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German Pages [678] Year 2015
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Analysen und Dokumente Band 42
Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)
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Susanne Muhle
Auftrag: Menschenraub
Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR
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Umschlagabbildung: Warnschild im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde, 1959 Quelle: Deutsches Historisches Museum, Inventarnr. F 74/227
Mit 12 Abbildungen und 4 Tabellen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-35116-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de
Dissertation der Universität Münster (D 6) © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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5 Inhalt Einleitung............................................................................................... 7 Prolog ................................................................................................... 39 Die Entführungspraxis des Ministeriums für Staatssicherheit und ihre Folgen .................................................................................... 59 I. Die Entführungsaktionen des MfS ...................... 65 I.1 Die Entwicklung der Entführungspraxis des MfS ............................................................... 76 I.2 Die Verantwortlichen im MfS-Apparat ............... 85 I.3 Die Abkehr auf Raten ....................................... 100 II. II.1 II.2 II.3
Die Opfer und Funktion der MfSEntführungsaktionen......................................... 113 Verfolgung von Geheimagenten ........................ 114 Verfolgung von Regimegegnern und -kritikern . 133 Verfolgung von Abtrünnigen und »Verrätern« .. 151
III.
Entführungsaktionen als Ausdrucksform geheimdienstlicher Gewalt in stalinistischer Tradition........................................................... 169
IV.
Aus dem Westen in die DDR-Haft und zurück – Die Schicksale der Entführungsopfer .............................................. 186 Die Untersuchungsverfahren und Untersuchungshaft ..................................................... 192 Die Prozesse ...................................................... 205 Die Inhaftierung und Rückkehr ........................ 242
IV.1 IV.2 IV.3 V. V.1 V.2
Was wusste und was tat der Westen? ................. 268 Die Informationslage – Entführt oder übergelaufen? .................................................... 268 Die Reaktionen ................................................. 333
Entführer im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit ................ 369 VI. Biografische und soziale Hintergründe .............. 371 VI.1 Alterskohorten und generationelle Prägung ....... 371 VI.2 Politische Orientierung ..................................... 378 VI.3 Soziale Herkunft und Bildung ........................... 381
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6 VI.4 VI.5
Handlungsmilieus ............................................. 384 Rekrutierungsmuster des MfS ........................... 408
VII. VII.1 VII.2
Mentalitäten und Motivstrukturen .................... 412 »Politische Überzeugung« und ideelle Motive... 419 Werbung unter Druck und auf Basis der »Wiedergutmachung« ........................................ 439 Finanzielle und materielle Interessen ................. 452 Delinquenz- und Gewaltbereitschaft ................. 467 Abenteuerlust, Geltungsbedürfnis und Machtgefühl ...................................................... 473
VII.3 VII.4 VII.5 VIII. VIII.1 VIII.2 VIII.3 IX. IX.1 IX.2 X. X.1 X.2
Verhaltens- und Handlungsspielräume .............. 476 Einsatzabläufe zwischen Norm und Praxis......... 477 Gewollte Eigeninitiative und ungewollte Eigenmächtigkeiten ........................................... 494 Forderungen und kriminelle Aktivitäten ........... 502 Nach dem Einsatz – Laufbahnen der Entführer-IM im MfS ....................................... 510 »Auf Kontakt« – Inoffizielle Zusammenarbeit nach Entführungsaktionen ................................ 516 Hauptamtliche Karrieren................................... 531 Strafrechtliche Verfolgung in der Bundesrepublik ............................................................. 541 Strafrechtliche Verfolgung vor 1990 .................. 541 Strafrechtliche Verfolgung nach 1990 ............... 569
Epilog ................................................................................................. 595 Danksagung ....................................................................................... 611 Anhang ............................................................................................... 613 Abkürzungsverzeichnis ................................................................. 614 Verzeichnis der untersuchten IM und Kontaktpersonen ............... 619 Tabellenverzeichnis ...................................................................... 623 Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................ 625 Personenverzeichnis ...................................................................... 668
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Einleitung
»Ich habe immer noch Angst, daß mir etwas zustoßen könnte. Diese Leute sind ja nicht von der Bildfläche verschwunden und ich befürchte daher, daß sie immer noch eine Gefahr für mich darstellen.«1 Im Jahr 1992 gab Marianne Berger dies in einer polizeilichen Vernehmung zu Protokoll – 30 Jahre nach ihrer Entführung aus Österreich durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und zwei Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Etwa zur selben Zeit bekundete Werner Großmann, der letzte Chef der Hauptverwaltung A (HV A)2 und ehemalige Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, in einem offenen Brief: »Es ist einfach unwahr, dass es in unserer Tätigkeit ›Entführungen, Anschläge und Morde‹ gegeben hat. […] Verbrechen waren uns in der Durchsetzung unserer nachrichtendienstlichen Ziele fremd. Sie gehörten weder zu theoretischen Szenarien noch zum praktischen Instrumentarium.«3 Die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden sahen das Gegenteil als rechtskräftig bewiesen: Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte den ehemaligen HV A-Chef Markus Wolf 1997 wegen Freiheitsberaubung in vier Fällen, zu diesen gehörte auch die Entführung der eingangs zitierten Marianne Berger.4 20 Jahre nach dem Untergang der DDR räumte Werner Großmann zumindest ein, dass es bis Anfang der 1960er Jahre wenige Fälle von Entführungen durch das MfS gegeben habe – »in der Zeit zügellosen Terrors und massiver Hetze und Spionagehandlungen gegen die sich unter schwierigen und einzigartigen Bedingungen entwickelnde DDR«.5 Die erdrückende Beweislast, die durch die Öffnung der MfS-Unterlagen entstanden ist, ließ kein völliges Verleugnen mehr zu. Ehemalige MfS-Mitarbeiter versuchen, das Geschehene zu relativieren und zu rechtfertigen. Nebulös sprechen sie von »wenigen Fällen« und stilisieren die Entführungsopfer zu gefährli1 Protokoll, ZERV 215, 6.10.1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 1, Bl. 128–139, hier 139. 2 Die Bezeichnung der Spionageabteilung des MfS als Hauptverwaltung A orientierte sich an der Spionageabteilung des KGB. Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Hauptverwaltung A (HV A). In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 142 f. 3 »Verbrechen gehörten nicht zu unseren Szenarien«. Offener Brief von Werner Großmann an Wolfgang Schäuble. In: Neues Deutschland, 7.10.1993. 4 Vgl. Urteil, Oberlandesgericht Düsseldorf, 27.5.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 3, S. 101–161. Gedruckt in: Klaus Marxen, Gerhard Werle: Strafjustiz und DDRUnrecht. Bd. 4/1 (unter Mitarbeit von Petra Schäfter und Ivo Thiemrodt): Spionage. Berlin 2004, S. 165–197. 5 Werner Großmann, Wolfgang Schwanitz: Fragen an das MfS. Berlin 22010, S. 295.
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Einleitung
chen Straftätern, gegen die sich der junge DDR-Staat habe wehren müssen. Und schließlich verweisen ehemalige MfS-Mitarbeiter auf Entführungsaktionen anderer Geheimdienste (wie die Entführung von Adolf Eichmann durch den israelischen Mossad), vor deren Hintergrund Entführungen als ›normale‹ geheimdienstliche Methode erscheinen.6 Tatsächlich zählten und zählen Entführungsaktionen weltweit zum Repertoire zahlreicher Geheimdienste. Einzelfälle derartiger geheimdienstlicher Entführungsaktionen gelangen immer wieder an die Öffentlichkeit.7 Eine systematische Untersuchung der Entführungspraxis einzelner Geheimdienste ist jedoch zumeist – vor allem wegen der unzugänglichen Unterlagen – nicht möglich. Eine Ausnahme bildet das MfS der untergegangenen DDR, in dessen Archiv zahlreiche Unterlagen über Entführte und Entführer der Aktenvernichtung entgangen sind. Auf der Grundlage dieser Aktenüberlieferung analysiert die vorliegende Studie die Entführungspraxis des DDR-Staatssicherheitsdienstes und begibt sich auf die Spuren der Opfer und Entführer. Im Vergleich zur massenhaften Verfolgung politischer Gegner im Innern der DDR riskierten das MfS und der sowjetische Geheimdienst verhältnismäßig selten diese spezielle geheimdienstliche Praktik. Keineswegs waren es aber nur »wenige Fälle«. Mehrere hundert Menschen aus West-Berlin und der Bundesrepublik wurden in den Jahren 1949 bis 1989 in die DDR verschleppt oder entführt. Menschen, die zuvor aus der DDR geflohen waren; Menschen, die dort der SED, dem MfS oder der Volkspolizei angehört hatten; Menschen, die für westliche Geheimdienste oder antikommunistische Organisationen tätig waren oder die das MfS nur dahingehend verdächtigte; Menschen, die sich gegen das Unrecht in der DDR engagierten. Sie kehrten nach Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren aus der DDR-Haft zurück – manche verschwanden für immer. Nur wenige dieser Schicksale sind heute noch bekannt wie Alfred Weiland, Walter Linse, Karl Wilhelm Fricke, Robert Bialek oder Heinz Brandt. Ihre Entführungen sorgten in der Westberliner und bundesdeutschen Öffentlichkeit für großes Aufsehen. Die Berichterstattung war insbesondere in West-Berlin umfangreich, das Thema war in den 1950er Jahren zeitweise ein Dauerbrenner. In der angespannten Situation des eingeschlossenen West-Berlins weckte das Bekanntwerden von Verschleppungen und Entführungen durch den sowjetischen oder DDR-Geheimdienst immer wieder
6 Vgl. Horst Bischoff, Karli Coburger: Strafverfolgung von Angehörigen des MfS. In: Hans Bauer u. a. (Hg.): Siegerjustiz? Die politische Strafverfolgung infolge der Deutschen Einheit. Berlin 2003, S. 139–251, hier 208 f. 7 Beispielsweise berichtete DPA im Sommer 2011 von der Festnahme eines mongolischen Geheimagenten, der einen Landsmann in die Mongolei entführt haben soll – mit Zwischenstopp in Berlin. Der mutmaßliche Entführer wurde 2010 in Großbritannien festgenommen, nach Deutschland überstellt und dort angeklagt. Vgl. In die Mongolei verschleppt. In: Süddeutsche Zeitung, 24.8.2011.
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Einleitung
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Empörung über die rechtswidrigen Übergriffe, aber auch Besorgnis um die eigene Sicherheit. Die Hochphase der Entführungsaktionen des MfS in den 1950er Jahren erweckt den Eindruck, dass sie ein besonderes Symptom des krisenhaften Aufbaus und der Etablierung des SED-Regimes sind. Der jungen SED-Herrschaft fehlte die breite Zustimmung in ihrer Bevölkerung. Massenhaft flüchteten Menschen vor dem propagierten Aufbau des Sozialismus, der mit Versorgungskrisen, Zwangskollektivierung und politischer Repression einherging, zum »Klassenfeind« in den Westen. Der Systemkonkurrent mit seinem Schaufenster West-Berlin stellte ein selbstbestimmtes Leben in Wohlstand und frei von politischen Zwängen in Aussicht. Seine unmittelbare Nähe und Anziehungskraft war eine Bedrohung für die SBZ/DDR und den dortigen Aufbau der SED-Diktatur. Auf diese Herrschaftskrisen spielt HV A-Chef Werner Großmann mit seinem Hinweis auf die »schwierigen und einzigartigen Bedingungen«8 allerdings nicht an. Vielmehr deutet er auf den Kalten Krieg9 respektive auf die vermeintliche Bedrohung der DDR durch die westlichen »Imperialisten« und ihre Geheimdienste. Angesichts des Ost-West-Konfliktes, der in den 1950er Jahren immer wieder zu eskalieren drohte und in dem Geheimdienste eine bedeutende Rolle einnahmen, erscheint diese Argumentation nicht abwegig. Auf deutschem Gebiet stießen die beiden Machtblöcke unmittelbar aufeinander, die jeweiligen Besatzungszonen hatten eine große strategische Bedeutung – auch für die Geheimdienste. Insbesondere die geteilte Stadt Berlin war in den 1950er Jahren ein Dorado für die Geheimdienste der sich feindlich gegenüberstehenden Systeme. Vor diesem Hintergrund – die Genese der SED-Herrschaft, die politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik und die Systemkonfrontation auf deutschem Boden – gilt es, die MfS-Entführungsaktionen aus West-Berlin und der Bundesrepublik zu betrachten.
Verortung und Erkenntnisinteresse der Studie Die Entführungsaktionen des MfS sind ein Kapitel der deutschen Teilungsund Verflechtungsgeschichte: Die Entführungsopfer lebten in West-Berlin oder in der Bundesrepublik, viele von ihnen waren zuvor aus der DDR geflohen. Dort wiesen ranghohe Funktionsträger im MfS und sowjetischen Geheimdienst die grenzüberschreitende Verfolgung von »feindlichen Agenten« 8 Großmann/Schwanitz: Fragen, S. 295. 9 Zur Geschichte und Bedeutung des Begriffs vgl. Bernd Stöver: Der Kalte Krieg 1947–1991. Bonn 2007, S. 11–27. Zur Kritik am Begriff vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Schlussbilanz des »Kalten Kriegs«. In: Deutschland-Archiv 43(2010)6, S. 1101 f.; ders.: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR. Berlin 2013, S. 13 f.
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Einleitung
und »Verrätern« an. Die Bundesrepublik mit ihren westlichen Schutzmächten konnte und wollte diese Verletzungen ihres Hoheitsgebiets und rechtswidrigen Übergriffe auf ihre Bürger nicht tatenlos hinnehmen. Die Handlungsfelder beider deutscher Staaten waren dabei geprägt vom Ost-West-Konflikt und ihrer Einbindung in den jeweiligen Machtblock. Dieser Hintergrund muss bei einer Untersuchung der Entführungsaktionen einbezogen werden. Wegweisend sind hier die Überlegungen von Christoph Kleßmann zur »asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte«: »Der Umgang mit der DDR-Geschichte ist nicht nur eine Sache der Täter und Opfer der Diktatur. Die ganze deutsche Nachkriegsgeschichte steht zur Debatte. Ihr westdeutscher Teil gehört essentiell dazu.«10 Im Sinne einer solchen »integrierten Nachkriegsgeschichte«11 beleuchtet die vorliegende Studie die Entführungspraxis des MfS. Sie ordnet sich somit nicht nur in die Erforschung des MfS und SED-Herrschaftssystems ein, sondern auch des Ost-West-Konfliktes mit seinen geheimdienstlichen Auseinandersetzungen auf deutschem Boden und der Frühgeschichte des geteilten Deutschlands. Die Studie soll somit eine der notwendigen Brücken zwischen der »Insel der DDR-Forschung« und dem »Festland der zeitgeschichtlichen Deutschlandforschung« schlagen.12 Grundlegend für die Untersuchung der Entführungspraxis des MfS ist eine Klärung der Begrifflichkeiten. In der westlichen Berichterstattung und öffentlichen Diskussion in den 1950er Jahren wurden die Entführungs- und Verschleppungsfälle im geteilten Berlin als Menschenraub betitelt.13 Die Tradition dieses Begriffs reicht bis in die Antike, wo das Phänomen in engem Zusam10 Christoph Kleßmann: Spaltung und Verflechtung – Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990. In: Christoph Kleßmann, Peter Lautzas (Hg.): Teilung und Integration. Bonn 2005, S. 20–37, hier 22; vgl. ebenda, S. 30 f.; ders.: Konturen einer integrierten Nachkriegsgeschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 55(2005)18–19, S. 3–11. Zur Kritik vgl. Hermann Wentker: Zwischen Abgrenzung und Verflechtung: deutsch-deutsche Geschichte nach 1945. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 55(2005)1–2, S. 10–17. 11 Vgl. Horst Möller, Andreas Wirsching: 1989/90: Der »Abschied vom Provisorium« und die Perspektiven einer integrierten deutschen Nachkriegsgeschichtsschreibung. In: Frank Möller, Ulrich Mählert (Hg.): Abgrenzung und Verflechtung. Berlin 2008, S. 91–105, hier 103. 12 Ulrich Mählert, Manfred Wilke: Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur seit 1989. In: Frank Möller, Ulrich Mählert (Hg.): Abgrenzung und Verflechtung. Berlin 2008, S. 123–142, hier 142; vgl. Kleßmann: Verflechtung, S. 30–41. Zur Diskussion über die »Verinselung« der DDRForschung vgl. Jürgen Kocka: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. In: Deutschland-Archiv 36(2003)5, S. 764–769; Thomas Lindenberger, Martin Sabrow: Zwischen Verinselung und Europäisierung: Die Zukunft der DDR-Geschichte. In: Deutschland-Archiv 37(2004)1, S. 123–127; Henrik Bispinck, Dierk Hoffmann, Michael Schwartz u. a.: Die Zukunft der DDR-Geschichte. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53(2005)4, S. 547–570; Martin Sabrow: Historisierung der Zweistaatlichkeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 57(2007)3, S. 19–24. 13 Beispiele für die Verwendung des Begriffs in der Politik und Öffentlichkeit werden in der Studie zahlreich genannt. Hier sei nur auf ein zeitgenössisches Nachschlagewerk verwiesen: Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): SBZ von A–Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands. Bonn 51959, S. 233.
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Einleitung
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menhang mit Sklaverei und Menschenhandel zu sehen ist.14 Das im Vormärz entstandene und als Sprachrohr des Liberalismus15 geltende Staats-Lexikon definiert Menschenraub als »widerrechtliches Gefangenhalten«: »Zu den schwersten Vergehen gegen die persönliche Freiheit gehört die Versetzung eines Menschen in den Zustand factischer Unfreiheit, insbesondere durch Gefangenhaltung und Wegführung (Raub).«16 Als Straftatbestand nach Paragraf 234 fand der Terminus auch Eingang in das Reichsstrafgesetzbuch von 1871, das zu großen Teilen heute noch gilt. Des Menschenraubs macht sich demnach schuldig, »wer sich einer anderen Person mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List bemächtigt, um sie in hilfloser Lage auszusetzen oder dem Dienst in einer militärischen oder militärähnlichen Einrichtung im Ausland zuzuführen […]«17. Als die Stadtverordnetenversammlung von West-Berlin im Sommer 1949 ein Gesetz zur strafrechtlichen Verfolgung der politischen Verschleppungen in der geteilten Stadt diskutierte und erließ, suchte man in der Formulierung bewusst Distanz zum Terminus Menschenraub. So konstatierte der Magistrat in seiner Vorlage zur Beschlussfassung: »Mit diesem Tatbestand hat die zur Zeit stattfindende Menschenverschleppung zwar eine gewisse Ähnlichkeit; wollte man aber das hier in Frage kommende Delikt ebenfalls als Menschenraub bezeichnen, so müsste man rechtssystematisch der Vorschrift des § 234 StGB einen § 234a anhängen […]. Hierzu besteht jedoch kein hinreichender Grund, weil das in Aussicht genommene Gesetz nur einen örtlich beschränkten Tatbestand erfassen will, und, wie zu hoffen steht, nur zeitbedingten Charakter hat.«18
Ebenso entschied man sich bewusst gegen die Verwendung des im Strafrecht sonst üblichen Terminus Entführung. Im Gesetzestext wurde stattdessen der allgemeinere Begriff Verschleppung gewählt, »um alle möglichen Tatbestände der Freiheitsberaubung und Mittelanwendung einzuschließen«.19 Diese Sprachregelung wurde beibehalten, als die Abgeordnetenversammlung in West-Berlin im Juni 1951 das »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit« verabschiedete, welches das »Gesetz über die Verschleppung von Personen aus den Berliner 14 Vgl. Heinz Heinen (Hg.): Menschenraub, Menschenhandel und Sklaverei in antiker und moderner Perspektive. Stuttgart 2008. 15 Vgl. Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Zweiter Band: 1800–1914. München 1992, S. 160. 16 Carl von Rotteck, Carl Welcker (Hg.): Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände. Bd. 9, Altona 1847, S. 56–64, hier 56. 17 Vgl. § 234 Menschenraub, Reichsstrafgesetzbuch (RStGB), URL: http://www.gesetze-iminternet.de/bundesrecht/stgb/gesamt.pdf (letzter Zugriff: 3.6.2012). 18 Vorlage zur Beschlussfassung, Magistrat von Groß-Berlin an Stadtverordnetenversammlung, 25.7.1949. Landesarchiv Berlin (LAB), B Rep. 001, Nr. 53, o. Pag. Vgl. Protokoll zur 23. Ordentlichen Sitzung der Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin, 28.7.1949. Ebenda, o. Pag. 19 Ebenda.
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Einleitung
Westsektoren« vom September 1949 ablöste.20 Im Juli 1951 wurde das Westberliner Gesetz auf Bundesebene übernommen und somit auch die Sprachregelung.21 In politischen Debatten und Kommentaren, in den Medien und in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik erfolgte eine solche begriffliche Differenzierung hingegen nicht, spiegelte der Begriff Menschenraub doch vielmehr den dramatischen und verbrecherischen Charakter der Geschehnisse. In der vorliegenden Studie wird er daher auch Erwähnung finden, um auf diese Wahrnehmungsebene hinzuweisen. Die Westberliner und bundesdeutschen Gesetzestexte lassen erkennen, dass die Gesetzgeber auf die bekannt gewordenen Entführungsmethoden des MfS und des sowjetischen Geheimdienstes reagierten. So fanden bei der Definition der Straftat nicht nur unmittelbare Gewaltanwendungen, sondern auch psychische Methoden wie Täuschungen und Drohungen Berücksichtigung. Skurrilerweise nutzte auch das MfS einen solchen erweiterten Entführungsbegriff. Im 1970 erschienenen »Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit« werden Entführungen als »Erscheinungsform von Terrorverbrechen oder Straftaten der allgemeinen Kriminalität« definiert. »Sie ist das Verbringen von Menschen gegen ihren Willen unter Anwendung spezifischer Mittel und Methoden (Gewalt, Drohung, Täuschung, Narkotika, Rauschmittel u. a.) von ihrem ursprünglichen Aufenthaltsort in andere Orte, Staaten oder Gebiete.«22 Das entsprach der eigenen Entführungspraxis, die in dem internen Wörterbuch aber unerwähnt blieb. Die vorliegende Studie orientiert sich bei der Wahl der Begrifflichkeiten an der strafrechtlichen Terminologie und differenziert zwischen Verschleppung und Entführung wie folgt: Der Begriff Verschleppung umfasst in erster Linie die spontanen Übergriffe in Grenznähe und die oft mithilfe von arglistigen Täuschungsmanövern vollzogenen Festnahmen, bei denen die Opfer auf das Gebiet der DDR gelockt und dort festgenommen wurden. Festnahmen auf dem Boden der DDR als Verschleppung zu werten, erscheint auf den ersten Blick fragwürdig. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass es sich bei den verschleppten Personen um Bürger der Bundesrepublik handelte, die nicht nach Ausübung einer Straftat verhaftet und bzw. oder unter Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze festgehalten wurden. Als Entführung wird hingegen das gewaltsame Verbringen von Menschen aus West-Berlin und aus der Bundesrepublik in die DDR gegen ihren Willen verstanden. Die Begrifflichkeiten Verschleppung und Entführung lassen sich allerdings nicht trennscharf ver20 Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, 14.6.1951. Gedruckt in: Senat für Justiz (Hg.): Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin Nr. 33, 26.6.1951. LAB, Zs 416, S. 417–428. 21 Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit, Bundesgesetzblatt, 15.7.1951. Parlamentarisches Archiv des Deutschen Bundestags (PA-DBT), Nr. 4000, Ges-Dok I/179, Dok 15. 22 Siegfried Suckut (Hg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur »politischoperativen Arbeit«. Berlin 32001, S. 107.
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wenden; es gibt Graubereiche: Auch Entführungen erfolgten durch Täuschungen und Verschleppungen verliefen oft nicht gewaltfrei. Der ausschlaggebende Unterschied ist also: Begab sich die betroffene Person selbstständig, zurechnungsfähig und aus eigener Entscheidung – wenn auch arglistig getäuscht – in die DDR oder wurde sie ohne ihre Zustimmung oder ohne ihr Wissen dorthin gebracht. Die Erweiterung zum Terminus Entführungsaktion unterstreicht die Planungen und Vorbereitungen im Vorfeld einer Entführung. Das MfS als wichtiges Herrschaftsinstrument des SED-Regimes verstehend, betrachtet die vorliegende Studie die Entführungspraxis des MfS als Bestandteil des SED-Herrschaftssystems in der krisenhaften und stalinistisch geprägten Phase seiner Etablierung. Nicht zuletzt angesichts der erwähnten Rechtfertigungsstrategie ehemaliger MfS-Mitarbeiter rücken aber auch die geheimdienstlichen Auseinandersetzungen im Ost-West-Konflikt auf deutschem Boden und die Frage in den Fokus, ob Entführungen nicht vor allem ein Ausdruck üblicher geheimdienstlicher Gewalt in dieser Systemauseinandersetzung waren. Diesen erweiterten Blickwinkel öffnet die folgende Hypothese: Die Entführungspraxis des MfS speiste sich zwar aus dem Systemkonflikt auf deutschem Boden, ist darüber hinaus aber auf die stalinistische Prägung des SED-Herrschaftssystems zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund erscheint die sich in der Entführungspraxis manifestierende Gewalt nicht nur als direkte und illegitime staatliche Gewalt, sondern als (tradierter) Bestandteil der stalinistisch geprägten politischen Kultur im SED-Regime.23 Zur Überprüfung dieser Hypothese erfolgt in der vorliegenden Studie eine detaillierte Betrachtung der Entführungspraxis des MfS, die ihre Erscheinungsformen, Genese und Funktionen berücksichtigt. Die genaue Zahl verschleppter und entführter Personen ist unbekannt und wird sich höchstwahrscheinlich nie vollends klären lassen. Die Studie hat es sich aber zur Aufgabe gestellt, auf breiter Quellenbasis möglichst viele der Entführungs- und Verschleppungsfälle zu erfassen, die das SED-Regime respektive das MfS zu verantworten hatte. Auf diesem Wege lässt sich bedingt eine quantitative Einordnung vornehmen, die auch Hinweise auf die Genese der Entführungspraxis gibt. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich somit im Wesentlichen auf die gesamte Bestehenszeit des MfS (1950–1989/90). Im Fokus stehen allerdings die 1950er Jahre als Hochphase der Verschleppungen und Entführungen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Entführungspraxis wird auch nach 23 Zum Gewaltbegriff vgl. Dirk Schumann: Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert. In: Archiv für Sozialgeschichte 37(1997), S. 366–386, hier 372, 374; Peter Imbusch: Moderne und Gewalt. Wiesbaden 2005, S. 21 f.; ders.: Der Gewaltbegriff. In: Wilhelm Heitmeyer, John Hagan (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002, S. 26–57, hier 38; Gertrud Nunner-Winkler: Überlegungen zum Gewaltbegriff. In: Wilhelm Heitmeyer, Hans-Georg Soeffner (Hg.): Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme. Frankfurt/M. 2004, S. 21–61, hier 21.
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den Entscheidungswegen im MfS und außerhalb seines Apparates gefragt. Der Blick auf den Kreis der Entführungsopfer soll sodann tiefergehende Erkenntnisse liefern, welche Funktionen die Entführungspraxis des MfS hatte. Die detaillierte Rekonstruktion und Untersuchung ausgewählter Fälle veranschaulicht die Entführungsmethoden. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den gewaltsamen Entführungsaktionen. Zwar gilt es, die Bandbreite der Entführungsmethoden des MfS darzustellen und in die Untersuchung der Entführungspraxis einzubeziehen. Insbesondere die gewaltsamen Entführungen waren jedoch eindeutig rechtswidrige grenzüberschreitende Übergriffe, die sowohl ein besonderes Maß an Planungen, Vorbereitungen und Verschleierungstaktiken als auch an Delinquenz- sowie Gewaltbereitschaft und einen spezifischen Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern (IM) erforderten. Auf dieser empirischen Basis sollen Überlegungen zum Charakter der in der Entführungspraxis zum Ausdruck kommenden Gewalt erfolgen. Die Entführungsaktionen waren nicht nur individuelle Gewaltakte. Sie gehören zu jenen besonderen Formen der Gewalt, die durch einen »Staats- und Herrschaftsapparat nicht bekämpft, sondern durch ihn gerade angeordnet, ausgelöst, über besondere Mechanismen häufig angestachelt und gefördert, zumindest aber gedeckt und durch einen normativ veränderten kollektiven Referenzrahmen wenigstens entschuldigt oder sogar systematisch verschleiert werden«.24 In diesem Sinne handelte es sich bei den Entführungsaktionen um eine nichtlegitime Gewaltausübung durch einen Staat respektive ein staatliches Organ. Die Verantwortlichen stellten sie jedoch (und stellen sie zum Teil immer noch) als legitime Maßnahme zur Verteidigung und Aufrechterhaltung der Ordnung in der DDR-Gesellschaft dar. Die mit großem Aufwand betriebene Geheimhaltung und Verschleierung der Entführungspraxis deuten allerdings darauf hin, dass die Verantwortlichen in dem Bewusstsein agierten, die Grenzen der Legitimität und Legalität staatlicher bzw. institutioneller Gewalt zu überschreiten. Diese Aspekte gilt es zu untersuchen. Die Frage nach dem Charakter der Gewalt in der Entführungspraxis führt zum zweiten zentralen Fragekomplex der vorliegenden Studie. Er beruht auf der Annahme, dass das MfS und seine Rolle im Herrschaftssystem der SED »Ermöglichungsräume«25 individueller Gewaltpotenziale schuf. Am Beispiel der Entführungspraxis lässt sich verdeutlichen, wie delinquentes und gewaltsames Handeln nicht nur geduldet, sondern gerechtfertigt und gezielt angeregt 24 Imbusch: Moderne, S. 30; vgl. ebenda, S. 31–35; Schumann: Gewalt, S. 383; Imbusch: Gewaltbegriff, S. 39. 25 Jörg Baberowski: Ermöglichungsräume exzessiver Gewalt. In: Jörg Baberowski, Gabriele Metzler (Hg.): Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand. Frankfurt/New York 2012, S. 7–27. Vgl. Konzept der »Gelegenheitsstrukturen« siehe Thomas Meyer: Politische Kultur und Gewalt. In: Wilhelm Heitmeyer, John Hagan (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002, S. 1196–1214, hier 1199.
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wurde. Die Untersuchung widmet sich in diesem Zusammenhang ausführlich den als Entführer eingesetzten IM des MfS. In den IM sah das MfS ein unerlässliches Hilfsmittel, seinen ideologischen Anspruch und sein Selbstbild zu erfüllen, allgegenwärtig zu sein. Sie waren ein Instrument zur Herrschaftssicherung der SED im Innern der DDR sowie nach außen. Ohne selbst über Macht in diesem System zu verfügen, vielmehr weit untergeordnet in einer Hierarchie, an deren Spitze die SED-Führung stand, waren die IM als kompromisslose Erfüllungsgehilfen im Machtkonstrukt des SED-Regimes unverzichtbar.26 Das MfS war sich dieser Funktion bewusst – das macht exemplarisch die Bezeichnung »Hauptwaffe im Kampf gegen den Feind«27 deutlich, die MfS-Chef Erich Mielke immer wieder zur Charakterisierung der IM benutzte. Bei ihrem Einsatz als Entführer dienten IM teilweise nahezu wortwörtlich als eine Art »Waffe« und unterschieden sich dadurch von den IM, die ›nur‹ Informationen lieferten. So lautet die zweite Hypothese, die in der Studie überprüft werden soll: Für den delinquenten und potenziell gewalttätigen Einsatz in West-Berlin und in der Bundesrepublik benötigte das MfS spezielle Einsatzkräfte. Die Untersuchung der Entführer-IM orientiert sich an der »neueren Täterforschung«, die Thomas Roth im Hinblick auf die NS-Forschung zu den wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre zählt: »Sie wendet sich von einer lange Zeit üblichen pathologisierenden oder dämonisierenden Perspektive ab, greift aber auch über eine rein sozialstrukturelle Ortsbestimmung von Tätergruppen hinaus, berücksichtigt generationelle Prägung, Karriereverlauf, Weltbilder und Motivstrukturen und untersucht deren Aktualisierung in der Praxis.«28 Die Herausforderung und zugleich das Ziel der »neueren Täterforschung« ist es, die Heterogenität der untersuchten Tätergruppen in ihren Ausprägungen und Auswirkungen zu erfassen und das »Zusammenwirken unterschiedlicher Profile von Täterinnen und Tätern in gruppenbiographi26 Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. Berlin 32001, S. 7; ders.: Zur Kunst der Verweigerung. In: Ingrid Kerz-Rühling, Tomas Plänkers (Hg.): Sozialistische Diktatur und psychische Folgen, Tübingen 2000, S. 165; Jens Gieseke: Das Ministerium für Staatssicherheit (1950–1990). In: Torsten Diedrich, Hans Ehlert, Rüdiger Wenzke (Hg.): Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR. Berlin 21998, S. 371–422, hier 393; Thomas Großbölting: Die DDR als »StasiStaat«? Das Ministerium für Staatssicherheit als Erinnerungsmoment im wiedervereinigten Deutschland und als Strukturelement der SED-Diktatur. In: ders. (Hg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand. Bonn 2010, S. 50–73, hier 57, 67. 27 Richtlinie 1/79 für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit (GMS), MfS, 8.12.1979. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 1, S. 305–373, hier 305. 28 Thomas Roth: Rezension zu: Ronald Rathert (Hg.): Verbrechen und Verschwörung: Arthur Nebe. Der Kripochef des Dritten Reiches. Münster 2002, URL: http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/rezensionen/2003-1-060 (letzter Zugriff: 3.6.2012). Vgl. Frank Bajohr: Neuere Täterforschung. In: Dokupedia-Zeitgeschichte, 18.6.2013, URL: http://docupedia.de/zg/Neuere_Taeterforschung (letzter Zugriff: 16.2.2014), S. 1–11.
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schen Längsschnitten« zu analysieren.29 Beim vorliegenden Untersuchungsgegenstand ergibt sich hier allerdings eine Schwierigkeit: Im Gegensatz zu nationalsozialistischen Tätergruppen bildeten die IM keine offizielle Gruppierung, deren Mitglieder nach innen durch eine strenge Hierarchie sowie einen starken Korpsgeist und nach außen durch bestimmte Merkmale (Uniform etc.) miteinander verbunden waren.30 Gruppendynamische Prozesse lassen sich in solchen ›geschlossenen‹ Organisationen besser beobachten. Im Hinblick auf das MfS gilt dies am ehesten für die Gruppe der hauptamtlichen Mitarbeiter, die ebenfalls ein Kollektiv bildeten und sich in einer weitgehend geschlossenen Lebenswelt bewegten. Die IM weisen hingegen nicht nur eine große Heterogenität auf, sondern auch eine fehlende Möglichkeit der Selbstwahrnehmung als Gruppe. Aufgrund des MfS-Grundsatzes der strikten Konspiration kannten viele IM (wenn überhaupt) nur wenige andere IM. Ihre Tätigkeit fand im Geheimen statt und durfte nicht kommuniziert werden. Sie konnten sich nach außen nicht als eine Einheit präsentieren. Die Gefühle von Zugehörigkeit und Stolz bezogen sich eher auf das MfS als mächtiges Staatsorgan im Ganzen oder bei manchem Entführer-IM eventuell auf die »Operativgruppe«, in der er tätig war. Im Vergleich zu ›normalen‹ IM zeigt sich bei den Entführer-IM hier eine Besonderheit: Im Unterschied zu dem isolierten Handeln ›normaler‹ IM agierten Entführer-IM zumindest temporär in einem Gruppenverband. Ihre Gruppenidentität basierte aber weniger auf einer gemeinsamen ideologischen Orientierung, Kameradschaft und Korpsgeist als vielmehr auf ihrem Handeln; sie war stärker situativ bedingt.31 In diesem Kontext stellt sich die Frage nach den Dynamisierungsfaktoren im Handeln der als Entführer agierenden IM. Der Rückgriff auf die Ansätze der »neueren Täterforschung« verspricht hier aufschlussreiche Erkenntnisse. In diesem Sinne wurde in der vorliegenden Studie für eine mikrohistorische Analyse eine Auswahl von 50 IM getroffen, die in verschiedenen Funktionen an Entführungen des MfS beteiligt waren.32 Die Auswahl der IM war von zwei 29 Hanno Knoch: Editorial. In: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus. Bremen 2003, S. 7–15, hier 11. 30 Vgl. Bajohr: Täterforschung, S. 8 f. Als erheblicher Unterschied ist das Ausmaß der Verbrechen, in die NS-Tätergruppen eingebunden waren, zu nennen. Vgl. Harald Welzer, Michaela Christ: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt 22005; Omer Bartov: Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges. Hamburg 1999, S. 52– 161; Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Hamburg 62005, S. 24–28, 105–113, 216–243; Hans-Ulrich Thamer: Der Nationalsozialismus. Stuttgart 2002, S. 199–207, 226, 436 f., 441, 446 f. 31 Zum situationsbedingten Handeln vgl. Baberowski: Ermöglichungsräume, S. 24; Welzer: Täter, S. 44–46. 32 In dieser Auswahl sind auch Personen, die das MfS zur Zeit ihrer Beteiligung an einer Entführung (noch) nicht offiziell als IM führte. Zum Teil wurden diese kurze Zeit später als IM registriert, zum Teil belegen die MfS-Unterlagen zwar ihre inoffizielle Zusammenarbeit, lassen aber keine Rückschlüsse auf ihre Registrierung zu. Diese formale Differenzierung findet zwar bei der einzelnen
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Faktoren bestimmt: Zum einen handelt es sich um IM, die fast ausschließlich an gewaltsamen Entführungen beteiligt waren. Denn vor allem bei diesen Entführungsvarianten kamen IM zahlreich zum Einsatz und mussten – im Unterschied zu ›normalen‹ IM – zu delinquentem sowie mitunter gewalttätigem Handeln bereit sein. Zum anderen war in gravierendem Maße die Quellenlage ausschlaggebend. Für die vorliegende Untersuchung wurden IM ausgewählt, zu denen eine möglichst breit gefächerte Quellenüberlieferung vorhanden ist. Leider ist es aufgrund der Quellenlage unmöglich, die Gesamtzahl der vom MfS als Entführer eingesetzten IM exakt festzustellen. Sie kann unter Vorbehalt auf etwa 500 IM geschätzt werden.33 Aufgrund der fehlenden Belastbarkeit dieser Schätzung können in der Frage nach der Repräsentativität der vorliegenden Ergebnisse keine sozialwissenschaftlichen Maßstäbe angelegt werden. Auf der Basis von 50 Fallbeispielen liefert die vorliegende Studie aber eine systematische und aussagekräftige Analyse auf einer umfangreichen Quellenbasis. Die vergleichende Untersuchung der 50 Entführer-IM soll zeigen, ob sich wesentliche Muster erkennen lassen – sowohl im Hinblick auf die Rekrutierungs- und Einsatzpraxis des MfS als auch auf die Hintergründe und Handlungsspielräume dieser IM.34 Die Analyse der Verhaltens- und Handlungsspielräume tangiert wiederum die Frage nach der Rolle der Gewalt. »Gewalt bildete eine kulturelle Infrastruktur«, konstatiert Stefan Plaggenborg mit Blick auf den Stalinismus, »in deren Rahmen sich das gewalttätige Handeln einer Vielzahl von Individuen abspielen konnte«.35 Im Fall der Entführer-IM war diese »Infrastruktur« von der Anleitung durch den Führungsoffizier geprägt. Er vermittelte sowohl das Feindbild des MfS und die (Entführungs-)Aufträge als auch die Richtlinien und Vorgaben des MfS, welche die Einsatzabläufe der IM reglementierten. Inhärent war diesem System der »Anleitung« ein gewisses Maß an Eigeninitiative, das dem IM Handlungsspielräume gewährte. Diese Darstellung der IM Berücksichtigung, wird ansonsten aber – zugunsten der Verständlichkeit – unter dem Begriff »Entführer-IM« subsumiert und insbesondere bei quantifizierenden Aussagen nicht explizit erwähnt. Eine Übersicht der untersuchten IM und Kontaktpersonen mit Angaben ihrer Lebensdaten und der Zeit ihrer IM-Tätigkeit befindet sich im Personenverzeichnis. 33 Diese Schätzung beruht auf der Annahme, dass IM vor allem bei gewaltsamen Entführungen zum Einsatz kamen und vereinzelt bei Verschleppungen, also bei den rund 100 Entführungen und bei geschätzten 100 der 255 Verschleppungen. Während bei den 100 Entführungen im Schnitt drei bis vier IM eingesetzt worden sein dürften, waren es bei den 100 Verschleppungen jeweils nur ein bis zwei IM. Daraus ergibt sich eine Gesamtzahl von 500 IM. 34 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuks Forderung nach einer historischen IM-Forschung. Vgl. Kowalczuk: Stasi konkret, S. 235 f. Zur »Typisierung des Individuellen« und »Individualisierung des Typischen« durch die Biographieforschung vgl. Alexander Gallus: Biographik und Zeitgeschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 55(2005)1–2, S. 40–46, hier 46. 35 Stefan Plaggenborg: Gewalt im Stalinismus. Skizzen zu einer Tätergeschichte. In: Manfred Hildermeier: Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. München 1998, S. 197; vgl. ebenda, S. 193– 208; Imbusch: Moderne, S. 32.
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waren bei den IM im Westeinsatz nicht zuletzt dadurch relativ groß, dass das MfS weniger Kontrolle ausüben konnte und die Verbindungsaufnahme mitunter komplizierter und zeitaufwendiger war. Ferner ist bei den Entführer-IM – in Anlehnung an Plaggenborg – die Rolle der Gewalt und ihre dynamisierende Wirkung zu berücksichtigen. Die vorliegende Studie geht dieser Konstellation auf den Grund und fragt nach der vom MfS gewollten Eigeninitiative und den ungewollten Eigenmächtigkeiten der Entführer-IM. Dabei rücken die Motive und das Eigeninteresse der Entführer-IM als Triebkraft für ihr Handeln und Verhalten in den Blick. In Anlehnung an Ansätze in der Denunziationsforschung sowie in der Täterforschung zur nationalsozialistischen und kommunistischen Diktatur soll in der Studie »die spezifische Mischung von ideologischen und ›eigensinnigen‹ Antrieben und Motivlagen« herausgearbeitet werden, »die die soziale Praxis von Denunziation und Informantenwesen prägten«.36 Für das MfS versprach das Handeln aus »politisch-ideologischer Überzeugung« in der IM-Arbeit größere Sicherheit und ein umfassenderes Engagement. Personen mit dieser Haltung verfügten aber oft nicht über den Zugang zu den Kreisen, die das MfS zu bekämpfen suchte. Es musste daher auch mit anderen Motivlagen ihrer IM umgehen und sie nutzen. Am Beispiel der Entführer-IM kann dies exemplarisch gezeigt werden – vor dem besonderen Hintergrund, dass dem vorgesehenen Einsatz der IM bei gewaltsamen Entführungen eine andere ›Qualität‹ als der ›normalen‹ IM-Tätigkeit innewohnte. Im Sinne einer historischen Gewaltforschung mit akteurs- und handlungszentriertem Ansatz sollen die Wahrnehmungen, Erfahrungen, Mentalitäten und situativen Verhaltens- sowie Handlungsweisen der Entführer-IM in den Blick genommen werden. Dies geschieht in einer mikrohistorischen Studie, die auf der qualitativen Auswertung von Unterlagen des MfS und – falls vorhanden – bundesdeutschen Ermittlungsakten (aus der Zeit vor und nach 1990) basiert.37 »Ein entscheidender Erkenntnisgewinn durch mikrohistorische Verfahren besteht darin«, konstatiert Hans Medick, »Handlungsbedingungen, Handlungen und Deutungen der Menschen ausgehend von einzelnen Perso36 Jens Gieseke: »Different Shades of Gray«. Denunziations- und Informantenberichte als Quellen der Alltagsgeschichte des Kommunismus. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7(2010)2, Online-Ausgabe, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041Gieseke-2-2010 (letzter Zugriff: 3.6.2012), Textabschnitt 3. Zum Konzept des »Eigen-Sinns« vgl. Thomas Lindenberger (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Köln/Weimar/Wien 1999; ders.: SED-Herrschaft als soziale Praxis, Herrschaft und »Eigen-Sinn«: Problemstellung und Begriffe. In: Jens Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Göttingen 2007, S. 23–47, hier 32–34; Alf Lüdtke: Eigensinn. In: Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2002, S. 64–67. 37 Eine sicherlich aufschlussreiche psychoanalytische Studie wäre nicht möglich, da fast alle der untersuchten Entführer-IM bereits verstorben sind. Vgl. psychoanalytische Studie mit 20 ehemaligen IM des MfS: Ingrid Kerz-Rühling, Tomas Plänkers: Verräter oder Verführte. Eine psychoanalytische Untersuchung Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Berlin 2004.
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nen und ihren wechselseitigen Verflechtungen und Abhängigkeiten zu untersuchen« und auf diese Weise neue Einblicke in umfassende historische Prozesse zu erhalten.38 Das skizzierte Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie lässt ihre Brückenfunktion erkennen: Sie beleuchtet die Entführungspraxis des MfS nicht nur in Bezug auf ihre Rolle im Herrschaftssystem der SED-Diktatur, sondern vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz auf deutschem Boden und verfügt darüber hinaus über Anknüpfungspunkte an die Gewalt- und Täterforschung.
Zum Stand der Forschung Über 20 Jahre nach dem Untergang der SED-Diktatur ist ihre Erforschung weit vorangeschritten. Der Wissensdurst und Forschungsdrang war nicht nur von wissenschaftlichen Interessen bestimmt, sondern auch – und zum Teil vorrangig – vom Drang nach einer Aufarbeitung und geschichtspolitischen Impulsen.39 Vor dem Hintergrund der historisch bislang einmaligen Situation, dass ein geheimdienstliches Archiv zugänglich wurde, und des großen öffentlichen Interesses verzeichnete insbesondere die Erforschung des MfS in den 1990er Jahren eine enorme Konjunktur. Aus diesem Forschungsboom sind zahlreiche fundierte Studien erwachsen, die für die Bearbeitung weiterführender Fragestellungen nach der »Erfahrungs- und ›Alltags‹-Dimension«40 des MfS grundlegend sind. Herauszuheben sind die kenntnisreichen und informativen Gesamtdarstellungen zum MfS von Jens Gieseke sowie sein Werk über das hauptamtliche Personal des MfS.41 Im Hinblick auf den Forschungsgegenstand der vorliegenden Studie sind insbesondere die Arbeiten von
38 Hans Medick: Mikrohistorie. In: Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Stuttgart 2003, S. 215–218, hier 217. 39 Vgl. Thomas Großbölting: Eine zwiespältige Bilanz. Zwanzig Jahre Aufarbeitung der DDRVergangenheit im wiedervereinigten Deutschland. In: ders. u. a. (Hg.): Das Ende des Kommunismus. Essen 2010, S. 61–74, 64 f., 71–74; ders.: Zwischen »Sonnenallee«, »Schurkenstaat« und Desinteresse – Aporien im Umgang mit der DDR-Vergangenheit im wiedervereinigten Deutschland. In: ders., Dirk Hofmann (Hg.): Vergangenheit in der Gegenwart. Göttingen 2008, S. 109–122, hier 114 f.; Kowalczuk: Stasi konkret, S. 356. 40 Großbölting: DDR, S. 62. Vgl. Jens Gieseke: Staatssicherheit und Gesellschaft – Plädoyer für einen Brückenschlag. In: ders. (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Göttingen 2007, S. 7–20, hier 8. 41 Vgl. Jens Gieseke: Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945–1990. Stuttgart/München 22001; ders.: Die DDR-Staatssicherheit. Schild und Schwert der Partei. Bonn 2000; ders.: Ministerium, S. 371–422; ders.: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90. Berlin 2000.
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Roger Engelmann zur MfS-Geschichte in den 1950er Jahren42 und von Helmut Müller-Enbergs zu den IM des MfS von besonderem Interesse. In zahlreichen Publikationen gibt Helmut Müller-Enbergs grundlegende Informationen zum IM-Netz. In einer dreibändigen Dokumentation kommentiert er in zwei Bänden die einschlägigen IM-Richtlinien ausführlich und erhebt in einem dritten Band die Anzahl der IM in den verschiedenen Diensteinheiten im Laufe der fast 40-jährigen Bestehenszeit des MfS. Auf der Grundlage der Richtlinien und des Zahlenmaterials liefert Helmut Müller-Enbergs eine aufschlussreiche Analyse des IM-Netzes.43 Seine Untersuchungen stellen auch immer wieder die wichtige Frage nach der Motivation der IM, die in der vorliegenden Studie mit Blick auf die Entführer-IM aufgegriffen wird.44 Die Analyse der Gruppe der Entführer-IM ist – trotz ihres Ausnahmecharakters – in diese IM-Forschung einzuordnen, insbesondere hinsichtlich des Einsatzes von IM in der Bundesrepublik und der Anwerbung von Bundesbürgern durch das MfS. Die Grundlagen der IM-Tätigkeit im Westen veranschaulicht Helmut Müller-Enbergs in seinem zweiten Richtlinien-Band. Eine Studie zu den bundesdeutschen IM, also Bundesbürgern im Dienste des MfS, hat Georg Herbstritt auf der Basis von Akten der Generalbundesanwaltschaft erarbeitet.45 Vergleichsweise wenig untersucht ist, welche Auswirkungen die Tätigkeiten der IM in der Bundesrepublik und im Ausland hatten. Die vorliegende Untersuchung widmet sich dieser Frage am Beispiel einer speziellen Gruppe von IM und nimmt somit nicht nur eine Form der MfS-Tätigkeit im 42 Vgl. Roger Engelmann, Ilko-Sascha Kowalczuk: Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953. Göttingen 2005; Roger Engelmann: »Schild und Schwert« als Exportartikel. Die Sowjets und der Aufbau der DDR-Geheimdienste. In: Wolfgang Krieger (Hg.): Geheimdienste in der Weltgeschichte. München 2003, S. 248–259; Roger Engelmann: Diener zweier Herren. Das Verhältnis der Staatssicherheit zur SED und zu den sowjetischen Beratern 1950–1959. In: Siegfried Suckut, Walter Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Berlin 1997, S. 51–72; Roger Engelmann, Silke Schumann: Kurs auf die entwickelte Diktatur. Walter Ulbricht, die Entmachtung Ernst Wollwebers und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes 1956/57. Berlin 21996. 43 Vgl. Helmut Müller-Enbergs (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. Berlin 32001; ders. (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 2: Anleitungen für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 21998; ders. (unter Mitarbeit von Susanne Muhle): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 3: Statistiken. Berlin 2008. 44 Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit – Motive für geheimpolizeiliche und nachrichtendienstliche Kooperation. In: Sven Max Litzcke, Siegfried Schwan (Hg.): Nachrichtendienstpsychologie 3. Brühl 2005, S. 7–41; ders.: Die Motivation zur nachrichtendienstlichen Arbeit. Das Beispiel Staatssicherheit. In: Gerhard Hanak, Arno Pilgrim (Hg.): Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie 2003. Phänomen Strafanzeige. Baden-Baden 2004, S. 141–166; ders.: Warum wird einer IM? Zur Motivation bei der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst. In: Klaus Behnke, Jürgen Fuchs (Hg.): Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg 1995, S. 102–129. 45 Vgl. Georg Herbstritt: Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage. Göttingen 2007.
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Westen in den Blick, sondern auch ihre Wirkung. Einen fundierten Einblick in die Vielfalt der Westaktivitäten des MfS gewährt eine 1999 entstandene Publikation der Abteilung Bildung und Forschung des BStU über die »WestArbeit des MfS«, die von Hubertus Knabe herausgegeben wurde. In einem zeitgleich veröffentlichten Buch vertrat Hubertus Knabe die These einer vom MfS »unterwanderten« Bundesrepublik, die in der Forschung als überzogen und »stasifixiert« gilt. Beide Publikationen sind allerdings bislang die umfassendsten Darstellungen zum MfS in der Bundesrepublik.46 Im Jahr 2003 wurde von Georg Herbstritt und Helmut Müller-Enbergs ein Sammelband herausgegeben, der eine Bestandsaufnahme der facettenreichen Forschung zur Tätigkeit des MfS im Westen bietet.47 Die Publikationen in diesem Themenbereich widmen sich zu einem großen Teil der Spionage, die zweifellos im Mittelpunkt der Aktivitäten des MfS im Westen stand.48 Die sogenannten »aktiven Maßnahmen«, zu denen auch Entführungen zählten, sind kaum systematisch untersucht.49 Die Forschungsliteratur zum Thema Entführungen und Verschleppungen im geteilten Berlin und Deutschland ist übersichtlich. Breiteren Raum erlangt das Thema nur in wenigen Studien: Die vielversprechend klingende Publikation »Stadt des Menschenraubs. Berlin 1945–1961« von Arthur L. Smith beleuchtet hauptsächlich die ersten Nachkriegsjahre und nur wenige, bereits sehr bekannte Entführungsfälle. Zwar ermöglicht er durch die Auswertung USamerikanischer Quellen interessante Einblicke und veröffentlicht einschlägige Dokumente in einem umfangreichen Anhang. Da Smith aber die Unterlagen des MfS weitgehend unberücksichtigt lässt, vermittelt das Buch kaum neue Erkenntnisse zur Entführungspraxis des MfS.50 Wesentlich aussagekräftiger 46 Vgl. Hubertus Knabe: West-Arbeit des MfS. Das Zusammenspiel von »Aufklärung« und »Abwehr«. Berlin 21999; ders.: Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen. München 2001; Jens Gieseke: Die Geschichte der Staatssicherheit. In: Rainer Eppelmann, Ulrich Mählert (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn 2003, S. 117–125, hier 123. 47 Vgl. Georg Herbstritt, Helmut Müller-Enbergs (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu ... DDRSpionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003. 48 Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Die Erforschung der Westarbeit des MfS – Stand und Perspektiven. In: Siegfried Suckut, Jürgen Weber (Hg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. München 2003, S. 240–269; ders.: Forschungen zur DDR-Spionage in der Bundesrepublik Deutschland. In: Horch und Guck 11(2002)39, S. 38–46; ders.: Der 6. Deutsche Bundestag und die Staatssicherheit. In: Deutschland-Archiv 40(2007)4, S. 665–670; ders.: »Rosenholz«. Eine Quellenkritik. Hg. BStU. BF informiert Nr. 28. Berlin 2007. 49 Vgl. Thomas Auerbach: Terror an der unsichtbaren Front. Die Sabotagevorbereitungen des MfS gegen die Bundesrepublik. Berlin 42001; ders.: Sabotage- und Terrorstrategien des MfS gegen die Bundesrepublik. In: Georg Herbstritt, Helmut Müller-Enbergs (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu ... DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 224–238; Stephan Fingerle, Jens Gieseke: Partisanen des Kalten Krieges. Die Untergrundtruppe der Nationalen Volksarmee 1957 bis 1962 und ihre Übernahme durch die Staatssicherheit. Berlin 1996; Helmut Müller-Enbergs: Maßnahmen, aktive. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 206. 50 Vgl. Arthur L. Smith: Stadt des Menschenraubs. Berlin 1945–1961. Koblenz 2004.
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sind in dieser Hinsicht die folgenden Untersuchungen: In seiner Darstellung der Ermittlungen nach 1990 gegen MfS-Chef Erich Mielke rekonstruiert Klaus Bästlein sechs Entführungsfälle des MfS, die Gegenstand der Anklagen gegen Erich Mielke waren.51 Die Ermittlungen und Anklagen gegen den langjährigen MfS-Chef waren breit gefächert, sodass Bästlein die Entführungen nur als einen der Ermittlungsgegenstände aufführt und in diesem Kontext darstellt. Dem Schwerpunkt seiner Studie entsprechend basiert die Darstellung auf den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft; eine eigene Recherche in den MfS-Unterlagen zu den Entführungsfällen hat er nicht vorgenommen. Einen Einblick in die Entführungspraxis des MfS und ihre Funktion gewähren Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann in ihrem Buch über die MfSVerhaftungswellen 1953 bis 1955. Sie greifen ebenfalls einige Entführungsaktionen auf, die Bestandteil dieser Verhaftungswellen waren.52 Auf eine Funktion der Entführungspraxis macht Gerhard Sälter in seinen Studien über geflohene MfS-Mitarbeiter, Grenzpolizisten und -soldaten aufmerksam. Unter dem Gesichtspunkt der »internen Repression« im Staatssicherheitsapparat und in der Grenzpolizei bzw. in den Grenztruppen verweist er auf die Verfolgung und Bestrafung von Abtrünnigen und schildert in diesem Zusammenhang auch einige Entführungsfälle.53 Die genannten Studien liefern zum Teil detaillierte Darstellungen einzelner Entführungsfälle und veranschaulichen einzelne Aspekte der Entführungspraxis; Letztere steht aber nicht im Mittelpunkt der Analysen. Übergreifende Betrachtungen stammen bisher nur aus der Feder von Karl Wilhelm Fricke, der 1955 selbst vom MfS entführt wurde. Seine Aufsätze und Monografien sind für die vorliegende Untersuchung von grundlegender Bedeutung. Er hat sich intensiv mit den MfS-Entführungsaktionen auseinandergesetzt und sie schon vor 1990 wiederholt publik gemacht. Seine Studien weisen angesichts seiner eigenen Erfahrung eine außergewöhnliche Sachlichkeit vor, die er auch bei der Darstellung seiner eigenen Entführungsgeschichte
51 Vgl. Klaus Bästlein: Der Fall Mielke. Die Ermittlungen gegen den Minister für Staatssicherheit der DDR. Baden-Baden 2002. 52 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Roger Engelmann: »Konzentrierte Schläge«. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956. Berlin 1998. 53 Vgl. Gerhard Sälter: Interne Repression. Die Verfolgung übergelaufener MfS-Offiziere durch das MfS und die DDR-Justiz (1954–1966). Dresden 2002; ders.: Grenzpolizisten. Konformität, Verweigerung und Repression in der Grenzpolizei und den Grenztruppen der DDR 1952 bis 1965. Berlin 2009. Zu diesem Themenkomplex vgl. auch Karl Wilhelm Fricke: »Jeden Verräter ereilt sein Schicksal.« Die gnadenlose Verfolgung abtrünniger MfS-Mitarbeiter. In: Deutschland-Archiv 27(1994)3, S. 258–265; ders.: »Und das Geschwafel, von wegen nicht hinrichten – alles Käse, Genossen.« Mindestens elf abtrünnige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR wurden zwischen 1950 und 1980 hingerichtet. In: Das Parlament, Februar 1996, S. 20 f.
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wahrt.54 Bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der DDR-Haft veröffentlichte Fricke in der Zeitschrift SBZ-Archiv eine ausführliche Darstellung seiner Erlebnisse und eine Analyse der »Taktik des Menschenraubs«.55 Dieser widmete er sich auch in seiner Studie über den DDR-Staatssicherheitsdienst, die 1962 vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (BMG) herausgegeben wurde. Er beleuchtete die Entführungsmethoden, fragte nach den Funktionen und dokumentierte 25 Entführungsfälle.56 Auf diese bemerkenswerten Vorarbeiten konnte er in den 1990er Jahren bei seiner Expertise im Rahmen der zweiten Enquete-Kommission im Deutschen Bundestag zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zurückgreifen.57 Seine zahlreichen, bereits vor 1990 gesammelten und ausgewerteten Erkenntnisse waren der Ausgangspunkt für die vorliegende Studie. Zu einigen prominenten Entführungsopfern gibt es biografische Studien, in denen auch die Entführung der jeweiligen Person (mitunter detailliert) geschildert wird. An erster Stelle sei hier der Rechtsanwalt und UFJ-Mitarbeiter Walter Linse genannt, der im Sommer 1952 Opfer einer brutalen, aufsehenerregenden Entführung in West-Berlin wurde und dessen Schicksal erst vor wenigen Jahren endgültig geklärt werden konnte.58 Er gehörte zu rund 1 000 deutschen Zivilisten, die zwischen 1950 und 1953 nach Moskau verschleppt und dort hingerichtet wurden. »Erschossen in Moskau« lautet der Titel eines wichtigen Nachschlagewerkes, das kurze biografische Skizzen zu den Opfern offeriert und dabei auch auf einige Entführungsfälle verweist.59 Neben einigen 54 Vgl. Karl Wilhelm Fricke: Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung. Berlin 41997; ders.: Entführung. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 72–74. 55 Vgl. Karl Wilhelm Fricke: Die Taktik des Menschenraubs. In: SBZ-Archiv 10(1959)12, S. 178–181; ders.: So werden Schauprozesse vorbereitet. In: SBZ-Archiv 10(1959)14, S. 210–213; ders.: Ein Schauprozess fand nicht statt. In: SBZ-Archiv 10(1959)20, S. 315–317; ders.: Menschenraub in Berlin. Hg. vom Rheinischen Merkur. Koblenz/Köln 1959. 56 Vgl. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Der Staatssicherheitsdienst. Ein Instrument der politischen Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Bonn/Berlin 1962, S. 37–48. Im Anhang dieser Publikation finden sich Erlebnisberichte von 3 Entführten und Dokumente zu verschiedenen Entführungsfällen. Vgl. ebenda, S. 135–187. 57 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Gerhard Ehlert: Entführungsaktionen der DDR-Staatssicherheit und die Folgen für die Betroffenen. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Deutschland im geteilten Europa. Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«. Bd. VIII.2., Berlin 1999, S. 1169–1208. 58 Vgl. Karl Wilhelm Fricke: Entführungsopfer posthum rehabilitiert. Das Schicksal des Rechtsanwalts Walter Linse. In: Deutschland-Archiv 29(1996)5, S. 713–717; ders.: Walter Linse. In: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Berlin 2006, S. 109–111; ders.: Verräter, S. 258–265; Siegfried Mampel: Entführungsfall Dr. Walter Linse. Menschenraub und Justizmord als Mittel des Staatsterrors. Berlin 32006. 59 Vgl. Arsenij Roginskij u. a. (Hg.): »Erschossen in Moskau …« Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953. Berlin 22006; Jörg Rudolph, Frank Drauschke, Alexander Sachse: Hingerichtet in Moskau. Opfer des Stalinismus aus Berlin 1950–1953. Berlin 2007.
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Aufsätzen, in denen der Entführungsfall Walter Linse aufgegriffen wird, gibt es auch biografische Studien von Benno Kirsch und von Klaus Bästlein.60 Weitere Biografien oder biografische Aufsätze zu Entführungsopfern schrieben Knud Andresen über den 1961 entführten Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt, Michael Kubina über den 1950 entführten Journalisten Alfred Weiland sowie Michael Herms und Gert Noack über den 1956 entführten Volkspolizisten und SED-Funktionär Robert Bialek.61 Mit Ausnahme dieser Publikationen und Einzelfallstudien62 finden die Entführungsaktionen des MfS vor allem Beachtung als ein – mehr oder minder randständiges – Phänomen in anderen thematischen Zusammenhängen.63 Beispielsweise werden einzelne Entführungsfälle in Publikationen über die antikommunistischen Organisationen aufgegriffen, die in den 1950er und 1960er Jahren in West-Berlin und der Bundesrepublik tätig waren und im Visier des MfS standen. Zu nennen sind hier die Publikationen von Siegfried Mampel und Frank Hagemann zum Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ), von Wolfgang Buschfort zu den Ostbüros der Parteien oder von Enrico Heitzer, Gerhard Finn und Roger Engelmann zur Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU).64 Von der Vielzahl dieser antikommunisti60 Bästlein nimmt vor allem die Beteiligung des Rechtsanwalts an nationalsozialistischen »Arisierungen« in den Blick, die Kirsch vernachlässigt hat. Vgl. Benno Kirsch: Walter Linse 1903–1953– 1996. Dresden 2007, S. 38, 105; Klaus Bästlein: Vom NS-Täter zum Opfer des Stalinismus: Dr. Walter Linse. Ein deutscher Jurist im 20. Jahrhundert. Berlin 2008, S. 5 f.; ders.: Zur Rolle von Dr. Walter Linse unter der NS-Herrschaft und in den Nachkriegsjahren bis 1949. Berlin 2007, S. 6–13. 61 Vgl. Knut Andresen: Widerspruch als Lebensprinzip. Der undogmatische Sozialist Heinz Brandt (1909–1986). Bonn 2007; Michael Herms, Gert Noack: Der steile Aufstieg und tiefe Fall des Robert Bialek. Vom hohen SED-Funktionär zum Opfer des MfS. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 47(1997)50, S. 35–42; Michael Kubina: Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg. Das unzeitgemäße Leben des Berliner Rätekommunisten Alfred Weiland (1906–1978). Hamburg 2001. Ferner: Manfred Rexin: Verfolgte Kommunisten unter Hitler und Ulbricht: Kurt Müller, Robert Bialek, Heinz Brandt und Karl Schirdewan. In: Friedhelm Boll (Hg.): Verfolgung und Lebensgeschichte. Berlin 1997, S. 165–188; Manfred Wilke: Heinz Brandt. In: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Berlin 2006, S. 130–132; Manfred Wilke: Heinz Brandt – in Selbstzeugnissen. In: Silke Klewin (Hg.): Wege nach Bautzen II. Dresden 1998, S. 49–64; Angela Schmole, Jochen Staadt: Abschreckungsterror. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SEDStaat 16(2011)30, S. 100–122. 62 Hier seien noch erwähnt: Ilko-Sascha Kowalczuk: Werner Mangelsdorf. In: ders., Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Berlin 2006, S. 66–71; Detlef Kühn: »Ein eingefleischter Feind der DDR.« Die Entführung des UFJ-Mitarbeiters Erwin Neumann durch Angehörige des MfS 1958. In: Deutschland-Archiv 33(2000)6, S. 914–922; Anne Schubert, Peter Seifert: Die Aktion Christiansen. Zur Entführung eines thüringischen SED-Funktionärs durch das MfS. In: Thüringen – Blätter zur Landeskunde Nr. 67, 2007, o. Pag.; Klaus Schmude: Fallbeil-Erziehung. Der Stasi-/SED-Mord an Manfred Smolka. Böblingen 1992. 63 Zum Beispiel: Bernd Eisenfeld, Ilko-Sascha Kowalczuk, Ehrhart Neubert: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte. Bremen 2004. 64 Unter den Autoren finden sich einige ehemalige Akteure wie Siegfried Mampel, Gerhard Finn und Friedrich Wilhelm Schlomann. Exemplarische Auswahl: Frank Hagemann: Der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen 1949–1969. Frankfurt/M. 1994; Siegfried Mampel: Der
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schen Organisationen sind bisher nur einige wenige Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen geworden. Zudem haben die Netzwerke staatlicher Institutionen, antikommunistischer Organisationen und westlicher Geheimdienste bisher relativ wenig Beachtung gefunden. Eine nennenswerte Ausnahme sind die Publikationen von Bernd Stöver zur amerikanischen Befreiungspolitik und zum Kalten Krieg.65 Ein Diskussionspunkt, der auch den vorliegenden Forschungsgegenstand tangiert, ist in diesem Kontext die nachrichtendienstliche Instrumentalisierung des Widerstandes gegen das SED-Regime durch westliche Geheimdienste und die damit einhergehende Gefährdung der Akteure.66 Im Hinblick auf die Frage nach Entführungen als Bestandteil geheimdienstlicher Praxis wäre ein kontrastierender Vergleich der Methoden des MfS als Geheimpolizei der SED-Diktatur und des BND als bundesdeutscher Nachrichtendienst aufschlussreich. Ein solcher ist aufgrund des erheblichen Ungleichgewichts der Quellenlage und Forschungsstände aber bislang weitgehend unmöglich. Die Erforschung der Rolle westlicher, vor allem westdeutscher Nachrichtendienste in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz und dem Ost-West-Konflikt wird durch die mangelnden Zugangsmöglichkeiten zu den entsprechenden Unterlagen erheblich erschwert. In der Forschungsliteratur macht sich das bemerkbar: Zwar gibt es einige Abhandlungen, die sich um die Einhaltung wissenschaftlicher Standards bemühen und diesen weitgehend entsprechen.67 Es dominieren allerdings die Memoiren ehemaliger Mitarbeiter Untergrundkampf des Ministeriums für Staatssicherheit gegen den Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen in Berlin (West). Berlin 41999; Wolfgang Buschfort: Parteien im Kalten Krieg. Die Ostbüros von SPD, CDU und FDP. Berlin 2000; Roger Engelmann: Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit. In: Klaus-Dietmar Henke, Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hg.): Widerstand und Opposition in der DDR. Köln 1999, S. 184–192; Gerhard Finn: »Nichtstun ist Mord«. Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit – KgU. Bad Münstereifel 2000; Enrico Heitzer: »Affäre Walter«. Die vergessene Verhaftungswelle. Berlin 2008; Friedrich Wilhelm Schlomann: Mit Flugblättern und Anklageschriften gegen das SED-System. Die Tätigkeit der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) und des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen der Sowjetzone (UFJ). Schwerin 1998. 65 Vgl. Bernd Stöver: Die Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947–1991. Köln 2002; ders.: Der Kalte Krieg 1947–1991. München 2007. Zum Thema der Netzwerke vgl. auch Stefan Creuzberger: Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges 1949–1969. Düsseldorf 2008; Daniele Ganser: NATOGeheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegführung. Zürich 32009. 66 Vgl. Karl Wilhelm Fricke: Spionage als antikommunistischer Widerstand. In: DeutschlandArchiv 35(2002)4, S. 565–578; Roger Engelmann: Ost-West-Bezüge von Widerstand und Opposition in der DDR der fünfziger Jahre. In: Erhart Neubert, Bernd Eisenfeld (Hg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Bremen 2001, S. 169–188. 67 Zum Beispiel: Christopher Andrew: MI 5. Die wahre Geschichte des britischen Geheimdienstes. Berlin/München 2010; Wolfgang Buschfort: Geheime Hüter der Verfassung. Von der Düsseldorfer Informationsstelle zum ersten Verfassungsschutz der Bundesrepublik (1947–1961). Paderborn 2004; Mary Ellen Reese: Organisation Gehlen. Der Kalte Krieg und der Aufbau des deutschen Geheimdienstes. Berlin 1992; Armin Wagner, Matthias Uhl: BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Militärspionage in der DDR. Berlin 2007; Tim Weiner: CIA. Die ganze Geschichte. Frankfurt/M. 5 2009.
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sowie nicht- bis halbwissenschaftliche Publikationen.68 Zögerliche Erfolge zeigt nun jedoch die seit einigen Jahren steigende Kritik an der Geheimhaltungspolitik der Nachrichtendienste hinsichtlich ihrer Vergangenheit.69 Im Februar 2011 hat der BND eine Unabhängige Historikerkommission berufen, um die Geschichte des BND und seiner Vorläufer seit 1945 bis 1968 zu erforschen. Die Wissenschaftler dieser Kommission sollen Zugang zu den Aktenbeständen des BND erhalten, die der Forschung bislang verschlossen waren. Vielversprechend ist zudem die Forschungskooperation zwischen der Kommission und dem BStU, die eine Gegenüberstellung der Tätigkeiten der ehemaligen Kontrahenten BND und MfS ermöglicht. Es ist zu hoffen, dass der Zugriff und die Auswertung der Unterlagen sowie die Veröffentlichungen der Forschungsergebnisse wirklich so uneingeschränkt erfolgen können wie es in Aussicht gestellt wird.70 Dann könnten diese Forschungen auch zu einer besseren Einordnung des vorliegenden Forschungsgegenstands beitragen. Vor dem Hintergrund des skizzierten Forschungsstandes hat sich die vorliegende Studie zum Ziel gesetzt, eine Gesamtbetrachtung der Entführungspraxis des MfS zu liefern, ohne den Anspruch auf eine vollständige Erfassung aller Entführungsfälle zu erheben. Sie greift auf die grundlegenden Analysen von Karl Wilhelm Fricke zur Entführungspraxis des MfS zurück, entfaltet diese aber inhaltlich und methodisch in mehrfacher Hinsicht. Erstens erfasst sie stärker die gesamtdeutsche Dimension des Phänomens, indem sie ausführlicher auf die Informationslage und Reaktionen der Angehörigen, der politi68 Zum Beispiel: Andreas von Bülow: Im Namen des Staates. CIA, BND und die kriminellen Machenschaften der Geheimdienste. München 1998; Ferdinand Koch: Die feindlichen Brüder: DDR contra BRD. Bern 1994; Sven Felix Kellerhoff, Bernd von Kostka: Hauptstadt der Spione. Geheimdienste in Berlin im Kalten Krieg. Berlin 2009; Peter F. Müller, Michael Müller, Erich SchmidtEenboom: Gegen Freund und Feind. Der BND – geheime Politik und schmutzige Geschäfte. Hamburg 2002; Udo Ulfkotte: Der Krieg im Dunkeln. Die wahre Macht der Geheimdienste. Frankfurt/M. 2006. Beispiele aus der Memoirenliteratur: Reinhard Gehlen: Der Dienst. Erinnerungen 1942–1971. Mainz/Wiesbaden 1972; Norbert Juretzko: Im Visier. Ein Ex-Agent enthüllt die Machenschaften des BND. München 2006; Richard Meier: Geheimdienst ohne Maske. BergischGladbach 1992. 69 Die Historikerin Gaby Weber hat vor dem Bundesverwaltungsgericht die Herausgabe von BND-Akten zu Adolf Eichmann erstritten. Vgl. Bund muss Eichmann-Akten teilweise freigeben. Onlineartikel Spiegel, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,692264,00.html (letzter Zugriff: 3.6.2012); Ernst Piper: Verhinderte Aufklärung. Über den Umgang des Kanzleramts und des BND mit den Eichmann-Akten: eine Diskussion in Berlin, Onlineartikel Tagesspiegel, URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/verhinderte-aufklaerung/4134500.html (letzter Zugriff: 3.6.2012). 70 Vgl. Homepage der Unabhängigen Historikerkommission: URL: http://www.uhk-bnd.de/ (letzter Zugriff: 12.7.2013); URL: http://www.bnd.bund.de/DE/Einblicke/Geschichte/Geschichtsaufarbeitung/geschichtsaufarbeitung_node.html (letzter Zugriff: 12.7.2013); Interview mit Klaus-Dietmar Henke, Mitglied der Historikerkommission. URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/interview/nochklappt-es-nicht-richtig (letzter Zugriff: 12.7.2013). Bedenken über die Forschungsbedingungen der Kommission äußerte u. a. Gregor Schöllgen, der den Auftrag einer Aufarbeitung der BND-Geschichte ablehnte, da ihm kein uneingeschränkter Aktenzugang zugesichert wurde. Vgl. Gregor Schöllgen: Am Ende ohne Akten? In: Süddeutsche Zeitung, 9.2.2011.
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schen Akteure und der Öffentlichkeit sowie auf die strafrechtliche Verfolgung der Tatbeteiligten in der Bundesrepublik eingeht. Dadurch leistet sie – zweitens – zugleich einen Beitrag zur Wirkungsanalyse der Tätigkeit des MfS in West-Berlin und in der Bundesrepublik, auch wenn es sich bei den Entführungsaktionen um eine spezielle Form der »Westarbeit« handelte. Drittens erweitert sie das Blickfeld um einen wesentlichen Aspekt, der bislang nicht systematisch analysiert wurde: die als Entführer agierenden IM.71 Die Studie trägt dadurch zur IM-Forschung, insbesondere zur Erforschung des Einsatzes von IM in West-Berlin und in der Bundesrepublik bei. Angesichts des delinquenten und gewaltsamen Charakters der Einsätze dieser IM als Entführer greift sie dabei nicht nur Ansätze der Denunziationsforschung72 auf, die in der IM-Forschung nahe liegen, sondern auch der »neueren Täterforschung«.73 Neue Erkenntnisse verspricht – viertens – die Auswertung des umfangreichen Quellenmaterials, das nach dem Untergang der SED-Diktatur, aber auch durch den größeren zeitlichen Abstand zum Geschehen nunmehr zugänglich ist.
71 Es gibt wenige Einzelstudien zu IM des MfS, die als Entführer aktiv waren. Vgl. Hermann Bubke: Der Einsatz des Stasi- und KGB-Spions Otto Freitag im München der Nachkriegszeit. Hamburg 2004; Susanne Muhle: Mit »Blitz« und »Donner« gegen den Klassenfeind. Kriminelle im speziellen Westeinsatz des Ministeriums für Staatssicherheit. In: Susanne Muhle, Hedwig Richter, Juliane Schütterle (Hg.): Die DDR im Blick. Berlin 2008, S. 159–167; Bernd Stöver: Kapitalismus in der DDR: Hans Wax. In: ders.: Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler. München 2009, S. 238– 266. 72 Vgl. Friso Ross, Achim Landwehr (Hg.): Denunziation und Justiz. Historische Dimensionen eines sozialen Phänomens. Tübingen 2000; Günter Jerouschek, Inge Marßolek, Hedwig Röckelein: Denunziation. Historische, juristische und psychologische Aspekte. Tübingen 1997; Clemens Vollnhals: Denunziation und Strafverfolgung im Auftrag der »Partei«: Das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR. In: Clemens Vollnhals, Jürgen Weber (Hg.): Der Schein der Normalität. Alltag und Herrschaft in der SED-Diktatur. München 2002, S. 113–156; Gisela Diewald-Kerkmann: Vertrauensleute, Denunzianten, Geheime und Inoffizielle Mitarbeiter in diktatorischen Regimen. In: Arnd Bauerkämper, Martin Sabrow, Bernd Stöver (Hg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945–1990. Bonn 1998, S. 282–293; Karol Sauerland: 30 Silberlinge. Denunziation – Geschichte und Gegenwart. Berlin 2000. 73 Wegweisend sind hier Untersuchungen zu NS-Tätergruppen – in dem Bewusstsein, dass es sich hierbei um andere Dimensionen der Gewalt handelt. Vgl. Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Hamburg 62005; Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002; KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Entgrenzte Gewalt – Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus. Bremen 2003; Ralph Jessen: Polizei und Gesellschaft. Zum Paradigmenwechsel in der Polizeigeschichtsforschung. In: Gerhard Paul, Klaus-Michael Mallmann (Hg.): Die Gestapo. Mythos und Realität. Darmstadt 1995, S. 19–43.
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Zur Quellenlage Die vorliegende Studie basiert zum überwiegenden Teil auf den Überlieferungen des MfS und staatlicher Institutionen sowie nichtstaatlicher Organisationen in der Bundesrepublik. Von den Entführungsopfern und Tatbeteiligten leben nur noch sehr wenige, Selbstzeugnisse von ihnen sind kaum vorhanden respektive nicht zugänglich. In den vorangegangenen Ausführungen zum Forschungsstand ist bereits auf die Publikationen von Karl Wilhelm Fricke hingewiesen worden, die er nach seiner Entführung und Rückkehr aus der DDR-Haft veröffentlichte. Derartige Erfahrungsberichte von MfSEntführungsopfern sind sehr selten und nur wenige sind publiziert, wie zum Beispiel die Erinnerungsschrift »Ein Traum, der nicht entführbar ist« von dem 1961 entführten Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt.74 Die Unterlagen des MfS waren für die Untersuchung von essenzieller Bedeutung.75 Mit ihren zahllosen Berichten, Einschätzungen und Plänen offenbaren sie die Methoden und Arbeitsweise des MfS-Apparates. Im konkreten Fall der Entführungen lassen sie – zum Teil detailliert – die Planungen, Vorbereitungen, Durchführungsweisen und Verschleierungsstrategien erkennen. Diese Informationen liefern die IM-Vorgänge (AIM) und die Operativen Vorgänge (AOP) zu den Entführungsopfern, in denen IM-Berichte, Treffberichte, Einschätzungen und Pläne der zuständigen MfS-Mitarbeiter, Weisungen und Absprachen gesammelt sind.76 Die AOP-Vorgänge vermitteln darüber hinaus Hinweise zu den Entführungsopfern und den Absichten des MfS. Die AIM-Vorgänge, bestehend aus den Personal- und Arbeitsakten eines IM, geben Aufschluss über die biografischen Hintergründe, Motivationen und das Handeln der IM. Sowohl die AIM- als auch die AOP-Akten weisen mitunter allerdings Lücken auf, sodass das Vorhandensein von Akten nicht automatisch die Möglichkeit gewährleistet, einen Entführungsablauf zu rekonstruieren. Nicht selten fehlen in den Aktenvorgängen genau die Dokumente aus dem Zeitraum des Tatgeschehens – die Vermutung einer gezielten Säuberung der Akten liegt hier nahe. Zum Teil lassen sich solche Lücken mithilfe der jeweils 74 Vgl. Heinz Brandt: Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West. München 1967; Kurt Müller: Der geplante Schauprozess. In: Hubertus Knabe (Hg.): Gefangen in Hohenschönhausen. Berlin 2007, S. 102–129; Erlebnisberichte von Dieter Friede, Alfred Weiland und Karl Wilhelm Fricke siehe BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 137–148, 168–173. Die Autorin dankt Karl Wilhelm Fricke und Gerd Sommerlatte sowie den Angehörigen von weiteren Entführungsopfern für ihre Gesprächsbereitschaft. Ein besonderer Dank geht an den Sohn von Alfred Weiland für die Überlassung eines unveröffentlichten Manuskripts seines Vaters. 75 Die vorliegende Studie hat ihren Ursprung und wurde möglich durch längere Praktika und Forschungsaufenthalte in der Abteilung Bildung und Forschung des BStU. Die Autorin dankt den dortigen Mitarbeitern und der Behörde für die vielseitige Unterstützung. 76 Das »A« in den Abkürzungen der Aktenvorgänge steht für »archiviert«. Die Akten wurden schon vom MfS im internen Archiv abgelegt.
