufig unüberlegte Entscheidungen. Da viele Flüchtlinge illusorische oder keine Vorstellungen vom Leben jenseits des Eisernen Vorhangs hatten und sich von Hörensagen und Gerüchten beeinflussen ließen, wurde die Wahl des Zielortes meist intuitiv und überstürzt getroffen, was unweigerlich zu Enttäuschungen führte.

276 Z u s a m m e n f a s s u n g Bayern spielte als Transitland eine maßgebliche Rolle. Als unmittelbarer Nachbar Österreichs leitete der Freistaat fast 90.000 Ungarn in zehn europäische sowie sechs außereuropäische Länder weiter. Darüber hinaus verschaffte ihm die Errichtung einer Münchener Luftbrücke großes Ansehen. Vom 11. Dezember 1956 bis Ende Juni 1957 wurden insgesamt 15.311 Ungarnflüchtlinge im Rahmen der Aktion Sicherer Hafen vom Flughafen München-Riem und dem Flugplatz München-Neubiberg in die USA, nach Kanada, Neuseeland und Norwegen ausgeflogen. Im November 1956 entstanden in kürzester Zeit fünf Durchgangslager für Tausende Einreisende: Piding, Schalding und Voggendorf in Bayern, Friedland in Niedersachsen und Bocholt in Nordrhein-Westfalen – Brennpunkte der Ungarnaufnahme. Die drei Hauptaufnahmestellen des Freistaates zeugen von der großen Herausforderung, vor der Bayern unvermittelt beim Empfang der Ungarnflüchtlinge und deren Verteilung in andere Bundesländer stand. Von Mitte November bis Ende Dezember 1956 kamen fast täglich Gruppen von 100 bis 900 Personen in Bayern an. Über 5.000 Ungarn reisten über das Durchgangslager Piding bei Bad Reichenhall in Oberbayern ein, womit Piding auch für die Ungarn, wie einst für die Heimatvertriebenen, zum Tor zur Freiheit wurde. Eine Kollektivaufnahme mit vorläufiger Anerkennung als ausländischer Flüchtling sicherte die Rechtsgrundlage für die Niederlassung der Ungarn in der Bundesrepublik Deutschland. Nach Verteilung gemäß Länderanteil waren die entsprechenden Bundesländer für die Eingliederung der Geflohenen zuständig. In Bayern gehörte die Aufgabe der Flüchtlingsbetreuung zur Zuständigkeit des Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge. Arbeitsminister Walter Stain kümmerte sich um die Aufnahme der Ungarn oder gegebenenfalls um deren nicht immer reibungslose Weiterleitung und Rückführung. Die Unterbringung wurde durch die begrenzte Kapazität der bayerischen Flüchtlingslager erschwert, die restlos ausgelastet waren. Zur Mitte der 1950er Jahre lebten noch Heimatvertriebene in Notunterkünften, obwohl deren Integration in dieser Zeit weit vorangeschritten war. Außerdem wurden die Flüchtlingslager durch den Zustrom aus der DDR immer wieder zusätzlich beansprucht. Darüber hinaus wurden den Ungarn drei Sammelunterkünfte – Obererlsbach im unterfränkischen Landkreis Bad Neustadt an der Saale, Voggendorf im mittelfränkischen Landkreis Feucht-

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wangen und Wagenried im oberbayerischen Landkreis Dachau – sowie Heimplätze, Werks- und Privatwohnungen zur Verfügung gestellt. Die bayerische Bevölkerung, die sich aktiv an den Hilfsaktionen, Trauer- und Sympathiekundgebungen beteiligte, bekundete eine freundschaftliche Haltung gegenüber den Ankommenden. Die ersten Begegnungen mit den Ungarn fanden bei deren Ankunft in Piding statt, wo diese von Repräsentanten der bayerischen Politik empfangen wurden. Bundeskanzler Konrad Adenauer und Landtagspräsident Hans Ehard würdigten den ungarischen Kampf gegen den Kommunismus und sprachen von den Ungarn als »edlem und tapferen Volk«.988 Unter den Einheimischen wuchsen Bewunderung und Anerkennung für die Ungarn, die humanitäre Hilfe wurde als selbstverständliche moralische Verpflichtung betrachtet. Die bayerischen Tages- und Wochenzeitungen untermauerten die aufkommende Sympathie mit ausführlichen Berichten und Fotos, wodurch die Spendentätigkeit und Einsatzbereitschaft der Einheimischen besonders gefördert wurde. Insbesondere in den ersten Monaten beschäftigten sich viele Helfer mit den Ungarn: Wohlfahrtsorganisationen, Ehrenamtliche, Betreuer der Jugend- und Studentenheime, Vertreter ungarischer Exilvereine, Mitglieder des bayerischen Ministerrats sowie hochrangige Beamte der Ministerien und des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz. Es gab kaum eine Ortschaft, die nicht in irgendeiner Form an der Ungarnhilfe beteiligt war. Der Andrang an den Sammelstellen der Caritas und des Bayerischen Roten Kreuzes, die zahlreichen Beteiligungen an Betstunden, Gedenkgottesdiensten und antisowjetischen Demonstrationen gestalteten die Ungarnhilfe zu einem allgegenwärtigen Thema der bayerischen Gesellschaft. Innerhalb kurzer Zeit gingen fünf Millionen Deutsche Mark und 2.000 Tonnen Sachspenden ein. Die Münchener Studenten Peter Kepser und Peer Lange riskierten freiwillig ihr Leben, um den Flüchtlingen an der ungarisch-österreichischen Staatsgrenze zu helfen. Die bayerische Ungarnhilfe nahm auch dank vieler ehrenamtlich Beteiligter, die Durchreisende in Notunterkünften versorgten, erhebliches Ausmaß an. Ein typischer Ungarnflüchtling war männlich, zwischen 20 und 30 Jahre alt, Arbeiter oder Student und in der wirtschaftlichen Hochkonjunk988

2. Deutscher Bundestag. 168. Sitzung. Bonn, 8. November 1956. In: DBP 9259. Vgl. ebenso: Bayerischer Landtag. 3. Legislaturperiode. Stenographischer Bericht. 79. Sitzung. München, 6. November 1956. In: BLP 2699.

278 Z u s a m m e n f a s s u n g tur der ausgehenden 1950er Jahre leicht zu integrieren. Seit 1955 herrschte in weiten Teilen Bayerns Vollbeschäftigung. Die Wirtschaftslage entwickelte sich günstig, so dass qualifizierte Arbeiter ohne große Schwierigkeiten aufgenommen werden konnten. Zu dieser Zeit fehlten bundesweit Facharbeiter. Zusätzlich traten die geburtenschwachen Kriegsjahrgänge ins Erwerbsleben ein, so dass Engpässe auf dem Arbeitsmarkt erwartet wurden, und man die Anwerbung ausländischer Arbeiter in Betracht zog. Seit 1955 hatte sich die deutsch-italienische Anwerbungskommission um ausländische Arbeitskräfte bemüht, allerdings wurden nur wenige Ausländer in Bayern beschäftigt, vor allem Saisonarbeiter aus Italien und Österreich. Zwar betonte Bundesvertriebenenminister Oberländer, dass es bei der Aufnahme der Ungarn nicht auf die Verwendbarkeit ihrer Arbeitskraft ankam. Er sah aber keine Schwierigkeit darin, sie angesichts der Wirtschaftslage in Arbeit zu bringen, zumal die überwiegende Mehrheit jung und arbeitswillig war. Unterlagen der Arbeitsvermittlung beweisen die Richtigkeit dieser Einschätzung. Bis Ende Juni 1957 meldeten sich 8.078 Ungarn zur Arbeitsvermittlung bei den Landesarbeitsämtern an. 8.012 Personen fanden Arbeit im Bundesgebiet – eine Erfolgsrate von 99 Prozent. Waren im Dezember 1956 in Bayern noch 866 Ungarn als arbeitssuchend gemeldet, fanden bis Ende März 759 durch die Vermittlung der Landesarbeitsämter Nord- und Südbayern eine Stelle. So konnten 88 Prozent der ungarischen Arbeitssuchenden in Bayern in den Arbeitsprozess eingegliedert werden. Die Eingliederungschancen der Schüler, Lehrlinge, Studenten und Kinder wurden durch die Förderung ihrer Schul- und Ausbildung wesentlich verbessert. Studenten erhielten Stipendien vom Bund und aus Mitteln der amerikanischen Ford- und Rockefeller Foundation. Über 1.000 ungarische Studenten wurden in Studenten- und Jugendheimen auf die Fortsetzung ihres Studiums in der Bundesrepublik Deutschland vorbereitet. Allerdings war es für rund 500 ungarischen Oberschüler infolge der Ausbildungslücken und fehlenden Sprachkenntnisse schwierig, einen Schulabschluss an einer deutschen Schule zu erreichen. Zudem war die Kapazität der ungarischen Volks- und Realschule im baden-württembergischen Bauschlott mit 132 Schülern ausgeschöpft und für die Aufnahme weiterer Oberschüler viel zu klein. Deshalb wurde die Einrichtung einer zentralen Oberschule für die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden ungarischen Schüler vorgeschlagen und schließlich in Burg Kastl bei Amberg in der Oberpfalz

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verwirklicht. Da die Wahl des Standorts der einzigen ungarischen Privatschule für das gesamte Bundesgebiet auf Bayern fiel, übernahm der Freistaat die Federführung für dieses Projekt. Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus war für die Anerkennung nichtstaatlicher Bildungsinstitute und Schulgenehmigungen zuständig; ihm unterstanden auch das ungarische Gymnasium mit angeschlossenem Internat. Das Bayerische Staatsministerium der Finanzen überwachte den Um- und Ausbau der Klosterburg Kastl für Schule und Internat und schloss den Mietvertrag mit dem Ungarischen Schulverein ab. Der Bund und die Flüchtlingsverwaltungen der Länder beteiligten sich an der Finanzierung der staatlich genehmigten, privaten ungarischen Schule. Das Ungarische Gymnasium öffnete am 13. Mai 1958 seine Pforten für 326 Schüler und bestand fast ein halbes Jahrhundert, in dem es weit über 1.000 Schüler zum Abitur führte. Etwa 95 Prozent der Ungarnflüchtlinge sprach kein Deutsch. Deswegen stand das Erlernen der deutschen Sprache an erster Stelle der Eingliederungsarbeit. Deutschkenntnisse waren bei Ausbildung und Studium, bei Behördengängen und Arbeitsaufnahme, bei der Kommunikation mit Einheimischen unentbehrlich. Studienräte, Flüchtlingsstudenten, Ungarnseelsorger und Ungarndeutsche engagierten sich ehrenamtlich als Leiter von Deutschkursen. Dabei gab es keine einheitliche Verfahrenslinie. Auch die Münchener Volkshochschule bot Sprachkurse an. Allerdings gab es kaum Lehrmittel für Deutsch als Fremdsprache. Diese Marktlücke nutzten Verlage für die Herausgabe entsprechender Lehrbücher und Wörterbücher. Durch die Ungarnflüchtlinge wurde die Sprache als Grundvoraussetzung für die Eingliederung erkannt, was wiederum einen regelrechten Boom auf dem Lehrbuchmarkt auslöste. Die Verortung der Begegnungen von Einheimischen und Ankommenden gewährt Einsichten in die gegenseitigen Eindrücke. Die Untersuchung der gegenseitigen Wahrnehmung bei direkten und indirekten Kontakten zwischen der Aufnahmegesellschaft und den Ankommenden zeigt, wie Vorkenntnisse und Vorurteile die Meinungsbildung der beteiligten Akteure beeinflussten. Neben sportlichen Erfolgen waren es zur Mitte der 1950er Jahre beliebte Unterhaltungsfilme wie die Sissi-Trilogie und „Ich denke oft an Piroschka“, die sich positiv auf die Meinung der bayerischen Bevölkerung auswirkten. Die Ursprünge der stereotypen Schilderungen eines romantischen Ungarn mit schönen Landschaften und temperament-

280 Z u s a m m e n f a s s u n g vollen Persönlichkeiten reichten in die Zwischenkriegszeit mit ihren Ungarnfilmen zurück. Die bayerischen Tages- und Wochenzeitungen riefen mit idealisierenden Darstellungen der Helden des Ungarnaufstands, der ungarischen Freiheitskämpfer Sympathien hervor und stärkten in der bayerischen Bevölkerung die positive Haltung gegenüber den Flüchtlingen. Eine Pro-Ungarn-Stimmung hatte in Bayern bereits vor der Ankunft der Flüchtlinge geherrscht. Die ersten persönlichen Begegnungen brachten zwar die Erkenntnis, dass nicht alle Ungarn Freiheitskämpfer waren und manche sogar durch negative Verhaltensweisen oder strafrechtliche Vergehen auffielen. Dennoch veränderte sich die überaus positive Einstellung zu den Ungarn nicht maßgeblich. In der Wortwahl von Politikern und Berichterstattern wurde der Mut und die Freiheitsliebe der Ungarn sowie ihre Opferrolle für das Abendland hervorgehoben, was die antikommunistische Grundstimmung in der Bundesrepublik Deutschland und Bayern stärkte. Die Aufnahme der Ungarn wurde nicht in Frage gestellt, sondern als humanitäre Hilfsaktion bewertet. Insbesondere die Rolle des wohltätigen Helfers bestimmte die Selbstwahrnehmung der Aufnahmegesellschaft, die aus eigener Erfahrung wusste, wie schwierig die Flucht und der Neuanfang für die Ungarn sein musste. Elf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren Westdeutschland mit Bayern in der Lage, Notleidende großzügig aufzunehmen, als die Rahmenbedingungen dafür deutlich günstiger waren als bei der Ankunft der Heimatvertriebenen. Die positive Einstellung zu den Ungarn schuf aber auch eine blinde Gutmütigkeit. Die Aufnahmegesellschaft sah nur Helden, obwohl normale Menschen mit guten und schlechten Eigenschaften gekommen waren. Jedenfalls sahen sich Ungarnflüchtlinge auch in einer idealisierten Vorstellung bestärkt, nämlich in jener über das Leben jenseits des Eisernen Vorhangs, im Paradies in der Freiheit. Schon im ersten Halbjahr nach der Ankunft, in dem die jungen Ungarn auf das Studenten- und Arbeitsleben in Bayern vorbereitet wurden, tauchten Hindernisse für ihre Eingliederung auf. An erster Stelle sind hier Bildung und Erziehung im kommunistischen Ungarn zu nennen, die sowohl Einheimische als auch Betroffenen selbst als Grund für die erschwerte Eingliederung erkannten. Der kommunistische Lehrplan, der außer Russisch keine andere Fremdsprache zuließ, war die Ursache für die fehlenden Deutschkenntnisse der meisten Ankommenden. Die Älteren waren im Ungarn der Zwischenkriegszeit aufgewachsen, als die Budapester Regierung