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anderen Vorgangsart schließen. Der Abgleich der Operativen Vorgänge mit den Akten der beteiligten IM ist also oft unerlässlich. Das Schicksal der Opfer nach ihrer Entführung ist anhand der Untersuchungsvorgänge (AU) des MfS und der Vorgänge aus der Geheimen Ablage des MfS (GH)77 nachvollziehbar, die auch die Unterlagen der DDR-Gerichte und Staatsanwaltschaften sowie teilweise sogar die Haftunterlagen enthalten. Hier finden sich u. a. Festnahmeberichte, Vernehmungsprotokolle, Schlussberichte des MfS, Anklageschriften und Urteile sowie Gnadenersuche, Führungsberichte aus DDR-Haftanstalten und Entlassungsbeschlüsse. Auskünfte – sowohl über Entführungsopfer als auch über Tatbeteiligte – bieten ferner Unterlagen aus der Allgemeinen Personenablage (AP). Interessanterweise enthalten sie nicht nur Überlieferungen des MfS, sondern auch im großen Umfang Kopien aus bundesdeutschen Ermittlungsakten über Entführungsfälle. Vereinzelt liefern auch die Sachakten aus den Ablagen verschiedener Diensteinheiten, wie beispielsweise der Hauptabteilung II, IX oder XX, Informationen zu Entführten oder Entführern. Für die vorliegende Untersuchung wurden zudem noch einige Kaderakten von hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern ausgewertet. Die Überlieferung des MfS, die sich im Bestand des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) befindet, bietet in der Historikerzunft, aber auch in der Öffentlichkeit immer wieder Anlass zu Diskussionen. Die Wahrung der Persönlichkeitsrechte von Opfern, der Wahrheitsgehalt der gesammelten Informationen und der vom staatlichen Unrecht geprägte Entstehungskontext sind nur einige Themen dieser Debatten.78 Zweifellos erfordern die MfS-Unterlagen einen kritischen Umgang, aber darin unterscheiden sie sich nicht von anderen historischen Quellen. Zu den spezifischen methodischen Herausforderungen bei der Analyse von MfS-Unterlagen gehört zum Beispiel die Sprache des MfS. Sie bedarf nicht nur mit ihren Abkürzungen und spezifischen Wortbedeutungen, sondern auch mit ihrer »ideologischen Präformation« und »polizeibürokratischen Normierung« einer Art Übersetzung respektive Dekonstruktion.79 Auffällig – und aufschlussreich hinsichtlich ihrer Funktion – ist diese Sprache beispielsweise in den Protokollen der Vernehmungen, die MfS-Mitarbeiter durchführten. Die generell erforderliche Vorsicht im methodischen Umgang mit Ver77 In der Geheimen Ablage archivierte das MfS Aktenvorgänge mit besonderer Geheimhaltungsstufe, beispielsweise zu Fahnenfluchten, Suiziden und Straftaten von Funktionären, Personen des öffentlichen Lebens und inoffiziellen sowie hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS. Vgl. Stephan Wolf: Ablage, Geheime. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 19. 78 Vgl. Siegfried Suckut, Jürgen Weber (Hg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. München 2003. 79 Gieseke: Denunziations- und Informantenberichte, Textabschnitt 2. Eine interessante Studie zur Sprache des MfS liefert Christian Bergmann: Die Sprache der Stasi. Göttingen 1999.
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hörprotokollen als Quelle gilt bei diesen Vernehmungsprotokollen im besonderen Maße. Auf den ersten Blick erwecken sie den Eindruck von Wortprotokollen, in der Analyse werden jedoch die selektive Wiedergabe und sprachlichen Überformungen der Aussagen durch die MfS-Vernehmer schnell deutlich. Zu berücksichtigen ist zudem ihr Entstehungskontext – angefangen bei den psychischen und physischen Folgen der Entführung, den Vernehmungstaktiken (Ausübung psychischer und physischer Gewalt durch den Vernehmer etc.) bis hin zu den Haftbedingungen (Isolation, Desorientierung, Schlafentzug etc.).80 Die Analyse der Vernehmungsprotokolle in der vorliegenden Studie kann daher nicht zu dem Zweck erfolgen, die mutmaßlichen Handlungen der Entführungsopfer, ihre Absichten und Motive zu rekonstruieren. Vielmehr lassen sie erkennen, welche Informationen sich das MfS von den Entführten erhoffte, welches Ermittlungsziel es zur Untermauerung des Tatvorwurfs verfolgte und wie es zu diesem Zweck die Entführungsopfer einzukreisen versuchte. Formale Angaben wie beispielsweise zur Häufigkeit und Dauer der Vernehmungen liefern außerdem Aufschluss über die Situation der Entführungsopfer. Bei den MfS-Unterlagen muss zudem sowohl die Stellung des Berichtenden zum Geschehen berücksichtigt werden als auch das Interesse und die Motivation des Schreibenden und die formelle Funktion der Berichterstattung hinterfragt werden.81 Je nach Art des MfS-Dokuments waren eine oder mehrere Instanzen an seiner Entstehung beteiligt. Bei jeder Vermittlungsinstanz konnte der Informationsgehalt verändert werden bzw. ein Auswahlprozess stattfinden – unbewusst oder zielgerichtet. Informationen, die ein IM für nebensächlich hielt, konnten in den Augen seines Führungsoffiziers von wichtiger Bedeutung sein und in entsprechender Form weitergegeben werden. Außerdem unterlagen die Berichte der IM ebenso wie die Bewertungen des IM oder der von ihm erbrachten Informationen durch seinen Führungsoffizier dem Interesse an der eigenen Profilierung – in unterschiedlichem Ausmaß. Ein inhaltlicher Abgleich mit anderen Quellen – bestenfalls mit Gegenüberlieferungen anderer Provenienzen, aber auch mit anderen MfS-internen Schriftstücken – kann derartige
80 Vgl. Fricke: Politik und Justiz, S. 224–235; Karl Wilhelm Fricke: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener in der DDR. Köln 1986, S. 42 f., 46 f.; Gerhard Sälter: »Den Ablauf der Vernehmung bestimmen nicht Sie.« Zur instrumentellen Verwendung struktureller Gewalt und sprachlicher Übermächtigung bei Verhören des MfS in den 1950er Jahren. In: Alf Lüdtke, Herbert Reinke, Michael Sturm (Hg.): Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2011, S. 279–299. 81 Vgl. Roger Engelmann: Zum Quellenwert der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit. In: Klaus-Dietmar Henke, Roger Engelmann (Hg.): Aktenlage. Berlin 1995, S. 23–39, hier 36 f.; Roger Engelmann: Zu Struktur, Charakter und Bedeutung der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit. Berlin 1994, S. 14 f.; Kerz-Rühling/Plänkers: Verräter, S. 152.
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Auswahlprozesse sichtbar werden lassen.82 Bei allen Einschränkungen darf nicht vergessen werden, dass das MfS hinsichtlich der Effizienz seiner Arbeit stets selbst bemüht war, verfälschende Angaben durch permanente Bewertungen und Kontrollen auszuschalten.83 Übertreibungen, Verdrehungen und Fehlinformationen waren nicht zwangsläufig. »Sie war der korrekteste Spitzel, den ich je hatte«, berichtet Erich Loest über eine IM, die auf ihn angesetzt war. »Sie hat nichts übertrieben, hat nichts erfunden. Damit war sie die Gefährlichste. Durch ihre Berichte hat die Stasi wirklich erfahren, was mit mir los war.«84 Der Rückgriff auf die MfS-Quellen und ihre Informationen muss in dem Bewusstsein erfolgen, dass es sich um selektive Wahrnehmungen, Verzerrungen und eventuell sogar um Fehlinformationen handelt, die sich nicht zuletzt aus ihrem geheimdienstlichen/-polizeilichen Charakter ergeben. Die MfSAkten, konstatiert Roger Engelmann, »bilden Wirklichkeit in einer spezifischen Weise ab, die sich aus der Zweckbestimmung des Apparats ergibt«.85 Menschen, Situationen und Ereignisse wurden selektiv nach ihrer »operativen Bedeutung« wahrgenommen, registriert und ausgewertet. Diese Wahrnehmungen und Einschätzungen waren wiederum Grundlage und Auslöser für das Handeln des MfS. In dieser Hinsicht sind die Hinterlassenschaften des MfS aussagekräftig – nicht in der Erwartung, eine vermeintlich objektive historische Realität in ihnen zu finden. Einen heuristischen und quellenkritischen Umgang sowie eine Einbettung in Forschungskontexte vorausgesetzt, bieten die MfS-Unterlagen ein hohes Erkenntnispotenzial.86 Den Weg zu den Akten säumen einige Hindernisse: Das MfS ordnete und archivierte seine Unterlagen personenbezogen. Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie bedeutet das: Es findet sich im 82 Vgl. Engelmann: Struktur, S. 15; Gieseke: Staatssicherheit und Gesellschaft, S. 16. Zur Hermeneutik vgl. Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln 1997, S. 130–134, 147–153, 164–171, 232 f. 83 Aus der zentralistisch-militärischen Struktur des MfS resultierte ein System der fortwährenden Kontrolle. Vgl. Engelmann: Quellenwert, S. 30–32; Engelmann: Struktur, S. 8–12; Ulrich Schröter: Das leitende Interesse des Schreibenden als Bedingungsmerkmal der Verschriftung – Schwierigkeiten bei der Auswertung von MfS-Akten. In: Klaus-Dietmar Henke, Roger Engelmann (Hg.): Aktenlage. Berlin 1995, S. 40–55, hier 40; Jochen Hecht: Die Stasi-Unterlagen als Quelle zur DDRGeschichte. In: Siegfried Suckut, Jürgen Weber (Hg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. München 2003, S. 198–217, hier 216. 84 Zit. in: Christoph Amend: Diese Biskys. In: Die Zeit, 23.9.2004. 85 Engelmann: Quellenwert, S. 29. Vgl. Engelmann: Struktur, S. 7; Kerz-Rühling/Plänkers: Verräter, S. 152. Rainer Eckert konstatiert, dass »das MfS in seinen Aussagen einen hohen Grad von Objektivität anstrebte, trotzdem jedoch die marxistisch-leninistische Ideologisierung ihre Spuren hinterließ«, und fordert eine spezielle Hermeneutik für Geheimdienstakten. Vgl. Rainer Eckert: Die MfS-Akten als Quelle zeithistorischer Forschung, DHI Warschau, 2011, URL: http://www.perspectivia.net/content/ publikationen/lelewel-gespraeche/3-2011/eckert_geheimdienstakten (letzter Zugriff: 3.6.2012). 86 Auch wenn die MfS-Unterlagen zum Teil einen erheblichen Grad an Ideologisierung aufweisen, tendieren sie nicht zur Schönfärberei wie andere Berichtssysteme der DDR (SED, Massenorganisationen etc.). Vgl. Engelmann: Struktur, S. 15–17; ders.: Quellenwert, S. 39; Hecht: Stasi-Unterlagen, S. 216.
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heutigen Archiv des BStU kein separater Aktenbestand zu Entführungen, sondern es müssen die Namen und Geburtsdaten der Beteiligten bekannt sein, um in den Karteien des MfS entsprechende Aktensignaturen eruieren zu können. Im Fall der Entführungsopfer des MfS und den mutmaßlichen Tatbeteiligten führen diese Abfragen nicht zwangsläufig zu noch vorhandenen Unterlagen. Manche Namen tauchen gar nicht in den MfS-Karteien auf, andere sind zwar registriert, aber die entsprechenden Karteikarten vermerken die Vernichtung der dazugehörigen Akten. Zudem mussten erst die Namen der Opfer und Tatbeteiligten der MfS-Entführungsaktionen ermittelt werden. Bei der entsprechenden Recherche boten Publikationen aus den 1950er und 1960er Jahren und die Forschungen von Karl Wilhelm Fricke erste wichtige Anhaltspunkte. Von tragender Bedeutung waren in dieser Hinsicht jedoch zwei Archivfunde: zum einen in der Staatsanwaltschaft Berlin, zum anderen im Bundesarchiv. In der Staatsanwaltschaft Berlin befinden sich noch die Unterlagen der Ermittlungsverfahren, die nach 1990 zur strafrechtlichen Verfolgung von SEDUnrecht angestrengt wurden.87 Die Entführungsaktionen fielen in die Deliktgruppe MfS-Straftaten. Die bundesdeutschen Ermittler werteten die MfSUnterlagen sowie die zeitgenössischen Ermittlungsakten der bundesrepublikanischen Strafverfolgungsbehörden aus und befragten Betroffene, Tatbeteiligte sowie Zeugen. Der Zugriff auf diese Akten wird durch den Datenschutz und den Umstand erschwert, dass sie noch nicht archivarisch erschlossen sind und eine Einsicht nur unter Angabe des Aktenzeichens des jeweiligen Verfahrens erfolgen kann. Mit den Ermittlungsberichten und Befragungsprotokollen sind diese Akten für die vorliegende Studie aber sehr bedeutend – nicht nur hinsichtlich der Frage nach der strafrechtlichen Verfolgung vor und nach 1990. Sie bieten eine Art Gegenüberlieferung zum Schriftgut des MfS, einen Einblick in die westlichen Reaktionen auf die Entführungen und einen Eindruck von den Lebenswegen der Opfer sowie Tatbeteiligten und ihrem Umgang mit ihrer Vergangenheit. Die Sichtung einiger dieser Ermittlungsakten führte ferner zu dem bereits angedeuteten beachtlichen Zufallsfund: eine Zusammenstellung der Westberliner Polizei über Entführungen und Verschleppungen aus West-Berlin vom 24. April 1949 bis zum 15. März 1962. Dieses (in der Forschung bislang unbekannte) Dokument enthält nicht nur Angaben zu entführten Personen, Tatverdächtigen und Tatorten, sondern zum Teil auch zu den Tatabläufen.88 In demselben Vorgang findet sich zusätzlich eine weniger detaillierte Liste des Westberliner Polizeipräsidenten, die offenbar bis Oktober 87 Vgl. Klaus Marxen, Gerhard Werle, Petra Schäfter: Die Strafverfolgung von DDR-Unrecht. Fakten und Zahlen. Berlin 2007. 88 Die Aufstellung umfasst über 250 Entführungsopfer, rund 80 Betroffene von Entführungsversuche und ca. 240 Tatverdächtige. Vgl. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 68/95, Bd. 3.
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1972 geführt wurde und fast 400 Fälle von Entführungen bzw. Verschleppungen und Entführungsversuchen vermerkt. Diese Aufstellung ist ebenfalls im Bestand des UFJ im Bundesarchiv überliefert.89 Der UFJ war eine bedeutende antikommunistische Organisation im WestBerlin der 1950er Jahre, die Informationen über die Lage in der DDR sammelte, das dortige Unrecht dokumentierte und zwei Mitarbeiter durch Entführungen des MfS verlor. Aus diesen Gründen enthalten die Aktenüberlieferungen des UFJ zahlreiche Dokumente zum Phänomen des Menschenraubs im geteilten Berlin. Im UFJ-Bestand im Bundesarchiv sind sogar Einzelfallakten zu Entführungsopfern des MfS erhalten geblieben. Die Auswertung dieser personenbezogenen Unterlagen ist aufgrund der Schutzfrist-Bestimmungen im Bundesarchivgesetz jedoch sehr eingeschränkt. Dies gilt ebenso für Einzelfallakten, die aus der Tätigkeit der Berliner Rechtsschutzstelle90 erwachsen sind und sich im Bestand des Gesamtdeutschen Instituts – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben sowie des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen im Bundesarchiv befinden. Einen Eindruck von den Wahrnehmungen und Reaktionen der Bundesregierung auf die Entführungsfälle und ihre Initiativen für die Entführten vermitteln neben den Unterlagen aus diesen Beständen auch Akten aus dem Bundeskanzleramt. Die Maßnahmen zur strafrechtlichen Verfolgung der Entführungen und Verschleppungen in der Bundesrepublik lassen sich mithilfe der Akten aus dem Bestand des Bundesministeriums der Justiz, aber vor allem aus dem Landesarchiv Berlin rekonstruieren. Im Landesarchiv Berlin werden im Bestand der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin die Aktenvorgänge zu ausgewählten Ermittlungsverfahren auf der Grundlage des Freiheitsschutzgesetzes aus den 1950er und 1960er Jahren aufbewahrt. Ermittlungsberichte und Strafanzeigen im Zusammenhang mit verschiedenen Entführungsfällen liegen zudem im Bestand des Polizeipräsidenten von Berlin vor. Informationen zum Phänomen des Menschenraubs sammelte auch die Senatskanzlei als dem Regierenden Bürgermeister von Berlin zugeordnete Behörde, wie im entsprechenden Bestand im Landesarchiv ersichtlich ist. Auf politischer Ebene führten die Entführungsaktionen des MfS außerdem zu Debatten in der Stadtverordnetenversammlung von Berlin und im Berliner Abgeordnetenhaus91, deren bzw. dessen Protokolle und Drucksa89 Von den fast 400 in der Liste aufgeführten Fällen sind 80 als Entführungsversuche deklariert. Vgl. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 68/95, Bd. 1, Bl. 36–72; BArch, B 209/1070, o. Pag. 90 Bei der Berliner Rechtsschutzstelle handelte es sich um Rechtsanwälte, die von der Bundesregierung mit innerdeutschen Hilfs- und Betreuungsmaßnahmen beauftragt waren. So kümmerten sie sich beispielsweise um inhaftierte Entführungsopfer. 91 Die gesamtberliner Institutionen Magistrat und Stadtverordnetenversammlung tagten im sowjetisch besetzten Sektor, bis es im Herbst 1948 zur Spaltung kam. Mit Inkrafttreten der Verfassung von Berlin (West) am 1. Oktober 1949 erhielten die Westsektoren zugleich den Status einer Stadt und
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chen im Landesarchiv eingesehen wurden. In Protokolle der Sitzungen des Bundestags wurde im Parlamentarischen Archiv des Deutschen Bundestags Einsicht genommen. Dort wurden auch die Protokolle des Ausschusses für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen sowie die Gesetzesdokumentation mit Materialien zum »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit« gesichtet. In den verschiedenen Aktenbeständen – sei es beim BStU, im Bundesarchiv oder Landesarchiv – sind unzählige Zeitungsartikel über die Entführungen und Verschleppungen archiviert. Größtenteils stammen sie aus der Westberliner und bundesdeutschen Presse, wo die Berichterstattung über dieses Thema umfangreich war, aber auch Artikel aus der DDR-Presse sind in nicht unerheblicher Zahl vorhanden. Weit über 500 Zeitungsartikel wurden im Rahmen dieser Studie ausgewertet, zum Teil auch im Pressearchiv der Staatsbibliothek zu Berlin. Die Analyse dieser Berichterstattung erfolgt in dem Bewusstsein, dass Massenmedien im Kalten Krieg auch ein »politisches Kampfmittel«92 waren. Dementsprechend werden nicht nur die enthaltenen Informationen untersucht, sondern auch die Art der Berichterstattung und die Wechselwirkung von Ost- und West-Presse. Diese Überlieferungen Westberliner und bundesrepublikanischer Provenienz ermöglichen Rückschlüsse über den Informationsstand und die Wahrnehmungen in West-Berlin und der Bundesrepublik – sowohl der Ermittlungsbehörden, auf politischer Ebene und der Öffentlichkeit. Ein Abgleich mit den entsprechenden MfS-Unterlagen kann zeigen, wie nah die dort zum Ausdruck gekommenen Vermutungen an das tatsächliche Geschehen reichten. Archivreisen in die USA, nach Großbritannien, Frankreich und Russland als ehemalige Besatzungsmächte, um dort nach Archivalien zum Forschungsgegenstand zu suchen, wurden nicht unternommen. Die Frage nach dem Kenntnisstand und den Reaktionen der drei westlichen Alliierten bezüglich der Entführungsaktionen gehört nicht zu den zentralen Erkenntnisinteressen der vorliegenden Studie. Die Studie greift die Frage daher nur rudimentär auf und liefert Ausgangspunkte für eine umfassendere Untersuchung dieser Fragestellung. Eine solche wäre allerdings auf Zugangsmöglichkeiten zu den Akten der westlichen Geheimdienste angewiesen – ein Unterfangen, das momentan hinsichtlich der Unterlagen der CIA am aussichtsreichsten erscheint. Beim Bundesnachrichtendienst (BND) wurde im Rahmen der vorliegenden Studie eines Landes. Vor diesem Hintergrund erfolgte in West-Berlin die Umbenennung in Senat und Abgeordnetenhaus. In Ost-Berlin tagte bis 1989 weiterhin die Stadtverordnetenversammlung, die politisch aber relativ macht- und bedeutungslos war. Vgl. Wolfgang Ribbe: Berlin 1945–2000. Grundzüge der Stadtgeschichte. Berlin 2002, S. 60–70; Ralf Melzer: Berlin – ein kleiner kommunalpolitischer Abriss, URL: http://www.berlin.de/rbmskzl/rundgang/exkurs2.html (letzter Zugriff: 3.6.2012). 92 Thomas Lindenberger: Einleitung. In: ders. (Hg.): Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 11.
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ein Antrag auf Akteneinsicht gestellt, zumal dieser auch in den eigenen Reihen Entführungsopfer zu beklagen hatte. Die Anfrage beantwortete die dortige Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mit einem Verweis auf die dem Bundesarchiv übergebenen Akten des BND. Diese Spur führt jedoch in eine Sackgasse: Die BND-Akten im Bundesarchiv enthalten keinerlei Informationen zum Phänomen des Menschenraubs im geteilten Deutschland. Es bleibt daher nur auf eine Umsetzung der Ankündigung zu hoffen, dass der BND »in den kommenden Jahren einen großen Teil seiner Akten aus der ›Ära Gehlen‹«93 tatsächlich dem Bundesarchiv übergeben wird und sich darin aussagekräftige Unterlagen finden. Die Fragen nach dem Kenntnisstand des westdeutschen Nachrichtendienstes über die Entführungspraxis des MfS und seinen Gegenmaßnahmen, aber auch nach seiner eigenen Rolle in diesem Kapitel des Ost-West-Konfliktes könnten dann geklärt werden – und damit ein noch relativ unerforschter Bereich der geheimdienstlichen Auseinandersetzungen im geteilten Deutschland.
Zum Aufbau der Studie In Anlehnung an die beiden Fragekomplexe der Studie verfügt sie über zwei Hauptteile. Im ersten Hauptteil erfolgt eine eingehende Betrachtung der Entführungspraxis des MfS hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen, Genese und Funktionen. Die verschiedenen Entführungsarten und die Entwicklung der Entführungspraxis im Laufe der 1950er und 1960er Jahre werden in Kapitel I beleuchtet. Nachgegangen wird dabei auch der Frage nach den Zuständigkeiten und Entscheidungswegen im MfS sowie den Entscheidungsträgern außerhalb des Staatssicherheitsapparates. Das Kapitel II skizziert den Kreis der Entführungsopfer, der die Funktionen der MfS-Entführungspraxis erkennen lässt. Jeweils drei Fallbeispiele illustrieren die Funktionsbereiche und geben einen genaueren Einblick in die Entführungsmethoden des MfS. Als Konklusion widmet sich das Kapitel III der Frage, inwieweit die Entführungen eine normale geheimdienstliche Methode im Ost-West-Konflikt waren oder Spezifika aufweisen. Die Folgen und Auswirkungen der Entführungsaktionen des MfS sind Gegenstand der Kapitel IV und V. Zum einen gilt es im Kapitel IV nach dem Schicksal der Entführten zu fragen. Dabei werden die Vorgehensweisen und Absichten der staatlichen Organe in der DDR, aber auch das Verhalten der Entführungsopfer thematisiert. Zum anderen vermittelt Kapitel V einen Eindruck, wie sich die Informationslage in West-Berlin und in der Bundesrepublik gestaltete und welche Initiativen für die Entführungsopfer und Schutzmaßnahmen für gefährdete Personen dort ergriffen wurden. 93
Mitteilung, Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des BND, 13.1.2009.
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Der zweite Hauptteil der Studie untersucht die Rolle der als Entführer agierenden IM. In Kapitel VI werden zunächst die biografischen und sozialen Hintergründe der 50 erfassten Entführer-IM analysiert. Der klassische biografische Ansatz mit den Faktoren Jahrgang und Generation, soziale Herkunft und Bildung wird hier in »handlungstheoretischer Perspektive« erweitert, indem auch die Handlungsmilieus betrachtet werden.94 Im Kapitel VII erfolgt eine Analyse der Motivstrukturen und Mentalitäten der ausgewählten Entführer-IM. Da sie in gravierendem Maße auf den Unterlagen des MfS beruht, greift sie zum Teil auch auf Motiv-Kategorien des MfS zurück, wobei dessen Einschätzungen und Einordnungen jedoch hinterfragt werden. In den Fokus rücken darüber hinaus aber auch Motive und Mentalitäten, die nicht explizit im Katalog des MfS auftauchten wie Delinquenz- und Gewaltbereitschaft, Abenteuerlust, Geltungsbedürfnis und Machtgefühl. Die gezielte Ausnutzung bestimmter Mentalitäten und Lebenslagen durch das MfS forciert die Frage nach den Konsequenzen dieser Rekrutierungspraxis, die in den folgenden zwei Kapiteln aufgegriffen wird. Im Kapitel VIII werden die Einsatzabläufe der Entführer-IM betrachtet, die von der »Anleitung« durch den Führungsoffizier, den Richtlinien und Vorgaben des MfS, aber auch von Eigeninitiative, Eigenmächtigkeiten und Forderungen der IM geprägt waren. Dabei rücken wieder die Motive und das Eigeninteresse der Entführer-IM als Triebkräfte für ihr Handeln und Verhalten in den Blickpunkt. Im Kapitel IX werden die Laufbahnen der IM im Staatssicherheitsapparat nach ihrer Beteiligung an den Entführungsaktionen beleuchtet. Zu den Auswirkungen der Tätigkeit als Entführer-IM zählte auch die strafrechtliche Verfolgung, die es in den Blick zu nehmen gilt. Das Kapitel X erläutert die Herausforderungen und Probleme bei der Aufklärung der Entführungen und Verfolgung der Tatbeteiligten in der Bundesrepublik vor und nach 1990.
*** In der vorliegenden Studie wird bei der Wiedergabe von Quellenzitaten von grammatikalischen Korrekturen und sprachlichen Verbesserungen abgesehen, um den Lesern einen Eindruck von der Sprache der Quellen zu ermöglichen. Zur Wahrung des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte werden Personennamen anonymisiert, indem sie durch fiktive Namen ersetzt werden. In Quellenzitaten werden sie durch den Anfangsbuchstaben des Nachnamens
94 Klaus-Michael Mallmann, Gerhard Paul: Sozialisation, Milieu und Gewalt. Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung. In: dies. (Hg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Darmstadt 2004, S. 1–32, hier 9 f.
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wiedergegeben.95 Außerdem werden zum Zweck der Anonymisierung gegebenenfalls auch Geburtsdaten und -orte sowie Wohnorte nicht detailliert angegeben. Von der Anonymisierung ausgenommen sind die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS und Personen, deren Tatbeteiligung oder Entführung bereits öffentlich bekannt sind und die daher als relative Personen der Zeitgeschichte gelten. Sie sind auch in dem Personenverzeichnis erfasst, das auf in der Studie genannte Personen der Zeitgeschichte verweist. Grundsätzlich werden nur solche personenbezogene Informationen verwendet, die für die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Studie von Belang sind.
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Diese Anonymisierungen bedingen mitunter leichte Abänderungen von Zeitungsschlagzeilen.
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Prolog Im Brennpunkt des Ost-West-Konfliktes »Nirgends in der Welt«, konstatiert der ehemalige Leiter der DeutschlandAbteilung der KGB-Auslandsaufklärung, »waren die Geheimdienste so aktiv wie in Deutschland im Laufe der letzten Jahre des Krieges und in der Nachkriegszeit«.1 Ihre Tätigkeit richtete sich nicht nur gegen das untergehende NSReich, sondern stand bereits im Zeichen des Ost-West-Konfliktes. Die im Angesicht der nationalsozialistischen Macht geschmiedete Allianz zwischen der Sowjetunion und den Westmächten hatte schon 1944 Risse bekommen. Nach dem Kriegsende scheiterte die gemeinsame Deutschlandpolitik der Siegermächte, die Systemkonkurrenz der beiden Machtblöcke trat deutlich hervor und führte zur Teilung Deutschlands, das zum Exerzierfeld des Ost-WestKonfliktes wurde. Im Osten des Landes errichtete die sowjetische Besatzungsmacht – in Zusammenarbeit mit von ihr ausgewählten deutschen Funktionsträgern – eine kommunistische Diktatur und dehnte damit ihren Hegemonialbereich aus. Ein vereinigtes Deutschland war aus ihrer Perspektive nur durch die Ausweitung des Herrschaftsgebietes der SED und damit der sowjetischen Machthaber denkbar. Im Westteil Deutschlands forcierten die Westmächte den Aufbau einer Demokratie nach ihren Vorstellungen und entschieden sich ebenfalls, den ehemaligen Kriegsgegner in Bündnisstrukturen zu integrieren. In der von amerikanischer Seite initiierten Containment-Politik mit ihrer doppelten Funktion der Eindämmung – einerseits einer neuerlichen Kriegsgefahr durch Deutschland, andererseits des sowjetischen Machtbereichs – verlagerte sich der Schwerpunkt. Die US-amerikanische Außenpolitik war in den 1950er Jahren bestimmt von der Strategie der Befreiungspolitik: Mittels offener und verdeckter Maßnahmen zur Unterstützung der Regimegegner in den kommunistischen Staaten sowie wirtschaftlichem Druck sollte der sowjetische Machtbereich destabilisiert und im Idealfall ein politischer Umsturz herbeigeführt werden.2 1 Sergei A. Kondraschew: Stärken und Schwächen der sowjetischen Nachrichtendienste, insbesondere in Bezug auf Deutschland in der Nachkriegszeit. In: Wolfgang Krieger, Jürgen Weber (Hg.): Spionage für den Frieden? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Krieges. München/Landsberg 1997, S. 145–153, hier 145. 2 Vgl. Stöver: Der Kalte Krieg, S. 33–48, 50–54, 68–75; Bernd Stöver: Geschichte Berlins. München 2010, S. 73 f.; Norman M. Naimark: Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949. Berlin 1999, S. 17–19, 54–65, 70–85, 295–305, 316–373; Manfred Görtemaker: Deutschland im Ost-West-Konflikt. In: Georg Herbstritt, Helmut Müller-Enbergs
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Entsprechend ihrer geostrategischen Interessen hatten die Besatzungsmächte in Deutschland den Aufbau von zwei gegensätzlichen politischen Systemen angestoßen und begleitet, der 1949 in die Gründung von zwei deutschen Staaten mündete. Beide Staaten sahen sich als Kernstaat eines wiederzuvereinigenden Deutschlands, beiden fehlten aber zu diesem Schritt Macht und Mittel. Vorrang erhielten daher der Aufbau und die Sicherung des eigenen Teilstaates unter Obhut und Kontrolle der jeweiligen Schutzmächte – mit der Option, auf diesem Weg eine Wiedervereinigung zu erreichen. Diese Politik trug zur Vertiefung der Teilung Deutschlands bei und führte zu einer besonderen Bewährungs- und Konkurrenzsituation, in der beide Staaten die Bevölkerung für das eigene politische System zu gewinnen versuchten.3 Dem SEDRegime fehlte in gravierendem Maße die Zustimmung in der eigenen Bevölkerung, die auch die Einbindung in das sowjetische Imperium größtenteils ablehnte. Die Ablehnung der kommunistischen Herrschaft fand ihren Ausdruck im Protest – vor allem im Volksaufstand im Juni 1953 – und in der Massenflucht. Diese Abstimmung mit den Füßen war eine unmittelbare Reaktion auf den Aufbau des Sozialismus, der mit gravierenden ökonomischen Problemen, einer schlechten Versorgungslage, Bevormundungen und Repressionen einherging. Erst mit der totalen Abriegelung der Grenzen – zunächst der innerdeutschen Grenze 1952 und dann dem Bau der Mauer in Berlin 1961 – konnte das SED-Regime dieses existenzbedrohende Phänomen unterbinden. Der Sehnsuchtsort und das Fluchtziel für große Teile der DDR-Bevölkerung war und blieb die Bundesrepublik. Die Lebensumstände, die der wirtschaftliche Erfolg und die freiheitlich-demokratische Grundordnung dort in Aussicht stellten, übten eine große und dauerhafte Anziehungskraft aus. Die unmittelbare Systemkonkurrenz nahm aber nicht nur die SED-Herrschaft als Bedrohung wahr, sondern auch die junge Bundesrepublik. Nicht zuletzt aufgrund der massiven bzw. als solche wahrgenommenen Bedrohung durch den sowjetischen Machtbereich erfreute sich die Politik der Westintegration in der bundesdeutschen Gesellschaft großer Zustimmung. Die Angst vor einer politischen Unterwanderung und Destabilisierung der jungen Republik durch den Kommunismus schürte zudem einen Antikommunismus, der von staatlicher
(Hg.): Das Gesicht dem Westen zu … DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 14–33, hier 15–19; Gerhard Wettig: Die Vereinbarungen der Siegermächte über Berlin und die Deutschlandpolitik der UdSSR 1943–45. In: Michael Bienert, Uwe Schaper, Andrea Theissen (Hg.): Die Vier Mächte in Berlin. Beiträge zur Politik der Alliierten in der besetzten Stadt. Berlin 2007, S. 17–29, hier 19–35; Thamer: Diktaturen, S. 11 f. 3 Vgl. Hermann Wentker: Die gesamtdeutsche Systemkonkurrenz und die durchlässige innerdeutsche Grenze. In: Dierk Hoffmann, Michael Schwartz, Hermann Wentker (Hg.): Vor dem Mauerbau. München 2003, S. 59–75, hier 63; Görtemaker: Deutschland, S. 14–16; Michael Lemke: Die Berlin-Krise 1958 bis 1963. Berlin 1995, S. 21 f.
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Seite forciert wurde und angesichts der freiheitlich-demokratische Grundordnung ein bedenkliches Ausmaß annahm.4 Diese Bedrohungsgefühle prägten die Atmosphäre in der geteilten Stadt Berlin, wo die beiden politischen System auf engstem Raum aufeinanderstießen. Gemäß ihrer Berliner Deklaration vom 5. Juni 1945 hatten die vier alliierten Mächte Frankreich, Großbritannien, die USA und UdSSR die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernommen, die in der jeweiligen Besatzungszone von dem militärischen Oberbefehlshaber ausgeübt werden sollte. Berlin wurde zum Sitz der Alliierten Kommandantur zur gemeinsamen Verwaltung der in vier Sektoren geteilten Stadt und des übergeordneten Alliierten Kontrollrats, der eine gemeinsame Deutschlandpolitik gewährleisten sollte.5 Die erste Berlin-Krise 1948/496 führte bereits zum Ende der gemeinsamen Administration der Stadt, die allerdings auch von Anfang an schwerfällig funktionierte. Nachdem sich die sowjetischen Vertreter bereits im März 1948 aus dem Alliierten Kontrollrat zurückgezogen hatten, verließen sie drei Monate später auch die interalliierte Kommandantur. Die drei Westmächte hielten an diesem Gremium fest und entzogen der Sowjetunion das Mitspracherecht, da diese für ihren Sektor keine gemeinsame Verwaltung duldete. Zur Sicherung des alliierten Status Berlins definierten die drei Westmächte nach dem Ende der Berliner Blockade in dem »Kleinen Besatzungsstatut« vom Mai 1949 die Sonderrolle der geteilten Stadt, für die sie im Mai 1955 in einem neuen Statut weitere Regelungen trafen: West-Berlin wurde zwar in das Ordnungs- und Wirtschaftssystems der Bundesrepublik eingebunden, galt aber nicht als reguläres Land der Bundesrepublik. Bundesregierung und Bundestag, an dessen Wahl Westberliner nicht teilnahmen, hatten hier nur beratende Wirkung. Bundesgesetze mussten vom Berliner Abgeordnetenhaus gesondert verabschiedet werden. Bis 1990 unterlag der Westteil Berlins einem alliierten Rechtsvorbehalt – ebenso wie der Ostteil bis in die 1970er Jahre.7 Mit ihrer Verfassung vom Oktober 1949 hatte die DDR Berlin, das mitten in ihrem Territorium 4 Vgl. Lemke: Berlin-Krise, S. 47 f.; Görtemaker: Deutschland, S. 17; Creuzberger: Kampf, S. 16; Creuzberger: BMG, S. 27–33; Stöver: Der Kalte Krieg, S. 232 f.; Josef Foschepoth: Rolle und Bedeutung der KPD im deutsch-deutschen Systemkonflikt. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56(2008)11, S. 889–909; Till Kössler: Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1968. Bonn 2005, S. 223–297, 315–369, 435–446. 5 Vgl. Wettig: Vereinbarungen, S. 19; Ribbe: Berlin, S. 28–30. Zur SMAD vgl. Naimark: Russen, S. 30–34, 75–85. 6 In Reaktion auf die Währungsreform in den Westzonen Berlins im Juni 1948 blockierte die Sowjetunion sämtliche Zufahrts- und Versorgungswege in die Stadt. Die Westmächte, die ihre Rechte in der geteilten Stadt nicht preisgeben wollten, organisierten eine Luftbrücke. Nach fast einem Jahr beendete die Sowjetunion Ende Mai 1949 die Blockade. Vgl. Stöver: Geschichte Berlins, S. 76 f.; Bernd von Kostka: Die Berliner Luftbrücke 1948/49. In: Michael Bienert, Uwe Schaper, Andrea Theissen (Hg.): Die Vier Mächte in Berlin. Berlin 2007, S. 81–92. 7 Vgl. Stöver: Geschichte Berlins, S. 83; Michael Lemke: Vor der Mauer. Berlin in der OstWest-Konkurrenz 1948 bis 1961. Köln/Weimar/Wien 2011, S. 30 f.; Ribbe: Berlin, S. 85 f.
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lag, zur »Hauptstadt der Republik« erkoren. Ost-Berlin war als Regierungssitz fest im politischen, wirtschaftlichen und sozialen System der DDR verankert, aber in rechtlicher Hinsicht nicht Teil von ihr. Auch hier mussten Gesetze der DDR gesondert vom Ostberliner Magistrat verabschiedet werden. Zur Vermeidung von Konflikten mit den Westmächten hielt die sowjetische Besatzungsmacht ebenfalls am rechtlichen Sonderstatus Berlins fest. Die DDRRegierung drängte jedoch auf eine Lösung der Berlin-Frage, die für sie von existenzieller Bedeutung war und angesichts des fortschreitenden Zerfalls des ostdeutschen Satellitenstaates auch von der Sowjetunion im eigenen Interesse als notwendig erachtet wurde. Vor diesen Hintergründen erstrebte die Sowjetunion in der zweiten Berlin-Krise nach Chruschtschows Berlin-Ultimatum 1958 daher die Umwandlung West-Berlins in eine »Freie Stadt«. Die irreführende Bezeichnung verschleierte die Absicht der Sowjetunion, die westalliierten Rechte in Berlin infrage zu stellen und die Eingliederung WestBerlins in ihren Machtbereich zu erzwingen. Die sowjetische Drohkulisse war der Abschluss eines separaten Friedensvertrages mit der DDR, die in diesem Rahmen sämtliche Rechte und damit die volle Souveränität erhalten würde. Für die Westmächte und die Bundesrepublik war eine Aufgabe West-Berlins keine Option, unter allen Umständen sollte die dortige westliche Präsenz aufrecht erhalten werden. In einer Rundfunk- und Fernsehansprache benannte der amerikanische Präsident John F. Kennedy im Juli 1961 mit Blick auf West-Berlin »three essentials«, um die es zu kämpfen gelte: eine Freiheitsgarantie für die Westberliner Bevölkerung, die Präsenz westlicher Truppen und ein gesicherter Zugang zur Stadt. Dass er von diesen Ansprüchen keinesfalls abweichen würde, hatte er Chruschtschow Anfang Juni 1961 bei einem Gipfeltreffen in Wien deutlich gemacht. Allerdings hatte er auch nicht verheimlicht, bei Veränderungen im sowjetischen Einflussbereich stillzuhalten. Die zweite Berlin-Krise gipfelte daher im Mauerbau im August 1961 und entschärfte sich zugleich weitgehend. Mit der Lösung der Kuba-Krise 1962 fand sie ihr Ende. Eine Gewährleistung der »three essentials« wurde aber erst 1972 im Rahmen des Vier-Mächte-Abkommens vertraglich geregelt.8 Mitten in der DDR gelegen, war West-Berlin ein steter Dorn im Auge der SED-Führung, da der Sonderstatus der geteilten Stadt sowohl politisch als auch wirtschaftlich gravierende Schäden für die DDR anrichtete und destabilisierend wirkte. Die konkurrierenden politischen Systeme suchten jeweils in ihrer Hälfte der Stadt ihren Erfolg zu demonstrieren, das Schaufenster in West-Berlin verfügte jedoch über eine größere Leucht- und Anziehungskraft. 8 Vgl. Lemke: Vor der Mauer, S. 31 f., 225–229, 258–263, 620–622; Lemke: Berlinkrise, S. 96–101, 274–277, 280 f.; Stöver: Geschichte Berlins, S. 72–78, 82–84, 95; ders.: Der Kalte Krieg, S. 129–138; Manfred Wilke: Der Weg zur Mauer. Stationen der Teilungsgeschichte. Berlin 2011, S. 196–373; Ribbe: Berlin, S. 87–91, 114–117.
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Zwar kamen Westberliner nach Ost-Berlin, um sich dort infolge des günstigen Wechselkurses mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen und Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Für die Bevölkerung im Ostteil der Stadt spielte West-Berlin mit seinen Versorgungsmöglichkeiten, kulturellen Angeboten und besseren Verdienstmöglichkeiten jedoch eine weitaus wichtigere Rolle. Nach der Abriegelung der innerdeutschen Grenze im Mai 1952 bot die noch relativ leicht passierbare Grenze in Berlin zudem eine Fluchtmöglichkeit, die Hundertausende Menschen aus Ost-Berlin und der DDR nutzten.9 Mit den Menschen, die die durchlässige Grenze passierten, gelangten auch Informationen in den anderen Teil der Stadt und damit in das Lager des politischen Gegners. Nichtstaatliche und staatliche Organisationen machten sich diesen Umstand für ihre Tätigkeiten zunutze. West-Berlin war ein Sammelbecken für politische Gegner des SEDRegimes, von denen viele vor der massiven Repression in der DDR geflohen waren. Sie schlossen sich zu antikommunistischen Vereinigungen zusammen und wählten West-Berlin aufgrund der Nähe zum kommunistischen Machtbereich als Ausgangsbasis ihrer Widerstandstätigkeit.10 Exemplarisch können hier nur einige dieser nichtstaatlichen Gruppierungen genannt werden. Bereits im Oktober 1949 gründete sich der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ), der Rechtsverletzungen in der DDR dokumentierte und öffentlichkeitswirksam anprangerte. Im Sinne seiner Dokumentationsund Informationsabsichten sammelte der UFJ Informationen und Material aus der Verwaltung und Justiz, aber auch aus der Wirtschaft und Gesellschaft der DDR. Zu diesem Zweck knüpfte er in der DDR ein Netz aus Informanten und nutzte die Erkenntnisse, die er im Rahmen der juristischen Beratung erhielt, welche er Flüchtlingen oder Hilfesuchenden aus der DDR zukommen ließ. Er setzte sich zudem für politische Häftlinge ein und fungierte als Gutachter bei der Anerkennung von politischen Flüchtlingen und bei deren Einstellung in den Staatsdienst.11
9 Vgl. Lemke: Vor der Mauer, S. 11, 177–181; ders.: Berlinkrise, S. 97; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 60–64; Roggenbuch, Frank: Das Berliner Grenzgängerproblem. Verflechtung und Systemkonkurrenz vor dem Mauerbau. Berlin 2008, S. 25–27, 436–438. 10 Vgl. Engelmann: Ost-West-Bezüge, S. 169 f.; Hubertus Knabe: Opposition in einem halben Land. Zur Interdependenz politischen Widerspruchs in beiden deutschen Staaten. In: Ehrhart Neubert, Bernd Eisenfeld (Hg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Bremen 2001, S. 143–168, hier 145 f., 161. 11 Vgl. Frank Hagemann: Die Drohung des Rechts. Der Kampf des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen gegen die DDR. In: Klaus-Dietmar Henke, Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hg.): Widerstand und Opposition in der DDR. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 193–205; Siegfried Mampel: Der Untergrundkampf des Ministeriums für Staatssicherheit gegen den Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen in Berlin (West). Berlin 41999; Keith R. Allen: Befragung – Überprüfung – Kontrolle. Die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen in West-Berlin bis 1961. Berlin 2013, S. 49–51, 121– 162; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 89–92, 97.
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Zu den zentralen und in West-Berlin agierenden antikommunistischen Organisationen gehörten ferner die Ostbüros von SPD, CDU und FDP sowie des DGB, mit deren Gründung die bundesdeutschen Parteien auf die politische Gleichschaltung und Verfolgung in der SBZ/DDR reagierten. In der Erwartung einer baldigen Wiedervereinigung, die anfangs noch weit verbreitet war, engagierten sie sich in der Verbindungsarbeit zu ihren Parteigefährten und Sympathisanten in der DDR sowie in der Informationsbeschaffung. In dieser Hinsicht profitierten sie von ihrer Funktion als Anlaufstelle für politische Flüchtlinge, deren Betreuung die originäre Aufgabe der Ostbüros war. Zudem beteiligten sie sich an der publizistischen Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur und der Herstellung von Informationsmaterial, das in Form von Zeitungen und Flugblättern in der SBZ/DDR verbreitet wurde – anfangs mittels Post, Kuriere und über V-Leute, spätestens ab Mitte der 1950er Jahre vor allem mithilfe von Gasballons.12 Eine karitative Ausrichtung hatte die 1949 ins Leben gerufene Vereinigung Politischer Ostflüchtlinge (VPO) mit ihrer Zentrale in West-Berlin. Aber auch sie unterstützte gegnerische Kräfte in der DDR, vor allem aus dem bürgerlichen Lager. Denn die Gründer waren aus der SBZ geflohene CDUFunktionäre, unter ihnen auch der erste Leiter des CDU-Ostbüros Werner Jöhren. Ihre Kontakte im Netzwerk der antikommunistischen Organisationen erstreckten sich in alle Richtungen, sodass sie eine Vermittlerposition einnahm zwischen Flüchtlingsbetreuungsstellen, kirchlichen Verbänden, Ostbüros und UFJ, aber ebenso radikaleren Gruppierungen wie der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) oder dem exilrussischen, rechtsextremen Narodno Trudowoj Sojus (NTS).13 Die KgU gehörte zu den militantesten Gruppierungen im antikommunistischen Netzwerk in der Bundesrepublik. Sie suchte nicht nur durch propagandistische Arbeit (Flugblätter, Kundgebungen, Vorträge u. a.), sondern auch durch Sabotage, Brand- und Sprengstoffanschläge das SED-Regime zu destabilisieren. »Nichtstun ist Mord« lautete die Devise dieser 1948 gegründeten Vereinigung, die im aktiven Widerstand gegen ein Unrechtsregime eine moralische Verpflichtung sah. »In ihr verband sich«, so Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann, »eine ausgeprägte ethische Fundierung und eine zunächst starke karitative Ausrichtung mit besonders intensiven geheimdienstlichen Verbindungen«.14 Das originäre Tätigkeitsfeld der KgU war ein Suchdienst für 12 Vgl. Buschfort: Parteien, S. 29–68, 79–142, 213–237; Wolfgang Buschfort: Die Ostbüros der Parteien in den 50er Jahren. Berlin 1998, S. 29–76; ders.: Die Ostbüros und der Mauerbau. In: Heiner Timmermann (Hg.): Die DDR zwischen Mauerbau und Mauerfall. Münster/Hamburg/London 2003, S. 529–542; Creuzberger: Kampf, S. 143 f., 264–256; Stöver: Befreiung, S. 258–269. 13 Vgl. Creuzberger: Kampf, S. 144; Stöver: Befreiung, S. 269 f. Zu den verschiedenen Emigrantenorganisationen vgl. Stöver: Befreiung, S. 283–360. 14 Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 80 f.
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Insassen von Speziallagern des NKWD/MWD oder Haftanstalten in der SBZ. Die Informationen, die in diesen Suchdienst flossen, stammten vor allem aus Befragungen von entlassenen Häftlingen und Flüchtlingen. Im Frühjahr 1949 schuf die KgU sodann die Infrastruktur für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit. Gewonnene Informationen – nicht nur über Festnahmen und Verurteilungen, sondern auch aus den Bereichen Politik, Polizei, Militär und Wirtschaft in der SBZ/DDR – flossen in eine Zentralkartei, die nachrichtendienstliche Maßgaben entsprach und nach der Auflösung der KgU 1959 vom BND übernommen wurde. Ihre Auflösung war auf Initiative des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen und des Berliner Senats erfolgt. Mit ihrer Militanz, ihren zweifelhaften Aktionsformen und dem undurchsichtigen Aufbau ihrer Organisation hatte sich die KgU bereits in der ersten Hälfte der 1950er Jahre ins Abseits manövriert. In der Wahrnehmung der bundesdeutschen Öffentlichkeit verschwanden ihre Erfolge auf propagandistischem und karitativem Gebiet hinter der Diskussion über ihre Aktionsformen.15 Der Bedeutungsverlust oder sogar Niedergang der antikommunistischen Organisationen Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre veranschaulicht ihre Abhängigkeit von dem politischen Klima. Im kollektiven Gefühl der Bedrohung zu Beginn des Ost-West-Konfliktes verband alle Gruppierungen ein antikommunistischer Konsens, der von großen Teilen der Gesellschaft mitgetragen wurde. Nachdem auf politischer Ebene der Kurs der kompromisslosen Konfrontation aufgegeben wurde und sich die Ansicht durchsetzte, sich mit der DDR arrangieren oder sie gar anerkennen zu müssen, wurden die antikommunistischen Organisationen zu Störfaktoren in der Annäherung. Ihre Arbeitsweisen und Methoden wurden in der Öffentlichkeit nunmehr kritischer hinterfragt – vor allem mit Blick auf die verfolgten und verhafteten Menschen als Opfer ihrer Tätigkeit. Staatliche Unterstützer wie das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, das in den 1950er Jahren mit zahlreichen antikommunistischen Organisationen in engem Kontakt stand und diese zum Teil auch finanziell unterstützte, zogen sich zurück. Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen wurde im September 1949 eingerichtet und mit der Aufgabe betraut, eine Wiedervereinigung Deutschlands zu fördern und vorzubereiten. Als eine Art deutschlandpolitisches Informationsamt sammelte es Nachrichten über die politische und wirtschaftliche Entwicklung sowie das staatliche Repressionssystem in der DDR, um diese an die Bundesregierung 15 Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 83–88; Engelmann: Kampfgruppe, S. 183–192; Stöver: Befreiung, S. 274–281, 536–539, 539–543; Heitzer: Affäre Walter, S. 20–30, 36–46, 54–60, 107–112; Finn: Nichtstun, S. 15–21, 34–52, 119–124; Kai-Uwe Merz: Kalter Krieg als antikommunistischer Widerstand. Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit 1948–1959. München 1987, S. 48–54, 68–71; Creuzberger: Kampf, S. 212–219; Allen: Befragung, S. 48–120. Nach neuesten Forschungsergebnissen von Enrico Heitzer, die er 2013 in seiner Dissertationsschrift veröffentlichen wird, stellte die CIA die Unterstützung der KgU erst 1960 ein.
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und Öffentlichkeit weiterzugeben. An entsprechendes Material gelangte es über einen wechselseitigen Informationsaustausch mit den antikommunistischen Vereinigungen, aber auch mit in- und ausländischen Geheimdiensten. Da Letztere wiederum selbst an den Organisationen interessiert waren, kam es nicht selten zu Interessenskonflikten zwischen dem Bundesministerium und vor allem dem amerikanischen Geheimdienst. Denn dieser griff angesichts des sich verschärfenden Ost-West-Konfliktes immer wieder ohne Absprache auf die sich anbietenden nichtstaatlichen Organisationen zurück. Erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurde dieses Konfliktpotenzial durch eine engere und transparentere Zusammenarbeit zwischen US- und bundesrepublikanischen Regierungsbehörden gemindert. Der Staatssekretär im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen Franz Thedieck brachte allerdings noch 1958 – mit Blick auf den UFJ – in Gesprächen mit den Verbindungsleuten der CIA das Unbehagen über die nachrichtendienstliche Nutzung der Tätigkeiten antikommunistischer Vereinigungen in West-Berlin sowie der Bundesrepublik und der damit einhergehenden Gefährdung von Menschen in der DDR zum Ausdruck. Grundsätzlich lehnte das Bundesministerium Spionage aus sicherheitspolitischen Interessen nicht ab, diese sollte jedoch keine Menschen gefährden und jenseits der öffentlichen Wahrnehmung erfolgen.16 Es entbehrte also nicht jeglicher Plausibilität, dass das SED-Regime die antikommunistischen Gruppierungen als »Spionagezentralen« brandmarkte – auch wenn dieser Vorwurf ein Ausdruck der uferlosen Ausweitung des Straftatbestandes Spionage durch das SED-Regime ist. Sie bildeten ein »informelles Netz der Befreiungspolitik«17, viele von ihnen standen in Kontakt mit westlichen Geheimdienststellen und erhielten von diesen – vor allem von USamerikanischer Seite – auch finanzielle Unterstützung. Schließlich verfügten sie über zahlreiche Informationen, die für westliche Geheimdienste von großem Interesse waren, und ihre Aktivitäten entsprachen der BefreiungspolitikStrategie. Die Widerstandsarbeit dieser Organisationen wurde in unterschiedlichem Ausmaße geheimdienstlich instrumentalisiert.18 Der FDP-Abgeordnete Erich Mende kritisierte 1958 in einer Bundestagssitzung die Präsenz und Tätigkeit der Geheimdienste in der Bundesrepublik wie folgt: »Deutschland ist in der Nachkriegszeit geradezu ein Tummelplatz für Agentenzentralen, und Berlin ist ein Umschlagplatz für den Nachrichtenhandel geworden. In bei-
16 Im Jahr 1952 verfügte das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen über Kontakte zu rund 400 privatrechtlichen, antikommunistischen Organisationen. Vgl. Creuzberger: Kampf, S. 56– 60, 135–153, 197–237, 254–300, 532–537; Stöver: Befreiung, S. 361–364. 17 Stöver: Befreiung, S. 269. 18 Vgl. Stöver: Befreiung, S. 250; Creuzberger: Kampf, S. 140, 216; Engelmann: Ost-WestBezüge, S. 172; Fricke: Spionage als antikommunistischer Widerstand, S. 565 f.
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den Teilen Deutschlands steigert man propagandistisch gegenseitig die Spionenfurcht, […] Wir Freien Demokraten wissen, daß kein moderner Staat auf das Mittel nachrichtendienstlicher Tätigkeit zu seinem Schutz ganz verzichten kann. Wir glauben aber, daß es an der Zeit ist, der Überwucherung nachrichtendienstlicher Tätigkeit Einhalt zu gebieten. Dies gilt insbesondere hier für das zweigeteilte Berlin, in dem neben der legalen nachrichtendienstlichen Tätigkeit sogenannte halbamtliche private Nachrichtendienste auf eigene Faust ihr Unwesen treiben. Die Bundesregierung wird daher von von aufgefordert, mit Vertretern aller vier Mächte über die diplomatischen Verbindungen in Verhandlungen zu treten, um der nachrichtendienstlichen Tätigkeit dieser Mächte auf deutschem Boden gewisse Grenzen zu setzen.«19
Angesichts des unmittelbaren Aufeinanderstoßens der beiden Machtblöcke und des sich verschärfenden Konfliktes zwischen ihnen rückte das geteilte Deutschland in den Mittelpunkt der nachrichtendienstlichen Tätigkeit und geheimdienstlichen Operationen. Eine besondere Rolle nahm dabei die geteilte Stadt Berlin ein, der im »Wettkampf der Systeme […] eine neue Rolle als Frontstadt«20 zukam und die zur Drehscheibe der internationalen Spionage wurde. Mit Blick auf West-Berlin konstatierte der Leiter der dortigen Außenstelle des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen, Karl Magen, im Februar 1953 vor dem Gesamtdeutschen Ausschuss des Bundestages: »West-Berlin ist für die Menschen des sowjetischen Besatzungsgebietes der seelische Halt, an den sie sich klammern und von dem sie neue Impulse in ihrem Widerstand gegen die östlichen Ideologen empfangen. West-Berlin ist zugleich nicht nur das Schaufenster des Westens nach dem Osten, sondern gleichzeitig auch der vorgeschobene Beobachtungsposten nach der Sowjetzone.«21
Die Westmächte hatten diesen Wert West-Berlins erkannt und dort gleich nach ihrem Einrücken im Juli 1945 entsprechende Kräfte wie ihre Nachrichtendienste stationiert. Im Ostteil Berlins waren sowjetische Geheimpolizeiund Spionagedienste präsent, die ihrerseits die geteilte Stadt als Beobachtungsposten gen Westen nutzten. In beiden Teilen Berlins siedelten sich weitere Geheimdienste verbündeter Staaten aus den jeweiligen Machtblöcken an. Auch die Geheimdienste der beiden deutschen Staaten bezogen hier Stellung. Die noch durchlässige Grenze in Berlin erleichterte den Einsatz von Agenten und Informanten und zudem ließen sich die Flüchtlingsströme von Ost nach West für geheimdienstliche Zwecke nutzen. Für die westlichen Geheimdienste 19 Protokoll der 41. Sitzung des 3. Deutschen Bundestages vom 1.10.1958. PA-DBT 3001 3. WP, Stenographische Berichte Bd. 42, S. 2391–2428, hier 2417. 20 Stöver: Geschichte Berlins, S. 75. 21 Zit. in: Creuzberger: Kampf, S. 126.
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bedeuteten sie ein breites Spektrum an Informationen, für Geheimdienste des kommunistischen Machtbereichs boten sie eine gute Gelegenheit, Agenten in den Westen zu schleusen.22 Eine dominierende Rolle unter den westlichen Geheimdiensten nahmen die US-Amerikaner ein. Zunächst war es vor allem das Counter Intelligence Corps (CIC) als Aufklärungs- und Abwehrorganisation der US-Streitkräfte, das in der unmittelbaren Nachkriegszeit die amerikanischen Besatzungszonen in West-Berlin und West-Deutschland als Ausgangsbasis nutzte. In den 1950er Jahren übernahm immer mehr der 1947 gegründete zivile Auslandsaufklärungsdienst Central Intelligence Agency (CIA) die nachrichtendienstlichen Aktivitäten der USA gegen die DDR und andere Ostblockstaaten. Die CIA widmete sich nicht nur der Nachrichtenbeschaffung, sondern auch der Durchführung von »verdeckten Operationen«, die einer Durchsetzung von politischen Zielen mit geheimdienstlichen Mitteln dienen sollten.23 Der britische Geheimdienst baute in West-Berlin Dienststellen seiner beiden Instanzen Military Intelligence No. 5 (MI 5) für den Aufgabenbereich Spionageabwehr und Gegenspionage und Military Intelligence No. 6 (MI 6) als militärischer Aufklärungsdienst auf.24 Für die französische Besatzungsmacht, deren Nachrichtenoffiziere auch bereits mit den kämpfenden Truppen nach Deutschland gekommen waren, operierten ihr 1946 eingerichteter Service de Documentation Extérieure et de Contre-Espionage (SDECE) – mit dem Zuständigkeitsbereich Auslandsaufklärung und Gegenspionage – und der Nationale Sicherheitsdienst Sûreté Nationale (SN), der Service des Renseignements Militaires (SR) und die Sûreté Militaire in Berlin.25 Die Tätigkeiten der westlichen Geheimdienste richteten sich zunächst in erster Linie auf die Verfolgung von NSund Kriegsverbrechern. Angesichts des einsetzenden Ost-West-Konfliktes rückte allerdings schnell die nachrichtendienstliche Aufklärung des sowjetischen Machtblocks in den Vordergrund. Angewiesen waren die westlichen Dienste dabei auch auf Zuträger, Informanten und Mitarbeiter aus der deutschen Bevölkerung – etwaige Verstrickungen in der NS-Diktatur oder in NSVerbrechen standen einer solchen Indienstnahme oft nicht entgegen.26 22 Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 64. 23 Zu »verdeckten Operationen« zählten neben der Spionage und Gegenspionage vor allem Sabotage, finanzielle oder militärische Unterstützung von Gruppen, Umsturzversuchen und Attentaten. Vgl. Stöver: Der Kalte Krieg, S. 116, 166–177; Weiner: CIA, S. 52–66, 102–104, 117–121, 173 f.; Karabell: CIA, S. 74–77; Roewer/Schäfer/Uhl: Lexikon der Geheimdienste, S. 91–93, 110, 329, 333. 24 Vgl. Roewer/Schäfer/Uhl: Lexikon der Geheimdienste, S. 86, 296 f., 347 f.; Christopher Andrew: The Defence of the Realm. The Authorized History of MI 5. London 2009, S. 321–502. 25 Vgl. Pierre Jardin: Französischer Nachrichtendienst in Deutschland in den ersten Jahren des Kalten Krieges. In: Wolfgang Krieger, Jürgen Weber (Hg.): Spionage für den Frieden? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Kriegs. München/Landsberg 1997, S. 103–118. 26 Als Beispiel sei hier auf den ehemaligen Gestapo-Chef von Lyon Klaus Barbie verwiesen, der für den Abwehrdienst der US-Armee CIC tätig wurde. Vgl. Dieter Krüger, Armin Wagner: Im Span-
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Deutlich wird dies am Aufbau der Organisation Gehlen bzw. des Bundesnachrichtendienstes (BND) als bundesdeutsche Geheimdienststelle. Benannt war sie nach ihrem Leiter Reinhard Gehlen, der im Zweiten Weltkrieg der 12. Abteilung (Fremde Heere Ost) im Oberkommando der Wehrmacht vorgestanden hatte und Chef der nachrichtendienstlichen Aufklärung der Ostfront gewesen war. In Erkenntnis der bevorstehenden Niederlage des »Dritten Reiches« hatte er seit Anfang 1945 mit der Sicherung des gesammelten Nachrichtenmaterials über die Sowjetunion und ihrer Verbündeten begonnen, dieses über das Kriegsende gerettet und den US-Amerikanern angeboten. So kehrte er im Juli 1946 nach West-Deutschland zurück und reaktivierte mit USamerikanischer Unterstützung seinen alten nachrichtendienstlichen Apparat für die militärische Aufklärungsarbeit im Osten Europas. Dabei griff er auch auf Spezialisten aus dem NS-Reichssicherheitshauptamt zurück – mit Wissen und unter der Kontrolle der US-Amerikaner. Die Organisation baute Filialen in West-Berlin, Kontakte in der SBZ und eine nachrichtendienstliche Infrastruktur (mit V-Leuten, Kurieren, Funkern etc.) auf und erweiterte ihr Tätigkeitsfeld: In erster Linie sollte sie Aufklärungsarbeit im militärischen Bereich leisten, lieferte zunehmend aber auch Informationen politischer und wirtschaftlicher Natur. Schon früh suchte Gehlen den Kontakt zur Bundesregierung der jungen Bundesrepublik, um seine Organisation als ihren zentralen Geheimdienst zu empfehlen. Seine Bemühungen hatten Erfolg: Nach einem Treffen mit Bundeskanzler Konrad Adenauer wurde Gehlen Ende 1950 informiert, dass eine Überführung seiner Organisation in die Verantwortung des Bundes beabsichtigt sei. Dies geschah schließlich im Juli 1955, sie wurde dem Bundeskanzleramt unterstellt und im Frühjahr 1956 zum Bundesnachrichtendienst (BND) umbenannt.27 In der jungen Bundesrepublik fiel im September 1950 auf west-alliierte Weisung mit der Verabschiedung des Verfassungsschutzgesetzes aber auch die Entscheidung für den Aufbau eines weiteren Geheimdienstes: das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Zwischen der Organisation Gehlen und dem Verfassungsschutz entspann sich ein Konkurrenzkampf, der nicht nur auf die Inanspruchnahme von Aufgabengebieten beruhte, sondern auch mit den Biografien ihrer Führungsspitzen zusammenhing. Mit dem Amt des Verfassungsschutzpräsidenten wurde im Dezember 1950 nämlich Otto John betraut, der nungsfeld von Demokratie und Diktatur. In: dies. (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 7–31, hier 21. 27 Vgl. Stöver: Befreiung, S. 250–254; Müller/Mueller/Schmidt-Eenboom: Freund, S. 17–64, 74–98, 106–115; Karabell: CIA, S. 72–76; Weiner: CIA, S. 75 f. Zur Biografie von Gehlen vgl. Dieter Krüger: Reinhard Gehlen (1902–1979). Der BND-Chef als Schattenmann der Ära Adenauer. In: Dieter Krüger, Armin Wagner (Hg.): Konspiration als Beruf. Berlin 2003, S. 207–236; Wolfgang Krieger: »Dr. Schneider« und der BND. In: ders.: Geheimdienste in der Weltgeschichte. München 2003, S. 230–247.
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zum Widerstandskreis vom 20. Juli 1944 gehört hatte und nach seiner Flucht für einen britischen Soldatensender und nach Kriegsende im Political Information Department des Foreign Office in London tätig geworden war. Im Sommer 1946 wechselte er als Mitarbeiter in die britische Control Commission for Germany and Austria (CCGA), wo er an der Entnazifizierung beteiligt war, indem er Kriegsgefangene überprüfte. Im britischen Kriegsverbrecherprozess gegen Erich von Manstein 1948/49, der mit der Verurteilung des ehemaligen Generals und Oberbefehlshabers im Krieg gegen die Sowjetunion endete, assistierte er den Anklägern als Jurist. Mit dieser Biografie stieß John vor allem im rechtskonservativen Lager auf Abneigung und auch auf US-amerikanischer Seite begegnete man ihm mit Skepsis. In den Augen der britischen und französischen Besatzungsmächte war er allerdings ein geeignetes Gegengewicht zur Organisation Gehlen mit ihrer Vielzahl an Mitarbeitern mit NSVerstrickungen und engen Verbindung zu US-amerikanischen Diensten.28 Das Konkurrenzverhältnis zur Organisation Gehlen, die im Bereich der Inlandsaufklärung zu ›wildern‹ begann, führte zu wechselseitigen Verdächtigungen und Bespitzelungen. Nach den Gedenkfeierlichkeiten zum zehnten Jahrestag des Hitler-Attentats im Juli 1944 verschwand John nach Ost-Berlin. Es war ein Triumph für Gehlen, der den Übertritt des VerfassungsschutzPräsidenten mit dem Satz »Einmal Verräter, immer Verräter«29 kommentierte. Nach seiner Rückkehr Ende des Jahres 1955 behauptete John, Opfer einer Entführung unter Anwendung von Betäubungsmitteln geworden zu sein. Sein Verhalten in der DDR wie der Auftritt auf einer weltweit beachteten Pressekonferenz in Ost-Berlin im August 1954, auf der er u. a. vermeintliche Kriegsvorbereitungen im Westen als Grund seines freiwilligen Übertritts anführte, ließ seine Version unglaubwürdig erscheinen. Gegen John wurde ein Verfahren wegen landesverräterischer Beziehungen eingeleitet, das allerdings nicht nur der Ahndung seines Aufenthaltes in der DDR, sondern auch einer politischen Abrechnung diente. Im Dezember 1956 verurteilte ihn der Bundesgerichtshof zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren, gut eineinhalb Jahre später wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen und kämpfte seitdem bis zu seinem Lebensende 1997 um seine Rehabilitierung.30
28 Vgl. Bernd Stöver: Otto John (1909–1997). Ein Widerstandskämpfer als Verfassungsschutzchef. In: Dieter Krüger, Armin Wagner: Konspiration als Beruf. Berlin 2003, S. 160–178; Stöver: Fall Otto John, S. 320–323; Gieseking: Fall Otto John, S. 23–93. 29 Zit. in: Stöver: Zuflucht DDR, S. 167; vgl. ders.: Otto John, S. 171; Krüger: Reinhard Gehlen, S. 224. 30 Im Verfahren gegen John widmete man sich dem Vorwurf, John sei in der NS-Zeit ein Agent der kommunistischen Widerstandsorganisation Rote Kapelle gewesen, und in der Urteilsbegründung tauchte seine Beteiligung am Manstein-Prozess 1949 auf. John sah in dem Urteil einen Racheakt von ehemaligen NS-Richtern. Vgl. Stöver: Zuflucht DDR, S. 167 f.; 180–184; ders.: Fall Otto John, S. 325 f.; Gieseking: Fall Otto John, S. 121–137, 161–368, 413–479.
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Die Konkurrenz im bundesdeutschen Nachrichtendienstmilieu der 1950er Jahre wurde durch einen weiteren Akteur angefacht: Friedrich Wilhelm Heinz. Der ehemalige Abteilungsleiter des Militärischen Nachrichtendienstes im Oberkommando der Wehrmacht unter Wilhelm Canaris hatte im Nachkriegsdeutschland einen schwunghaften Nachrichtenhandel betrieben, in dem er Amerikaner, Franzosen und Niederländer mit (zum Teil zweifelhaften) Informationen aus der SBZ bedient hatte. Im Jahr 1950 konsultierte ihn die Dienststelle Schwerin, die unter der Tarnbezeichnung Zentrale für Heimatdienst die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik vorbereitete, für den Aufbau eines militärischen Nachrichtendienstes. Mit der Übernahme der Zuständigkeit für Wehrfragen durch das Amt Blank (als Vorgängerorganisation des Bundesministeriums für Verteidigung) im Oktober 1950 wurde dort eine Nachrichtenabteilung unter Leitung von Friedrich Wilhelm Heinz eingerichtet. Die Organisation Gehlen und der Verfassungsschutz sahen im sogenannten FWH-Dienst einen weiteren Konkurrenten, zumal dieser bessere Ergebnisse in der gegen die DDR gerichteten Aufklärungsarbeit lieferte und Aufgaben des Verfassungsschutzes übernahm. In der Organisation Gehlen wurde Material über Heinz (wie über John) gesammelt und es gab die Anweisung, den FWH-Dienst zu boykottieren. Gehlen sah in Otto John und Friedrich Wilhelm Heinz in erster Linie Angehörige des Widerstandes und ehemalige Agenten kommunistischer Netzwerke. John lehnte Gehlen aufgrund seiner Verbindungen zum NS-Reichssicherheitshauptamt ab und misstraute Heinz wegen seiner rechtsradikalen Vergangenheit in der Weimarer Republik. In der Gegnerschaft gegen Heinz waren sich Gehlen und John also einig und versuchten, Heinz mit negativen Dossiers zu desavouieren. Die von beiden Institutionen erhobenen Vorwürfe wie Indiskretion, Unterschlagung und Ostkontakte u. a. führten im Herbst 1953 schließlich zur Entlassung von Friedrich Wilhelm Heinz. Der sowjetische Geheimdienst unternahm daraufhin mehrmals Werbeversuche, die er zunächst abwehrte. Im Dezember 1954, kurz nachdem Heinz wegen Meineides verurteilt worden war, erklärte er sich jedoch allem Anschein nach zum Überlaufen bereit. Einen Tag nach seinem Verschwinden tauchte er wieder im Westen auf und beteuerte, entführt worden zu sein. Die genauen Umstände seines Aufenthaltes in Ost-Berlin dürften in den Archiven des KGB verborgen sein. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit nahm Heinz' Version skeptisch auf, sodass auch er vergeblich auf eine Rehabilitierung hoffte. Als persona non grata in Ost und West überwachten ihn fortan die jeweiligen Geheimdienste: Der US-amerikanische CIC ließ ihn unter dem Verdacht der sowjetischen Agententätigkeit beobachten. Das MfS erwog 1956 seine Entführung mit einem anschließenden Schauprozess, entschied sich aber dagegen, da es einen größeren Schaden als Nutzen dieser Aktion fürchtete. Heinz' militärischer Nachrichtendienst verlor durch diverse Skandale seine Reputation sowie
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Bedeutung und musste sein Aufgabenfeld im Frühjahr 1956 schließlich an den Militärischen Abschirmdienst abtreten.31 Während diese westlichen Geheimdienste West-Berlin als Ausgangsbasis für nachrichtendienstliche Operationen in der SBZ/DDR und Osteuropa nutzten, waren die passierbaren Grenzen der geteilten Stadt ebenso den Geheimdiensten des sowjetischen Machtblocks in umgekehrter Richtung dienlich. Die sowjetische Besatzungszone war mit einem Geflecht aus Dienststellen des NKWD/MWD und NKGB/MGB überzogen, die mit der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) verknüpft waren. Das Volkskommissariat für Staatssicherheit NKGB (ab 1946 MGB) war 1943 durch die Ausgliederung der Hauptverwaltung für Staatssicherheit aus dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten NKWD (ab 1946 MWD) entstanden. In die Zuständigkeit des NKWD/MWD fiel die polizeiliche Sicherung des kommunistischen Regimes, während die geheimpolizeiliche Arbeit unter Federführung des NKGB/MGB erfolgte. Bis zur Bildung des KGB im März 1954, die zur strukturellen Konsolidierung des sowjetischen Sicherheitsapparates führte, konkurrierten diese Dienste um Zuständigkeiten und Kompetenzen.32 In der unmittelbaren Nachkriegszeit konzentrierten sich die sowjetischen Sicherheitsorgane zunächst auf die Verfolgung von Kriegsverbrechern, Funktionären des NS-Staatsapparates sowie der NSDAP und Wehrmachtsangehörigen der oberen Dienstränge. Mit der Installierung eines kommunistischen Regimes in der SBZ rückten aber immer mehr politische Gegner aus dem bürgerlichen sowie sozialdemokratischen Lager in das Visier der sowjetischen Sicherheitsorgane. Viele von ihnen wurden Opfer der Sowjetischen Militärtribunale (SMT), die eigentlich NS- und Kriegsverbrechen ahnden sollten, aber vorrangig Urteile gegen politische Gegner wegen »konterrevolutionärer Verbrechen« und Spionage fällten. Die SMT verurteilten bis 1955 mindestens 35 000 Menschen – 31 Vgl. Susanne Meinl: Friedrich Wilhelm Heinz (1899–1968). Verschwörer gegen Hitler und Spionagechef im Dienste Bonns. In: Dieter Krüger, Armin Wagner (Hg.): Konspiration als Beruf. Berlin 2003, S. 61–83; Susanne Meinl: Im Mahlstrom des Kalten Kriegs. Friedrich Wilhelm Heinz und die Anfänge der westdeutschen Nachrichtendienste 1945–1955. In: Wolfgang Krieger, Jürgen Weber (Hg.): Spionage für den Frieden? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Krieges. München 1997, S. 247–266; Stöver: Otto John, S. 171–174; ders.: Befreiung, S. 254–256; Krüger: Reinhard Gehlen, S. 224 f.; Müller/Mueller/Schmidt-Eenboom: Freund, S. 166–174, 218– 223; Ein Heldenlied. In: Der Spiegel, Nr. 47/1953, S. 9–15. 32 Zudem operierte auch noch die sowjetische Militäraufklärung GRU in Berlin. Vgl. Jan Foitzik, Nikita W. Petrow: Der Apparat des NKWD-MGB der UdSSR in Deutschland: Politische Repression und Herausbildung deutscher Sicherheitsorgane in der SBZ/DDR 1945–1953. In: dies. (Hg.): Die Sowjetischen Geheimdienste in der SBZ/DDR von 1945 bis 1953. Berlin 2009, S. 13–65, hier 13– 40; Foitzik: Terrorapparat, S. 16–24; Naimark: Russen, S. 441–445; Vladimir V. Sacharov, Dmitrij Filippovych, Michael Kubina: Tschekisten in Deutschland. Organisation, Aufgaben und Aspekte der Tätigkeit der sowjetischen Sicherheitsapparate in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (1945–1949). In: Manfred Wilke (Hg.): Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht. Berlin 1998, S. 293–335, hier 293–306; Kowalczuk: Stasi konkret, S. 43–45.
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etwa die Hälfte von ihnen bis Ende 1946 – vorwiegend zu Zwangsarbeitsstrafen von zehn bis 25 Jahren, die in den Speziallagern in der SBZ oder gar im sowjetischen GULag verbüßt werden mussten. Gegen fast 3 000 Personen sprachen die SMT Todesurteile aus, die in über 2 200 Fällen auch vollstreckt wurden.33 Die zum Teil willkürlichen Verhaftungen der sowjetischen Sicherheitsorgane belasteten das gesellschaftliche Klima in der sowjetischen Besatzungszone, das durch die nachwirkende NS-Propaganda, die Angst vor Vergeltung sowie die Plünderungen und Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit bereits antisowjetisch geprägt war. Massenhaft verschwanden Menschen, deren Angehörige ohne Nachricht über ihr Schicksal blieben, Berichte über Folter und Sterben in Kellern und Lagern verbreiteten sich. Mit Besorgnis registrierte die SMAD, aber auch die SED, dass sich die Stimmung in der deutschen Bevölkerung gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht stetig verschlechterte, und kritisierte die Verhaftungsexzesse.34 An diesen politischen Verfolgungen waren nicht nur sowjetische Sicherheitsorgane beteiligt, sondern auch ein neuer Polizeiapparat, dessen Aufbau die sowjetische Besatzungsmacht anleitete und kontrollierte. Zur Verfolgung politischer Straftaten entstand als Zweig der Kriminalpolizei eine politische Polizei mit der Bezeichnung K 5 – ein Vorläufer des MfS. Zwar handelte es sich bei der K 5 aufgrund der sowjetischen Dominanz bei der Verfolgung politischer Delikte nur um ein Hilfsorgan der sowjetischen Geheimpolizei, das aber mit großer Härte und Tatendrang agierte. Auf Initiative der SEDFührung, aber selbstredend erst nach Genehmigung von sowjetischer Seite, wurde 1949 aus der K 5 die Hauptverwaltung zum Schutze der Wirtschaft und der demokratischen Ordnung gebildet. Diese stand weiterhin unter enger Kontrolle des sowjetischen MGB, war aber nicht mehr der Kriminalpolizei zugeordnet, sondern direkt der Deutschen Verwaltung des Innern (DVdI) unterstellt. Diese Hauptverwaltung wurde im Februar 1950 per Gesetz in ein eigenes Kabinettressort umgewandelt: das Ministerium für Staatssicherheit. Der Aufbau des MfS erfolgte wiederum unter unmittelbarer Kontrolle und Anleitung durch das MGB. Mit dem Status von »Beratern« respektive »Instrukteuren« kontrollierten sowjetische Geheimdienstmitarbeiter die politische Zuverlässigkeit, den strukturellen Aufbau, Verfahrensweisen sowie Arbeitspraktiken und griffen mitunter auch direkt in operative Handlungen ein oder übernahmen diese sogar vollständig. Die Leitung des neu geschaffenen
33 Vgl. Bettina Greiner: Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland. Bonn 2010, S. 11–15, 28–33, 73–99, 106–127; Foitzik/Petrow: Apparat, S. 62 f.; Naimark: Russen, S. 438–441; Kowalczuk: Stasi konkret, S. 36 f. 34 Vgl. Naimark: Russen, S. 43–48, 86–168; Sacharov/Filippovych/Kubina: Tschekisten, S. 309–318; Foitzik/Petrow: Apparat, S. 36–39; Thamer: Diktaturen, S. 12 f.
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Ministeriums wurde – nach Absprache mit der sowjetischen »Brudermacht« – Wilhelm Zaisser als Minister und Erich Mielke als Staatssekretär übertragen.35 Mit geheimpolizeilichen Mitteln sollte das MfS als Aufklärungs- und Abwehrorgan die innere und äußere Sicherheit der DDR gewährleisten. Es vereinte drei Funktionsbereiche, indem es als politische Geheimpolizei, strafprozessuales Untersuchungsorgan (mit eigenen Untersuchungshaftanstalten) sowie als Spionage- und Abwehrdienst diente. Eine Kontrolle durch exekutive oder parlamentarische Instanzen war nicht vorgesehen. Faktisch war das MfS nur dem Politbüro und der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen rechenschaftspflichtig, deren Direktiven und Beschlüsse die Arbeit der DDRStaatssicherheit primär bestimmten. Die Selbststilisierung des MfS zum »Schild und Schwert der Partei« charakterisiert diese bedingungslose Unterordnung gegenüber der SED, besonders gegenüber der Parteiführung. Maßgeblichen Einfluss auf die Ausrichtung und Tätigkeit des MfS hatte nur ein enger Personenkreis innerhalb der Führungsriege des Zentralkomitees (ZK).36 »Die Staatssicherheit«, konstatiert Jens Gieseke, »überschritt niemals die vorgegebene Einordnung als bewaffnetes Sicherheitsorgan der herrschenden kommunistischen Partei«.37 Das MfS diente der SED-Führung zur Durchsetzung ihres Machtanspruchs und zur Herrschaftssicherung. Es erlangte dadurch bereits in der Konsolidierungsphase des SED-Regimes eine zentrale Bedeutung, die es als konstitutives Machtinstrument bis zum Untergang der SEDHerrschaft behielt. Das MfS wusste, diesen Stellenwert im Herrschaftsgefüge zu festigen und in den vorgegebenen Spielräumen zu nutzen.38
35 Vgl. Roger Engelmann: Aufbau und Anleitung der ostdeutschen Staatssicherheit durch sowjetische Organe 1949–1959. In: Andreas Hilger, Mike Schmeitzer, Uwe Schmidt (Hg.): Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsicherung 1945–1955. Dresden 2001, S. 55–64, hier 55–57; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 37–47. Zu den Biografien von Zaisser und Mielke vgl. Jens Gieseke: Erich Mielke (1907–2000). Revolverheld und oberster DDRTschekist. In: Dieter Krüger, Armin Wagner (Hg.): Konspiration als Beruf. Berlin 2003, S. 237–263; Helmut Müller-Enbergs: Wilhelm Zaisser (1893–1958). Vom königlich-preußischen Reserveoffizier zum ersten Chef des MfS. In: ebenda, S. 32–60; ders.: »Der Tag X hat nicht stattgefunden«. Wirken und Sturz Wilhem Zaissers (1945–1953). In: Roger Engelmann, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Göttingen 2005, S. 146–174; Hermann Weber, Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945. Berlin 2004, S. 891 f.; Kowalczuk: Stasi konkret, S. 54–60, 88–91 . 36 Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 24 f.; Roger Engelmann, Walter Süß: SED, Verhältnis des MfS zur. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 262–266; Engelmann: Diener zweier Herren, S. 51; Walter Süß: Das Verhältnis von SED und Staatssicherheit. Berlin 1997, S. 4–6. Zur Rolle des ZK: Heike Amos: SED-Herrschaft nach 1953, 1956 und 1961. Die Durchsetzung des SED-Führungsanspruchs in Staat und Gesellschaft. In: Torsten Dietrich, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Staatsgründung auf Raten? Berlin 2005, S. 65–86, hier 79; Heike Amos: Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949–1963. München 2003, S. 37–74. 37 Gieseke: Mielke-Konzern, S. 101. 38 Vgl. Gieseke: Zeitgeschichtsschreibung, S. 229; ders.: Mielke-Konzern, S. 92–101.