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unter dem Kultusminister Kuno Graf Klebelsberg das Bildungsniveau der Bevölkerung mit der Förderung des Volkshochschulwesens und der Eliteausbildung anzuheben bestrebt gewesen war. Dementsprechend wies ein Großteil der älteren Flüchtlinge Fremdsprachenkenntnisse wie Deutsch und/oder Englisch vor. Allerdings betrug ihr Anteil nur etwa 5–8 Prozent der in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommenen Ungarn. Die Defizite des kommunistischen Unterrichtswesens zeigten sich in lückenhaften Grundkenntnissen und starker staatlicher Steuerung, die einer entscheidungsfreien und selbständigen Zukunftsplanung entgegenwirkten. Sobald Flüchtlinge im freien Westen ankamen, wurde ihnen mit der Freiheit auch Selbstverantwortung übertragen. Niemand zwang sie zu einer bestimmten Lebensform, keine Autorität beeinflusste ihr Handeln, so dass ihnen das neue Leben ungewohnt und fremdartig erschien. In der Zeit, in der Ungarnflüchtlinge in größeren und kleineren Gruppen als Oberschüler, Studenten, Lehrlinge, Jungarbeiter und Arbeiter untergebracht waren, schützte sie die Gemeinschaft. Sobald sie aber einzeln an Hochschulen und Universitäten gingen oder Arbeitsplätze übernahmen, wurden sie in Bayern beziehungsweise im Bundesgebiet verstreut und tauchten unter. Am Beispiel der Wohnlager Wagenried und Voggendorf wurde ihr Weg nach dem Empfang in einem bayerischen Durchgangslager bis in die endgültige Bleibe verfolgt und dabei ihre Registrierung mit Lagerleben sowie Arbeitsvermittlung, außerdem die Reaktion Einheimischer im Landkreis Dachau auf die Entscheidungen der großen Politik und auf die Zuwanderung der Ungarn nachgezeichnet. Die deutsche Bundesregierung und die bayerische Staatsregierung strebten nicht die Assimilierung der Ungarnflüchtlinge an, sondern förderten die Erhaltung und Pflege von deren sprachlichen, kulturellen und religiösen Traditionen. Die bayerische Bevölkerung unterstützte mit breiter Hilfsbereitschaft das entsprechende Handeln von Staat, Kirchen und Sozialverbänden. Im Sinne dieser klugen Integrationspolitik gliederten sich die Ungarnflüchtlinge schnell in den Arbeitsmarkt und das Bildungssystem Bayerns und Westdeutschlands ein. Hindernisse stellten dabei in erster Linie Sprachschwierigkeiten, die Unkenntnis über das Leben in westlichen Ländern und rechtsradikale Aktivitäten ungarischer Exilgruppen dar. In zeitgenössischen Diskursen herrschten dennoch positive Bilder und Meinungen über die Ungarn vor, so dass Integrationsprobleme

282 Z u s a m m e n f a s s u n g kaum diskutiert wurden. Für die Aufnahme der Geflohenen erzeugten das Wirtschaftswunder mit dem sich abzeichnenden Arbeitskräftemangel, der Antikommunismus im Kalten Krieg und der 1955 in den Kinos erfolgreiche Piroschka-Film eine günstige Grundstimmung. Die Ungarnflüchtlinge wurden mit herzlicher Zuneigung empfangen. Der Umstand, dass sie vorwiegend jung, arbeitsfähig oder ausbildungsfähig waren, beschleunigte ihre Eingliederung. So erwies sich der anfangs für vorübergehend betrachtete Aufenthalt in Bayern für viele Ungarn als lebenslange Heimat.

VII. Anhang 1. Abkürzungsverzeichnis AA = Auswärtiges Amt BAA = Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung BayLfV = Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz BayStMA = Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge/Bayerischer Staatsminister für Arbeit und soziale Fürsorge BayStMI = Bayerisches Staatsministerium des Innern/Bayerischer Staatsminister des Inneren BayStMUK = Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus/Kultusminister BMA = Bundesministerium für Arbeit/Bundesminister für Arbeit BMF = Bundesministerium für Finanzen/Bundesminister der Finanzen BMFJ = Bundesminister für Familien- und Jugendfragen/Bundesminister für Familien- und Jugendfragen BMI = Bundesministerium des Innern/Bundesminister des Innern BMVt = Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte/ Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte BP = Bayernpartei BRK = Bayerisches Rotes Kreuz CSU = Christlich-Soziale Union in Bayern DM = Deutsche Mark DRK = Deutsches Rotes Kreuz FDP = Freie Demokratische Partei GB/BHE = Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten ICEM = Zwischenstaatliches Komitee für europäische Auswanderung (Intergovernmental Committee for European Migration) KSH = Zentrales Statistisches Amt (Központi Statisztikai Hivatal, Budapest) LPG = Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften LR = Legationsrat LRI = Legationsrat Erster Klasse MD = Ministerialdirektor MDir = Ministerialdirigent MdL = Mitglied des Landtags MR = Ministerrialrat MVHS = Münchner Volkshochschule MVt = Ministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte NATO = Nordatlantikpakt ORR = Oberregierungsrat RD = Regierungsdirektor

284 An h a n g RR = Regierungsrätin/Regierungsrat SPD = Sozialdemokratische Partei Deutschlands UNHCR = Hochkommissariat/Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees) UNO = Organisation der Vereinten Nationen (United Nations Organization) USA = Vereinigte Staaten von Amerika

2. Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Ungarnhilfe 1956–1958 (S. 83) Abbildung 2: Vorschrift für die Rückführung von Ungarnflüchtlingen aus der Bundesrepublik Deutschland nach Ungarn, 1957 (S. 97) Abbildung 3: Empfang von Ungarnflüchtlingen im Lager Schalding (S. 110) Abbildung 4: Durchgangs- und Wohnlager Piding (S. 112) Abbildung 5: Empfang von Heimkehrern im Durchgangslager Piding, Dezember 1953 (Volksdeutsche aus Kriegsgefangenschaft) / Grenzdurchgangslager Piding aus der Vogelperspektive, 1948 (S. 114) Abbildung 6: Formblatt eines Antrags auf Anerkennung als ausländischer Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland, November 1956 (S. 117) Abbildung 7: Formblatt eines Beschlusses über die vorläufige Anerkennung als ausländischer Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland, November 1956 (S. 118) Abbildung 8: Ungarnhilfe in Piding, 1956 (S. 128) Abbildung 9: Empfang an der österreichisch-ungarischen Staatsgrenze / Verköstigung in der Dorfschule Pamhagen, Ende 1956 (S. 131) Abbildung 10: Überquerung des Einser-Kanals, Ende 1956 (S. 131) Abbildung 11: Postkarte von Peter Kepser aus Tadten und Bestätigung des Österreichischen Roten Kreuzes von dessen Teilnahme an der Ungarnhilfe, Dezember 1956 (S. 132) Abbildung 12: Formblatt eines Kurzberichts über die Unterbringung von Ungarnflüchtlingen, 1956 (S. 150) Abbildung 13: Die Baracken in Wagenried, November 1956 (S. 160) Abbildung 14: Ankunft der Ungarnflüchtlinge in Wagenried, November 1956 (S. 162)

3. Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Anzahl der Ungarnflüchtlinge, November 1956 – März 1957 (S. 57) Tabelle 2: Anzahl der Ungarnflüchtlinge, die aus Österreich weiterreisten (S. 60) Tabelle 3: Anzahl der Ungarnflüchtlinge, die aus Jugoslawien weiterreisten (S. 61) Tabelle 4: Ungarn-Transporte in die Grenzlager Piding und Schalding, November und Dezember 1956 (S. 74) Tabelle 5: Transporte der Ungarn-Flüchtlinge, November 1956 (S. 75)

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Tabelle 6: Verteilungsplan vom 7. Dezember 1956 und Stand der Aufnahme vom 18. Januar 1957 (S. 77) Tabelle 7: Überschreitungen der österreichisch-bayerischen Staatsgrenze durch Ungarnflüchtlinge, Oktober 1956 – August 1957 (S. 80) Tabelle 8: Unterbringung der Ungarnflüchtlinge: Verzeichnis der Orte und Heime in Bayern, 1956/1957 (S. 136) Tabelle 9: Arbeitssuchende Ungarn (Stand: 15. Dezember 1956) (S. 151) Tabelle 10: Arbeitsvermittlung der Ungarn nach Wirtschaftszweigen, 1957 (S. 151) Tabelle 11: Arbeitsvermittlung der Ungarn nach Landesarbeitsamtsbezirken (Stand: März 1957) (S. 152) Tabelle 12: Exil-Gymnasien in der Bundesrepublik Deutschland, 1963 (S. 172) Tabelle 13: Finanzierungsplan für das Ungarische Gymnasium mit Internat in Burg Kastl, 1957 (S. 177) Tabelle 14: Zuschüsse der Bundesländer an das Ungarische Gymnasium in Burg Kastl, 1958 (in DM) (S. 179) Tabelle 15: Liste der für das Ungarische Gymnasium in Burg Kastl vorgesehenen Schüler in Fürstenried und Bauschlott, 1958 (S. 181) Tabelle 16: Ungarisches Gymnasium in Burg Kastl: Aufteilung der Schüler nach Wohnort der Eltern, 1957–1999 (S. 185) Tabelle 17: Nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete exilungarische Organisationen in Bayern und in der Bundesrepublik Deutschland (Auswahl) (S. 250)