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Der Staatssicherheitsapparat erfuhr in den 1950er Jahren einen raschen Aufbau: Bereits 1953 verfügte er über 10 000 hauptamtliche Mitarbeiter und hatte damit die reichsweite Gestapo der Vorkriegszeit übertroffen. Bis 1960 stieg die Anzahl hauptamtlicher Mitarbeiter auf fast 23 000. Der massive Ausbau erfolgte allerdings zulasten der Qualität seiner Arbeit: Den Mitarbeitern fehlten oftmals allgemeine Qualifikationen und elementare Kenntnisse der (Geheim-)Polizeiarbeit, die sie mit dem Rückgriff auf gewaltsame Methoden auszugleichen versuchten. Zumeist handelte es sich um ausgesprochen junge Männer aus sozial unterprivilegierten Verhältnissen mit niedrigem Bildungsstand, denen eine außerordentliche Aufstiegsperspektive geboten wurde. Das Allmachtsgebaren forcierte zudem Überheblichkeit und disziplinarische Fehltritte, die zu Konflikten mit Vorgesetzten und zu einer starken Personalfluktuation führten. Vom Idealbild des MfS als diszipliniertem, elitärem Stoßtrupp war man weit entfernt.39 Die mangelnde Kompetenz, die sich in der Praxis offenbarte, führte wiederholt zu Kritik vonseiten der sowjetischen Instrukteure. Sie übten bis Mitte der 1950er Jahre einen erheblichen Einfluss auf die Ausrichtung und Tätigkeit des MfS aus. Das MfS war ein »Diener zweier Herren«, deren Instruktionen, wie Engelmann und Fricke feststellen, bis zu einem gewissen Grad komplementär waren: »Die Anleitung der [sowjetischen] Berater betraf zum größten Teil operative Fragen, Organisationsfragen, Vermittlung von geheimpolizeilichem Handwerk, während die eigentlich politische Anleitung primär Aufgabe der SED war.«40 Ab Mitte der 1950er Jahre wurde die Anleitung des MfS durch die Parteiführung stärker und die Stellung der sowjetischen Berater verlor schrittweise an Bedeutung. Mit der Absetzung des zweiten MfS-Chefs Ernst Wollweber 1957 konnte Walter Ulbricht nicht nur die Unterordnung des MfS gegenüber der Parteiführung festigen und somit seine taktischen Vorstellungen durchsetzen, sondern auch seine Position gegenüber der sowjetischen »Brudermacht« entscheidend stärken. Das MfS war allerdings nie völlig
39 Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 54–56; ders.: Mitarbeiter, S. 86 f., 107, 113–125, 133– 145, 172, 202–205; ders.: Hauptamtlicher Mitarbeiter. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfSLexikon. Berlin 2011, S. 138–141. Giesekes Forschungen zeigen, dass das MfS zwar auf ehemalige Wehrmachtssoldaten und Hitlerjungen zurückgriff, jedoch keine personelle Kontinuität zu NSTerrororganisationen bestand. Vgl. Jens Gieseke: Erst braun, dann rot? Zur Frage der Beschäftigung ehemaliger Nationalsozialisten als hauptamtliche Mitarbeiter des MfS. In: Siegfried Suckut, Walter Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Berlin 1997, S. 129–149. 40 Fricke/Engelmann: Staatsicherheitsaktionen, S. 28. Vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 52–54, 61; ders.: Berater, sowjetische. In: ders. u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 56; ders.: Exportartikel, S. 251–255; Gieseke: Mitarbeiter, S. 107.
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autonom gegenüber dem KGB, und beide Geheimdienste bzw. -polizeien blieben eng miteinander verknüpft.41 Auf dem IV. Parteitag der SED 1954 forderte der MfS-Chef Ernst Wollweber: »Die Staatssicherheit soll ein scharfes Schwert sein, mit dem unsere Partei den Feind unerbittlich schlägt, gleichgültig, wo er sich festgesetzt hat.«42 In der Logik einer »allseitigen« Feindbekämpfung richtete sich die Arbeit des MfS gegen jeden, der eine vom System abweichende Haltung vertrat, sowohl im Innern der DDR als auch über die Demarkationslinie hinweg. Das Feindbild des MfS blieb dabei bewusst unscharf und diffus, denn auf diese Weise konnte der als »feindlich« deklarierte Personenkreis beliebig ausgeweitet werden. »Die begriffliche Unschärfe gestattete es, jeden, der nicht mit dem System konform ging, zu kriminalisieren.«43 Mit dem Ziel, jegliche abweichende Haltung zu bekämpfen, verband sich der Anspruch einer geheimpolizeilichen Präsenz in allen Lebensbereichen, die durch geheime Zuträger gewährleistet werden sollte. Mit einem Netz aus Spitzeln, sogenannten inoffiziellen Mitarbeitern (IM), organisierte und sicherte das MfS eine systematische Beschaffung von Informationen aus allen gesellschaftlichen Bereichen.44 Der IM-Apparat verzeichnete in den 1950er Jahren ein enormes Wachstum: Anfang der 1950er verfügte das MfS über schätzungsweise 14 000 IM, Mitte der 1950er Jahre etwa 40 000 und Anfang der 1960er Jahre über ungefähr 100 000.45 Die Qualität des IMNetzes gab allerdings fortwährend Anlass zur Klage: zu wenig wertvolle Informationen, zu viele SED-Mitglieder und zu wenig Informanten aus herrschaftsfernen Gesellschaftssphären, die geheimpolizeilich von größerem Interesse waren.46 41 Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 236 f.; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 68; Engelmann/Süß: Sowjetischer Geheimdienst, S. 275–279; Engelmann: Exportartikel, S. 257–259; ders.: Diener zweier Herren, S. 55 f., 72 f.; Marquardt: Zusammenarbeit, S. 301–321. 42 Zit. in: Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 22. 43 Christian Bergmann: Zum Feindbild des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 47(1997)50, S. 27–34, hier 31; Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 49; Bernward Baule: Die politische Freund-Feind-Differenz als ideologische Grundlage des Ministeriums für Staatssicherheit. In: Deutschland-Archiv 26(1993)2, S. 170–184, hier 177. 44 Vgl. Gieseke: Zeitgeschichtsschreibung, S. 233; ders.: Mielke-Konzern, S. 114, 119, 122 f.; Diewald-Kerkmann: Vertrauensleute, S. 288; Michael Schröter: Der willkommene Verrat. In: ders. (Hg.): Der willkommene Verrat. Beiträge zur Denunziationsforschung. Weilerswist 2007, S. 203– 226, hier 218 f.; Gerhard Sälter: Denunziation – Staatliche Verfolgungspraxis und Anzeigeverhalten der Bevölkerung. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47(1999)2, S. 153–165. 45 Die Zahlen basieren auf quellengestützte Hochrechnungen. Sie erfassen nur die Diensteinheiten des Abwehrbereichs, die IM der HV A sind nicht enthalten. Vgl. Müller-Enbergs: IM 3, S. 35– 39, 242–244. 46 Stichproben Anfang der 1960er Jahre offenbarten, dass der Anteil von SED-Mitgliedern bei 40–50 % lag, trotz diesbezüglicher Ermahnungen betrug er auch später immer noch über 30 %. In den ersten Jahren zeigten sich zudem die Auswirkungen erpresster Zusammenarbeiten, die in dieser Zeit noch oft erfolgten und sich zumeist negativ auswirkten. Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 121; Helmut Müller-Enbergs: Zum Verhältnis von Norm und Praxis in der Arbeit mit Inoffiziellen Mitar-
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Gleichwohl erwiesen sich die IM als sehr wirksames Machtinstrument des MfS und der SED-Diktatur. »Allein schon mit ihrer Existenz, aber mehr noch mit ihrer Tätigkeit«, so Müller-Enbergs, »trugen die IM zu Angst und Anpassung in der Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik bei.«47 Zwar konnte das MfS sein Ziel einer flächendeckenden Überwachung auch mit ihrer Hilfe nicht erreichen, aber sie trugen dazu bei, dass es als omnipräsent wahrgenommen wurde. Ihr Einsatzgebiet war nicht nur auf die DDR beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf die Bundesrepublik und das Ausland. Für die inoffizielle Zusammenarbeit rekrutierte das MfS daher nicht nur Personen aus der DDR, sondern auch Bürger der Bundesrepublik oder Ausländer, die vor allem im Westen eingesetzt wurden. Ende der 1980er Jahre standen etwa 3 000 Bundesbürger im Dienste des MfS, jeweils 1 500 bundesdeutsche IM waren für den Abwehrbereich des MfS und seinen Aufklärungsdienst HV A registriert. Die Gesamtzahl an Bundesbürgern, die in den 40 Jahren DDRGeschichte für das MfS gearbeitet haben, schätzt Müller-Enbergs auf ungefähr 6 000 bei der HV A und ebenso viele bei den Diensteinheiten der Abwehr. Der Anteil an Bundesbürgern und Ausländern in den Reihen der IM lag bei etwa 2 Prozent.48 Die »Arbeit im und nach dem Operationsgebiet«, also in West-Berlin und der Bundesrepublik, war im MfS stets von zentraler Bedeutung, sodass fast alle seine operativen Diensteinheiten des MfS dort aktiv waren. Die »›Westarbeit‹ der Staatssicherheit«, so erläutert Roger Engelmann, »war nie nur gewöhnliche Spionage, sondern immer auch in das sogenannte ›Operationsgebiet‹ verlängerte SED-Herrschaftssicherung.«49 Für das SED-Regime barg die Bundesrepublik angesichts der Instabilität des eigenen Systems ein hohes Bedrohungspotenzial. In der Frühphase des MfS wurde dieses in erster Linie bei den westlichen Geheimdiensten und antikommunistischen Organisationen verortet, die es dementsprechend mit allen Mitteln zu bekämpfen galt. Vor diesem Hintergrund wurden die Aktivitäten des MfS in West-Berlin und in der Bundesrepublik in der Ära Wollweber 1953 bis 1957 massiv vorangetrieben und systematisiert. Im Mittelpunkt des Westeinsatzes stand die möglichst umfangreiche Gewinnung von Informationen, sei es auf militärischem, politischem oder beitern des Ministeriums für Staatssicherheit. In: Klaus-Dietmar Henke, Roger Engelmann (Hg.): Aktenlage. Berlin 1995, S. 56–76, hier 72–74. 47 Müller-Enbergs: IM 1, S. 154. Vgl. Kerz-Rühling/Plänkers: Verräter, S. 15. 48 Vgl. Müller-Enbergs: IM 3, S. 114 f., 123; ders.: Inoffizieller Mitarbeiter (IM). In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 158–160; Müller-Enbergs: DDR-Spionage, S. 40–44; Georg Herbstritt: Die Westarbeit des MfS im Lichte bundesdeutscher Justizakten. In: Georg Herbstritt, Helmut Müller-Enbergs (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu … DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 333–358, hier 350. Hubertus Knabe schätzt die Anzahl bundesdeutscher IM auf 20–30 000. Vgl. Knabe: West-Arbeit, S. 19–21. Zu den IM der HV A vgl. Müller-Enbergs: IM 2, S. 39–117. 49 Engelmann: Westarbeit, S. 152.
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ökonomischem Gebiet. Der MfS-Einsatz im »Operationsgebiet« ging jedoch über die klassischen geheimdienstlichen Bereiche der Spionage und Gegenspionage hinaus. Vielmehr waren die im Westen eingesetzten Diensteinheiten auch mit sogenannten »aktiven Maßnahmen« beauftragt, also Maßnahmen zur Desinformation, Diversion, Sabotage und »Zersetzung«.50 Auch gewalttätige Aktionen wie Entführungen gehörten, insbesondere in den 1950er Jahren, zum Repertoire der »Westarbeit«, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. Im Vergleich zur Informationsbeschaffung bildeten diese »aktiven Maßnahmen« nur einen kleinen Anteil, aber sie sind ein aussagekräftiges Indiz für die grenzüberschreitende Herrschaftssicherung des SED-Regimes.
50 Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Westarbeit/Spionage. In: Roger Engelmann: Das MfSLexikon. Berlin 2011, S. 334–337; Helmut Müller-Enbergs: Maßnahmen, aktive. In: ebenda, S. 206; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 205–215; Knabe: West-Arbeit, S. 10–14, 68, 135, 141 f., 155 f.; Auerbach: Einsatzkommandos, S. 25. Ein Beispiel ist das Mitwirken des MfS an den vergangenheitspolitischen Kampagnen der SED gegen die Bundesrepublik. Vgl. Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. Göttingen 2005, S. 73–105, 156–181; Knabe: Republik, S. 121–135.
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Die Entführungspraxis des Ministeriums für Staatssicherheit und ihre Folgen
Das Verschwinden von Menschen aus West-Berlin hinter den »eisernen Vorhang« der geteilten Stadt war in den 1950er Jahren alles andere als ein seltenes Phänomen und brannte sich dermaßen in das kommunikative Gedächtnis, dass DDR-Flüchtlinge und Regimekritiker auch noch in den 1980er Jahren eine Entführung befürchteten – mitunter zu Recht. Die genaue Zahl der Entführungsopfer des MfS wird sich mit größter Wahrscheinlichkeit nie klären lassen. Der sonst so penibel dokumentierende DDR-Staatssicherheitsapparat scheint über die Anzahl der geplanten und vollendeten Entführungsaktionen nicht Buch geführt zu haben, jedenfalls sind entsprechende Überlieferungen in den MfS-Archiven noch nicht aufgetaucht. Die wenigen überlieferten Statistiken der bundesdeutschen Polizei zeugen von der Unsicherheit im Umgang mit den Entführungsfällen. Viele konnten erst nach Rückkehr der Entführungsopfer als solche identifiziert und registriert werden. Diese polizeilichen Aufzeichnungen boten nach dem Untergang der DDR für die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden einen wichtigen Anhaltspunkt. Die Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin ermittelte schließlich in rund 440 Verschleppungsund Entführungsfällen seit 1949.1 Es ist davon auszugehen, dass sich die Anzahl der Verschleppten und Entführten tatsächlich in einer Größenordnung von etwa 400 Personen bewegt. Denn auf der einen Seite erwies sich der Verdacht einer Entführung in manchen Fällen als falsch oder konnte nicht endgültig geklärt werden, auf der anderen Seite gilt es eine Dunkelziffer mitzurechnen. Diese Verschleppungs- und Entführungsfälle sind nicht alle auf das MfS zurückzuführen.2 Auf deutscher Seite war auch die Volks- bzw. Grenzpolizei der DDR ein Akteur auf diesem Gebiet. Nach Aufzeichnungen der Westberliner Polizei waren etwa 17 Prozent der registrierten Entführungsfälle spontane Verschleppungen, die von der Volkspolizei und Grenzpolizei/-truppen im Grenzgebiet durchgeführt wurden, also – abgesehen von der zeitweisen Eingliederung der Grenzpolizei in den Staatssicherheitsapparat – nicht unmittel1 Vgl. Vermerk der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin, 15.3.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 68/95, Bd. 2, Bl. 1 f. 2 Nur rund 135 dieser Personen waren nach damaliger Auskunft des BStU in den Karteien des MfS erfasst. Vgl. Auskunft bzgl. Sammelanfrage, BStU an Staatsanwaltschaft II, 8.5.1995. Ebenda, Bl. 53 f.
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Die Entführungspraxis des MfS und ihre Folgen
bar in der Verantwortung des MfS lagen. Zu beachten ist allerdings auch hier die sowjetische Besatzungsmacht: Bis Mitte der 1950er Jahre lag die Hoheit über die Sicherung der Grenzen zu West-Berlin und zur Bundesrepublik noch bei der Sowjetischen Kontrollkommission und sowjetische Einheiten waren auch im Grenzdienst eingesetzt. Erst seit Dezember 1955 war die Grenzpolizei allein für die Bewachung der Grenze verantwortlich.3 Die Verschleppungsopfer waren oft westliche Polizei- und Zollangehörige, auf der Flucht ertappte DDR-Flüchtlinge oder Zivilisten, die sich in der Nähe der Grenze aufhielten, weil sie dort zum Beispiel ein Grundstück besaßen. Unter Waffengewalt wurden sie zum Betreten des Ostsektors gezwungen oder über die Grenze gezerrt und unter dem Vorwurf der Grenzverletzung festgenommen. Mit Ausnahme der ertappten DDR-Flüchtlinge wurden sie oft nach Verhören bereits am selben Tag oder wenige Tage später wieder freigelassen.4 Die Westberliner Polizei registrierte in den Monaten August bis Dezember 1952 mit 18 Fällen und im Zeitraum August bis Dezember 1961 mit 15 Fällen auffallend viele derartige spontane Verschleppungen in unmittelbarer Nähe der Sektorengrenze. Das entsprach im Jahr 1952 rund 30 Prozent und 1961/62 etwa 60 Prozent der Verschleppungen und Entführungen des jeweiligen Jahres. Offensichtlich standen sie in Zusammenhang mit dem Ausbau des Grenzregimes in der geteilten Stadt in diesen Jahren. Im Gegensatz zur Überwachung der innerdeutschen Grenze sowie des Rings um Berlin, die in der Zuständigkeit der Grenzpolizei lag, kontrollierte in der Innenstadt des geteilten Berlins bis Mitte der 1950er Jahre die reguläre Volkspolizei die Sektorengrenze und den grenzüberschreitenden Verkehr. Dann übernahm die kasernierte Bereitschaftspolizei, die über mehr Personal verfügte, diese Aufgabe. Von einem Einsatz der Grenzpolizei, der in der Polizeiführung durchaus erwogen wurde, wurde bis zum Mauerbau mit Blick auf den Vier-Mächte-Status Berlins abgesehen. Denn in den Augen der westlichen Alliierten hätte eine solche Stationierung der Grenzpolizei in Ost-Berlin als Bruch der Vereinbarungen wirken können. Mit Rücksicht auf die Westmächte lehnte die sowjetische Seite unter Stalin auch die Abriegelung der Sektorengrenze zwischen Ostund West-Berlin ab, die Walter Ulbricht schon im Frühjahr 1952 und Winter 3 Im Mai 1952 erfolgte die Ausgliederung der Grenzpolizei aus der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei (im Ministerium des Innern) und Eingliederung in das MfS nach sowjetischem Vorbild. Bereits 1953 wurde sie wieder dem MdI unterstellt und blieb – mit zweijähriger Unterbrechung 1955 bis 1957 – bis September 1961 dort eingegliedert. Danach wurde sie dem Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) unterstellt und als »Grenztruppe der NVA« der Armee zugeordnet. Zwei Grenzbrigaden, die für die Sicherung der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin zuständig waren, wechselten allerdings erst 1962 in den Zuständigkeitsbereich des MfNV. Vgl. Diedrich: Grenzpolizei, S. 201–223; Sälter: Grenzpolizisten, S. 67–88; Siegfried Suckut: Grenzpolizei. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 102–104. 4 Vgl. Senat von Berlin (Hg.): Berlin – Chronik der Jahre 1951–1954. Berlin 1968, S. 16, 481, 604; ders. (Hg.): Berlin – Chronik der Jahre 1955–1956. Berlin 1971, S. 70, 74, 413.
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1952/53 forderte. Diese Zurückhaltung blieb jedoch auf die innerstädtische Sektorengrenze beschränkt. Seit Mai 1952 wurde an der innerdeutschen Grenze die von sowjetischer Seite geplante und angewiesene Neuordnung des Grenzregimes mit dem Ziel einer weitgehenden Abschottung umgesetzt, unter anderem mit dem technischen Ausbau der Grenzanlagen. Eine entsprechende Weisung zur neuen Ausgestaltung des Grenzregimes erging am 9. Juni 1952 auch in Bezug auf den Ring um Berlin, wo die Kontrollen verschärft und in den folgenden Wochen zwei Drittel aller Straßen, die von West-Berlin in die DDR führten, unpassierbar gemacht wurden. Mit dem Bau der Mauer erfolgte im August 1961 dann auch die Schließung der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin.5 Die spontanen Verschleppungen in unmittelbarer Grenznähe lassen sich auf diese Veränderungen des östlichen Grenzregimes zurückführen. So verschleppten zwei Volkspolizisten im August 1952 mit Waffengewalt zwei westliche Zollangehörige, die ihren Dienst in Lichterfelde an der Grenze zwischen WestBerlin und der DDR versahen. Am 21. September 1952 wurden am Berliner Wannsee vier Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren und ein Ehepaar von mehreren Volkspolizisten und russischen Soldaten 20 Meter auf Westberliner Gebiet unter dem Vorwurf der Grenzverletzung festgenommen. Einen Tag später kehrten zwei westliche Zollangehörige nicht von ihrem Streifengang am Wannsee zurück, nachdem sie von russischen Soldaten festgenommen und in den Ostsektor gebracht worden waren. Im November 1952 nahmen zwei Volkspolizisten einen Westberliner auf seinem in der Nähe der Sektorengrenze befindlichen Grundstück fest und führten ihn mit Waffengewalt über die Grenze. Alle Verschleppungsopfer kehrten am selben oder einen Tag später wieder nach West-Berlin zurück.6 Ein ähnliches Bild zeigt sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1961, allerdings registrierte die Westberliner Polizei ausschließlich Zivilisten, die den grenzüberschreitenden Festnahmen zum Opfer fielen: Am 16. August 1961 wurden vier 14- bis 17-jährige Jugendliche von bewaffneten Grenzpolizisten, die sich an der Sektorengrenze auf westlichem Gebiet im Gebüsch versteckt hatten, verschleppt. Ein Spaziergang an der Sektorengrenze endete am 18. August 1961 für drei junge Männer in den Fängen der DDR-Grenzpolizei, auch sie wurden unter Waffendrohung zum Überschreiten der Grenze gezwungen. Dieses Schicksal ereilte ebenfalls zwei Lehrlinge im Alter von 17 und 19 Jahren im Dezember 1961, die zuvor einige Drähte am Grenzzaun gelöst hatten, 5 Vgl. Sälter: Grenzpolizisten, S. 26 f., 38–46; Lemke: Vor der Mauer, S. 177–181; Dietmar Schultke: »Keiner kommt durch«. Die Geschichte der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer. Berlin 2008, S. 37 f.; Diedrich: Grenzpolizei, S. 209; Inge Bennewitz, Rainer Potratz: Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. Berlin 21997, S. 26–33, 230–235. 6 Vgl. Namentliche Aufstellung von Entführungsopfern, Polizeipräsident von Berlin Abt. I, 5.10.1972. BArch, B 209/1070, o. Pag.; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 481, 503.
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daraufhin beschossen und auf Westberliner Gebiet festgenommen worden waren. Der 19-Jährige hatte schwere Schussverletzungen am Becken davongetragen. Im Gegensatz zu den anderen genannten Verschleppungsopfern wurden sie nicht bereits nach wenigen Stunden wieder nach West-Berlin entlassen, sondern erst im Oktober 1963 und im Mai 1964. Zwei Volkspolizisten berichteten nach ihrer Flucht im Januar 1962 über diese von ihnen beobachtete Verschleppung und den grundlegenden Befehl, sogenannte »Grenzprovokateure« tot oder lebendig von West- auf Ostberliner Boden zu bringen.7 Es stellt sich die Frage, ob diese spontanen Verschleppungen Ausdruck des schärferen Vorgehens an der Grenze waren. In diesem Zusammenhang wäre zu klären, ob diese Übergriffe weisungsgemäß erfolgten oder auf übermotivierte DDR-Grenzpolizisten zurückzuführen sind. Oder waren nur die Aufmerksamkeit und der Dokumentationswille der Westberliner Polizei in Bezug auf derartige Zwischenfälle angesichts der Entwicklungen des östlichen Grenzregimes größer?8 Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen mahnte anläßlich des »Tags der deutschen Einheit« am 17. Juni 1960 zur Vorsicht an der Zonengrenze. Ein fahrlässiges oder absichtliches Überschreiten der Demarkationslinie bei Besuchen der Zonengrenze könne unter Umständen Verschleppung, Verhöre, Freiheitsentzug und Erpressung zu Agentendiensten nach sich ziehen. Die DDR-Grenzpolizei greife bei derartigen Grenzübertritten zu rigorosen Maßnahmen, zumal die Grenzpolizisten für jede Festnahme in diesem Zusammenhang belobigt und prämiert werden würden. An der innerdeutschen Grenze habe es 1959 41 und im ersten Halbjahr 1960 17 derartiger Grenzverletzungen gegeben. Um Bundesbürger in Unkenntnis des Grenzverlaufs auf »sowjetzonalem Gebiet« festnehmen zu können, seien dort sogar die Drahtzäune an den Stellen entfernt worden, die von Bundes-
7 Vgl. Namentliche Aufstellung von Entführungsopfern, Polizeipräsident von Berlin Abt. I, 5.10.1972. BArch, B 209/1070, o. Pag.; Geflüchtete Zonenpolizisten bestätigen Menschenraub. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.1.1962. Aufsehen erregte die Verschleppung eines Zollangehörigen im März 1962 in der Nähe von Frohnau an der Grenze zwischen West-Berlin und DDR. Vgl. Polizeiliche Meldung, Schutzpolizei, 15.3.1962. LAB, B Rep. 002, Nr. 13356, o. Pag.; Zollbeamter in die Zone entführt. In: Tagesspiegel, 16.3.1962; Zöllner von Menschenjägern verschleppt und mißhandelt. In: Berliner Morgenpost, 16.3.1962; Die Frechheit Pankows ist kaum noch zu überbieten. Zöllner überfallen und entführt. In: Der Kurier, 16.3.1962; Vopo entführt Zollbeamten. Roter Stoßtrupp stellte ihm in West-Berlin eine Falle. In: BZ, 16.3.1962. 8 Die Ermittlungsakten der Westberliner Polizei bzgl. derartiger Grenzzwischenfälle bildeten den Grundstock für die im November 1961 eingerichtete »Zentrale Erfassungsstelle« in Salzgitter, die bis 1990 Informationen über politische Verfolgung in der DDR und Tötungshandlungen an den DDR-Grenzanlagen sammelte. Vgl. Heiner Sauer, Hans-Otto Plumeyer: Der Salzgitter-Report. Die Zentrale Erfassungsstelle berichtet über Verbrechen im SED-Staat. München 1991, S. 24–26; HansJürgen Grasemann: Das schlechte Gewissen der DDR. 50 Jahre Zentrale Erfassungsstelle für Unrechtstaten der SED-Verbrecher in Salzgitter. In: Bayern-Kurier, 3.12.2011.
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bürgern vorzugsweise aufgesucht werden würden.9 Diese Angaben deuten darauf hin, dass der Anteil der spontanen Verschleppungen insgesamt höher einzuschätzen ist als die registrierten 17 Prozent. Es ist davon auszugehen, dass sich auch unter den ungeklärten Fällen verschwundener Personen (rund 9 Prozent) derartige Festnahmen auf westlichem Grenzgebiet befinden. Zudem ist mit einer zusätzlichen Dunkelziffer zu rechnen. Entführungen und Verschleppungen erfolgten auch abseits des unmittelbaren Grenzgebietes spontan und auf die alleinige Initiative des Entführers, ohne dass eine Absprache oder gar ein Auftrag des MfS oder des sowjetischen Geheimdienstes vorlag. Die Grundlage solcher Spontanentführungen waren nicht selten persönliche Motive. So sorgte an einem Januarabend 1967 am Checkpoint Charlie ein Auto für Aufsehen, aus dessen Seitenfenster zwei Frauenbeine ragten und das am Westberliner Polizeiposten vorbeiraste und nach kurzem Stopp den Ostberliner Schlagbaum passierte. In der Westberliner Öffentlichkeit wurden Erinnerungen an die zahlreichen Entführungsmeldungen in den 1950er Jahren wach und über politische Hintergründe gemutmaßt. Doch es stellte sich heraus, dass es sich um einen Racheakt in einem Ehestreit handelte. Da sich eine 26-jährige Frau scheiden lassen wollte, brachte ihr 24-jähriger Ehemann sie in die DDR, aus der sie eineinhalb Jahre zuvor mit seiner Hilfe geflohen war. Dort drohte ihr ein Strafverfahren wegen Republikflucht, doch dank Verhandlungen, die wie im Rahmen des Häftlingsfreikaufs über die Rechtsanwälte Jürgen Stange aus West-Berlin und Wolfgang Vogel aus OstBerlin liefen, konnte sie bereits wenige Tage später wieder nach West-Berlin zurückkehren.10 Abgesehen von diesen spontanen Verschleppungen geht der Großteil der rund 400 Verschleppungen und Entführungen auf das MfS zurück, aber auch auf die sowjetische Besatzungsmacht mit ihrem Geheimdienst (vor allem bis Mitte der 1950er Jahre) und die Geheimdienste anderer Staaten des kommunistischen Machtblocks.11 So wurde beispielsweise der Journalist und bekennende Sozialist Alfred Weiland im November 1950 von Agenten im sowjetischen Auftrag aus West-Berlin entführt. Sie überfielen ihn auf offener Straße, als er am frühen Morgen auf dem Weg zum Postamt war, schlugen ihn brutal nieder und brachten ihn nach Ost-Berlin zum sowjetischen MWD. Bereits seit Jahren hatte dieser gegen Weiland ermittelt und gefahndet. Weiland verbrach9 Vgl. Vorsicht an der Zonengrenze! Bonn: Verschleppungen und Freiheitsentzug drohen. In: Bonner Rundschau, 15.6.1960; Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Sonderdruck aus dem Tätigkeitsbericht der Bundesregierung »Deutsche Politik 1960«, S. 11. 10 Vgl. Menschenraub in West-Berlin – Eine Frau wurde entführt. In: Die Welt, 31.1.1967; Entführung war vermutlich Racheakt. In: Tagesspiegel, 1.2.1967; Es war nicht nur ein Familienzwist – Die entführte Westberlinerin muss mit Verurteilung rechnen. In: Die Welt, 2.2.1967; Entführte WestBerlinerin aus dem Sowjetsektor zurückgekehrt. In: Tagesspiegel, 3.2.1967. 11 Vgl. Herbstritt: Menschenraub, S. 7–32.
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te zunächst ein Jahr in der Untersuchungshaft des MWD/MGB, u. a. in Berlin-Hohenschönhausen und Berlin-Karlshorst, bis er im November 1951 an das MfS übergeben wurde. Erst im August 1952 erfolgte seine Verurteilung vor dem Landgericht Greifswald zu 15 Jahren Zuchthaus. Acht Jahre nach seiner Entführung wurde er schließlich aus der DDR-Haft entlassen und kehrte nach West-Berlin zurück.12 Auf sowjetische Initiative, aber unter Einsatz eines IM des MfS, erfolgte im April 1954 die gewaltsame Entführung des Leiters der russischen Emigrantenorganisation NTS in West-Berlin, Alexander Truschnowitsch. Bei dem IM mit dem Decknamen »Hegl« handelte sich um den Vorsitzenden des Heimkehrerverbandes in einem Westberliner Bezirk, der in dieser Funktion im Juli 1953 die Verbindung zu Truschnowitsch aufgebaut hatte.13 Seine Wohnung wurde am Abend des 13. April 1954 zum Tatort, das Tatgeschehen ließ sich anhand der Spuren und der Zeugenaussagen rekonstruieren. Demnach wurde Truschnowitsch trotz heftiger Gegenwehr in der Wohnung niedergeschlagen, wobei er eine schwere Kopfverletzung erlitt. Vermutlich erhielt er zudem ein Betäubungsmittel injiziert. Bewusstlos wurde er anschließend durch das Treppenhaus des Mietshauses getragen und in eine bereitstehende Limousine verfrachtet. Die Entführergruppe, bestehend aus drei Männern und einer Frau, übergab Truschnowitsch in Ost-Berlin dem sowjetischen Geheimdienst. Wenige Stunden später starb Truschnowitsch in der Haftanstalt des KGB in Berlin-Karlshorst – vermutlich an den Folgen seiner brutalen Entführung.14 Im Jahre 1992 übersandte der russische Auslandsnachrichtendienst (SWR) Truschnowitsch' Habseligkeiten an dessen Sohn und bestätigte, dass er »von
12 Weiland war ein führendes Mitglied der linksradikalen, antibolschewistischen Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) und in der NS-Zeit an der »illegalen Arbeit« der Kommunistischen Arbeiterunion (KAU) beteiligt. Seine »Gruppe Internationaler Sozialisten« kam als oppositionelle SED-Gruppe in das Visier des sowjetischen Geheimdienstes. Vgl. Alfred Weiland: Partisan der Freiheit (unveröffentliches Manuskript). Berlin 1959; Erlebnisbericht von Alfred Weiland. In: BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 143–148; Kubina: Utopie, S. 70–79, 89–94, 126–162, 185–195, 382–411, 421–426; Kubina: Alfred Weiland, S. 65 f., 73–76; Fricke: Politik und Justiz, S. 63, 580; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1171; Sacharov/Filippovych/Kubina: Tschekisten, S. 320– 322; Thomas Klein: Die Parteikontrolle in der SED als Instrument der Stalinisierung. In: Michael Lemke (Hg.): Sowjetisierung und Eigenständigkeit in der SBZ/DDR (1945–1953). Köln/Weimar/Wien 1999, S. 119–161, hier 147–150. 13 Vgl. Charakteristik, HA II/2, 31.8.1954. BStU, MfS, AIM 3585/68, P-Akte Bd. 1, S. 23 f.; drei Treffberichte, Abt. IV/2 bzw. HA II/2, 15.7.1953–18.2.1954. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 74–76, 103 f., 265; vier Berichte, GM »Hegl«, 10.11.1953–5.3.1954. Ebenda, S. 172–181, 241–244, 280 f., 305; Bericht, HA II/2, 9.1.1954. Ebenda, Bl. 225 f. 14 Vgl. Bericht, Abt. V.1 (S) V, 13.4.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 6014, Bl. 355; Bericht, Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin an Senator für Justiz, 29.8.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 6016, Bl. 23–25; Bailey/Kondraschow/Murphy: Front, S. 152, 531 f.; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1171; Fricke: Politik und Justiz, S. 64; Smith: Stadt, S. 85–87; Helmut Roewer: Im Visier der Geheimdienste. Bergisch-Gladbach 2008, S. 180 f.
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Angehörigen des sowjetischen Geheimdienstes« entführt worden sei, »welche ihn zu Tode brachten«.15 Die Zahl der Entführungs- und Verschleppungsfälle, die direkt auf den sowjetischen Geheimdienst als unmittelbaren Akteur oder als Auftraggeber zurückzuführen sind, lässt sich ohne den Zugriff auf dessen Unterlagen nicht rekonstruieren. Sein Anteil an den Entführungsaktionen im geteilten Deutschland und Berlin nach der Gründung des MfS 1950 reichte über diese direkte Beteiligung hinaus. Der DDR-Staatssicherheitsdienst operierte nach dem sowjetischen Vorbild und bis Mitte der 1950er Jahre unter Anleitung sowjetischer Berater.16 Eine Analyse der Entführungspraxis des MfS muss in dem Bewusstsein über diesen sowjetischen Einfluss erfolgen.
I.
Die Entführungsaktionen des MfS
Der Begriff »Entführung« weckt Assoziationen, die nicht immer der Entführungspraxis des MfS entsprachen. Tatsächlich vollzog das MfS zwar brutale Überfälle in West-Berlin und in der Bundesrepublik, um Menschen von dort zu entführen. Ein wesentlicher Bestandteil seiner Entführungspraxis waren aber auch Täuschungsmanöver, durch die sich die Opfer gewissermaßen ›freiwillig‹ auf das Gebiet der DDR begaben und dort festgenommen werden konnten. Da die Opfer daran gehindert wurden, in den Westen zurückzukehren, war der Straftatbestand einer Verschleppung erfüllt. Das bekannteste Beispiel für eine solche Verschleppung dürfte der Bundestagsabgeordnete und zweite Vorsitzende der KPD Kurt Müller sein, der im März 1950 von seinem Wohnort Hannover unter dem Vorwand abgeholt wurde, zu einer Besprechung nach Ost-Berlin gebracht zu werden. Er landete jedoch im Untersuchungsgefängnis des gerade gegründeten MfS in der Magdalenenstraße, wo er u. a. vom späteren MfS-Chef Erich Mielke vernommen wurde. Gegen den prominenten Kommunisten war ein Schauprozess geplant, wie sie in diesen Jahren auch in anderen Staaten des sowjetischen Einflussgebietes inszeniert wurden. Im August 1950 übergab Erich Mielke ihn persönlich an den sowjetischen Geheimdienst. Als Gefangener des sowjetischen Geheimdienstes verbrachte Müller die folgenden zwei Jahre in verschiedenen Haftanstalten in Ost-Berlin. Im März 1953 wurde er per Fernurteil aus Moskau als vermeintlicher Trotzkist zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt und in die Sowjetunion gebracht. Im Oktober 1955 wurde er entlassen.17 15 Zit. in: Bailey/Kondraschow/Murphy: Front, S. 532. 16 Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 24–30. 17 Vgl. Niederschrift, Kurt Müller, 1.4.1957. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 4, Bl. 85–100; Annette Weinke: Der Justizfall Kurt Müller und seine Bedeutung für die kommu-
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Ein fingiertes Telegramm lockte im Juni 1951 das Ehepaar Walter und Elsa Strauch, das ein halbes Jahr zuvor mit seinen beiden Kindern nach WestBerlin geflüchtet war, von West- nach Ost-Berlin. Über eine Bekanntschaft im Flüchtlingslager war der 28-jährige Walter Strauch mit dem Amt Blank, einer Vorgängerorganisation des Bundesministeriums für Verteidigung, in Verbindung gekommen und ließ sich im April zur Mitarbeit anwerben. Im Rahmen dieser Tätigkeit suchte er Kontakte in die DDR und trat an eine Bekannte heran, die bei der Suche nach möglichen Kontaktpersonen in die Fänge des MfS geriet und seinen Namen preisgab. Umgehend schickte das MfS in ihrem Namen ein Telegramm an Walter Strauch, in dem ein Treffen am Berliner Ostbahnhof angekündigt wurde. Als Walter Strauch am nächsten Abend mit seiner Frau am Ostbahnhof eintraf, warteten dort bereits Mitarbeiter der MfSAbteilung VII, die sie festnahmen. Im Februar 1952 wurde Walter Strauch wegen Spionage zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, seine Ehefrau erhielt als angebliche Mittäterin eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Im Dezember 1956 wurde sie vorzeitig aus der DDR-Haft entlassen und kehrte nach WestBerlin zurück. Ihr Mann durfte wenige Wochen später ebenfalls den Strafvollzug verlassen. Da seine Haftstrafe im Oktober 1956 per Gnadenerweis des DDR-Präsidenten auf zehn Jahre gemindert worden war, hatte er über die Hälfte der Haftstrafe verbüßt und damit die Voraussetzung für eine vorzeitige Haftentlassung erfüllt. Ausschlaggebend war jedoch ein anderer Aspekt: Walter Strauch hatte sich im Juni 1954 in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg als IM verpflichtet und sich als solcher bewährt. Entgegen den Plänen des MfS konnte er jedoch nicht nach West-Berlin zurückkehren, denn dort war seine Zusammenarbeit mit dem MfS durch andere entlassene Häftlinge bekannt geworden.18 Viele Verschleppungsopfer ließen sich von fingierten Telegrammen, Briefen oder Telefonanrufen täuschen oder folgten dem Ersuchen von Bekannten, nistische Parteisäuberungswelle im geteilten Deutschland. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 45(1997)4, S. 293–310; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1186; Karl Wilhelm Fricke: Warten auf Gerechtigkeit. Kommunistische Säuberungen und Rehabilitierungen. Köln 1971, S. 85 f.; Hermann Weber: »Weiße Flecken« in der DDR-Geschichtsschreibung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 40(1990)11, S. 3–29, hier 7 f., 16–29; ders.: »Weiße Flecken« in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung. Frankfurt /M. 21990, S. 35; Otto: Erich Mielke, S. 131–137, 557–559. 18 Vgl. Zwischenbericht, Abt. VIIc, 13.6.1951. BStU, MfS, AU 230/51, Bd. 1, S. 111–114; Schlussbericht, MfS, 19.10.1951. Ebenda, S. 261–271; Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 12.2.1952. Ebenda, Bd. 2, S. 92–130; Beschluss, Oberstes Gericht der DDR, 29.11.1956. Ebenda, Bd. 6, S. 38 f.; Beschluss, Oberstes Gericht der DDR, 22.2.1957. Ebenda, S. 44; Mitteilung, StVA Hoheneck an Kreisgericht Brandenburg, 26.12.1956. Ebenda, Bd. 16, S. 87; Mitteilung, BV Potsdam, Abt. VII an MfS, Abt. VII, 4.9.1956. BStU, MfS, AP 7398/57, S. 98; Bericht, MfS, 14.7.1956. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AIM 452/66, A-Akte Bd. 1, S. 271; Beschluss, BV Karl-Marx-Stadt, KD Annaberg, 7.3.1966. Ebenda, P-Akte, S. 217 f.; Bericht, BV Karl-Marx-Stadt, KD Annaberg, 23.2.1970. BStU, MfS, AP 2115/68, S. 34–37. Zur IM-Tätigkeit von Walter Strauch vgl. Kapitel IV.3.
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Freunden sowie Verwandten und überschritten ahnungslos die Sektorengrenze gen Osten. Die Vorwände für die Aufforderungen, nach Ost-Berlin zu kommen, waren vielfältig: die angebliche Erkrankung oder der vermeintliche Unfall eines Verwandten oder Freundes, die Klärung einer Grundstücksangelegenheit, der Abschluss eines Geschäftes oder das Angebot einer Arbeitsstelle. Anderen wurde ein übermäßiger Alkoholkonsum zum Verhängnis, weil sie sich im betrunkenen Zustand von ihren Begleitern überreden ließen, nach Ost-Berlin zu fahren. Über die Hälfte der MfS-Entführungsaktionen gelangen durch derartige Täuschungsmanöver, die besonders bis Mitte der 1950er Jahre großen Erfolg hatten: Im Jahr 1950 gerieten 48 der 63 Entführungsopfer, 1951 45 der 72 und 1954 26 der 37 Entführungsopfer auf diesem Wege in die Fänge des MfS.19 Offensichtlich passierten viele dieser Opfer in Unkenntnis oder Unterschätzung der drohenden Gefahr arglos die Sektorengrenze. Die öffentliche Aufklärung der Bevölkerung in West-Berlin über die Gefahr einer solchen Verschleppung war daher von großer Bedeutung und dürfte mitverantwortlich für die sinkende Zahl an Verschleppungen in den 1950er Jahren gewesen sein. Dass diese Methode allerdings mitunter sogar noch in den 1970er Jahren funktionierte, zeigt das Beispiel des Westberliner Journalisten und Fluchthelfers Rainer Schubert. Im Januar 1975 bestellte ein Bekannter aus Ost-Berlin den 28-Jährigen zu einem dortigen Treffen, um angeblich eine Fluchthilfeaktion zu besprechen. Schubert folgte der fingierten Verabredung und wurde in einem Fußgängertunnel in der Nähe des Alexanderplatzes von MfS-Angehörigen festgenommen. Das MfS hatte seinen Bekannten zur Kooperation genötigt und Schubert mit seiner Hilfe in die Falle gelockt. Schubert erhielt eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren wegen »staatsfeindlichen Menschenhandels«, von der er knapp neun Jahre in den Haftanstalten Hohenschönhausen und Bautzen II verbüßen musste, bis er von der Bundesrepublik freigekauft wurde.20 Der Anteil der Entführungsaktionen unter Anwendung von arglistigen Täuschungen entspricht sogar weit über zwei Drittel der Gesamtzahl, wenn man die Fälle berücksichtigt, in denen das MfS List und körperliche Gewalt kombinierte. So wurden beispielsweise zu entführende Personen von Bekannten zu einer Autofahrt eingeladen, die gegen ihren Willen in Ost-Berlin endete, wie im Fall der Kellnerin Niki Glyz aus West-Berlin. Die ehemalige Volkspolizei19 Der Anteil beträgt rund 50 %, wenn die spontanen Verschleppungen in Grenznähe in der Gesamtmenge berücksichtigt werden, ansonsten rund 60 %. 20 Schubert hatte zwischen 1972 und 1974 knapp 100 Personen aus der DDR zur Flucht verholfen. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1187; Karl Wilhelm Fricke, Silke Klewin: Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle 1956 bis 1989. Leipzig 2001, S. 178 f.; Marion Detjen: Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989. München 2005, S. 278; Albin Eser, Jörg Arnold (Hg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Bd. 2, Freiburg 2000, S. 224 f.
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Kommissarin war im September 1949 nach West-Berlin geflohen und hatte dort im Februar 1950 die Bekanntschaft eines Mannes gemacht. Sie ahnte nicht, dass dieser sich im Sommer desselben Jahres zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS als GM »Bert« verpflichtete, über sie berichtete und sogar ihre Verschleppung plante.21 Zu einer Realisierung dieser Absicht kam es zwar vorerst nicht, aber Glyz entging im Frühjahr 1951 einem anderen Verschleppungsversuch: Einer ihrer ehemaligen Kollegen hatte Kontakt zu ihr aufgenommen und versuchte, sie zu einer Fahrt nach Potsdam zu überreden. Sie ging zum Schein darauf ein, ließ ihn allerdings am verabredeten Treffpunkt in West-Berlin verhaften. Er gestand, vom MfS den Auftrag gehabt zu haben, Glyz in die DDR zu locken. Glyz wurde daraufhin unter Polizeischutz gestellt.22 Zu dieser Zeit war noch ein weiterer GM in Glyz' Umfeld platziert, der ebenfalls ihre Entführung beabsichtigte und das MfS über die Verhaftung des anderen GM informierte. Ausgerechnet bei ihm suchte Glyz nun Beistand und Schutz, was er selbst wie folgt kommentierte: »Die Glyz bat mich nun, welch ein Hohn, ihre Bedeckung und Begleitung an Abenden, wenn sie einmal ausgeht zu übernehmen.«23 Zwei Monate nach dem ersten Verschleppungsversuch plante er ihre Entführung mithilfe einer »narkotisierende[n] Praline« oder einer »stark und schnell wirksame[n] Schlaftablette«. Doch das MfS zog ihn vorsichtshalber ab.24 Im Zusammenhang mit dem ersten Verschleppungsversuch wurde auch der GM »Bert« mehrmals polizeilich vernommen, der die Verbindung zu Glyz ebenfalls abbrach. Er nahm sie Anfang des Jahres 1954 jedoch wieder auf und bot dem MfS wiederum ihre Entführung an. Er wusste, dass die 34-Jährige aus Sicherheitsgründen nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr, sondern nur mit dem Taxi oder im Privatauto von sehr guten Bekannten. Daher lud er sie zum Kino ein und bot ihr an, sie danach in seinem Wagen zu ihrem Arbeitsplatz zu bringen. Aber diese 21 Glyz hatte das SPD-Ostbüro über bevorstehende Verhaftungen in Potsdam informiert und musste daraufhin selbst fliehen. Vgl. Sachstandsbericht, HA II/3, 20.1.1954. BStU, MfS, AU 397/58, Bd. 1, S. 10 f.; Beschluss, Abt. IV, 24.11.1950. BStU, MfS, AOP 24/54, S. 7 f.; Verpflichtungserklärung, GM »Bert«, 8.8.1950. BStU, MfS, AIM 7881/61, P-Akte, S. 29; Bericht, Erwin Langer, 11.8.1950. Ebenda, A-Akte, S. 16–19; Bericht, GM »Bert«, 23.8.1950. BStU, MfS, AOP 24/54, S. 17–19; Bericht, GM »Bert«, 4.9.1950. Ebenda, S. 22 f. 22 Vgl. Statistische Zusammenstellungen über Entführungen aus Berlin 1949–1962, Polizei. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 68/95, Beiakte, o. Pag.; Sachstandsbericht, HA II/3, 20.1.1954. BStU, MfS, AU 397/58, Bd. 1, S. 10 f.; Festnahmebericht, Abt. V, 21.1.1954. Ebenda, S. 23 f.; Schlussbericht, MfS, 20.3.1954. Ebenda, Bl. 72–75; Sachstandsbericht, HA II/3, 5.2.1954. BStU, MfS, AOP 24/54, S. 82 f. 23 Bericht, »Henry Peters«, 24.5.1951. BStU, MfS, AOP 24/54, S. 70 f., hier 71. Vgl. rund 25 Berichte, GM »Henry Peters«, 5.2.–18.6.1951. Ebenda, S. 9–13, 31 f., 41–45, 47 f., 50–54, 59– 75; Zwischenbericht, Abt. IV, 27.2.1951. Ebenda, S. 33–35. 24 Bericht, »Henry Peters«, 10.6.1951. BStU, MfS, AOP 24/54, S. 74 f., hier 74; vgl. Sachstandsbericht, HA II/3, 5.2.1954. Ebenda, S. 82 f.; Sachstandsbericht, HA II/3, 20.1.1954. BStU, MfS, AU 397/58, Bd. 1, S. 10 f.
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Fahrt nach dem gemeinsamen Kinobesuch endete in Ost-Berlin. Im Wagen, den ein Komplize von »Bert« lenkte, nahm Glyz auf dem Vordersitz und »Bert« hinter ihr Platz. So konnte er im entscheidenden Moment ihre Gegenwehr unterbinden, indem er ihr einen Gürtel um den Hals legte.25 Niki Glyz erhielt im Mai 1954 vor dem Stadtgericht (Ost-)Berlin eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Skurrilerweise sprach das Gericht sie u. a. der schweren Freiheitsberaubung schuldig, da sie im Zusammenhang mit dem Versuch ihrer Verschleppung im Frühjahr 1951 für die Verhaftung ihres ehemaligen Volkspolizei-Kollegen gesorgt hatte. Im Juni 1956 konnte sie nach West-Berlin zurückkehren.26 An einem Abend im März 1955 wurden mehrere Westberliner Augenzeugen einer gewaltsamen Verschleppung an der Sektorengrenze am Bethaniendamm in Berlin-Kreuzberg. Sie sahen einen jungen Mann, der sich heftig gegen vier bis fünf Männer wehrte, die ihn in ein Auto zu zerren versuchten. Mindestens einer der Angreifer war mit einer Pistole bewaffnet und drohte einem Passanten, der dem Angegriffenen helfen wollte. Dieser wurde schließlich Richtung Ost-Berlin weggezerrt und verschwand dort aus dem Blickfeld der Augenzeugen. Bei dem Verschleppten handelte es sich um den gelernten Maurer Werner Zacher, geboren 1928, der im Herbst 1954 nach West-Berlin geflohen war.27 Durch einen IM-Bericht war die Abteilung III der MfSBezirksverwaltung Potsdam auf ihn aufmerksam geworden und hatte im Dezember 1954 begonnen, ihn wegen des Verdachts der Spionagetätigkeit zu beobachten. Der GI »Schenkel« hatte das MfS über seinen nach West-Berlin geflohenen Bekannten und dessen Militärspionage informiert. Das MfS führte den GI daraufhin als GM und forderte von ihm fortan Informationen über Zacher und seine Lebensgewohnheiten. Zwei weitere GI mit den Decknamen »Georg« und »Palette« erkundeten die Wohngegend Zachers in der Köpenik25 Vgl. Bericht, GM »Bert«, o. D. [ca. Dezember 1953 bis Januar 1954]. BStU, MfS, AIM 7881/61, A-Akte, S. 69 f.; Zusatzbericht, GM »Bert«, 19.1.1954. Ebenda, S. 73; Statistische Zusammenstellungen über Entführungen aus Berlin 1949–1962, Polizei. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 68/95, Beiakte, o. Pag.; Interview mit Niki Glyz im Dokumentarfilm »Entführt – Menschenraub im Kalten Krieg« von Erika Fehse, 2004. 26 Vgl. Festnahmebericht, Abt. V, 21.1.1954. BStU, MfS, AU 397/58, Bd. 1, S. 23 f.; Schlussbericht, MfS, 20.3.1954. Ebenda, S. 72–75; Anklageschrift, Generalstaatsanwalt an Stadtgericht Berlin, 24.4.1954. Ebenda, S. 77–79; Protokoll der Hauptverhandlung, Stadtgericht Berlin, 31.5.1954. Ebenda, Bd. 2, S. 53–68; Urteil, Stadtgericht Berlin, 31.5.1954. Ebenda, S. 69–76; Statistische Zusammenstellungen über Entführungen aus Berlin 1949–1962, Polizei. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 68/95, Beiakte, o. Pag.; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1201. 27 Vgl. Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 11.3.1955. BStU, MfS, AP 21815/80, S. 34 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 11.3.1954. Ebenda, S. 36–39; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 11.3.1955. Ebenda, S. 40 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 14.3.1955. Ebenda, S. 42; Angaben des Pflegevaters von Werner Zacher, 17.4.1956. Ebenda, S. 18 f.; Einlieferungsanzeige, BV Potsdam, 10.3.1955. BStU, MfS, BV Potsdam, AU 177/55, S. 30–33; Wieder Menschenraub. Politischer Flüchtling in Ost-Limousine entführt. In: Nachtdepesche, 11.3.1955.
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ker Straße in Berlin-Kreuzberg, die durch die Sektorengrenze geteilt war. Da die GI ein besonderes Augenmerk auf die dortige Streifentätigkeit der Westberliner Polizei und des Zolls richteten, dienten ihre Beobachtungen offensichtlich bereits der Vorbereitung einer Entführung.28 Tatsächlich finden sich ihre Beobachtungsergebnisse im Entführungsplan wieder, den die Abteilung III der BV Potsdam am 10. Februar 1955 vorlegte. Der GM »Schenkel« sollte den inzwischen nach Berlin-Wilmersdorf verzogenen Zacher in ein Lokal in seiner alten Wohngegend locken. Das Lokal lag auf Westberliner Gebiet am Bethaniendamm, grenzte aber unmittelbar an die Sektorengrenze, der Bürgersteig vor dem Lokal gehörte bereits zu Ost-Berlin. In dem Lokal sollte der GM »Schenkel« Zacher mit dem GI »Palette« als vermeintlichen Informanten bekanntmachen. Der GI »Georg« sollte sich dort ebenfalls aufhalten. Die Entführung sollte sodann wie folgt ablaufen: »›Palette‹ verträgt folgende Alkoholmengen ohne zu schwanken: 12 Normalgläser 40 %igen Alkohol und 6 Bier, was für Z. ausreicht. ›Palette‹ bekommt die Instruktion, nach ca. 7-8 Schnäpse[n] betr. des Aufsuchens Westberlins schwankend zu werden, sodass Z. immer in Spannung gehalten wird. Wenn Z. aufstehen will, soll der GM ›Schenkel‹ noch einmal Alkohol bestellen. […] Wenn Z., ›Palette‹ und ›Schenkel‹ sich zum Weggehen entschließen, wird der GI ›Georg‹ zuerst aus der Tür treten und seinen Mantel zuknöpfen. Er tritt beim Hinausgehen auf die linke Seite der Tür aussen. […] 4.) Als Zweiter oder unmittelbar hinter Z. wird der GI ›Palette‹ das Lokal verlassen und wird sich an die rechte Seite des Z. begeben. Wenn ›Schenkel‹ das Lokal verlassen will, wird ›Palette‹ die Tür dem ›Schenkel‹ vor der Nase zuschlagen. 5.) Der GM ›Schenkel‹ wird beim Aufstehen den stark Angetrunkenen markieren und sich beleidigt wieder hinsetzen und im größeren Maßstabe weitertrinken. 6.) Der GI ›Palette‹ und der GI ›Georg‹ werden Z. in die Mitte nehmen und gegebenenfalls mit Gewaltmitteln diesen zum bereitstehenden Pkw – Marke F 9 – über die ca. 20 m breite Strasse bringen.«29 28 Vgl. Zwischenbericht, Abt. III, 13.12.1954. BStU, MfS, BV Potsdam, AOP 329/55, Bd. 1, S. 30–39; 15 Treffberichte GM »Schenkel«, Abt. III, 10.12.1954.–14.2.1955. Ebenda, S. 20–28, 48– 51, 57–59, 102 f., 105–108, 139–148, 153–159, 163–167, 178, 183, 186–188, 209–212; Treffbericht GI »Georg«, Abt. III, 10.1.1955. Ebenda, S. 93–96; Bericht, GI »Palette«, 1.2.1955. Ebenda, S. 160–162; Bericht, GI »Georg«, 2.2.1955. Ebenda, S. 168 f.; Perspektivplan, Abt. III, 14.2.1955. Ebenda, S. 213 f.; Auskunftsbericht, Abt. III, 14.2.1955. Ebenda, S. 215–217. Im Februar 1955 wurde auch die HA I/1 auf Zacher aufmerksam, stellte jedoch fest, dass die Abt. III der BV Potsdam Zacher bereits länger im Visier hatte und seine Entführung beabsichtigte. Vgl. Beschluss, HA I/1, 19.2.1955. BStU, MfS, AOP 241/55, S. 6 f.; Operativplan, HA I/1, 21.2.1955. Ebenda, S. 57 f.; Bericht, HA I/1, 4.3.1955. Ebenda, S. 68–72; Schlussbericht, HA I/1, 13.4.1955. Ebenda, S. 108 f. 29 Operativplan, Abt. III, 10.2.1955. BStU, MfS, BV Potsdam, AOP 329/55, Bd. 1, S. 198– 206, Zitat S. 202 f. Vgl. Treffbericht, Abt. III, 15.2.1955. Ebenda, S. 218–222. Laut eines Berichts der HA I/1 gab es auch noch den Vorschlag, Zacher »während des Trinkens ein Pulver ins Getränk zu
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Anfang März 1954 modifizierte die Abteilung III den Entführungsplan ein wenig. Der Tatort sollte derselbe bleiben, aber anvisiert wurden nun zwei verschiedene Varianten: Bei der ersten Variante sollte der GM »Schenkel« mit Zacher das Lokal aufsuchen und ihn zum Alkoholkonsum animieren. Beim Verlassen des Lokals sollte sodann ein MfS-Mitarbeiter an Zacher herantreten und ihn um Feuer bitten. In diesem Moment sollte Zacher von »Schenkel« und dem MfS-Mitarbeiter überwältigt und in ein bereitstehendes Fahrzeug gezerrt werden, wo er gegebenenfalls mit Chloroform betäubt werden sollte. Falls diese Variante nicht gelang, sollte zwei Tage später ein zweiter Versuch erfolgen. Dieses Mal sollte die Legende eines Treffens mit einem Informanten zum Einsatz kommen, wie es bereits im ersten Entführungsplan vorgesehen war. Nach einem Treffen in dem Lokal sollten der vermeintliche Informant und der GM »Schenkel« Zacher in einen auf Ostberliner Gebiet parkenden Wagen locken. Wenn sich Zacher nicht dorthin locken ließ, sollte er – wie bei der ersten Variante – vor dem Lokal überwältigt werden.30 Die gewaltsame Verschleppung Zachers am Abend des 10. März 1955 erfolgte anscheinend nach der zweiten Variante. Die Abteilung III vermerkte am 18. März 1955, dass Zacher gemäß des Operativplans vom 4. März 1955 »festgenommen« worden sei.31 Der Vater von zwei Kindern im Alter von sieben und acht Jahren wurde vom Bezirksgericht Potsdam zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt und kehrte erst 1968 durch Freikauf in die Bundesrepublik zurück.32 Nicht wenige Entführungsopfer wurden von vermeintlichen Freunden oder Bekannten im Auftrag des MfS zu übermäßigem Alkoholkonsum animiert und dann im alkoholisierten Zustand auf dem vermeintlichen Heimweg über die Grenze gebracht. Ein Beispiel ist der im März 1954 nach West-Berlin geflohene Siegfried Wenzel. Er stand seit Herbst 1954 im Visier des MfS, das ihn verdächtigte, für den amerikanischen Geheimdienst tätig zu sein, und zunächst plante, ihn zu überwerben. Zu diesem Zweck sollte eine weibliche GM ihn zum freiwilligen Betreten Ost-Berlins bewegen, doch es gelang ihr nicht. Die Hauptabteilung II/1 setzte daraufhin den GM »Bär« und die KP »Neuhaus« auf Siegfried geben und gewaltsam zu entführen«. Dieser Vorschlag sei jedoch abgelehnt worden. Vgl. Bericht, HA I/1, 4.3.1955. BStU, MfS, AOP 241/55, S. 68–72, hier 71. 30 Vgl. Plan, Abt. III, 4.3.1955. BStU, MfS, BV Potsdam, AOP 329/55, Bd. 2, S. 24–30. Laut eines Berichts der HA I/1 wurde der Plan von Erich Mielke bestätigt und die HA II/1 war für die Koordinierung der Entführungsaktion zuständig. Vgl. Bericht, HA I/1, 4.3.1955. BStU, MfS, AOP 241/55, S. 68–72, hier 68. 31 Vgl. Bericht, Abt. III, 18.3.1955. BStU, MfS, BV Potsdam, AOP 329/55, Bd. 2, S. 40–44, hier 40; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 11.3.1955. BStU, MfS, AP 21815/80, S. 34 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 11.3.1955. Ebenda, S. 40 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 14.3.1955. Ebenda, S. 42; Wieder Menschenraub. Politischer Flüchtling in Ost-Limousine entführt. In: Nachtdepesche, 11.3.1955. 32 Vgl. Mitteilung, DRK Hamburg, 7.3.1956. BStU, MfS, AP 21815/80, S. 13; Im Namen des Volkes! Hauptagent warb 13 Spione. In: Märkische Volksstimme, 26.6.1955.
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Wenzel an, die seit März 1956 seine Entführung vorbereiteten.33 Ein erster Entführungsplan sah vor, dass der GM »Bär« Siegfried Wenzel, den er bereits einige Monate kannte, mit »Neuhaus« bekannt machen sollte. Nach einem gemeinsamen Lokalbesuch und reichlichem Alkoholkonsum sollten sie Siegfried Wenzel vorschlagen, ihn mit dem Wagen nach Hause zu fahren und ihn sodann über die »Schleuse Koch-/Zimmerstrasse in den demokratischen Sektor« bringen.34 Die Durchführung des Plans verschob sich allerdings immer wieder und erfuhr schließlich eine Änderung. »Neuhaus« nahm direkt Kontakt zu Siegfried Wenzel in dessen Stammlokal auf und schlug ein Geschäft vor, an dem sich der erwerbslose Wenzel beteiligen könne. Die Abwicklung dieses vermeintlichen Geschäfts sollte die Gelegenheit bieten, ihn zu entführen. So sollte »Neuhaus« die Aussicht auf einen erfolgreichen Geschäftsabschluss mit ihm in einem Lokal feiern. Nach dem Lokalbesuch sollte er den betrunkenen Siegfried Wenzel unter einem Vorwand auf ein Ruinengelände in der Potsdamer Straße führen, wo dieser überwältigt werden sollte.35 Die zuständige Hauptabteilung II nahm jedoch Abstand von dem Plan einer Gewaltanwendung auf Westberliner Gebiet. Der zweite Entführungsplan wurde diesbezüglich geändert, und zwar im Sinne des ersten Entführungsplans: »Neuhaus« sollte Siegfried Wenzel nach dem gemeinsamen Lokalbesuch vorschlagen, ihn mit dem Wagen nach Hause zu bringen. Auf der Fahrt sollte er in der Nähe des Potsdamer Platzes vortäuschen, sich verfahren zu haben, und den Wagen gezielt in die auf Ostberliner Gebiet liegende Voßstraße lenken. Dort sollten bereits Mitarbeiter der Hauptabteilung II/1 in Uniformen der Volkspolizei warten, um eine Kontrolle zu fingieren und in diesem Rahmen Siegfried Wenzel festzunehmen.36 Am Abend des 25. August 1956 wurde Siegfried Wenzel auf diese Weise verschleppt. Vor dem Bezirksgericht Frankfurt/O. wurde er wegen Spionage zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt
33 Die weibliche GM meldete sich im Dezember 1954 bei der Volkspolizei und informierte über Siegfried Wenzel, den sie im Flüchtlingslager Volkmarstraße kennengelernt hatte. Sie war im März 1954 aus der DDR geflohen und wollte nun zurückkehren. Vgl. Operativplan, Abt. II/4, 13.12.1954. BStU, MfS, AOP 785/57, Bd. 1, S. 43 f.; Zwischenbericht, Abt. II/4, 4.2.1955. Ebenda, S. 16–19; Operativplan, Abt. II/4, 7.2.1955. Ebenda, S. 20–22; Sachstandsbericht, Abt. II/4, 5.7.1955. Ebenda, Bd. 2, S. 92–97; Auskunftsbericht, HA II/1, 23.3.1956. Ebenda, Bd. 4, S. 8–13; Plan, HA II/1, 21.3.1956. Ebenda, S. 14–21. 34 Plan, HA II/1, 21.3.1956. BStU, MfS, AOP 785/57, Bd. 4, S. 14–21, hier 20. An der »Schleuse« am Posten der Volkspolizei in der Jerusalemer Straße sollten zwei MfS-Mitarbeiter dafür sorgen, dass »das Fahrzeug bei mehrmaligen Auf- und Abblenden ungehindert passieren kann«. Siehe ebenda. 35 Vgl. neun Treffberichte, HA II/1, 9.4.–26.7.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 103 f., 118, 121 f., 127, 130, 132, 157, 160 f.; Bericht, KP »Neuhaus«, 25.7.1956. Ebenda, S. 162 f.; Bericht, KP »Neuhaus«, 31.7.1956. Ebenda, S. 171–174; Plan, HA II/1, 1.8.1956. Ebenda, S. 175 f.; Bericht, GM »Bär«, 15.5.1956. BStU, MfS, AIM 3112/83, Teil II/1, FK 3, S. 38. 36 Vgl. Plan, HA II/1, 3.8.1956. BStU, MfS, AOP 786/57, Bd. 4, S. 33–37; drei Treffberichte, HA II/1, 7.–31.8.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 177, 186, 188.
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und kehrte im August 1964 zurück, nachdem die Bundesrepublik ihn freigekauft hatte.37 Manche Entführungsopfer wurden unter einem Vorwand in unmittelbare Grenznähe gelockt, dort überwältigt und über die Sektorengrenze gezerrt. Dieses Schicksal erlitt beispielsweise der Westberliner Karl-Albrecht Tiemann im Sommer 1954. Der 52-Jährige war im Frühjahr 1950 aus Cottbus geflohen und geriet als Mitarbeiter des Amtes Blank im Sommer 1951 durch einen GM-Bericht in das Visier des MfS. Bereits ein gutes Jahr später gab es MfSintern erste Überlegungen, ihn nach Ost-Berlin zu entführen. Eine passende Gelegenheit ergab sich im Sommer 1954 durch einen Cousin Tiemanns, der im Januar desselben Jahres als GM »Brigade« vom MfS gezielt angeworben worden war. Unter dem Vorwand, Tiemann einen Informanten vermitteln zu wollen, lockte »Brigade« ihn am Abend des 1. August 1954 für eine angebliche Zusammenkunft zum Westberliner Böttcherberg in der Nähe der Glienicker Brücke, der an drei Seiten an das Gebiet der DDR grenzte. Ob Tiemann dort die Grenze überschritt und festgenommen wurde oder von einem MfSKommando überwältigt und über die Grenze gezerrt wurde, bleibt ungeklärt.38 In einem Geheimprozess vor dem Bezirksgericht Cottbus, in dem sich Tiemann standhaft zur Wehr setzte, wurde er im März 1955 wegen schwerer Spionage zum Tode verurteilt. Sowohl seine Berufung als auch ein Gnadengesuch an den Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck blieben erfolglos: In den frühen Morgenstunden des 26. Juli 1955 wurde er in Dresden enthauptet.39 37 Die fingierte Polizeikontrolle übernahmen 7 MfS-Mitarbeiter der Abt. VIII. Vgl. 3 Treffberichte, HA II/1, 7.–31.8.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 177, 186, 188; Festnahmebericht, Abt. VIII, 28.8.1956. BStU, MfS, AU 244/57, Bd. 1, S. 21; Urteil, Bezirksgericht Frankfurt/O., 15.3.1957. Ebenda, Bd. 4, S. 81–90; Beschluss, Bezirksgericht Frankfurt/O., 12.8.1964. Ebenda, Bd. 8, S. 184. »Neuhaus« nutzte das Vertrauen von Wenzels Ehefrau, um nach der Entführung belastendes Material aus dessen Wohnung zu beschaffen. Vgl. fünf Treffberichte, HA II/1, 1.–8.9.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 189 f., 191, 193 f., 197 f., 202; Vorschlag zur Prämierung, HA II/1, 5.9.1956. Ebenda, S. 201. 38 In den MfS-Akten findet sich kein Bericht über den tatsächlichen Ablauf der Entführung, nur ein entsprechender Operativplan. Vgl. Zwischenbericht, MfS, 25.8.1952. BStU, MfS, AOP 151/53, Bd. 1, S. 194–198; Bericht mit Entführungsvorschlägen, GM »Adler«, 27.8.1952. Ebenda, S. 249; Bericht, GM »Adler«, 5.9.1952. Ebenda, S. 247 f.; Zwischenbericht, MfS, 13.10.1952. Ebenda, Bd. 2, S. 92–98; Vermerk, ZERV 213, 7.1.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 122/95, Bd. 3, Bl. 84–93, hier 86 f.; Vermerk, ZERV 213, 16.1.1997. Ebenda, Bl. 96 f.; Mitteilung, ZERV an Staatsanwaltschaft II, 24.3.1997. Ebenda, Bl. 134–136; Vermerk, ZERV 213, 20.6.1997. Ebenda, Bl. 163; Zusammenfassung der Ermittlungsergebnisse, ZERV 213, 14.10.1997. Ebenda, Bl. 180–185; Roger Engelmann: Karl-Albrecht Tiemann. In: Karl Wilhelm Fricke, Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hg.): Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder. München 2002, S. 305–310, hier 306 f. 39 Vgl. Schlussbericht, MfS, 14.12.1954. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 2, S. 517–541; Bericht über Prozessverlauf, HA IX/1, 2.3.1955. Ebenda, S. 285–288; Protokoll der Hauptverhandlung, Bezirksgericht Cottbus, 28.2.1955. Ebenda, Bd. 4, S. 94–116; Urteil, Bezirksgericht Cottbus, 3.3.1955. Ebenda, S. 117–135; Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 1.4.1955. Ebenda, S. 146–161; Gnadengesuch, Cottbus, 9.4.1955. Ebenda, S. 172; ablehnender Bescheid, Präsident der DDR
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Eine Falle an der Sektorengrenze zu stellen, beabsichtigte das MfS auch bei dem Westberliner Roland Schmidt, den es seit März 1957 als mutmaßlichen Mitarbeiter des englischen Geheimdienstes verfolgte. Ein Drogerist aus Beeskow hatte Schmidt bei einem Besuch in West-Berlin kennengelernt und berichtete dies dem MfS, das ihn als GM »Doris« anwarb. Bereits im September desselben Jahres plante die Abteilung II/2 der MfS-Bezirksverwaltung Frankfurt/O. – in Absprache mit der Hauptabteilung II/2 – Schmidts Festnahme und Überwerbung. Der GM sollte Schmidt unter dem Vorwand eines Fleischeinkaufs auf Ostberliner Gebiet locken und so die Festnahme ermöglichen. Doch Schmidt weigerte sich stets, die Sektorengrenze zu überschreiten.40 Die zuständigen MfS-Mitarbeiter planten daraufhin eine neue Falle an der Sektorengrenze, und zwar in Form einer »Materialschleuse«. Der GM »Doris« stellte zu diesem Zweck den Kontakt zwischen Schmidt und dem GM »Marco« der HA II/2 her, der gegenüber Schmidt als Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes auftrat. In dieser Funktion bat der GM »Marco« Schmidt mehrmals, an der Sektorengrenze nach einer Hülse zu suchen, die Informationsmaterial aus der DDR enthalten sollte. Auch in diesem Entführungsfall ist nicht überliefert, ob Schmidt am 4. Februar 1959 auf Westberliner Seite der Sektorengrenze überwältigt wurde – was angesichts seines vorherigen Verhaltens zu vermuten ist – oder auf Ostberliner Seite festgenommen wurde.41 Das Bezirksgericht Frankfurt/O. verurteilte ihn im Mai 1959 zu neun Jahren Zuchthaus wegen Spionage. Ein Anklagepunkt war dabei auch sein Kontakt zu dem vermeintlichen Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes, der als GM vom MfS auf Schmidt angesetzt war, um dessen Verschleppung zu ermöglichen. Nach einer Berufung setzte das Oberste Gericht der DDR die Strafe mit dem Wilhelm Pieck, 27.6.1955. Ebenda, S. 173; Vollstreckungsprotokoll, Untersuchungshaftanstalt I Dresden, 26.7.1955. Ebenda, Bd. 7, S. 211; Engelmann: Karl-Albrecht Tiemann, S. 308 f. Die Untersuchungshaftanstalt I in Dresden war bis 1960 die zentrale Hinrichtungsstätte in der DDR. Vgl. Falco Werkentin: »Die Todesstrafe wird mittels Fallbeil in einem umschlossenen Raum vollzogen.« Der Münchner Platz als Hinrichtungsstätte 1952–1956. In: Norbert Haase, Birgit Sack (Hg.): Münchner Platz, Dresden. Die Strafjustiz der Diktaturen und der historische Ort. Leipzig 2001, S. 199–211. 40 Vgl. Auskunftsbericht, Abt. II/2, 30.3.1957. BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AOP 14/59, Bd. 1, S. 11–13; Beschluss, Abt. II/2, 21.9.1957. Ebenda, S. 95 f.; Operativplan, Abt. II/2, 23.9.1957. Ebenda, S. 97; Treffbericht, Abt. II/2, 13.11.1957. Ebenda, S. 112–116; Operativplan, Abt. II/2, 2.12.1957. Ebenda, S. 124 f.; Operativplan, Abt. II/2, 17.1.1958. Ebenda, S. 146 f. Die Abt. II/2 der BV Frankfurt/O. hielt Rücksprache mit der Hauptabteilung II/2, die dem Festnahmeplan zustimmte und später ihre Unterstützung anbot. Vgl. Aktenvermerk, Abt. II/2, 24.9.1957. Ebenda, S. 99; Aktenvermerk, Abt. II, 3.4.1958. Ebenda, S. 184 f. 41 Vgl. Plan zur Festnahme, Abt. II/2, 8.12.1958. BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AOP 14/59, Bd. 1, S. 224–226; zwei Treffberichte, Abt. II, 16.12.1958. Ebenda, S. 227–236; Treffbericht, HA II/2, 1.8.1958. Ebenda, Bd. 2, S. 55 f.; fünf Treffberichte, Abt. II, 2.8.–4.11.1958. Ebenda, S. 37–40, 42–52, 67–74, 85–91, 99–103; Aktenvermerk, Abt. II/2, 30.11.1958. Ebenda, S. 104; Vorführbericht, Kreisgericht Frankfurt/O., 5.2.1959. BStU, MfS, BV Fankfurt/O., AU 52/59, Bd. 1, S. 17; Einlieferungsanzeige, 4.2.1959. Ebenda, Bd. 2, S. 7–10.
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Hinweis auf den Umfang seiner Spionagetätigkeit auf sieben Jahre herab. Nach über fünf Jahren Haft wurde der 72-Jährige aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands im November 1964 in die Bundesrepublik entlassen.42 Im Vordergrund des öffentlichen Interesses – damals und heute – standen und stehen die gewaltsamen, oft brutalen Entführungen. Sie erregten größeres Aufsehen, da sie nicht selten spektakulär verliefen und ihnen ›prominente‹ Gegner des SED-Regimes zum Opfer fielen. Dieser größere Bekanntheitsgrad entspricht jedoch nicht dem quantitativen Auftreten: Etwa ein Viertel der Entführungsaktionen des MfS erfolgten unter dem Einsatz von körperlicher Gewalt.43 In den meisten Fällen war sie von vornherein fester Bestandteil der mitunter mit Akribie geplanten Entführungsaktionen. Das MfS stattete die von ihm beauftragten Entführer zum Teil mit Pistolen und anderen Waffen aus und ließ Entführungsopfer brutal zusammenschlagen. Bei mehr als einem Viertel dieser gewaltsamen Entführungen veranlasste es auch den Einsatz von Betäubungsmitteln, die dem arglosen Opfer in vergifteten Pralinen, Zigaretten oder Getränken verabreicht wurden. Zu dieser Methode griff das MfS vor allem in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, als ein größeres Augenmerk auf den möglichst lautund spurlosen Ablauf einer Entführung gelegt wurde. »Die Methode des SSD, ihm unliebsame Personen in West-Berlin durch Gift zu betäuben und zu beseitigen, ist ebenso neu wie gemein und hinterhältig. Sie darf auf keinen Fall Schule machen.«, begründete ein Richter am Berliner Landgericht sein Urteil gegen einen 29-jährigen Westberliner im Mai 1955. Der Angeklagte wurde des versuchten Menschenraubs in Tateinheit mit Giftbeibringung schuldig gesprochen und erhielt eine Zuchthausstrafe von zwölf Jahren. Zwei Monate zuvor hatte er versucht, eine RIAS-Mitarbeiterin mit vergifteten Cognacbohnen zu betäuben und in die DDR zu entführen. Doch die junge Frau war nicht wie geplant im Café in Berlin-Wilmersdorf, sondern erst vor ihrer Wohnungstür zusammengebrochen und entging dadurch der geplanten Entführung.44 Einige Beispiele für gewaltsame Entführungsaktionen werden im Kapitel II ausführlich dargestellt, um die Vorgehensweise des MfS zu veranschaulichen.
42 Vgl. Urteil, Bezirksgericht Frankfurt/O., 14.5.1959. BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AU 52/59, Bd. 2, S. 332–346; Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 23.6.1959. Ebenda, S. 368–383; Beschluss, Bezirksgericht Frankfurt/O., 9.6.1964. Ebenda, S. 451 f.; Mitteilung, Staatsanwaltschaft an Bezirksgericht Frankfurt/O., 22.6.1965. Ebenda, Bd. 3, S. 244. 43 Die gewaltsamen, aber spontan erfolgten Festnahmen an den Sektoren- und Zonengrenzen bleiben hier unberücksichtigt. Wenn sie dazugerechnet werden, bewegt sich der Anteil gewaltsamer Entführungen bei ungefähr 35 %. 44 Urteil, Landgericht Berlin, 17.5.1955. BArch, B 137/1063, o. Pag. Vgl. Menschenraub jetzt unauffälliger. Vergiftete Pralinen – Entführung einer RIAS-Mitarbeiterin mißglückt. In: Tagesspiegel, 6.4.1955; Die süße Falle des SSD. In: IBZ – Die Illustrierte Westberlins, 28.5.1955; Ein Mensch zappelt im Netz der Geheimdienste. Der Fall des Berliner Agenten Beck vor Gericht. In: Süddeutsche Zeitung, 20.5.1955; Senat von Berlin: Chronik 1955–1956, S. 160 f.