4. Quellenverzeichnis 4. 1. Ungedruckte Quellen ABP = Archiv des Bistums Passau NlNK: Nachlass Norbert Kocholaty NlSKL: Nachlass Bischof Simon Konrad Landersdorfer OA: Flüchtlingsseelsorge ÁBTL = Állambiztonsági Szolgálatok Történeti Levéltára, Budapest A–4488: Dániel Szabó: Az NSZK-ban élő ellenséges magyar emigráció szervezetei és hazánk elleni tevékenysége. Szakdolgozat. 1980 [Diplomarbeit]. M–19134: „Vékony“ O–9634, 9827: Nyugatról visszatértek O–8–487/3: „Csoportosulás“. NSZK emigráció O–8–837/1: „Vár“. Emigráció középiskolája az NSZK-ban ADiCVMF = Archiv des Diözesan-Caritasverbandes München und Freising II/ZTR-Verband 16: Ungarischer Hilfsdienst, München III/F: Fotosammlung

286 An h a n g ADiCVP = Archiv des Diözesan-Caritasverbandes Passau 46.23: Statistiken und Berichte 1947–2000 82: Ostzonenhilfe 1956–1958 83: Ostkirchenhilfe Passau 1961–1963 III 81: Ungarnhilfe 1956–1958. Fotos AEB = Archiv des Erzbistums Bamberg Rep. 3: Generalvikariat, Ungarnseelsorge Rep. 80: Bildarchiv „Bamberger Volksblatt“ AEMF = Archiv des Erzbistums München und Freising. Erzbischöfliches Archiv, München GV REG: Akten des Generalvikariats SBD: Seelsorgeberichte Dachau (Dekanat Dachau) SBI: Seelsorgeberichte Indersdorf (Dekanat Altomünster) BArch = Bundesarchiv Koblenz B 106: Bundesministerium des Innern. Emigration, Ungarn-Hilfe, Flüchtlinge B 136: Bundeskanzleramt. Exilgruppe Ungarn 1950–1973 B 149: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Arbeitsvermittlung von Ungarnflüchtlingen 1955–1957 BayHStA = Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München AM LFV: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge. Landesflüchtlingsverwaltung IM: Bayerisches Staatsministerium des Inneren JM: Bayerisches Staatsministerium der Justiz KM: Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus StK: Bayerische Staatskanzlei GAP = Gemeindearchiv Piding AMW: Archiv Max Wieser DP: Ursula Koch: Das Durchgangslager Piding – vor 50 Jahren geschlossen. Dokumentation zur Ausstellung „Piding – das Tor zur Freiheit“, 16. September 2012. IfZ = Institut für Zeitgeschichte, München ID: Hausarchiv NlH: Nachlass Wilhelm Hoegner PAAA = Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin B 12: Bilaterale politische Beziehungen zu Ungarn B 85: Aufnahme von Flüchtlingen. Soziale Betreuung der Flüchtlinge B 82: Pass- und Niederlassungsfragen

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StAB = Staatsarchiv Bamberg LRA: Landratsamt Münchberg StadtAM = Stadtarchiv München Bibl.: Bibliothek FS: Fotosammlung StAM = Staatsarchiv München AAR: Arbeitsamt Rosenheim LAA: Landesarbeitsamt Südbayern. Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer (1952–1967) LRAB: Landratsamt Berchtesgaden LRAD: Bezirksarbeitsamt/Landratsamt Dachau LRAM: Landratsamt München LRAMb: Bezirksarbeitsamt/Landratsamt Miesbach RObb.: Regierung von Oberbayern StAN = Staatsarchiv Nürnberg. Außenstelle Lichtenau LAA: Landesarbeitsamt Nordbayern LRA: Landratsamt Feuchtwangen StAW = Staatsarchiv Würzburg RegUF: Regierung Unterfranken

4. 2. Gedruckte Quellen Abdai Viktoria: Alle Wege führen in die Schweiz. Odyssee einer Exil-Ungarin. Zürich 2002. Bayerisches Rotes Kreuz: Jahresbericht 1956. München 1956. BLP = Bayerischer Landtag. Protokolle. https://www.bayern.landtag.de/webangebot2/ webangebot/protokolle?execution=e3s1. Bracker Milton: Nixon at Kilmer Greets Refugees. In: The New York Times 106 (1956) 36, 133, 28. Dezember, 9. Bundesministerium für Justiz: Erstes Gesetz zur Überleitung von Lasten und Dekkungsmitteln auf den Bund (Erstes Überleitungsgesetz). https://www.gesetzeim-internet.de/_blg_1/BJNR007730950.html (27. März 2022). Bursten Martin A.: Escape from fear. Syracuse University Press 1958. Czibulás Gábor: Festrede anlässlich des 50jährigen Jubiläums. Heidelberg 2006 [Typoskript]. Czibulás Gábor: Festrede zum ALUMNI Treffen in Burg Kastl am 31. Mai 2009 [Typoskript]. DBP = Deutscher Bundestag. Protokolle. https://www.bundestag.de/protokolle.

288 An h a n g Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge. Sonderausgabe des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit anlässlich des Gedenkjahres 1995. Hg. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit. München 1995. Die Frage der Ungarn-Flüchtlinge von 1956 in Iserlohn. Quellensammlung. Hg. Ferenc Nagy. Red. Sándor Galambos. Nyíregyháza 2006. https://library.hungaricana.hu/en/view/SZSM_Kozl_35_1956_nemet/?pg=6&layout=s (31. Januar 2022). Die konterrevolutionäre Verschwörung von Imre Nagy und Komplizen. Hg. Informationsamt des Ministerrates der Ungarischen Volksrepublik. Budapest 1956. Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. IX: 1956. Hg. Friedrich P. Kahlenberg. Bearb. Ursula Hüllbüsch. München 1998. Dr. Galambos ist verstorben. In: Ungarisches Medien- und Informationszentrum. http://www.umiz.at/de/index.php/kirchengemeinden-left/1399-dr-galambosist-verstorben (4. Februar 2022). Folberth Otto: Ungarnhilfe 1956–1957. Berichte an die 7. Generalversammlung der AER/AWR, Arnheim, 9. – 12. 9. 1957. In: Intégration. Bulletin International 4 (1957) 2, 80–188. Frankel Max: Nixon at Munich Meets Refugees. In: The New York Times 106 (1956) 36, 128, 23. Dezember, 3. GeschichtsWerkstatt im Landkreis Dachau. Kriegsende und Nachkriegszeit im Landkreis Dachau. https://geschichtswerkstatt-dachau.de/1945-1949-im-landkreisdachau/ (31. Januar 2022). Griesbach Heinz – Schulz Dora: Deutsche Sprachlehre für Ausländer. Leichtes Deutsch. Schallaufnahmen. München 1956. Griesbach Heinz – Schulz Dora: Deutsche Sprachlehre für Ausländer. München 1957. Häckel Ernst: Tanuljunk könnyen, gyorsan németül! A német nyelv alapos elsajátításának könnyű és gyors módszere mindenki számára. Budapest 41939. Häckel Ernst: Deutsch für Ungarn. Tanuljunk gyorsan németül. München 1957. Hartung Hugo: Ich denke oft an Piroschka. Eine heitere Sommergeschichte. Roman. Berlin 1954. Helmer Oskar: 50 Jahre erlebte Geschichte. Wien 1957. Hörhager Raymund: Blutiges Gemetzel in Magyarovar. In: SZ 12 (1956) 259, 29. Oktober, 3. Interview von Theodor Oberländer über die Flüchtlingsfrage (27. November 1956). In: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Hg. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn, 29. November 1956, Nr. 223, 2021–2022. http://www.cvce.eu/obj/Interview_von_Theodor_Oberlander_uber_die_Fluchtlingsfrage_27_November_1956-de-b13c89b9-5a394f1f-b941-c42927752cc9.html (20. Januar 2022). Jahresbericht des Europäisch-Ungarischen Gymnasiums 2000/2001, 2001/2002. Hg. Direktorat des Europäisch-Ungarischen Gymnasiums. Burg Kastl 2001, 2002.