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Die Entführungspraxis des MfS und ihre Folgen
Die Entführungen und Verschleppungen des MfS waren ein Phänomen der 1950er Jahre – einer Zeit, in der die Entwicklung und Ausrichtung des Staatssicherheitsapparates von den Herrschaftskrisen des SED-Regimes und der Systemkonkurrenz zum »Klassenfeind« im Westen geprägt war. In diesem Kontext ist die Genese der Entführungspraxis des MfS mit ihren verschiedenen Entführungsvarianten zu betrachten.45 Aufschlussreich sind dabei die Entführungszahlen, auch wenn aus dem vorliegenden Zahlenmaterial nur bedingt Rückschlüsse auf die Entwicklung der Entführungspraxis im Staatssicherheitsapparat gezogen werden können. Denn die Anzahl der Entführungsversuche in diesen Jahren ist unbekannt, somit kann weder eine Aussage über die Gesamtzahl versuchter und vollendeter Entführungsaktionen noch über die Erfolgsquote gemacht werden. Es könnte also sein, dass in einem Jahr, in dem viele Entführungen dokumentiert sind, insgesamt eigentlich weniger Entführungsaktionen als in einem anderen Jahr veranlasst wurden, in dem aber viele Entführungsversuche scheiterten. Dennoch ist dieser Blick auf die quantitative Verteilung der Entführungsaktionen, der beiden Entführungsvarianten und ihr Verhältnis zueinander erkenntnisbringend. I.1
Die Entwicklung der Entführungspraxis des MfS
Die erste Hälfte der 1950er Jahre lässt sich deutlich als Hochphase der Entführungsaktionen verstehen: Rund 75 Prozent der Entführungen und Verschleppungen ereigneten sich in den Jahren 1950 bis 1955. Bemerkenswert ist der große Anteil von rund 55 Prozent in den ersten vier Jahren des Bestehens des MfS-Apparates, als dieser unter der Leitung von Wilhelm Zaisser46 stand. In der bisherigen Forschung wurden grenzüberschreitende Operationen des Staatssicherheitsdienstes in seiner Amtszeit als eher singuläres Phänomen bezeichnet.47 Der quantitative Unterschied zur Ära von Ernst Wollweber48 an der MfS-Spitze ist jedoch erheblich, auch wenn der sowjetische Geheimdienst in dieser Zeit als wesentlicher Akteur berücksichtigt werden muss: Etwa 25 Prozent der Entführungen und Verschleppungen sind in seiner Amtszeit von 1953 bis 1957 zu verzeichnen. Wollwebers Strategie der »konzentrierten Schläge«, mit denen er gegen »Provokateure, Saboteure, Diversanten, Putschisten und die Organisato45 Die Auswertung der verschiedenen Überlieferungen erbrachte 409 Entführungsfälle von 1950 bis einschließlich 1964. Vereinzelt sind auch noch Entführungsaktionen aus den 1970er und 1980er Jahren überliefert, weil diese jedoch sehr singulär sind, wurden sie nicht berücksichtigt. Da im Folgenden die Entführungsvarianten des MfS analysiert werden sollen, wurden die 62 spontanen Verschleppungen der Volks- bzw. Grenzpolizei in Abzug gebracht. Grundmenge der folgenden Erhebungen sind also 347 Fälle, darunter 40 Entführungen oder Verschleppungen mit unbekanntem Verlauf. 46 Zur Biografie von Wilhelm Zaisser vgl. Müller-Enbergs: Wilhelm Zaisser, S. 32–59. 47 Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1174; Fricke: Entführung, S. 73; MüllerEnbergs: Wilhelm Zaisser, S. 51. 48 Zur Biografie von Ernst Wollweber vgl. Engelmann: Ernst Wollweber, S. 179–206.
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ren der Zersetzung«49 vorgehen wollte, veränderte allerdings die ›Qualität‹ der Entführungsaktionen. Seine »konzentrierten Schläge« führten nach dem Krisenjahr 1953 zu einem neuerlichen Anstieg der Entführungszahlen insgesamt und insbesondere der gewaltsamen Entführungen in den Jahren 1954/55. Generell zeichnet sich im Laufe der 1950er Jahre jedoch ein Abwärtstrend ab. Nach der zaghaften Entstalinisierungsphase und Krise an der Führungsspitze des MfSApparates 1956/57 und dem dortigen Wechsel von Ernst Wollweber zu Erich Mielke im November 1957 lässt sich zwar nochmals ein kleiner Anstieg erkennen. Die langsame Abkehr von der Entführungspraxis im Staatssicherheitsapparat ist aber offensichtlich, wie die folgende Tabelle illustriert. Sie führt die Anzahl der Entführungen und Verschleppungen unter Abzug der spontanen Festnahmen im Grenzgebiet (FG) gesondert auf, da diese das Bild leicht verfälschen.
Jahr
1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 Gesamt
Anteil Entführungen/ Entführungen/ Verschleppungen gesamt Verschleppungen (mit FG) (mit FG) (ohne FG) in % 63 15,5 62 72 17,7 67 61 15 42 29 7,1 24 37 9,1 37 33 8,1 26 11 2,7 11 10 2,5 7 19 4,7 17 12 2,9 12 17 4,2 14 25 6,2 10 10 2,5 4 5 1,2 2 2 0,5 1 406 100,0 336
Anteil gesamt (ohne FG) in % 18,5 19,9 12,5 7,1 11 7,7 3,3 2,1 5,1 3,6 4,2 3 1,2 0,6 0,3 100,0
Tabelle 1: Entführungen und Verschleppungen (mit und ohne Festnahmen im Grenzgebiet) 1950 bis 1964 49 Referat Ernst Wollweber auf einer Zentralen Dienstkonferenz am 11./12.11.1953, zit. in: Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1174.
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Beim detaillierten Blick auf die Zahlen der Entführungen und Verschleppungen fällt zunächst das Jahr 1953 auf, indem das MfS 18 Entführungsaktionen weniger als im Vorjahr vollendete. Die Zahl der gewaltsamen Entführungen sank dabei von sieben auf vier und die Zahl der Verschleppungen ging um mehr als ein Drittel zurück: Von den 24 Entführungsaktionen verliefen vier gewaltsam und 20 mit einem Täuschungsmanöver. Dieser gravierende Rückgang dürfte zum einen mit dem Erfahrungshorizont der Westberliner Bevölkerung in Zusammenhang stehen. Dort hatte die gewaltsame Entführung des Rechtsanwalts Walter Linse im Juli 1952 viel Aufsehen erregt.50 Nicht zuletzt durch die umfangreiche Berichterstattung in den Medien – auch über andere Entführungsfälle – dürften die Menschen in West-Berlin sensibilisiert gewesen sein und weniger arglos die Grenze nach Ost-Berlin passiert haben. Dies schlägt sich in dem deutlichen Rückgang der Verschleppungszahlen nieder. So gelangen im ersten Halbjahr 1952 noch doppelt so viele Verschleppungen mit Täuschungsmanövern wie im zweiten Halbjahr. In diesem Zusammenhang wäre allerdings auch die Zahl der Entführungsversuche und abgebrochenen Entführungspläne interessant. Sie würde Aufschluss darüber geben, ob Verantwortliche im Staatssicherheitsapparat angesichts des öffentlichen Aufsehens um den Fall Linse von Entführungsabsichten vorerst abrückten. Zum anderen werden die Gründe für den auffälligen Rückgang im MfSApparat zu suchen sein, den das Krisenjahr 1953 erschütterte. Die zweite Jahreshälfte 1952 und das Frühjahr 1953 hatte im Zeichen des harten Repressionskurses nach der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 gestanden, auf welcher der Aufbau des Sozialismus und die Verschärfung des Klassenkampfes erklärt worden war. Das MfS verstärkte die repressiven Maßnahmen, die alle Bevölkerungsteile trafen, und maß die Wirksamkeit, also den Erfolg seiner Arbeit an den Verhaftungszahlen. In wenigen Monaten verdoppelte sich die Anzahl der Insassen in den DDR-Gefängnissen und die verstärkte Repression sowie die Verschlechterung der Versorgungslage führten zu einem gravierenden Anstieg der Flüchtlingszahlen.51 Im Juni 1953 signalisierte der Volksaufstand, der von der sowjetischen Armee niedergeschlagen wurde, eindeutig die mangelnde Akzeptanz der SED-Diktatur in der DDR-Bevölkerung. Gleichzeitig demonstrierte er die Unfähigkeit des MfS, die Stimmung und Lage in der DDR-Gesellschaft richtig zu erkennen. Die Politbürokratie schob die Verantwortung für den Juni-Aufstand auf ein Versagen des Staatssicherheitsdienstes, vor allem seines Leiters Wilhelm Zaisser. Ihm machte die SED-Führung den Vorwurf, zu zögerlich gegen »westliche Feindzentralen« vorgegangen zu sein. 50 Vgl. Benno Kirsch: Walter Linse 1903–1953–1996. Dresden 2007. 51 Vgl. Falco Werkentin: Der totale soziale Krieg. Auswirkungen der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung. Berlin 2002, S. 23–54; Müller-Enbergs: Zaisser, S. 51, 54; Weber: DDR, S. 150 f.
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Auf diesem Wege bot sich für Walter Ulbricht die Gelegenheit, sich eines Rivalen und Widersachers zu entledigen, der ein anderes Verständnis von der Rolle des MfS im SED-Herrschaftssystem hatte. Die Personalentscheidung für die Leitung des zum Staatssekretariat herabgestuften Staatssicherheitsdienstes traf aber die sowjetische »Brudermacht«, die mit Ernst Wollweber anscheinend ein Gegengewicht zum autokratischen Führungsstil von Walter Ulbricht installieren wollte.52 Die SED-Parteiführung nutzte die Gelegenheit, das MfS erheblich enger an sich zu binden, und bemühte sich um ein Ablenkungsmanöver von der offenkundig gewordenen Legitimationskrise. Sie erteilte dem Staatssicherheitsdienst den Auftrag, die angeblichen westlichen Drahtzieher des »faschistischen Putsches« zu entlarven. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Wilhelm Zaisser war Wollwebers Denken und Handeln offensiver geprägt, aber sozusagen auch fokussierter. Angesichts der disziplinarischen Missstände und Qualifikationsdefizite im Staatssicherheitsapparat wies er bereits kurz nach Amtsantritt seine Mitarbeiter an, grundlose Verhaftungen und Gewalttätigkeiten gegenüber Häftlingen zu unterlassen. Zugleich drohte er aber auch mit einer Bestrafung, wenn eine notwendige Verhaftung versäumt werden und der Tatverdächtige in den Westen entkommen würde. Dem kommunistischen »Parteisoldaten«, so Roger Engelmann, wurde »in einer herrschaftspolitisch prekären Phase die Aufgabe der Machtsicherung übertragen«, die er »in dem Bewusstsein ausübte, damit eine historische Mission zu erfüllen«.53 Vor diesem Hintergrund war für ihn die Liquidierung von »Feinden« und »Verrätern« völlig legitim. Der Staatssicherheitsdienst sei das »scharfe Schwert der Partei, mit dem der Feind unerbittlich geschlagen« werde, bekundete er auf dem IV. Parteitag der SED 1954.54 Seine Entschlossenheit und Härte zeigen sich in der strategischen Ausrichtung der MfS-Arbeit in den Jahren 1953 bis 1955: Mit »konzentrierten Schlägen« sollte nun gezielt und hart gegen »Feind- und Agentenzentralen« im Westen vorge52 Vgl. Müller-Enbergs: Wirken, S. 150, 156, 163–174; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 9–12; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 61 f.; Gieseke: Mitarbeiter, S. 155–165; Amos: Politik, S. 305–313. Als Repräsentant der stalinistischen Politik war Ulbrichts Machtposition nach dem Tod des sowjetischen Diktators 1953 gefährdet. Vgl. Mathias Tullner: Walter Ulbricht. Demontage eines lebenden Denkmals des Weltkommunismus. In: Thomas Großbölting, Rüdiger Schmidt (Hg.): Der Tod des Diktators. Göttingen 2011, S. 137–156, hier 140 f. 53 Engelmann: Ernst Wollweber, S. 194. Wollweber gehörte in der Novemberrevolution 1918 zu den Barrikadenkämpfern, war in der Weimarer Republik führend in der KPD aktiv und engagierte sich in der NS-Zeit im kommunistischen Untergrundkampf. Bereits seit Mitte der 1920er Jahre war er für sowjetische Dienste tätig. Vgl. Engelmann: Ernst Wollweber, S. 179–195, 198; ders.: Wollweber, Ernst: In: ders. u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 343–345; Weber/Herbst: Deutsche Kommunisten, S. 885 f. 54 Zit. in: Engelmann: Ernst Wollweber, S. 194. Vgl. Hermann Matern auf einer zentralen Dienstkonferenz im November 1953: »Wir müssen hart und rücksichtslos zuschlagen. Für knieweiche Pazifisten oder Mondgucker ist in unseren Reihen kein Platz.« Siehe Kowalczuk: Stasi konkret, S. 124–126, Zitat S. 125.
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gangen werden.55 Diese neue Offensivstrategie war unter direkter Beteiligung von Walter Ulbricht und den sowjetischen Chefberatern Jewgeni Pitowranow und Iwan Fadejkin konzipiert worden. Die »konzentrierten Schläge« sollten in Form von Propagandakampagnen, Infiltrierungsversuchen im Westen und zentral gesteuerten Massenverhaftungen erfolgen, aber auch Entführungen aus West-Berlin waren vorgesehen. Das Ziel dieser Offensive sollten Einrichtungen in West-Berlin sein, die im Verdacht standen, widerständige Kräfte in der DDR politisch und materiell zu unterstützen respektive Widerstandsaktionen sogar zu organisieren und initiieren. Neben den westlichen Geheimdiensten richtete sich das Augenmerk des MfS daher auch auf antikommunistische Organisationen wie beispielsweise den UFJ, die KgU und VPO sowie auf die Ostbüros der bundesdeutschen Parteien. Drei stabsmäßig organisierte Verhaftungswellen mit den Decknamen »Feuerwerk«, »Pfeil« und »Blitz« führten in den Jahren 1953 bis 1955 zur Festnahme Hunderter tatsächlicher und vermeintlicher Regimegegner. Die Verhaftungswellen wurden flankiert von Propagandakampagnen in der Presse und im Rundfunk sowie von Schauprozessen.56 Die »öffentliche Auswertung der verbrecherischen Tätigkeit der Untergrundbewegungen« sollte den Nachweis für die »Einheit und Geschlossenheit der Partei« erbringen und widerständiges Verhalten in der DDR-Bevölkerung als »Machwerk der Agentenzentralen« entlarven. Zudem sollte sie »Hass und […] Wachsamkeit bei allen anständigen deutschen Menschen« erzeugen.57 In öffentlichen Verlautbarungen betonte MfS-Chef Ernst Wollweber stets die »gezielten Schläge«, also die gezielten Festnahmen, um dem Anschein einer Verhaftungswelle entgegenzuwirken. In dieser Agitation verband sich, wie Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann konstatieren, »kalkulierte Einschüchterung mit dem Bemühen, das Ansehen der Repressionsorgane in der Bevölkerung zu verbessern«, indem der Eindruck willkürlicher Unterdrückung beseitigt werden sollte.58 Im Unterschied zu den beiden vorangegangen Repressionswellen »Feuerwerk« 1953 und »Pfeil« 1954 gegen westliche Geheimdienste richtete sich die Großaktion »Blitz« 1954/55 primär gegen politische Gegner im Westen – seien es Mitarbeiter antikommunistischer Organisationen, regimekritische Journalisten oder geflohene Funktionäre. Darüber hinaus standen aber auch 55 Referat von Ernst Wollweber auf einer Zentralen Dienstkonferenz des SfS, 11./12.11.1953. Zit. in: Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1174. 56 Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 7 f., 29, 38, 42–60; Fricke,/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1176 f.; Engelmann: Ernst Wollweber, S. 195–197; ders.: Westarbeit, S. 146 f.; Gieseke: Mitarbeiter, S. 167; ders.: Mielke-Konzern, S. 63; Knabe: West-Arbeit, S. 69–72. 57 Einschätzung, HA V, 17.1.1955. BStU, MfS, AS 171/56, Bd. 1, S. 6–8, hier 6. Vgl. Bericht, HA V, Dezember 1954. Ebenda, S. 27–34, hier 28; Plan zur Operation »Blitz«, MfS, März 1955. Ebenda, S. 68–88, hier 68. 58 Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 8. Vgl. Engelmann: Ernst Wollweber, S. 196.
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Mitarbeiter und Kontaktpersonen der westlichen, besonders der bundesdeutschen Geheimdienste im Visier.59 In der Dienstanweisung, die diese Aktion im November 1954 auslöste, heißt es: »Besondere Bedeutung kommt hierbei den Vorgängen zu, deren Liquidierung in Westberlin und Westdeutschland ihren Ausgang finden muß.«60 Festnahmen im sogenannten »Operationsgebiet«, sprich Entführungen, waren also ein fester Bestandteil der Strategie der »konzentrierten Schläge«, vor allem im Rahmen der Aktion »Blitz«, und wurden gezielt mit den Verhaftungswellen in der DDR kombiniert. Dementsprechend vermerkte ein Plan zur Operation »Blitz« als erste operative Maßnahme die »Überführung von einer Reihe offizieller Mitarbeiter und Residenten der oben genannten Feindzentralen, um a) sie zu überwerben, b) die freiwillige Rückkehr mit eigenem Geständnis zu inszenieren oder c) sie zu verhaften«.61 Das Ziel dieser Strategie benannte MfS-Chef Ernst Wollweber auf einer Dienstbesprechung im August 1955: »Wir müssen einen Zustand erreichen, wo in Westberlin jeder Agent damit rechnen muß, daß er in kurzer Zeit bei uns ist, ein Gefühl der Unsicherheit und […] wir müssen bei den Agenten in Westberlin eine solche Psychose erzeugen, daß sie auf verlorenem Posten stehen, […]«62 Wie diese Großaktionen im Gesamten wurden auch die vorgesehenen Entführungsaktionen systematisch geplant und koordiniert. In ungewöhnlicher Offenheit wurden sie in den Maßnahmeplänen und Berichten im Rahmen der Aktion »Blitz« benannt und erörtert.63 So findet sich in einem »Maßnahmeplan zur Bekämpfung der Ostbüros der bürgerl. Parteien« der Hauptabteilung V/3 vom Februar 1955 eine Auflistung von insgesamt neun potenziellen Entführungsopfern mit einer Erläuterung der (oftmals gewaltsamen) Entführungsmöglichkeiten. Die genannten ›Zielpersonen‹ waren größtenteils Mitarbeiter des CDU-Ostbüros, zum Teil in führender Position. Zudem sollte jeweils eine Sekretärin des FDP-Ostbüros und der VPO entführt werden, um die »Agentenkarteien« dieser Organisationen entwenden zu können. Diese beiden Entführungen beruhten nicht nur auf dem Hintergedanken, sich einen besseren Zugang zu den Karteien zu verschaffen. Vielmehr sollte dadurch die 59 Vgl. Bericht, HA V, Dezember 1954. BStU, MfS, AS 171/56, Bd. 1, S. 27–34; Maßnahmeplan, HA V/3, 2.12.1954. Ebenda, S. 35–54; Einschätzung, HA V, 17.1.1955. Ebenda, S. 6–8. Das MfS betrieb seit 1954 auch Vorbereitungen zur Entführung von Reinhard Gehlen, »Gründungsvater« und erster Chef des BND. Vgl. Bubke: Einsatz, S. 90–112. 60 Dienstanweisung Nr. 54/54, HA V, 16.11.1954. BStU, MfS, AS 171/56, Bd. 1, S. 2–5, hier 4. 61 Plan zur Operation »Blitz«, MfS, März 1955. BStU, MfS, AS 171/56, Bd. 1, S. 68–88, hier 68. 62 Referat von MfS-Chef Ernst Wollweber auf einer Dienstbesprechung, 5.8.1955. Zit. in: Knabe: West-Arbeit, S. 76. 63 Trotz aller Offenheit tauchen Begriffe wie »entführen« oder »verschleppen« nicht auf, stattdessen wird von »überführen« gesprochen. Vgl. Bericht, HA V, Dezember 1954. BStU, MfS, AS 171/56, Bd. 1, S. 27–34; Maßnahmeplan, HA V/3, 2.12.1954. Ebenda, S. 35–54; Maßnahmeplan, HA V/3, 5.2.1955. Ebenda, S. 14–24; Plan zur Operation »Blitz«, MfS, März 1955. Ebenda, S. 68–88.
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Möglichkeit geschaffen werden, diese Karteien auch öffentlich präsentieren zu können – und zwar nicht als Diebesgut, sondern als mitgebrachtes Material von vermeintlichen Überläufern.64 Ein weiterer Plan der Operation »Blitz« aus dem Monat März 1955 vermerkte neun anvisierte Entführungsopfer und die Möglichkeiten ihrer Entführung. Neben Mitarbeitern der Ostbüros und der Organisationen VPO sowie KgU befanden sich unter den ›Zielpersonen‹ auch die Publizistin Carola Stern und der Journalist Karl Wilhelm Fricke.65 Seine gewaltsame Entführung unter Anwendung eines Betäubungsmittels gelang kurze Zeit später auf die Weise, die in dem Plan erörtert worden war.66 Auffällig an den geplanten Entführungsaktionen im Rahmen dieser Großoperationen ist, dass sie oftmals die Anwendung von Gewalt vorsahen. De facto erreichte die Zahl gewaltsamer Entführungen im Jahr 1955 ihren höchsten Stand mit 18 Fällen. Bis 1954 überwog unter den Entführungsaktionen des MfS der Anteil der Verschleppungen deutlich. In den Jahren 1950 und 1951 gab es 48 bzw. 45 Verschleppungen und sechs bzw. zwölf Entführungen. 32 Verschleppungen und sieben Entführungen waren es sodann im Jahr 1952. Im Krisenjahr 1953 blieb dieses Verhältnis bei einer deutlich gesunkenen Gesamtzahl bestehen: 20 Verschleppungen und vier Entführungen. Im darauffolgenden Jahr – nun mit Ernst Wollweber an der MfS-Spitze – stieg die Gesamtzahl wieder durch eine Zunahme beider Entführungsvarianten: 26 Verschleppungen und zehn Entführungen. Dann jedoch kehrte sich das Verhältnis zwischen beiden Entführungsvarianten um: 1955 überwiegen 18 Entführungen gegenüber sieben Verschleppungen. Die Zahl der Verschleppungen hatte demnach erheblich abgenommen, die Zahl der gewaltsamen Entführungen sich hingegen fast verdoppelt. Die Verantwortlichen im MfS-Apparat waren sich anscheinend bewusst, dass die ›Zielpersonen‹ sich keineswegs auf den Boden der DDR locken lassen würden. Die Methode der Verschleppung mithilfe von Täuschungsmanövern funktionierte nicht mehr so gut wie zu Beginn der 1950er Jahre. Vorausgesetzt, dass die gewaltsamen Entführungen mitunter ein größeres Maß an Planung und Vorbereitung erforderten, zeigt sich hier aber auch ein »konzentrierteres« Vorgehen im Wollweber'schen Sinne. Die quantitative Verteilung der Entführungsaktionen offenbart einen weiteren Bruch in der Ära Wollweber: In den letzten beiden Jahren unter seiner Führung 1956/57 sind – im Vergleich zu insgesamt 63 Entführungsaktionen 1954/55 – nur noch 18 Entführungen und Verschleppungen zu verzeichnen. Im Jahr 1956 waren es insgesamt elf Entführungsaktionen, von denen vier mit Gewalt und sechs mit Täuschungsmanövern erfolgten. Von den sieben Ent64 65 66
Vgl. Maßnahmeplan, HA V/3, 5.2.1955. BStU, MfS, AS 171/56, Bd. 1, S. 14–24. Vgl. Plan zur Operation »Blitz«, MfS, März 1955. BStU, MfS, AS 171/56, Bd. 1, S. 68–88. Ausführliche Darstellung vgl. Fallbeispiel 5 in Kapitel II.2.
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führungsaktionen des MfS 1957 können drei als gewaltsam und drei als solche unter Anwendung von Täuschungsmanövern identifiziert werden. Die von ihm forcierte »Arbeit im und nach dem Westen« des MfS hatte zwar 1955 auf sowjetische Initiative eine massive Intensivierung erfahren. Der Hintergrund war die Entwicklung der Systemkonkurrenz in Deutschland, die mit der Integration der beiden deutschen Staaten in die jeweiligen Machtblöcke einen entscheidenden Punkt erreichte. Mit der Eingliederung der Bundesrepublik in die NATO hatte sich die politisch-militärische Situation in Mitteleuropa für die Sowjetunion verschlechtert. Aber der Westeinsatz sollte sich nunmehr in erster Linie auf die Aufklärungsarbeit, also die Gewinnung von Informationen, und »aktive Maßnahmen« konzentrieren, welche im feindlichen Lager Gegensätze vertiefen und Konflikte schüren sollten.67 Darüber hinaus zeigte die Entstalinisierung nach dem XX. Parteitag der KPdSU und der 3. Parteikonferenz der SED im Frühjahr 1956 trotz aller kalkulierten Zaghaftigkeit und Einschränkung ihre Wirkung. Die plötzliche Verdammung der stalinistischen Herrschaft führte in den Parteireihen der SED und im vom Hochstalinismus geprägten Staatssicherheitsapparat zu Verwirrungen und Verunsicherungen, die an Ulbrichts Machtstellung zerrten. MfS-Mitarbeiter reagierten mit Unverständnis auf die Abkehr von Stalin, dessen Vorgaben bis dato unantastbar waren. Als Hauptverantwortlicher für den stalinistischen Kurs der SED versuchte Walter Ulbricht mit aller Kraft, die Auswirkungen von Chruschtschows Abrechnung mit Stalin einzudämmen und eine Diskussion über die Herrschaftspraxis und Führungsposition der SED in der DDR zu unterbinden. Vor diesem Hintergrund erfolgte die Entstalinisierung im MfS wie in der gesamten DDR nur zaghaft und fand bereits nach der Niederschlagung der Ungarischen Revolution im Herbst 1956 ihr Ende. Die Zahl neuer Verhaftungen ging in diesem Jahr aber gravierend zurück und MfS-Chef Ernst Wollweber veranlasste zudem einige Milderungen, zum Beispiel hinsichtlich der Verhörmethoden und Haftbedingungen. Er zeigte »eine gewisse Sensibilität hinsichtlich repressiver Exzesse […], sofern nicht eindeutig ›Feinde‹ oder ›Verräter‹ betroffen waren«.68 Seine Gnadenlosigkeit gegenüber »Feinden« und »Verrätern« zeigen nicht zuletzt die Entführungsaktionen und die acht vollstreckten Todesurteile gegen Entführungsopfer in seiner Amtszeit. Die unterschiedlichen Vorstellungen von Walter Ulbricht und Ernst Wollweber über die Ausrichtung der MfS-Arbeit erhielten durch Wollwebers Haltung neue Nahrung und mündeten in einen Machtstreit. Ernst Wollweber widerstrebte Ulbrichts Auffassung, der eine stärkere Überwachung nach innen 67 Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 222–225; Engelmann: Westarbeit, S. 148–150; Knabe: West-Arbeit, S. 74–77. Das MfS bezeichnete Aktivitäten im Westen wie die Lancierung von Informationen, Versuche der Einflussnahme in politische Entscheidungsprozesse und auch Entführungen sowie Attentate als »aktive Maßnahmen«. Vgl. Müller-Enbergs: Maßnahmen, S. 206. 68 Engelmann: Ernst Wollweber, S. 202. Vgl. ebenda, S. 205.
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für notwendig erachtete und sich durch die Aufstände in Polen und Ungarn 1956 bestätigt sah. Im Zuge der Rückgewinnung seiner politischen Stärke forcierte Walter Ulbricht die Entmachtung Wollwebers und Unterordnung des MfS unter die SED-Führung. Wie schon im Konflikt mit dem ersten MfSChef Wilhelm Zaisser warf Walter Ulbricht Ernst Wollweber vor, sich gegen die Partei stellen zu wollen. Im Oktober 1957 erfolgte schließlich der »krankheitsbedingte« Rücktritt Wollwebers und die Übernahme der MfS-Führung durch Erich Mielke, der die Schwächung seines Vorgesetzten Wollwebers in Ulbrichts Sinne vorangetrieben hatte. Er revidierte Wollwebers Konzentration auf die »Westarbeit« und änderte die Ausrichtung der MfS-Arbeit nach Ulbrichts Vorstellungen auf eine stärkere innere Überwachung und Verfolgung. Mit Erich Mielke trat ein Mann aus der zweiten Reihe an die Spitze des MfS-Apparates, der eine skrupellosere Haltung als sein Vorgänger aufwies. Wollweber hatte versucht, extreme Formen geheimpolizeilicher Willkür zu vermeiden, seine Ära war aber nichtsdestotrotz durch harte Repression gekennzeichnet. Erich Mielke hatte daran allerdings bereits maßgeblichen Anteil, denn Ernst Wollweber hatte sich – wie sein Vorgänger Wilhelm Zaisser – in erster Linie politischen, organisatorischen sowie kaderpolitischen Fragen gewidmet und Erich Mielke das operative Tagesgeschäft weitgehend überlassen.69 Die erneute Verschärfung der Repression unter dem neuen MfS-Chef Erich Mielke spiegelt sich in der Anzahl der Entführungsfälle: Die Jahre 1958 bis 1960 verzeichnen nochmals einen Anstieg der Entführungszahlen von sieben Fällen im Jahr des Führungswechsels 1957 auf 17 Fälle 1958, zwölf 1959 und 14 1960. Der Anteil der gewaltsamen Entführungen lag dabei gleichbleibend zwischen zwei und vier Fällen, sodass die Steigerung wiederum auf einen Anstieg von Verschleppungen zurückzuführen ist. Trotz der stärkeren Konzentration auf die Repression im Innern der DDR verzichtete der überzeugte Stalinist Erich Mielke70 also ebenfalls keineswegs auf das Mittel der Entführung.
69 Vgl. Engelmann: Wollweber, S. 343–345; ders.: Ernst Wollweber, S. 199–205; ders./Schumann: Kurs, S. 3–27; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 224–237; Gieseke: Erich Mielke, S. 237, 251 f.; ders.: Mielke-Konzern, S. 65–67, 75; ders.: Mitarbeiter, S. 174–176, 208–217; Kowalczuk: Stasi konkret, S. 87. Zur Entstalinisierungsphase und den Folgen in der SED und DDR vgl. Hoffmann: DDR, S. 64–67, 75; Andreas Malycha: Die SED unter Ulbricht. In: Torsten Diedrich, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Staatsgründung auf Raten? Berlin 2005, S. 87–118, hier 104–108; Kowalczuk: Jahrzehnt, S. 85–88; Weber: DDR, S. 169–176, 188–198. 70 Mielke war seit 1921 in kommunistischen Jugendverbänden und der KPD organisiert. Im August 1931 war er an der Ermordung von 2 Polizisten beteiligt und entzog sich der strafrechtlichen Verfolgung durch eine Flucht nach Moskau. In den Reihen der Internationalen Brigaden nahm er am Spanischen Bürgerkrieg 1936 teil. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs verbrachte er im Untergrund in Belgien und Frankreich. Zur Biografie von Erich Mielke vgl. Gieseke: Erich Mielke, S. 237–263; ders.: Mielke, Erich. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 207–209; Wilfriede Otto: Erich Mielke – Biographie. Aufstieg und Fall eines Tschekisten. Berlin 2000. Klaus
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Die Überwachung und Verfolgung gegnerischer Kräfte im Westen sah auch er als wesentliche Aufgabe des MfS im Dienste der Herrschaftssicherung, denn eine »Interdependenz des politischen Widerspruchs in beiden deutschen Staaten« stand außer Frage.71 In diesem Zusammenhang darf ferner die personelle Kontinuität auf der unteren Führungsebene im MfS nicht vergessen werden: Seit 1955 amtierte Bruno Beater als Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, zu dessen Anleitungsbereich die Diensteinheiten gehörten, die maßgeblich an den Entführungsaktionen beteiligt waren. Mit diesem Hinweis fällt das Augenmerk auf die Frage nach den Zuständigkeiten im Staatssicherheitsapparat: Wer ordnete die Verschleppungen und Entführungen an? Existierte eine spezielle Diensteinheit, die nur für Entführungsaktionen zuständig war? I.2
Die Verantwortlichen im MfS-Apparat
Das MfS gliederte sich in einen Abwehr- und einen Aufklärungsbereich mit jeweils verschiedenen Diensteinheiten und unterschiedlichen Schwerpunkten: Während der Abwehrbereich hauptsächlich im Innern der DDR agierte, war der Aufklärungsbereich vor allem für die Auslandsspionage zuständig. Im Verständnis des MfS bildeten interne und externe Bedrohungspotenziale eine untrennbare Einheit, dementsprechend eng kooperierten die beiden Bereiche. Der Aufklärungsbereich war also nicht nur gegen Institutionen und Organisationen im Ausland akiv, sondern beteiligte sich ebenso an den nach innen gerichteten Repressionsmaßnahmen. Im Gegenzug waren fast alle Diensteinheiten des Abwehrbereiches zur »Arbeit im und nach dem Operationsgebiet« verpflichtet.72 Am Beispiel der Entführungspraxis des MfS wird das sehr deutlich. Vor dem Hintergrund des Einsatzgebietes im Westen müssten die Entführungsaktionen des MfS eigentlich im Aufgabenbereich des Aufklärungsbereichs, also der HV A gelegen haben. Ihre Aufgabenschwerpunkte waren Spionage und Maßnahmen in den Bereichen Politik (gegen Parteien, Verbände und Ministerien der Bundesrepublik), Wirtschaft und Militär (auch gegen die westlichen Alliierten). Im Juli 1955 wurde mit der Abwehr-Abteilung zur besonderen Verwendung (Abt. z.b.V.) eine Diensteinheit als Abteilung III in Bästlein: Der Fall Mielke. Die Ermittlungen gegen den Minister für Staatssicherheit der DDR. BadenBaden 2002. 71 Knabe: Opposition, S. 145; vgl. ders.: West-Arbeit, S. 78. 72 Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Westarbeit/Spionage. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 334–336; Helmut Müller-Enbergs: Was wissen wir über die DDRSpionage? In: Georg Herbstritt, Helmut Müller-Enbergs (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu … DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 34–71, hier 44 f.; MüllerEnbergs: Westarbeit, S. 28; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 196–205; Fricke: Geschichtsrevisionismus, S. 495; ders.: Ordinäre Abwehr – elitäre Aufklärung? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 47(1997)50, S. 17–26, hier 18, 22–24.
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den Aufklärungsbereich eingegliedert, die für »aktive Maßnahmen« im Westen wie Sabotageakte, Anschläge und Entführungen zuständig war. Ein missglücktes Sprengstoffattentat per Briefbombe auf den saarländischen Ministerpräsidenten 1955 geht auf diese Abteilung zurück, die 1959 in einen anderen Anleitungsbereich verschoben wurde.73 HV A-Chef Markus Wolf wies die Zuständigkeit für derartige Operationen stets von sich. »Es gab bei der HV A weder ein ›Killerkommando‹, noch eine ›Schlägertruppe‹, noch eine andere besonders für derartige Zwecke ›legendierte Untergruppe‹. [...] Die an der Festnahme beteiligten Mitarbeiter waren von Oberst Heinrich Folk eigens für diese Maßnahme ausgesucht worden.«74, konstatierte er 1997, als er sich vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf u. a. wegen seiner Beteiligung an der Entführung des ehemaligen MfS-Mitarbeiters Walter Thräne zu verantworten hatte. Im Zusammenhang mit der gewaltsamen Entführung Thränes bestätigen die MfS-Akten zwar diese Aussage – mit Ausnahme seiner Darstellung, dass die Entführung eine Festnahme gewesen sei. Die Unterlagen beweisen aber Wolfs Verantwortung für dieses Verbrechen und die führende Beteiligung der HV A. Der geflohene MfS-Mitarbeiter Thräne war im September 1962 in einem Steinbruch in Österreich von einer Einsatzgruppe des MfS überwältigt und über die ČSSR in die DDR gebracht worden. In diese Falle hatten ihn zwei IM gelockt, die von der HV A einen entsprechenden Auftrag hatten. Die Zusammensetzung der Einsatzgruppe konnte auch nach 1990 nicht geklärt werden, da die MfS-Akten unmittelbar nach der Entführung gesäubert wurden und involvierte MfS-Mitarbeiter wie Markus Wolf, der diese Operation leitete, sich in Schweigen hüllten.75 Der Prozess widerlegte jedoch Wolfs Legende von der HV A als ›sauberem‹ Nachrichtendienst, der in die mitunter ›schmutzigen‹ Methoden des Abwehrbereiches im Staatssicherheitsapparat nicht involviert gewesen sei. Auch in andere Entführungen war die HV A verstrickt, indem sie 73 Zur HV A vgl. Müller-Enbergs: Hauptverwaltung A, S. 142 f.; ders.: IM 2, S. 198–282; Knabe: West-Arbeit, S. 60–71, 133–182; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 201–220. Die 1953 eingerichtete Abteilung z.b.V. unterstand der Leitung von Joseph Gutsche, der dem M-Apparat der KPD angehört hatte und in den 1930er/1940er Jahren Geheimdienst- und Partisanenaktionen im sowjetischen Auftrag durchgeführt hatte. Vgl. Engelmann: Westarbeit, S. 145, 150; Auerbach: Einsatzkommandos, S. 11. 74 Stellungnahme, Markus Wolf, 7.1.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 3, Bl. 76–83, hier 80. 75 Thräne wurde in der DDR zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt und lebte seit seiner Haftentlassung 1973 unter MfS-Kontrolle in Eisenhüttenstadt. Vgl. Urteil, Bezirksgericht Neubrandenburg, 24.1.1963. BStU, MfS, GH 317/85, Bd. 4, S. 225–241; Bericht über Walter Thräne, Abt. XXI, 20.1.1973. BStU, MfS, Disz. 6978/92, S. 74–76; Zeugenaussage Walter Thräne, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin, 4.9.1991. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 1, Bl. 7–13, hier 12 f.; Urteil gegen Markus Wolf, Oberlandesgericht Düsseldorf, 27.5.1997. Ebenda, Bd. 3, Bl. 101–161, hier 123–130; Anklageschrift gegen Paul Bilke, Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin, 20.1.1998. Ebenda, Bl. 166–209, hier 177–196, 200 f.; Urteil gegen Paul Bilke, Landgericht Berlin, 22.7.1998. Ebenda, Bd. 4, Bl. 104–126, hier 111–114.
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Informationen zu ›Zielpersonen‹ oder eigene IM bereitstellte. Die führende Beteiligung an Entführungsaktionen war in der operativen Arbeit der HV A allerdings eher die Ausnahme.76 Federführend bei den MfS-Entführungsaktionen waren die Diensteinheiten des Abwehrbereiches, die nach Aufgaben- bzw. Einsatzbereichen gegliedert waren und im MfS-Jargon Linien bildeten. Jede Linie hatte eine Hauptabteilung in der MfS-Zentrale in Berlin und eine jeweils entsprechende Abteilung oder ein Referat in den MfS-Bezirksverwaltungen.77 Es gab allerdings keine einzelne Linie oder Diensteinheit, die ausschließlich für Entführungsaktionen verantwortlich war. Die Zuständigkeit für derartige Operationen erstreckte sich vielmehr auf mehrere Linien im MfS-Apparat und orientierte sich an deren Arbeitsbereiche. Hauptsächlich waren die Hauptabteilungen II und V und ihre entsprechenden Abteilungen auf der Bezirksebene auf dem Gebiet der Entführungen aktiv.78 Der Linie II im Staatssicherheitsapparat – also der Hauptabteilung II und den Abteilungen II in den MfS-Bezirksverwaltungen – oblag die Spionageabwehr und Gegenspionage. Sie sollte die Tätigkeit feindlicher Geheimdienste und Organisationen gegen die DDR auf politischem, militärischem und ökonomischem Gebiet aufdecken und abwehren. Folglich sollte sie nicht nur die sicherheitsrelevanten Bereiche der DDR vor westlichen Zugriffen abschirmen, sondern auch in eben diese Bereiche im Westen eindringen. Dem Feindbild des MfS entsprechend, wonach jeder als potenzieller Agent gesehen und jegliche Kritik als »Spionage« stigmatisiert respektive mit dem Wirken westlicher Geheimdienste in Verbindung gebracht wurde, war das Aufgabenfeld der Linie II jedoch noch wesentlich weiter gefasst. In den Bereich der »Spionageabwehr« fiel nicht nur die Bekämpfung westlicher Institutionen79, sondern auch die Verfolgung einzelner politischer Gegner, und zwar auch jenseits der Grenzen der DDR.80 Dass ihre Arbeit gegen westliche Geheimdienste durchaus einen 76 Zum Beispiel bei der Entführung des Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt im Juni 1961. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1188. 77 Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 133–136. 78 Wenn Entführungsaktionen von Diensteinheiten der MfS-Bezirksverwaltungen durchgeführt wurden, erfolgte dies in Abstimmung mit der entsprechenden Hauptabteilung. So bekundet ein MfSBericht in Bezug auf eine Entführungsaktion der Abt. III der BV Potsdam im März 1955, dass die HA II/1 für die Koordinierung der Entführungsaktion zuständig sei. Vgl. Bericht, HA I/1, 4.3.1955. BStU, MfS, AOP 241/55, S. 68–72, hier 68. 79 Neben den feindlichen Geheimdiensten auch nicht-geheimdienstliche Institutionen wie politische Parteien, Massenmedien, Stiftungen, Polizei etc. Vgl. Labrenz-Weiß: Bearbeitung, S. 184. 80 Vgl. Labrenz-Weiß: Bearbeitung, S. 183–185, 195 f.; dies.: Hauptabteilung II, S. 3–5, 35; Georg Herbstritt: Hauptabteilung II (Spionageabwehr/HA II). In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 121–123; Georg Herbstritt: Spionageabwehr. In: ebenda, S. 280–282; Falco Werkentin: Recht und Justiz im SED-Staat. Bonn 22000, S. 39. Zur Struktur der Hauptabteilung II im Jahr 1989 vgl. Roland Wiedmann: Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989. Hg. BStU. MfS-Handbuch, Teil V/1. Berlin 1996, S. 100–118.
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offensiven Charakter trug, zeigen die Entführungsaktionen oder die Massenverhaftungen während der Großaktion »Pfeil« im Jahr 1954, für deren Durchführung die Linie II verantwortlich war.81 Bis Ende 1953 gingen die Entführungen von Personen, die der Tätigkeit für westliche Geheimdienste verdächtig waren, noch auf die für Spionageabwehr zuständige Abteilung IV zurück. In dieser Diensteinheit wurde 1953 auch der Operativplan zur Aktion »Feuerwerk« ausgearbeitet, die sich primär gegen die Organisation Gehlen richtete.82 Die Hauptabteilung II entstand im November desselben Jahres durch die Zusammenlegung der Abteilung IV (Spionageabwehr) und Abteilung II (Spionage), die 1952 aus einem Sonderbereich der Abteilung IV hervorgegangen war. Ihre anfängliche Untergliederung in vier Abteilungen basierte auf den Einsatzrichtungen: Hauptabteilung II/1 für die amerikanische Linie (Leitung: Oberstleutnant Boede), Hauptabteilung II/2 für die britische Linie (Leitung: Major Grünert), Hauptabteilung II/3 für die französische Linie (Leitung: Oberstleutnant Heine) und Hauptabteilung II/4 für die westdeutsche Linie (Leitung: Oberstleutnant Kukelski). Letztere Diensteinheit wurde im Januar 1958 in Hauptabteilung II/4 für den Bundesnachrichtendienst und Hauptabteilung II/4a für den Verfassungsschutz geteilt. Die Hauptabteilung II verfügte in den 1950er Jahren zudem über ein Sonderreferat (SR) 3 für »aktive Maßnahmen«.83 Im Zentrum des Aufgabenfeldes der Linie V – also der Hauptabteilung V und der Abteilungen V in den MfS-Bezirksverwaltungen – stand die Bekämpfung von Systemgegnern und -kritikern sowie politisch unerwünschten Handlungen. In den 1950er Jahren zählten dementsprechend die als »Untergrundbewegungen« deklarierten antikommunistischen Organisationen wie der UFJ, die KgU oder die Ostbüros der bundesdeutschen Parteien in der Bundesrepublik zu ihrem Einsatzfeld. Die Hauptabteilung V ging im November 1953 aus einer Zusammenlegung der Abteilungen V (»politischer Untergrund«, Kirchen und Blockparteien) und VI (Regierungs- und Parteiapparat, Justiz und Massenorganisationen) hervor und lag bis 1955 zunächst im Anleitungsbereich von Erich Mielke als 1. Stellvertreter des Staatssicherheitschefs. Dann übernahm Bruno Beater als Stellvertreter des Ministers diesen Verantwortungsbereich, 81 Dem zentralen Einsatzstab gehörten neben Erich Mielke als Leiter des Stabes, Josef Kiefel als Leiter der HA II sowie seine Mitarbeiter Helmut Träger (»westdeutsche Linie«) und Karl-Heinz Boede (»amerikanische Linie«) sowie die stellvertretenden Leiter der HA IX und Abt. VIII an. Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 48 f.; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1176, 1188; Labrenz-Weiß: Hauptabteilung II, S. 3, 36 f. 82 Vgl. Labrenz-Weiß: Hauptabteilung II, S. 32–34. Zum Einsatzstab unter der Leitung von Erich Mielke gehörten die Leiter der Abt. IV (Rolf Markert), Abt. V (Bruno Beater) und IX (Alfred Scholz). Vgl. Operativplan, Abt. IV/4, 20.10.1953. Gedruckt in: Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 255–257; Einsatzbefehl Nr. 333/53, MfS, 28.10.1953. Gedruckt in: ebenda, S. 258 f. 83 Vgl. Labrenz-Weiß: Hauptabteilung II, S. 34–47. Hier finden sich auch nähere Angaben zum strukturellen Ausbau der Hauptabteilung im Laufe der 1950er und 1960er Jahre.
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nachdem er in den Jahren 1953 bis 1955 als Leiter der Hauptabteilung V tätig gewesen war. Der Posten des Abteilungsleiters wurde Fritz Schröder übertragen. Im ersten Jahr ihres Bestehens umfasste die Hauptabteilung V fünf Abteilungen, deren Aufgabenbereiche zum Teil das sich in die Bundesrepublik erstreckende Einsatzgebiet erkennen lassen: So fielen die Ostbüros von SPD und DGB sowie der FDGB in die Zuständigkeit der Hauptabteilung V/1 unter Leitung von Oberst Erich Jamin. Die Hauptabteilung V/3 unter Leitung von Major Kurt Schumann war für die Ostbüros der CDU und FDP sowie für die bürgerlichen Parteien wie CDU und LDPD, die Kirchen und Umsiedlern in der DDR zuständig. Die Hauptabteilung V/5 unter Oberstleutnant Otto Knye widmete sich dem UFJ und der KgU. Aber auch die Verantwortungsbereiche »Trotzkismus« und »Titoismus« der Hauptabteilung V/2 sowie Staatsapparat und Massenorganisationen der Hauptabteilung V/4 konnten zu einem Einsatz im Westen führen. Nach einer Umstrukturierung der Hauptabteilung V Anfang des Jahres 1955 änderten sich die Zuständigkeiten der Abteilungen: Hauptabteilung V/1 für den Verantwortungsbereich Staatsapparat, Hauptabteilung V/2 für die SPD und den DGB mit ihren Ostbüros und weiterhin den »Trotzkismus« sowie »parteifeindlichen Untergrundgruppen«, Hauptabteilung V/3 für Massenorganisationen und bürgerliche Parteien, Hauptabteilung V/4 für Kirchen und Religionsgemeinschaften, Hauptabteilung V/5 für Justizwesen, UFJ, KgU und »faschistisch-militärische Organisationen« wie die Traditionsverbände von SS und Wehrmacht, den »Bund deutscher Jugend« und die »Liga für Menschenrechte«.84 Entführungsaktionen waren vor allem in den Hauptabteilungen V/2 und V/5 angesiedelt. Intensiv arbeitete die Linie V in der Ära des MfS-Chefs Ernst Wollweber »im und nach dem Operationsgebiet«, auch die Großaktion »Blitz« im Jahr 1955 und zahlreiche Entführungsaktionen liefen unter ihrer Federführung.85 Mielkes Kurswechsel 1957 infolge der harschen Kritik Ulbrichts an der zu starken Westorientierung der MfS-Arbeit und der reale Bedeutungsrückgang der Ostbüros und antikommunistischen Organisationen änderten zunächst wenig an diesem Tätigkeitsfeld. Zur Optimierung des Informationsflusses zwischen den Abteilungen V auf Bezirksebene und der Hauptabteilung V machte Erich Mielke im November 1957 den Leiter der Hauptabteilung V 84 Vgl. Thomas Auerbach u. a.: Die Hauptabteilung XX: Staatsapparat, Blockparteien, Kirchen, Kultur, »politischer Untergrund«. Berlin 2008, S. 3 f., 11–17, 41–43, 61–63, 76 f., 79 f., 89–91, 104–107; Matthias Braun: Hauptabteilung XX (Staatsapparat, Kultur, Kirchen, Untergrund/HA XX). In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 132–134. Zur Struktur der Hauptabteilung XX im Jahr 1989 vgl. Wiedmann: Organisationsstruktur, S. 189–202. 85 Verantwortlich für die Aktion »Blitz« war der Leiter der HA V Oberst Bruno Beater; sein Stellvertreter Major Hugo Treßelt fungierte als Leiter des Einsatzstabes, dem je ein Mitarbeiter der 5 Abteilungen der Hauptabteilung V angehörte. Vgl. Dienstanweisung Nr. 54/54, HA V, 16.11.1954. BStU, MfS, AS 171/56, Bd. 1, S. 2–5; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1176, 1188; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 52 f.; Braun: Hauptabteilung XX, S. 16 f.
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persönlich für die Auswertung und Kontrolle aller Maßnahmen der Linie V verantwortlich, die mittels IM in der Bundesrepublik oder West-Berlin erfolgten. Ende der 1950er Jahre zeigten sich dann allerdings doch strukturelle Veränderungen in der Linie V als Reaktion auf verschiedene Entwicklungen: Die Hauptabteilung V/5 verlor 1958 ihre Zuständigkeit für das DDRJustizwesen (an die Hauptabteilung V/1), für dessen Kontrolle sie im Zusammenhang mit dem UFJ verantwortlich gewesen war, das nun aber personell und ideologisch als gefestigt galt. Zu einer weiteren Reduktion der Linie V/5 kam es ein Jahr später, als mit der Auflösung der KgU ein vormals bedeutsamer Gegner aus dem Kreis der westlichen »Feindorganisationen« verschwand. Die entsprechenden Referate in den MfS-Bezirksverwaltungen wurden aufgelöst, nach dem Mauerbau 1961 jedoch wieder eingerichtet, als die Linie V/5 mit der Bekämpfung von »Grenzprovokationen« und Fluchthilfeorganisationen im Westen beauftragt wurde. Im stetigen Einsatz gegen »Feindorganisationen« und »Zentren der politisch-ideologischen Diversion« im »Operationsgebiet« erstreckte sich die Arbeit dieser Diensteinheit bis 1989 im besonderen Maße auf West-Berlin und die Bundesrepublik.86 Darüber hinaus führten auch andere Abwehrdiensteinheiten des MfS Entführungsaktionen durch, wie zum Beispiel die Hauptabteilung I mit ihrem Verantwortungsbereich der Militärabwehr. Mit der Kontrolle der NVA und Grenztruppen der DDR beauftragt, war sie auch mit der Verfolgung von in den Westen geflohenen Angehörigen dieser Organe betraut. Verschiedene Diensteinheiten der Hauptabteilung I wie die Abteilung I/7 (Spionageabwehr), Abteilung I/8 (Ermittlung und Beobachtung) und Abteilung I/9 (Untersuchung) sorgten in den 1950er Jahren für die Untersuchung der Desertionen und Nachforschungen über den Verbleib der Desertierten, ihre Werdegänge im Westen und Verbindungen in die DDR.87 Dabei musste sie auch gegen eigene Mitarbeiter agieren: Im Dezember 1953 floh der Chauffeur des Leiters der Hauptabteilung I/3, Paul Köppe, nach West-Berlin. Dort gab er sich zunächst nicht als MfS-Mitarbeiter zu erkennen, konnte diese Tätigkeit in den Befragungen aber nicht lange geheimhalten. Er stellte sich den Fragen der westlichen Dienststellen, die selbstredend besonderes Interesse an ihm hatten. Schließlich ließ er sich auch auf eine Kooperation mit einer bundesdeutschen 86 In der Hauptabteilung V kommt es 1956/57 zu einem überproportionalen Stellenabbau, der u. a. auf die zeitweilige Reduzierung der Repressionsmaßnahmen und den Ausbau des Aufklärungsbereiches (infolge der starken Westorientierung des MfS) zurückzuführen ist. Anfang 1964 wurde die Hauptabteilung V in Hauptabteilung XX umbenannt. Vgl. Braun: Hauptabteilung XX, S. 19–24, 38 f.; Auerbach: Abteilung 5, S. 107 f., 120 f.; Wiedmann: Organisationsstruktur, 1996, S. 197. 87 Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1188; Stephan Wolf: Hauptabteilung I. NVA und Grenztruppen. Hg. BStU. MfS-Handbuch, Teil III/13. Berlin 22005, S. 3 f., 21–23, 51–70. Hier finden sich auch Angaben zur Entwicklung und zum Aufgabenbereich der HA I. Zur Struktur der HA I im Jahr 1989 vgl. Wiedmann: Organisationsstruktur, S. 212–227.
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Geheimdienststelle ein, nachdem ihm die Anerkennung als politischer Flüchtling zweimal verwehrt worden war, um diese doch noch zu erlangen. Er sollte Kontakte zu Angehörigen des MfS und der KVP herstellen. Für das MfS bot sich damit eine Gelegenheit, seiner Person wieder habhaft zu werden, denn ein kontaktierter, ehemaliger Kollege informierte seinen Vorgesetzten und handelte fortan auf Instruktionen des MfS. So konnte Köppe bei einem fingierten Treffen in Ost-Berlin von MfS-Mitarbeitern im Oktober 1954 festgenommen werden. In einem Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber vor 450 Mitarbeitern des DDR-Staatssicherheitsdienstes, wurde Köppe im März 1955 zum Tode verurteilt und wenige Wochen später hingerichtet.88 Die Verfolgung geflohener MfS-Mitarbeiter übernahm später die Abteilung XXI, die zwischen 1960 und 1980 für die »innere Sicherheit« des MfS zuständig war.89 Nach dem Mauerbau war dieses Problem zwar nicht mehr so akut wie in den Jahren bis 1961, in denen das MfS Westfluchten von 100 aktiven und 356 ehemaligen Mitarbeitern registrierte. Etwa ein Viertel (108) dieser 456 Geflüchteten kehrten laut MfS-Aufzeichnung freiwillig oder unfreiwillig in die DDR zurück. In den folgenden Jahren bis 1970 gelang nur noch 17 aktiven MfS-Mitarbeitern die Flucht in den Westen.90 Die Abteilung XXI agierte jedoch auch noch gegen Abtrünnige, die vor der Abteilungsgründung geflohen waren. Das zeigen die Entführung eines geflohenen MfS-Mitarbeiters aus der Nähe von Neckarsulm im Mai 1962 und die Mordpläne der Diensteinheit gegen zwei in der Bundesrepublik wohnhafte, geflohene MfSMitarbeiter. Diese Beispiele werden in der vorliegenden Studie noch näher betrachtet.91 Auf dem Gebiet der Entführungen waren zudem die Diensteinheiten der Linie III aktiv, die bis 1964 für den Bereich Volkswirtschaft zuständig war, also unter anderem die Einhaltung der Planvorgaben kontrollieren und Sabotage, Spionage sowie Wirtschaftskriminalität aufklären und verhindern sollte.92 Im letzteren Aufgabenfeld machte sie auch von Entführungen gegen Personen
88 Ausführliche Darstellung des Falles Köppe vgl. Sälter: Grenzpolizisten, S. 54–70; Wolf: Hauptabteilung I, S. 60; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1202 f. 89 Vgl. Roland Wiedmann, Arno Polzin: Abteilung XXI (Innere Abwehr im MfS). In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 27. 90 Vgl. Jens Gieseke: Abweichendes Verhalten in der totalen Institution. Delinquenz und Disziplinierung der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter in der Ära Honecker. In: Roger Engelmann, Clemens Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Berlin 1999, S. 531–553, hier 541; Gieseke: Mitarbeiter, S. 206 f., 275, 280. 91 Vgl. Fallbeispiele 8 und 9 in Kapitel II.3. 92 Im Jahr 1964 erfolgte die Umnennung der Linie XVIII. Detaillierte Angaben zu den Aufgabengebieten und der Entwicklung der Linie III von 1950 bis 1964 vgl. Marie Haendcke-HoppeArndt: Die Hauptabteilung XVIII: Volkswirtschaft. Hg. BStU. MfS-Handbuch, Teil III/10. Berlin 1997, S. 3 f., 13–35, 120–122. Zur Struktur der HA XVIII im Jahr 1989 vgl. Wiedmann: Organisationsstruktur, S. 169–181.
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aus West-Berlin und der Bundesrepublik Gebrauch, die beispielsweise im illegalen Ost-West-Handel tätig waren. Als neuer MfS-Chef benannte Ernst Wollweber im November 1953 die Bekämpfung von Sabotage, deren Urheber er im SPD-Ostbüro und ehemaligen Leitungspersonal von Unternehmen und Konzernen vermutete, als vorrangige Aufgabe der Linie III. Sein Stellvertreter, in dessen Anleitungsbereich die Linie III lag, forderte daraufhin in einer Dienstanweisung die Entwicklung von einer »sporadischen« zur »organisierten offensiven Bekämpfung des Gegners«.93 Ein gutes Jahr später, im Januar 1955, folgte der Auftrag Wollwebers, in Richtung Westen zu arbeiten und dort in feindliche Dienststellen einzudringen. Ein speziell gebildetes Referat, das direkt dem Leiter der Hauptabteilung III unterstellt wurde, sollte »aktive« Arbeit gegen westdeutsche Unternehmen, Forschungsinstitute und militärische Einrichtungen leisten und dort Material zwecks Auswertung zugunsten der volkseigenen Wirtschaft beschaffen.94 Ein aktiverer Einsatz des MfS im Westen zeigte sich in diesem Jahr auch auf anderem Gebiet: Mindestens fünf Entführungen liefen 1955 unter der Federführung der Linie III, davon vier in der Hauptabteilung III. Unterstützende Arbeiten verrichtete die Hauptabteilung VIII, die operative Ermittlungen und Festnahmen in der DDR durchführte, aber auch in der Bundesrepublik aktiv war.95 So übernahm sie im Vorfeld von Entführungsaktionen oft Ermittlungs- und Beobachtungsaufgaben, war aber auch unmittelbar tatbeteiligt, indem sie den Transport des Entführungsopfers oder die Überführung seines Wagens übernahm.96 In den genannten Diensteinheiten erarbeiteten hauptamtliche Mitarbeiter (im Zusammenwirken mit IM) Entführungspläne, die mit den Leitern dieser Diensteinheiten abgestimmt und von ihnen eventuell mit Änderungen versehen wurden. Einer von ihnen war zum Beispiel Josef Kiefel, der zunächst seit August 1950 die Abteilung IVa des MfS Berlin, seit 1952 die Abteilung II und von 1953 bis zum Frühjahr 1960 die Hauptabteilung II leitete.97 In diesen Posi93 Vgl. Referat von Ernst Wollweber auf einer Dienstkonferenz, 11./12.11.1953, und Dienstanweisung 40/53, 2.12.1953. Zit. in: Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 16. 94 Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 21. 95 Vgl. Angela Schmole: Hauptabteilung VIII. Beobachtung, Ermittlung, Durchsuchung, Festnahme. Berlin 2011, S. 39–46, 69–72; Angela Schmole: Hauptabteilung VIII (Beobachtung, Ermittlung/HA VIII). In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 128–130; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1188 f. Zur Struktur der Hauptabteilung VIII im Jahr 1989 vgl. Wiedmann: Organisationsstruktur, S. 251–257. 96 Zum Beispiel bei der gewaltsamen Entführung eines Verfassungsschutzmitarbeiters im Juli 1954. Vgl. Bericht, Abt. XXI, 12.12.1966. BStU, MfS, GH 73/80, Bd. 1, S. 23 f. Vgl. Schmole: Hauptabteilung VIII, S. 53, 72. 97 Josef Kiefel (geb. 1909) emigrierte als KPD-Mitglied 1931 in die UdSSR, wo er 1942 zur Roten Armee einberufen wurde. 1944 war er als Partisan in Polen eingesetzt. Er kehrte 1946 nach Deutschland zurück, wo er seit 1947 bei der Polizei in Sachsen-Anhalt tätig war. Über das Dezernat K 5 im LKA Sachsen-Anhalt und die Verwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft Brandenburg kam
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tionen zeigte er großen Einsatz auf dem Gebiet der MfS-Entführungsaktionen. Ihm unterstanden sogar zwei IM-Einsatzgruppen mit den Decknamen »Blitz« und »Donner«, die bei mehreren Entführungsaktionen zum Einsatz gebracht wurden.98 Als Kiefel 1960 als Leiter in die neu geschaffene Abteilung XXI (Innere Sicherheit des MfS) wechselte, nahm er IM dieser beiden Einsatzgruppen mit.99 Die letztendliche Entscheidungsgewalt im MfS-Apparat lag bei der Führungsspitze: Dem Minister für Staatssicherheit wurden die Entführungsvorschläge und -pläne vorgelegt und er bestätigte diese oder lehnte sie ab. Oft liefen sie auch über die Schreibtische der Stellvertreter, an erster Stelle ist hier der 1. Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit Generaloberst Bruno Beater zu nennen. So gab Gerhard Mähnert, der als Leiter der Abteilung II der BV Magdeburg an zwei gewaltsamen Entführungen beteiligt war und Mitte 1955 stellvertretender Leiter der HA II/4 wurde, in einer Vernehmung 1995 an, »dass alle Maßnahme- und Operationspläne erst über die Abteilungsleitung, dem BVLtr. Magdeburg oder dem Hauptabteilungsleiter HA II, Josef Kiefel, vorgelegt werden mußten, ehe Maßnahmen durchgeführt werden konnten. Diese Vorgesetzten haben die Pläne zuvor über den Stellvertreter des Ministers, Bruno Beater, dem Minister, Erich Mielke, zur Genehmigung und Bestätigung weitergeleitet. Erst nachdem das Einverständnis der Vorgesetzten vorlag und die Pläne an uns zurückgegeben worden waren, durften wir mit der Durchführung der Maßnahmen beginnen.«100
er 1950 zum MfS. Vgl. Jens Gieseke: Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit. Hg. BStU. MfS-Handbuch, Teil V/4. Berlin 1998, S. 36; Jens Gieseke: Kiefel, Josef. In: Helmut Müller-Enberg u. a. (Hg.): Wer war wer in der DDR? Bd. 1: A–L, Berlin 52010, S. 647 f.; Labrenz-Weiß: Hauptabteilung II, S. 35–37. 98 Vgl. Festnahmeplan, HA II Leitung, 16.10.1957. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/2, S. 54–56; Auskunftsbericht zum GM »Donner«, MfS, 15.6.1980. Ebenda, Bd. I/3, S. 153–187; Vorschlag, Abt. XXI an Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, 3.1.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, Bl. 7–9; Beurteilung des GM »Neuhaus«, HA II/SR 3, 28.11.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 199 f.; Treffbericht, HA II/SR 3, 17.10.1958. Ebenda, AAkte Bd. 2, S. 126 f.; Einschätzung des GM »Bär«, HA II/SR 3, 14.7.1959. BStU, MfS, AIM 3112/83, Bd. I/1, S. 120 f.; Entführungsplan, HA II/SR 3, 24.2.1958. BStU, MfS, AOP 10926/65, Bd. 1, S. 186– 190. 99 Vgl. Auswertungsbericht, ZERV 212, 30.11.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, Bl. 75–80, hier 80. 100 Mähnert (geb. 1928) trat als VP-Angehöriger Mitte 1950 in den Dienst des MfS als hauptamtlicher Mitarbeiter. 1952 wurde er Leiter der Abt. II in der BV Magdeburg, 3 Jahre später stellvertretender Leiter der HA II/2. Anfang 1958 wurde er zum Hauptsachbearbeiter zurückgestuft und zum Zoll versetzt. Als Mitarbeiter der HA VIII war er ab Mitte 1959 für Schleusungspunkte im Bereich der innerdeutschen Grenze zuständig. Im April 1960 wurde er aus disziplinarischen Gründen entpflichtet und im Juni desselben Jahres zu einer Zuchthausstrafe von 5 Jahren verurteilt. Nach seiner Haftentlassung 1963 arbeitete er zunächst 2 Jahre als Maurer und dann bis 1990 als Gütekontrolleur im Metallhandel. Vgl. Protokoll Vernehmung Gerhard Mähnert, ZERV 221, 31.1.1995. Staatsanwaltschaft
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Die MfS-Unterlagen bestätigen diesen Dienstweg: Entführungspläne wurden vom Leiter der zuständigen Hauptabteilung abgezeichnet und tragen zum Teil die bestätigende Unterschrift vom Minister für Staatssicherheit oder seinem Stellvertreter wie Erich Mielke (bis 1957) oder Bruno Beater.101 Zudem gibt es Hinweise, dass derartige Entscheidungen im persönlichen Gespräch getroffen wurden; so informierte Beaters Stellvertreter als Leiter der Hauptabteilung V im Januar 1955 in einem Lagebericht zur Großaktion »Blitz«, in deren Rahmen es auch zu Entführungen kam: »Über die geplanten ›aktiven Maßnahmen‹ wurde vom Gen. Oberst Beater bereits mündlich berichtet.«102 Bruno Beater hatte eine herausgehobene Rolle bei den Entführungsaktionen. »SSD-Menschenräuber Beater in Ost-Berlin gestorben« titelte die Berliner Morgenpost im April 1982 nach seinem Tod im Alter von 68 Jahren. In einem Nachruf hatte das SED-Zentralkomitee dem Verstorbenen »große Verdienste« im Kampf gegen die »inneren und äußeren Feinde« bescheinigt. Die Berliner Morgenpost enttarnte diese »Verdienste« durch die Aufführung seiner »bekanntesten Verbrechen«, nämlich die gewaltsamen Entführungen des Rechtsanwalts Walter Linse, des Journalisten Karl Wilhelm Fricke und des geflohenen SEDFunktionärs Robert Bialek.103 Entführungsaktionen wie diese dürften nach zweijähriger Leitung der Hauptabteilung V 1955 zu seinem Aufstieg im Staatssicherheitsapparat zum Stellvertreter des Ministers beigetragen haben. Der bereits erwähnte ehemalige hauptamtliche MfS-Mitarbeiter Gerhard Mähnert berichtete sogar über einen Machtkampf zwischen Josef Kiefel als Leiter der Hauptabteilung II und Bruno Beater als Leiter der Hauptabteilung V um die Position als Stellvertreter des Ministers. Kiefel habe daraufhin begonnen, eine Vielzahl an operativen Vorgängen einzuleiten und an sich zu ziehen, um möglichst viele Erfolge vorweisen zu können – so auch die gewaltsame Entführung von Wilhelm van Ackern.104 Diese Angabe muss allerdings mit Vorsicht betrachtet werden, da Mähnert bemüht war, seine Verantwortung für die Entführung van Ackerns herunterzuspielen.
Berlin, Az 29 Js 1041/83, Bd. 1, Bl. 188–195, hier 195; vgl. Protokoll Vernehmung Gerhard Mähnert, ZERV 213, 6.4.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Bd. 1, Bl. 89–97, hier 94. 101 Zum Beispiel: Festnahmeplan, BV Magdeburg Abt. II, 22.3.1955. BStU, MfS, AU 162/55, Bd. 18, S. 94–96; Maßnahmeplan, HA II/4, 6.7.1955. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. 3, S. 72–75; Festnahmeplan, HA II/4, 2.11.1955. Ebenda, Bd. 4, S. 22–26; Entführungsvorschlag, HA II/1, 27.10.1956. BStU, MfS, AOP 906/57, Bd. 1, S. 220; Mitteilung zum Vorgang »Tegel«, HA II Leitung an HA II/2, 2.7.1957. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 6, S. 107; Entführungsplan, HA II/SR 3, 24.2.1958. BStU, MfS, AOP 10926/65, Bd. 1, S. 186–190; Entführungsplan, HA II/2, 11.2.1959. BStU, MfS, AOP 116/60, Bd. 3, S. 147–151; Bericht über Abbruch einer Entführungsaktion auf Mielkes Weisung, HA I, 5.8.1959. BStU, MfS, AOP 234/61, Bd. 1, S. 229–233. 102 Einschätzung zur Aktion »Blitz«, HA V, 17.1.1955. BStU, MfS, AS 171/56, S. 6–8, hier 8. 103 Vgl. SSD-Menschenräuber Beater in Ost-Berlin gestorben. In: Berliner Morgenpost, 11.4.1982. 104 Vgl. Protokoll Vernehmung Gerhard Mähnert, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 4.8.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 16/94, Bd. 3, Bl. 179–191, hier 181 f., 185, 188, 190.
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Im DDR-Staatssicherheitsdienst gehörte Bruno Beater zu den ›Männern der ersten Stunde‹, der im Vergleich zu anderen hohen MfS-Funktionären eine andere Vorprägung mitbrachte: Der gelernte Zimmermann, Jahrgang 1914, kehrte nach seinem von 1936 bis 1938 absolvierten Wehrdienst im ersten Kriegsjahr in die Reihen der Wehrmacht zurück. Dort stieg er bis in den Rang eines Oberfeldwebels auf. Doch im Juli 1944 lief er zur Roten Armee über und wurde als Frontpropagandist im Nationalkomitee Freies Deutschland sowie »Aufklärer« in der Umgebung von Breslau tätig. Nach seiner Entlassung aus dem Kriegsgefangenenlager Breslau-Hundsfeld im Herbst 1945, wo er Leiter und Instrukteur des Antifa-Aktivs war, trat er der KPD bei und erhielt eine Anstellung bei der Volkspolizei. Er wurde Leiter der Kriminalpolizei in Hennigsdorf und später in Nauen. Ende der 1940er Jahre beteiligte er sich am Aufbau der »Verwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft« in Brandenburg, einer Vorläuferorganisation des MfS. Zwei Monate nach der offiziellen Gründung des MfS im Februar 1950 erhielt er den Leitungsposten in der Abteilung V der MfS-Verwaltung Groß-Berlin. Bereits im August 1950 bekam er die Leitung der Abteilung V in der MfS-Zentrale übertragen, die 1953 zur Hauptabteilung V wurde. Seine Kaderakte vermerkt zu seiner dortigen Tätigkeit, dass ihn »seine unerschütterliche Treue zur Partei gepaart mit seinem überdurchschnittlichen Wissen befähigt« habe, »die Abteilung V und später die Hauptabteilung V durch seine aufopferungsvolle und unermüdliche Arbeit von Erfolg zu Erfolg zu führen.«105 Im Jahre 1955 stieg er zu einem der stellvertretenden Leiter des MfS auf, neun Jahre später wurde er zum 1. Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit ernannt und bekam an der Juristischen Hochschule (JHS) des MfS den Titel Diplom-Jurist verliehen. Für seine Tätigkeit erhielt er mehrere Auszeichnungen, darunter 1969 den Vaterländischen Verdienstorden und 1974 den Karl-Marx-Orden. Zudem wurde er 1973 Mitglied des Zentralkomitees der SED, dem er seit 1963 als Kandidat (also ohne Stimmrecht) angehörte.106 Als Leiter der Abteilung/Hauptabteilung V war Beater bis Mitte der 1950er Jahre ganz unmittelbar an den Planungen, Vorbereitungen und Durchführungen von Entführungsaktionen beteiligt. In seiner anschließenden Funktion als ein Stellvertreter des Ministers lagen die Hauptabteilungen II und V in seinem Anleitungsbereich, und damit auch die Entführungsaktionen dieser Diensteinheiten. Die Anleitung dieser beiden Hauptabteilungen übernahm Bruno Beater von Erich Mielke, dem sie seit
105 Kaderakte Bruno Beater. BStU, MfS, KS I 10/84, S. 57. Zit. in: Braun: Hauptabteilung XX, S. 12. 106 Vgl. Jens Gieseke: Beater, Bruno. In: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien. Bd. 1: A–L, Berlin 52010, S. 78 f.; Braun: Hauptabteilung XX, S. 12; Siegfried Suckut: Beater, Bruno: In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfSLexikon. Berlin 2011, S. 52 f.
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1953 als 1. Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit unterstanden.107 Diese personelle Kontinuität auf der Leitungsebene ist für die Entführungspraxis im Staatssicherheitsapparat nicht unerheblich. Als Entscheidungsträger agierten Männer, die mit den stalinistisch geprägten Praktiken in der Frühphase des MfS vertraut waren und von diesen nie vollständig Abstand genommen hatten. Beim Blick auf die ›Befehlskette‹ stellt sich auch die Frage nach Entscheidungsinstanzen jenseits des MfS-Apparates: Als »Diener zweier Herren« stand der Staatssicherheitsdienst unter der Anleitung der SED-Führung und – bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre – der sowjetischen Berater.108 Dass Letztere vor allem bis 1955 Entführungspläne prägten oder gar entsprechende Aufträge erteilten, ist angesichts ihrer Dominanz im noch schwachen Staatssicherheitsapparat in der Ära Zaisser von 1950 bis 1953 naheliegend. Die operative Arbeit der MfS-Diensteinheiten unterstand der Federführung sowjetischer Instrukteure, die brutale Methoden importierten und bedeutsamere Vorgänge oft selbst übernahmen. Bis Mitte der 1950er Jahre ist von einer weitreichenden Weisungsbefugnis und umfangreichen Anleitung in operativen Fragen durch die sowjetischen Instrukteure auszugehen.109 Aktenvermerke oder aufgeführte Verteilerschlüssel in den MfS-Unterlagen geben Aufschluss über die Abstimmung zwischen MfS und sowjetischen Beratern über Entführungsabsichten. Beispielsweise heißt es in einem MfS-Aktenvermerk zu einem ZOPEMitarbeiter, der im Dezember 1956 gewaltsam entführt wurde: »B. soll von uns mit der Perspektive der Schleußung bearbeitet werden. Bei den sowjetischen Freunden besteht kein Vorgang gegen B., sodaß uns in der Bearbeitung des B. freie Hand gelassen wird.«110 Der Vorschlag der Hauptabteilung V/5 zur Entführung des UFJ-Mitarbeiters Erwin Neumann ging im Juli 1958 nicht nur an den Leiter der Hauptabteilung V und den Stellvertreter des Ministers, sondern auch an den »Berater«.111 Im November desselben Jahres reduzierten die Sowjets die Anzahl ihrer Berater im MfS-Apparat von 76 auf 32 Offiziere, die den Status als Verbindungsoffiziere erhielten. In ihren Augen war der MfS-Apparat nun ausreichend gefestigt und die SED-Führung hatte bewiesen, staatssicherheitspolitisch selbstbewusst zu agieren.112
107 Vgl. Labrenz-Weiß: Hauptabteilung II, S. 4 f.; Braun: Hauptabteilung XX, S. 3. 108 Vgl. Engelmann: Aufbau, S. 57–63; ders.: Diener zweier Herren, S. 51 f.; Süß: Schild, S. 88. 109 Vgl. Engelmann: Aufbau, S. 57–63; ders.: Diener zweier Herren, S. 52 f., 60 f.; Süß: Verhältnis, S. 18 f., 29; ders.: Schild, 88 f.; Müller-Enbergs: Wirken, S. 150–152. 110 Aktenvermerk, Abt. II/1, 27.6.1956. BStU, MfS, AOP 482/57, S. 86. 111 Vgl. »Vorschlag zur Ziehung des Hauptagenten des UFJ«, HA V/5, 24.7.1958. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 114–126. 112 Vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 71; ders.: Aufbau, S. 63 f.; ders./Süß: Sowjetischer Geheimdienst, S. 275–279; Marquardt: Zusammenarbeit, S. 301–305; Süß: Verhältnis, S. 19.
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Somit rückt die Frage nach der Rolle der Parteiführung in den Vordergrund, die schwieriger zu beantworten ist. In der Ära Zaisser war ihre Anleitungsfunktion im Vergleich zu den sowjetischen Instrukteuren nur schwach ausgeprägt. Zudem oblag die politische Anleitung und Kontrolle des Staatssicherheitsdienstes dem MfS-Chef Wilhelm Zaisser selbst, da er als Politbüromitglied für das Ressort Staatssicherheit zuständig war.113 Allerdings beteuerte Wilhelm Zaisser im Juli 1953 – als er nach den Ereignissen des Juni 1953 in der Kritik stand – auf dem 15. Plenum des ZK, dass es ohne vorherige Absprache mit Walter Ulbricht »keine wesentliche prinzipielle Entscheidung im Ministerium für Staatssicherheit gegeben [habe] bis hinunter zu den Verhaftungen einflußreicher und hervorragender Menschen«.114 Der damalige Staatssekretär im MfS Erich Mielke bestätigte dies indirekt mit dem Hinweis, dass es regelmäßig nach den Politbürositzungen Besprechungen zwischen ihm und Wilhelm Zaisser über dort thematisierte operative Fragen gegeben habe.115 Seit 1953 gewann die Anleitung des Staatssicherheitsdienstes durch die Parteiführung sukzessiv an Stärke – auch gegenüber den sowjetischen Beratern: Mit der Umdeklaration des MfS zum Staatssekretariat und Eingliederung in das Ministerium des Innern erfolgte eine stärkere Unterwerfung unter die Partei. Die Besetzung der MfS-Spitze mit Ernst Wollweber war zwar noch eine von der »sowjetischen Brudermacht« veranlasste Personalentscheidung. Er wurde aber nicht in das Politbüro aufgenommen und konnte demnach nicht mehr die dortige Zuständigkeit für Sicherheitsfragen innehaben, die Walter Ulbricht sich zunächst vom Politbüro übertragen ließ. Wenige Wochen später schuf er mit der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen und der Sicherheitskommission des Politbüros Anleitungs- und Kontrollinstanzen unter seinem Vorsitz. Letztere war für die Verknüpfung von Politbürokratie und Staatssicherheit bedeutsamer. Ihre Beschlüsse befassten sich mit der Organisationsstruktur und Kaderfragen, aber auch mit operativen Großaktionen und Strafmaßen in politischen Prozessen. Die ZK-Abteilung widmete sich hingegen zunächst in erster Linie den Parteiorganisationen und beschäftigte sich erst seit 1957 stärker mit operativen Fragen.116 Das Verhältnis von Partei und Staatssicherheitsdienst 113 Vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 54; Süß: Verhältnis, S. 6; Müller-Enbergs: Wirken, S. 151 f. 114 Protokoll des 15. Plenums des ZK, 24.–26.7.1953. Zit. in: Engelmann: Diener zweier Herren, S. 54 f. Vgl. Müller-Enbergs: Wirken, S. 151 f., 156; Amos: Politik, S. 281–305. 115 Vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 55. 116 Der Sicherheitskommission gehörte nach ihrer Einrichtung 1953 an: Walter Ulbricht (1. Sekretär des ZK der SED), Otto Grotewohl (Ministerpräsident, Politbüro-Mitglied), Willi Stoph (Innenminister, Politbüro-Mitglied), Ernst Wollweber (ZK-Mitglied, Staatssekretär für Staatssicherheit), Herman Matern (Politbüro-Mitglied, Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission), Karl Schirdewan (Politbüro-Mitglied, ZK-Sekretär), Gustav Röbelen (Leiter der ZK-Abteilung Sicherheit). Vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 55 f., 61; Süß: Verhältnis, S. 6–14; Armin Wagner: Sicherheitskommission beim Politbüro des ZK der SED. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.):
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fand in einem Politbürobeschluss im September 1953, der unter sowjetischer Mitwirkung entstanden war, folgende Definition: »Die Leitung der Staatssicherheit ist verantwortlich für die Durchführung der Beschlüsse des ZK und des Politbüros. Sie ist verpflichtet, das Politbüro über die Ergebnisse der Arbeit und über den Zustand in den Organen der Staatssicherheit zu informieren, die Pläne und Absichten des Feindes zu signalisieren.«117
Diesem Beschluss entsprechend berichteten Ernst Wollweber und Erich Mielke nunmehr regelmäßig auf Tagungen des ZK über die Arbeit des Staatssicherheitsapparates. Auf einer dieser ZK-Tagungen bekundete MfS-Chef Ernst Wollweber im März 1956: »Bei der Verhaftung wichtiger Persönlichkeiten […] entscheidet die Staatssicherheit nicht allein, sondern sie legt dann diese Entscheidungen der Sicherheitskommission vor, also nicht der Sicherheitsabteilung, sondern der Sicherheitskommission.«118 Die stärkere Position der Politbürokratie zeigte sich in dieser Zeit bei der Ausarbeitung der neuen Offensivstrategie der »konzentrierten Schläge«, an der neben den sowjetischen Chefberatern auch Walter Ulbricht und Hermann Matern als Vertreter der Partei beteiligt waren. Die Neustrukturierung des Staatssicherheitsdienstes und stärkere Konzentration auf die »Westarbeit« 1955 beruhten ausschließlich auf sowjetischer Initiative. Aber nach der kurzen Tauwetterphase 1956 und der Rückgewinnung seiner machtpolitischen Stärke gelang es Walter Ulbricht, eine stärkere Anbindung des MfS-Apparates an die SED zu erwirken und die Anleitungstätigkeit zu forcieren. Letztere sollte fortan durch die Sicherheitskommission erfolgen, deren Sekretär Erich Honecker über wichtige Vorgänge informiert werden sollte, um dann Walter Ulbricht als Vorsitzenden der Sicherheitskommission unterrichten zu können. Aus der Sicherheitskommission ging im März 1960 der Nationale Verteidigungsrat hervor, dessen Vorsitzender und SED-Generalsekretär Walter Ulbricht dem Minister für Staatssicherheit Weisungen erteilte. Im Gegensatz zu der Sicherheitskommission beteiligte sich der Nationale Verteidigungsrat aber kaum an Planungen des MfS, sondern in erster Linie an kaderpolitischen Entscheidungen.119 Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 269 f.; Armin Wagner: Der Nationale Verteidigungsrat der DDR als sicherheitspolitisches Exekutivorgan der SED. In: Siegfried Suckut, Walter Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Berlin 1997, S. 169–198, hier 173 f., 177 f. 117 Beschluss, Politbüro, 23.9.1953. Zit. in: Engelmann: Diener zweier Herren, S. 58. Der Beschluss wurde nicht vom eigentlichen Politbüro verabschiedet, sondern von einem Sondergremium. Zu den Anwesenden gehörten auf Parteiseite Ulbricht, Grotewohl, Matern, Schirdewan und Stoph sowie Wollweber, Mielke und Walter als Vertreter der Staatssicherheit. Vgl. ebenda, S. 58. 118 Referat von Ernst Wollweber auf der 26. ZK-Tagung, 22.3.1956. Zit. in: Dierk Hoffmann, Karl-Heinz Schmidt, Peter Skyba (Hg.): Die DDR vor dem Mauerbau. München 1993, S. 239 f. 119 Zum Nationalen Verteidigungsrat unter Vorsitz von Walter Ulbricht gehörten Otto Grotewohl, Heinz Hoffmann (1. stellv. Verteidigungsminister), Erich Honecker (Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates), Bruno Leuschner (Vorsitzender der Staatlichen Plankommission), Karl Maron (Innenminister), Erich Mielke, Willi Stoph (Verteidigungsminister) und Waldemar Verner (stellv.