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Jahresbericht des Ungarischen Gymnasiums 1957/1958, 1975/1976, 1977/1978, 1998/1999, 1999/2000. Hg. Direktorat des Ungarischen Gymnasiums. Burg Kastl 1958, 1976, 1978, 1999, 2000. Konitzer Hanni: Der Aufstand der Ungarn. Vor zehn Jahren: ein blutiges Begräbnis des Stalinismus. In: F.A.Z. 29. Oktober 1966. http://w3.osaarchivum.org/files/ holdings/selection/rip/4/pc/300-5-46--3-7-1_000091.jpg (13. Januar 2022). Kristóf Ágota: Die Analphabetin. Autobiographische Erzählung. München 2007. Küttel István M.: 1956 – 50 év távlatából. Dachau 2006 [Typoskript]. KSH jelentés az 1956-os disszidálásról. Az illegálisan külföldre távozott személyek főbb adatai (1956. október 23. – 1957. április 30.). In: Regio 2 (1991) 4, 174–211. Ligsalz Matthias: Wohin geht Dein Weg, Kamerad? Geschichten vom Leben auf dem Land. Berlin 2005. Mészáros József (Josef): Die zweite Heimat. Eine Biographie. München 2011. Michener James A.: Die Brücke von Andau. München 1985. Mildschütz Koloman: Bibliographie der ungarischen Exilpresse (1945–1975). Ergänzt und zum Druck vorbereitet von Béla Grolshammer. Mit einem Geleitwort von Georg Stadtmüller. München 1977. Nagymihály Zoltán: A magyar csoda története. Beszélgetések németországi 56-os magyarokkal. Marosvásárhely 2014. Passau als zentrales Sammellager und zentrale Versandstelle bei der Ungarn-Hilfsaktion, 1956–1958. In: Passau. Quellen zur Stadtgeschichte. Hgg. Egon Boshof [u. a.]. Regensburg 2004, 398–402. Reinhard Marguerite: Die Ungarnhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes. Zürich 1958. Rester Bartl: Die Caritas-Hilfsaktion für Ungarn aus der Sicht der Sammelstelle Passau. In: Caritas 58 (1957) 186–188. Rester Bartl: Die Caritas-Hilfsaktion für Ungarn. In: Caritasdienst 10 (1957) 42–44. Rheingauschule Geisenheim: Berichte der ungarischen Schüler über die Erlebnisse 1956. Geisenheim 2006. Typoskript. Rheingauschule Geisenheim: Die Rheingauschule und der Ungarnaufstand 1956. „Flucht aus Ungarn – dann Abi in Geisenheim“. Interview mit István Szász, 2006. Typoskript. Schulz Hans – Sundermeyer Wilhelm: Deutsche Sprachlehre für Ausländer. Grammatik und Übungsbuch. Neubearbeitet von Bernhard Thies. München 131957. Sebode Gerhard: Ungarische Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Untersuchung an 150 männlichen, 18–30 Jahre alten ungarischen Flüchtlingen des Jahres 1956 über ihr Denken und Fühlen und ihre soziale Einordnung. Göttingen 1963 [Dissertation an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau]. Steiner Hans: »Damit es nicht vergessen wird!« Flüchtlingswohnlager Wagenried, Gemeinde Langenpettenbach/Markt Indersdorf 1945–1958. Altomünster 2004. Thury Zoltán jr.: Menekültek kalauza. München 1950. Ungarn 1956. Zeitgeschichte online. http://www.ungarn1956.de/node/11 (14. Januar 2022).

290 An h a n g Ungarnaufstand 1956. In Deutschland lebende Augenzeugen und Revolutionäre blicken nach 50 Jahren zurück. Hg. Bund Ungarischer Organisationen in Deutschland e. V. (BUOD). Târgu-Mureş 2006. Van Straaten Werenfried: Sie nennen mich Speckpater. Recklinghausen 1961. Wegweiser für Aussiedler. Hg. Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Bonn 51960. [Zwanzig] 20 Jahre Ungarisches Gymnasium. Festschrift zum Jubiläum. Hg. Direktorat des Ungarischen Gymnasiums. Burg Kastl 1978.

4. 3. Periodika AD = Amerika Dienst. United States Information Service. Bad Godesberg AN = Amberger Nachrichten. Amberg AZ = Amberger Zeitung. Amberg AZt = Abendzeitung. München BiZ = Bayern in Zahlen. Fachzeitschrift für Statistik sowie Informations- und Kommunikationstechnik. Fürth BSZ = Bayerische Staatszeitung / Bayerischer Staatsanzeiger. München Ca = Caritas. Zeitschrift für Caritaswissenschaft und Caritasarbeit. Freiburg CD = Caritasdienst. Mitteilungen des Caritasverbandes der Erzdiözese München und Freising. München DA = Dachauer Anzeiger. Dachau DK = Donaukurier. Ingolstadt DN = Dachauer Nachrichten. Dachau DR = Deutsche Rundschau. Berlin DS = Der Spiegel. Hamburg DW = Die Welt. Hamburg DZ = Die Zeit. Hamburg EH = Esti Hírlap. Budapest FL = Fränkische Landeszeitung. Ansbach F.A.Z. = Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland. Frankfurt am Main FR = Frankfurter Rundschau. Frankfurt am Main GA = General-Anzeiger. Bonn HB = Heimatblätter. Beilage von Reichenhaller Tagblatt. Bad Reichenhall IKZ = Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung. Iserlohn MM = Münchner Merkur. München MZ = Mittelbayerische Zeitung. Regensburg NMZ = Neue Miesbacher Zeitung. Miesbach NN = Neumarkter Nachrichten. Neumarkt in der Oberpfalz NT = Neumarkter Tagblatt. Neumarkt in der Oberpfalz NYT = The New York Times. New York NüNa = Nürnberger Nachrichten. Nürnberg PB = Passauer Bistumsblatt. Passau

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PNP = Passauer Neue Presse. Passau PPP = Parlamentarisch-Politischer Pressedienst. Bonn SN = Salzburger Nachrichten. Salzburg SZ = Süddeutsche Zeitung. München ÚH = Új Hungária (Neue Hungaria). München ÚMÉ = Új Magyar Élet (Neues Ungarisches Leben). München WA = Welt der Arbeit. Wochenzeitung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Köln

4. 4. Zeitzeugengespräche Czibulás Gábor: Diplom-Psychologe. Grünwald, 24. Januar 2015. Dezasse Judit, Gräfin: Biologin. Wolfratshausen, 27. Juni 2008. Geiss Rudolf: Lehrer für Wirtschaft und Recht sowie Geografie am EuropäischUngarischen Gymnasium Kastl. Burg Kastl, 18. Juli 2006. Hajmási-Auerbach Franziska: Lehrerin für Sport und Ungarisch als Fremdsprache am Europäisch-Ungarischen Gymnasium Kastl. Burg Kastl, 18. Juli 2006. Kepser Peter: Religionslehrer. München, 28. September 2015. Lange Peer: Politikberater. Thaining (Landkreis Landsberg), 26. Juli 2016. Pager Roland: Betriebsleiter bei der Firma J. Schowanek in Piding. Telefongespräch, 21. Juli 2011. Pastyik Pongrác: Diplom-Ingenieur. München, 2. Dezember 2006. Steiner Hans: Konstrukteur. Erdweg, 15. Juni 2015. Wieser Max: Pidinger Altbürgermeister. Piding, 30. August 2011.

5. Literaturverzeichnis Ackermann Andreas: Ethnologische Migrationsforschung. Ein Überblick. In: Kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 10 (1997) Winter, 1–28. Alföldi László M.: Ungarische Flüchtlingsschulen in Österreich 1945–1963. Norderstedt 2014. Alföldy Géza: Ungarn 1956. Aufstand, Revolution, Freiheitskampf. Heidelberg 1957. Bachkönig Wolfgang: Ungarnaufstand 1956. »Heimat, warum musste ich dich verlassen?« Zeitzeugen erzählen. Munderfing 2016. Bade Klaus J.: Exodus und Integration. Historische Perspektiven und aktuelle Probleme. In: Zu viele Fremde im Land? Aussiedler, Gastarbeiter, Asylanten. Hg. Paul Bocklet. Düsseldorf 1990, 9–20. Balbier Uta A.: Der Kalte Krieg. Darmstadt 2010. Balogh Balázs: Az 1956-os menekültek társadalmi integrációja az Egyesült Államokban. Egy néprajzi kutatás tapasztalatai. In: Világtörténet 6 (2016) 3, 469–484.

292 An h a n g Bauer Franz Josef: Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik in Bayern 1945–1950. Stuttgart 1982. Beer Siegfried: Zwischen »Rollback« und Ohnmacht. Die österreichischen Besatzungsmächte Großbritannien und USA in der Ungarnkrise 1956. In: Die Steiermark und der ungarische Volksaufstand 1956. Hg. Josef Riegler. Graz 2010, 13–42. Bein Daniel: Gulasch, Paprika, Pußta – das Ungarnbild der Deutschen. In: Drache, Stern, Wald und Gulasch – Europa in Mythen und Symbolen. Hg. Bernd Schmelz. Bonn 1997, 41–70. Békés Csaba: Az 1956-os magyar forradalom a világpolitikában. Tanulmány és válogatott dokumentumok. Budapest 1996. Békés Csaba: A magyar forradalom és az ENSZ az újabb levéltári kutatások tükrében. In: A forradalom és a magyar kérdés az ENSZ-ben, 1956–1963. Tanulmányok, dokumentumok és kronológia. Hgg. Csaba Békés, Gusztáv D. Kecskés. Budapest 2006, 7–26. Bisping Sandra: »Öffnung zur Welt.« Einheimische und Fremde im Landkreis Mühldorf am Inn 1945–1952. St. Ottilien 2012. Borbándi Gyula: A magyar emigráció életrajza 1945–1985. I–II. Budapest 21989. Borbándi Gyula: Emigránsok. Budapest 2002. Borbándi Gyula: Radio Freies Europa – Radio Free Europe. In: München – Budapest, Ungarn – Bayern. Festschrift zum 850. Jubiläum der Stadt München. Hgg. Gerhard Seewann, József Kovács. München 2008, 243–254. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Erstverteilung der Asylsuchenden (EASY). https://www.bamf.de/DE/Themen/AsylFluechtlingsschutz/AblaufAsylverfahrens/Erstverteilung/erstverteilung-node.html (6. Februar 2022). Cnossen Taeke: Integration of refugees. Some observation on the Hungarians in Canada. The Hague 1964. Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus. Hgg. Natalie Beyer [u. a.]. München 2009. Cseresnyés Ferenc: Ötvenhatosok menekülése Ausztriába és Ausztrián át. In: Múltunk 43 (1998) 1, 42–70. Cseresnyés Ferenc: 1956-os magyar menekültek befogadása az NSZK-ba. In: Múltunk 50 (2005) 2, 115–136. Cseresnyés Ferenc: Magyar egyetemisták (Nyugat-)Németországban, 1956–1958. In: Külügyi Szemle 13 (2014) 4, 138–162. Cserháti Ferenc: Magyarok a bajor fővárosban. Budapest 2016. Csík Sándor: Die Flüchtlingswelle nach dem Ungarn-Aufstand 1956 in die Bundesrepublik Deutschland, insbesondere nach Hamburg, und die Aufnahme und Eingliederung der Flüchtlinge (Magisterarbeit, Universität Hamburg). In: Almanach II (2003–2004). Hg. Deutsch-ungarische Gesellschaft. Berlin 2005, 207–246. Dalos György: Die ungarische Katastrophe. In: Süddeutsche Zeitung 62 (2006) 244, 23. Oktober 2006, 35.

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6. Personen- und Ortsnamenverzeichnis Aaroe B. 67 Abdai Viktoria 84 Abraham Josef 248 Ádám György (1912–1978) 140, 173, 175–176, 180, 250, 253 Ádám János 201 Adenauer Konrad (1876–1967) 51, 68, 70, 94, 124, 142, 194, 215, 277 Adonyi Ferenc 251 Alföldi Géza (1908–1991) 239–240, 242–243, 251 Almay Béla 252 Altomünster 138, 159, 164 Amberg 22, 33, 107, 170, 174–175, 278 Andau 54, 89, 131–132, 141 Arndt Käthe 85, 99 Aschaffenburg 82, 174 Augsburg 82, 102, 136, 167 Bachkönig Wolfgang 17 Bachl (Ministerialdirektor) 178 Bad Reichenhall 12, 31, 106, 113, 137, 276 Bad Schachen siehe Lindau-Bad Schachen Bad Tölz 88, 175 Balogh Balázs 19 Bamberg 102, 136, 167, 202 Barabás Sári (1914–2012) 164

Baranyai Lőrincz Gusztáv (1886–1977) 252 Baumgarten 53 Bauschlott 169, 171, 181, 188, 278 Bayreuth 102 Becher Walter (1912–2005) 124 Bem Józef (1794–1850) 22, 46 Bene Éva 221 Bengl Johann 176, 181, 183 Berlin 35, 45, 64, 68, 77, 87, 139, 172, 196, 214, 263–264 Bern 65, 98, 207 Beyer Maximilian 159–160 Biletzke Herbert 140 Billinger Stephan (1897–1966) 93 Biszku Béla (1921–2016) 51 Blank Theodor (1905–1972) 103 Blumgrund Leo 245–246 Bocholt 12, 78, 106, 134, 155–156, 238, 276 Bogyay Thomas von (1909–1994) 252, 263–264 Böhm Karlheinz (1928–2014) 209 Bokor Pál 250 Boland Gerald 86 Bonn 76, 143, 175, 177, 238, 251, 271 Borbándi Gyula (1919–2014) 25, 218, 239 Boronkay Zoltán 203

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Brandt Willy (1913–1992) 271 Bregenz 17, 108 Bremerhaven 86 Breull Kurt (1907–1987) 69, 72–73, 92, 145, 148 Brüssel 100 Buchenhöhe 175 Budapest 33, 35, 41, 46–47, 49–50, 53, 56, 66, 82, 100, 110, 124–127, 138, 157, 164, 180, 190, 194, 202, 212, 218, 236, 238, 245–246, 271, 280 Burg Feuerstein (bei Ebermannstadt) 136, 167, 196, 202, 230 Burg Kastl (Oberpfalz) siehe Kastl Bursten Martin A. 54, 133 Chruschtschow Nikita Sergejewitsch (1894–1971) 44 Churchill Winston (1874–1965) 64 Csepke Károly 248–249 Cseresnyés Ferenc 22, 153 Csík Sándor 22 Czanik Géza (1899–1991) 140, 252–253 Czeglédy Zoltán 251–252 Czibulás Gábor 227 Dachau 31, 126, 142, 154, 157–160, 162–164, 223 Dachau-Ost 158 Daday Ferenc 89 Dalos György 48 Dany Georg B. 87 Deák Ernő 18 Den Haag 100 Dessendorf (Desná) 113 Deutschlandhof 53 Dobos Gyula 253 Doesschate Jan-Willem Ten 21 Dömötörfi Tibor 23 Dortmund 155 Dulles John Foster (1888–1959) 44, 48 Dunapataj 202 Dürnbach 53