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Die SED-Führung definierte die politische Linie und Feindbilder, die das MfS mit entsprechenden Repressionsmaßnahmen in die Praxis umzusetzen hatte. Sie bestimmte den Handlungsspielraum (Intensität der Repression, Einsatzbereiche) des Staatssicherheitsdienstes und erteilte konkrete Aufträge. Als Entscheidungsträger war sie laut Walter Süß gefordert, »sobald das MfS nach außen hin sichtbar aktiv wurde, etwa durch eine politisch brisante Verhaftung«.120 Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Parteiführung auch über Entführungsvorhaben informiert wurde und Anweisungen erteilte. Doch weder in den überlieferten Unterlagen des MfS noch der Gremien auf politischer Ebene finden sich Hinweise, die Rückschlüsse auf die Entscheidungswege erlauben. Lediglich in einigen Protokollen des Politbüros tauchen einzelne Entführungsopfer auf, aber stets erst nach der vollendeten Entführungsaktion – zumeist im Zusammenhang mit der Verurteilung der entführten Person.121 Eine Rekonstruktion der Entscheidungswege stößt hier auf Schwierigkeiten, die Siegfried Suckut mit Blick auf die 1960er Jahre festgestellt hat: Zum einen ist nur ein Bruchteil der Unterlagen der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen überliefert. Zum anderen ist aus Gründen der Geheimhaltung in gravierendem Maße von mündlichen Absprachen auszugehen. So zeige sich in den SEDAkten eine geringe Kommunikationsdichte zwischen der ZK-Abteilung und dem MfS, beispielsweise suche man vergeblich nach konkreten Anweisungen. Einen Grund dafür sieht Suckut in der Möglichkeit, dass sich die MfS-Spitze in wichtigen Angelegenheiten unter Umgehung der ZK-Abteilung direkt an den Ersten Sekretär oder ein anderes Politbüro-Mitglied wandte. Die Abteilung für Sicherheitsfragen im ZK, so Suckuts abschließende Bilanz, habe sich »in der Praxis als eine schwache Kontroll-, geschweige denn Anleitungsinstanz« gezeigt. Als Kontroll- und Weisungsberechtigten habe Erich Mielke in den 1960er Jahren nur den Ersten Sekretär des ZK Walter Ulbricht akzeptiert, der Verteidigungsminister) sowie die Politbüro-Mitglieder Alfred Neumann, Albert Norden, Hermann Matern und Alois Pisnik. Vgl. Engelmann: Diener zweier Herren, S. 58 f., 61–71; Süß: Verhältnis, S. 11–14; Wagner: Verteidigungsrat, S. 179; Engelmann/Süß: SED, S. 264 f.; Armin Wagner: Nationaler Verteidigungsrat der DDR (NVR). In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 217–219. 120 Süß: Schild, S. 94; vgl. ders.: Verhältnis, S. 25, 27 f. 121 Information über die Verhaftung und Verurteilung von Paul Rebenstock vgl. Information, Politbüro des SED-Zentralkomitees, 4.3.1954. BArch DY 30/J IV 2/2J/24; Bericht über Prozess gegen Dr. Wolfgang Silgradt vgl. Protokoll Nr. 9/54, Politbüro des SED-Zentralkomitees, 8.6.1954. Ebenda, DY 30/J IV 2/2/365; Bericht zur Strafsache gegen Bruno und Susanne Krüger vgl. Protokoll Nr. 28/55, Politbüro des SED-Zentralkomitees, 14.6.1955. Ebenda, DY 30/J IV 2/2/425; Bericht über Vollstreckung der Todesstrafe gegen Karl-Albrecht Tiemann vgl. Protokoll Nr. 29/55, Politbüro des SED-Zentralkomitees, 21.6.1955. Ebenda, DY 30/J IV 2/2/426; Bericht zur Strafsache gegen Sylvester Murau vgl. Protokoll Nr. 2/56, Politbüro des SED-Zentralkomitees, 13.1.1956. Ebenda, DY 30/J IV 2/2/456; Bericht zur Strafsache gegen Manfred Smolka vgl. Protokoll Nr. 19/60, Politbüro des SED-Zentralkomitees, 26.4.1960. Ebenda, DY 30/J IV 2/2/700.
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sich wiederum auf Mielkes Loyalität verlassen konnte. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund verzichtete die Parteispitze offenbar auf eine enge Lenkung des MfS, sondern vertraute auf eine eigenverantwortliche Einsatzpraxis im Sinne der von der Partei vorgegebenen Richtung.122 I.3
Die Abkehr auf Raten
Die weitgehende Abkehr des MfS von seiner Entführungspraxis Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre muss vor dem Hintergrund der Bindung an die Parteispitze betrachtet werden. Für die herrschende Partei, insbesondere für die Parteiführung waren die Entführungsaktionen politisch kein unbedeutender Faktor: Der um internationale Anerkennung ringende Staat konnte schlechte Publicity, wie sie durch das Bekanntwerden von Verschleppungen und Entführungen entstand, nicht gebrauchen. Es galt abzuwägen, ob der Nutzen einer Entführung wirklich die damit verbundenen »Kosten«, insbesondere die Gefahr eines politischen Schadens überwog. Ein Beispiel für die Rücksichtnahme auf politische Auswirkungen ist der Fall Roland Schmidt, der Anfang Februar 1959 an der Sektorengrenze in Berlin verschleppt wurde. Ursprünglich sollte die Entführungsaktion bereits im November 1958 stattfinden. Ein Aktenvermerk dokumentiert in seltener Deutlichkeit: »Nach Rücksprache mit dem Gen. Grünert [Leiter der HA II/2] wurde festgelegt, daß aus politischen Gründen (Wahl in Westberlin) die Ziehung des S. wie am heutigen Tag vorgesehen war, zurückgestellt wird.«123 »Auf Grund der politischen Situation« verschob MfS-Chef Erich Mielke beispielsweise die für den 1. August 1959 geplante Verschleppung des geflohenen Grenzpolizisten Manfred Smolka, der an der innerdeutschen Grenze in einen Hinterhalt gelockt werden sollte.124 Der 28-Jährige wollte seine Frau und seine Tochter aus der DDR in den Westen holen. Im Auftrag des MfS bot ihm ein ehemaliger Kollege seine Hilfe an, um Smolka in die Nähe der Grenzanlagen zu locken und so seine Verschleppung zu ermöglichen. Am 1. August 1959 waren bereits alle beteiligten Einsatzkräfte des MfS zur Einweisung vor Ort, als aus der MfSZentrale das Signal zum Abbruch der Aktion kam. Der Hintergrund dürfte die Genfer Außenministerkonferenz gewesen sein, die in dieser Zeit stattfand und an der neben den vier Besatzungsmächten Deutschlands auch die Bundesrepublik und die DDR als Beobachter teilnahmen. Drei Wochen später erfolgte 122 Siegfried Suckut: Generalkontrollbeauftragter der SED oder gewöhnliches Staatsorgan? Probleme der Funktionsbestimmung des MfS in den sechziger Jahren. In: ders., Walter Süß (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Berlin 1997, S. 167. Vgl. ebenda, S. 151–167, hier 151, 160 f., 166 f.; Süß: Verhältnis, S. 25, 27. 123 Aktenvermerk, Abt. II/2, 30.11.1958. BStU, MfS, BV Frankfurt/O., AOP 14/59, Bd. 2, S. 104. 124 Ergänzung des Maßnahmeplans, HA I/DPG, 13.8.1959. BStU, MfS, AOP 234/61, Bd. 3b, S. 19–23 (Zitat S. 19).
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Smolkas gewaltsame Entführung dann in der vorgesehenen Weise. Er wurde im Sommer 1960 zum Tode verurteilt und hingerichtet.125 Die Abkehr des MfS von der Entführungspraxis ist jedoch nur multikausal zu verstehen. In einer Aussprache mit einem als Entführer eingesetzten IM resümierte der 1. Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit Bruno Beater 1972: Die »Möglichkeiten und der Einsatz vor 18 Jahren waren ganz andere als die, wie wir sie heute haben. Der Feind hat ganz anders gearbeitet damals, offener, aggressiv und frontal. Dem mußten wir einen frontalen Kampf entgegensetzen.«126 Mit diesem Hinweis auf Strategieänderungen des MfS versuchte er, einen IM, der gegen seine Außer-Dienstnahme opponierte, zu beruhigen. Bereits Mitte der 1960er Jahre hatte der Leiter der Abt. XXI Josef Kiefel dem IM erklärt: »Wir können heute keine solchen Arbeitsmethoden mehr anwenden, wie wir sie vor 10 Jahren, 8 Jahren zum Teil noch vor 6 Jahren anwenden mußten, weil sie uns teils vom Gegner aufgezwungen wurden.«127 Tatsächlich verschwanden Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre zunehmend die Gegner, deren Einfluss das MfS mithilfe der Verschleppungen und Entführungen zu bremsen versuchte. Nicht zuletzt die Untätigkeit des Westens während des Juni-Aufstandes 1953 und die Verfestigung der deutschen Teilung Mitte der 1950er Jahre hatten im Kreis der Widerstandsbereiten einen Prozess der Desillusionierung in Gang gesetzt. Zudem hatten die harten Repressionsmaßnahmen des MfS nicht nur den Kreis der Regimegegner in der DDR dezimiert und demoralisiert, sondern auch in westlichen Widerstandsorganisationen Erosionserscheinungen hervorgerufen. Das kurze politische Tauwetter 1956 hatte ferner zu einer Umorientierung unter Widerständigen in der DDR geführt: An die Stelle fundamentaler Systemgegnerschaft trat immer mehr eine systemimmanente Opposition. Der Widerstand in der DDR, der in den frühen 1950er Jahren stark von antikommunistischen Organisationen im Westen getragen wurde, koppelte sich langsam ab. Die Ostbüros der bundesdeutschen 125 Vgl. Operativplan, HA I/DGP, 19.6.1959. BStU, MfS, AOP 234/61, Bd. 1, S. 49–52; Operativplan, HA I/DGP, 27.7.1959. Ebenda, S. 128–131; Ergänzung zum Operativplan, HA I/DGP, 28.7.1959. Ebenda, S. 132 f.; Bericht, MfS, 5.8.1959. Ebenda, S. 229–233; Bericht über Treffen mit KP Erwin Röder, DGP Operativgruppe Zschachenmühle, 18.8.1959. Ebenda, S. 160 f.; Maßnahmeplan, HA I/DGP, 30.7.1959. Ebenda, Bd. 3b, S. 3–18; Ergänzung des Maßnahmeplans, HA I/DPG, 13.8.1959. Ebenda, S. 19–23; Mitteilung, HA I/DGP, 15.3.1960. Ebenda, Bd. S. 24; Zwischenbericht, HA I/DGP, 20.7.1959. BStU, MfS, AIM 1983/61, P-Akte, S. 67–69; Operativplan, HA I/DGP, 20.7.1959. Ebenda, S. 70–72; Urteil, 1. Strafsenat Bezirksgericht Erfurt, 5.5.1960. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 4, S. 309–334; Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 14.6.1960. Ebenda, S. 359– 381; Schlussbericht, ZERV 212, 11.11.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 976/92, Bd. 2, S. 554–560, hier 556; Verfügung, Staatsanwaltschaft II am Landgericht Berlin, 21.3.1997. Ebenda, Bd. 3, S. 714–746, hier 714–718. 126 Abschrift Tonbandprotokoll Aussprache IM »Heinz Neuhaus« mit Bruno Beater, 19.5.1972. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 3, S. 245–280, hier 251. 127 Stellungnahme zum Bericht über Aussprache zwischen Josef Kiefel und GM »Neuhaus«, MfS, Februar 1965. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 353–361, hier 354.
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Parteien sowie die anderen antikommunistischen Organisationen verloren an politischer Bedeutung und lösten sich zum Teil sogar auf. Die Kampagnen, »Zersetzungsmaßnahmen« und Verhaftungen des MfS hatten ihre Wirkung nicht verfehlt und dazu beigetragen, dass das Ansehen der Organisationen sank. Abgesehen von der Resignation, die der Mauerbau 1961 in den Reihen der noch aktiven Widerstandswilligen auslösen musste, sorgte dieser zudem für eine erhebliche Störung der Verbindungen zwischen DDR-Bürgern und antikommunistischen Organisationen sowie westlichen Geheimdiensten.128 Dieser Aspekt klingt auch in der Aussprache an, die der Leiter der Abteilung XXI Josef Kiefel Mitte der 1960er Jahre mit dem bereits erwähnten übereifrigen Entführer-IM führte: »Früher arbeiteten wir bei offenen Grenzen, die feindlichen Geheimdienststellen nutzten das in mehr als reichem Maße aus und natürlich waren auch unsere Aufgaben und Methoden dem angepaßt. Nach Schließung der Grenzen hat sich auch in den Arbeitsmethoden des Gegners vieles geändert und natürlich hat sich auch bei uns vieles grundsätzlich geändert, […]«129
Die Abriegelung der Grenze hatte allerdings ebenso aufseiten des DDRStaatssicherheitsdienstes Änderungen in den operativen Methoden erforderlich gemacht, da die grenzüberschreitenden Verbindungen sich nun auch für das MfS komplizierter gestalteten. In der Folge mussten beispielsweise Möglichkeiten zur Schleusung von Gegenständen oder Personen durch die Grenzanlagen geschaffen werden.130 Ferner führten der Mauerbau und ein zweiter Entstalinisierungsschub, ausgelöst durch den XXII. Parteitag der KPdSU im November 1961, zu Verunsicherungen im MfS-Apparat. Infolge der nunmehr verbesserten Sicherheitslage der DDR verlor das MfS erheblich an Rechtfertigungspotenzial und musste eine Verkleinerung befürchten – zumal der Nationale Verteidigungsrat der DDR im September 1962 Einsparungen in den Etats der bewaffneten Organe ankündigte. Aus dem Zentralkomitee erreichte das MfS in demselben Jahr zudem die Kritik, durch Einflussnahmen im Staats- und Wirtschaftsapparat seine Kompetenzen zu überschreiten, sowie die Forderung, bei Verhaftungen, Verhören und Durchsuchungen auf illegale Methoden zu verzichten. Das MfS hatte zum Teil einen Übereifer an den Tag gelegt, der den Eindruck erweckte, es verstehe sich als omnipotenter Kontrollbeauftragter. Zwar vollzog es seine Tätigkeit stets als Erfüllungsgehilfe der Parteiherrschaft und beabsichtigte nicht, eine Gegenmacht zur SED zu bilden. Aber die Partei128 Vgl. Engelmann: Ost-West-Bezüge, S. 170, 174, 176–182; Kowalczuk: Stasi konkret, S. 140; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 164 f.; Knabe: Interdependenz, S. 163; Labrenz-Weiß: Bearbeitung, S. 185; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 79 f. 129 Stellungnahme zum Bericht über Aussprache zwischen Josef Kiefel und GM »Neuhaus«, MfS, Februar 1965. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 353–361, hier 353 f. 130 Vgl. Knabe: West-Arbeit, S. 79 f.
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führung wollte einer solchen Entwicklung einer nahezu unbegrenzten Kontrollmacht Einhalt gebieten. Aus der Kritik von Parteiseite erwuchs jedoch kein Grundsatzkonflikt. Vielmehr war diese Entstalinisierungsdebatte wie 1956 nur von kurzer Dauer und blieb ohne weitreichende Auswirkungen. So entspannte sich die Lage im MfS 1964 wieder: Von finanziellen Kürzungen war es verschont geblieben. Die Phase des politischen Tauwetters beendete die SED wieder, nachdem in der Sowjetunion Nikita Chruschtschow gestürzt worden und Leonid Breschnew an die Macht gekommen war.131 In diesen Jahren der Verunsicherung im MfS lassen sich nur noch wenige Entführungsaktionen ausmachen: 1961 waren es zehn, in den darauffolgenden beiden Jahren vier und zwei, 1964 schließlich nur noch eine. Ausschlaggebend für diese Abkehr von der Entführungspraxis Anfang der 1960er Jahre dürfte nicht zuletzt die Entwicklung gewesen sein, dass das SEDRegime durch das Einmauern des eigenen Volkes das ›Ausbluten‹ der DDR verhindern und nach den krisenhaften 1950er Jahren sein Herrschaftssystem konsolidieren konnte.132 »Aufgabenstellung und Spielraum des MfS«, so konstatiert Jens Gieseke, »gingen über von der offensiven, die Parteiherrschaft durchsetzenden Repression zur defensiven, die Herrschaftsstrukturen konservierenden und sichernden Repression«.133 Zum wichtigsten Leitgedanken wurde die Angst vor einer »politisch-ideologischen Diversion«, die negative Beeinflussung der DDR-Bevölkerung auf verdecktem Wege durch Organisationen »imperialistischer Staaten«. Ihre potenziellen direkten feindlichen Aktionen wurden nicht mehr als Hauptgefahr gesehen, aber der Einfluss westlichen Gedankenguts. Das MfS konzentrierte sich stärker auf die Überwachung der DDR-Bevölkerung mit dem Anspruch einer geheimpolizeilichen Präsenz in allen Lebensbereichen. Ilko-Sascha Kowalczuk konstatiert, dass sich das MfS seit Ende der 1950er Jahre »von einem bloßen Repressionsinstrument zu einer umfassenden Kontroll-, Steuerungs-, Überwachungs-, Unterdrückungs-, Verfolgungs- und zuweilen sogar Regulierungsapparatur«134 entwickelte. Zugleich baute es aber auch seine Aktivitäten im Bereich der »Westarbeit« aus, vor allem
131 Einer Verkleinerung versuchte das MfS mit Argumenten entgegenzuwirken, dass sich infolge des Mauerbaus der »politische Untergrund« in der DDR verstärken würde, da Regimegegner nun nicht mehr das Land verlassen könnten. Zudem bedürfe es eines erheblichen Aufwands, die Verbindungswege des Feindes aufzuspüren, nachdem die alten und bekannten Kontaktwege nun zerstört worden seien. Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 75–81; Suckut: Generalkontrollbeauftragter, S. 152– 159, 167. 132 Vgl. Hermann Weber: Geschichte der DDR. München 1999, S. 221–225; Hoffmann: DDR, S. 81–97. 133 Gieseke: Mielke-Konzern, S. 175. 134 Kowalczuk: Stasi konkret, S. 92. Vgl. Klaus-Dietmar Henke: Zu Nutzung und Auswertung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41(1993)4, S. 575–587, hier 586.
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im Bereich der Spionage, und perfektionierte seine dortigen Überwachungsund Verfolgungsmaßnahmen.135 Für die Jahre nach 1964 gibt es nur noch Hinweise auf zwei vollendete Entführungsaktionen des MfS, aber wesentlich mehr Entführungspläne. Die Methode blieb in der Theorie stets präsent, wie überlieferte Entführungsabsichten und -pläne zeigen, und erfuhr in wenigen Einzelfällen sogar ihre Steigerung zu Mordplänen. So schickte die Abteilung XXI im September 1963 ihren GM »Donner« in eine baden-württembergische Kleinstadt südlich von Stuttgart, wo der geflohene MfS-Mitarbeiter Otto Hansen lebte. »Donner« sollte die bekannte Wohnadresse überprüfen, Arbeitsweg und Geflogenheiten von Otto Hansen in Erfahrung bringen und die »erforderlichen Aufklärungsmaßnahmen« durchführen, um Möglichkeiten für die Durchführung »bestimmter Maßnahmen« festzustellen.136 Die Ergebnisse von »Donners« Aufklärungsfahrt flossen u. a. in einen umfangreichen Bericht über Otto Hansen, der nach zweieinhalb Jahren im hauptamtlichen Dienst der MfS-Bezirksverwaltung Halle im April 1961 in den Westen geflohen war. Obwohl der zuständigen MfS-Abteilung XXI entsprechende Hinweise fehlten, ging sie davon aus, dass der zweifache Vater »mit größter Wahrscheinlichkeit […] umfangreichen Verrat« begangen hatte.137 Anfang Januar 1964 wandte sich dann der Leiter der Abteilung XXI mit dem Vorschlag an MfS-Chef Erich Mielke, die Vorgänge gegen die zwei »Verräter« durch die Gruppe »Donner« »unter Ausnutzung der Lichtverhältnisse (jetzt ist es morgens noch ziemlich dunkel) zum Abschluss zu bringen«.138 Bei einem dieser beiden »Verräter« handelte es sich um Otto Hansen. Der andere war Eduard Seidel, ebenfalls ein ehemaliger MfS-Mitarbeiter, der bereits im August 1958 nach dreijähriger Tätigkeit in der MfS-Bezirksverwaltung Erfurt in den Westen geflohen war und mittlerweile in Bremen lebte. Auch ihm unterstellte das MfS einen »umfangreichen Verrat«139 und sah vor, ihn zur »gerechten Bestrafung in die DDR zurückzuführen«.140 Man plante, ihn morgens auf dem Weg zur Arbeit zu überwältigen, und zwar
135 Stichwort »Politisch-ideologische Diversion«. In: Suckut: Wörterbuch der Staatssicherheit, 2001, S. 303 f.; vgl. Roger Engelmann: Diversion, politisch-ideologische. In: ders. u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 67 f.; Gieseke: Erich Mielke, S. 252–254; ders.: Mielke-Konzern, S. 74 f.; Engelmann: Westarbeit, S. 150–152 . 136 Vgl. Auftrag, MfS, 3.9.1963. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/6, S. 95–97. 137 Bericht, Abt. XXI, 13.11.1963. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, S. 10–20, hier 19. 138 Vorschlag, Abt. XXI an Generaloberst Erich Mielke, 3.1.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, Bl. 7–9, hier 8. 139 Auskunftsbericht, Abt. VII, 16.8.1963. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, Bl. 25–30, hier 26. 140 »Vorschlag zur Festnahme des Verräters«, MfS, o. D. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, Bl. 31–35, hier 32; vgl. Auskunftsbericht, Abt. VII, 16.8.1963. Ebenda, Bl. 25– 30.
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auf der Höhe eines brachliegenden Lageplatzes, der von der Gruppe »Donner« genutzt werden sollte, »um ihn für den weiteren Transport zu präparieren«.141 Erwogen wurde jedoch auch eine »sofortige Liquidierung« – im wahrsten Sinne des Wortes: »Das Gelände ist geeignet, den S. unschädlich zu machen und ihn entweder im Teich zu versenken, oder wenn erforderlich von dort aus weiter zu transportieren.«142 Der Vorgang Otto Hansen sollte von vornherein nicht mit einer Entführung zum »Abschluss« gebracht werden. So vermerkte ein handschriftlicher Vorschlag »zur Liquidierung des Verräters H.«: »Bedingt durch das starke Körpergewicht des … und andere für eine Rückführung des Verräters ungünstige Faktoren wird vorgeschlagen, die für ihn vorgesehene Strafe unmittelbar an seinem jetzigen Wohnort zu vollziehen und ihn physisch zu vernichten.«143 Einen entsprechenden Mordplan hatte der GM »Donner« bereits entwickelt: Er wollte einen Sprengsatz an das Moped des Otto Hansen anbringen, der beim Starten durch den Zündfunken zur Explosion gebracht werden sollte. Wahlweise könne er die gleiche Vorrichtung auch in einen Pkw einbauen. »[…] und die Vernichtung ist garantiert«, versprach der gelernte KfzMechaniker.144 Einen solchen Sprengsatz an der Zündung des Mopeds zog das MfS als eine von fünf möglichen Varianten in Betracht. Zwei weitere Varianten sahen Haftminen am Moped vor, die entweder per Zeitzünder oder während der Fahrt zur Detonation gebracht werden sollten. Ferner erwog man, einen tödlichen Verkehrsunfall zu initiieren oder Otto Hansen mithilfe einer Schuss-, Hieb- oder Stichwaffe zu töten.145 Beide Mordpläne kamen nicht zur Durchführung. Der bundesdeutschen Polizei war zur gleichen Zeit ein Mann ins Netz gegangen, gegen den die Generalstaatsanwaltschaft am Landgericht Hamburg ein Verfahren wegen Verdachts der landesverräterischen Beziehungen und der versuchten Verschleppung anstrengte. Die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden verdächtigten ihn, vom DDR-Staatssicherheitsdienst den Auftrag erhalten zu haben, zwei ehemalige MfS-Mitarbeiter in die DDR zu entführen. Einer von ihnen war Otto Hansen, der als Zeuge vernommen wurde. Das Landgericht Hamburg sah den Verdacht der versuchten Verschleppung als bewiesen an und 141 »Vorschlag zur Festnahme des Verräters«, MfS, o. D. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, Bl. 31–35, hier 34 f. 142 »Vorschlag zur weiteren Bearbeitung bzw. Liquidierung des Verräters«, MfS, 18.10.1963. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, Bl. 37–39, hier 38. 143 Hervorhebung im Original. Vgl. handschriftlicher »Vorschlag zur Liquidierung des Verräters«, MfS, o. D. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, Bl. 21–24, hier 21. Vgl. Fricke: Geschwafel, S. 21. 144 Handschriftlicher Mordplan, GM »Donner«, o. D. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/6, S. 114 f., hier 115. 145 Vgl. handschriftlicher »Vorschlag zur Liquidierung des Verräters«, MfS, o. D. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, Bl. 21–24, hier 22 f.
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verurteilte den Beschuldigten im November 1964 zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe. Es ahnte nicht, dass jener Mann als IM »Hans Lange« auch auf Eduard Seidel angesetzt war und den Mord an ihn verüben sollte.146 Derartig eindeutig formulierte Mordpläne sind nur sehr selten überliefert.147 In dem erwähnten Vorschlag des Abteilungsleiters Kiefel an MfS-Leiter Erich Mielke findet sich in diesem Kontext ein aufschlussreicher Hinweis. So schrieb Kiefel: »Über die Möglichkeit der Durchführung der Maßnahme bitte ich Sie, mich mündlich anzuhören und dann zu entscheiden.«148 Entgegen der im MfSApparat vorherrschenden peniblen Dokumentationspraxis versuchte man also bei derartigen Aktionen offensichtlich, schriftliche Fixierungen so weit wie möglich zu vermeiden. Dass die Abkehr von der Entführungspraxis nicht gleichbedeutend mit einer völligen Aufgabe dieser operativen Methode ist und in Einzelfällen sogar eine Steigerung zu Mordplänen erfuhr, zeigt auch der Aufgabenbereich einer Anfang der 1960er Jahre geschaffenen speziellen Diensteinheit des MfS. Diese bildete seit 1964 »spezifische Einsatzgruppen« für eine »Spezialkampfführung im Operationsgebiet« aus, die also im Untergrundkampf gegen die Bundesrepublik Sabotage-, Entführungs- und Mordaktionen verüben sollten. Auf diese Weise sollte dafür gesorgt werden, »unter normalen Bedingungen, wie auch im Falle bewaffneter Auseinandersetzungen, bereit zu sein, zum Schutze der Deutschen Demokratischen Republik aktive Aktionen gegen den Feind und sein Hinterland erfolgreich durchführen zu können«.149 Angesichts der Phase poli146 Vgl. Fernschreiben, BKA an LKA München, 17.5.1967. BStU, MfS, AP 8993/82, Bd. 27, S. 58–64, hier 60; Schlussbericht, ZERV 212, 21.5.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 2, Bl. 53–59, hier 56 f.; Verfügung, Staatsanwaltschaft II, 8.7.1996. Ebenda, Bl. 82–111, hier 86–90. 147 Ein weiteres Beispiel ist der NVA-Soldat Rudi Thurow, der beim Grenzdienst geflohen und dabei weiteren Personen zur Flucht verholfen hatte. Im November 1963 plante die zuständige MfSHauptabteilung I seine Ermordung: Als Raubmord getarnt, sollten zwei GM in einer Parkanlage Thurow auflauern und ihn mit einem kiloschweren Hammer erschlagen. Der Mordplan wurde jedoch nicht umgesetzt. Vgl. Thomas Auerbach: Liquidierung = Mord? Zur vieldeutigen Semantik des Begriffs in den MfS-Unterlagen. In: Horch und Guck 17(2008)1, S. 4–7, hier 4 f.; Daniela Beutler, Werner König: »Geheime Lizenz zum Töten«. Liquidierung von Feinden durch das Ministerium für Staatssicherheit. In: Lothar Mertens, Dieter Voigt (Hg.): Opfer und Täter im SED-Staat. Berlin 1998, S. 67–99, hier 86–88; Mordplan gegen Thurow ist gedruckt in: Gries/Voigt: Verbrechen, S. 150–154. 148 Vorschlag, Abt. XXI (Oberst Kiefel) an Generaloberst Erich Mielke, 3.1.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, Bl. 7–9, hier 8. 149 »Grundsätze zur Durchführung besonderer Qualifizierungsmaßnahmen für Teilkräfte des Ministeriums für Staatssicherheit«, AGM, 20.4.1963. Gedruckt in: Auerbach: Einsatzkommandos, S. 92–110, hier 92. Die Diensteinheit befand sich im Anleitungsbereich der Arbeitsgruppe des Ministers (AGM) und trug ab 1964 zunächst die Bezeichnung Abteilung IV/2, von 1974 bis 1978 Abteilung IV/S, sodann bis 1988 AGM/S und schließlich bis 1989 Abteilung XXIII. Vorläufer waren die 1953 geschaffene Abteilung zur besonderen Verwendung (Abt. z.b.V.), die von 1955 bis 1959 als Abteilung III in der HV A geführt wurde, und die bis 1962 aktive 15. Verwaltung des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR. Vgl. Auerbach: Einsatzkommandos, S. 10–25, 31 f.; ders.: Terrorstrategien, S. 224–238; Fingerle/Gieseke: Partisanen, S. 15; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 215–220.
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tischer Entspannung, die in den 1960er Jahren jedenfalls nach außen zwischen den beiden deutschen Staaten einsetzte, erscheint das paradox. Zur Zeit des Grundlagenvertrages Anfang der 1970er Jahre verstärkte das MfS seine Aktivitäten zur verdeckten Kriegsführung gegen die Bundesrepublik sogar. In den Augen der MfS-Strategen erwuchs aus der Annäherung der beiden deutschen Staaten eine besondere Bedrohung für die SED-Herrschaft.150 Das Ziel der Terror- und Diversionsaktionen war das Herbeiführen bzw. Verstärken einer Krisensituation in der Bundesrepublik, um dadurch den Weg zur Errichtung einer kommunistischen Diktatur im gesamten Deutschland zu ebnen. Zu diesem Zweck entwickelten Spezialisten in dieser Diensteinheit Kampfmittel wie Sprengstoffe und Zünder, Brandsätze, Reizgase, Gifte sowie Narkotika und studierten den Einsatz von radioaktiven Isotopen. Zudem war die Abteilung in der Lage, ihre Einsatzgruppen bei Aktionen in Friedenszeiten mit Waffen, Ausrüstung und Uniformen westlicher Herkunft auszustatten und so zu tarnen. Bis Mitte der 1980er Jahre bildete sie rund 3 500 Einsatzkräfte für den Diversionseinsatz im »Operationsgebiet« aus und verfügte zusätzlich über ein IM-Netz, das laufend Informationen über potenzielle Zielobjekte lieferte und »operative Stützpunkte« in der Bundesrepublik bieten sollte.151 Der Einsatz dieser Spezialkräfte des MfS, der also nicht nur im Kriegsfall vorgesehen war, sollte sich gegen politische Zentren, militärische Einrichtungen und die Infrastruktur wie Energie-, Gas- und Wasserversorgung, aber auch gegen einzelne Personen richten. Zu den vorgesehenen Maßnahmen gegen Personen zählten u. a. das »Ausschalten« und »Liquidieren«, die in einem Handbuch der Diensteinheit von 1974 wie folgt definiert wurden: »Das Liquidieren beinhaltet die physische Vernichtung von Einzelpersonen und Personengruppen. Erreichbar durch das Erschießen, Erstechen, Verbrennen, Zersprengen, Strangulieren, Erschlagen, Vergiften, Ersticken. […] Das Ausschalten von Personen beinhaltet die Handlungsunfähigkeit derselben im weitesten Sinne des Begriffes. Erreichbar durch die Geiselnahme, das andauernde oder zeitweilige Festhalten, die Entführung, das Verschwinden, die provozierte oder durch Drohung erzwungene Flucht, das Untertauchen, Verstecken, die mittels zugespielter echter oder gefälschter Informationen, Beweise, Beschuldigungen erreichte offizielle Abdankung, Funktions150 Aus diesem Grund verschärfte das MfS in dieser Zeit auch die Repressionen im Innern der DDR und baute das IM-Netz erheblich aus. Vgl. Auerbach: Einsatzkommandos, S. 10 f.; Auerbach: Terrorstrategien, S. 225; Gieseke: Mitarbeiter, S. 368–374; ders.: Mielke-Konzern, S. 84–90; MüllerEnbergs: IM 1, S. 53 f. 151 Diese aggressiven Pläne des MfS für Aktionen in der Bundesrepublik bis 1989 bestehen. Vgl. Auerbach: Einsatzkommandos, S. 10–15, 24–76; ders.: Liquidierung, S. 4–7; ders.: Terrorstrategien, S. 224 f., 234 f., 238; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 216–220; Beutler/König: Lizenz, S. 76–79.
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enthebung, Entlassung, Verhaftung, Verurteilung, Inhaftierung und Vollstreckung der Todesstrafe, die Untergrabung des Vertrauens, des Ansehens, der Unbescholtenheit.«152
Ein Dokument über die Einsatzgrundsätze von 1981 veranschaulicht, gegen wen die Mittel der Liquidierung oder Entführung in Friedenszeiten Anwendung finden sollten, nämlich gegen »Verräter« und »führende Personen von Terrororganisationen, deren Tätigkeit gegen die staatliche Sicherheit der DDR gerichtet ist«.153 Hier findet sich also eine zumindest theoretische Fortsetzung der Entführungspraxis der 1950er Jahre. Im Fall von Spannungssituationen oder bewaffneten Auseinandersetzungen sollte der Kreis der zu entführenden oder gar zu liquidierenden Personen auf führende Persönlichkeiten aus den Bereichen der Politik, Administration und Massenkommunikationsmittel sowie der Wirtschaft erweitert werden.154 Bei derartigen Einsätzen sollte besonders in Friedenszeiten großer Wert auf die Konspiration gelegt werden. So sollten die »tschekistischen Einzelkämpfer und Einsatzgruppen in verstärktem Maße die Szene der Terror- und Gewaltverbrechen nutzen, um mit dieser Tarnung und Abdeckung ihre Kampfaufgaben vorzubereiten und durchzuführen«.155 Entführungen und Mordanschläge blieben also – trotz der Entspannungspolitik – bis zum Untergang der DDR im Repertoire der »Westarbeit« des MfS, auch wenn sie seit Anfang der 1960er Jahre nur noch in Einzelfällen tatsächlich ausgeführt wurden. Sie richteten sich gegen exponierte DDRFlüchtlinge und Gegner des SED-Regimes wie besonders aktive Fluchthelfer und Regimegegner im Westen, geflohene MfS-Mitarbeiter, Grenzpolizei- oder
152 »Einsatz und-Kampfgrundsätze tschekistischer Einsatzkader bei der Durchführung offensiver tschekistischer Kampfmaßnahmen im Operationsgebiet«, AGM/S, 9.1.1974. Gedruckt in: Auerbach: Einsatzkommandos, S. 132–141, hier 141. Die Abteilung bildete zu diesem Zweck Einsatzkräfte im Töten von Menschen durch Erwürgen, Erstechen oder Erschlagen aus, erschuf spezielle technische Entwicklungen (wie beispielsweise »Sprengtextilien«) und ließ wissenschaftliche Studien erarbeiten (wie zum Beispiel eine von einem Chemiker an der Humboldt-Universität Berlin erstellte Übersicht über mehr als 200 toxische Substanzen mit ihren Wirkungen, Beschaffungs- und Einsatzmöglichkeiten). Vgl. ebenda, S. 27, 43, 46 f., 57 f. 153 Einsatzgrundsätze und Hauptaufgaben der Einsatzgruppen im Operationsgebiet, AGM/S, 15.4.1981. Gedruckt in: Auerbach: Einsatzkommandos, S. 147–151, hier 150; Dieter Voigt: Mord – Eine Arbeitsmethode des Ministeriums für Staatssicherheit. In: Politische Studien 47(1996)349, S. 43–67, hier 59–63. 154 Vgl. »Die Aufgaben tschekistischer Einsatzgruppen im Operationsgebiet«, AGM/S, März 1982. Gedruckt in: Auerbach: Einsatzkommandos, S. 152–162, hier 156, 159–161. 155 »Die Aufgaben tschekistischer Einsatzgruppen im Operationsgebiet«, AGM/S, März 1982. Gedruckt in: Auerbach: Einsatzkommandos, S. 152–162, hier 161; vgl. Einsatzgrundsätze und Hauptaufgaben der Einsatzgruppen im Operationsgebiet, AGM/S, 15.4.1981. Gedruckt in: ebenda, S. 147–151, hier 148. Im Vorfeld sollten daher die Methoden und Taktiken der Terrorszene sowie die Erscheinungsformen von Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik genau studiert und analysiert werden. Vgl. Auerbach: Liquidierung, S. 6.
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Armeeangehörige, SED-Funktionäre und auch Sportler.156 So stationierte die Hauptabteilung VIII anläßlich der Olympischen Spiele 1972 die IM-Gruppe »Rennfahrer« in München, die dort eine Wohnung für die »isolierte Unterbringung einer Person«, eine große Transportkiste und ein Fahrzeug mit großem Kofferraum bereithalten sollte. Im Falle eines Fluchtversuchs eines Mitglieds der DDR-Olympiamannschaft sollte die IM-Gruppe zum Einsatz kommen.157 Dass die Entführungsabsichten nicht selten in Mordplanungen mündeten, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass der Verbleib eines Entführungsopfers sich kaum und schon gar nicht dauerhaft verschleiern ließ. Das hatten zahlreiche Entführungen respektive deren unfreiwillige Enthüllungen in den 1950er Jahren gezeigt. Ein Mord bot hingegen eher die Möglichkeit, sich eines politischen Gegners spurlos zu entledigen.158 Mit den Folgen haben Betroffene, Staatsanwälte und Wissenschaftler heute zu kämpfen, wenn sie stichhaltige Nachweise für Mordanschläge des MfS zu erbringen versuchen. Die Unterlagen des MfS lassen keinen Zweifel daran, dass der Wille zum politischen Mord vorhanden war. In einem Vorschlag »zur Durchführung von repressiven Maßnahmen auf dem Territorium der BRD« von 1985 heißt es beispielsweise: »1. Habhaftwerden des ›Terrorist‹ und Vortäuschung eines Selbstmordes unter Nutzung der in unmittelbarer Nähe des Anmarschweges Wohnung – Arbeitsstelle gelegenen Gleisanlage des S-Bahn-Nahverkehrs Rhein-Ruhr […] 2. Habhaftwerden des ›Terrorist‹ durch Erschießen einer Handfeuerwaffe Skorpion – schallgedämpft – auf dem Anmarschweg Wohnung – Arbeitsstelle […] 3. Habhaftwerden des ›Terrorist‹ durch Vortäuschen eines Raubüberfalls auf dem Anmarschweg Wohnung – Arbeitsstelle […]«159
Mit dem Decknamen »Terrorist« bezeichnete das MfS den in der Bundesrepublik lebenden Werner Weinhold, der als Grundwehrdienstleistender der NVA im Dezember 1975 in die Bundesrepublik geflohen war und bei seiner Flucht
156 Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 182; Gerhard Sälter: »Durchführung einer Sondermaßnahme.« Entführungen und Attentatspläne der Hauptabteilung I des MfS. In: Horch und Guck 17(2008)1, S. 14–17. Sälter schildert den Fall eines 1962 in die Bundesrepublik geflohenen Grenzpolizisten, dessen Ermordung oder Entführung das MfS noch Anfang der 1970er Jahre erwog. 157 Als 1974 die Fußball-Weltmeisterschaft in der Bundesrepublik stattfand, war die IM-Gruppe »Rennfahrer« mit demselben Auftrag vor Ort. Vgl. Schmole: Hauptabteilung VIII, S. 85. 158 Mordpläne richtete das MfS auch gegen Oppositionelle in der DDR, wie zum Beispiel gegen die Bürgerrechtler Ralf Hirsch und Rainer Eppelmann. Vgl. Peter Grimm: »Was reinmischen, erfrieren lassen, Bremsleitungen manipulieren«. Mordpläne gegen Oppositionelle in den achtziger Jahren. In: Horch und Guck 17(2008)1, S. 42 f.; Auerbach: Liquidierung, S. 4; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 184 f. 159 »Vorschlag einer Realisierungskonzeption«, MfS, Mai 1985. Zit. in: Roland Schißau: Strafverfahren wegen MfS-Unrechts. Berlin 2006, S. 153.
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zwei Grenzsoldaten erschossen hatte. Zur Ausführung einer dieser Mordpläne kam es nicht.160 Die Umsetzung von geplanten Mordanschlägen wurde mit Blick auf den möglichen politischen Schaden für die DDR genau abgewogen und oft aufgeschoben oder verworfen. So brach das MfS beispielsweise einen geplanten und bereits eingeleiteten Mordanschlag auf einen Fluchthelfer im Oktober 1981 »auf Grund eines Staatsbesuches kurzfristig« ab.161 Grundsätzlich galt: »In allen Phasen der Planung, Vorbereitung und Durchführung muß die Konspiration und Geheimhaltung gewährleistet werden. Auf die DDR oder andere sozialistische Länder darf nie der Verdacht fallen, daß sie Ausgangspunkte der durchgeführten aktiven Maßnahmen sind.«162 In den wenigen Fällen, in denen MfS-Kommandos Mordpläne tatsächlich umsetzten, lassen sich die Tatabläufe nur selten genau rekonstruieren.163 Eine solche Ausnahme ist der Fall Siegfried Schulze, der 1972 aus der DDR in die Bundesrepublik geflohen war und sich dort der »Kampfgemeinschaft gegen kommunistische Unmenschlichkeit« angeschlossen hatte. Diese prangerte mit öffentlichen Aktionen (wie Hungerstreiks, Plakaten und Sprengstoffanschlägen auf die Berliner Mauer) in WestBerlin Menschenrechtsverletzungen in der DDR an. Auf Anweisung des stellvertretenden Ministers für Staatssicherheit Bruno Beater liefen im MfSApparat seit Herbst 1974 Planungen, Maßnahmen gegen Schulze zu ergreifen. Zunächst beabsichtigte man seine Entführung aus West-Berlin unter Mitwirkung eines in West-Berlin lebenden IM. Dann fiel jedoch die Entscheidung, Schulze zu ermorden. Im Februar 1975 schickte die Hauptabteilung VIII zu diesem Zweck die IM »Rennfahrer« und »Karate« nach West-Berlin. Sie lauerten Schulze nachts im Hausflur seiner Wohnung auf, wo »Karate« ihn mit einem Handkantenschlag töten sollte. Als die Schläge ihre Wirkung verfehlten und Schulze versuchte, sich gegen seinen Angreifer zu wehren, griff der IM »Rennfahrer« zu seiner Pistole. Mit dieser schlug er erst mehrfach gegen Schulzes Kopf, stieß sie ihm dann in den Mund und betätigte den Abzug. Doch es 160 Weinhold hatte sich nach seiner Flucht vor einem Gericht der Bundesrepublik zu verantworten, nachdem die bundesdeutschen Justizbehörden eine von der DDR geforderte Auslieferung mit Blick auf die dort drohende Todesstrafe abgewiesen hatten. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von 5½ Jahren verurteilt, die er bis 1982 verbüßte. Vgl. Schißau: Strafverfahren, S. 152–155; Schmole: Hauptabteilung VIII, S. 88 f.; Wir finden dich überall. In: Der Spiegel, Nr. 34/1990, S. 64–68; So ein Ding. Hohe Offiziere des DDR-Geheimdienstes, darunter Mielke-Stellvertreter Gerhard Neiber, haben Mordkomplotte geschmiedet. In: Der Spiegel, Nr. 21/1993, S. 92 f. 161 Vgl. Sachbericht über »spezifische Maßnahme«, HA VIII, 23.6.1982. BStU, MfS, AIM 4902/88, Bd. I/1, S. 151–155, hier 151. 162 Erich Falz u. a.: Die Qualifizierung der politisch-operativen Arbeit des MfS zur vorbeugenden Verhinderung und Bekämpfung der gegen die Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR gerichteten politischen Untergrundtätigkeit. Dissertation A/B an der JHS, Potsdam 1979. BStU, MfS, JHS 21886. Zit. in: Beutler/König: Lizenz, S. 85 f. 163 Vgl. Peter Grimm: Lebenslänglich Überlebender. Willy Schreiber hat 1987 einen Mordanschlag überlebt, doch aufklären kann er ihn nicht. In: Horch und Guck 17(2008)1, S. 46–49.
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löste sich kein Schuss, denn bei den Schlägen war das Magazin der Pistole herausgefallen. Schulze gelang es, in den Innenhof des Haus zu flüchten. Seine Angreifer ließen von ihm ab und flohen, da durch den Lärm andere Hausbewohner wach geworden waren.164 Einen Mordanschlag des MfS überlebte auch der Fluchthelfer Wolfgang Welsch nur knapp. Im Auftrag des MfS mischte ein IM bei einem gemeinsamen Urlaub in Israel im Sommer 1981 Thallium in das Essen und vergiftete so nicht nur Welsch, sondern auch dessen Familie. Da Welsch' Ehefrau und seine siebenjährige Tochter wenig von dem Essen zu sich genommen hatten, zeigten sich bei ihnen nur leichte Symptome der Vergiftung. Welsch selbst schwebte jedoch in Lebensgefahr. Die MfS-Unterlagen und das Geständnis des beteiligten IM lieferten die rechtsgültigen Beweise für diesen Mordversuch des MfS.165 Der Tod des Fußballers Lutz Eigendorf im März 1983 kann hingegen nicht so eindeutig auf ein Mordkomplott des MfS zurückgeführt werden, obwohl die mysteriösen Umstände seines tödlichen Autounfalls eine Beteiligung des MfS stark vermuten lassen. Vier Jahre zuvor war der Spieler des Berliner FC Dynamo – Lieblingsclub von MfS-Chef Erich Mielke – bei einem Freundschaftsspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern geflohen. Der Operative Vorgang »Verräter« dokumentiert die permanente und intensive Verfolgung Eigendorfs im Westen durch das MfS. Juristisch ausreichende Beweise für einen Mordan-
164 Vgl. Sachstandsbericht, HA VIII, 20.2.1975. BStU, MfS, AIM 4902/88, Bd. II/1, S. 34–48; Bericht, HA VIII, 24.2.1975. Ebenda, S. 51 f. Der IM »Rennfahrer« wurde 1993 vor dem Kammergericht Berlin wegen Beihilfe zum versuchten Mord zu 4½ Jahren Haft verurteilt. Sein Komplize »Karate« wurde hingegen 1996 freigesprochen, da eine ernsthafte Mordabsicht in den Augen des Landgerichts Berlin nicht zu belegen war. Das Verfahren gegen den Leiter der zuständigen Hauptabteilung VIII wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Ein beteiligter hauptamtlicher Mitarbeiter erhielt eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und 9 Monaten, die aber zur Bewährung ausgesetzt wurde. Vgl. Schißau: Strafverfahren, S. 149–152, 318 f. Die Hauptabteilung VIII beauftragte IM »Karate« Anfang der 1980er Jahre mit der Ermordung des Fluchthelfers Julius Lampl in Hamburg durch das Anbringen eines Sprengsatzes an dessen Auto. Es gab mehrere Anläufe, die jedoch nicht zu Ende gebracht wurden. Vgl. Sachbericht, HA VIII, 23.6.1982. BStU, MfS, AIM 4902/88, Bd. I/1, S. 151–155; weitere Berichte zum geplanten Mordanschlag gegen Lampl siehe ebenda, Bd. II/7; vgl. Schißau: Strafverfahren, S. 155–157; Schmole: Hauptabteilung VIII, S. 63, 65–68, 90 f.; »Das Objekt liquidieren« – Stasi-Akten enthüllen: Der DDR-Geheimdienst ließ im Westen morden. In: Der Spiegel, Nr. 24/1992, S. 34–38; »Wahrung der Ganovenehre« – Erstmals müssen sich Stasi-Offiziere wegen geplanter Morde vor Gericht verantworten. In: Der Spiegel, Nr. 10/1993, S. 102. 165 Vgl. Wolfgang Welsch: Ich war Staatsfeind Nr. 1. Frankfurt/M. 2001; Auerbach: Liquidierung, S. 4; Schißau: Strafverfahren, S. 147–149; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 183 f. Der beteiligte IM wurde 1995 wegen dreifachen Mordversuchs zu einer Freiheitsstrafe von 6½ Jahren verurteilt. Zwei hauptamtliche Mitarbeiter konnten hingegen nicht zur Rechenschaft gezogen werden: Einer beging in Untersuchungshaft Selbstmord, gegen den anderen musste das Verfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt werden. Vgl. Urteil, Landgericht Berlin, 28.11.1994. Gedruckt in: Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Bd. 6: MfS-Straftaten, Berlin 2006, S. 219–250.
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schlag der DDR-Staatssicherheit gibt es jedoch nicht.166 Entführungs- und Mordabsichten hegte das MfS offenbar auch gegen den Fußballtrainer Jörg Berger, der im März 1979 vor einem Spiel der Junioren-Nationalmannschaft der DDR im jugoslawischen Subotica über Belgrad in die Bundesrepublik geflüchtet war.167 Die Rachegelüste gegen diese Sportler dürften mit dem Fall eines weiteren DDR-Flüchtlings in Verbindung stehen, der das SED-Regime an einer besonders empfindlichen Stelle traf: Wenige Wochen vor den beiden Fußballern war der HV A-Oberleutnant Werner Stiller zum BND übergelaufen. Alle Anstrengungen, seiner habhaft zu werden oder ihn im Westen zu töten, blieben trotz eines ausgesetzten Kopfgeldes von einer Million Mark erfolglos.168 MfS-Chef Erich Mielke verkündete noch Anfang der 1980er Jahre auf einer Kollegiumssitzung, dass man mit »Verrätern« »kurzen Prozess« machen müsse: »Das ganze Geschwafel, von wegen nicht hinrichten und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil.«169 Wie oft ein entsprechendes Vorgehen im MfS-Apparat geplant und umgesetzt wurde, wird unbekannt bleiben. Eine beachtliche Anzahl von Anhaltspunkten deutet auf über 50 erwogene respektive durchgeführte Mordversuche des MfS hin.170 Da das MfS die entsprechenden Akten zum großen Teil ›reinigte‹ bzw. ganz vernichtete und entscheidende Befehle offensichtlich mündlich erteilt wurden, lassen sich diese Fälle oftmals schwer rekonstruieren. Sie zeigen aber, dass das Mittel der Entführung zur Ausschaltung politischer 166 Vgl. Auerbach: Liquidierung, S. 4; Schmole: Hauptabteilung VIII, S. 86–88; Heribert Schwan: Tod dem Verräter. Der lange Arm der Stasi und der Fall Lutz Eigendorf. München 2000; »Wir finden dich überall.« In: Der Spiegel, Nr. 34/1990, S. 64–68. 167 Vgl. Jörg Berger: Meine zwei Halbzeiten. Ein Leben in Ost und West. Reinbek 2009; Wie die Stasi Jörg Berger vergiften wollte. In: Die Welt, 5.3.2009; Der verratene »Sportverräter«. In: Die Zeit, 25.3.2009; Ein Leben in zwei Halbzeiten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.4.2009; Ich habe die Stasi unterschätzt. In: Süddeutsche Zeitung, 23.4.2009. 168 Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 183 f.; Thomas Moser: Verschlusssache Werner Stiller. In: Horch und Guck 15(2006)55, S. 37–41; Müller/Mueller/Schmidt-Eenboom: Freund, S. 433–437. 169 Erich Mielke auf einer Kollegiumssitzung, 19.2.1982. Zit. in: Gries/Voigt: Verbrechen, S. 144. 170 Vgl. Christoph Schaefgen: Zehn Jahre Aufarbeitung des Staatsunrechts in der DDR. In: Neue Justiz 54(2000)1, S. 1–5, hier 2; Ansgar Borbe: Die Zahl der Opfer des SED-Regimes. Erfurt 2010, S. 24 f. Darunter beispielsweise auch der Mord an Bernd Moldenhauer (Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte), der von einem IM des MfS im Sommer 1980 auf einem Autobahnrastplatz bei Bad Hersfeld erdrosselt wurde. Vgl. Toter an Autobahn gefunden. In: Tagesspiegel, 22.7.1980; Mordverdächtiger festgenommen. In: Berliner Morgenpost, 22.7.1980; Autobahnmord: Gab der SSD den tödlichen Auftrag? In: Berliner Morgenpost, 5.6.1981; Agent soll gestanden haben. In: Frankfurter Rundschau, 25.7.1980; »Wir finden Dich überall.« In: Der Spiegel, Nr. 34/1990, S. 64–68, hier 67; »Das Objekt liquidieren« – Stasi-Akten enthüllen: Der DDRGeheimdienst ließ im Westen morden. In: Der Spiegel, Nr. 24/1992, S. 34–38, hier 38. Ein weiteres Beispiel ist der Mord an Michael Gartenschläger, der im Mai 1976 bei der Demontage einer Selbstschussanlage an der innerdeutschen Grenze in den Hinterhalt eines MfS-Mordkommandos geriet und erschossen wurde. Vgl. Freya Klier: Michael Gartenschläger. Kampf gegen Mauer und Stacheldraht. Berlin 2009.
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Gegner außerhalb des eigenen Staates auch noch in den 1970er und 1980er Jahren in den strategischen Überlegungen präsent war und in einigen Fällen sogar von der ›lautloseren Methode‹ des Mords abgelöst wurde. Der DDRStaatssicherheitsdienst verabschiedete sich in der post-stalinistischen Ära nicht von der gewaltsamen Verfolgung von Regimegegnern jenseits der Staatsgrenze – auch wenn diese nicht mehr in so großem Maßstab erfolgte wie in den 1950er Jahren.
II.
Die Opfer und Funktion der MfS-Entführungsaktionen
Der Kampf gegen westliche Geheimdienste und antikommunistische Organisationen hatte für die SED-Herrschaft in den 1950er Jahren – nicht zuletzt angesichts der gravierenden Herrschaftskrisen und dem zu eskalieren drohenden Ost-West-Konflikt – Priorität. Die Wahrnehmung dieser westlichen Organisationen und ihrer Initiativen als größte Bedrohung ließ den Machthabern alle Mittel rechtmäßig erscheinen. Die schweren Krisen in den 1950er Jahren, allen voran der Volksaufstand im Juni 1953, hatte der SED-Führung vor Augen geführt, wie gering die Zustimmung im eigenen Volk und wie brüchig ihre Parteiherrschaft war.171 Mit allen Mitteln kämpfte sie daher für die Etablierung und Stabilisierung ihrer Herrschaft – innerhalb der DDR und jenseits der Grenze. Die Fragen nach den Opfern und der Funktion der Entführungsaktionen des DDR-Staatssicherheitsdienstes sind eng miteinander verknüpft: Der Blick auf den Kreis der Entführten gibt Aufschluss über die Absichten, die das MfS mit dieser rechtswidrigen und grenzüberschreitenden Methode verfolgte. Im Wesentlichen lassen sich drei Opfergruppen ausmachen, die im Folgenden skizziert werden. Allerdings lassen sich die Entführungsopfer nur selten eindeutig und ausschließlich einer dieser Gruppen zuordnen – nicht zuletzt aufgrund der verzerrten Wahrnehmungen des MfS, das in den 1950er Jahren hinter jedem Regimekritiker oder Flüchtling einen westlichen Geheimdienst vermutete. Eine Zuordnung fällt zudem schwer, weil die vom MfS erhobenen (Spionage-)Vorwürfe gegen die Entführungsopfer oder die von der Westberliner Polizei ermittelten Entführungsgründe sich nur schwer bis gar nicht mehr überprüfen lassen – höchstens mithilfe der Unterlagen der westlichen Geheimdienste, die nicht zugänglich sind. Die Einschätzung der Entführungs-
171 Ilko-Sascha Kowalczuk bezeichnet die Entwicklung der SED-Herrschaft zwischen 1952/53 und 1961 als »innere Staatsgründung«. Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk: Die innere Staatsgründung. Von der gescheiterten Revolution 1953 zur verhinderten Revolution 1961. In: Torsten Diedrich, IlkoSascha Kowalczuk (Hg.): Staatsgründung auf Raten? Berlin 2005, S. 341–378, hier 364–369.
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praxis des MfS ist jedoch unabhängig vom Wahrheitsgehalt der MfSVorwürfe. II.1
Verfolgung von Geheimagenten
Im Kampf um die Anerkennung ihrer Herrschaft in der eigenen Bevölkerung und auf dem internationalen Parkett sahen das SED-Regime und das MfS als sein »Schild und Schwert« den größten Feind im Westen, dessen Einfluss es mit aller Kraft einzudämmen galt. Der Systemkonkurrent im Westen galt als eine permanente, existenzielle Bedrohung, auf die ehemalige MfS-Mitarbeiter noch heute zur Rechtfertigung verweisen. Die DDR habe sich »in Abwehr der Praxis von BRD-Geheimdiensten und anderer Feindzentralen gezwungen [gesehen], bei schwersten subversiven Angriffen gegen ihre Sicherheit von Westberlin aus sich in Einzelfällen auch mit der gewaltsamen Verbringung besonders gefährlicher Organisatoren von Verbrechen gegen die DDR zu wehren«.172 Das Zitat aus dem Jahr 2003 offenbart die damalige Wahrnehmung und Denkweise im MfS-Apparat. Die Geschichtsklitterung ist eklatant. Abgesehen von der Formulierung »in Einzelfällen«, die angesichts von etwa 400 Verschleppungs- und Entführungsopfern euphemistisch anmutet, ist auch die Charakterisierung der Opfer als »besonders gefährliche Organisatoren von Verbrechen« irreführend. Zwar richteten sich in der Tat viele der Entführungsaktionen des MfS gegen tatsächliche oder mutmaßliche Mitarbeiter und Kontaktpersonen westlicher Nachrichtendienste. So wurde beispielsweise der Gehlen-Mitarbeiter Werner Haase im November 1953 bei dem Versuch verschleppt, eine sogenannte »Drahtschleuse« in Form eines Telefonkabels durch den Landwehrkanal zwischen den Berliner Bezirken Kreuzberg und Treptow zu verlegen.173 In »schwerste subversive Angriffe« gegen die DDR dürften aber nur die wenigsten von ihnen involviert gewesen sein. Die abgelieferten Informationen der Zuträger westlicher Geheimdienste über politische, militärische und wirtschaftliche Entwicklungen in der DDR beruhten oftmals nicht auf einer fachmännischen Spionagearbeit, sondern auf eher alltäglichen Beobachtungen. Durchaus konnten auch nebensächlich erscheinende Informationen (wie notierte Kennzeichen sowjetischer Armee-Fahrzeuge) für einen westlichen 172 Bischoff/Coburger: Strafverfolgung, 2003, S. 208. 173 Haase wurde offenbar verraten, da er in einen Hinterhalt geriet und auf westlicher Seite der Sektorengrenze von einer Einsatzgruppe des MfS überwältigt wurde. In einem Schauprozess vor dem Obersten Gericht der DDR wurde Haase im Dezember 1953 zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Bei seiner Begnadigung nach 3 Jahren Haft handelt es sich wahrscheinlich um den ersten Agentenaustausch zwischen der Bundesrepublik und der DDR, denn laut BND-Chef Reinhard Gehlen wurde im Gegenzug ein in der Bundesrepublik inhaftierter HV A-Agent freigelassen. Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 120–129; Gehlen: Dienst, S. 193–195; Müller/ Mueller/Schmidt-Eenboom: Freund, S. 145.
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Nachrichtendienst von Wert sein. Der Straftatbestand Spionage erfuhr im SED-Regime jedoch eine uferlose Ausweitung: Der bloße Gesprächskontakt mit westlichen Geheimdiensten oder antikommunistischen Organisationen im Westen, die Weitergabe von DDR-offiziellen Informationen oder Berichten über Alltagssorgen oder die politischen Stimmung konnten – ungeachtet ihrer Banalität – als Spionage gedeutet werden. Da es sich bei einem Großteil der Entführungsopfer um politische Flüchtlinge aus der DDR handelte, war ein solcher Kontakt zu westlichen Geheimdiensten oder antikommunistischen Organisationen in den meisten Fällen zwangsläufig. Im Rahmen des bundesdeutschen Notaufnahmeverfahrens, das DDR-Flüchtlinge durchlaufen mussten, war er hinsichtlich der westlichen Geheimdienste obligatorisch und bei antikommunistischen Organisationen wie dem UFJ oft vorprogrammiert. So gab es im Flüchtlingsdurchgangslager Berlin-Marienfelde, das bis zum Bau der Berliner Mauer fast 3 Millionen DDR-Flüchtlinge durchliefen, Befragungsstellen westlicher Nachrichtendienste. Diese Befragungen waren unumgängliche Bestandteile des Notaufnahmeverfahrens, an dessen Ende die Anerkennung als politischer Flüchtling oder auch die Ablehnung stand. Auf diese Weise sollten feindliche Agenten entdeckt, aber auch Informationen gewonnen werden. Außerdem versuchten die westlichen Geheimdienste, DDRFlüchtlinge – in dieser Situation der Abhängigkeit – zur Zusammenarbeit zu gewinnen und/oder über sie Verbindungen in die DDR aufzubauen. Zu diesem Zweck forderten sie die Flüchtlinge beispielsweise auf, Kontakte zu Verwandten, Freunden und Bekannten in der DDR aufzunehmen und zu einem Besuch in West-Berlin zu animieren.174 Häufig entschlossen sich Menschen aus materiellen, vor allem finanziellen Interessen zur Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten, begriffen dies allerdings nicht selten auch als legitime Form des Widerstands gegen das SED-Regime. Dieses Potenzial nutzten westliche Nachrichtendienste für ihre Zwecke und stehen in diesem Kontext in der Kritik, zumal sie durch mangelnde Sorgfalt und Professionalität ihre Zuträger in verantwortungsloser Weise gefährdeten.175 Die Tätigkeit westlicher Nachrichtendienste war in den 1950er Jahren sehr stark auf Agenten und Informantennetze in der DDR angewiesen, die das MfS zu enttarnen und zerstören versuchte. Ein wirksames Mittel zur Schwächung 174 Vgl. Allen: Befragung, S. 163–211; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 67; Fricke: Spionage als antikommunistischer Widerstand, S. 565, 572, 577 f. Zur Prozedur des Notaufnahmeverfahrens vgl. Elke Kimmel: Das Notaufnahmeverfahren. In: Bettina Effner, Helge Heidemeyer (Hg.): Flucht im geteilten Deutschland. Berlin 2005, S. 115–133. 175 Vgl. Fricke: Spionage als antikommunistischer Widerstand, S. 565 f., 571 f., 577 f.; ders./ Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 61 f., 68; Karl Wilhelm Fricke: Spionage. In: Hans-Joachim Veen u. a. (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. München 2000, S. 342 f.; Falco Werkentin: Antikommunistischer Widerstand. In: Ilko-Sascha Kowalczuk, Tom Sello (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Berlin 2006, S. 93–99, hier 97 f.
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der westlichen Geheimdienste waren daher Festnahmen, die das MfS im Rahmen der Entführungsaktionen auch in West-Berlin und der Bundesrepublik vollzog – unter Verletzung des westalliierten respektive bundesdeutschen Hoheitsgebiets. Primäres Ziel dieser Entführungsaktionen war nicht immer eine Inhaftierung des Entführten, zum Teil hoffte das MfS, den entführten Agenten »überwerben« zu können und somit einen Informanten in einem westlichen Geheimdienst zu haben. Ein Beispiel ist der 1931 geborene Manfred Haller, der 1955 aus der DDR geflohen und für den britischen Geheimdienst in West-Berlin tätig war. Auf der Suche nach Informanten in der DDR schrieb er dortige Bekannte an und machte dadurch das MfS auf sich aufmerksam. Das MfS nahm zu den Angeschriebenen Kontakt auf und warb einen von ihnen als GM »Trix« an. Auftragsgemäß reagierte er nun auf die Anfrage von Haller und ließ sich von ihm mit Spionageaufgaben beauftragen. In der Absicht, Haller für eine Zusammenarbeit mit dem MfS zu gewinnen, plante das MfS schon bald dessen Entführung und ließ den GM »Trix« die Vorbereitungen treffen. Es bedurfte mehrerer Anläufe, bis die Entführung im April 1959 gelang: GM »Trix« lockte Manfred Haller unter einem Vorwand in ein Haus an der Bernauer St. 25, unmittelbar an der Grenze zwischen Ost- und WestBerlin, wo er festgenommen wurde.176 Die beabsichtigte »Überwerbung« gelang offensichtlich nicht. Haller wurde im September 1959 wegen Spionage zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt und 1964 durch die Bundesrepublik freigekauft.177 Nach den Ermittlungen der bundesdeutschen Polizei zur Tatzeit sollen ungefähr 15 Prozent der etwa 400 namentlich erfassten Entführungsopfer mit westlichen Geheimdiensten in Verbindung gestanden haben. Im DDRStaatssicherheitsapparat dürfte der Verdacht einer geheimdienstlichen Tätigkeit aber in wesentlich mehr Fällen eine Entführungsaktion ausgelöst haben.
176 Vgl. Zwischenbericht, Abt. II/4, 14.4.1956. BStU, MfS, AOP 116/60, Bd. 1, S. 83–87; Bericht, Abt. II, 19.11.1956. Ebenda, S. 269–272; ca. 50 Treffberichte, Abt. II/2, 18.12.1956– 26.1.1959. Ebenda, Bd. 2; Sachstandsbericht, Abt. II/2, 8.4.1957. Ebenda, Bd. 2, S. 165–169; Bericht, Abt. II/2, 28.1.1958. Ebenda, S. 344; »Ziehungsplan«, Abt. II, 26.1.1958. Ebenda, S. 347 f.; Vorschlag, Abt. II, 27.1.1958. Ebenda, S. 355–360; »Ziehungsplan«, Abt. II/2, 25.2.1958. Ebenda, S. 361–366; »Ziehungsplan«, Abt. II/2, 11.3.1959. Ebenda, S. 367; Bericht, Abt. II/2, 14.3.1958. Ebenda, Bd. 3, S. 116; »Schleusungsplan«, Abt. II/2, 10.11.1958. Ebenda, S. 124 f.; »Schleusungsplan«, Abt. II/2, 17.11.1958. Ebenda, S. 132 f.; Plan zur »Schleusung«, Abt. II/2, 9.1.1959. Ebenda, S. 134–136, 139; Plan zur »Schleusung«, Abt. II/2, 11.2.1959. Ebenda, S. 147–151; Treffbericht, Abt. II/2, 23.3.1959. Ebenda, S. 169; Bericht, Abt. II/2, 11.4.1959. Ebenda, S. 184; Treffbericht, Abt. II/2, 15.4.1959. Ebenda, S. 180; Festnahmebericht, Abt. II/2, 11.4.1959. BStU, MfS, AU 618/59, Bd. 1a, S. 17. 177 Vgl. Schlussbericht, MfS, 9.7.1959. BStU, MfS, AU 618/59, Bd. 1b, S. 156–173; Anklageschrift, Staatsanwalt an Bezirksgericht Frankfurt/O., 24.8.1959. Ebenda, S. 178–188; Urteil, Bezirksgericht Frankfurt/O., 23.9.1959. Ebenda, Bd. 4b, S. 25–36; Beschluss, Bezirksgericht Frankfurt/O., 20.8.1959. Ebenda, Bd. 5, S. 242.
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Fallbeispiel 1: Die Entführung des Journalisten Karl Reimer Im Alter von 21 Jahren verließ Karl Reimer aus politischen Gründen im November 1949 die DDR gen West-Berlin. Zu diesem Zeitpunkt hatte er eine 15-monatige Haft hinter sich, zu der er nach seiner Festnahme im Juli 1948 vor dem Landgericht Potsdam im April 1949 wegen »Verbreitung tendenziöser Gerüchte« verurteilt worden war. Geboren und aufgewachsen in Danzig hatte Karl Reimer im Januar 1948 den »Danziger Informationsdienst« gegründet und seit 1947 als Korrespondent für das deutschsprachige Jugendprogramm der BBC gearbeitet. Nach seiner Flucht war er in West-Berlin als Pressereferent und als freier Mitarbeiter in Rundfunk- und Zeitungsredaktionen tätig. Außerdem gründete er im Herbst 1950 eine Widerstandsgruppe, die der »Deutschen Freiheitsliga« angeschlossen war. Die Vereinigung sammelte Informationsmaterial zur DDR, um Propagandaschriften zu erstellen, und unterhielt zu diesem Zweck auch Kontakte zu DDR-Bürgern. Eine dieser Kontaktpersonen brachte Karl Reimer nach nur vierjähriger Freiheit wieder in DDR-Haft.178 Zu den Informanten von Karl Reimer gehörten Ewald und Fritz Nitschke aus Ost-Berlin, Vater und Sohn, die im Sommer 1951 durch einen GMBericht ins Visier des MfS geraten waren. Auf Anweisung der sowjetischen Berater sollten die Ermittlungen gegen die beiden im Frühjahr 1952 mit ihrer Festnahme abgeschlossen werden. Doch während Ewald Nitschke tatsächlich vom MfS festgenommen werden konnte, gelang seinem Sohn die Flucht nach West-Berlin, wo dieser als politischer Flüchtling anerkannt wurde. Ein Jahr nach seiner Flucht übermittelte ihm seine Mutter jedoch das Angebot des MfS zur inoffiziellen Zusammenarbeit, die seinem inhaftiertem Vater zugute kommen sollte. Der 22-jährige Rundfunkmechaniker erklärte sich einverstanden und verpflichtete sich Anfang Oktober 1953 als GM »Lieber«. Bereits seit Juli desselben Jahres lieferte er dem MfS zahlreiche Informationen über Karl Reimer und belastendes Material. Als das MfS den richtigen Zeitpunkt für eine Festnahme gekommen sah, erteilte es dem GM »Lieber« den Auftrag, Karl Reimer nach Ost-Berlin zu bringen.179 Da Karl Reimer – nach Einschätzung des GM »Lieber« – das Gebiet OstBerlins höchstens im betrunkenen Zustand betreten würde, forderte »Liebers« 178 Vgl. Protokoll Vernehmung, Polizei, 7.10.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1031/93, Bd. II, Bl. 3–11, hier 3 f. 179 Vgl. Bericht, Abt. VI/1, 3.12.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, Bd. I/1, S. 31; Bericht, HA V/4, 24.12.1953. Ebenda, S. 32; Bericht, MfS, 4.6.1954. Ebenda, S. 144–179, hier 144–152; 8 Berichte, Fritz Nitschke, 6.7.–11.10.1953. Ebenda, Bd. II/1, S. 31–33, 36–41, 44, 56, 79, 82, 104; Treffbericht, Abt. VI/1, 2.10.1953. Ebenda, S. 89. Ewald Nitschke wurde im August 1952 zu einer Zuchthausstrafe von 8 Jahren wegen Spionage verurteilt. Auf Initiative des MfS erfolgte im Januar 1955 seine vorzeitige Haftentlassung. Vgl. Urteil, Landgericht Greifswald, 21.8.1952. BStU, MfS, AU 134/52, Bd. 2, S. 58–64; Gnadenentscheid, Präsident der DDR Wilhelm Pieck, 13.1.1955. Ebenda, Bd. 3, S. 21.
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Führungsoffizier einen entsprechenden Vorschlag, den der GM Anfang Oktober ablieferte. Sein Entführungsplan sah vor, Karl Reimer bei einer Kneipentour zu reichlichem Alkoholkonsum zu animieren und ihm im betrunkenen Zustand Schlaftabletten zu verabreichen. Unter dem Vorwand, weitere Kneipen in der Nähe des Schlesischen Tors in Berlin-Kreuzberg aufzusuchen, wollte er sodann mit Karl Reimer die U-Bahn benutzen und ihn auf diesem Wege nach Ost-Berlin bringen. Denn bei der Ankunft am U-Bahnhof Schlesisches Tor als letzter Haltestelle im Westsektor würde der inzwischen eingeschlafene Karl Reimer die dortige Warnung des Stationsvorstehers nicht hören und problemlos mit in den Ostsektor fahren. Im Staatssicherheitsapparat wurde dieser Plan genehmigt. Die Abteilung VI/1 wies ihren GM noch auf verschiedene Eventualitäten hin und erteilte ihm schließlich am 20. Oktober 1953 den Entführungsauftrag.180 Zwei Tage später sollte es soweit sein. Bereits am Nachmittag dieses Tages traf sich der GM »Lieber« mit Karl Reimer und sorgte dafür, dass Letzterer viel Alkohol trank. Als Reimer in einer Kneipe die Toilette aufsuchte, nutzte »Lieber« die Gelegenheit, ihm ein in Wasser gelöstes Betäubungsmittel in den Kaffee zu schütten. Plangemäß stiegen beide anschließend in die vorgesehene U-Bahn-Linie, doch Karl Reimer schlief nicht ein. »Lieber« simulierte daraufhin am U-Bahnhof Schlesisches Tor starke Trunkenheit und weigerte sich, auszusteigen. Doch seine Absicht, Karl Reimer auf diesem Wege zur Weiterfahrt in den Ostsektor zu bewegen, schlug ebenfalls fehl. Karl Reimer versuchte zwar zunächst, den vermeintlich Betrunkenen aus dem Waggon zu ziehen, sprang jedoch schließlich aus dem anfahrenden Zug und alarmierte die Westberliner Polizei. Unverrichteter Dinge begab sich der GM »Lieber« nach seiner Ankunft am nächsten U-Bahnhof in Ost-Berlin wieder nach West-Berlin, wo ihn Karl Reimer und mehrere Westberliner Polizisten erwarteten. Geschickt machte er Karl Reimer umgehend den Vorwurf, ihn im Stich gelassen zu haben – und die Westberliner Polizisten pflichteten ihm bei.181 Das Täuschungsmanöver funktionierte, Karl Reimer schöpfte keinen Verdacht. Daher nahm der GM »Lieber« bereits wenige Tage später einen zweiten Anlauf. Am Entführungsplan wurde im Wesentlichen festgehalten, nur dass »Lieber« nun von einer »starken Dosis« eines »guten Mittels« sprach.182 Die Wirkung sollte er allerdings am eigenen Leibe zu spüren bekommen: Stark angeheitert waren »Lieber« und Karl Reimer in einem Lokal in Berlin180 Vgl. Treffbericht, Abt. VI/1, 22.9.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, Bd. II/1, S. 85; Treffbericht, Abt. VI/1, 5.10.1953. Ebenda, Bl. 92; Entführungsplan, GM »Lieber«, 11.10.1953. Ebenda, S. 96; Treffbericht, Abt. VI/1, 15.10.1953. Ebenda, S. 98; Treffbericht, Abt. VI/1, 20.10.1953. Ebenda, Bl. 103; Schlussbericht, Abt. VI/1, 14.10.1953. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 3, S. 65–72, hier 71 f. 181 Vgl. Bericht, GM »Lieber«, 23.10.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, Bd. II/1, S. 114 f. 182 Vorschlag, GM »Lieber«, 23.10.1953. Ebenda, S. 112.
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Schöneberg gelandet, wo sie zunächst weiterhin Alkohol tranken und sich schließlich wieder Kaffee bestellten. Als Karl Reimer erneut seine Kaffeetasse bei »Lieber« stehen ließ, gab dieser das gelöste Schlafmittel in Reimers Tasse. Dieses Mal hatte ihn jedoch der Wirt des Lokals beobachtet und stellte ihn umgehend zur Rede. »Lieber« argumentierte, dass er ein Zahnschmerzmittel zu sich nehmen müsse. Tatsächlich hatte er das gelöste Schlafmittel in eine Ampulle für Zahnschmerzmittel gefüllt, die er nun vorzeigen konnte. Doch der Wirt blieb skeptisch, zumal er genau gesehen hatte, dass »Lieber« das Mittel nicht in seine eigene Tasse geschüttet hatte. So hatte »Lieber« keine andere Möglichkeit, als den mit dem Schlafmittel versehenen Kaffee selbst zu trinken. Karl Reimer hatte von dieser Szene nichts mitbekommen und setzte die Kneipentour mit seinem vermeintlichen Freund ahnungslos fort, der die Folgen des Schlafmittels noch am nächsten Tag spürte.183 Erst der dritte Entführungsversuch zwei Wochen später gelang schließlich: Am Abend des 13. Novembers 1953 traf sich der GM »Lieber« mit Karl Reimer in einem Restaurant am Schlesischen Tor. Gemeinsam suchten sie anschließend ein Lokal in Berlin-Neukölln auf, wo sie reichlich Alkohol konsumierten. Auf dem nächtlichen Rückweg nahm Karl Reimer »Liebers« Vorschlag an, die S-Bahn gen S-Bahnhof Köllnische Heide zu nutzen. Wieder war es ein Bahnhof in unmittelbarer Grenznähe, die nächste Station Baumschulenweg lag bereits im Ostsektor. Karl Reimer gab nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik zu Protokoll, dass GM »Lieber« ihm in der S-Bahn eine Zigarette angeboten habe, nach deren Genuss er das Bewusstsein verloren habe. An einem Bahnhof habe »Lieber« ihn dann wachgerüttelt und aus der S-Bahn gebracht. Nur langsam habe er registriert, dass etwas nicht stimmte und die Gegend ihm unbekannt war. In dem Augenblick sei er jedoch bereits von mehreren Männern umstellt, zusammengeschlagen und in ein Auto gezerrt worden. Den Verdacht, dass er mit einer Zigarette betäubt worden sei, äußerte Karl Reimer allerdings noch nicht, als er während seines Prozesses in der DDR einer Mitangeklagten Informationen über seine Entführung zuflüstern konnte. Ihr erzählte er, dass er durch Alkohol oder ein Narkotikum, das ihm ins Glas gegeben worden sei, in einen bewusstlosen Zustand gefallen sei. Auch in dem Bericht des GM »Lieber« finden sich keine Hinweise auf die vergiftete Zigarette. Vielmehr habe er Karl Reimer am Bahnhof Baumschulenweg mit den Worten »Wir sind verkehrt, aber jetzt ganz ruhig bleiben!« aus der S-Bahn geführt. Der Festnahmebericht des MfS stützt die Version des GM »Lieber«. Demnach stiegen bzw. torkelten der GM »Lieber« und Karl Reimer um 2.30 Uhr stark angetrunken am S-Bahnhof Baumschulenweg aus der S-Bahn. Auf den Bahnsteig wartete bereits ein hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS, den der ahnungslose Karl Reimer nach einer S-Bahn Richtung Schlesisches Tor 183 Vgl. Bericht, GM »Lieber«, 1.11.1953. Ebenda, S. 120–124.
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fragte. Unter dem Vorwand, sie zu einem Taxi zu bringen, führte dieser die beiden daraufhin aus dem Bahnhofsgebäude, wobei er Karl Reimer unterhakte. Als Karl Reimer draußen bemerkte, dass sie nicht auf ein Taxi, sondern einen Privatwagen zusteuerten, versuchte er sich loszureißen. In diesem Augenblick wurde er jedoch trotz Gegenwehr überwältigt, gefesselt, in das Auto gestoßen und in die MfS-Untersuchungshaftanstalt II nach Berlin-Lichtenberg gebracht.184 Der Einsatz des GM »Lieber« war mit Reimers Festnahme noch nicht beendet. Umgehend kehrte er nach West-Berlin zurück, um sich ein Alibi zu verschaffen. Zu diesem Zweck erkundigte er sich noch nachts im Lokal bei der Lebensgefährtin von Karl Reimer nach dessen Verbleib, denn dieser habe ihn einfach in einer Kneipe sitzen lassen. Am nächsten Tag wiederholte er dieses Täuschungsmanöver bei Reimers Mutter. Ihm gelang es in der folgenden Zeit sogar, sich bei ihr als helfender Freund anzubiedern. So begleitete er sie auch zur Kriminalpolizei, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, und machte dort selbst eine Aussage. Als sie ihn im Vertrauen bat, das Material von Karl Reimer durchzusehen, ahnte sie nicht, dass sie somit dem SED-Regime Munition für den Prozess gegen ihren Sohn lieferte. Denn der vermeintliche Freund und GM des MfS brachte alle wichtigen Unterlagen seinem Auftraggeber in der DDR.185 Viele Informationen über Reimers Tätigkeit für die »Deutsche Freiheitsliga« als eine »deutsche Dienststelle unter amerikanischer Leitung«, seine Beziehungen zur BBC und zum RIAS, seinen Kontakt zur Danziger Landsmannschaft, zum CIC und zum Amt für Verfassungsschutz hatte das MfS bereits durch den GM »Lieber« erhalten. Nach der Entführung von Karl Reimer wurden diese Verbindungen nun zum Gegenstand seiner zahlreichen Vernehmungen.186 Spionage und »Kriegshetze« im Dienste des amerikanischen Geheimdienstes CIC, der Deutschen Freiheitsliga und der »Bundesdienststelle« lautete 184 Vgl. Protokoll Vernehmung, Polizei, 7.10.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1031/93, Bd. II, Bl. 3–11, hier 4 f.; Vernehmung einer Mitangeklagten von Karl Reimer, Abt. I 4 KJ 1, 23.11.1957. Ebenda, Bd. I, Bl. 25 f., hier 26; Bericht, GM »Lieber«, 19.11.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, Bd. II/1, S. 125–128; Festnahmebericht, Abt. VI/1, 14.11.1953. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 1, S. 10; Zwischenbericht, ZERV 213, 13.7.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1031/93, Bd. 7, Bl. 165–173, hier 166–168; Verfügung, Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin, 13.7.1996. Ebenda, Bl. 188–191, hier 188. 185 Vgl. Bericht, GM »Lieber«, 19.11.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, Bd. II/1, S. 125–128; Treffbericht, HA VI/1, 3.12.1953. Ebenda, S. 131; 5 Berichte, GM »Lieber«, 24.11.1953–5.1.1954. Ebenda, S. 132 f., 140 f., 158, 160–162; 6 Berichte, GM »Lieber«, 5.1.–29.3.1954. Ebenda, Bd. II/2, S. 27, 91, 118 f., 128–130, 175 f., 196 f.; 3 Berichte, GM »Lieber«, 14.4.–14.5.1954. Ebenda, Bd. II/3, S. 52, 93, 101; Bericht über GM »Lieber«, Abt. VI/1, 3.12.1953. Ebenda, Bd. I/1, S. 31. 186 Vgl. Bericht, Fritz Nitschke, 23.7.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, Bd. II/1, S. 36–38; Bericht, GM »Lieber«, 12.11.1953. Ebenda, S. 144–147, hier 144 f.; Bericht, GM »Lieber«, 9.12.1953. Ebenda, S. 137 f.; Verfügung, MfS, 14.11.1953. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 1, S. 7 f.; ca. 40 Vernehmungsprotokolle, MfS, 14.11.1953–30.1.1954. Ebenda, S. 31–204.
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schließlich die Anklage gegen Karl Reimer und fünf weitere Angeklagte, die im April 1954 vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Karl-Marx-Stadt erhoben wurde.187 In seinem Urteil nach drei Verhandlungstagen folgte der Strafsenat dem Antrag des Staatsanwalts und ahndete Reimers »Friedensgefährdung durch Kriegshetze, begangen in der Form von Spionage, durch Boykotthetze sowie durch Propaganda für den Militarismus und Faschismus« mit einer lebenslangen Zuchthausstrafe.188 Zwar ließ Karl Reimer durch seinen Rechtsanwalt Berufung gegen das hohe Strafmaß einlegen. Diese wurde jedoch nur einige Tage später vom Obersten Gericht der DDR abgewiesen, da der »hohe Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit« die lebenslange Zuchthausstrafe rechtfertige.189 In den folgenden Jahren verfasste Karl Reimer noch mehrere Beschwerden gegen seine unrechtmäßige Verurteilung, die aber ebenso abschlägig beschieden wurden wie die zahlreichen Gnadengesuche.190 Über zehn Jahre musste Karl Reimer in den Zuchthäusern Brandenburg-Görden und Bautzen II verbringen bis er im September 1964 von der Bundesregierung freigekauft wurde.191
187 Bei den anderen Angeklagten handelte es sich um DDR-Bürger, die mit Karl Reimer in Kontakt gestanden hatten, darunter auch die ehemalige Verlobte von Fritz Nitschke Vgl. Anklageschrift, Staatsanwalt des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, 12.2.1954. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 18, S. 15–36. 188 Urteil, Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 5.4.1954. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 18, S. 99–119, hier 100; vgl. Protokoll Vernehmung, Polizei, 7.10.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1031/93, Bd. II, Bl. 3–11, hier 5 f. 189 Vgl. Berufung, Rechtsanwalt an Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 11.4.1954. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 18, S. 125–127; Beschluss, Oberstes Gericht der DDR, 30.4.1954. Ebenda, S. 133 f., hier 133; Protokoll Vernehmung, Polizei, 7.10.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1031/93, Bd. II, Bl. 3–11, hier 5 f. 190 Vgl. Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens, Karl Reimer an Generalstaatsanwalt, 17.9.1956. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 28, S. 90 f.; Antwortschreiben, Generalstaatsanwaltschaft an Karl Reimer, 12.10.1956. Ebenda, S. 95; Verfügung, Gnadenkommission Bezirk Karl-Marx-Stadt, 14.2.1957. Ebenda, Bd. 19, S. 1; Schreiben, Staatsanwaltschaft an StVA Bautzen II, 24.9.1958. Ebenda, Bd. 21, S. 2 f., hier 3; Beschwerdebrief, Karl Reimer an Rechtsanwalt, 10.9.1958. Ebenda, S. 5; Schreiben, StVA Bautzen II an Staatsanwaltschaft Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 11.9.1958. Ebenda, S. 4; Führungsbericht, StVA Bautzen II, 29.11.1956. Ebenda, S. 10; Vorschlag zur Strafherabsetzung, Rechtsanwalt an Staatsanwaltschaft Bezirk Karl-Marx-Stadt, 8.6.1957. Ebenda, S. 7; Antwortschreiben, Staatsanwalt an Rechtsanwalt, 14.6.1957. Ebenda, S. 6; Antrag auf Begnadigung, Rechtsanwalt an Generalstaatsanwalt, 17.10.1960. Ebenda, Bd. 28, S. 132 f.; Mitteilung, Generalstaatsanwalt an Rechtsanwalt, 28.12.1960. Ebenda, S. 137. 191 Vgl. Mitteilung, StVA Bautzen II an Staatsanwaltschaft Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 15.8.1956. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 27, S. 221; Gnadenentscheid, Vorsitzender des Staatsrates Walter Ulbricht, 31.8.1964. Ebenda, Bd. 20, S. 21; Beschluss, Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 1.9.1964. Ebenda, S. 19; Protokoll Vernehmung, Polizei, 7.10.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1031/93, Bd. II, Bl. 3–11, hier 5 f. Als Mitglied der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. geriet der in West-Berlin lebende Karl Reimer 1978 wieder in das Visier des MfS, dieses Mal der HA XX/5. Dort wurden »Zersetzungsmaßnahmen« gegen ihn geplant und durchgeführt. Vgl. Plan, HA XX/5, 28.12.1978. BStU, MfS, AOP 4392/86, Bd. 1, S. 30–51; Maßnahmeplan, HA XX/5, 17.12.1980. Ebenda, S. 52–64; Auskunftsbericht, HA XX/5, 23.4.1981. Ebenda, Bd. 3, Bl. 85; Plan,
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Fallbeispiel 2: Die Entführung des Geheimdienstmitarbeiters Manfred Richter Im Sommer 1952 geriet der 31-jährige Manfred Richter, ein Mitarbeiter des dänischen Geheimdienstes, ins Blickfeld des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Der gelernte Mechaniker war 1951 aus dem Ostteil Berlins in den Westteil geflüchtet, nachdem er kurzzeitig von der Volkspolizei inhaftiert worden war und weitere Ermittlungen gegen ihn drohten. Obwohl sich diese Ermittlungen noch nicht auf den Verdacht der nachrichtendienstlichen Tätigkeit bezogen, befürchtete Manfred Richter, dass diese enttarnt werden könnte. Denn bereits ein Jahr zuvor war er mit dem dänischen Nachrichtendienst in Kontakt gekommen. Seine Agententätigkeit entdeckte das MfS im Rahmen eines Operativen Vorgangs mit dem Decknamen »Schlauch«, der sich gegen einen in West-Berlin lebenden (vermeintlichen) Westagenten richtete. Dem MfS war es gelungen, dem ins Visier genommenen Westberliner einen GM als vermeintlichen Informanten unterzuschieben. In Unkenntnis des Doppelspiels dieses Informanten brachte er ihn mit Manfred Richter in Verbindung, über den der GM seinem Auftraggeber in der DDR Bericht erstattete. Nach ersten Einschätzungen des MfS arbeitete Richter für eine amerikanische Geheimdienststelle in West-Berlin und warb Personen aus der DDR als Agenten an, um militärische Informationen zu erlangen.192 Im Staatssicherheitsapparat intensivierte man fortan die Ermittlungen gegen ihn. Die Hauptabteilung II/3 eröffnete im Mai 1954 den Operativen Vorgang »Konsulat« und identifizierte ihn im Eröffnungsbericht als Agent eines skandinavischen Geheimdienstes.193 Mehrere GI und GM wurden nun auf ihn angesetzt, deren Erkundungen zu seiner Festnahme oder seiner Anwerbung führen sollten. Im November 1954 erwog die Hauptabteilung II/3 noch, einen weiblichen GI auf Manfred Richter anzusetzen, doch es bot sich eine bessere Möglichkeit.194 Einen Monat zuvor hatte sich ein 32-jähriger Mann auf dem Präsidium der Volkspolizei in Ost-Berlin gemeldet und über seine Flucht aus Polen nach West-Berlin im Juli 1954 sowie seine dortige Anwerbung für den britischen Geheimdienst und die HA XX/5, 15.3.1982. Ebenda, Bd. 6, S. 125–127; Abschlussbericht, HA XX/5, 22.3.1986. Ebenda, Bd. 8, S. 323–340. 192 Vgl. Zwischenbericht, Abt. I/3, 7.10.1952. BStU, MfS, AOP 812/56, Bd. V/1, S. 97 f.; Zwischenbericht, Abt. I/5, 8.8.1953. Ebenda, S. 221–229; Operativplan, Abt. I/A, 14.1.1954. Ebenda, Bd. V/2, S. 17–25, hier 19 f.; Schlussbericht, HA I/7, 22.11.1956. Ebenda, S. 277–284, hier 277– 279; Zeugenaussage, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 6.5.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. XII, Bl. 36–41. 193 Vgl. Eröffnungsbericht, HA II/3, 17.5.1954. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. V/1, S. 66–68; Beschluss, HA II/3, 17.6.1954. Ebenda, S. 69 f.; Auskunftsbericht, MfS, 1.3.1955. Ebenda, Bd. V/3, S. 113 f. 194 Vgl. Operativplan, MfS, 18.6.1954. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. V/1, S. 71 f.; Maßnahmeplan, HA II/3, 8.11.1954. Ebenda, S. 109 f.; Maßnahmeplan, HA II/3, 27.11.1954. Ebenda, S. 118 f.; IM-Berichte, HA II/3, Mai–August 1954. Ebenda, S. 41–47, 59–64, 96; Maßnahmeplan, HA II/4, 6.7.1955. Ebenda, Bd. III, S. 72–75.
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Organisation Gehlen berichtet. Über einen Mittelsmann der Organisation Gehlen war er dabei im August 1954 auch mit Manfred Richter in Verbindung gebracht worden, der ihn beauftragte, in Polen Informationen militärischer und wirtschaftlicher Art zu sammeln. Das MfS warb den Geständigen Anfang November des Jahres als GM »Herbert« an und gelangte auf diesem Wege in der Folgezeit an zahlreiche Informationen über Manfred Richter. Dieser schöpfte keinen Verdacht und schickte »Herbert« wiederholt mit Aufträgen nach Polen – das MfS war stets informiert und sorgte sogar für den reibungslosen Übertritt der Grenze zwischen der DDR und Polen.195 Auf der Grundlage der erlangten Erkenntnisse nahm das MfS im September 1955 von dem Ziel seiner Überwerbung Abstand und widmete sich der Vorbereitung einer anderen Maßnahme. So heißt es in einem Bericht: »Da, wie schon angeführt, eine Überwerbung fraglich ist, wird vorgeschlagen, den R. durch Hilfe des GM ›Herbert‹ […], in den demokratischen Sektor von Berlin zu ziehen.«196 Mit dem Wissen, dass bei Treffen zwischen »Herbert« und Manfred Richter in Westberliner Lokalen oft Alkohol getrunken wurde, strickte die Hauptabteilung II/4 den Entführungsplan. Am 3. November 1955 sollte Richter nach einem solchen Treffen im stark alkoholisierten Zustand in seinem eigenen Auto in die DDR gebracht werden. Doch er sagte kurzfristig ab und entging dem geplanten Zugriff des MfS. Außerdem erklärte er gegenüber »Herbert«, dass die alkoholreichen Abende der Vergangenheit angehören würden.197 In Kenntnis der Absicht von Manfred Richter, bald in Begleitung des GM »Herbert« in die Bundesrepublik zu fliegen, um dort in einem Flüchtlingslager polnische Staatsbürger zu befragen und anzuwerben198, änderte man in der Hauptabteilung II/4 den Entführungsplan: Vor dem Flüchtlingslager sollte 195 Vgl. Bericht, Abt. II/4, 28.10.1954. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 45–47; Vorschlag zur Anwerbung, Abt. II/4, 4.11.1954. Ebenda, S. 48 f.; Auskunftsbericht, Abt. II/4, 15.11.1954. Ebenda, S. 56; Maßnahmeplan, HA II, 10.11.1954. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 50 f.; Sachstandsbericht, HA II/4, 10.1.1955. Ebenda, S. 113–122; Maßnahmeplan, HA II/4, 11.3.1955. Ebenda, S. 148–150; Aktenvermerk, HA II/4, 11.1.1955. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. V/3, S. 55 f.; Bericht, HA II/4, 24.1.1955. Ebenda, S. 61 f.; Aktenvermerk, HA II/4, 12.2.1955. Ebenda, S. 86–93; Auskunftsbericht, 1.3.1955. Ebenda, S. 113 f.; Bericht, HA II/4, 2.5.1955. Ebenda, S. 234–236; Bericht, HA II/4, 8.6.1955. Ebenda, Bd. III, S. 31–35; Zwischenbericht, HA II/4, 18.6.1955. Ebenda, S. 46–53; Sachstandsbericht, HA II/4, 5.8.1955. Ebenda, S. 88–90; Maßnahmeplan, HA II/4, 5.8.1955. Ebenda, S. 91–93; Maßnahmeplan, HA II/4, 1.9.1955. Ebenda, S. 147 f. Vgl. Zeugenaussage, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 6.5.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. XII, Bl. 36–41; Zeugenaussage, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 7.5.1965. Ebenda, Bl. 42– 57, hier 42–46. 196 Bericht, HA II/4, 21.9.1955. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. III, S. 154–159, hier 158. 197 Vgl. Bericht, HA II/4, 21.9.1955. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. III, S. 154–159, hier 158 f.; Maßnahmeplan, HA II/4, 2.11.1955. Ebenda, S. 18–21; Aktenvermerk, HA II/4, 3.11.1955. Ebenda, S. 27, 32; Treffbericht, HA II/4, 5.11.1955. Ebenda, S. 29–32. 198 Die Anwerbung von osteuropäischen Flüchtlingen in den bundesdeutschen Flüchtlingslagern war zu dieser Zeit eine übliche Methode westlicher Geheimdienste. Vgl. Stöver: Befreiung, S. 252.
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eine Festnahmegruppe postiert werden, und »Herbert« sollte gegenüber Richter angeben, dass sich im Lager ein Mann mit interessanten Informationen befinde. Dieser Vorwand sollte die Gelegenheit schaffen, Richter in seinem Wagen zu überwältigen. Diskutiert wurde noch die Frage, ob man seinen Wagen anschließend mit in die DDR nehmen oder ihn unter Vortäuschung eines Raubüberfalls stehen lassen sollte. Als Alternative zu diesem Plan schlug GM »Herbert« vor, auf einer unbelebten Straße einen Autounfall vorzutäuschen, um so den Wagen von Manfred Richter zum Halten zu bringen und ihn festzunehmen.199 Nach der Genehmigung des »Festnahmeplanes« der Hauptabteilung II/4 durch den Stellvertreter des Staatssekretärs für Staatssicherheit Bruno Beater begannen die letzten Vorbereitungen. Plangemäß wurde die »Festnahmegruppe der Hauptabteilung II«, eine dreiköpfige Einsatzgruppe unter Führung eines GM mit dem Decknamen »Donner«, mit der Beobachtung von Richter beauftragt.200 Derweil vertraute Manfred Richter seinem späteren Entführer an, dass er schon zweimal vom DDR-Staatssicherheitsdienst entführt werden sollte, sich aber in der Bundesrepublik recht sicher fühle. Seine Aussagen nach seiner Rückkehr aus der DDR-Haft Mitte der 1960er Jahre bestätigen, dass er sich der Gefahr einer Entführung sehr bewusst war und zusätzlich zu seiner Bewaffnung mit einer Pistole stets entsprechende Vorsichtsmaßnahmen traf. So habe er nie ihm angebotene Zigaretten angenommen und sei bei der Einnahme von Getränken sehr vorsichtig gewesen. Am Tag seiner Entführung habe er sogar noch bei einem gemeinsamen Essen mit »Herbert«, dem er stets misstraut habe, nach einem Bissen den Teller mit diesem getauscht.201 Seine Entführung am 17. November 1955 konnte er jedoch trotz dieser Vorsicht nicht verhindern. An diesem Tag hatte er sich in Begleitung »Herberts« auf den Weg in die Bundesrepublik gemacht. Nach ihrer Ankunft fuhren sie zu dem Flüchtlingslager Warburg/Lahn, wo der GM »Herbert« den Wagen verließ unter dem Vorwand, im Lager eine bestimmte Person treffen zu wollen. Das war das Einsatzsignal für die dreiköpfige Entführergruppe: Der GM »Donner« ging nun auf den Wagen zu, um Manfred Richter nach Feuer zu fragen, seine beiden Helfershelfer hielten sich in der Nähe bereit. Doch da Richter Vorsicht
199 Vgl. Maßnahmeplan, HA II/4, November 1955. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. V/4, S. 13– 17; Festnahmeplan, HA II/4, November 1955. Ebenda, S. 22–26; Aktenvermerk, HA II/4, 3.11.1955. Ebenda, S. 27; Treffbericht, HA II/4, 5.11.1955. Ebenda, S. 29–31, hier 31. 200 Vgl. Festnahmeplan, HA II/4, November 1955. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. V/4, S. 22– 26; Auftrag, HA II/7, 4.11.1955. Ebenda, S. 28; Treffbericht, HA II/7, 7.11.1955. Ebenda, S. 49 f. 201 Vgl. Treffbericht, HA II/4, 5.11.1955. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. V/4, S. 29–32, hier 31; Treffbericht, HA II/4, 14.11.1955. Ebenda, S. 58–61, hier 59; Zeugenaussage, Abt. I 1 KJ 1, 9.12.1964. BArch, B 209/1070, o. Pag.; Zeugenaussage, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, WestBerlin, 7.5.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. XII, Bl. 42–57, hier 49.
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walten ließ und die Autotür nicht öffnete, scheiterte der Entführungsplan.202 Die vom MfS geschickten Entführer improvisierten: Sie verfolgten den Wagen von Richter mit ihrem Mercedes und drängten ihn auf der Autobahn in der Nähe von Kassel von der Fahrbahn. Ehe Manfred Richter sich versah, wurde seine Türscheibe eingeschlagen und die Fahrertür aufgerissen. Trotz verzweifelter Gegenwehr zerrten zwei der vom MfS beauftragten Entführer Manfred Richter aus dem Wagen, schlugen ihn mit Holzknüppeln nieder und schleppten ihn in den Fond des Mercedes. Dort drückte man ihn bäuchlings auf den Boden und einer der Angreifer setzte sich auf seinen Rücken und hielt ihm eine Pistole an den Kopf. Die anschließende Fahrt Richtung Kassel unterbrachen die Entführer kurz auf einem Parkplatz, um Manfred Richter gefesselt und geknebelt in den Kofferraum des Mercedes zu verfrachten.203 »Die Arme wurden auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt, die Beine an den Kniegelenken nach hinten gezogen, Kopf und Beine mit einem Strick verbunden, so daß ich mich bei einem Befreiungsversuch selbst erwürgt hätte. Man drohte mir wieder, mich zu erschießen, wenn ich einen Fluchtversuch unternehmen würde.«204
Der GM »Donner« hatte diesen Mercedes extra für derartige Zwecke umgerüstet, indem er die Spitzengeschwindigkeit erhöht, die Reifen schusssicher sowie den Kofferraum schalldicht und gut verschließbar gemacht hatte.205 Als der schwer verletzte Manfred Richter nach längerer Fahrt endlich diesen Kofferraum verlassen durfte, befand er sich in der Ostberliner Magdalenenstraße, Sitz einer Untersuchungshaftanstalt des MfS. Richters Wagen, der deutliche Spuren des Überfalls trug, nahm das Entführungskommando mit in die DDR. Denn auf diese Weise konnten alle Spuren verwischt und der Eindruck erweckt werden, Manfred Richter sei aus eigenem 202 Vgl. Bericht, GM »Herbert«, 19.11.1955. BStU, MfS, AIM 8734/63, A-Akte Bd. 1, S. 245 f.; Abschrift einer von GM »Donner« besprochenen Tonbandkassette, 16.8.1984. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/24, S. 116–121, hier 116 f.; Zeugenaussage, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 7.5.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. XII, Bl. 42–57, hier 50. 203 Vgl. Bericht, GM »Herbert«, 19.11.1955. BStU, MfS, AIM 8734/63, A-Akte Bd. 1, S. 245 f.; Auskunftsbericht, MfS, 11.6.1958. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/2, S. 20–23, hier 22. Beide IM berichteten von einem Schusswechsel. Manfred Richter gab nach seiner Rückkehr aber an, dass seine Pistole versagt habe. Er sagte zudem aus, dass er im Kofferraum des eigenen Wagens über die Grenze gebracht worden sei. Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 2.10.1964. BArch, B 209/1069, o. Pag.; Zeugenaussage, Abt. I 1 KJ 1, 9.12.1964. Ebenda, Nr. 1070, o. Pag.; Zeugenaussage, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 6.5.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. XII, Bl. 36– 41; Zeugenaussage, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 7.5.1965. Ebenda, Bl. 42–57, hier 47–54; Urteil gegen Helmut Träger und Gerhard Mähnert, Landgericht Berlin, 13.6.1995. Ebenda, Bd. IV, o. Pag.; Urteil, Landgericht Berlin, 24.9.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 2, Bl. 180–187, hier 183; Christiane Kohl: Donner, Blitz und Teddy. In: Der Spiegel, Nr. 10/1996, S. 52–68. 204 Besuchsvermerk, UFJ, 2.10.1964. BArch, B 209/1069, o. Pag. 205 Vgl. Antrag um Bewilligung von 4 000 DM/West für einen Spezialwagen, HA II/7, 24.10.1955. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/1, S. 10 f.
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Entschluss in die DDR eingereist. Der offizielle Festnahmebericht der Hauptabteilung II/4 griff dieses Täuschungsmanöver auf: »Der Obengenannte wurde am 17.11.1955 gegen 21.00 Uhr bei Ausübung seiner Spionagetätigkeit im Gebiet der DDR durch Mitarbeiter der Hauptabteilung II/4 festgenommen. Bei der Festnahme leistete R. keinen Widerstand und befolgte die Anweisungen der Mitarbeiter.«206 Diese Version musste sich auch Manfred Richter anhören, als er bei seinen Vernehmungen in der DDR-Haft gegen seine Entführung protestierte: Er sei verhaftet worden, als er auf einer Autobahn in der DDR in einem haltenden Pkw mit zweifelhaften Personen angetroffen worden sei. Ebenso brüsk wiesen die MfS-Mitarbeiter seine Vorwürfe gegen »Herbert« zurück, dessen Rolle als entscheidender Informant des MfS Manfred Richter in seinen zahlreichen Vernehmungen immer deutlicher wurde.207 Mit Argusaugen wachte das MfS darüber, dass er niemanden diese Informationen auf brieflichem Wege oder mithilfe anderer Häftlinge zukommen lassen konnte.208 Die Vernehmungen begannen unmittelbar nach seiner Entführung in der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen, ärztliche Hilfe wurde dem erheblich Verletzten erst nach einigen Tagen zugebilligt. Neben den Dauerverhören und dem daraus resultierenden Schlafentzug musste Manfred Richter – nach eigenen Angaben – wüste Beschimpfungen und Drohungen über sich ergehen lassen. Die zahlreichen Vernehmungsprotokolle dokumentieren dieses Szenario ebenso wenig wie die tatsächlichen Wortlaute, aber zumindest die Vernehmungszeiten und -dauer. Gleich am ersten Tag in DDR-Haft wurde er demnach von 13.00 bis 18.00 Uhr und die Nacht hindurch von 20.00 bis 6.00 Uhr vernommen. In den Tagen vom 27. November bis 4. Dezember sowie vom 10. bis 13. Dezember folgten elf nächtliche Vernehmungen, die von 22.00 Uhr bis 5.00 Uhr morgens dauerten.209 Im Juni 1956 erging vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Frankfurt/O. die Anklage gegen Manfred Richter wegen Verbrechens nach Artikel 6 der Verfassung der DDR. Nach einem eintägigen Gerichtsverfahren wurde er am 29. Juni einer umfassenden Spionagearbeit für den dänischen Geheimdienst schuldig gesprochen und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach einer Kassa206 Festnahmebericht, HA II/4, 26.11.1955. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. V/4, S. 216. Vgl. Sachstandsbericht, MfS, 19.12.1955. BStU, MfS, AU 13/57, Bd. 1, S. 170–176. 207 Vgl. Zeugenaussage, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 7.5.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. XII, Bl. 42–57, hier 55 f. 208 Vgl. Schreiben, HA IX an BV Frankfurt/O., Abt. IX, 23.7.1956. BStU, MfS, AU 17/57, Bd. 3, S. 171. In der U-Haftanstalt hatte Richter einen Mitgefangenen beauftragt, nach der Haftentlassung seine Ehefrau über seine Entführung und »Herberts« Beteiligung zu informieren. Vgl. Ermittlungsbericht, BV Frankfurt/O. Abt. VII, 6.8.1957. Ebenda, S. 175 f. 209 Vgl. Zeugenaussage, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 7.5.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. XII, Bl. 42–57, hier 55; rund 40 Vernehmungsprotokolle, MfS, 18.11.1955–20.1.1956. BStU, MfS, AU 13/57, Bd. 1, S. 55–169, 177–224, 230–233; ca. 25 Vernehmungsprotokolle, MfS, 24.1.–16.7.1956. Ebenda, Bd. 2, S. 4–10, 15–22, 25–108.
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tion des Obersten Gerichts der DDR wurde dieses Urteil noch um eine Geldstrafe von 30 000 DM erweitert.210 Dieses Ergebnis lässt erahnen, dass die Kassation nicht zugunsten des Angeklagten erfolgt war. Die Initiative kam vom MfS, das damit die Auslieferung von Manfred Richters Wagen verhindern wollte und konnte. Eine entsprechende Aufforderung der Staatsanwaltschaft Frankfurt/O. nach dem ersten Urteil gegen Manfred Richter hatte im MfS-Apparat für Aufruhr gesorgt. So berichtete die Hauptabteilung II/4 an Erich Mielke als 1. Stellvertreter des Ministers: »Es wird darauf hingewiesen, wenn das Fahrzeug an den Eigentümer ausgehändigt wird, zweifelsohne die Methode der Festnahme festgestellt werden kann und ein politischer Skandal zu erwarten ist.« Da die Spuren sich auch durch Ausbesserungen nicht ganz beseitigen lassen würden, bat sie um eine Überprüfung bei der Generalstaatsanwaltschaft, ob das Urteil nicht um die Einbeziehung des persönlichen Vermögens ergänzt werden könne.211 Nach dieser Überprüfung stellte der Generalstaatsanwalt fest, dass das Bezirksgericht bei der Verurteilung Manfred Richters Handeln aus Gewinnsucht nicht ausreichend berücksichtigt habe. Das Oberste Gericht entsprach dem Kassationsantrag und verwies das Verfahren mit dem Vorschlag einer zusätzlichen Geldstrafe von etwa 30 000 DM an das Bezirksgericht Frankfurt/O. zurück, wo das ursprüngliche Urteil wunschgemäß ergänzt wurde. Zur Begleichung dieser Geldstrafe erfolgte sodann der Einzug des sichergestellten Pkw.212 Die von Manfred Richter eingelegte Berufung wurde als unbegründet verworfen. Er wurde in die Haftanstalt Bautzen II gebracht, wo er seine Strafe zum Teil in Einzelhaft verbüßen musste. Im September 1964 konnte er nach neunjähriger Haft im Rahmen des Häftlingsfreikaufes in die Bundesrepublik zurückkehren. Nach Ablauf einer fünfjährigen Bewährungsfrist erließ das 210 Vgl. Anklageschrift, Staatsanwaltschaft Bezirksgericht Frankfurt/O., 12.6.1956. BStU, MfS, AU 261/56, Bd. 2, S. 197–210; Sitzungsbericht, Staatsanwaltschaft Bezirk Frankfurt/O., 3.7.1956. BStU, MfS, AU 17/57, Bd. 6, S. 25–27; Urteil, Bezirksgericht Frankfurt/O., 29.6.1956. Ebenda, S. 28–36; Urteil, Bezirksgericht Frankfurt/O., 26.7.1957. BStU, MfS, AU 261/56, Bd. 2, S. 273–278; Zeugenaussage, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 7.5.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. XII, Bl. 42–57, hier 56. 211 Vgl. Schreiben »Betrifft: Rückgabe des Fahrzeuges des verhafteten Hauptagenten«, HA II/4 an den 1. Stellvertreter des Ministers, 1.9.1956. BStU, MfS, AU 17/57, Bd. 5, S. 37 f. Über seinen Rechtsanwalt hatte Richter Anfragen über den Verbleib seines Fahrzeuges stellen lassen. Vgl. Schreiben, Rechtsanwalt an Bezirksstaatsanwaltschaft Frankfurt/O., 21.10.1957. BStU, MfS, AU 17/57, Bd. 6, S. 107. 212 Vgl. Antrag auf Kassation, Generalstaatsanwalt an das Oberste Gericht der DDR, 22.5.1957. BStU, MfS, AU 17/57, Bd. 8, S. 29–34; Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 21.6.1957. Ebenda, Bd. 6, S. 79–82; Sitzungsbericht, Bezirksgericht Frankfurt/O., 29.7.1957. Ebenda, S. 84; Urteil, Bezirksgericht Frankfurt/O., 26.7.1957. BStU, MfS, AU 261/56, Bd. 2, S. 273–278; Schreiben, Rechtsanwalt an Bezirksstaatsanwaltschaft, 21.10.1957. BStU, MfS, AU 17/57, Bd. 6, S. 107; Schreiben, Generalstaatsanwalt der DDR an Bezirksstaatsanwaltschaft Frankfurt/O., 2.10.1958. Ebenda, S. 132.
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Bezirksgericht Frankfurt/O. im September 1969 schließlich offiziell die Reststrafe.213 Fallbeispiel 3: Die Entführung des Geheimdienstmitarbeiters Friedrich Böhm In den Vernehmungen des im November 1955 entführten Manfred Richter befragten die MfS-Vernehmer diesen mehrmals über die Geheimdiensttätigkeit eines Friedrich Böhm, der ebenfalls für einen westlichen Geheimdienst arbeitete.214 Da Friedrich Böhm zu diesem Zeitpunkt bereits vom MfS beobachtet wurde, erfuhr es auch von dessen Initiative, das Verschwinden von Manfred Richter aufzuklären. Im Dezember 1955 hatte Friedrich Böhm einen seiner Informanten beauftragt, Ermittlungen über die Aufenthaltsorte von Manfred Richter und einem Klaus Blaschke anzustellen. Zum Hintergrund dieses Auftrags hatte Friedrich Böhm ihn informiert, dass Klaus Blaschke ein Agent des MfS sei und Manfred Richter entführt habe.215 Zudem registrierte das MfS auch Richters Versuch, Friedrich Böhm aus der DDR-Haft mithilfe eines vor der Entlassung stehenden Mithäftlings eine Warnung zukommen zu lassen.216 Der gelernte Schmiedemeister Friedrich Böhm, Jahrgang 1910, war 1947 zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, die er in einem Haftarbeitslager in Warschau verbüßte. Der Grund für seine Verurteilung war laut MfS die Beschäftigung von polnischen Zwangsarbeitern in seinem Schmiedebetrieb während der Kriegszeit. Friedrich Böhm selbst führte seine Verurteilung hingegen auf sein politisches Engagement gegen die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zurück. So sei das Urteil 1951/52 von einem Westberliner Gericht annulliert worden. Friedrich Böhm war nach seiner Rückkehr in die DDR 1950 nach West-Berlin geflohen, wo er 1953 hauptamtlicher Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes wurde.217 Bereits im Frühjahr 1954 war diese Tätigkeit im Rahmen eines Operativen Vorgangs der MfSBezirksverwaltung Frankfurt/O. aufgefallen. Ein GM mit dem Decknamen »Schwerin« war im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen den eigentlichen Hauptverdächtigen mit Friedrich Böhm in Kontakt gekommen und hatte fortan über ihn berichtet. Nach der Übergabe des Vorgangs und des GM 213 Vgl. Verlegungsmitteilung, StVA Bautzen II, 27.9.1956. BStU, MfS, AU 17/57, Bd. 6, S. 67; Beschluss, Bezirkgericht Frankfurt/O., 19.9.1964. Ebenda, Bd. 3, Bl. 236 f.; Beschluss, Bezirksgericht Frankfurt/O., 25.9.1969. Ebenda, Bd. 2, S. 193; Zeugenaussage, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 7.5.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. XII, Bl. 42–57, hier 56. 214 Vgl. 2 Vernehmungsprotokolle, MfS, 29.11. und 2.12.1955. BStU, MfS, AU 13/57, Bd. 1, S. 115–121, 129–131; 2 Vernehmungsprotokolle, MfS, 1.3. und 9.3.1956. Ebenda, Bd. 2, S. 30–32, 43–46. 215 Vgl. Treffbericht mit KP »Marco«, MfS, Dezember 1955. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 1, S. 99 f. 216 Vgl. Bericht, BV Frankfurt/O. Abt. VII, 6.8.1956. BStU, MfS, AU 13/57, Bd. 3, S. 175 f. 217 Vgl. Schlussbericht, MfS, 20.5.1959. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 7, S. 316–342, hier 316–319; Protokoll Vernehmung, Polizei, 19.12.1972. BArch, B 209/1070, o. Pag.
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»Schwerin« an die Hauptabteilung II im Februar 1955 erhielt dieser den Auftrag, ein freundschaftliches Verhältnis zu Friedrich Böhm aufzubauen. Zwar gelang es ihm bis zum Sommer 1955 nicht, aber das MfS hatte – zum Teil mit seiner Hilfe – weitere GM an Friedrich Böhm heranschleusen können.218 Unter dem Verdacht der Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst legte die Hauptabteilung II/2 im November 1955 zu Friedrich Böhm einen eigenen Operativen Vorgang mit dem Decknamen »Tegel« an. Acht GM und KP des MfS und des polnischen Geheimdienstes festigten in den folgenden Monaten ihre Verbindung zu Friedrich Böhm oder bauten eine solche auf.219 Der erste Entführungsplan entstand bereits fünf Monate später: Im April 1956 unterbreitete der GM »Konsul« den Vorschlag, mit drei Komplizen Friedrich Böhm gewaltsam nach Ost-Berlin zu entführen. Das MfS griff diese Offerte auf, da man intern einen Überwerbungsversuch als aussichtslos einschätzte und keine weiterführenden Informationen mehr von eingesetzten GM erwartete. Die Angriffspunkte, die das MfS bei seinen Entführungsaktionen oft nutzte, fehlten bei Friedrich Böhm allerdings: Nach Informationen der GM verhielt sich Friedrich Böhm gegenüber Frauen eher reserviert und pflegte auch im Umgang mit Alkohol eher Zurückhaltung. Vor diesem Hintergrund sollte er unter dem Vorwand, einen Informanten zu treffen, in einen Hinterhalt gelockt und dort mittels Chloroform betäubt oder mit einem Sandsack niedergeschlagen werden. Den möglichen Tatort erkundete wenige Tage später ein weiterer GM.220 Aus unbekannten Gründen kam es jedoch noch nicht zu einer Durchführung der geplanten Entführung. Mit dem Ziel einer Entführungsaktion vor Augen wurden stattdessen weitere Ermittlungen in Auftrag gegeben und weitere GM auf Friedrich Böhm angesetzt: Im Januar 1957 hatte die Hauptabteilung II/2 acht GM und GI im Umfeld von Friedrich Böhm positioniert, sieben weitere GM und GI hatten zeitweise Verbindung zu ihm. Der ursprüngliche Entführungsplan erfuhr im Frühjahr 1957 eine Erweiterung: Zwei GM, die über einen guten Kontakt zu Friedrich Böhm verfügten, sollten nach der erfolgten Entführung die Wohnung von Friedrich Böhm
218 Vgl. Bericht, HA II/2, 3.2.1955. BStU, MfS, AOP 1011/57, Bd. 2, S. 97; Operativplan, HA II/2, 5.7.1955, Ebenda, S. 188 f.; Abschlussbericht, HA II/2, 28.6.1957. Ebenda, S. 250; Sachstandsbericht, HA II/2, 19.10.1955. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 1, S. 21–27; Bericht, HA II/2, 24.11.1955. Ebenda, S. 81 f. Berichte des GM »Schwerin« befinden sich in: BStU, MfS, AOP 1011/57, Bd. 1. 219 Vgl. Beschluss, Abt. II/2, 5.11.1955. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 1, S. 11 f.; Sachstandsbericht, HA II/2, 27.7.1956. Ebenda, S. 289–309. 220 Vgl. Bericht, GM »Konsul«, 20.4.1956. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 1, S. 213 f.; Bericht, GM »Kettenbach«, 2.5.1956. Ebenda, S. 215 f.; Vorschlag zur »Ziehung des englischen und NATO-Residenten«, HA II/2, 6.6.1956. Ebenda, Bd. 2, S. 128–134; Ergänzung des Entführungsplans, HA II/2, 20.9.1956. Ebenda, S. 234; Auskunftsbericht, HA II/2, 25.9.1956. Ebenda, S. 242–250.
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aufsuchen, seiner Ehefrau ein in Alkohol gelöstes Betäubungsmittel verabreichen und schließlich belastende Unterlagen aus der Wohnung entwenden.221 Parallel sammelte die Hauptabteilung II/2 mithilfe ihrer GM weitere Informationen über Friedrich Böhm. Mittlerweile war sie über seine Tätigkeit für den französischen und andere westliche Geheimdienste auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Militärspionage in der DDR und in Polen im Bilde. Außerdem erfuhr die MfS-Diensteinheit auf diesem Wege auch von Böhms diversen Sicherheitsmaßnahmen: Seine Wohnung sei mit einer Alarmanlage gesichert, die durch Alarmknöpfe in allen Zimmern ausgelöst werden könne und direkt an das nächstgelegene Polizeirevier gekoppelt sei. Zudem befinde sich in der Wohnung ein abgerichteter Wachhund und die Wohnungstür sei mit einem Stahlriegel gesichert. Friedrich Böhm selbst benutze keine öffentlichen Verkehrsmittel, sondern nur Taxis oder seinen Privatwagen, und trage zwei Pistolen bei sich.222 Im Sommer 1957 fiel schließlich MfS-intern die Entscheidung, die geplante Entführung durchzuführen: Spätestens Mitte August sollte die Hauptabteilung II/2 dem Stellvertreter des Ministers Bruno Beater über die »durchgeführte Maßnahme« Bericht erstatten.223 Der Bericht blieb aus, ebenso wie die Entführungsaktion. Die Sicherheitsmaßnahmen von Friedrich Böhm brachten die Pläne des MfS immer wieder zum Scheitern, dennoch hielt die Hauptabteilung II an dem Ziel einer »aktiven Maßnahme« fest.224 Im Juni 1958 intensivierte die nun zuständige Hauptabteilung II/3 erneut die Planungen und Vorbereitungen: Unter einem Vorwand sollte Friedrich Böhm in einen Hinterhalt im Waldgebiet in Berlin-Gatow gelockt werden, wo der auf ihn angesetzte GM »Tell« als Hilfsförster tätig war. Friedrich Böhm ging dort manchmal mit seinen beiden Hunden spazieren und besorgte Sand für seine Vogelkäfige. Letzteres sollte als Vorwand dienen, Friedrich Böhm Anfang Juli 1958 in Begleitung des GM »Tell« in das Waldgebiet zu locken. In der Nähe eines Parkplatzes sollten zwei weitere GM, verkleidet als Forstarbeiter, Böhm überwältigen, entwaffnen und ihn eingerollt in eine Zeltplane in 221 Vgl. Bericht, HA II/2, 24.10.1956. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 2, S. 268–271; Operativplan, HA II/2, 15.1.1957. Ebenda, Bd. 3, S. 172–187; Zusatzplan zur »Ziehung des Residenten«, HA II/2, 5.2.1957. Ebenda, S. 198; Operativplan, HA II/2, 13.3.1957. Ebenda, Bd. 4, S. 35–41. 222 Vgl. Sachstandsbericht, HA II/2, 1.5.1957. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 4, S. 158–171, hier 163 f. Parallel ermittelte auch die HA II/3. Vgl. Bericht, HA II/3, 13.2.1957. BStU, MfS, AOP 228/60, Bd. 1, S. 32–34; Auskunftsbericht, HA II/3, 25.8.1958. Ebenda, Bd. 2, S. 8–26; 4 Berichte, KP Julia, und 4 Treffberichte, Abt. II/3, 23.4.–11.7.1958. Ebenda, Bd. 6, S. 310–337; Treffbericht, Abt. II/3, 10.9.1958. Ebenda, S. 341–344. Laut Notiz der HA II/3 offenbarte eine KP gegenüber Böhm anscheinend ihre Zusammenarbeit mit dem MfS und dessen Entführungsabsichten. Vgl. Notiz, HA II/3, 23.7.1958. Ebenda, S. 338. 223 Mitteilung, HA II Leitung an HA II/2, 2.7.1957. Ebenda, Bd. 6, S. 107. Vgl. Vorschlag, HA II/2, 25.6.1957. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 5, S. 227 f. 224 Vgl. Vorschlag, HA II/2, 1.10.1957. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 6, S. 109 f.; Vorschlag, HA II/2, 16.12.1957. Ebenda, S. 215–217; Auskunftsbericht, HA II/3, 25.7.1958. Ebenda, Bd. 7, S. 17–47.
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einen bereitstehenden Wagen verladen. Der GM »Tell« hatte die Aufgabe, die Hunde von Friedrich Böhm unter Kontrolle zu halten und sie mit vergiftetem Futter sowie einem Knüppel »unschädlich zu machen«. Zwei weitere GM sollten zudem den Tatort absichern. Für die anschließende Flucht in die DDR hatte man eine Stelle an der Potsdamer Chaussee in Groß-Glienicke ausgewählt, die mithilfe der Hauptabteilung I passierbar gemacht werden sollte, da sie aufseiten der DDR durch Gruben und Stacheldrahtverhaue blockiert war.225 Dieser Plan erhielt Anfang Juli 1958 noch einige Änderungen und Zusätze: Zum Einsatz sollte neben dem GM »Tell« nun eine dreiköpfige Einsatzgruppe unter der Leitung eines GM »Neuhaus« kommen. Als Waldarbeiter getarnt sollten diese drei GM in der Nähe des Parkplatzes ein totes Wildschwein auf den Zufahrtsweg legen, um Friedrich Böhm zum Anhalten seines Wagens und Aussteigen zu bewegen. In diesem Augenblick sollte dann der Überfall durch die GM erfolgen. Für den Fall, dass diese Gelegenheit nicht genutzt werden konnte, gab es zwei Alternativpläne: Zum einen sollte Friedrich Böhm unter dem Vorwand, dass man Vogelsand für ihn bereitgestellt habe, in einen Hinterhalt gelockt werden. Zum anderen sollte aus einem Reifen an seinem Wagen die Luft herausgelassen werden, um ihn bei der Reparatur niederschlagen zu können. Da Friedrich Böhm jedoch früher als erwartet in den Urlaub fuhr, konnte die geplante Entführung Anfang Juli nicht mehr umgesetzt werden.226 Die passende Gelegenheit zur Durchführung des Entführungsplanes bot sich erst drei Monate später: Anlässlich seines Geburtstags im Oktober hatte Friedrich Böhm den GM »Tell« gebeten, eine Birke für ihn zu schlagen, die er dann gemeinsam mit ihm abholen wolle. Die Hauptabteilung II/3 hielt im Wesentlichen an ihrem im Juli erarbeiteten Entführungsplan fest und begann mit den Vorbereitungen: Der Tatort, die Fahrtstrecke und der Schleusungspunkt an der Grenze wurden nochmals besichtigt, die Fertigstellung eines Behelfssteges für einen Graben am Grenzübergang angewiesen und zwei Maschinenpistolen mit je 30 Schuss Munition intern geordert.227 Als Friedrich
225 Vgl. Bericht, HA II/3, 26.6.1958. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 14, S. 200–202; Bericht, GM »Fischer«, 27.6.1958. Ebenda, S. 203–206; Aktionsplan, HA II/3, 27.6.1958. Ebenda, S. 185–194. 226 Vgl. Zusatzplan, HA II/3, 3.7.1958. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 14, S. 195–199. Wenige Tage vorher wurde mit GM »Tell« der Entführungsplan durchgesprochen und ihm GM »Neuhaus« vorgestellt. Vgl. Treffbericht, HA II/3, 1.7.1958. Ebenda, S. 211–214; Bericht, GM »Neuhaus«, 1.7.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 98–100; Treffbericht, HA II/SR 3, 3.7.1958. Ebenda, S. 96 f. 227 Vgl. Bericht, HA II/3, 23.9.1958. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 14, S. 225 f.; Zusatzplan, HA II/3, 30.9.1958. Ebenda, S. 227–232; Mitteilung, HA II/3, 1.10.1958. Ebenda, S. 210. Eigentlich sollte es bereits im August zur Durchführung der Entführung kommen, die aus unersichtlichen Gründen aber nicht stattfand. Vgl. Maßnahmeplan, HA II/3, 24.7.1958. Ebenda, S. 215 f.; Treffbericht, HA II/3, 23.8.1958. Ebenda, Bd. 7, S. 111–113. Es gab außerdem den Plan, die Entführung in
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Böhm nun am Morgen des 2. Oktober in Begleitung des GM »Tell« zum Parkplatz in dem Gatower Forst fuhr, wartete dort bereits das dreiköpfige Entführungskommando um den GM »Neuhaus«. Es war ihnen jedoch nicht gelungen, rechtzeitig das tote Wildschwein auf dem Zufahrtsweg abzulegen, wie es ursprünglich geplant war. Der GM »Tell« führte Friedrich Böhm daraufhin auf einem Waldweg zu der Stelle, wo angeblich die Birke für ihn liegen sollte. Als Waldarbeiter verkleidet, näherte sich GM »Neuhaus« den beiden Männern, berichtete von einem in der Nähe aufgefundenem Wildschwein und führte sie an dorthin. Im nächsten Augenblick riss »Neuhaus« eine Pistole aus der Hosentasche und bedrohte Friedrich Böhm, der sich trotzdem zu wehren versuchte. Doch in diesem Moment griffen auch die beiden anderen Entführer-IM, die sich im naheliegenden Gebüsch versteckt gehalten hatten, ins Tatgeschehen ein. Mit Gummiknüppeln droschen sie auf den sich verzweifelt wehrenden Friedrich Böhm ein. Im Gerangel löste sich zudem ein Schuss aus »Neuhaus'« Pistole, der Friedrich Böhm traf – der Schuss sowie seine Hilferufe verhallten im Wald und im starken Regen dieses Morgens. Die GM fesselten den verletzten Friedrich Böhm, verfrachteten ihn in einen VW Kombi, beseitigten die Blutspuren am Tatort und fuhren über die geplante Route in die DDR. Den Wagen von Friedrich Böhm nahmen sie mit, ließen allerdings das Wildschwein, eine Decke, seinen Hund sowie seine zerschlagene Brille am Tatort zurück. Die Gegenstände erwiesen sich später als entscheidende Hinweise für die bundesdeutschen Ermittler. Kurz hinter der Sektorengrenze wurde Friedrich Böhm in einem Waldgebiet aus dem Wagen der EntführerIM in den eines hauptamtlichen Mitarbeiters der Hauptabteilung II/SR 3 umgeladen und anschließend in die Haftanstalt I nach Hohenschönhausen gebracht. An dem genutzten Schleusungspunkt an der Grenze zwischen WestBerlin und DDR entfernte die MfS-Diensteinheit Grenzaufklärung umgehend die behelfsmäßige Brücke, brachte den Stacheldrahtzaun wieder an und veranlasste, dass die Grenzpolizei dort wieder ihre Streifentätigkeit aufnahm.228 Die Planungen und Umsetzung der Entführung von Friedrich Böhm veranschaulichen die Einsatzpraxis des MfS: Als politische Flüchtlinge getarnt, hatte das MfS zunächst den GM »Tell« und dessen Ehefrau nach West-Berlin geschickt und auf Friedrich Böhm angesetzt. Dieser erkannte die Falle nicht, Zusammenarbeit mit dem polnischen Geheimdienst zu realisieren. Vgl. Bericht, Abt. X, 22.8.1958. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 7, S. 100 f. 228 Vgl. Bericht, GM »Neuhaus«, 2.10.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 118–120; Bericht, GM »Neuhaus«, 3.10.1958. Ebenda, S. 121–123; Treffbericht, HA II/SR 3, 17.10.1958. Ebenda, S. 126 f.; Bericht, HA II/3, 2.10.1958. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 14, S. 233–236; Bericht, HA II/3, 4.10.1958. Ebenda, S. 237 f.; Protokoll Vernehmung, Polizei, 19.12.1972. BArch, B 209/1070, o. Pag. Der beteiligte GM »Alfons Dietrich« gab an, dass »Neuhaus« gezielt geschossen habe. Vgl. Treffbericht, HA II/SR 3, 31.10.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 52.
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warb die beiden für eine Zusammenarbeit mit dem französischen Geheimdienst an und schenkte ihnen sein Vertrauen.229 Durch die Tätigkeit des GM »Tell« als Hilfsförster in einem Waldgebiet in der Nähe der Grenze zur DDR bot sich dem MfS schließlich ein geeigneter Tatort. Mit seiner Hilfe konnte das MfS Friedrich Böhm, dessen Vertrauen der GM besaß, dort in einen Hinterhalt locken. Für den gewaltsamen Überfall und den Transport in die DDR schickte es schließlich ein Einsatzkommando mit drei GM, die explizit für Entführungsaktionen angeworben worden waren.230 Nach Abschluss der Ermittlungen und Vernehmungen beschuldigte man Friedrich Böhm einer »umfangreichen Wühl-, Zersetzungs- und Spionagetätigkeit gegen die Staaten des Warschauer Vertrages, indem er ein ausgedehntes Agentennetz im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen« geschaffen habe.231 Insgesamt 50 Bürger habe er zum Zweck der wirtschaftlichen und militärischen Spionage in der DDR sowie in Polen angeworben und sich nach Paragrafen 14 und 24 StEG strafbar gemacht. Ein Zeuge, der ihn schwer belastete, war der GM »Tell«.232 Am 10. November 1959 verurteilte das Bezirksgericht Frankfurt/O. Friedrich Böhm zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe. Erst im September 1972, fast 14 Jahre nach seiner Entführung, konnte Friedrich Böhm im Rahmen des Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik zurückkehren.233 II.2
Verfolgung von Regimegegnern und -kritikern
Im SED-Regime stand jegliche abweichende Haltung, jeder Regimekritiker und -gegner unter dem Generalverdacht einer Agententätigkeit. Antikommunistische Organisationen in West-Berlin wie der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ), die Ostbüros der bundesdeutschen Parteien CDU, SPD, FDP sowie des DGB, die militante Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) und der Bund Deutscher Jugend (BDJ) zählten für das MfS zu den »westlichen Agentenzentralen«. Tatsächlich mussten diese Organisationen bei dem Aufbau und der Pflege von Kontakten zu Gleichgesinnten sowie der Sammlung von Informationen in der DDR auf konspirative und zum Teil nachrichtendienstliche Methoden zurückgreifen. Die Erscheinungsformen der SED-Diktatur wie die fehlende Informations- und Meinungsfreiheit ließen kein anderes Vorgehen zu. Zudem lassen sich bei den meisten 229 Vgl. Protokoll Vernehmung, Polizei, 19.12.1972. BArch, B 209/1070, o. Pag. 230 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/SR 3, 16.7.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 209–214. 231 Schlussbericht, MfS, 20.5.1959. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 7, S. 316–342, hier 316 f. 232 Vgl. Schlussbericht, MfS, 20.5.1959. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 7, S. 316–342. 233 Vgl. Protokoll Vernehmung, Polizei, 19.12.1972. BArch, B 209/1070, o. Pag. Vgl. Fricke/ Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1198.
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dieser Organisationen eine direkte Unterstützung durch westliche Geheimdienste, eine Kooperation mit diesen und mitunter sogar geheimdienstliche Aktivitäten nicht von der Hand weisen. Angesichts des Ost-West-Konfliktes, der besonders in den 1950er Jahren immer wieder zu eskalieren drohte, war das Interesse der Westmächte an den organisierten politischen Gegnern des SED-Regimes groß. Ihre Versuche, die SED-Herrschaft aktiv zu destabilisieren, entsprachen der US-amerikanischen Befreiungspolitik. Außerdem verfügten die Vereinigungen als Anlaufstelle für DDR-Bürger und -Flüchtlinge über Informationen, die für westliche Geheimdienste durchaus interessant waren. Roger Engelmann spricht von einer »geheimdienstlichen Instrumentalisierung der Widerstandsarbeit« dieser Organisationen, die in unterschiedlichem Ausmaß erfolgte.234 Da die politische Gegnerschaft zum SED-Regime auch die Bereitschaft zur direkten Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten schürte, nutzten diese das Potenzial. Im Verständnis mancher Regimegegner gehörte die nachrichtendienstliche Tätigkeit ganz selbstverständlich zum Repertoire ihres widerständigen Handelns.235 Nicht zuletzt mit Blick auf die Verschleppungen und Entführungen ist einerseits fraglich, ob die nachrichtendienstliche Instrumentalisierung nicht wertvolle Energien politisch motivierter Akteure vergeudete und diese unnötig zusätzlich gefährdete.236 Andererseits stellt sich die Frage, ob mit der Entführung vergleichsweise weniger Menschen westliche Geheimdienste und antikommunistische Organisationen wirklich entscheidend geschwächt werden konnten. Das Verschwinden eines Mitarbeiters oder Informanten bedeutete unmittelbar den Verlust einer Einsatzkraft und mitunter auch weiterer Informanten, deren Enttarnung sodann drohte. Nicht zu unterschätzen ist darüber hinaus aber die psychologische Komponente: Die Entführungsaktionen waren eine Machtdemonstration, die auf Mitarbeiter und Kontaktpersonen westlicher Geheimdienste und antikommunistischer Organisationen eine abschreckende Wirkung haben sollte. Vor diesem Hintergrund und dem Abwägen des SEDRegimes zwischen Allmachtsgebaren und internationaler Anerkennung gewinnt die widersprüchlich erscheinende Mischung aus Geheimhaltung und gewollter öffentlicher Wahrnehmung des staatlich organisierten Menschenraubs Konturen. Einerseits bemühte sich das MfS mit viel Energie darum, die 234 Engelmann: Ost-West-Bezüge, S. 170, 172 (Zitat); vgl. Karl Wilhelm Fricke: Dimensionen von Opposition und Widerstand in der DDR. In: ders., Ilko-Sascha Kowalczuk: Der Wahrheit verpflichtet. Berlin 22000, S. 413–433, S. 424; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 48 f.; Allen: Befragung, S. 98–107, 129–131; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 68. 235 Karl Wilhelm Fricke appelliert daher, diese politisch motivierte und gegen eine illegitim ausgeübte Herrschaft gerichtete Spionage als legitimen antikommunistischen Widerstand anzuerkennen. Vgl. Fricke: Spionage als antikommunistischer Widerstand, S. 565 f.; ders.: Dimensionen, S. 425. 236 Vgl. Engelmann: Ost-West-Bezüge, S. 172; Fricke: Spionage als antikommunistischer Widerstand, S. 572.
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Verschleppungen und Entführungen im Verborgenen stattfinden zu lassen, und bekannte sich nicht öffentlich zu den Entführungsaktionen. Andererseits wollte es als Urheber jedoch durchaus wahrgenommen werden, um seine Macht und vermeintliche Allgegenwart demonstrieren zu können. Zu dieser psychologischen Funktion der Entführungsaktionen des MfS konstatierte Rainer Hildebrandt bereits 1964 in dem Westberliner Tagesspiegel: »Furcht vor dem ›langen Arm‹ des Staatssicherheitsdienstes ist die beste Gewähr, um sich die Treue der Agenten zu erhalten. Die Schaffung eines Nimbus der ›Allmacht‹ wiegt dem Regime den Prestigeverlust infolge des Bekanntwerdens seiner verbrecherischen Methoden auf.«237 Nach den Ermittlungsergebnissen der bundesdeutschen Polizei in den 1950er und 1960er Jahren waren ungefähr 10 Prozent aller Verschleppungsund Entführungsopfer aufgrund einer Verbindung zu einer antikommunistischen Organisation in die Fänge des MfS geraten. Dieser Anteil kann – wie die polizeilich veranschlagten rund 15 Prozent mit geheimdienstlichem Hintergrund – nur als Mindestgröße gesehen werden. Denn auch hier wird die Anzahl an entsprechenden Verdachtsfällen im Staatssicherheitsapparat wesentlich größer gewesen sein. Der Verdacht einer Spionagetätigkeit im Sinne des MfSFeindbildes – sei es für einen westlichen Geheimdienst oder eine antikommunistische Organisation – war der häufigste Anlass für Entführungsaktionen des MfS. Fallbeispiel 4: Die Entführung des UFJ-Mitarbeiters Walter Linse Die Szene, die sich am frühen Morgen des 8. Juli in Berlin-Lichterfelde abspielte, hätte aus einem Spielfilm stammen können: Der 48-jährige Jurist und UFJ-Mitarbeiter Walter Linse verließ gegen 7.30 Uhr sein Wohnhaus und machte sich zu Fuß auf den Weg zu seiner Arbeitsstelle. Er passierte ein Taxi mit laufendem Motor, in dem zwei Männer saßen. Hätte er gesehen, dass hinter seinem Rücken aus diesem Wagen ein Zeichen an zwei weitere Männer auf der Straße gegeben wurde, hätte er vielleicht die Gefahr erkannt. Nach wenigen Metern trat ein Mann auf ihn zu und bat ihn um Feuer. Im nächsten Moment packte dieser Mann Linse am Oberarm, riß ihn herum und schlang seinen anderen Arm um Linses Hals. Linse konnte sich losreißen und floh in die Richtung des Taxis – nicht ahnend, dass in diesem weitere Häscher warteten. Sein Angreifer holte ihn ein, überwältigte ihn und stürzte sich mit Linse durch eine geöffnete Tür ins Wageninnere. Ein weiterer Angreifer schlug auf Linses Kopf ein. Mehrere Passanten wurden Zeugen des Überfalls und sahen den Wagen davonrasen, aus dem anfangs noch Linses Beine ragten. Mit dem Gesicht zum Boden des Fahrzeugs liegend versuchte Linse verzweifelt, sich zu 237 Technik und Psychologie des Menschenraubes. Seit 1945 hat der SSD etwa 900 Personen aus West-Berlin entführt. In: Tagesspiegel, 12.6.1964.
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wehren, und weigerte sich, die Beine einzuziehen, bis ein Entführer ihm in die Beine schoss. Weitere Pistolenschüsse richteten die Entführer auf einen Tatzeugen, der mit seinem Lieferwagen unter dauerndem Hupen die Verfolgung des Entführerfahrzeuges aufgenommen hatte. Die Entführer verstreuten spitzkantige Reifentöter, um ihn abzuhängen, aber erst nach den Schüssen gab er auf. Er informierte eine Polizeistreife, die ihrerseits die Verfolgung des Entführungswagens aufnahm, diesen aber bis zum Grenzübergang nicht mehr einholen konnte. Dort passierten die Entführer in rasender Fahrt den bereits geöffneten Schlagbaum und verschwanden im Ostteil der geteilten Stadt.238 Die brutale Entführung von Walter Linse an diesem Tag im Sommer 1952 gehört zu den aufsehenerregendsten und prominentesten Entführungsaktionen des MfS. Walter Linse, geboren im August 1903, war in den Jahren 1945 bis 1949 Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer in Chemnitz. Nach eigenen Angaben drohte ihm im Frühjahr 1949 eine Verhaftung, da er den Eintritt in die SED abgelehnt und in mehreren Rechtsgutachten Betriebsenteignungen als gesetzlich unzulässig erklärt hatte. Aus diesem Grund sei er im April 1949 nach West-Berlin geflüchtet.239 Im November 1950 bewarb er sich dort um eine Mitarbeit beim Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen: »Meine Bitte um Mitarbeit kommt aus jenem Glauben an den ewigen Bestand der rechtsstaatlichen Ideale. […] Geleitet wird sie von der Überzeugung, daß der Kampf gegen die Rechts- und sonstige Not der Ostzone und für ihre Freiheit mit zunehmendem Nachdruck geführt werden muß. In voller Kenntnis und Würdigung der persönlichen Gefahren ist es mein Wunsch und fester Wille, mich diesem Kampfe unter vollem Einsatz zur Verfügung zu stellen.«240
238 Vgl. Bericht, Abt. V, 22.7.1952. BStU, MfS, GH 105/57, Bd. 5, S. 41–44, hier 42–44; Urteil, Landgericht Berlin, 4.6.1954. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 1, Bl. 46–66, hier 50 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 9.7.1952. LAB, B Rep. 058, Nr. 2906, Bl. 77; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 10.7.1952. Ebenda, Bl. 80 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S), 14.7.1952. Ebenda, Bl. 82; Bericht zum Tathergang, 8.7.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag.; Bericht »Die Einzelheiten der Entführung Dr. Linses«, 13.11.1952. Ebenda, o. Pag.; Schlussbericht, Abt. V.1 (S) V, 7.4.1953. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. IIa, Bl. 23–30; Aktenvermerk, Staatsanwaltschaft II, 5.12.1995. Ebenda, Bd. III, Bl. 595–612, hier 598. 239 Vgl. Lebenslauf, Walter Linse an UFJ, 4.11.1950. BArch, B 209/1204, o. Pag.; Empfehlungsschreiben, Prof. Dr. K. C. Thalheim an UFJ, 30.11.1950. Ebenda, o. Pag.; Bericht, UFJ, 25.9.1952. Ebenda, o. Pag.; Kirsch: Walter Linse, S. 39, 43–45; Mampel: Entführungsfall, S. 9; Fricke: Walter Linse, S. 109; ders.: Entführungsopfer, S. 713; Bästlein: NS-Täter, S. 15, 73–86. Bästlein verweist auf die fehlenden beruflichen Perspektiven für Linse. Vgl. ebenda, S. 84. 240 Vgl. Bewerbungsschreiben, Walter Linse an UFJ, 4.11.1950. BArch, B 209/1204, o. Pag. Während Fricke und der ehemalige UFJ-Mitarbeiter Mampel diese ideellen Motive Linses betonen, vertritt Bästlein die Ansicht, dass es Linse in erster Linie um die gutdotierte Position im UFJ und weniger um den Kampf für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit ging. Vgl. Mampel: Entführungsfall, S. 9; Fricke: Entführungsopfer, S. 714; ders.: Walter Linse, S. 109; Bästlein: NS-Täter, S. 11; Kirsch: Walter Linse, S. 46–49.
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In seiner Bewerbung verwies Linse auf seine Tätigkeit als Rechtsanwalt in Chemnitz von 1933 bis 1938 und seiner anschließenden Arbeit in der Industrie- und Handelskammer, wo er seit Mitte 1941 als engster Mitarbeiter des Hauptgeschäftsführers mit allen »grundlegenden, wichtigen und schwierigen Kammerfragen« betraut gewesen sei. Der UFJ hatte offensichtlich kein Interesse an seiner NS-Vergangenheit, sondern vielmehr an seinen Kenntnissen der sächsischen Wirtschaft. In einem Bericht über Linses Tätigkeit nach dessen Entführung griff der UFJ die Formulierung aus seiner Bewerbung wortwörtlich auf.241 Dass Linse in dieser Zeit als »Entjudungsreferent« mit »Arisierungen« und Liquidationen jüdischer Firmen betraut war, wurde nicht thematisiert – bis in die jüngste Zeit. Zum Bild vom Opfer des Stalinismus passte nicht das Bild vom NS-Täter. Erst nachdem die Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen 2007 eine Auszeichnung nach Walter Linse benennen wollte, begann eine Debatte über diesen Teil von Linses Biografie. In einer Studie wies Klaus Bästlein Linses Verstrickung in mehr als 100 Fällen von »Arisierungen« nach und vervollständigte damit Linses ›gebrochene‹ Biografie.242 Im Januar 1951 trat Linse seine Stelle beim UFJ an, wo er nach knapp fünf Monaten die Leitung der Abteilung Wirtschafts- und Handelsrecht übernahm, die u. a. die Enteignungen in der DDR dokumentierte.243 »Ich fühle mich nicht im geringsten gefährdet«, bekundete Linse im April 1952 gegenüber seinem Vorgesetzten, als er erfahren hatte, dass der DDR-Staatssicherheitsdienstes im Kreis seiner Verwandten und Bekannten in Chemnitz Nachforschungen anstellte.244 Das MfS war im Spätsommer 1951 durch einen abgefangenen Brief seiner Ehefrau an einen Freund in Chemnitz auf Linse aufmerksam geworden. Wie nah es ihm in West-Berlin war, ahnte er nicht: Im selben Jahr war es der MfS-Hauptabteilung V gelungen, einen weiblichen IM als Sekretärin in den UFJ einzuschleusen.245 Linse blieb anscheinend sogar sorglos, als sich Ende 241 Vgl. Lebenslauf, Walter Linse an UFJ, 4.11.1950. BArch, B 209/1204, o. Pag.; Bericht, UFJ, 25.9.1952. Ebenda, o. Pag.; Bästlein: NS-Täter, 2008, S. 85. 242 Vgl. Bästlein: NS-Täter, S. 8, 10, 15–72, 97–100, 104 f. Zur Haltung von Walter Linse konstatiert Bästlein, dass Linse zwar nicht frei von antisemitischen Ansichten war, insgesamt aber »den Eindruck eines korrekten Beamten [pflegte], der nur eine gesetzliche Vorgabe, nämlich die ›Entjudung‹ der Wirtschaft, umsetzte.« Vgl. ebenda, S. 47. In Publikationen zu Linse wird dieser Aspekt seiner Biografie nur oberflächlich oder gar nicht aufgegriffen. Vgl. Kirsch: Walter Linse, S. 18–38; Mampel: Entführungsfall, S. 9; Fricke: Entführungsopfer, S. 713; ders.: Walter Linse, S. 109. 243 Vgl. Vermerk, UFJ, 30.12.1950. BArch, B 209/1204, o. Pag.; Vermerk, UFJ, 6.6.1951. Ebenda, o. Pag.; Bericht, UFJ, 25.9.1952. Ebenda, o. Pag.; Abschlussvermerk, ZERV 213, 15.8.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 3, Bl. 489–506, hier 497 f.; Kirsch: Walter Linse, S. 49, 52–61; Mampel: Entführungsfall, S. 9 f.; Fricke: Walter Linse, S. 109–111. 244 Vgl. Auskunft über »Gefahrenpunkte«, Walter Linse an Dr. Friedenau, 18.4.1952. BArch, B 209/1204, o. Pag. 245 Zwar war sie nicht unmittelbar für Linse tätig, dürfte aber auch über ihn Informationen an das MfS gegeben haben. Laut MfS-Unterlagen ermöglichten ihre Informationen die Festnahme von ca. 100 »Agenten«. Als IM »Winter« arbeitete sie noch bis 1989 mit dem MfS zusammen. Vgl. Bericht
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Juni/Anfang Juli 1952 verdächtige Vorgänge in der Nähe seiner Wohnung ereigneten: Nachbarn bemerkten mehrmals ein Auto mit Ostberliner Kennzeichen, dessen Insassen die Passanten musterten und mit einem Foto verglichen. Die herbeigerufenen Polizisten trafen die fraglichen Männer nicht mehr an, ließen aber einen Posten in der Gerichtsstraße zurück. Nach drei Tagen wurde er abgezogen, da die Verdächtigen nicht wieder aufgetaucht waren. Fortan patrollierte nur noch sporadisch eine Polizeistreife durch die Straße.246 Ein ehemaliger Mitarbeiter der MfS-Hauptabteilung V berichtete Anfang der 1990er Jahre, einen Tag vor der Entführung von seinem Abteilungsleiter Bruno Beater den Auftrag erhalten zu haben, zusammen mit seinem Kollegen Paul Marustzök einen Westwagen zu besorgen. In Anwesenheit eines sowjetischen Beraters hätten sie Anweisungen zu ihrer Vorgehensweise erhalten, die sie anschließend ausgeführt hätten: Getarnt als Polizisten hätten sie in OstBerlin ein Westfahrzeug gestoppt und die Fahrerin unter einem Vorwand zur Polizeiinspektion Prenzlauer Berg gebracht, wo ihr der Wagen mit den Fahrzeugpapieren abgenommen worden sei. Am nächsten Tag hätte sie mit ihrem Wagen nach West-Berlin zurückkehren dürfen. Auf Nachfrage hätte er von Marustzök erfahren, dass dieser mit dem Wagen und »mit seinen Jungs einen rüberholen« wollte. Mit Marustzök sei er auch am nächsten Tag am Grenzübergang gewesen, als dort die Entführer mit Linse in dem beschlagnahmten Westwagen eingetroffen seien.247 Diese Angaben zur Herkunft des Entführungswagens stimmen mit den Ermittlungsergebnissen der Westberliner Polizei und den MfS-Unterlagen nicht überein, die Rolle Marustzöks ist hingegen unzweifelhaft.248 »Seine Jungs« hatte Marustzök seit Mitte Juni 1952 speziell für Entführungsaktionen aus dem kriminellen Milieu der geteilten Stadt rekrutiert: Der 21-jährige Paul über Einsichtnahme in MfS-Unterlagen, ZERV 213, 15.3.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 3, Bl. 548–560; Aktenvermerk, ZERV 213, 7.11.1995. Ebenda, Bl. 586a–586c; Bailey/Kondraschow/Murphy: Front, S. 163 f., 533; Kirsch: Walter Linse, S. 61–66, 89. 246 Vgl. Zeugenaussagen, UFJ, 28.7.1952. BArch, B 209/1201, o. Pag.; Kirsch: Walter Linse, S. 69. 247 Der aussagende MfS-Mitarbeiter wurde Ende 1952 wegen Agentenbegünstigung, Verrat von Dienstgeheimnissen und Fluchtvorbereitung verhaftet und zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren verurteilt. Zog das MfS gezielt einen Mitwisser aus dem Verkehr? Vgl. Zeugenvernehmung, Staatsanwaltschaft Magdeburg, 28.1.1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 1, Bl. 25–29. 248 Heinrich Baum kaufte den Entführungswagen im Auftrag des MfS in West-Berlin. Dieser Wagen wurde dann als Westberliner Taxi getarnt. Das entsprechende Kennzeichen stammte von einem Westberliner Taxi, das in Ost-Berlin von der Volkspolizei gestoppt und dessen Fahrer bis zum nächsten Tag festgehalten wurde. Vgl. Urteil, Landgericht Berlin, 4.6.1954. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 1, Bl. 46–66, hier 48–50; Schlussbericht, Abt. V.1, 7.4.1953. Ebenda, Bd. 2, Bl. 23–30, hier 26–28; Urteil, Landgericht Berlin, 24.4.1956. BArch, B 137/1063, o. Pag.; Bericht, Abt. V, 22.7.1952. BStU, MfS, GH 105/57, Bd. 5, S. 41–44. Der hauptamtliche MfS-Mitarbeiter Paul Marustzök starb 1974 beim Test eines mit Sprengstoff versehenen Aktenkoffers. Vgl. Sven Felix Kellerhoff: Der Stasi-Killer, der sich selbst sprengte. In: Die Welt, 14.5.2013. URL: http//www.welt.de/116175135 (letzter Zugriff: 15.2.2014).
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Keyser hatte gerade eine Haftstrafe in Ost-Berlin wegen schweren Diebstahls verbüßt. Heinrich Baum, 24 Jahre alt, war im Kaffeeschmuggel und illegalen Handel im geteilten Berlin aktiv. Den 30-jährigen Lothar Borowski, der als Bandenführer für zahlreiche Einbrüche und Raubüberfälle in West-Berlin verantwortlich war, holte Marustzök extra aus dem Ostberliner StadtvogteiGefängnis und übertrug ihm die Leitung der Einsatzgruppe. Der Einzige, der nicht kurzfristig angeworben wurde, war der 32-jährige Erich Kühne, der illegalen Handel zwischen Ost- und West-Berlin betrieb.249 Die Vorbereitungen der Entführungsaktion, wie das Auskundschaften der Wohngegend sowie Gewohnheiten Linses und der möglichen Fluchtwege, hatten bereits andere IM erledigt. Zudem waren seit Erteilung des Entführungsauftrags Mitte Juni 1952 schon vier Entführungsversuche in wechselnder IM-Besetzung unternommen worden: Einmal kam einer der Entführer zu spät, sodass Linse bereits weg war, und dreimal war Linse gar nicht aufgetaucht. Am 4. Juli 1952 wurden nun Paul Keyser, Heinrich Baum und Erich Kühne unter Leitung von Lothar Borowski losgeschickt. Die vorherige Nacht hatten die vier Männer in einer Wohnung in Karlshorst verbracht und fuhren am Morgen zum Wohnhaus von Linse in Berlin-Lichterfelde. Während Baum und Kühne im Auto blieben, hielten sich Borowski und Keyser auf der Straße auf. Als Walter Linse aus dem Haus kam, gab Borowski zunächst das Zeichen zum Einsatz, brach die Aktion aber kurz darauf wieder ab, da zu viele Passanten vor Ort waren. Drei Tage später trafen sich die Entführer erneut in der Wohnung in Karlshorst, einigten sich auf einen neuen Versuch am nächsten Tag und sprachen den Entführungsplan detailliert durch. Heinrich Baum kam nicht mehr zum Einsatz. Auf Vorschlag von Borowski wurde er durch den 26-jährigen Berufsringer Paul Bunge ersetzt, den Borowski aus dem Ostberliner Stadtvogtei-Gefängnis kannte und um dessen sofortige Haftentlassung sich wiederum das MfS kümmerte. Ausgestattet mit vier Pistolen, einem sandgefüllten Lederkissen mit Handschlaufe als Schlagwaffe sowie Äther und Watte zur Betäubung Linses begaben sich die Entführer am nächsten Tag auf unterschiedlichen Wegen zum Tatort. Bunge, Keyser und Borowski passierten zu Fuß die Sektorengrenze am Potsdamer Platz und stiegen danach in den von Erich Kühne gelenkten und als Taxi getarnten Opel-Kapitän. Am Bahnhof Lichterfelde-West stiegen Bunge und Keyser wieder aus, um mit dem Bus zum Tatort zu fahren. Bei der anschließenden Entführung überwältigen sie Linse und 249 Vgl. Vorschlag, Abt. V, 29.6.1952. BStU, MfS, AIM 2559/63, P-Akte, S. 15; Vorschlag, Abt. V, 30.6.1952. BStU, MfS, AP 8796/56, S. 5; Vorschlag, Abt. V, 30.6.1952. BStU, MfS, AIM 1639/61, P-Akte, S. 14 f.; Charakteristik, MfS, 11.5.1953. BStU, MfS, AIM 3119/56, P-Akte, S. 91–100; Urteil, Landgericht Berlin, 4.6.1954. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 1, Bl. 46–66, hier 47 f.; Schlussbericht, Abt. V.1, 7.4.1953. Ebenda, Bd. 2a, Bl. 23–30, hier 25–28; Aktenvermerk, Staatsanwaltschaft II, 5.12.1995. Ebenda, Bd. 3, Bl. 595–612, hier 597; Urteil, Landgericht Berlin, 24.4.1956. BArch, B 137/1063, o. Pag.
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schafften ihn in den Wagen, in dem Kühne und Borowski warteten – Letzterer schoss im Verlauf der Entführungsaktion auf Linse sowie auf den Fahrer des Lieferwagens.250 Das MfS mit seinen Handlangern war bei der Entführung Linses allerdings nur das ausführende Organ, der eigentliche Auftraggeber war der sowjetische Geheimdienst. Im Rahmen der Ermittlungen zum Entführungsfall Linse in den 1990er Jahren bestätigte der ehemalige sowjetische Botschafter in der DDR Valentin Falin, dass Linse auf Initiative und Weisung des sowjetischen Geheimdienstes entführt wurde. Zum Motiv der Entführung gab er an, dass Linse ein Agent des französischen Geheimdienstes gewesen sei, der 400 Agenten geführt habe. Diese Aussage ist – trotz der geheimdienstlichen Kontakte des UFJ – als Schutzbehauptung zu werten.251 Bereits seit seiner Gründung 1950 stand der UFJ im Visier des sowjetischen Geheimdienstes MGB, dessen Interesse sich mit der Erkenntnis verstärkte, dass der UFJ eine führende Rolle beim Internationalen Juristenkongress in West-Berlin im Juli 1952 innehaben würde. Eine entsprechende Kampagne gegen den UFJ sollte ursprünglich in der Entführung des Leiters Horst Erdmann alias Theo Friedenau gipfeln. Nach Bailey, Kondraschow und Murphy musste dieser Plan allerdings kurzfristig geändert werden, da Erdmann sich zur fraglichen Zeit in Schweden aufhielt. Das MGB habe als Alternative Walter Linse als Leiter der Wirtschaftsabteilung des UFJ vorgeschlagen, an welcher das MGB besonders interessiert war.252 Dieses Interesse dürfte der erstrangige Grund für die Planänderung gewesen sein, zumal Linse auch den Internationalen Juristenkongress vorbereitete. Die Einschätzung vertritt auch der ehemalige UFJ-Mitarbeiter Siegfried Mampel, der zudem darauf hinweist, dass eine Entführung Erdmanns wesentlich schwieriger gewesen wäre, denn er habe sich stets mit einem Dienstwagen von seinem Wohnhaus zum Dienstsitz des UFJ und zurückbringen lassen.253 Zufrieden resümierte das MGB nach der Entführung Linses, dass diese »eine 250 Vgl. Urteil, Landgericht Berlin, 4.6.1954. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 1, Bl. 46–66, hier 47–51; Schlussbericht, Abt. V.1, 7.4.1953. Ebenda, Bd. 2a, Bl. 23–30, hier 25– 28; Urteil, Landgericht Berlin, 24.4.1956. BArch, B 137/1063, o. Pag.; Vorschlag, Abt. V, 4.7.1952. BStU, MfS, AIM 1640/61, P-Akte, S. 14; Aktenvermerk, Abt. V, 1.2.1953. Ebenda, S. 29; 2 Berichte, GI »Grau«, 6.6.1952. BStU, MfS, GH 105/57, Bd. 4, S. 298–304; Bericht, Abt. V, 22.7.1952. Ebenda, Bd. 5, S. 41–44; Zeugenaussagen, UFJ, 28.7.1952. BArch, B 209/1201, o. Pag. 251 Vgl. Abschlussvermerk, ZERV 213, 15.8.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 3, Bl. 489–506, hier 499; Aktenvermerk, Staatsanwaltschaft II, 5.12.1995. Ebenda, Bl. 595–612, hier 603; Mampel: Entführungsfall, S. 42. 252 In MGB-Berichten aus der Zeit August bis Dezember 1952 wird eine direkte sowjetische Beteiligung nicht erwähnt, sondern auf die Initiative des MfS verwiesen. Diese Aussage ist im Hinblick auf die Durchführung der Entführung richtig, nicht aber hinsichtlich der Entscheidungshoheit. So berichtete ein übergelaufener MGB-Führungsoffizier, dass er mit der Überwachung des Falles Linse betraut gewesen sei. Vgl. Bailey/Kondraschow/Murphy: Front, S. 162–166. 253 Vgl. Mampel: Entführungsfall, S. 12 f. Kirsch bezweifelt, dass Linse nur als Ersatz für den schwerer zu entführenden Erdmann gedient habe. Vgl. Kirsch: Walter Linse, S. 67, 99 f.