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Ebenhausen (Unterfranken) 128 Ebermannstadt 136, 167, 196, 202 Eckert Alois (1887–1976) 220 Eckhardt Tibor (1888–1972) 254 Eder Manfred 25 Ehard Hans (1887–1980) 69, 124, 213, 277 Eichstätt 102, 181, 196 Eisenhower Dwight D. (1890–1969) 44, 86, 88 Eisenstadt (Kismarton) 54, 84–85, 99, 108, 156 Elisabeth Kaiserin von Österreich, Königin von Ungarn (1837–1898) 209 Engelke Edda 18 Eperjes Ernő (1914–1988) 108, 140, 252–253 Erdweg 163 Erlangen 102, 136, 174, 197 Essen-Heisingen 148 Essl Erwin (1910–2001) 242 Farkas Ferenc 250 Feldafing 198 Felder Josef (1900–2000) 242 Feuchtwangen 12, 106, 156, 165, 166, 276 Feuser Günther 174, 176 Figl Leopold (1902–1965) 89 Fingerle Anton (1912–1976) 176 Frankfurt am Main 65–66 Freising 269–270 Friedland 12, 78, 106, 116, 134, 156, 238 Funk Stefan 84 Fürth 174 Gaál Károly (1922–2007) 16, 145 Galambos Árpád 189, 203 Galambos Csaba 189, 203 Galambos Iréneusz Ferenc (1920–2007) 176, 180, 190 Gáldy Menyhért 190

308 An h a n g Garmisch-Partenkirchen 174–175 Garstka Dietrich 214 Gärtner (Architekt) 176 Gaszo József 235 Geisenheim 189–190, 194 Gémes András (Andreas) 231 Gerendás Jenő 238, 251 Geröly István 198, 257 Gilching 218 Göndöcz Kálmán 252 Gondos László 190 Goppel Alfons (1905–1991) 102, 184, 241–242 Göransson (schwedischer Gesandter) 83 Grafenaschau 136, 174 Grafenau 175 Gragger Robert (1887–1926) 263 Grän-Haldensee 191 Graz 108 Groß-Kanizsa (Nagykanizsa) 53 Günzburg 136, 167, 174 Haas Alexandra 17 Habsburg Otto von (1912–2011) 185 Häckel Ernst (1900–1986) 138–139 Hackenberg Annemarie 82, 222 Hajmási-Auerbach Franziska 185–187 Halassy László 190 Halbturn 53 Hallstein Walter (1901–1982) 65 Hamburg 22, 73, 92, 141, 194, 197, 199 Hannover 154, 197, 238 Harangozó Ferenc (1908–1991) 180 Hartung Hugo (1902–1972) 208 Haslinger Peter 16 Haubold Dirk 253 Havrilla Katalin 268 Hebertshausen 158 Hegyeshalom 53 Heilbronn 247 Helmer Oskar (1887–1963) 56, 66, 91 Helsinki 65, 206

Hennef 232, 252, 257 Henney Árpád (1895–1980) 240, 251 Hennyey Gusztáv (1888–1977) 251–252 Hergt Raimund 70–71 Hiltmann Fritz 93 Hoegner Wilhelm (1887–1980) 89, 94, 104, 124, 156, 259 Hoff Hans 227 Hoffmann Kurt (1910–2011) 208 Hölzl Julius 191 Hopfner Ludwig (1908–1984) 110 Ilk Herta (1902–1972) 212 Inama-Sternegg Hanns 18 Indersdorf 159, 165 Ingolstadt 136, 167, 174 Innsbruck 17–18, 108, 191 Iselsberg 191–192 Iserlohn 145, 155 Jaenicke Wolfgang (1881–1968) 105 Jákli István (1917–2001) 232, 250, 252, 263 Jámbor Pál 250 Jandl Oskar (1905–1988) 123, 125, 141, 168, 198, 204, 230, 249 Johannisberg (bei Geisenheim) 190 Josef von Habsburg-Lothringen Erzherzog (1872–1962) 181 Judenau 67, 108 Juhász Pál 250 Kádár János (1912–1989) 13, 49–51, 266–267, 272 Kaisersteinbruch 108 Kállay Miklós (1887–1967) 254 Kalocsa 17 Kammer (bei Schörfling am Attersee) 191 Kántor Pál 204 Kanyó Tamás 20 Karlshof 53 Karlsruhe 197, 247

Pe r s o n e n - u n d O r t s n a m e nv e r z e i c h n i s

Kastl 22, 24, 31, 33, 107, 170, 172, 175– 177, 179–185, 188–190, 192–193, 197, 227, 271, 278–279 Kastner Georg 19 Katona Sándor 253 Kaufbeuren 109 Kecskés Gusztáv D. 21 Keim Paul 166 Keintzel Eduard (1897–1973) 234 Kepser Peter 28, 54, 129, 132, 277 Keylehof 53 Kiefer (Ministerialdirektor) 178 Király Ernő 239 Kiss Elemér 189, 203 Klagenfurt 251 Klebelsberg Kuno, Graf (1875–1932) 261, 281 Klimstein Franz A. 188 Klingenbach 53 Klöck Ludwig 220–221, 261–262 Klute Axel 145 Kobe (Oberregierungsrat) 175–176 Kollányi Károly (1905–1993) 251, 253 Köln 190 Koncz Lajos 22 Kopenhagen 68, 214 Körner Theodor (1873–1957) 89 Kornrumpf Martin 26, 134 Korponay Miklós 251 Kossuth Lajos (1802–1894) 22, 46 Kovács Imre (1913–1980) 254 Kovács Mária Magdolna 249 Kovács Tivadar 253 Kramer Hannes 192 Kraus Heinrich 251 Krauss Marita 29, 205 Krimmer Mathias 157 Kristóf Ágota (1935–2011) 222, 230, 232–233 Künzing 171 Kurucs György 100 Lampert Johann (1906–1980) 125, 212 Lange Peer 54, 129–130, 277

309

Lénárt András 18, 203 Lenggries 88 Leuckart von Weißdorf Friedrich Traugott, Freiherr 270 Lex Hans Ritter von (1893–1970) 242 Lindau 138, 167, 200–201 Lindau-Bad Schachen 136, 160, 200 Lindenberg 171 Lindt August R. 174 Linz 92, 96, 108 Liptay Lajos 250 Liszka Béla 252 Liszt Franz (1811–1886) 209 London 68, 100, 207, 214, 244 Ludwig Wilhelm in Bayern Herzog (1884–1968) 245 Magyar János 154–155 Maier (Regierungsrat) 176 Majoros Ferenc 24 Makra Zoltán 251 Maléter Pál (1917–1958) 238 Mandl Franz 180 Manner (Regierungsdirektor) 257 Marcel Etelka 99 Marczell Tibor 253 Marischka Ernst (1893–1963) 209 Márton Erzsébet 268 Matuz József (1925–1992) 232, 252 Maunz Theodor (1901–1993) 180 Maurer Johannes 175–176, 190, 202 Melczer Aladár 253 Meleghy Gyula 250 Mende Gerhard von 98 Merkatz Hans-Joachim von 72 Merkle Elisabeth 208 Mészáros István 238 Michener James A. (1907–1997) 132 Miesbach 236, 245–246 Mihok Brigitte 20, 224 Mindszenty József, Kardinal (1892– 1975) 42, 46, 126–127 Möller Gunnar (1928–2017) 208 Moskau 48

310 An h a n g Mühlthal (bei Starnberg) 250 Mumm Peter Arnold (1733–1797) 190 München 15, 24–25, 34, 48, 57, 79, 82, 84, 86–88, 102, 108, 123–124, 129– 130, 132, 135–137, 139–142, 154– 155, 159, 163–165, 167, 173–176, 196–199, 201–202, 204–205, 211, 213, 223, 240–241, 245, 249–253, 256–259, 264, 271 München-Fürstenried 180 München-Neubiberg 12, 87, 276 München-Pasing 198 München-Riem 12, 87, 89, 246, 276 Münchingen 174 Münster 171–172, 197 Murber Ibolya 17, 57–58 Murnau 174, 196 Nádas Lajos 251 Nagy Ferenc (1903–1979) 50, 254 Nagy Imre (1896–1958) 13, 40, 42–43, 46–50, 98 Nagy József 251 Nagy Kázmér (1920–1985) 15 Nagy Miklós 230 Nagy Sándor 252 Nahm Peter Paul (1901–1981) 72, 145 Nentwig Georg (1906–1999) 76, 106, 142 Neufahrn 269 Neuhäusler Johannes (1988–1973) 180 Neumarkt-St. Veit 239, 251 Neustadt an der Saale 106, 156, 276 Neutraubling 137–138, 167 Neu-Ulm 137, 167–168 New Jersey 88 Nickelsdorf 100 Niederaudorf-Reisach 171 Niemann Rudolf 94 Nixon Richard (1913–1994) 89, 141 Nördlingen 137 Nürnberg 71, 73, 95, 116, 119, 137, 174, 176, 240 Nyerki Ferenc 241, 243

Oberelsbach 106, 137, 156, 162, 167, 262 Oberländer Theodor (1905–1998) 72, 78, 91, 105, 145, 219, 278 Ödenburg (Sopron) 17, 53, 194, 204 Oer-Erkenschwick 188 Ordódy Krisztina 140, 252 Osterrode 188 Pamhagen 54, 129, 131 Papp László 207 Paris 39, 68, 214, 268, Park Robert Ezra (1864–1944) 29 Passau 12, 25, 31, 34, 36, 82, 90, 92–94, 96, 102, 108–109, 125–128, 214, 222, 234–237 Passau-Grubweg 155 Passau-Waldwerke 171 Pastyik Pongrác 202 Pataky Imre 238–239, 252 Penzkofer Ludwig (1909–1999) 126 Percha 174 Petőfi Sándor (1823–1849) 22, 46 Pforzheim 169, 171, 181 Piding 2, 26, 30–31, 74, 76, 78–79, 94, 106, 107–109, 111–114, 116, 119, 121, 127–128, 134–135, 137, 141, 143, 156–157, 162, 174, 196, 202, 211, 216, 218–221, 246, 261–262, 276–277 Pintér Emil 13 Pius XII., Papst (1876–1958) 123 Plattling 171 Pokorny Tibor 232, 252 Pongrácz Imre, Baron 176, 178, 253 Posch Franz 244 Posen (Poznań) 45 Poutrus Patrice G. 122 Puja Frigyes (1921–2008) 32 Pulver Liselotte 208 Raab (Győr) 159, 202, 268 Raab Julius (1891–1964) 43, 54, 89 Radics János 180

Pe r s o n e n - u n d O r t s n a m e nv e r z e i c h n i s

Radnóczy Antal 251 Radspieler T. 93 Rajk László (1909–1949) 45 Rákosi Mátyás (1892–1971) 40, 148 Ratkó Anna (1903–1981) 58 Recklinghausen 173 Regensburg 82, 102, 126, 137–138, 176, 181, 183 Regner (Regierungsinspektor) 245 Rechnitz (Rohonc) 54 Rester Bartl 222 Riedl Simon 157 Rill Bernd 24 Ritter Horst 96 Robert Tiphaine 20 Rogglfing 174 Rohrbach 53 Rohrolt (Beauftragter UNHCR) 67 Rökk Marika (1913–2004) 210 Rosenheim 171 Rottenbach 175 Rozsály Ferenc 252 Rozsnyai Zoltán 251 Rucker August (1900–1978) 104–105 Salzburg 78, 86–87, 89, 108, 266 Salzgitter 109 Sándor Attila 253 Sanyó Béla 235–236 Sauer (Oberstudiendirektor) 189–190, 193 Schachendorf 53 Schäffer Fritz (1888–1967) 69 Schalding 12, 26, 31, 36, 74, 78–79, 90, 92–94, 107–108, 110–111, 114, 116, 137, 143, 156, 162, 166, 233–234, 262, 276 Schandorf 53 Schärf Adolf (1890–1965) 89 Schedl Otto (1912–1995) 181 Schell Maria (1926–2005) 230 Schmidt-Schweizer Andreas 23, 217 Schmiedberger Michael 25 Schneider Jupp 230

311

Schneider Romy (1938–1982) 209 Schondorf 174 Schönfeld (Ministerialdirigent) 174 Schröder Gerhard (1910–1989) 72, 90– 91, 95, 111, 119 Schröffer Joseph (1903–1983) 181 Schuksz Wilhelm 269–270 Schwabhausen 158 Schwarzenfeld 175 Schwechat-Kleidering 85 Sebode Gerhard 21–22, 226 Seemeier Ludwig 107, 175, 179, 216 Siebke Otto (1910–1993) 72–73 Smolka Wolfgang J. 204 Soós Kálmán 238, 251 Soos Károly Ferenc 236 St. Pölten 108, 202 Stadtmüller Georg (1909–1985) 252, 264, Stäheli Urban 19 Stain Walter (1916–2001) 26, 76, 93– 94, 105–107, 110, 134–135, 143, 156, 160–161, 181–182, 190, 215–216, 220, 235, 242, 249, 259, 262, 276 Stalin Josef (1878–1953) 41–42, 46 Stanek Eduard 15, 59–60, 85 Staudacher Wilhelm 212 Steinamanger (Szombathely) 53 Steiner Hans 158–159 Steinhübel Franz 218 Stephan I. König von Ungarn, hl. (um 969–1038/1001–1038) 125 Stoll Gábor 252 Stone Lawrence (1919–1999) 27 Storch Anton (1892–1975) 72, 120, 147 Storkow 214 Strauß Franz Josef (1915–1988) 67 Strobl (Oberbaurat) 175 Strotzka Hans 14, 227 Struwe Ewald 100 Sulyok Dezső (1897–1965) 254 Sumur (Szomor) 157, 159 Szabó Dániel 271 Szabó Juliet 20

312 An h a n g Szabó Miklós 14, 267 Szálasi Ferenc (1897–1946) 52, 239– 240 Szász István 189 Szeberényi Tamás 232, 252 Széchenyi István, Graf (1791–1860) 22 Szentkereszty György (1930–2020) 17, 168 Szeöke Kálmán 251–252 Szépfalusi István (1932–2000) 85 Szilágyi Lajos 251 Szomor siehe Sumur Tadten 54, 129, 131–132 Takács Paul 25 Tarkányi Tibor 251 Taubinger László 252 Tilpt Alexander 239 Tollas (Kecskési) Tibor (1920–1997) 182 Traiskirchen 54, 60, 67, 84–85, 99, 108, 180 Treppesch Franz 170, 194, 197 Treuchtlingen 82 Tupetz Theo 195 Tutzing 175 Uffenheim 174 Ulm 95–96, 99, 155 Ulrich Josef 181 Valentiny Géza (1927–2011) 253 Valka (dt. Walk, Lettland) 73 Vancouver 194 Varadi Stephan 138, 159, 164 Varga Béla (1903–1995) 254 Vargha Gábor 253 Verbo Mihály 235 Vigyikan Todor 245 Visser Frans 192 Visser-de Jonge Adrienne Justine Civile 192 Vitéz Árpád 252

Voggendorf 12, 78, 106, 137, 156, 162, 165–166, 262, 276, 281 Wagenried 30, 106, 127, 137–138, 142, 146, 154, 156–165, 167, 174, 213, 220, 223, 262, 276, 281 Wagner Kurt (1911–2006) 144 Waldmann Mátyás 232, 252 Wallern 54 Walther Michael 19 Weilheim 174 Weiß (Oberstaatsanwalt) 93 Welczeck Johannes von, Graf (1911– 1969) 69 Wendel Joseph (1901–1960) 262 Weniger (Polizeirat) 99 Werger Martin 138, 197 Wessobrunn 175 Wien 32, 36, 50, 54, 68–69, 71–72, 76, 83, 85–86, 89–90, 93–94, 96, 108, 148, 191–192, 194–195, 214, 234– 235, 237, 245–246, 251, 267, 269 Wiesenhof (bei Innsbruck) 191 Wildbad Kreuth 245–246 Willke Jochen (1913–1985) 241 Wolf (Balf) 17 Wolfrum Gerhard 176, 181, 199, 256, 263 Wolfsburg 109, 154 Wöllersdorf 108 Worbs Georg 108, 216, 220, 223 Wuermeling Franz-Josef (1900–1986) 178 Würzburg 82, 102, 137, 197 Zabratzky Georg 19 Zákó András 251 Zayzon Sándor 252 Zehnder Marianne 125 Zieck Marjoleine 21 Zierer Brigitte 224 Zirndorf 174