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umfassende Operation zur Liquidierung der Spionagenetze des ›Untersuchungsausschusses‹ in der DDR ermöglicht [habe], in deren Verlauf achtundvierzig Agenten festgenommen wurden«.254 Der Preis war jedoch hoch: Der Juristenkongress, der eigentlich gestört werden sollte, gewann – wie der UFJ – an öffentlicher Aufmerksamkeit und verabschiedete eine Resolution, in der er Linses gewaltsame Entführung verurteilte. Diese erregte nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit großes Aufsehen und Protest, sondern auch auf dem internationalen politischen Parkett.255 Der sowjetische Geheimdienst übernahm Linse im Dezember 1952, nachdem der Monate in den berüchtigten Kellerzellen der MfS-Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen verbracht und zahlreiche (nächtliche) Verhöre durch das MfS sowie den sowjetischen MGB ertragen hatte. Im September 1953 verurteilte ihn das Sowjetische Militärtribunal Nr. 48240 wegen Spionage, antisowjetischer Propaganda und Gruppenbildung zum Tode. Man brachte ihn in das Moskauer Gefängnis Butyrka, wo er in der Nacht des 15. Dezembers 1953 erschossen und auf dem Donskoj-Friedhof an unbekannter Stelle beigesetzt wurde. Erst vor wenigen Jahren konnte dieses Schicksal Linses endgültig aufgeklärt werden.256 Fallbeispiel 5: Die Entführung des Journalisten Karl Wilhelm Fricke »Das war für mich natürlich ein unvergessliches Erlebnis«, berichtet Karl Wilhelm Fricke über seine Teilnahme an der Protestkundgebung für Walter Linse vor dem Schöneberger Rathaus, »ohne zu argwöhnen, dass mir so etwas noch mal selbst widerfahren könnte.«257 Der damals 22-Jährige war im Alter von 19 Jahren im Februar 1949 aus seiner Heimatstadt Hoym in der sowjetischen Besatzungszone geflohen. Dort hatte er nach seinem Abitur im Sommer 1948 als Hilfslehrer für Russisch gearbeitet, bis er infolge einer Denunziation wegen 254 Jahresbericht, MGB, 18.12.1952. Zit. in: Bailey/Kondraschow/Murphy: Front, S. 163. 255 Vgl. Bailey/Kondraschow/Murphy: Front, S. 165; Mampel: Entführungsfall, S. 22 f. Zu den Protesten und Solidaritätsaktionen vgl. Kapitel V.2.a. 256 Die Vernehmungsprotokolle von Linse und zahlreiche Berichte von Zellen-IM befinden sich in: BStU, MfS, GH 105/57. Vgl. Zeugenaussage eines Mithäftlings, UFJ, 12.11.1955. BArch, B 209/1201, o. Pag.; Schreiben, ehem. Mithäftling an das Hilfskomitee für politische Häftlinge der Sowjetzone, 26.2.1956. Ebenda, o. Pag.; SMT-Urteil gegen Walter Linse, 23.9.1953. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 3, Bl. 624–626; Aktenvermerk, Staatsanwaltschaft II, 5.12.1995. Ebenda, Bl. 595–612, hier 595. Die Staatsanwaltschaft II ging noch davon aus, dass Linse zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt wurde und in einem sowjetischen Gefangenenlager verstarb. Im Rahmen der Rehabilitierung Linses im Mai 1996 wurde jedoch das gegen ihn verhängte und vollstreckte Todesurteil bekannt. Vgl. Nun gut, den vernichten wir. In: Der Spiegel, Nr. 47/1996, S. 72– 77; Fricke: Entführungsopfer, S. 716 f.; ders.: Postscriptum zum Fall Walter Linse. In: DeutschlandArchiv 29(1996)6, S. 917–919; ders.: Walter Linse, S. 111; Kirsch: Walter Linse, S. 84 f.; Bailey/ Kondraschow/Murphy: Front, S. 166; Mampel: Entführungsfall, S. 36–39, 48–62, S. 70–79; Rudolph/Drauschke/Sachse: Hingerichtet in Moskau, S. 7 f.; Bästlein: NS-Täter, S. 91 f., 95. 257 Interview mit Karl Wilhelm Fricke am 25.10.2007.
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angeblicher Vorbereitung zum Hochverrat verhaftet worden war. Doch in einem unbewachten Augenblick hatte er entkommen und in die Bundesrepublik fliehen können. Er hatte zunächst ein Studium an der Hochschule Wilhelmshaven begonnen und war zum Sommersemester 1952 an die Deutsche Hochschule für Politik in West-Berlin gewechselt, sodass er das dortige öffentliche Aufsehen nach der Linse-Entführung hautnah miterlebte,258 zumal er bereits als Journalist tätig war, und es sich als solcher zur Aufgabe gemacht hatte, »gegen das Regime der SED anzuschreiben«.259 Fricke veröffentlichte Artikel in den Zeitschriften SBZ-Archiv und Die Deutsche Woche sowie in Zeitungen wie dem Rheinischen Merkur, dem Tagesspiegel und dem Monatsblatt für DDR-Flüchtlinge Die Freiheit. Außerdem arbeitete er für den Sender Freies Berlin (SFB), wo er in einer Sendereihe »Porträts der Woche« führende DDR-Funktionäre porträtierte. Ein solches Porträt publizierte er 1954 im SBZ-Archiv auch zu Erich Mielke, den er mit Bezug auf dessen Beteiligung am Polizistenmord im August 1931 als »Revolverheld neuen Typus« bezeichnete. Für diese Arbeit war Fricke auf Informationen aus der DDR angewiesen: Er wertete die DDR-Presse aus und baute Kontakte zur Berliner Abteilung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen sowie zu Organisationen wie dem UFJ, der KgU oder dem Befreiungskomitee für die Opfer totalitärer Willkür auf.260 So gelangte er in das Visier des DDRStaatssicherheitsdienstes. Im Dezember 1952 hatte das MfS einen Operativen Vorgang gegen das Befreiungskomitee für die Opfer totalitärer Willkür als »trotzkistische Organisation« eröffnet. Margarete Buber-Neumann – die Ehefrau des KPDFunktionärs Heinz Neumann, die im Unterschied zu ihrem Mann die stalinistischen »Säuberungen« in der Sowjetunion in der zweiten Hälfte der 1930er
258 Fricke hatte im Lehrerkollegium kritische Bemerkungen über die politischen Verhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone gemacht, die eine Kollegin der Abteilung K 5 gemeldet hatte. Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 23–25; ders./Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 214; Fricke: Menschenraub, S. 28 f.; Hornstein: Staatsfeinde, S. 129–133. 259 Fricke: Akten-Einsicht, S. 26. Der entscheidende Impuls waren für Fricke die berüchtigten Waldheimer Prozesse, in dessen Rahmen auch sein Vater verurteilt wurde. Dieser war im Juni 1946 vom sowjetischen MGB verhaftet und im Speziallager Buchenwald interniert worden. 1950 wurde er an die DDR-Behörden übergeben und wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft sowie Tätigkeit als stellv. NSDAP-Propagandaleiter der Ortsgruppe Hoym zu einer 12-jährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Er starb Ende März 1952 in Waldheim. Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 14–22; Hornstein: Staatsfeinde, S. 125–129, 134–136. 260 Vgl. Bericht, GM »Fritz«, 1.2.1955. BStU, MfS, AOP 22/67, Bd. 5, S. 123–129; Fricke: Akten-Einsicht, S. 25–31, 37 f.; ders./Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 214 f. Fricke hatte auch Kontakt zum Herausgeber eines Münchner Pressedienstes, Thomas Sessler, der nachrichtendienstliche Kontakte unterhielt und Fricke für diese einspannen wollte. Fricke distanzierte sich daraufhin von ihm. Da Sessler auch eine Zielperson des MfS war, wusste man dort von dieser Verbindung.
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Jahre überlebt hatte261 – hatte diese Organisation 1951 gegründet. Im Herbst 1952 war es dem MfS gelungen, einen IM im Berliner Büro des Befreiungskomitees zu platzieren. Kurt Rittwagen alias GM »Fritz« teilte dasselbe Schicksal wie Buber-Neumann und andere deutsche Kommunisten im sowjetischen Exil: Im Februar 1940 waren sie vom NKWD an die SS ausgeliefert worden. Er wurde in das KZ Sachsenhausen gebracht, wo er bis zum Ende der NSDiktatur inhaftiert blieb. Seine doppelte Verfolgungsgeschichte als Jungkommunist in der stalinistischen Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland sowie als angeblicher politischer Flüchtling aus der DDR öffnete ihm die Tür zum Befreiungskomitee. Dort verwaltete er das Archiv, aus dem Fricke zum Teil seine Informationen bezog. Im Rahmen seiner Berichte über das Befreiungskomitee informierte »Fritz« das MfS seit Mitte 1953 auch über den Journalisten Karl Wilhelm Fricke, der sich gegenüber Kurt Rittwagen (angesichts seiner Lebensgeschichte) sehr aufgeschlossen zeigte.262 Auf der Grundlage der erlangten Informationen erwog man in der MfSHauptabteilung V schon bald eine Entführung Karl Wilhelm Frickes. Kurt Rittwagen, der sich nach seinem Parteiausschluss 1951 der SED wieder andienen wollte, hatte daran wesentlichen Anteil. Ende August 1954 machte er den Vorschlag, gegen Karl Wilhelm Fricke »eventuell eine Aktion durchzuführen«, indem man ihn »in irgendeine Wohnung bestellt, die für eine solche Aktion günstig wäre«. Da Fricke weder seinen richtigen Namen noch seine Wohnung kenne, ihn aber mal besuchen wolle, würde sich eine Gelegenheit bieten.263 So geriet Fricke in den Kreis der ›Zielpersonen‹ einer Verhaftungswelle des MfS, die im November 1954 per Dienstanweisung ausgelöst wurde und sich gegen den »politischen Untergrund«, also gegen Organisationen wie den UFJ, die VPO, KgU und Ostbüros, richten sollte. Im Rahmen dieser Aktion mit Decknamen »Blitz« waren mehrere Entführungen aus West-Berlin vorgesehen,
261 Vgl. Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler. Köln 1952; Fritz N. Platten: Heinz Neumann – Vom Zürcher Regen in die Moskauer Traufe. In: Hermann Weber, Ulrich Mählert (Hg.): Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953. Paderborn 1998, S. 167–185. 262 Vgl. Bericht, Abt. V, Referat A, 6.10.1952. BStU, MfS, AOP 22/67, Bd. 1, S. 104, 106– 108; Beschluss, MfS, 18.12.1952. Ebenda, S. 19; Bericht, GM »Peter«, 11.8.1953. Ebenda, Bd. 2, S. 167; Sachstandsbericht, Abt. V, Referat A, 24.9.1953. Ebenda, Bd. 3, S. 132–138; Zwischenbericht, Abt. V, 9.10.1953. Ebenda, S. 156–165; Bericht, HA V/1, 23.4.1954. Ebenda, Bd. 4, S. 43–45; Bericht, HA V/1, 14.5.1954. Ebenda, S. 56 f.; Bericht, GM »Peter«, 30.8.1954. Ebenda, S. 154 f.; Bericht, GM »Fritz«, 17.9.1954. Ebenda, S. 182–185; Bericht, HA V/1, 8.12.1954. Ebenda, Bd. 5, S. 82; Bericht, GM »Peter«, 19.11.1954. BStU, MfS, AIM 4225/61, A-Akte Bd. 3, S. 30–32; Bericht, HA V/1, 9.12.1954. Ebenda, S. 35 f.; Fricke: Akten-Einsicht, S. 29–38, 53–59; ders./Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 215; Fricke: Taktik, S. 178; Peter Erler: Ein Opfer des Stalinismus? In: Deutschland-Archiv 28(1995)1, S. 47–53. 263 Bericht, GM »Peter«, 30.8.1954. BStU, MfS, AOP 22/67, Bd. 4, S. 154 f., hier 154.
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darunter neben Carola Stern264 auch Karl Wilhelm Fricke. So heißt es in einem Plan zur Operation »Blitz« im März 1955: »In engen sachlichen Beziehungen mit Fricke stehen die beiden überprüften GMs des SfS ›Fritz‹ und dessen Ehefrau ›Peter‹. Unsere GM werden Fricke zu sich in die Wohnung einladen. Da der Fricke die genaue Adresse nicht kennt, wird er in eine konspirative Wohnung in Westberlin geführt, deren Inhaber in die Operation nicht eingeweiht wird und sich in dieser Zeit auf Urlaub in der DDR befindet. Fricke erhält im Getränk ein Schlafmittel. Die GMs ›Fritz‹ und ›Peter‹ werden nach Erledigung dieser Phase in ihre richtige Wohnung fahren, währenddem Fricke von einer Gruppe in den demokratischen Sektor gebracht wird. Gleichzeitig operiert eine Gruppe von GMs in der Wohnung des Fricke mit dem Auftrag, die dort vorhandenen Unterlagen nach hier zu bringen.«265
Bereits seit Ende Januar 1955 hatte die zuständige Hauptabteilung V/2 die Vorbereitungen der geplanten Entführung Frickes in diesem Sinne verstärkt. Dem GM »Fritz« war es inzwischen gelungen, die Bekanntschaft zu Fricke auftragsgemäß auszubauen und zu festigen. Er bemühte sich nun darum, einen Anlass zu schaffen, um Fricke in seine vermeintliche Wohnung zu locken. Eine passende Gelegenheit ergab sich aus dem Umstand, dass »Fritz« den engagierten Journalisten auch mit Büchern und Zeitschriften aus der DDR versorgte.266 Zudem versuchte er Anfang Februar, einen Spankorb zu beschaffen – offensichtlich für den Transport des bewusstlosen Fricke. So meldete GM »Fritz«, dass es zwar Reisekörbe gebe, aber nicht »in der Größe für unsere Zwecke«. Einen Korb mit den Maßen 120 : 50 : 60 Zentimeter könne er nur von einem Korbhändler speziell anfertigen lassen. Vor diesem Hintergrund schlug GM »Fritz« die Nutzung eines Schlafsackes für »unsere Aktion« vor.267 Das MfS musste seinen GM jedoch anscheinend etwas in seinem Engagement bremsen. Ende Februar 1955 registrierte die Hauptabteilung V/2 eine »gewis264 Das MfS war der Ansicht, dass Fricke an einem Buch von Carola Stern über die SED mitgewirkt hatte. Fricke kannte die Publizistin zwar, eine solche Zusammenarbeit gab es aber nicht. Vgl. Bericht, GM »Fritz«, 1.2.1955. BStU, MfS, AOP 22/67, Bd. 5, S. 123–129; Aktennotiz, HA V/2, 28.3.1955. Ebenda, S. 207; Fricke: Akten-Einsicht, S. 40. 265 Plan zur Operation »Blitz«, MfS, März 1955. BStU, MfS, AS 171/56, S. 68–88, hier 74 f. Laut handschriftlicher Notiz wurde der Plan aus dem Russischen übersetzt. Die entsprechende Dienstanweisung wurde vom Leiter der HA V Bruno Beater unterzeichnet, nachdem sie in Anwesenheit von Erich Mielke beschlossen worden war. Vgl. Dienstanweisung Nr. 54/54, HA V, 16.11.1954. Ebenda, S. 2–5; Fricke: Akten-Einsicht, S. 47–52; ders./Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, 1998, S. 215 f. 266 Vgl. Bericht, GM »Peter«, 30.8.1954. BStU, MfS, AOP 22/67, Bd. 4, S. 154 f.; Bericht, GM »Fritz«, 17.9.1954. Ebenda, S. 182–185; Bericht, GM »Fritz«, 1.2.1955. Ebenda, Bd. 5, S. 123–129; Treffbericht, HA V, 1.2.1955. Ebenda, S. 143 f.; Bericht, GM »Fritz«, 3.2.1955. Ebenda, S. 145–148; Bericht, GM »Fritz«, 8.2.1955. Ebenda, Bl. 153–155; Bericht, HA V, 11.2.1955. Ebenda, S. 165 f.; Bericht, HA V/2, 1.3.1955. Ebenda, S. 179 f.; Bericht, HA V/2, 26.3.1955. Ebenda, S. 169–172; Fricke: Akten-Einsicht, S. 38 f.; ders./Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 216. 267 Bericht, GM »Fritz«, 7.2.1955. BStU, MfS, AOP 22/67, Bd. 5, Bl. 150–152.
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se[n] Deprimierung« der GM »Fritz« und »Peter« angesichts des Beschlusses, ihren Auftrag zur »Liquidierung von Fricke« vorläufig zurück[zu]stellen«.268 Am 1. März 1955 schlug der Führungsoffizier des GM »Fritz« aber Frickes Festnahme vor und vermerkte am Ende desselben Monats in einer Aktennotiz nochmals die Zielsetzung dieser Aktion. Der Startschuss war gefallen.269 Unter dem Vorwand einer Buchübergabe verabredete sich GM »Fritz« mit Fricke am 1. April bei einem Postamt in Berlin-Schöneberg. GM »Fritz« erschien allerdings ohne das versprochene Buch und lud Fricke in seine nahegelegene Wohnung ein, um das Buch zu holen. Sich nicht in Gefahr wähnend folgte Fricke dem GM »Fritz« in dessen vermeintliche Wohnung und ließ sich dort auch von seinem Gastgeber und dessen Ehefrau – alias GM »Peter« – auf ein Glas Weinbrand einladen. Als er sich mit seinem Gastgeber dem versprochenen Buch widmete, schenkte die Ehefrau einen weiteren Weinbrand ein. Beim Trinken bemerkte er einen eigenartigen Nachgeschmack, der ihm bei den ersten beiden Gläsern nicht aufgefallen war, aber ihn keinen Verdacht schöpfen ließ. Kurze Zeit später überkamen Fricke Übelkeit und Benommenheit, er verspürte Beklemmungen und den Ausbruch von kaltem Schweiß, schob diese Symptome aber auf eine Unverträglichkeit des Alkohols. Er entschuldigte sich bei seinen Gastgebern und bat um die Bestellung eines Taxis. Dann verlor er das Bewusstsein. Mit dem letzten Weinbrand hatten Frickes Gastgeber ihm ein Betäubungsmittel verabreicht – vermutlich eine Mischung aus Scopolamin und Atropin. Eine operative Gruppe holte den bewusstlosen Journalisten aus der Westberliner Wohnung und brachte ihn im Kofferraum eines Autos, vermutlich in einem Schlafsack verschnürt, zur MfS-Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen.270 »Das sogenannte Paket Fricke wurde ordnungsgemäß dem Ministerium für Staatssicherheit übergeben«271, erinnerte sich GM »Fritz« in einem Bericht über seine »Kundschaftertätigkeit« für das Traditionskabinett der MfS-Hauptabteilung XX im April 1989.
268 Treffbericht, HA V/2, 28.2.1955. BStU, MfS, AIM 4225/61, A-Akte Bd. 3, Bl. 51 f. 269 Vgl. Vorschlag, HA V/2, 1.3.1955. BStU, MfS, AOP 22/67, Bd. 5, S. 181 f.; Aktennotiz, HA V/2, 28.3.1955. Ebenda, S. 207; Bericht, HA V/2, 1.3.1955. Ebenda, S. 179 f.; Bericht, HA V/2, 26.3.1955. Ebenda, S. 169–172. 270 Vgl. Zeugenaussage Karl Wilhelm Fricke, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin, 21.9.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 69/93 Bd. II, Bl. 98–105, hier 100–103; Fricke: Taktik, S. 179; ders.: Menschenraub, S. 6–9; ders.: Akten-Einsicht, S. 41–43; ders./Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 217; Hornstein: Staatsfeinde, S. 146–149. Zu der operativen Gruppe gehörte der GM »Steffen« alias Kurt Schliep, der in West-Berlin einen Kombi-Wagen gekauft hatte und wenige Tage zuvor an einer anderen Entführung beteiligt war. Vgl. Zwischenbericht, HA V/2, 23.6.1955. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 1, S. 62–64, hier 63; Treffbericht, HA V/2, 14.1.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 113 f.; Treffbericht, HA V/2, 26.1.1955. Ebenda, S. 130 f.; Treffbericht, HA V/2, 23.3.1955. Ebenda, S. 168; Treffbericht, HA V/2, 24.3.1955. Ebenda, S. 169. 271 Bericht, Kurt Rittwagen, 4.4.1989. BStU, MfS, HA XX/AKG Nr. 1064, S. 3–20, hier 15.
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Fricke kam in den späten Abendstunden in der MfS-Untersuchungshaftanstalt wieder zu sich, einigermaßen vernehmungsfähig war er allerdings erst am nächsten Morgen. Monate musste er in einer der dortigen Kellerzellen in Isolationshaft verbringen. In den Vernehmungen versuchte man, ihn zu einem Geständnis seiner angeblichen Spionagetätigkeit zu bringen – anfangs durch Schlafentzug, dann u. a. mit der Androhung, dass man ihn ewig in der Kellerzelle »schmoren« lassen könne. Nach fast 15-monatiger Untersuchungshaft folgte im Juni 1956 schließlich die Anklage vor dem Obersten Gericht der DDR und einen Monat später seine Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren wegen Spionage und Kriegshetze nach Artikel 6 der DDRVerfassung. Die Strafe musste Fricke komplett verbüßen, zunächst in der Haftanstalt Brandenburg-Görden, seit August 1956 in Bautzen II. Dort verbrachte er 963 Tage in Isolationshaft, bis er am 31. März 1959 entlassen wurde. Genau vier Jahre nach seiner gewaltsamen Entführung aus West-Berlin kehrte er dorthin zurück.272 Fallbeispiel 6: Die Entführung des UFJ-Mitarbeiters Erwin Neumann Der Berliner Wannsee war nicht nur ein beliebtes und seit Erscheinen eines Schlagers 1951 viel besungenes Naherholungsgebiet der eingeschlossenen Westberliner, sondern auch Grenzgebiet: Östlich der Pfaueninsel verlief die Grenze zwischen West-Berlin und der DDR. Hier gelang dem MfS im Sommer 1958 die Entführung des UFJ-Mitarbeiters Erwin Neumann – sechs Jahre nach der aufsehenerregenden gewaltsamen Entführung seines Kollegen Walter Linse.273 Der 1912 geborene, promovierte Diplom-Volkswirt war als Abteilungsleiter in der Industrie- und Handelskammer in Halle beschäftigt, bis diese im Frühjahr 1953 aufgelöst wurde. Als seine Bewerbungen um einen neuen Arbeitsplatz ergebnislos blieben, flüchtete er nach West-Berlin und fand dort eine Anstellung beim UFJ als Referent für Fragen des innerdeutschen Handels sowie für die Handwerkskammern und Privatwirtschaft in der DDR. Seit das MfS 1955 durch einen GM von der UFJ-Tätigkeit Neumanns erfahren hatte, warb es in seinem ehemaligen Kollegenkreis sowie in seinem familiären Umfeld GM und GI an und schickte sie zu ihm. Zum einen versuchte das MfS auf 272 Fricke hatte das Urteil in der kurzen Zeit, in der es ihm zur Verfügung stand, auswendig gelernt, sodass er es nach seiner Freilassung wortgetreu wiedergeben konnte. Vgl. Fricke: Taktik, S. 179; ders.: Schauprozesse, S. 210–213; ders.: Schauprozess, S. 315–317; ders.: Menschenraub, S. 9–32; ders.: Akten-Einsicht, S. 42–44, 63–106, 153–168. Das MfS nahm auch Frickes Mutter fest, die in der DDR lebte. Im Februar 1956 wurde sie zu einer Haftstrafe von 2 Jahren verurteilt. Während der Untersuchungshaft erlitt sie eine Haftpsychose. Im November 1956 wurde sie aus der Haft entlassen und floh in die Bundesrepublik. Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 118–152; Hornstein: Staatsfeinde, S. 140–143, 150–174. 273 Vgl. Kühn: Entführung, S. 914–922; Mampel: Organisierte Kriminalität, S. 918–920.
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diesem Wege, Neumann zu einem Gespräch nach Ost-Berlin zu locken. Zum anderen sollte seine Ehefrau überzeugt werden, ihn von der Arbeit für den UFJ abzubringen. Ferner ließ ihn das MfS im Frühjahr 1956 über einen GM mit dem Decknamen »Mücke« permanent beobachten. Neumann bemerkte die Beschattung, stellte den GM und lieferte ihn der Westberliner Kriminalpolizei aus. »Mücke« konnte jedoch alles abstreiten. Alle weiteren Maßnahmen des MfS blieben ebenfalls erfolglos.274 Im Herbst 1957 traf Neumann allerdings bei seiner Tätigkeit beim UFJ auf einen Informanten aus Ost-Berlin, der als Verkäufer in einem Betrieb des Deutschen Innen- und Außenhandels Textil, der Export-Firma Wiratex (Wirkwaren und Raumtextilien GmbH), arbeitete. Dieser Informant hatte seit Ende des Jahres 1956 bereits Kontakt zum UFJ-Mitarbeiter Siegfried Mampel, der jedoch als Jurist kein sonderlich großes Interesse an dem mitgebrachten Material zeigte – zumal er eine solche nachrichtendienstliche Arbeitsweise des UFJ skeptisch betrachtete. Der Bitte des Informanten entsprechend vermittelte er ihn schließlich an den für Wirtschaftsfragen zuständigen UFJ-Mitarbeiter Neumann. Er ahnte nicht, dass es sich bei dem Informanten um einen GM des MfS mit dem Decknamen »Weitzel« handelte, der den Auftrag hatte, eine Verbindung zum UFJ aufzubauen und diese mit dem Ziel zu festigen, als hauptamtlicher Mitarbeiter eingestellt zu werden.275 Dem GM »Weitzel« gelang es in den folgenden Monaten nicht nur, als Informant Neumanns Vertrauen zu gewinnen, sondern darüber hinaus auch auf privater Ebene eine Freundschaft aufzubauen. Die Qualität seiner Informationen, bei denen es sich um in Absprache mit dem MfS ausgewähltes »Spielmaterial« handelte, ließ ihn im UFJ zur Topquelle werden. Im blinden Vertrauen offenbarte Neumann dem GM zahlreiche Details seiner Arbeit und vernachlässigte wichtige Sicherheitsmaßnahmen, indem er »Weitzel« beispielsweise in seiner Privatwohnung empfing, seinen richtigen Namen und seine Ausrüstung mit einer Pistole verriet. Er sprach mit »Weitzel« auch über die zwei ehemaligen Arbeitskollegen, die das MfS zu ihm geschickt hatte, und über die Entdek274 Vgl. Sachstandsbericht, HA V/5, 3.6.1955. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd.1, S. 29 f.; 2 Treffberichte mit GI »Saale«, HA V/5, 5.1.1956 und 23.1.1956. Ebenda, S. 38–41, 43 f.; 4 Berichte, GM »Mücke, 13.3.–9.4.1956. Ebenda, S. 48–54; Sachstandsbericht, Abt. V/5, 11.1.1957. Ebenda, S. 111–116; Bericht, GM »Weitzel«, 29.12.1957. Ebenda, S. 154–156; Aktenvermerk, Dr. Erwin Neumann, 18.3.1955. BArch, B 209/253, o. Pag.; Aktenvermerk, Abt. Wirtschaft (Dr. Erwin Neumann), 9.4.1955. Ebenda; Aktenvermerk, Dr. Erwin Neumann, 20.5.1955. Ebenda; vgl. Kühn: Entführung, S. 916 f. 275 Vgl. Bericht, GM »Weitzel«, 21.10.1957. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd. 1, S. 120–128. Den Kontakt zwischen »Weitzel« und Siegfried Mampel hatte eine Sekretärin im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen hergestellt, die auch als GM für das MfS tätig war. Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung Siegfried Mampel, 25.8.1958. BStU, MfS, AP 21814/80, Bd. 1, S. 15–17; Strafanzeige, Siegfried Mampel an Generalstaatsanwaltschaft Landgericht Berlin, November 1990. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 198/92, Bd. 1, Bl. 1–5. Vgl. Kühn: Entführung, S. 916.
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kung seiner Beschattung durch den GM »Mücke«.276 Offensichtlich war Neumann sich der Gefahr, die ihm vom DDR-Staatssicherheitsdienst drohte, bewusst. Vielleicht ließ ihn die Vermittlung des vermeintlichen Informanten »Weitzel« über seinen Vorgesetzten Siegfried Mampel so unvorsichtig sein. Auf diesen Umstand führten auch die MfS-Mitarbeiter Neumanns Redseligkeit zurück, die sie irritierte: »Wir haben bisher in der Bearbeitung des UFJ noch nicht ein solches Beispiel gehabt, wo ein Hauptagent so ausführlich und konkret sich mit einem ›Agenten‹ unterhält.«277 Auf der privaten Ebene erfuhr GM »Weitzel«, dass Neumann Alkohol nicht abgeneigt war und eine Vorliebe für Aktfotografien hatte. Vor diesem Hintergrund reifte im MfS-Apparat die Idee einer Entführungsaktion. Bereits im November 1957 plädierte der stellvertretende Leiter der Hauptabteilung V Heinz Volpert für eine Entführung, da er das bisherige Ziel, »Weitzel« als hauptamtlichen Mitarbeiter im UFJ einzuschleusen, durch die finanzielle Lage des UFJ als weniger erfolgsversprechend erachtete. Die Rahmenbedingungen bei den Treffen zwischen dem GM »Weitzel« und Neumann beurteilte er hingegen als äußerst günstig: Da man sich gemeinsam Filme anschaue und reichlich Alkohol zu sich nehme, könne »Weitzel« dem Neumann im Schutz der Dunkelheit leicht ein Betäubungsmittel in sein Getränk geben. In Vorbereitung der Entführung müsse »Weitzel« nun ein Fahrtraining mit dem zum Einsatz kommenden Pkw Opel Kapitän absolvieren. Wenige Tage später wurde dieses tatsächlich durchgeführt. Der Plan, Neumann in seiner Wohnung zu betäuben und anschließend zu entführen, wurde zu Beginn des Jahres 1958 weiter ausgefeilt. In Kenntnis der Trinkgewohnheiten Neumanns suchte man vor allem nach dem richtigen Zeitpunkt, Neumann das Betäubungsmittel zu verabreichen.278 Doch mit der Durchführung zögerte die Hauptabteilung V/5 noch, im Februar 1958 hielt Volpert in einem Treffbericht fest: »Das Verhältnis zwischen beiden wird auch zukünftig weiter so gelenkt, dass wir jederzeit in der Lage sind, eine aktive Maßnahme durchzuführen.«279 Auftragsgemäß festigte »Weitzel« in den kommenden Monaten die Freundschaft zu Neumann und gewann immer mehr sein Vertrauen. So offenbarte Neumann »Weitzel« in einem Gespräch, wo er seine Pistole trage, aber dass er nicht mehr mit einer Entführung durch das MfS rechne, da man 276 Vgl. 15 Berichte, GM »Weitzel«, 2.11.1957–30.1.1958. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd. 1, S. 131–136, 142 f., 149–157, 174–177, 182–203, 214–217; Treffbericht, HA V/5, 28.11.1957. Ebenda, S. 158–163; Vorschlag zur »Ziehung«, HA V/5, 24.7.1958. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 114–126, hier 117. 277 Bericht, HA V/5, 15.11.1957. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd. 1, S. 138–141. 278 Vgl. Treffbericht, HA V/5, 28.11.1957. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd. 1, S. 158–163; Treffbericht, HA V/5, 13.12.1957. Ebenda, S. 178–181; Treffbericht, HA V/5, 17.1.1958. Ebenda, S. 210–213; Treffbericht, HA V/5, 29.1.1958. Ebenda, S. 204–209. 279 Treffbericht, HA V/5, 27.2.1958. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd. 1, S. 17 f., hier 18.
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mit diesen Methoden nicht mehr arbeite.280 Derweil liefen im Staatssicherheitsapparat die Planungen für eine solche Aktion: Gemeinsame Bootstouren auf dem Berliner Wannsee seit dem Frühsommer 1958 führten zu einer neuen Idee, die durch eine Meldung einer Volkspolizei-Einsatzgruppe, dass die Sektorengrenze auf dem Jungfern-See nicht ausreichend gesichert sei, vermutlich Gestalt annahm.281 Im Juli 1958 legte die Hauptabteilung V/5 den detaillierten Plan einer Entführungsaktion vor, der die Möglichkeit bieten sollte, die Entführung Neumanns als freiwillige Rückkehr darzustellen. Auf diesem Wege hoffte sie, zum einen dem UFJ einen empfindlicheren Schlag versetzen zu können, und zum anderen den Verdacht gegen den eingeschleusten GM »Weitzel« entschärfen zu können. Dieser sollte – einem mehrmals von Neumann geäußerten Wunsch entsprechend – mit Neumann eine Bootstour auf dem Wannsee unternehmen, und zwar in Begleitung einer jungen Frau, von der man in der Nähe der Insel Schwanenwerder Fotoaufnahmen anfertigen wollte. Für die Rolle der jungen Frau war eine weibliche GM mit dem Decknamen »Sylvia« vorgesehen. Auf der Fahrt sollten die beiden GM Neumann ein in Alkohol gelöstes Betäubungsmittel verabreichen und ihn dann auf dem Wasserweg in die DDR bringen. Bei früheren Bootstouren hatte »Weitzel« bereits mit positivem Ergebnis getestet, inwieweit Neumann Getränke und Essen von ihm annahm und das Boot in die Nähe der Sektorengrenze steuern ließ. Der Plan war vor allem so ausgelegt, dass es keine Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung des GM »Weitzel« geben sollte. So sollte er unmittelbar nach der Durchführung der Entführung Neumanns Wohnung aufsuchen und dort bei der minderjährigen Tochter eine Nachricht sowie Unterlagen hinterlassen. Bei einem idealen Ablauf, so die Hoffnung des MfS, würde die bundesdeutsche Polizei nach dem Verschwinden Neumanns den eingeschleusten GM als gefährdet einstufen und zum Bleiben in West-Berlin raten.282 Die Umsetzung dieses Entführungsplanes am 20. August 1958 verlief anfangs planmäßig: Neumann folgte der Einladung des vermeintlichen Freundes zur Bootsfahrt, auf der die GM »Sylvia« ihn zum Alkoholkonsum animierte. Nachdem sie im Schilf der Insel Kälberwerder unweit der Grenze zur DDR angelegt und die versprochenen Fotos gemacht hatten, reichte »Weitzel« Neumann schließlich eine Flasche Bier, die mit einem Betäubungsmittel versehen war. Doch da Neumann die Flasche versehentlich umstieß, nahm er nicht die ganze Menge des Betäubungsmittels zu sich. So machte sich die 280 Vgl. 18 Berichte, GM »Weitzel«, 11.2.1958–5.7.1958. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd. 2, S. 8–13, 21–32, 40–50, 58–62, 68–76; Treffbericht, HA V/5, 21.4.1958. Ebenda, S. 37–39; Treffbericht, HA V/5, 2.6.1958. Ebenda, S. 66 f. 281 Treffbericht, HA V/5, 2.6.1958. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd. 2, S. 66 f.; Bericht, VP Brdg. I Einsatzgruppe Potsdam, 31.7.1958. Ebenda, S. 93 f. 282 Vgl. Vorschlag, HA V/5, 24.7.1958. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 114–126, hier 118–124.
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Wirkung des Betäubungsmittels zwar kurze Zeit später bemerkbar, aber nicht im geplanten Ausmaß. Mit körperlichem Unwohlsein kämpfend beschuldigte Neumann seine Begleiter, ihm etwas ins Bier gemischt zu haben, und forderte sie auf, umgehend zurückzufahren. Diese spielten nun auf Zeit und inszenierten beim Klarmachen des Boots ein Missgeschick nach dem Nächsten. Zwei zusätzliche Versuche, Neumann eine weitere Dosis des Betäubungsmittels zu verabreichen, scheiterten, da er die ihm gereichte Tasse beim ersten Mal sofort, beim zweiten Mal nach einem kleinen Schluck auskippte. Erst nach zwei Stunden zeigte das Betäubungsmittel die erhoffte Wirkung und versetzte Neumann in einen körperlichen Zustand, der ihn widerstandsunfähig machte. Nun erschwerten aber Windstille und das Fehlen eines Motors die Überfahrt in die DDR, die den beiden GM schließlich nur mit großer Anstrengung gelang. Rund 50 Meter hinter der Grenze wartete bereits ein Motorboot, das sie abschleppte.283 Noch in der Nacht nach seiner Entführung begann das MfS laut Protokoll um 2.30 Uhr mit der ersten Vernehmung Neumanns, die über zwölf Stunden dauerte und ein Vernehmungsprotokoll von nur sechs maschinenschriftlichen Seiten hervorbrachte. Nach einstündiger Unterbrechung wurde um 16.00 Uhr mit der zweiten Vernehmung begonnen. Erst um 2.00 Uhr nachts, nach fast 24-stündiger Vernehmung mit wenigen Pausen, ließen die MfS-Vernehmer von Neumann ab. Aber nur kurzzeitig: In den nächsten drei Tagen erstreckten sich die Vernehmungen von morgens 9.00 Uhr bis nachts um 2.30 Uhr, an den folgenden Tagen dauerten sie noch oft von morgens bis in den späten Abend.284 Nach über 14 Monaten Untersuchungshaft erhob die Staatsanwaltschaft des Bezirksgerichts Frankfurt/O. Anfang November 1959 Anklage gegen Neumann wegen Spionage im schweren Fall nach Paragrafen 14, 24 Abs. 1 und 2 StEG. Der 1. Strafsenat am Bezirksgericht Frankfurt/O. bestätigte nach einer zweitägigen Verhandlung in seinem Urteil die Anklagepunkte sowie das von der Staatsanwaltschaft vorgeschlagene Strafmaß und verurteilte Neumann zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe.285 Neumann kam nie wieder in Freiheit: Im Juli 1967 verstarb er nach jahrelanger Isolationshaft im Alter von 55 Jahren in einem Haftkrankenhaus an Herzversagen.286
283 Vgl. Bericht, GM »Weitzel« und »Sylvia«, 21.8.1958. BStU, MfS, AIM 6041/57, A-Akte Bd. 6, S. 21–26. Der Bericht ist gedruckt in: Kühn: Entführung, S. 920–922. 284 Vgl. 54 Vernehmungsprotokolle, MfS, 21.8.–5.1.1959. BStU, MfS, AU 217/90, Bd. 1, S. 89–100, 104–109, 112–119, 122–124, 152–155, 157–159, 167–229, 243–246, 249–319, 351– 375, 385–470, 492–506, 510–516. Weitere Vernehmungsprotokolle bis September 1959 vgl. ebenda, Bd. 3 u. 4. 285 Vgl. Anklageschrift, Bezirksstaatsanwaltschaft Frankfurt/O., 5.11.1959. BStU, MfS, AU 217/90, Bd. 5, S. 1–27; Urteil, Bezirksgericht Frankfurt/O., 14.11.1959. Ebenda, S. 63–79. 286 Vgl. Gefangenenakte Erwin Neumann. BStU, MfS, AU 217/90, Bd. 9; Mitteilung, Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben an Versorgungsamt Kassel, 2.7.1971.
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Verfolgung von Abtrünnigen und »Verrätern«
In den Organisationen und Initiativen, die sich im Westen gegen das SEDRegime formierten, engagierten sich nicht selten Menschen, die in der SBZ/DDR eigene Erfahrungen gesammelt hatten und geflohen waren. Unter ihnen waren auch ehemalige SED-Mitglieder, sogar höhere SED- und FDJFunktionäre, die sich aus diesem Grund ebenfalls unter den Entführungsopfern befinden. Oftmals hatte ihre Zugehörigkeit zur parteiinternen Opposition zu ihrer Flucht geführt und motivierte sie im Westen zur Kontaktaufnahme mit Gleichgesinnten in der DDR. Diese Verbindungen, durch die das SEDRegime eine Stärkung der parteiinternen Opposition befürchtete, sollten mit allen Mitteln unterbunden werden. Entsprechend vehement erfolgte die Verfolgung dieser »Verräter« jenseits der DDR-Grenzen. Das Interesse des SEDRegimes, das eigene Herrschaftssystem mit aller Kraft – auch mittels Entführungen – zu stabilisieren, ist nicht zuletzt in dieser Opfergruppe evident. Als besonders schwerwiegende Form des Verrats galt die Fahnenflucht in den Westen. Die »Abstimmung mit den Füßen«, die massenhafte Fluchtbewegung aus der DDR in den 1950er Jahren, machte auch vor den Reihen des MfS, der Volkspolizei und den »bewaffneten Organen« der DDR nicht halt. Aktive und aus dem Dienst entlassene MfS-Mitarbeiter, Volks- und Grenzpolizisten sowie NVA-Angehörige flohen in den Westen – mitunter in der Absicht, sich dadurch ihrem Dienstherrn zu entziehen. Das SED-Regime verband mit diesen Desertionen und Fluchten stets einen Spionageverdacht. Folglich hatte das Durchlaufen des Notaufnahmeverfahrens mit den Befragungen durch westliche Geheimdienste für diese DDR-Flüchtlinge nach einer Entführung besonders schwerwiegende Folgen. In den Augen des SED-Regimes war dabei weniger der tatsächliche Umfang der dort gemachten Aussagen des Abtrünnigen maßgeblich – zumal dies schwer kontrollierbar war –, sondern das Ausmaß seines Wissens. Denn man ging grundsätzlich davon aus, dass der DDR-Flüchtling als »Vaterlandsverräter« sein gesamtes Wissen preisgab.287 Unter den polizeilich erfassten Entführungsopfern findet sich zwar nur in 5 Prozent der Fälle der Hinweis auf eine frühere Zugehörigkeit zur Volkspolizei und in rund 3 Prozent zum MfS. Bekannte, nachgewiesene Fälle entführter ehemaliger MfS-Mitarbeiter fehlen in den namentlichen Auflistungen der Westberliner Polizei allerdings größtenteils. Die Dunkelziffer der unbekannten Entführungsopfer dürfte also in dieser Opfergruppe besonders groß sein. In seiner Studie über die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS verweist Jens Gieseke darauf, dass von den mindestens 100 aktiven und 356 ausgeschiedenen MfSMitarbeitern, die bis 1961 aus der DDR geflohen waren, 108 freiwillig oder BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Mitteilung, Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben an Versorgungsamt Kassel, 18.2.1976. Ebenda, o. Pag. 287 Vgl. Wolf: Hauptabteilung I, S. 22, 57.
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unfreiwillig in die DDR zurückkehrten.288 Über 8 600 Fahnenfluchten aus den Reihen der Grenztruppen und NVA (sowie ihrer Vorläuferorganisationen) registrierte die MfS-Hauptabteilung I in den Jahren 1950 bis 1961. In manchen Fällen erhöhte sich die Brisanz dieser Fluchten noch durch den Umstand, dass der Flüchtige auch IM des MfS war.289 Mit großer Vehemenz verfolgte das SED-Regime diese Abtrünnigen im Westen und organisierte ihre »Ziehung« oder »Zurückholung«, wie Entführungen MfS-intern bezeichnet wurden. Der Antriebsmotor war in diesem Zusammenhang nicht nur die Angst vor dem Verrat dienstlicher Geheimnisse an die westlichen Nachrichtendienste, sondern auch das System der internen Repression. Potenziellen Nachahmern sollte vor Augen geführt werden, dass sie sich dem Apparat auch durch eine Flucht in den Westen nicht entziehen konnten und der verübte »Verrat« mit drakonischen Strafen geahndet wurde. Zu diesem Zweck wurden gegen diese Rückkehrer bzw. Zurückgeholten nicht nur langjährige Zuchthausstrafen verhängt, sondern auch Todesurteile gefällt. Die Verurteilungen erfolgten bis 1953 zumeist unter sowjetischer Regie, danach jedoch vollständig durch die parteigelenkte DDR-Justiz. In den folgenden drei Jahren erhielten sieben geflohene MfS-Mitarbeiter die Todesstrafe, sechs von ihnen waren zuvor mit Täuschungsmanövern und/oder Gewalt aus der Bundesrepublik entführt worden.290 MfS-intern wurden diese Fälle aufbereitet und als Drohkulisse genutzt. So verlautbarte MfS-Chef Ernst Wollweber auf einer zentralen Dienstkonferenz im November 1953 in Bezug auf einen geflohenen MfS-Kreisdienststellenleiter, der wenige Wochen zuvor verschleppt worden war: »Ganz gleichgültig, wo solche Verräter aus den Reihen der Staatssicherheit sich hinbegeben, sie werden zurückgeholt und in jedem Falle ihrer verdienten Strafe zugeführt. Denn sie gehören zu den schlimmsten Feinden, mit denen wir es zu tun haben.«291 Das im Frühjahr 1954 verhängte und vollstreckte Todesurteil gegen diesen Abtrünnigen ließ Ernst Wollweber umgehend intern verbreiten und erklärte es per Befehl zum Anlass und »Gegenstand
288 Vgl. Gieseke: Mitarbeiter, S. 206 f.; Gieseke: Abweichendes Verhalten, S. 531 f., 535. 289 1961 flohen im 1. Halbjahr 389 Angehörige der Grenztruppen und NVA, im 2. Halbjahr noch 232, vor allem im August/September. In den 1960er Jahren reduzieren sich die Fahnenfluchten drastisch: von 553 im Jahr 1962 auf 77 1969. In späteren Jahren gab es nur noch etwa 20 Fälle pro Jahr. Vgl. Wolf: Hauptabteilung I, S. 57, 69 f. 290 In den folgenden Jahren wurden zunächst keine Todesstrafen mehr gegen geflohene MfSMitarbeiter ausgesprochen. Vgl. Gieseke: Mitarbeiter, S. 207. Zu den 7 geflohenen und zum Tode verurteilten MfS-Mitarbeitern vgl. Gerhard Sälter: Interne Repression. Die Verfolgung übergelaufener MfS-Offiziere. Dresden 2002; vgl. Fricke: Verräter, S. 258–265. 291 Referat Ernst Wollweber auf der zentralen Dienstkonferenz im Staatssekretariat für Staatssicherheit, 11.–12.11.1953. Auszug in: Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 272–284, hier 280.
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einer eingehenden Belehrung« des Mitarbeiterstabes.292 Ähnlich drohte Ernst Wollweber in einem Befehl 1955 nach der Verschleppung und Hinrichtung von zwei geflohenen MfS-Mitarbeitern: »Die Macht der Arbeiterklasse ist so groß und reicht so weit, daß jeder Verräter zurückgeholt wird oder ihn in seinem vermeintlich sicheren Versteck die gerechte Strafe ereilt.«293 Als fünf Jahre später ein ehemaliger Grenzpolizist, der nach einer Flucht in den Westen ebenfalls in die DDR entführt worden war, hingerichtet wurde, warnte Wollwebers Nachfolger Erich Mielke als MfS-Chef: »Jeder Verräter – ganz gleich, wo er sich auch befinden möge – wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen.«294 Dass es sich nicht um leere Drohungen handelte, zeigen die folgenden Beispiele – auch wenn längst nicht jeder geflohene Parteigenosse, MfS-Mitarbeiter oder Angehöriger der »bewaffneten Organe« der DDR Opfer einer grenzüberschreitenden Verfolgung durch das MfS wurde. Fallbeispiel 7: Die Entführungen von zwei ehemaligen SED-Funktionären Ein MfS-Bericht zur Großaktion »Blitz« vermerkte Ende des Jahres 1954 die »lautlose Überführung des Verräters und Agenten [...], ehemaliger 1. Sekretär der Kreisleitung […], aus Westberlin in die DDR«.295 Der 34-jährige gelernte Grafiker Otto Krüger war im November 1953 nach West-Berlin geflohen, nachdem er einer Familie bei ihrer Übersiedlung in den Westen geholfen hatte und nun eine Festnahme befürchtete. Als hauptamtlicher SED-Funktionär wurde er dort zwar im Notaufnahmelager Marienfelde aufgenommen, aber nicht als politischer Flüchtling anerkannt. Trotz seines Status als »Illegaler«296 gelang es Krüger, sich eine Unterkunft in West-Berlin zu besorgen. Seinen Lebensunterhalt bestritt er als freiberuflicher Journalist, der für Zeitungen, für den RIAS und den Sender Freies Berlin (SFB) in West-Berlin tätig war. Der Auslöser für seine Entführung dürfte jedoch in erster Linie seine Verbindung zu einer Abteilung des US-High Commissioner for Germany (HICOG) in West-Berlin gewesen sein. Diese Abteilung sammelte Informationen zur SED und suchte nach Einflussmöglichkeiten, indem sie u. a. mithilfe geflüchteter SED-Mitglieder potenziell unzuverlässige Kader kontaktierte. Zu diesem Zweck sollte sogar ein Beratungsbüro in West-Berlin eingerichtet werden, in 292 Befehl Nr. 78/54, Staatssekretär für Staatssicherheit Ernst Wollweber, 5.3.1954. Zit. in: Gieseke: Mitarbeiter, S. 207. Vgl. Sälter: Repression, S. 46–54. 293 Befehl Nr. 134/55, Minister für Staatssicherheit Ernst Wollweber, 17.5.1955. Zit. in: Fricke/ Marquardt: DDR-Staatssicherheit, S. 13 f.; Fricke: Geschwafel, S. 20. 294 Befehl Nr. 357/60, Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, 18.7.1960. BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 579, S. 2–4, hier 4. 295 Bericht zur Aktion »Blitz«, MfS, Dezember 1954. BStU, MfS, AS 171/56, Bd. 1, S. 27–34, hier 32. 296 Zum Umgang mit abgelehnten Antragstellern vgl. Kimmel: Notaufnahmeverfahren, S. 130–132.
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dem Otto Krüger mitarbeiten sollte. Durch die oftmals dilettantische, da offenkundige Form der Kontaktaufnahme per Brief oder Telefon blieben diese Aktivitäten dem MfS nicht verborgen. Dort befürchtete man die Herausbildung und Stärkung einer innerparteilichen Opposition, die es zu unterbinden galt.297 Otto Krüger wurde im Operativen Vorgang »Bandit« als ein Hauptverdächtiger erfasst. Seine Entführung aus West-Berlin war Teil der Großaktion »Blitz«298 und sollte die Festnahme mehrerer Personen ermöglichen, deren »feindliche Tätigkeit« ein GM mit dem Decknamen »Hansen«299 enthüllt hatte. Zum Schutz des GM sollte der Eindruck erweckt werden, Otto Krüger hätte diese Personen in seinen Vernehmungen verraten. Im Oktober 1954 entwickelte die Hauptabteilung V/2 einen Entführungsplan: Der GM »Hansen«, der bei Otto Krüger über »allergrößtes Vertrauen« verfüge, sollte mit diesem und einem weiteren Bekannten ein Lokal in der Westberliner Bülowstraße aufsuchen und zum Alkoholkonsum animieren. Am späteren Abend sollte sodann ein weiterer GM zum Einsatz kommen, und zwar eine Frau, die Otto Krüger zum Tanzen auffordern sollte. Während dieses Tanzes sollte »Hansen« ein Narkotikum in das Bier von Otto Krüger mischen. Zugunsten eines Alibis für den GM »Hansen« sollte Krüger schließlich mithilfe des weiblichen GM nach Ost-Berlin gebracht werden: Nach den ersten Anzeichen, dass das Narkotikum Wirkung zeigt, sollte sie mit ihm – als Liebespaar getarnt – mit einem Taxi oder der S-Bahn nach Ost-Berlin fahren.300 In leichter Abänderung des Plans erwog man Anfang November, den weiblichen GM schon vor dem Tatabend mit Otto Krüger bekannt zu machen, um dann eine erneute Verabredung als Gelegenheit zu nutzen. Doch der Leiter der Hauptabteilung V/5, Oberstleutnant Otto Knye, lehnte diesen Plan ab.301 Vor diesem Hintergrund entstand wenige Tage später vermutlich ein weiterer Entführungsplan, der vorsah, Otto Krüger das vergiftete Bier in seiner eigenen Wohnung zu verabreichen, wiederum mithilfe des GM »Hansen«. Eine Gruppe von GM, die mit einem Pkw vor dem Haus warten sollte, erhielt den Auftrag, sodann den 297 Vgl. Bericht, HA V/2, 30.11.1955. BStU, MfS, AOP 4220/71, Bd. 1, S. 99–104; Abschlussbericht, HA XX/2, 12.4.1971. Ebenda, Bd. 6, S. 390–398; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 207 f.; Schubert/Seifert: Aktion Christiansen, S. 3 f. 298 Die Verhaftungswelle führte zwischen November 1954 und April 1955 zu über 520 Festnahmen. Vgl. Bericht, MfS, 1.12.1954. BStU, MfS, AS 171/56, S. 27–34, hier 32; Plan zur Operation »Blitz«, MfS, 1.3.1955. Ebenda, S. 68–88, hier 78. 299 Es war ein befreundeter Journalist aus Gera, den Otto Krüger im Notaufnahmelager BerlinMarienfelde getroffen hatte und der bei vielen Befragungen durch westliche Geheimdienste anwesend war, um Krügers Angaben zu bezeugen. Vgl. Bericht, Otto Krüger, 14.1.1970. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag. 300 Vgl. Plan, HA V/2, 23.10.1954. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 1, S. 42–48. Auszug aus diesem Plan veröffentlicht in: Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 205 f. 301 Vgl. Auftrag, MfS, 9.11.1954. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 1, S. 57.
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Transport des Bewusstlosen zu übernehmen. Auch in diesem Plan widmete man sich mit Akribie der Beschaffung eines Alibis für den GM »Hansen«, damit dieser weiterhin in West-Berlin tätig sein konnte. Er sollte sich für den fraglichen Abend eine Theaterkarte besorgen, diese im abgerissenen Zustand aufbewahren und sich mit dem Theaterstück vertraut machen, um später in polizeilichen Vernehmungen seinen angeblichen Theaterbesuch glaubhaft machen zu können. Zudem sollte der festgenommene Otto Krüger unter Anleitung einen Brief an seine Lebensgefährtin verfassen, in dem er sich von ihr trennt und verabschiedet.302 Die Entführung von Otto Krüger am Abend des 1. Dezember 1954 verlief jedoch anscheinend in Anlehnung an die ersten Planungen. So berichtete Otto Krüger nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik 1969, dass er am fraglichen Abend durch einen Freund mit einer Frau bekannt gemacht worden sei, mit der er die San Francisco-Bar in Berlin-Charlottenburg aufgesucht habe. Kurz vor dem Verlassen des Lokals hätten sie noch ein Getränk an der Theke zu sich genommen, nach dessen Genuss ihm zunächst die Beine schwer geworden seien und er dann das Bewusstsein verloren habe. Er habe nur noch bemerkt, wie er untergehakt und in ein Taxi transportiert worden sei. Aufgewacht sei er dann in einem anderen Fahrzeug in Ost-Berlin, das ihn in der MfS-Haftanstalt in der Magdalenenstraße abgeliefert habe. Am Vormittag sei er dann in die Kellerzellen der MfS-Untersuchungshaftanstalt BerlinHohenschönhausen gebracht worden.303 Gemäß offiziellem Festnahmebericht erhielt die Hauptabteilung V/5 am 1. Dezember 1954 die Information, dass Otto Krüger eine Frau in die Ostberliner Greifswalder Straße begleitet hätte, um dort zu übernachten. Vor Ort hätten drei hauptamtliche Mitarbeiter der Diensteinheit Otto Krüger tatsächlich angetroffen; er habe sich nicht ausweisen können und sei daher um 3.00 Uhr morgens in die Untersuchungshaftanstalt II des SfS eingeliefert worden. Enttarnend vermerkt der Festnahmebericht, dass es sich bei zwei der beteiligten Hauptamtlichen um keine Geringeren als Heinz Volpert und Otto Knye handelte.304 Beide waren Abteilungsleiter in der Hauptabteilung V – ein prominentes Aufgebot für eine ›normale‹ Festnahme. Auch der offzielle Festnahmebericht des im März 1955 verhafteten Paul Behm enthält einen solchen versteckten Hinweis auf eine Entführung. Bei seiner Festnahme »nach erfolg302 Vgl. Plan, MfS, 10.11.1954. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 1, S. 51–56. Tatsächlich erhielt seine Lebensgefährtin einen solchen Abschiedsbrief mit der Handschrift von Otto Krüger, datiert auf den 30.1.1955 und aufgegeben in Osnabrück. Vgl. Bericht, Abt. V.1 (S) V, 16.2.1955. LAB, B Rep. 020, Nr. 8161, o. Pag. 303 Vgl. Besuchsvermerk Otto Krüger, UFJ, 16.12.1969. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Bericht, Otto Krüger, 14.1.1970. Ebenda, o. Pag.; Bericht, Otto Krüger, 23.12.1969. BArch, B 209/1070, o. Pag. 304 Vgl. Festnahmebericht, HA V/5, 1.12.1954. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 1, S. 14.
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reich durchgeführten Maßnahmen im demokratischen Sektor« waren laut Festnahmebericht Erich Jamin, Abteilungsleiter in der Hauptabteilung V, und Bruno Beater, der Leiter der Hauptabteilung V, anwesend.305 Im Alter von 39 Jahren war Paul Behm im Januar 1955 nach West-Berlin geflohen. Als hauptamtlicher Mitarbeiter in der SED-Bezirksleitung Rostock war Behm unmittelbar für den dortigen 1. Sekretär Karl Mewis tätig und wurde im Februar 1953 an die Parteihochschule »Karl-Marx« in Kleinmachnow delegiert. Im November 1954 beantragte er jedoch sein Ausscheiden aus dem Lehrgang an der Parteihochschule, da er sich den Anforderungen nicht gewachsen fühlte. In einer anschließenden »Aussprache« im ZK der SED schien man Behm von einer Fortsetzung des Studiums überzeugt zu haben, aber er kehrte nach dem Weihnachtsurlaub nicht zurück. Ausschlaggebend für seine Flucht dürfte zudem gewesen sein, dass er Schwierigkeiten wegen eines heimlichen Besuchs in West-Berlin und seiner verschwiegenen NSDAPMitgliedschaft fürchtete.306 In West-Berlin bekam Behm auch Kontakt zu der HICOG-Abteilung und schrieb ebenfalls ihm bekannte SED-Genossen an, um ein Treffen in West-Berlin vorzuschlagen. Drei dieser Briefe landeten beim MfS: Bei einer angeschriebenen Studentin der Parteihochschule handelte es sich um eine Informatin des MfS. Ein Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung Rostock informierte das MfS über die Aufforderung Behms, das ihn daraufhin zu der Zusammenkunft in West-Berlin schickte und diese von zwei GI beobachten ließ. Und auch ein weiterer Kollege von der Parteihochschule, mit dem Behm sich das Zimmer geteilt hatte, übergab dessen Brief dem MfS und ließ sich als GM »Bauer« anwerben. Im Auftrag des MfS traf er sich fünfmal mit Behm in West-Berlin und half beim fünften Treffen schließlich »bei der Überführung des Behm in den demokratischen Sektor«.307 Ähnliche Hinweise auf eine Entführung Behms finden sich in verschiedenen MfS-Akten, detailliertere Informationen über die Durchführungsweise sind aber nicht aktenkundig. In einer IM-Akte ist lediglich vermerkt, dass neben dem GM »Bauer« die GM 305 Festnahmebericht, HA V/2, 24.3.1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 4, S. 18. 306 Vgl. Mitteilung, MfS, 20.1.1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 8, S. 6; Vorlage für das Sekretariat des ZK, Abt. Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen, 18.1.1955. Ebenda, S. 25– 27; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 208 f. 307 Abschlussbericht, HA V/2/3, 25.3.1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 9, S. 95–97, hier 96; vgl. Bericht, HA V/2/3, 31.1.1955. BStU, MfS, AOP 4220/71, Bd. 1, S. 161 f.; Zwischenbericht, HA V/2/2, 11.6.1955. Ebenda, S. 307–312; Bericht, HA V/2, 30.11.1955. Ebenda, S. 99–104; Bericht, HA V/2/3, 12.2.1955. Ebenda, S. 163; 4 Berichte, GM »Bauer«, 14.–15.3.1955. Ebenda, S. 164–171, 181–186, 201–212, 218–222; Treffbericht, HA V/5, 15.3.1955. Ebenda, S. 216 f. Die Treffen zwischen Paul Behm und dem GM »Bauer« wurden durch 3 IM überwacht, einer von ihnen wurde von Behm bemerkt. Vgl. Bericht, HA V/2, 19.2.1955. Ebenda, S. 176–178; Bericht, GM »Wichert«, 1.3.1955. Ebenda, S. 213–215; Vorlage, HA V/2/3, 2.3.1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 8, S. 49–52; Schlussbericht, HA V/6, 30.8.1956. BStU, MfS, AOP 600/56, S. 48 f. Die Abteilung V der BV Rostock hatte auch bereits Behms Entführung geplant. Vgl. Operativplan, BV Rostock, Abt. II, 24.2.1955. Ebenda, S. 20 f.
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»Ilse« und »Sylvia« zum Einsatz gekommen seien und der GM »Steffen« mit seinem Wagen geholfen habe, Behm zu »überführen«.308 Im November 1955 wurde gegen Paul Behm und Otto Krüger, die einander unbekannt waren, vor dem Bezirksgericht Rostock die Anklage erhoben, »Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen betrieben, Kriegshetze gefördert und durch militaristische Propaganda friedensgefährdend gewirkt zu haben«. Sie wurden des Verrats von Partei- und Staatsgeheimnissen sowie der Anwerbung von DDR-Bürgern für westliche Geheimdienste beschuldigt. Zudem hätten sie versucht, »Funktionäre der SED und des Staatsapparates unter Anwendung von Erpressung und Gewalt zum Betreten der Westsektoren zu veranlassen, um sie dann dem amerikanischen Geheimdienst zur Anwerbung für die Spionagetätigkeit zuzuführen«. Den entführten Angeklagten wurden somit im Prinzip Entführungsabsichten unterstellt. Otto Krüger wurde zusätzlich vorgeworfen, »antidemokratische« Zeitungsartikel und Rundfunkkommentare in West-Berlin verfasst zu haben, »um die demokratischen Errungenschaften der DDR in gemeiner Art und Weise zu verleumden«.309 Der reale Kern dieser Anklagepunkte war, dass beide geflohenen Parteigenossen in ihren Vernehmungen im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens Angaben über ihre Tätigkeiten sowie Strukturen und Personen des Parteiapparates und der ihnen bekannten SED-Bezirksverwaltungen gemacht hatten. Von der amerikanischen Sichtungsstelle waren sie zur erwähnten HICOG-Abteilung geschickt worden, wo sie ihre Aussagen wiederholten und in deren Auftrag sie Parteigenossen in der DDR anschrieben.310 Der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock verurteilte – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – Otto Krüger zu lebenslänglich Zuchthaus und Paul Behm zu l5 Jahren Zuchthaus wegen Verbrechens gegen Artikel 6 der DDR-Verfassung.311 Im Februar 1969 wurde die Strafe von Otto Krüger nach über 14 Jahren im Haftarbeitslager in Berlin-Hohenschönhausen und im Zuchthaus Branden308 Vgl. Treffbericht, HA V/2/2, 23.3.1955. BStU, MfS, AIM 439/57, A-Akte Bd. 1, S. 168; Zwischenbericht, HA V/2/2, 23.6.1955. Ebenda, P-Akte, Bl. 62–64, hier 63; Schlussbericht, HA V/6, 30.8.1956. BStU, MfS, AOP 600/56, S. 48 f.; Beschluss, HA V/6, 30.8.1956. Ebenda, S. 50 f.; Zwischenbericht, HA V/2, 11.6.1955. BStU, MfS, AOP 4220/71, Bd. 1, S. 307–312, hier 311. Dieselbe Funktion übte GM »Steffen« auch bei der Entführung des Journalisten Karl Wilhelm Fricke Anfang April 1955 aus. 309 Anklageschrift, Staatsanwalt am Bezirksgericht Rostock, 4.11.1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 5, S. 145–157, hier 145 f. Nach Ermittlungen des MfS hatte Otto Krüger 34 Funktionäre des Partei- und Staatsapparates und Behm 5 Parteimitglieder angeschrieben. Vgl. Bericht, HA V/2, 30.11.1955. BStU, MfS, AOP 4220/71, Bd. 1, S. 99–104, hier 102; Schlussbericht, HA V/6, 30.8.1956. BStU, MfS, AOP 600/56, S. 48 f. 310 Vgl. Bericht, Otto Krüger, 23.12.1969. BArch, B 209/1070, o. Pag.; Bericht, Otto Krüger, 14.1.1970. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 210 f. 311 Vgl. Protokoll Hauptverhandlung, Bezirksgericht Rostock, 15.11.1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 5, S. 167–188; Urteil, Bezirksgericht Rostock, 15.11.1955. Ebenda, S. 189–197; längere Zitate aus dem Urteil siehe Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 211–213.
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burg-Görden auf 15 Jahre herabgesetzt. Dieser sogenannte Gnadenerweis des DDR-Staatsrates schuf die formale Voraussetzung für seine Haftentlassung im November desselben Jahres, nachdem die Bundesregierung ihn freigekauft hatte.312 Behms Haftstrafe minderte der DDR-Staatsrat bereits im Oktober 1960 auf zehn Jahre, sodass er im März 1965 freigelassen worden wäre. Doch nach neuneinhalb Jahren Haft, größtenteils im Haftarbeitslager des MfS in Berlin-Hohenschönhausen, hatte er den Durchhaltewillen verloren: Am frühen Morgen des 10. September 1964 erhängte er sich, nachdem sein Gesuch auf eine vorzeitige Entlassung abgelehnt worden war.313 Fallbeispiel 8: Die Entführung des geflohenen MfS-Mitarbeiters Walter Thräne Die Verbissenheit der MfS-Spitze bei der Verfolgung von Geflohenen aus den eigenen Reihen zeigt sich auch darin, dass das MfS gegen sie noch das Mittel der Entführung richtete, als es bei der Verfolgung von Mitarbeitern antikommunistischer Organisationen und westlicher Geheimdienste weitgehend Abstand von dieser Methode genommen hatte. So sind für das Jahr 1962 zwar noch zehn Entführungs- und Verschleppungsfälle registriert, bei sechs handelte es sich dabei allerdings um Festnahmen an der Grenze und bei einem Fall um eine Spontanentführung. Nur die drei übrigen Entführungen erfolgten unter der direkten Regie des MfS, das auf diesem Wege zwei geflohener Mitarbeiter habhaft wurde. Einer von ihnen war Walter Thräne, dessen Entführungsfall in der Forschung und den Medien bereits weitgehend bekannt ist – nicht zuletzt aufgrund der nachgewiesenen Verstrickung des Spionagechefs Markus Wolf, die 1997 zu seiner Verurteilung führte.314 Der 1926 geborene Walter Thräne war seit 1956 Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Wissenschaftlich-Technische Auswertung (AG WTA) im MfS, die 312 Vgl. Gnadenentscheidung, Staatsrat der DDR, 28.2.1969. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 6, S. 1; Beschluss, Bezirksgericht Rostock, 30.10.1969. Ebenda, Bd. 8, S. 139; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 213; Schubert/Seifert: Aktion Christiansen, S. 7 f. Zum Haftarbeitslager vgl. Peter Erler: »Lager X«. Das geheime Haftarbeitslager des MfS in Berlin-Hohenschönhausen (1952–1974). Berlin 1997; Knabe: Lubjanka, S. 78 f. 313 Vgl. Spitzenmeldung, StVA Berlin I Kommando X, September 1964. BStU, MfS, AU 399/54, Bd. 13, S. 67; Bericht, HA IX/7, 14.9.1964. BStU, MfS, AS 376/64, S. 3–9; Fricke/ Ehlert: Staatssicherheitsaktionen, S. 1197. 314 Vgl. Der schreibt keine Karte mehr. In: Der Spiegel, Nr. 5/1992, S. 70–79; Ein Zeuge wider die Staatssicherheit. Ex-Hauptmann Walter Thräne gestorben. In: Tagesspiegel, 2.2.1994; Zigarren für die Menschenräuber. Der Fall Walter Thräne: Gab Ex-Spionagechef Markus Wolf den Befehl zur Entführung in die DDR? In: Die Zeit, Nr. 7/1997; Der Auftritt des Generals aus dem Schattenreich. In: Die Welt, 7.1.1997; Suche nach Blut an den Händen. In: Der Spiegel, Nr. 2/1997, S. 32–35; Fricke: Verräter, S. 263 f.; ders.: Geschwafel, S. 21; ders./Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1208; Bästlein: Fall Mielke, S. 187–192. Das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf gegen Markus Wolf vom 27.5.1997 ist gedruckt in: Marxen/Werle: Spionage, S. 165–197. Wolf wurde wegen Freiheitsberaubung in 4 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
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im Zweig der Industriespionage tätig war. In Zusammenarbeit mit der HV A arbeitete die WTA an der Nutzbarmachung technischer Neuentwicklungen aus dem Westen für die DDR-Wirtschaft. Da Thräne in der WTA bis zum stellvertretenden Leiter aufstieg, verfügte er über sensible Informationen. Nachdem er aber wegen Korruptionsvorwürfen und undisziplinierten Verhaltens gemaßregelt und degradiert worden war, floh er Mitte August 1962 mithilfe eines Sonderausweises über den Grenzübergang Friedrichstraße nach West-Berlin.315 Er wollte sich jedoch nicht den westlichen Geheimdiensten stellen und dort sein Wissen preisgeben, sondern dem Geheimdienstmilieu den Rücken kehren. Daher vermied er auch das Notaufnahmeverfahren und suchte sich für seinen angestrebten Neubeginn im Westen andere Unterstützung. Er bat in West-Berlin einen GM mit dem Decknamen »Max« um Hilfe, den er von seiner Arbeit für die WTA kannte und mit dem er in diesem Rahmen MfS-Gelder veruntreut hatte. Tatsächlich kümmerte sich »Max« um Thräne und seine mit ihm geflohene Freundin: Er besorgte ihnen nicht nur ein Hotelzimmer, sondern durch Bestechung auch bundesdeutsche Pässe und brachte sie schließlich in die Nähe von Stuttgart zu einem Ingenieur, der als GM »Alfred Ruf« ebenfalls technische Geräte für das MfS beschaffte.316 Doch zugleich informierte er den Staatssicherheitsapparat, wo Thränes Flucht für großen Wirbel gesorgt hatte und bereits die Möglichkeiten für eine »Rückholung« erörtert wurden. Unter Federführung von Markus Wolf als Chef der HV A begannen nach dem Eingang der Informationen des GM »Max« umgehend die konkreten Planungen für eine Entführung. So standen schon wenige Tage nach Thränes Flucht die Grundzüge seiner Entführung fest, die in Österreich erfolgen sollte. Zu diesem Zweck beauftragte die HV A den GM »Alfred Ruf«, den bei ihm untergekommenen Thräne und seine Freundin nach Österreich zu bringen. Das Ziel dieses Auftrags wurde ihm nicht verheimlicht und rief bei ihm augenscheinlich Bedenken hervor, denn er gab den Auftrag an einen Freund weiter. Bei dem Freund handelte es sich um einen KPD-Anhänger, der als GI »Heinrich« ebenfalls für das MfS in der Bundesrepublik aktiv war. Thräne von einem Neuanfang in Österreich zu überzeugen, fiel nicht schwer. Schließlich war er sich der Gefahr bewusst, die ihm aus der DDR drohte. Dieses Wissen veranlasste 315 Vgl. Zeugenaussage Walter Thräne, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 4.9.1991. Landgericht Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 1, Bl. 7–13, hier 7–10; Urteil gegen Markus Wolf, Oberlandesgericht Düsseldorf, 27.5.1997. Ebenda, Bd. 3, Bl. 101–161, hier 121 f.; Anklageschrift gegen Paul Bilke, Staatsanwaltschaft II Landgericht Berlin, 20.1.1998. Ebenda, Bl. 166–209, hier 175; Aktenvermerk, MfS, August 1962. BStU, MfS, HA II 1408, Bd. 1, S. 58–62. 316 Vgl. Zeugenaussage Walter Thräne, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 4.9.1991. Landgericht Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 1, Bl. 7–13, hier 10 f.; Urteil gegen Markus Wolf, Oberlandesgericht Düsseldorf, 27.5.1997. Ebenda, Bd. 3, Bl. 101–161, hier 123 f.; Anklageschrift gegen Paul Bilke, Staatsanwaltschaft II Landgericht Berlin, 20.1.1998. Ebenda, Bl. 166–209, hier 182 f.; Urteil gegen Paul Bilke, Landgericht Berlin, 22.7.1998. Ebenda, Bd. 4, Bl. 104–126, hier 109–111.
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ihn anscheinend jedoch nicht zu einem ausreichenden Maß an Misstrauen gegenüber seinen Helfershelfern. So stieg er Anfang September 1962 in das Auto des GI »Heinrich«, als dieser ihn und seine Freundin in Oberösterreich vom Bahnhof Kremsmünster abholte, um sie angeblich zu ihrem neuen Quartier zu bringen. Die Fahrt endete jedoch in einem Steinbruch, in dem bereits ein Überfallkommando des MfS wartete. Thräne wurde mit vorgehaltener Pistole aus dem Wagen gezerrt und niedergeschlagen, wie auch seine Freundin. Beide erwachten erst am Mittag des nächsten Tages in einem Gefängnis des tschechoslowakischen Geheimdienstes in Prag, mit dem das MfS im Vorfeld alle notwendigen Absprachen getroffen hatte. Noch am selben Tag brachte man sie per Flugzeug nach Ost-Berlin und dort in die MfS-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen.317 Nach fast fünfmonatiger Untersuchungshaft verurteilte der 1. Strafsenat am Bezirksgericht Neubrandenburg in einer einstündigen Geheimverhandlung Walter Thräne zu 15 Jahren und seine Freundin zu vier Jahren Zuchthaus. Die Tatsache, dass Thräne den Kontakt mit westlichen Geheimdiensten gemieden hatte, dürfte ihm das Leben gerettet haben. Nach seiner Verurteilung verblieb Thräne als Sondergefangener in MfS-Gewahrsam in Hohenschönhausen, und zwar über zehn Jahre lang in Isolationshaft. Seine Entlassung im Januar 1973 erfolgte unter der Auflage, dass er sich in Eisenhüttenstadt niederlässt. Dort lebte er unter strenger MfS-Kontrolle bis zum Zusammenbruch des SED-Regimes.318 Fallbeispiel 9: Die Entführung des geflohenen MfS-Mitarbeiters Alfred Glaser Wenige Monate vor der gewaltsamen Entführung von Walter Thräne hatte das MfS bereits einen anderen geflohenen MfS-Mitarbeiter auf eine ähnlich spektakuläre Weise in die DDR »zurückgeholt«. Im Alter von 32 Jahren hatte Alfred Glaser im Sommer 1952 die Arbeit als hauptamtlicher Mitarbeiter im Staatssicherheitsapparat aufgenommen. Nach zwei Monaten in der MfSKreisdienststelle Haldensleben wechselte er zum September 1952 in die Abteilung XV des MfS Berlin. Ein Jahr später wurde er Leiter der Abteilung VII in 317 Vgl. Zeugenaussage Walter Thräne, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 4.9.1991. Landgericht Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 1, Bl. 7–13, hier 12 f.; Urteil gegen Markus Wolf, Oberlandesgericht Düsseldorf, 27.5.1997. Ebenda, Bd. 3, Bl. 101–161, hier 123–129; Anklageschrift gegen Paul Bilke, Staatsanwaltschaft II Landgericht Berlin, 20.1.1998. Ebenda, Bl. 166–209, hier 177–196; Urteil gegen Paul Bilke, Landgericht Berlin, 22.7.1998. Ebenda, Bd. 4, Bl. 104–126, hier 111–114. 318 Vgl. Zeugenaussage Walter Thräne, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 4.9.1991. Landgericht Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 1, Bl. 7–13, hier 12 f.; Urteil gegen Markus Wolf, Oberlandesgericht Düsseldorf, 27.5.1997. Ebenda, Bd. 3, Bl. 101–161, hier 129 f.; Anklageschrift gegen Paul Bilke, Staatsanwaltschaft II Landgericht Berlin, 20.1.1998. Ebenda, Bl. 166–209, hier 200 f.; Urteil, Bezirksgericht Neubrandenburg, 24.1.1963. BStU, MfS, GH 317/85, Bd. 4, S. 225–241; Bericht, Abt. XXI, 20.1.1973. BStU, MfS, Disz. 6978/92, S. 74–76; Bericht, HA Kader und Schulung Abt. Disziplinar, 8.2.1973. Ebenda, S. 79 f. Vgl. Fricke: Verräter, S. 263 f.; ders./Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1208.
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der MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg. Doch nach Einschätzung des MfS überforderte ihn die Leitungstätigkeit, sodass er im September 1955 zurückgestuft wurde. Über ein Jahr war er noch im Dienstgrad eines Oberleutnants in den MfS-Kreisdienststellen Magdeburg, Haldensleben und Forst als Hauptsachbearbeiter tätig. Im August 1956 bat er um eine Entpflichtung aus persönlichen Gründen. Die Abteilung Kader und Schulung der MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg befürwortete seinen Antrag, zu einer Entpflichtung kam es jedoch nicht. Im Dezember 1956 floh er in den Westen, da er eine Bestrafung befürchtete. Er hatte einen operativen Auftrag nicht erfüllt und sich bereits mehrfach Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin zuschulden kommen lassen. Nach Aufenthalten in Notaufnahmelagern in West-Berlin, Gießen und Weinsberg ließ er sich Anfang des Jahres 1958 in der Nähe von Neckarsulm nieder, wo Verwandte seiner Ehefrau lebten. Im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens kam er mit westlichen Geheimdiensten in Kontakt, von denen er eingehend vernommen wurde.319 Das MfS war ihm bereits seit seiner Flucht dicht auf den Fersen. Ein GM aus dem Notaufnahmelager Marienfelde informierte, dass Alfred Glaser sich dort aufhalte und bei der britischen Sichtungsstelle Angaben über ihm bekannte GM in der Bundesrepublik gemacht habe. Im alarmierten Staatssicherheitsapparat wurden daraufhin umgehend Maßnahmen ergriffen, um die betroffenen GM noch warnen zu können. Man registrierte jedoch auch, dass zwei westdeutsche GM anscheinend bereits festgenommen wurden.320 Fortlaufend berichteten verschiedene GM über die weiteren Aufenthaltsorte von Alfred Glaser in West-Berlin und seine Bewachung durch mehrere Personen in Zivil.321 »Ich halte diese Sache für den Vorgang Nr. 1, den zu erledigen wir beide uns verpflichtet fühlen sollten«, teilte im Januar 1957 der Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit Bruno Beater dem Leiter der Hauptabteilung II mit. »Mich laufend zu informieren, weise ich an, wobei ich hoffe, dass es uns bald gelingt, eine Operation zu starten.«322
319 Vgl. Beurteilung, KD Magdeburg, 31.3.1956. BStU, MfS, KS 430/60, S. 93 f.; Dienststellungs-Attestierungsblatt, Abt. Kader, 1.8.1954. Ebenda, S. 167–171; Vorschlag, Leiter BV Magdeburg, 4.8.1955. Ebenda, S. 172 f.; Stellungnahme, HA Kader und Schulung, 6.9.1955. Ebenda, S. 174; Entpflichtungsersuch, Alfred Glaser, 24.8.1956. Ebenda, S. 183 f.; Aktenvermerk, BV Magdeburg Abt. Kader und Schulung, 30.8.1956. Ebenda, S. 188 f.; Sachstandsbericht, MfS, 2.5.1962. BStU, MfS, HA II Nr. 4607, S. 7–15; Zwischenbericht, Abt. XXI, 23.5.1962. Ebenda, S. 55–72; Schlussbericht, MfS, 2.7.1962. BStU, MfS, HA II Nr. 4608, S. 102–120, hier 103–115. 320 Vgl. Bericht, HA II, 13.12.1956. BStU, MfS, AOP 10926/65, Bd. 1, S. 18 f. 321 Vgl. Bericht über Treffen mit GM »York«, Abt. II/2, 29.12.1956. BStU, MfS, AOP 10926/75, Bd. 1, S. 27; Bericht, GM »Peter Stücke«, 28.12.1956. Ebenda, S. 28; Bericht über Treffen mit KP »Piotter«, HA II/2, 8.1.1957. Ebenda, S. 29. 322 Mitteilung, Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit an Leiter der HA II, 18.1.1957. BStU, MfS, AOP 10926/75, Bd. 1, S. 36. Vgl. Beschluss, HA II Leitung, 25.5.1957. Ebenda, S. 11 f.
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Der Umzug von Alfred Glaser in die Bundesrepublik verzögerte dieses Vorhaben jedoch, da zunächst sein neuer Wohnort in Erfahrung gebracht werden musste.323 Doch dann begannen im Sonderreferat 3 der Hauptabteilung II die Vorbereitungen für die gewünschte »Operation«, Alfred Glasers Entführung. Zu diesem Zweck wurde der GM »Neuhaus« als Kopf einer Entführer-Gruppe »Blitz« im Februar 1958 in Glasers Wohnort geschickt, um dort Informationen über seine Wohnung, die Umgebung und seine Lebensgewohnheiten zu sammeln. Zudem sollte der GM »Neuhaus« bereits Ausschau nach einem möglichen Tatort halten. Auftragsgemäß erstattete »Neuhaus« einige Tage später Bericht und unterbreitete seinem Führungsoffizier konkrete Ideen zum Zeitpunkt der Entführung, zum Einsatz verschiedener Fahrzeuge sowie zur Fahrtroute. Seinem Vorschlag entsprechend, Alfred Glaser um 6.00 Uhr morgens auf dem Weg zur Arbeit zu überfallen, empfahl er, die Entführung unbedingt in den nächsten Tagen durchzuführen, um die noch herrschende Dunkelheit um diese Uhrzeit auszunutzen.324 Auf Grundlage der von »Neuhaus« erbrachten Informationen erstellte die Hauptabteilung II/SR 3 daraufhin einen detaillierten Entführungsplan, der sowohl vom Leiter der Hauptabteilung II Josef Kiefel als auch von Bruno Beater als Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit per Unterschrift genehmigt wurde. Wie von »Neuhaus« vorgeschlagen, sollte Alfred Glaser morgens auf dem Weg zur Arbeit überfallen werden. Die dreiköpfige Entführer-Gruppe »Blitz« – bestehend aus den GM »Neuhaus«, »Alfons Dietrich« und »Schubert« – sollte ihm in der Nähe seines Wohnhauses und eines Kriegerdenkmals auflauern, ihn überfallen und in ein Auto zerren. Auf der Fahrt Richtung Heidelberg sollte er, nachdem er bereits gefesselt und geknebelt wurde, in Decken eingewickelt und an einer einsamen Stelle in den Kofferraum des Pkw umgeladen werden. Die Fahrtroute über Würzburg, Bamberg und Kronach sollte die Entführer in die Gegend von Tschirn im Frankenwald führen, wo eine Straße unmittelbar entlang der Grenze zur DDR verlief. Dort sollten sie in der Nähe einer Mühle Alfred Glaser eine ca. 15 Meter tiefe Böschung hinunterwerfen, an deren Fuß zwei Mitarbeiter der Hauptabteilung II/SR 3 und der Grenzsachbearbeiter der Kreisdienststelle Lobenstein in Uniformen der Grenzpolizei warten sollten. Gemeinsam mit den GM »Alfons Dietrich« und »Schubert« sollten diese hauptamtlichen Mitarbeiter sodann den nun in einer Zeltplane eingewickelten Glaser zu Fuß über einen ca. 50 Meter hohen Hang in die Nähe eines drei bis vier Kilometer entfernten Dorfes bei Lobenstein transportieren. Von dort aus 323 Eine umfangreiche Postkontrolle und die wiederholte Befragung von Alfred Glasers Bruder, selbst Mitarbeiter der MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg, sollten die nötigen Informationen liefern. Vgl. Mitteilung, Bruder von Alfred Glaser an Leiter der BV Magdeburg, 19.8.1957. BStU, MfS, AOP 10926/75, Bd. 1, S. 139; Bericht, HA II/SR 3, 4.2.1958. Ebenda, S. 177 f. 324 Vgl. Auftrag, HA II/SR 3, 12.2.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 16 f.; Bericht, GM »Neuhaus«, 21.2.1958. Ebenda, S. 23–28.
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sollte Alfred Glaser nach Ost-Berlin gebracht werden. Währenddessen sollte der GM »Neuhaus« den für die Entführung benutzten Mietwagen nach Nürnberg zurückbringen und mit dem Zug nach Berlin fahren. Als technische Mittel benötige man eine Spritze mit einem Betäubungsmittel, das ungefähr fünf Stunden wirke, sowie eine Pistole mit vollem Magazin.325 Nachdem der GM »Neuhaus« nochmals die Stelle der Grenzschleusung inspiziert und als »sehr ideal« befunden hatte, sollte der Entführungsplan Anfang März 1958 zur Durchführung kommen.326 Doch die GM der EntführerGruppe »Blitz« lauerten zwei Tage lang vergeblich in der Nähe von Glasers Wohnung, er tauchte nicht auf. Außerdem sah »Neuhaus« seine Gruppe gefährdet, da es am vorgesehenen Tattag morgens um 6.00 Uhr bereits taghell war und somit die Festnahme von Alfred Glaser entscheidend erschwert wurde. »Neuhaus« brach die Aktion ab und machte sich mit seinen beiden Komplizen auf den Rückweg nach Berlin. Einer von ihnen, der GM »Schubert«, wurde auf der Rückfahrt im Zug bei einer Passkontrolle von der bundesdeutschen Polizei festgenommen. Die beiden anderen GM konnten der Festnahme nur tatenlos zusehen.327 Im November 1958 traf das Sonderreferat 3 der Hauptabteilung II Vorbereitungen für einen erneuten Entführungsversuch, wiederum sollte die dreiköpfige Entführer-Gruppe »Blitz« zum Einsatz kommen. Nach Beobachtungen vor Ort durch die GM »Neuhaus« und »Bär« veränderte man den bisherigen Entführungsplan nur in einigen Details: Wieder sollte Alfred Glaser auf dem Weg zur Arbeit überwältigt, mit einer Betäubungsspritze außer Gefecht gesetzt und im Kofferraum eines Pkw abtransportiert werden. Nach kurzer Fahrt sollte »an einer geeigneten Stelle« angehalten und »der G. nochmals richtig verpackt [werden], um ein Schreien, Strampeln oder Stöhnen auszuschließen«.328 Die Grenzschleuse329 sollte sich dieses Mal in der Nähe von 325 Der Entführungsplan wurde mit Fotos und Skizzen von dem Wohnort und der Grenzschleuse illustriert. Vgl. Plan, HA II/SR 3, 24.2.1958. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 95–106. Eine zweite Version des Entführungsplans sah als alternativen Schleusungspunkt den Grenzübergang bei Helmstedt vor. Dieser sollte ganz normal angefahren werden und im Fall einer drohenden Fahrzeugkontrolle mit Vollgas passiert werden. Vgl. Plan, HA II/SR 3, 24.2.1958. BStU, MfS, AOP 10926/65, Bd. 1, S. 186–190. 326 Vgl. Zusatzplan, HA II/SR 3, 3.3.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 53. 327 Vgl. Bericht, GM »Neuhaus«, 8.3.1958. Ebenda, S. 344–348; Bericht, HA II/SR 3, 12.3.1958. Ebenda, S. 57; Treffbericht, HA II/SR 3, 12.3.1958. BStU, MfS, AIM 3370/61, P-Akte, S. 34 f.; Einschätzung, HA II/SR 3, 15.7.1959. Ebenda, S. 83 f. GM »Schubert« wurde im August 1959 aus westdeutscher Haft entlassen. Er hatte unter Verdacht gestanden, an einer anderen Entführung beteiligt gewesen zu sein, wurde aber freigesprochen. Vgl. Treffbericht, HA II/SR 3, 2.9.1959. BStU, MfS, AIM 3370/61, A-Akte, S. 243 f. 328 Plan, HA II/SR 3, 24.11.1958. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 88–92, hier 90; vgl. Auftrag, HA II/SR 3, 27.10.1958. BStU, MfS, AIM 3112/83, Teil II/2 FK 1, S. 54–56; Bericht, GM »Bär«, 14.11.1958. Ebenda, Teil II/2 FK 2, S. 2–4; Auftrag, HA II/SR 3, 17.11.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 139–141.
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Neustadt bei Coburg am Rande des Thüringer Walds befinden. Dort mussten ebenfalls umfangreiche Maßnahmen getroffen werden: Der dortige Stacheldraht sollte so präpariert werden, dass er kurzfristig entfernt werden konnte. Nach der Durchfahrt des Entführungswagens sollten dann drei Mitarbeiter der Hauptabteilung II sowohl den Stacheldraht als auch den Zehnmeterstreifen wieder in Ordnung bringen. Währenddessen sollte im Waldstück hinter den Grenzanlagen das Kennzeichen des Wagens mit einer Nummer aus der DDR getauscht werden. Ferner sollte sich in einem »Objekt« der MfSBezirksverwaltung Suhl ein Arzt in Bereitschaft halten, falls Alfred Glaser ärztliche Hilfe benötigen sollte. Die Liste an technischen Mitteln beinhaltete neben dem Entführungswagen, der möglichst ein Mercedes 200 sein sollte, eine West-Pistole mit sieben Schuss, eine Betäubungsspritze, zwei Gummiknüppel, Handschellen, Stricke und Decken.330 Doch der Entführungsplan kam wieder nicht zur Durchführung, vielleicht weil die MfS-Kreisdienststelle Sonneberg eine intensive Kontrolltätigkeit des Bundesgrenzschutzes in dem Grenzabschnitt meldete, wo die Schleusung des entführten Alfred Glasers erfolgen sollte. Die HA II/SR 3 beantragte aber schon einmal den Kauf eines Mercedes 220 »für die Durchführung einer wichtigen Schleusung aus Westdeutschland«, da er »einen großen Kofferraum hat und auch die dementsprechende Schnelligkeit besitzt«.331 Im Frühjahr 1959 änderte das Sonderreferat 3 der Hauptabteilung II die Strategie: Nun sollte der GM »Bär« sich in Heilbronn ansiedeln, dort ein Arbeitsverhältnis eingehen und Kontakt zu Alfred Glaser aufbauen. Wenn sich die Verbindung gefestigt hatte, sollte »Bär« eine gemeinsame Kneipentour organisieren, an der auch GM »Neuhaus« als angeblicher Geschäftsfreund teilnehmen sollte. Am Ende des Abends sollten die beiden GM sodann Glaser in die DDR bringen. Als der GM »Bär« im März 1959 eine Arbeitsstelle als Vertreter in West-Berlin erhielt, bot sich ihm tatsächlich die Möglichkeit, sich unauffällig in der Umgebung von Heilbronn als Vertreter zu bewegen. Fortan ermittelte »Bär« im Auftrag des MfS erneut in Glasers Wohnort, sammelte Informationen über ihn und nahm Kontakt zu ihm auf.332 Im August dessel329 Das MfS verfügte generell über »Operative Grenzschleusen« (OGS) an unübersichtlichen Stellen an der innerdeutschen Grenze sowie an der Grenze zwischen West-Berlin und DDR-Gebiet, um Grenzkontrollen umgehen zu können. Vgl. Angela Schmole: Grenzschleuse, operative (OGS). In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 104. 330 Vgl. Plan, HA II/SR 3, 24.11.1958. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 88–92. Dieselbe Grenzschleuse wollte das MfS bei einer Entführung des BND-Chefs Reinhard Gehlen 1954 nutzen. Vgl. Bubke: Einsatz, S. 94 f., 133. 331 Vorschlag, HA II/SR 3, 26.11.1958. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 87; vgl. Mitteilung »Betr.: Ihre geplanten Maßnahmen an der Staatsgrenze in unserem Kreis«, BV Suhl, KD Sonneberg an die HA II/SR 3, 24.11.1958. BStU, MfS, AOP 10926/65, Bd. 1, S. 206 f. 332 Vgl. Bericht, GM »Bär«, 13.2.1959. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 55–57; Bericht, GM »Bär«, 23.6.1959. Ebenda, S. 50–54; Bericht, HA II/SR 3, 24.7.1959. Ebenda, S. 46–48; Vorschlag,
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ben Jahres entstand auf diesen Kenntnissen ein neuer Entführungsplan: Die GM »Bär« und »Neuhaus« sollten Glaser an einem Sonnabend Mitte August vor dessen Stammkneipe auflauern und ihn mit zwei Stahlruten bewaffnet überfallen. »Ordnungsgemäß verpackt« sollten sie ihn im Kofferraum ihres Wagens in der Nähe von Haig in Richtung des thüringischen Sonneberg über die Grenze bringen. Ein Hinweis in dem Entführungsplan lässt erahnen, dass das MfS auch einen Mord erwog: »Sollten irgendwelche ernste Komplikationen mit G. P. eintreten, so wird eine aktive Maßnahme durchgeführt und alle Spuren beseitigt, hierüber erhalten die GMs mündliche Hinweise.«333 Mit dem Auftrag, »alle Gewohnheiten des G. und die Möglichkeiten einer Festnahme des G. restlos aufzuklären«, schickte das MfS den GM »Bär« wieder in Glasers Wohnort.334 Dort traf »Bär« Alfred Glaser jedoch nicht an, da dieser sich für einige Wochen in Kur befand.335 Die geplante Aktion kam wieder nicht zur Durchführung, stattdessen festigte der GM »Bär« weisungsgemäß seinen Kontakt zu ihm bis in den Sommer des Jahres 1960.336 Aus den abgefangenen Briefen von Alfred Glaser wusste das MfS, dass dieser mit einer Entführung rechnete und sehr wachsam war. Man hoffte jedoch, dass er nach fast vier Jahren in der Bundesrepublik unachtsamer wurde.337 Doch die Strategie des MfS ging zunächst nicht auf. Denn Alfred Glaser wurde misstrauisch, nachdem er von bundesdeutschen Stellen, vermutlich dem BND, vor dem vermeintlichen Vertreter gewarnt worden war. Seine Ehefrau und sein Schwager wurden in diesem Zusammenhang informiert und um Wachsamkeit gebeHA II/SR 3, 24.2.1959. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 277–279; Plan, HA II/SR 3, 14.5.1959. BStU, MfS, AIM 3112/83, Bd. I/1, S. 84 f.; Treffbericht, HA II/SR 3, 5.3.1959. Ebenda, Teil II/2 FK 3, S. 40 f.; Auftrag, HA II/SR 3, 14.5.1959. Ebenda, Teil II/2 FK 4, S. 14–16; Bericht, GM »Bär«, 23.6.1959. Ebenda, S. 23–27; Auftrag, HA II/SR 3, 1.7.1959. Ebenda, S. 34–36; Bericht, GM »Bär«, 24.7.1959. Ebenda, S. 46 f.; Vorschlag, GM »Bär«, 24.7.1959. Ebenda, S. 52 f.; Treffbericht, HA II/SR 3, 28.7.1959. Ebenda, S. 57 f.; Plan, HA II/SR 3, 4.8.1959. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 41–44. 333 Plan, HA II/SR 3, 4.8.1959. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 41–44, hier 43. GM »Bär« wurde nach Heilbronn geschickt, um einen Pkw zu kaufen. Vgl. Auftrag, HA II/SR 3, 4.8.1959. BStU, MfS, AIM 3112/83, Teil II/2 FK 5, S. 9 f.; Bericht, GM »Bär«, 20.8.1959. Ebenda, S. 15. 334 Auftrag, HA II/SR 3, 21.8.1959. BStU, MfS, AIM 3112/83, Teil II/2 FK 5, S. 22–24. 335 Vgl. Treffbericht, HA II/SR 3, 17.9.1959. BStU, MfS, AIM 3112/83, Teil II/2 FK 5, S. 29 f.; Bericht, GM »Bär«, 16.9.1959. Ebenda, S. 33. 336 Vgl. 8 Berichte, GM »Bär«, 17.9.1959–5.5.1960. BStU, MfS, AOP 10926/65, Bd. 1, S. 223–229, 236–246, 250 f.; Auftrag, HA II/SR 3, 18.9.1959. BStU, MfS, AIM 3112/83, Teil II/2 FK 5, S. 44–46; Bericht, GM »Bär«, 12.10.1959. Ebenda, Teil II/2 FK 6, S. 5–8; Bericht, GM »Bär«, 16.11.1959. Ebenda, S. 30–33; Auftrag, HA II/SR 3, 16.11.1959. Ebenda, S. 34 f.; Bericht, GM »Bär«, 23.11.1959. Ebenda, S. 46–49; Treffbericht, HA II/SR 3, 24.11.1959. Ebenda, S. 50 f.; Auftrag, HA II/SR 3, 9.12.1959. Ebenda, Teil II/3 FK 1, S. 12 f.; Treffbericht, HA II/SR 3, 28.12.1959. Ebenda, S. 16; Auftrag, HA II/SR 3, 29.1.1960. Ebenda, S. 50 f.; Zwischenbericht, HA II/1c, 7.3.1960. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 14–16; Bericht, HA II/1c, 4.5.1960. Ebenda, S. 9 f.; 2 Berichte, GM »Bär«, 4./5.8.1960. Ebenda, S. 7 f. 337 Vgl. Maßnahmeplan, Abt. XXI, 20.7.1960. BStU, MfS, AOP 10926/65, Bd. 2, S. 106–108.
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ten. Mehrfach warnten bundesdeutsche Stellen den geflohenen MfSMitarbeiter vor Racheakten seines ehemaligen Dienstherrn, so auch als im Frühjahr 1961 ein ehemaliger Kollege auftauchte.338 Tatsächlich handelte es sich um einen GM mit dem Decknamen »Busch«, und zwar aus der MfSAbteilung XXI, die den Vorgang »Schakal« übernommen hatte.339 Diese Diensteinheit führte die Untersuchungen beim Verdacht des Überlaufens sowie bei Verratsfällen und gehörte somit zu den Abteilungen, die in den eigenen Reihen tätig waren.340 Nach Darstellung der MfS-Abteilung XXI informierte Alfred Glaser umgehend den BND über die Bekanntschaft und das Treffen des ehemaligen Kollegen. Der BND habe Glaser und dessen Ehefrau daraufhin beauftragt, ihn im Auge zu behalten, um seine Verbindung zum MfS zu ergründen. Da sich die Ehefrau des Alfred Glaser jedoch dem ehemaligen Kollegen offenbart habe, sei das MfS stets über die Maßnahmen des BND informiert gewesen.341 Im Mai 1962 registrierte das MfS: »Gegenüber Fremden ist er sehr misstrauisch, da er damit rechnet vom MfS in die DDR zurückgeholt zu werden.«342 Das bekundete er auch gegenüber seinem ehemaligen Kollegen alias GM »Busch«, der trotz Glasers Vorsicht dessen Vertrauen gewinnen konnte. Alfred Glaser wähnte den GM in derselben Situation wie sich selbst, er glaubte, auch ihm würde eine drakonische Strafe bei einer Rückkehr in die DDR drohen. Dass dieser sich durch die Zusammenarbeit mit dem MfS Straffreiheit erkaufen könnte, erwog Glaser wohl nicht.343 Mit der Durchführung der gewaltsamen Entführung von Alfred Glaser im Mai 1962 beauftragte das MfS schließlich zwei weitere GM, die bereits mehrere ähnliche Aktionen durchgeführt und vorbereitet hatten.344 »Donner« und »Teddy« waren 1960 mit ihrem Führungsoffizier Josef Kiefel von der Hauptabteilung II (Spionageabwehr) zur Abteilung XXI (Innere Sicherheit im MfS) gewechselt.345 Nachdem diese Diensteinheit im Frühjahr 1961 den GM »Busch« als ehemaligen Kollegen auf Alfred Glaser angesetzt hatte, schickte sie im Mai 1961 zusätzlich den GM »Donner« in Glasers Wohnort, um dort die Vorarbeiten für eine Entführungsaktion zu leisten. Dieser vermeldete kurze Zeit später: »Ferner habe ich die Sache in Ha. so weit, dass anschließend der 338 Vgl. Interview mit Schwager von Alfred Glaser am 2.2.2009. 339 Vgl. Zwischenbericht, HA II/1c, 7.3.1960. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 14–16; Begleitschreiben, HA II/1c an Abt. 21, 9.3.1960. Ebenda, S. 13; Maßnahmeplan, Abt. XXI, 20.7.1960. BStU, MfS, AOP 10926/65, Bd. 2, S. 106–108. 340 Vgl. Gieseke: Mitarbeiter, S. 280; Sälter: Repression, S. 27 f. 341 Vgl. Bericht, Abt. 21, 27.9.1966. BStU, MfS, HA II Nr. 4608, S. 215–220, hier 216 f. 342 Sachstandsbericht, MfS, 2.5.1962. BStU, MfS, HA II Nr. 4607, S. 7–15, hier 15. 343 Vgl. ebenda und Interview mit Schwager von Alfred Glaser am 2.2.2009. 344 Bereits im Januar 1959 hatte der GM »Donner« die Gegebenheiten im Wohnort für die Durchführung einer Entführung überprüft und diese in den Morgen- oder Abendstunden als möglich eingeschätzt. Vgl. Bericht, GM »Donner«, 12.1.1959. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 59. 345 Vgl. Gieseke: Josef Kiefel, S. 647 f.
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›Import‹ dieses Herrn sofort durchgeführt werden kann.«346 Im April 1962 kam es in diesem Zusammenhang wohl zu einer Art Generalprobe, über die »Donner« Bericht erstattete und somit einen Einblick in die Planungen des MfS lieferte. Anscheinend sollte GM »Busch« dafür sorgen, dass er mit Alfred Glaser nach reichlichem Alkoholkonsum eine Autofahrt unternimmt. Bei dieser sollte er sodann an einer Eisenbahnbrücke zwischen Heidelberg und Heilbronn die GM »Donner« und »Teddy« treffen, um gemeinsam Alfred Glaser in die DDR zu bringen. An jenem Aprilabend wartete »Donner« an der Eisenbahnbrücke auf einen Borgward Isabella und beobachtete die Insassen, als dieser dort Halt machte. In seinem Bericht äußerte »Donner« angesichts der Schlangenlinienfahrt des Borgward starke Bedenken. Denn der ebenfalls unter Alkoholeinfluss stehende GM »Busch« erschien ihm, »in keiner Weise in diesem Zustand auch nur im entferntesten […] sein Fahrzeug mit Garantie zweckentsprechend steuern« zu können.347 Er sollte Recht behalten. Als es am Abend des 10. Mai 1962 tatsächlich zur Durchführung der Entführungsaktion kommen sollte, erschien der GM »Busch« verspätet und allein an der Eisenbahnbrücke. Im alkoholisierten Zustand hatten sie einen Autounfall gehabt, in dessen Folge Alfred Glaser ins Krankenhaus in Neckarsulm eingeliefert worden war. Nach Darstellung des GM »Donner« fuhr er mit »Teddy« und »Busch« daraufhin nach Ost-Berlin, um neue Instruktionen abzuholen. Nachdem er alle Anwesenden einschließlich des verantwortlichen Oberst Josef Kiefel von der Durchführbarkeit der Aktion überzeugt habe, seien sie am nächsten Tag nach Neckarsulm gefahren. Im dortigen Krankenhaus habe GM »Busch« den Alfred Glaser unter dem Vorwand in »Donners« Wagen gelockt, dass dieser ein Mitarbeiter einer Versicherung sei und mit ihm in die Büroräume der Versicherung fahren wolle. Auf dem Weg zur Autobahn Richtung Heidelberg, so »Donner« in seiner Rückschau, habe Alfred Glaser die Falle erkannt und angefangen, im Wagen zu randalieren. Aber er, »Donner«, habe ihn unter Drohung mit seiner Waffe ruhiggestellt. Im Kofferraum, den er mit Zollschnur und Bleiplombe versiegelt habe und dessen Inhalt laut Zollbegleitschein als Transitgut gekennzeichnet gewesen sei, habe er Alfred Glaser schließlich über den Grenzübergang Hof in die DDR gebracht.348 Es ist fraglich, inwieweit sich die Entführung tatsächlich so ereignet hat wie in der Darstellung des GM »Donner«, der durch sein Geltungsbedürfnis zu 346 Nachricht, GM »Donner« an »Chef« [MfS-Oberst Josef Kiefel], o. D. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/2, S. 163 f., hier 163. Vgl. Nachricht, GM »Donner« an »Chef«, 6.5.1961. Ebenda, Bd. II/4, S. 138; Bericht, MfS, 5.7.1961. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 2 f. 347 Bericht, GM »Donner«, 15.4.1962. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/2, S. 188–191, hier 189. 348 Vgl. Schreiben, Hans Wax an das MfS, 15.7.1973. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 4, S. 149– 182, hier 172–179; Abschrift einer von Hans Wax besprochenen Tonbandkassette, MfS, 16.8.1984. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/24, S. 116–121, hier 118 f.
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Übertreibungen neigte. Von Alfred Glaser selbst ist zum Tatgeschehen nur wenig überliefert. Er bestätigte den Autounfall und die Einlieferung ins Krankenhaus, gegen die er sich gewehrt habe, da er gar nicht schwer verletzt gewesen sei. Aber das Letzte, an das er sich vor seiner Entführung erinnern könne, sei eine Krankenschwester gewesen, die ihm etwas zu trinken gebracht habe. Danach habe er das Bewusstsein verloren und sei erst wieder in DDR-Haft aufgewacht. Tatsächlich erscheint »Donners« Version zweifelhaft, dass es gelingen konnte, Alfred Glaser unter dem abwegigen Vorwand eines Gesprächs mit einem Versicherungsvertreter aus dem Krankenhaus zu locken. Andererseits gab Alfred Glaser aber auch an, dass er im Vorfeld seiner Entführung einen Versicherungsvertreter kennengelernt habe, der dann an der Entführungsaktion beteiligt gewesen sei.349 Und hätte sich der geltungsbedürftige GM »Donner« nicht erst recht mit dem Erfolg gebrüstet, einem Patienten in einem westdeutschen Krankenhaus ein Betäubungsmittel verabreicht und diesen anschließend unbemerkt aus dem Krankenhaus entführt zu haben? Das MfS entlohnte jedenfalls drei GM für ihren Einsatz im Zusammenhang mit der Entführung von Alfred Glaser: »Donner« mit 10 000 M/DDR, »Teddy« und »Busch« mit jeweils 5 000 M/DDR.350 Die Anklagepunkte gegen Alfred Glaser waren nicht nur seine Desertion, seine umfangreiche Auskunft über das MfS gegenüber westlichen Geheimdiensten und das Anschreiben ehemaliger Kollegen im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes, sondern auch eine Zusammenarbeit mit dem BND. Mindestens einmal monatlich habe er sich seit 1958 mit BND-Mitarbeitern getroffen, denen er mehrere DDR-Bürger für eine potenzielle Zusammenarbeit mit dem BND empfohlen habe. Ferner habe er mit seinen Angaben gegenüber dem BND im Juni 1959 für die Verhaftung eines MfS-Agenten gesorgt. Und auch die Aufforderung des BND, den im Sommer 1961 aufgetauchten ehemaligen Kollegen und GM des MfS im Auge zu behalten, wurde Alfred Glaser nun als feindliche Tätigkeit angerechnet.351 Er erhielt eine lebenslängliche Zuchthausstrafe, die 1969 im Rahmen eines Gnadenentscheids des Staatsrates auf 15 Jahre herabgesetzt wurde.352 Nach über zehn Jahren Haft wurde er im 349 Vgl. Interview mit Sohn von Alfred Glaser am 8.9.2009. 350 Vgl. Vorschlag, Abt. 21, 14.5.1962. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/2, S. 220. 351 Vgl. Zwischenbericht, Abt. XXI, 23.5.1962. BStU, MfS, HA II Nr. 4607, S. 55–72; ca. 20 Vernehmungsprotokolle, MfS, 12.5.–19.6.1962. Ebenda, S. 16–54, 73–88, 91–182; Schlussbericht, MfS, 2.7.1962. BStU, MfS, HA II Nr. 4608, S. 102–120; ca. 10 Vernehmungsprotokolle, MfS, 20.6.–13.7.1962. Ebenda, S. 7–92, 121–124, 133–139; Auswertungsbericht, Abt. XXI, 24.9.1962. Ebenda, S. 181–205; Bericht, Abt. XXI, 27.9.1966. Ebenda, S. 215–220; Anklageschrift, MilitärOberstaatsanwalt, 19.7.1962. BStU, MfS, GH 19/63, Bd. 2, S. 240–247. 352 Vgl. Urteil, Bezirksgericht Neubrandenburg, 14.8.1962. BStU, MfS, GH 19/63, Bd. 2, S. 228–236; Gnadenentscheid, Vorsitzender des Staatsrates Walter Ulbricht, 23.9.1969. Ebenda, Bd. 5, S. 68; Vorschlag, HA IX/5, 17.10.1964. BStU, MfS, AS 3/73, Bd. 1, S. 2–12, hier 8. Laut einem Bericht der HA IX wurde Glaser in der Haft als ZI geworben und auf den ebenfalls geflohenen
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September 1972 in die DDR entlassen, wohin auch seine Familie zurückgekehrt war. Seine Ehe war inzwischen jedoch zerbrochen.353
III.
Entführungsaktionen als Ausdrucksform geheimdienstlicher Gewalt in stalinistischer Tradition
»Politische Menschenraubaktionen«, so schreibt Karl Wilhelm Fricke in seinem Buch über seine eigene Entführung, »waren im geteilten Berlin der Nachkriegszeit ein durchaus gebräuchliches Mittel des östlichen Untergrundkampfes gegen West-Berlin, das teils vom sowjetischen Geheimdienst, teils vom Staatssicherheitsdienst in ungehemmter Skrupellosigkeit praktiziert wurde.«354 Als »Schild und Schwert der Partei« war das MfS nur der Partei, respektive der SED-Führungsspitze Rechenschaft schuldig. Auf diese Weise konnte es in seiner Arbeit nicht nur permanent gegen die internationalen Menschenrechte, sondern auch gegen geltendes DDR-Recht verstoßen – wie beispielsweise bei den Entführungen. Angesichts der erdrückenden Beweislast können selbst ehemalige hohe MfS-Funktionäre die Entführungsaktionen nicht verleugnen, greifen aber zu einer geschickten Rechtfertigungsstrategie. Beobachten lässt sich dies in einem jüngst erschienenen Buch mit dem Titel »Fragen an das MfS«, das unter Mitwirkung mehrerer MfS-Mitarbeiter entstanden ist und sachkundige Antworten auf Fragen »von Gymnasiasten, Studenten und interessierten, aber unbefriedigt informierten Zeitgenossen« liefern soll. Das MfS-»Autorenkollektiv« hinter den beiden ehemaligen Stellvertretern des Ministers für Staatssicherheit Werner Großmann und Wolfgang Schwanitz räumt ein, dass es wenige Fälle solcher Entführungen bis Anfang der 1960er Jahre gegeben habe – »in der Zeit zügellosen Terrors und massiver Hetze und Spionagehandlungen gegen die sich unter schwierigen und einzigartigen Bedingungen entwickelnde DDR«. Zwar seien diese Aktionen durchaus anfechtbar, aber es gelte zu berücksichtigen, dass die DDR zu dieser Zeit aufgrund fehlender Rechtshilfeabkommen und mangels internationaler Fahndungsmögund entführten MfS-Mitarbeiter Walter Thräne angesetzt. Vgl. Bericht, HA IX/5, 21.9.1966. BStU, MfS, HA IX Nr. 18870, S. 193 f. 353 Das MfS bereitete seine Rückkehr nach Thüringen akribisch vor. Vgl. Beschluss, Bezirksgericht Neubrandenburg, 22.9.1972. BStU, MfS, GH 19/63, Bd. 2, S. 281; Plan, KD Haldensleben, 18.9.1972. BStU, MfS, KS 430/60, S. 18–20; Maßnahmeplan, KD Haldensleben, 30.10.1972. Ebenda, S. 21–23. Das MfS warb Glaser als IM an, um ihn unter besserer Kontrolle zu haben. Die IM-Akte enthält keine Treffberichte und nur einen Bericht von Glaser. Vgl. Beschluss, BV Magdeburg, 18.4.1973. BStU, MfS, BV Magdeburg, AIM 148/84, Bd. 1, S. 5 f.; Verpflichtungserklärung, Alfred Glaser, 18.4.1973. Ebenda, S. 87; Bericht, Referat für Koordinierung, 19.4.1973. Ebenda, S. 92 f.; Maßnahmeplan, Abt. XXI, 2.4.1973. Ebenda, S. 11 f.; Beschluss, BV Magdeburg, Abt. Kader und Schulung, 18.11.1983. Ebenda, S. 287 f. 354 Fricke: Akten-Einsicht, S. 36.
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lichkeiten über keine Mittel zur Durchsetzung ihrer Rechtsansprüche verfügt habe. Diese seien jedoch evident gewesen, denn »in allen Fällen handelte es sich um Personen, die schwere Verbrechen gegen die DDR begangen und sich dafür auch vor DDR-Gerichten zu verantworten hatten«. Außerdem seien aus politischen Gründen ebenfalls von bundesrepublikanischer Seite »Entführungen inszeniert bzw. DDR-Bürger bei Aufenthalten in der BRD inhaftiert« worden.355 In einer anderen Rechtfertigungsschrift bezeichnen ehemalige MfSMitarbeiter die Entführungen als eine »normale« geheimdienstliche Methode, die auch von anderen Staaten wie den USA oder der damaligen Bundesrepublik praktiziert worden sei.356 Als Beispiel nennen sie die angebliche Verschleppung des Ost-CDU-Politikers und stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates der DDR Otto Nuschke am 17. Juni 1953. In einem RIASInterview bekundete dieser selbst, von Westberliner Demonstranten »geraubt« worden zu sein. Demonstranten hatten ihn an der Sektorengrenze zwischen Treptow und Kreuzberg mit seinem Wagen auf Westberliner Gebiet abgedrängt, wo ihn die Westberliner Polizei festnahm. Nach dortigen Vernehmungen konnte er 36 Stunden später wieder nach Ost-Berlin zurückkehren.357 Ferner ziehen die ehemaligen MfS-Funktionäre auch die berühmte Entführung des früheren SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann zur Untermauerung ihrer Argumentation heran.358 Der israelische Geheimdienst Mossad entführte Eichmann, der in der NSZeit im Reichssicherheitshauptamt für die Deportation von Millionen Juden verantwortlich war, im Mai 1960 in Argentinien.359 Die Bekanntgabe dieser Festnahme durch den israelischen Ministerpräsidenten David Ben Gurion einige Tage später sorgte weltweit für Aufsehen. Er erklärte vor dem israelischen Parlament Knesset, Eichmann sei vom israelischen Geheimdienst »aufge355 Großmann/Schwanitz: Fragen, S. 295 f. 356 Vgl. Bischoff/Coburger: Strafverfolgung, S. 208. 357 Vgl. Großmann/Schwanitz: Fragen, S. 296; Bischoff/Coburger: Strafverfolgung, S. 209 f.; Berichte, Generalsekretär der Ost-CDU an den Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl, 18.6.1953. BArch NY 4062/95, S. 18–22; siehe URL: http://www.17juni53.de/chronik/530619/doc_3.html (letzter Zugriff: 3.6.2012); RIAS-Interview mit Otto Nuschke. Vgl. http://www.17juni53.de/ audio/track18.mp3 (letzter Zugriff: 3.6.2012); Gegendarstellungen vgl. Leo Haupts: »Die CDU ist die Partei, in der am stärksten der Feind arbeitet«. Die Ost-CDU im Krisenjahr 1953. In: Ilko-Sascha Kowalczuk, Armin Mitter, Stefan Wolle (Hg.): Der »Tag X« 17. Juni 1953. Berlin 21996, S. 278–310, hier 296 f.; Gunter Holzweißig: Der 17. Juni 1953 und die Medien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 53(2003)23, S. 33–38, hier 36; Manfred Rexin: Zur Rolle Westdeutschlands und West-Berlins am 16./17. Juni 1953. In: Roger Engelmann, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Volkserhebung gegen den SEDStaat. Göttingen 2005, S. 84–91, hier 89; URL: http://www.17juni53.de/karte/berlin_2.html (letzter Zugriff: 3.6.2011). 358 Vgl. Bischoff, Coburger: Strafverfolgung, S. 209. 359 Vgl. Shlomo Shpiro: Eichmann und der Mossad. In: Krieger, Wolfgang (Hg.): Geheimdienste in der Weltgeschichte. München 2003, S. 298–313, hier 299–304; Shlomo Shpiro: Parliamentary and Judicial Oversight of Israel's Intelligence Community. In: Wolbert Smidt u. a. (Hg.): Geheimhaltung und Transparenz. Münster 2007, S. 196–213, hier 198, 201.
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spürt« worden und befinde sich nun in Israel in Haft. Im April 1961 wurde gegen Eichmann in Jerusalem der Prozess eröffnet, in dem er schließlich zum Tode verurteilt wurde. In der Absicht, auf die rechtswidrige Entführung Eichmanns aufmerksam zu machen, beantragte sein Rechtsanwalt mit Hinweis auf Ben Gurions Erklärung die Vernehmung des Piloten und eines Angestellten der Fluglinie, die Eichmann aus Argentinien ausgeflogen hatte. Mit diesem Antrag hatte er keinen Erfolg. Nach Auslegung des Generalstaatsanwalts gab Ben Gurions Erklärung nur die Auskunft, dass der israelische Geheimdienst Eichmann »gefunden«, nicht entführt hätte. Der Gerichtshof war der Ansicht, dass der Hintergrund des Handelns der Entführer (im Auftrag der israelischen Regierung oder als Privatpersonen) und der Bruch des Völkerrechts für das Verfahren unerheblich seien. Als Eichmann am 31. Mai 1962 gehängt wurde, soll er kurz vor seiner Hinrichtung zu einem der anwesenden Entführer gesagt haben: »Ich hoffe, du wirst nach mir an der Reihe sein!«360 Das öffentliche Aufsehen galt in erster Linie der Person Eichmann als NSVerbrecher – der Deutsche Bundestag debattierte zu dieser Zeit gerade über die Verjährungsfrist für Totschlagsdelikte als Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen –, weniger seiner völkerrechtswidrigen Entführung. In den Zeitungen erschienen aus Mangel an zuverlässigen Informationen allerdings wilde Spekulationen über die Umstände der Festnahme Eichmanns. Die Bekanntmachung von Details wurde durch die israelische Regierung verhindert – auch aus Angst vor Vergeltungsaktionen des Militärregimes in Argentinien gegen dort lebende Juden. Generell bewahrte die israelische Regierung zunächst Stillschweigen, in der Hoffnung, diplomatischen Verwicklungen entgehen zu können. Der argentinischen Regierung war dies angesichts der eigenen heiklen Lage zunächst recht. Zwar konnte einerseits die Entführung eines Bürgers des eigenen Landes nicht mit Gleichmut hingenommen werden, andererseits handelte es sich um einen führenden NS-Verbrecher, der in Argentinien Unterschlupf gefunden hatte. Die weltweite Presseberichterstattung und der politische Druck rechtsgerichteter Kreise in Argentinien veranlassten die argentinische Regierung dann allerdings doch zum Protest gegen die Verletzung der Souveränität ihres Landes. Die folgenden diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und Argentinien, in denen beide stets den Wert ihrer Freundschaft betonten, waren schwierig. Eine Auslieferung Eichmanns und Bestrafung seiner Entführer, wie sie Argentinien forderte, war für Israel keine 360 Zvi Aharoni, Wilhelm Dietl: Der Jäger. Operation Eichmann: Was wirklich geschah. Stuttgart 1996, S. 267–281 (Zitat S. 271). Vgl. Shpiro: Eichmann, S. 298 f., 312 f.; Gordon Thomas: Die Mossad-Akte. Israels Geheimdienst und seine Schattenkrieger. München 1999, S. 81. Laut Thomas sagte Eichmann zu seinem Entführer: »Auch Du kommst an die Reihe, Jude.« Zum Prozess gegen Eichmann: Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. München 1964; Christina Große: Der Eichmann-Prozess zwischen Recht und Politik. Frankfurt/M. 1995; Peter Krause: Der Eichmann-Prozess in der deutschen Presse. Frankfurt/M./New York 2002.
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Option. Vielmehr warb es bei der argentinischen Regierung wiederholt um Verständnis. Argentinien rief den UN-Sicherheitsrat an, der sich mit der Verletzung der Souveränitätsrechte Argentiniens durch Israel befassen sollte. Die Delegationen im UN-Sicherheitsrat brachte diese Anrufung in eine schwierige Lage: Auf der einen Seite stand die Verpflichtung, eine solche Souveränitätsverletzung zu beanstanden, aber eine Verurteilung Israels widerstrebte ihnen angesichts der Person Eichmanns. Der Sicherheitsrat wählte einen Mittelweg: Er verabschiedete die Resolution Argentiniens, erkannte aber mit diesem Schritt und der offiziellen Entschuldigung Israels die von argentinischer Seite geforderte »angemessene Wiedergutmachung« als erfüllt.361 Der Zweck – die Bestrafung eines NS-Verbrechers – rechtfertigte die Mittel.362 Die Jagd nach NS-Verbrechern war einer von mehreren Wirkungsbereichen des israelischen Geheimdienstes, die jenseits der traditionellen Geheimdienstarbeit lag. Zurückzuführen ist dies auf sein Selbstverständnis, nicht nur im Interesse und zum Schutz des Staates Israel, sondern der Juden weltweit zu agieren. Israelische Agenten suchten seit den 1940er Jahren nach NSVerbrechern, so auch nach Eichmann, über den der Mossad bis 1958 eine umfangreiche Akte zusammengetragen hatte.363 Freigegebene CIA-Akten offenbaren, dass der BND bereits 1958 dem CIA Eichmanns Aufenthalt in Argentinien mitteilte. Dieses Wissen führte jedoch zu keinen weiteren Maßnahmen, denn die Bundesrepublik hatte kein Auslieferungsabkommen mit Argentinien und zudem anscheinend wenig Interesse. Schließlich konnte Eichmanns Aussage auch den Kanzleramtschef und ehemaligen Kommentator der Nürnberger Rassegesetze Hans Globke belasten. An den israelischen Geheimdienst gelangten die Informationen über Eichmanns Aufenthalt in der Nähe von Buenos Aires über den hessischen Generalstaatsanwalt und Holocaust-Überlebenden Fritz Bauer. Ein ehemaliger KZ-Häftling, der in Buenos Aires lebte, hatte ihn im September 1957 informiert. Da Bauer an der Haltung der bundesdeutschen Regierung und Justiz zweifelte, gab er die entscheidenden Hinweise unter Umgehung der deutschen Behörden nach Israel. Zumal er fürchtete, ein Auslieferungsgesuch könnte Eichmann warnen und ihm ein Untertauchen ermöglichen. Aber auch Israel zögerte zunächst, da man die 361 Vgl. Moshe Pearlman: Die Festnahme des Adolf Eichmann. Frankfurt/M. 1961, S. 173–199; Hans Mommsen: Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann. In: Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. München/Zürich 81992, S. I–XXXVII, hier I; Marc von Miquel: Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren. Göttingen 2004, S. 90, 205; Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Bonn 2003, S. 185 f. 362 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die heutige Wortwahl, so schreibt beispielsweise Norbert Frei, dass Israel Eichmann »dingfest machte«. Vgl. Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1999, S. 406. Hans-Ulrich Wehler formuliert, Eichmann sei »vom israelischen Geheimdienst gefaßt« worden. Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990. Bonn 2009, S. 289. 363 Vgl. Shpiro: Eichmann, S. 301–303; Pearlman: Festnahme, S. 89–111.
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Vereinbarung mit der Bundesrepublik über Waffenlieferungen nicht gefährden wollte.364 Die Entscheidung zur Entführung Eichmanns fiel 1959, nachdem Bauer, der wiederholt auf ein Eingreifen gedrängt hatte, einen weiteren Informanten geliefert hatte. Mit der Entführungsaktion überraschte Israel nicht nur den BND, sondern auch die CIA.365 Eichmanns Entführung gleicht in der Vorgehensweise den Entführungsmethoden des MfS: Im Vorfeld hatten israelische Geheimagenten Eichmann permanent beobachtet, seinen Tagesablauf und seine Gewohnheiten dokumentiert sowie Informationen über sein Haus und die Umgebung gesammelt. Mit der Entführung hatte Mossad-Chef Isser Harel ein Team aus erfahrenen Agenten beauftragt, die sich freiwillig für die Aktion meldeten und von denen einige Holocaust-Überlebende waren. Mit falschen Ausweisen – darunter auch deutsche Identitäten, bei deren Beschaffung der BND im Austausch gegen Informationen über die DDR behilflich gewesen war – waren sie einzeln aus verschiedenen Ländern in Argentinien eingereist. Am Abend des 11. Mai 1960 lauerten sieben Agenten in der Nähe der Bushaltestelle in San Fernando, an der Eichmann täglich zur selben Zeit aus dem Bus stieg. Zwei von ihnen täuschten Reparaturarbeiten an einem Auto vor, in dem der Anführer des Einsatzkommandos wartete. In einigen Metern Entfernung parkte ein zweites Auto, dessen Scheinwerfer Eichmann blenden sollte, was der Absicherung der Aktion dienen sollte. Der heute 84-jährige Anführer des Entführerkommandos erinnert sich: »Wir haben bestimmt hundert Mal geübt, wie Eichmann in 20 Sekunden überwältigt und in das Auto geschleppt werden sollte.« Aus Angst vor einer diplomatischen Krise bei einem Misslingen der Aktion hätten sie keine Waffen getragen.366 Drei Mossad-Agenten überwältigten Eichmann auf offener Straße, zerrten ihn in den Wagen und brachten ihn – durch den dichten Straßenverkehr – zunächst in eine speziell angemietete Villa. Dort hatten sie eine geheime Kammer für Eichmann gebaut, damit er im Falle einer Polizeidurchsuchung nicht entdeckt werden würde. Neun Tage später schmuggelten sie Eichmann per Flugzeug außer Landes, nachdem sie ihn durch eine Injektion betäubt und ihm die Uniform einer israelischen Fluggesellschaft angezogen hatten. Noch in Argentinien hatten die Mossad-Agenten Eichmann informiert, dass ein Prozess gegen ihn in Israel beabsichtigt sei. Sie 364 Das spätere Einlenken in die bundesdeutsche Initiative, dass Globke im Eichmann-Prozess und den dazugehörigen Publikationen keine Erwähnung fand, dürfte in diesem Zusammenhang stehen. 365 Vgl. Shpiro: Eichmann, S. 305–308; Wehler: Gesellschaftsgeschichte, S. 289; Aharoni/Dietl: Jäger, S. 117–130; Als Israelis den Nazi Adolf Eichmann entführten. In: Die Welt, 11.5.2010; Deutscher Geheimdienst schützte Eichmann. In: Süddeutsche Zeitung, 7.6.2006; Der Endlöser. In: Süddeutsche Zeitung, 11.5.2010; Unter Freunden. In: Die Zeit, Nr. 25/2006; Plaudereien aus Pullach. In: Der Spiegel, Nr. 24/2006, S. 48 f. 366 Als Israelis den Nazi Adolf Eichmann entführten. In: Die Welt, 11.5.2010.
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hatten sich von Eichmann sogar eine schriftliche Einwilligung geben lassen, ihn zu diesem Zweck außer Landes zu bringen. Diese Erklärung diente Israel später als Argumentationshilfe in der diplomatischen Auseinandersetzung mit Argentinien.367 Die Eichmann-Entführung verschaffte dem Mossad legendären Ruhm. Er setzte danach seine weltweite Jagd nach NS-Verbrechern noch einige Jahre fort. Im Jahr 1964 entsandte er sogar ein Mordkommando nach Südamerika, um den als »Henker von Riga« bekannten NS-Verbrecher Herbert Cukurs zu töten, der in Brasilien lebte. In Uruguay lockte man ihn in eine tödliche Falle, sein Leichnam mit zahlreichen Schussverletzungen würde später in einer Holzkiste entdeckt.368 Eichmanns Entführung stand nicht im Kontext des Ost-West-Konfliktes. Aber sie zeigt, dass Entführungen tatsächlich ebenfalls zum Repertoire westlicher Geheimdienste zählten, obwohl diese als Organe eines Rechtsstaats der Kontrolle demokratisch gewählten Institutionen unterliegen – auch wenn diese demokratische Kontrolle nicht frei von Defiziten war und ist.369 Entführungsaktionen scheinen in der Praxis westlicher Geheimdienste im Ost-WestKonflikt aber eher exzeptionellen Charakter gehabt zu haben. Fragen nach einer solchen Entführungspraxis westlicher Geheimdienste können allerdings nicht geklärt werden, da sie ihre Unterlagen unter Verschluss halten.370 Karl Wilhelm Fricke, der als engagierter Journalist selbst vom MfS entführt wurde und sich seitdem der Aufklärung dieser MfS-Methode gewidmet hat, konstatiert, dass westliche Nachrichtendienste nach seiner Kenntnis keine Entfüh-
367 Vgl. Shpiro: Eichmann, S. 306–311; Aharoni/Dietl: Jäger, S. 131–263; Pearlman: Festnahme, S. 144–171, 176. Pearlman gibt an, man habe das Ausfliegen Eichmanns getarnt, indem man ihn als wohlhabenden Kranken ausgegeben habe. Die Journalistin Gaby Weber konstatiert hingegen, dass Eichmann mit einem kleinen Flugzeug (mit US-amerikanischer Registrierung) nach Uruguay ausgeflogen und erst dort in eine israelische Al-El-Maschine gebracht wurde. Vgl. Gaby Weber: Wie kam Adolf Eichmann wirklich nach Israel?, siehe: http://www.gabyweber.com/dwnld/artikel/eichmann/german/angebliche_Entfuehrung.pdf (letzter Zugriff: 3.6.2012). 368 Vgl. Shpiro: Eichmann, S. 312 f. 369 Zur parlamentarischen Kontrolle von Geheimdiensten vgl. Wolfgang Krieger: Die historische Entwicklung der Kontrolle von Geheimdiensten. In: Wolbert Smidt u. a. (Hg.): Geheimhaltung und Transparenz. Münster 2007, S. 15–29; Hansjörg Geiger: Wie viel Kontrolle ist möglich und nötig? Rechtliche Grundlagen und politische Praxis in Deutschland. In: ebenda, S. 33–45; Loch K. Johnson: Lawmakers and Spies. Congressional Oversight of Intelligence in the Unites States. In: ebenda, S. 173–192; Michael Herman: Democratic Oversight of Intelligence Services. The British Experience. In: ebenda, S. 93–105; Loch K. Johnson: Verdeckte Aktionen und die CIA. In: Wolfgang Krieger (Hg.): Geheimdienste in der Weltgeschichte. München 2003, S. 260–274, hier 271 f. 370 Im Zusammenhang mit der Eichmann-Entführung kämpft die Journalistin Gaby Weber um den Zugang zu den entsprechenden BND-Akten. Das Bundesverwaltungsgericht gab ihr im April 2010 Recht, dass der BND die Eichmann-Akte nicht komplett sperren darf, räumte dem Bundeskanzleramt als oberste Aufsichtsbehörde des BND allerdings einen Ermessensspielraum ein. Vgl. BND darf Eichmann-Akte nicht komplett sperren. In: Die Welt, 30.4.2010.
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rungen aus der Ostzone vorgenommen hätten.371 Der amerikanische Historiker Zachary Karabell verweist hingegen auf die Charakterisierung Berlins Mitte der 1950er Jahre in Ost und West als Stadt des Kidnapping, »weil es häufig zu Entführungen von Agenten der einen oder anderen Seite kam«. Beispiele bleibt er allerdings schuldig.372 In Bezug auf das Einsatzgebiet DDR erscheint es unwahrscheinlich, dass westliche Geheimdienste dort im vergleichbaren Maße wie das MfS Menschen entführten und verschleppten. In den MfS-Akten finden sich jedenfalls keine Hinweise auf derartige Entführungsaktionen, die sicherlich dokumentiert und untersucht worden wären. Ferner ist davon auszugehen, dass die tatkräftige Propaganda-Maschinerie des SED-Regimes über solche Fälle keinesfalls Stillschweigen gewahrt hätte.373 Interessanterweise fürchtete aber mancher Entführer-IM des MfS eine Entführung durch einen westlichen Geheimdienst zum Zweck der strafrechtlichen Verfolgung oder berichtete sogar über derartige Entführungsabsichten. So verdächtigte die GI »Lisa König« im Dezember 1960 einen Bekannten, von einem westlichen Geheimdienst auf sie angesetzt worden zu sein, um sie zu entführen. Vier Jahre zuvor war sie an einer gewaltsamen Entführung aus West-Berlin beteiligt.374 Ob es tatsächlich derartige Absichten westlicher Geheimdienste gab, lässt sich ohne Aktenzugang nicht feststellen. Vorstellbar sind Entführungsaktionen westlicher Geheimdienste in der DDR höchstens in Einzelfällen in diesem Rahmen einer grenzüberschreitenden Strafverfolgung oder im Umfeld der geheimdienstlichen Auseinandersetzung. Dabei dürfte es sich weniger um gewaltsame Entführungen als um Verschleppungen mit Täuschungsmanövern gehandelt haben. So ist es denkbar, dass westliche Geheimdienste Informanten eines östlichen Geheimdienstes nach West-Berlin gelockt haben, um sie dort festnehmen zu lassen. Es ist jedoch kein Fall bekannt.375 Sogar in den genannten Rechtfertigungsschriften ehemaliger MfS-Mitarbeiter bleibt der erwähnte Otto Nuschke das einzige 371 Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 36. 372 Karabell: CIA, S. 76 f. 373 Als »Menschenraub« wurden mitunter Fluchten dargestellt, zum Beispiel die Flucht des Radrennfahrers Jürgen Kissner aus der DDR-Olympiamannschaft in Köln 1964. Vgl. Jutta Braun, René Wiese: Eine sportliche »Fürsorgediktatur«? Planung, Förderung und Repression im Sport der DDR. In: Horch und Guck 21(2012)75, S. 4–9, hier 7. 374 Vgl. Treffbericht, HA VIII Operativ-Gruppe, 15.12.1960. BStU, MfS, AIM 6183/61, A-Akte Bd. 2, S. 46 f. Der GM »Konsul«, der 2 Entführungen durchgeführt hatte, berichtete, dass ein Bekannter Ende 1952 von einem westlichen Geheimdienst den Auftrag erhalten habe, einen Tatverdächtigen der Linse-Entführung in den Westen zu verschleppen. Vgl. Bericht, GI »Kanzler« [ehem. GM »Konsul«], 9.4.1959. BStU, MfS, AIM 271/58, A-Akte Bd. 7, S. 52. 375 Herbstritt nennt den Fall einer Agentin der rumänischen Securitate, die an 2 Entführungsaktionen beteiligt war. Das amerikanische CIC setzte sie 1958 unter Druck und forderte von ihr, den rumänischen Konsul nach West-Berlin zu locken. Sie offenbarte sich der Securitate, hielt in deren Auftrag noch einige Wochen Kontakt zum CIC und wurde dann zurückbeordert. Vgl. Herbstritt: Menschenraub, S. 25–27.
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Beispiel für eine vermeintliche Entführungsaktion von westlicher Seite.376 Entführungspläne wurden allerdings anscheinend auch in antikommunistischen Organisationen im Westen geschmiedet, wie Bernd Eisenfeld, Ehrhart Neubert und Ilko-Sascha Kowalczuk am Beispiel des »Komitees 17. Juni« veranschaulichen. Dort seien Entführungen von MfS-Mitarbeitern und Volkspolizisten geplant worden, zum Teil bis in ein fortgeschrittenes Stadium, aber nicht realisiert worden.377 Die Entführungsaktionen des MfS reichen aber auch in anderer Hinsicht über den engen geheimdienstlichen Rahmen, den die ehemaligen MfSObristen als Rechtfertigung stecken, hinaus. Tatsächlich versuchte das SEDRegime im Rahmen der nachrichtendienstlichen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West die Arbeit der westlichen Geheimdienste durch die Entführungen von Mitarbeitern und (vermeintlichen) Kontaktpersonen zu schwächen. Doch der Blick auf den Kreis der Entführten und die Funktion dieser Methode des MfS offenbart ihren spezifischen Charakter, der über die geheimdienstliche Gewalt hinausreicht: Das MfS rechtfertigte die Entführungen als Mittel zur Abwehr von feindlichen Agenten und Spionen, bediente sich dieser Methode gleichwohl aber zur Ausschaltung politischer Gegner und internen Repression. Dass westliche Geheimdienste die Entführung von feindlichen Agenten oder Überläufern erwog, ist noch denkbar. Die Entführung von Kritikern und politischen Gegnern der westlichen Staatsformen aus der DDR, ist jedoch mit großer Sicherheit auszuschließen. Diese signifikante Differenz dürfte zum einen auf die unterschiedliche Ausgangslage zurückzuführen sein: Zwar prägte die perzipierte Bedrohung durch den kommunistischen Machtblock auch die politische Kultur in der jungen Bundesrepublik und vergiftete diese mitunter sogar. Doch blieben die Maßnahmen gegen eine kommunistische Unterwanderung größtenteils auf die eigene Gesellschaft beschränkt.378 Der junge SED-Staat fühlte sich angesichts seiner eingeschränkten Souveränität wesentlich bedrohter: Seine staatliche Existenz war in gravierendem Maße von der Sowjetunion abhängig, auch nach der Beendigung des Besatzungsstatuts 1955. Eine diplomatische Anerkennung erlangte die DDR zu dieser Zeit nur in Ostblockstaaten – nicht zuletzt aufgrund der Hallstein376 Vgl. Großmann/Schwanitz: Fragen, S. 296; Bischoff/Coburger: Strafverfolgung, S. 208–210. Als Beispiele für die westliche Entführungspraxis führen Bischoff und Coburger an: die Entführung Eichmanns durch den Mossad 1963, die angebliche Entführung des panamesischen Staatsoberhauptes Manuel A. Noriega 1989 durch den CIA, die angebliche gewaltsame Entführung eines »nach Österreich geflüchteten deutschen Staatsbürgers« durch »BRD-Sicherheitsorgane« und die Verschleppung eines ehemaligen Angehörigen der US-Streitkräfte, der als IM für die HV A tätig war und in der DDR lebte, durch den US-Geheimdienst in den 1990er Jahren. 377 Vgl. Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Revolution, S. 512. Zur Geschichte des Komitees vgl. ebenda, S. 504–513. 378 Exemplarisch seien hier die Kriminalisierung von Kommunisten und der Umgang mit politisch Andersdenkenden in den 1950er Jahren genannt. Vgl. Creuzberger: Kampf, S. 431–458, 536 f.
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Doktrin, in deren Rahmen die Bundesrepublik Drittstaaten mit einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen drohte, wenn diese die DDR anerkannten. In der Systemkonkurrenz erwuchsen der DDR zudem schwerwiegende Herausforderungen in der geteilten Stadt Berlin. Durch den VierMächte-Status waren die Westmächte mitten im DDR-Territorium präsent. West-Berlin war nicht nur das »Schaufenster des Westens«, sondern auch ein wichtiger politischer, militärischer und nachrichtendienstlicher Stützpunkt. Die Durchlässigkeit der Sektoren- und Zonengrenze in Berlin vor 1961 ließ die Stadt darüber hinaus zum Fluchtschwerpunkt werden. Hier offenbarten sich die innenpolitischen Mißstände in der DDR: Der SED-Herrschaft fehlte weitgehend die Zustimmung der eigenen Bevölkerung, die »mit den Füssen abstimmte« und in erheblichem Ausmaß das Land verließ.379 Vor diesem Hintergrund sah das SED-Regime auch jenseits der Grenze Handlungsbedarf und griff auf die tradierten Gewaltformen des Stalinismus zurück. »Stalinismus und Terror sind Synonyme.«, konstatiert Jörg Baberowski. »Der Kern der stalinistischen Herrschaft bestand in der unablässigen Ausübung exzessiver Gewalt.«380 Mit Stalins Tod endete 1953 eine fast 30-jährige Gewaltherrschaft, der Millionen Menschen zum Opfer fielen. Mit drakonischen Mitteln verfolgte das Regime der Bolschewiki in der eigenen Bevölkerung jegliches abweichende Verhalten; ein bloßer Verdacht genügte. Diese ›Säuberung‹ der Gesellschaft von allen potenziellen Gegnern, die den Sieg des Sozialismus behindern könnten, traf alle gesellschaftlichen Milieus, von den unteren Schichten bis zur politischen Elite. Die Jagd auf »Saboteure«, »Spione« und »Feinde« machte selbst vor der kommunistischen Partei, den Staatsfunktionären und -apparaten nicht halt. Diese Ubiquität der Gewalt ist ein wesentliches Merkmal des Stalinismus. Sie wurde gerechtfertigt durch die angebliche Gefahr der »Konterrevolution« und/oder die Bedrohung durch imperialistische Mächte. Allein in der Phase des »großen Terrors« von August 1937 bis November 1938 starben mehr als 767 000 Menschen. Über 1,5 Millionen Menschen wurden zwischen Oktober 1936 und November 1938 verhaftet, von denen fast 670 000 erschossen wurden. Schätzungsweise mehr als 11 Millionen Menschen sind in den Jahren 1929 bis 1956 durch den stalinistischen Terror zu Tode gekommen, davon mindestens 8 Millionen in der ersten Phase des Stalinismus bis 1941. Zum Symbol des Terrors wurde der Archipel GULag, wo schätzungsweise 15 Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten 379 Vgl. Gerhard Sälter, Manfred Wilke: Ultima ratio: Der 13. August 1961. Der Mauerbau, die Blockkonfrontation und die Gesellschaft der DDR. Sankt Augustin/Berlin 2011, S. 32–34. 380 Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. Bonn 2007, S. 7. Vgl. Stefan Plaggenborg: Stalinismus als Gewaltgeschichte. In: ders. (Hg.): Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte. Berlin 1998, S. 71–112, hier 110; Bernd Bonwetsch: Terror und Subjekt im Stalinismus. In: Franz-Josef Jelich, Stefan Goch (Hg.): Geschichte als Last und Chance. Essen 2003, S. 265– 281, hier 265.
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mussten – seit Mitte der 1940er Jahre auch Zivilisten aus der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland, wie zum Beispiel Sozial-, Christ- und Liberaldemokraten, die der »Konterrevolution« beschuldigt wurden. Diese Zahlen geben einen Eindruck vom enormen Vernichtungspotenzial des Stalinismus und von der maßgeblichen Rolle von Gewalt im Stalinismus, bei dessen grundlegender Ideologie des Marxismus-Leninismus es sich nicht um eine Vernichtungsideologie handelte, auch nicht in ihrer stalinistischen Auslegung.381 Als Ausgangspunkt der stalinistischen Gewalt benennt Baberowski das Verlangen nach einer Überwindung von Ambivalenz und der Herstellung von Eindeutigkeit im russischen Vielvölkerreich.382 In diesem Sinne akzeptierten die Bolschewiki keine andere Weltanschauung als die eigene. Abweichende Ansichten und Haltungen wurden stigmatisiert, kriminalisiert und mit Vehemenz verfolgt. Denn die angestrebte sozialistische Gesellschaftsordnung sollte nicht nur frei von Ambivalenz sein, sondern auch frei von Feinden, also von Gegnern des bolschewistischen Gesellschaftsentwurfs. Die Folge war eine »Utopie der permanenten Säuberung«. Das bloße Misstrauen und der allgegenwärtige Verdacht, dass Menschen ihre Interessen und Wünsche einer neuen Gesellschaftsordnung nicht unterordnen würden, führte zu deren Verfolgung, Deportation und mitunter Ermordung. Stalin und seine Helfer, so konstatiert Baberowski, »kultivierten den Terror als Herrschaftsstil, weil sie sich keine Ordnung vorstellen konnten, die Gehorsam ohne Androhung und Anwendung von Gewalt erzwang«.383 Diese radikale Freund-Feind381 In den Lagern kamen ca. 3 Mio. Menschen um. Vgl. Baberowski: Terror, S. 7 f., 11, 183, 186, 200–202; Jörg Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. München 2012, S. 25, 160–199, 221–261, 294–362, 449–471; Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion. In: Stéphan Courtois u. a. (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus. München 1998, S. 51–295, hier 149–275; Wehner: Stalinismus, S. 368–387, 390; Plaggenborg: Gewaltgeschichte, S. 71–73, 112; Hermann Weber: Zur Rolle des Terrors im Kommunismus. In: Ulrich Mählert, Hermann Weber: Verbrechen im Namen der Idee. Terror im Kommunismus 1936–1938, Berlin 2007, S. 11–41, hier 23–27; Plaggenborg: Gewalt, S. 193–208, S. 193; Bonwetsch: Terror, S. 265–272; Ehrhart Neubert: Politische Verbrechen in der DDR. In: Stéphan Courtois: Das Schwarzbuch des Kommunismus. München 1998, S. 830–879, hier 863 f. Zum Archipel GULag vgl. Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULag. Bern 1974; Ralf Stettner: Archipel GULag: Stalins Zwangslager – Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Paderborn u. a. 1996; Bernd Bonwetsch: Der GULag und die Frage des Völkermords. In: Jörg Baberowski (Hg.): Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 111–144, hier 114–125, 137 f. Zu den stalinistischen Parteisäuberungen vgl. Hermann Weber, Ulrich Mählert (Hg.): Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936–1953. Paderborn 1998. 382 Vgl. Baberowski: Terror, S. 12; Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel: Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium. Bonn 2006, S. 15 f., 89; Jörg Baberowski: Diktaturen der Eindeutigkeit. Ambivalenz und Gewalt im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion. In: ders. (Hg.): Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 37–59, hier 53 f. 383 Baberowski: Verbrannte Erde, S. 15.
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Zuschreibung benötigte und vermittelte permanent ein Feindbild – wie das des »Klassen- und Volksfeinds«, »Verräters«, »Spions« oder »Saboteurs«.384 Nach Hannah Arendt handelte es sich hierbei um einen »objektiven Gegner«, dessen ›Verbrechen‹ nicht durch subjektive, sondern objektive Faktoren definiert werde: »Ist aber erst einmal objektiv entschieden, welches Verbrechen in einem bestimmten Moment der Geschichte gerade an der Tagesordnung ist, so müssen auch die ›Verbrecher‹ gefunden werden. [...] Der Begriff des ›objektiven Gegners‹, dessen Identität je nach Lage der Dinge wechselt – so daß, sobald eine Kategorie liquidiert ist, einer neuen der Krieg erklärt werden kann […]«385
Gewalt als einen Prozess mit Entstehungsbedingungen und Entwicklungen verstehend verweist Stefan Plaggenborg mit Blick auf die Gewalt im Stalinismus ferner auf die Gewalterfahrungen im Ersten Weltkrieg und in dem anschließenden Bürgerkrieg, aber vor allem auf die Oktoberrevolution. Denn in dieser hätten die Bolschewiki »die der Revolution innewohnende Gewalt übernommen«: »Aus der Gewalt der Massen wurde die Gewalt im Namen der Massen.«386 Elemente dieser ursprünglich revolutionären Gewalt seien beim folgenden Aufbau eines neuen Staates (unter der Führung einer gewaltbereiten Partei) eingeflossen, indem sie institutionalisiert und verrechtlicht worden sei. Die revolutionäre Gewalt wurde vereinnahmt und in staatliche Gewalt und Recht transformiert, das wiederum als Strafgewalt gegen die Gegner des neuen Staates eingesetzt wurde: Wer jetzt noch revoltierte, galt als ein »Konterrevolutionär« und wurde als solcher verfolgt.387 Gerechtfertigt und legitimiert wurde die Gewalt als notwendiges Mittel zur Überwindung der Klassengesellschaft und zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft.388 384 Baberowski/Doering-Manteuffel: Ordnung, S. 88; vgl. ebenda, S. 38–42, 50–58, 88 f.; Baberowski: Verbrannte Erde, S. 19, 25, 61, 63, 68; Baberowski: Terror, S. 13; Weber: Rolle des Terrors, S. 16 f.; Imbusch: Moderne, S. 490, 508 f.; Plaggenborg: Gewalt, S. 203. 385 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/M. 1955, S. 669 f. Bonwetsch erweitert die Theorie im Hinblick auf den stalinistischen Terror: »Der eigentlich soziologisch, an objektiven Merkmalen zu definierende Klassenfeind wurde anhand subjektiver Kriterien dingfest gemacht – anhand seines Verhaltens.« Vgl. Bonwetsch: GULag, S. 117 f. 386 Plaggenborg: Gewaltgeschichte, 1998, S. 79. Vgl. ders.: Gewalt, 1998, S. 206; Bonwetsch: GULag, 2006, S. 137 f.; Baberowski/Doering-Manteuffel: Ordnung, 2006, S. 19–31, 36; Wehner: Stalinismus, 1998, S. 365–372; Werth: Staat, S. 51–123. 387 Vgl. Plaggenborg: Gewaltgeschichte, 1998, S. 79 f., 84; ders.: Gewalt, 1998, S. 199; Stefan Plaggenborg: Staatlichkeit als Gewaltroutine. In: Alf Lüdtke, Michael Wildt: Staats-Gewalt. Ausnahmezustand und Sicherheitsregime. Göttingen 2008, S. 117–144, hier 124–128, 133; Jörg Baberowski: Verwüstetes Land: Macht und Gewalt in der frühen Sowjetunion. In: Jörg Baberowski, Gabriele Metzler (Hg.): Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand. Frankfurt/New York 2012, S. 169–187, hier 179 f., 184; Bonwetsch: Terror, 2003, S. 274. 388 Diese sozialrevolutionäre Legitimation von Gewalt findet sich bei sozialistischen Theoretikern wie Karl Marx, Lenin und Leo Trotzki. Vgl. Herfried Münkler, Marcus Llanque: Die Rolle der Eliten bei der Legitimation von Gewalt. In: Wilhelm Heitmeyer, John Hagan (Hg.): Internationales
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Die Herrschaftspraxis des Stalinismus inklusive der sozialrevolutionären Legitimation von Gewalt übertrug die UdSSR nach dem Kriegsende auf ihr Besatzungsregime in Deutschland. Die Verantwortlichen waren geprägt vom Bürgerkrieg, vom Weltkrieg mit seinen Gewaltexzessen und von stalinistischen Verfolgungspraktiken. Sie hatten eine politische Kultur erfahren und mitgetragen, die aus der permanenten »Suche nach Feinden«, der »Erzwingung von blindem Gehorsam und Konformität« und der »Verbreitung von Furcht und Schrecken« bestand.389 Die gewaltsame ›Ausschaltung‹ von politischen Gegnern stellte in ihren Augen eine normale Vorgehensweise dar. Die dominante Rolle von Gewalt in der politischen Kultur des Stalinismus ermöglichte und forcierte das gewaltsame individuelle Handeln.390 »Die sowjetische Staatssicherheit«, vermerken Sacharow, Filippovych und Kubina, »stand seit ihrem Bestehen und seit den zwanziger Jahren in zunehmenden Maße praktisch außerhalb der Gesetze, und selbst nach sowjetischem Recht ›rechtswidrige, verbrecherische Handlungen‹ gehörten seit langem zum Standard ›tschekistischer‹ Tätigkeit in der Sowjetunion.«391 Die ›Ausschaltung‹ von Regimegegnern war bereits seit vielen Jahren das Haupteinsatzgebiet des sowjetischen Geheimdienstes, dessen Mitarbeiter nun nach Deutschland kamen und dort den Aufbau eines Staatssicherheitsdienstes anleiteten. Die dabei demonstrierte Anwendung physischer Gewalt stieß – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Gewalterfahrungen, welche die deutschen Empfänger dieser Instruktionen selbst in der Weimarer Republik, in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg gesammelt hatten – nicht auf Ablehnung. Zumal diese »den Aufbau ihres neuen Staates als eine Fortsetzung des permanenten Bürgerkrieges, wie sie die Zeit seit 1918 interpretierten, mit anderen Mitteln« sahen.392 Importiert wurde von den sowjetischen Besatzern auch das Modell der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka. Die »Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution, Spekulation und Sabotage«, die im Dezember 1917 von der russischen Regierung als »Organ der Diktatur
Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002, S. 1215–1232, hier 1222–1226. Zu Entgrenzung von Gewalt im 20. Jahrhundert vgl. Schumann: Gewalt, 1997, S. 384–386. 389 Baberowski: Verbrannte Erde, S. 19. 390 Vgl. Plaggenborg: Gewalt, 1998, S. 206. Thomas Meyer schreibt: »Mentalitätsbestände und Verhaltensformen der politischen Kultur wirken als Gelegenheitsstrukturen mitverursachend für die politische Aktualisierung individueller und kollektiver Gewaltdispositionen.« Siehe Meyer: Politische Kultur, 2002, S. 1212. Zur Theorie der Gewalträume vgl. Jan C. Behrends: Gewalt und Staatlichkeit im 20. Jahrhundert. In: Neue Politische Literatur 58(2013)1, S. 39–58, hier 49. 391 Sacharov/Filippovych/Kubina: Tschekisten, 1998, S. 332 f. 392 Kowalczuk: Stasi konkret, S. 84. Vgl. ebenda, S. 79–84; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 27, 36 f.; ders.: Mitarbeiter, S. 94–109, 122–129, 544 f.; Engelmann: Aufbau, S. 57 f.; Neubert: Politische Verbrechen, S. 861 f.; Alf Lüdtke: 17. Juni 1953 in Erfurt. Ausnahmezustand und staatliche Gewaltrituale. In: Alf Lüdtke, Michael Wildt (Hg.): Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Göttingen 2008, S. 241–273, hier 262–269.
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des Proletariats zum Schutz der Staatssicherheit« gegründet wurde, diente im MfS-Apparat als fester Bezugspunkt. Das oft zitierte Leitbild vom MfS als »Schild und Schwert der Partei« hatte hier seinen Ursprung, denn als Sicherheitsdienst diente die Tscheka als Instrument zum Machterhalt der bolschewistischen Staatspartei. In den Jahren bis 1922 war sie für die willkürliche, massenhafte Liquidierung von tatsächlichen oder vermeintlichen Regimegegnern verantwortlich. Die Tscheka, deren Bezeichnung und strukturelle Zuordnung in den folgenden Jahren mehrfach wechselte (GPU, OGPU, NKWD, NKGB, MGB, KGB), war ein Hauptakteur des stalinistischen Terrors.393 Die Beschwörung einer tschekistischen Tradition lieferte im DDR-Staatssicherheitsdienst, wie Jens Gieseke herausgearbeitet hat, das geistige Rüstzeug auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Avantgarde-Theorie: Als bewaffneter Arm der kommunistischen Partei, die sich als »Vorhut der Arbeiterklasse« verstand, diente die Staatssicherheit der Durchsetzung und Verteidigung einer »Diktatur des Proletariats« als Übergang zu einer kommunistischen, klassenlosen Gesellschaftsordnung. Da eine solche »Diktatur des Proletariats« als vom Lauf der Geschichte vorbestimmt galt, erschien das Vorgehen gegen Gegner dieser Entwicklung als historisches Recht. Dementsprechend war dem Tschekismus als handlungsleitender Ideologie auch »ein positives, zuweilen nachgerade kulthaftes Verhältnis zur Gewalt als Mittel des ›Klassenkampfes‹« inhärent.394 Bei der Formierung des MfS-Apparates wurden die repressiven Methoden des sowjetischen Stalinismus übernommen; so erfolgte in den 1950er Jahren häufig der Rückgriff auf gewaltsame Vorgehensweisen (wie Folter bei Verhören und Entführungen). Es entstand »eine Atmosphäre des kalten Bürgerkriegs, die sich zugleich aus der Systemauseinandersetzung über die innerdeutsche Demarkationslinie speiste […]«395 Die mitunter gewaltsame Verfolgung von Gegnern über die Grenzen des eigenen Hoheitsgebiets hinaus, beruhte daher nicht nur auf einer bloßen Übernahme der Methoden des sowjetischen Vorbilds396, sondern war auch eine logische Konsequenz des tradierten Feind393 Die Tscheka wurde 1922 zur GPU und ein Jahr später zur OGPU umbenannt, 1934 erfolgte eine Eingliederung als GUGB in den NKWD, von dem sie 1943 wieder abgespalten wurde. Als eigenständiges Kommissariat trug sie fortan die Bezeichnung NKGB, ab 1946 MGB und schließlich ab 1954 KGB. Vgl. Roewer/Schäfer/Uhl: Lexikon der Geheimdienste, S. 174, 317 f., 327; Wehner: Stalinismus, S. 368–371, 380–383; Baberowski: Verbrannte Erde, S. 66 f.; Engelmann: Exportartikel, S. 248 f.; Werth: Staat, S. 67–275; Kowalczuk: Stasi konkret, S. 28–30. 394 Gieseke: Mitarbeiter, S. 127 f.; vgl. ebenda, S. 127–132, 544 f.; vgl. Jens Gieseke: Ideologie, tschekistische. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 152–155; Baule: Freund-Feind-Differenz, S. 174–177. Vgl. Definition von »Gewalt« in: Georg Klaus, Manfred Buhr (Hg.): Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2: Geschichtliches Denken bis Opportunismus, Hamburg 1972, S. 453 f. Zum Zusammenhang zwischen Avantgarde-Theorie und Terror vgl. Weber: Rolle des Terrors, S. 16–18; Wehner: Stalinismus, S. 367. 395 Gieseke: Mielke-Konzern, S. 48, 182; vgl. Engelmann: Exportartikel, S. 251 f. 396 Der sowjetische Geheimdienst hatte den Einsatz »aktiver Maßnahmen« im Ausland demonstriert, wie zum Beispiel bei der Entführung von 2 Generälen aus Paris 1928 und 1937 oder bei der
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bildes und des Systemkonfliktes auf deutschem Boden. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Feindbildes war der westliche Imperialismus, der – aufgrund seines angeblich aggressiven und fortschrittsfeindlichen Wesens – im Klassenkampf zwischen Imperialismus und Sozialismus die Beseitigung der sozialistischen Gesellschaftsordnung durch eine »Konterrevolution« erstrebe. In dieser Absicht seien Institutionen und Organisationen subversiv tätig.397 Die »feindlichen Zentren« und damit die Verkörperung des »imperialistischen Klassenfeinds« waren in den 1950er Jahren – ganz abgesehen von den westlichen Geheimdiensten – antikommunistische Gruppierungen im Westen wie die Ostbüros der bundesdeutschen Parteien, der UFJ oder die KgU. Dort organisierten sich politische Gegner, die das SED-Regime in der DDR ausschalten konnte, im Westen aber dessen direktem Zugriff entzogen waren. Als Anlaufpunkte für unzufriedene Menschen aus der DDR verfügten diese Organisationen zudem über Informationen und Einfluss, dessen Auswirkungen das SEDRegime fürchtete. Es schrieb jegliche Kritik und jegliches gegnerische Handeln in der DDR-Bevölkerung einer Subversion des »westlichen Imperialismus« zu. In der Überzeugung der historischen Mission des Kommunismus blühte die Verschwörungstheorie, dass die Feinde im Innern nur von außen, also durch den Westen, gesteuert sein konnten. Vor diesem Hintergrund verschwamm die Grenze zwischen den inneren und äußeren Feinden, vor dessen Angriffen das MfS die DDR schützen sollte.398 Das diffuse Feindbild ermöglichte es dem MfS, die Feindkategorien selbst zu definieren, also permanent zu erweitern und nonkonformes Verhalten zu kriminalisieren – stets im Sinne und zur Legitimation der SED-Herrschaft.399 Die MfS-Entführungsaktionen waren Bestandteil eines stalinistisch geprägten Repressionssystems, das – auch jenseits der Grenze – zur Stabilisierung der Parteiherrschaft beitragen sollte, indem alle möglichen Bedrohungen im Innern und von außen ausgeschaltet werden sollten. Das MfS rechtfertigte seine Vorgehensweisen als notwendige, präventive Gegenwehr gegen den imperialistischen Aggressor im Westen. Gewaltsame und grenzüberschreitende Einsätze erschienen den Verantwortlichen im Partei- und MfS-Apparat völlig legitim. Sie galten sogar als Ausdruck der Stärke, wurden als solche propagiert und Ermordung von Leo Trotzki im mexikanischen Exil im August 1940. Vgl. Engelmann: Exportartikel, S. 248. Auch die Geheimpolizeien in anderen nach 1945 errichteten »Volksdemokratien« übernahmen die sowjetischen Methoden (wie Entführungen). Vgl. Thomas Kirschner, Jan Velinger: Kidnapping mit Methode – die frühen Greuel des StB, Radio Prag, 25.10.2007. URL: http://www.radio.cz/de/artikel/96846 (letzter Zugriff: 3.6.2012). 397 Vgl. Gries, Voigt: Verbrechen, S. 127–132; Bergmann: Feindbild, S. 27–34; Baule: FreundFeind-Differenz, S. 172 f. Zum tschekistischen Feindbild vgl. Suckut: Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 121. 398 Vgl. Suckut: Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 169; Neubert: Politische Verbrechen, S. 844–846. 399 Vgl. Bergmann: Feindbild, S. 31; Baule: Freund-Feind-Differenz, S. 173–179.
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sollten als Instrument der Einschüchterung dienen. Die Ausübung von Gewalt erscheint hier als ein Akt der Kommunikation.400 So verkündete Ernst Wollweber als Minister für Staatssicherheit in einem internen Befehl im Sommer 1955: »[…] die Macht der Arbeiterklasse reicht über alle Grenzen hinweg.«401 Der Anlass war die Verurteilung von zwei ehemaligen MfSMitarbeitern, die in die Bundesrepublik geflohen waren, von dort aber entführt und in der DDR zum Tode verurteilt wurden. Doch nicht nur in derartigen Fällen sah sich das MfS zu grenzüberschreitenden Aktivitäten befugt, erst recht in der geteilten Stadt Berlin. Unter den östlichen Machthaber herrschte die Ansicht, dass Berlin komplett zur SBZ gehöre und die Westmächte 1945 dort nur ein zeitweiliges Recht von der Sowjetunion zugestanden bekommen hätten.402 Der Verletzung der Hoheitsrechte West-Berlins und der Bundesrepublik war man sich zwar durchaus bewusst, daher auch der Rückgriff auf die verdecktere Methode der Entführung statt offizieller Festnahmen. Aber in der Überzeugung der eigenen Vorrechte in Berlin und in der Logik eines »revolutionären Rechts« auf die Sicherung und Verteidigung der »proletarischen Diktatur« erhielten die Entführungen trotz ihrer Grenzüberschreitung den Status rechtmäßiger Festnahmen. Diese Haltung wird beispielsweise in einem Schreiben deutlich, das Erich Mielke im Mai 1954 – also einen knappen Monat nach der aufsehenerregenden gewaltsamen Entführung des Leiters der russischen Emigrantenorganisation NTS Alexander Truschnowitsch aus WestBerlin – an die Leiter der MfS-Bezirksverwaltungen schickte. Regelrecht empört informierte er darin über die Maßnahmen der »Spionage- und Untergrundorganisationen« und »offiziellen Dienststellen« in West-Berlin, welche »die Bekämpfung der verbrecherischen Tätigkeit dieser Agentenzentralen durch das SfS zu behindern« suchen würden. Der Westberliner Senat plane Maßnahmen, »die die Tätigkeit der Organe der Staatssicherheit unmöglich machen sollen«, wie den Ausbau eines Warnsystems mit Alarmsirenen gegen Menschenraub. Interessanterweise benutzte Erich Mielke selbst den Begriff des Menschenraubs, wenn auch in Anführungszeichen.403 Im Fall der Entführungsaktionen galt es nicht nur, die Grenzüberschreitung im territorialen Sinne zu rechtfertigen, sondern auch den Einsatz von Gewalt. Dabei stellte sich das Grundproblem, das jeder Gewaltbegründung inhärent ist: Es muss ein Unterschied zwischen der selbst ausgeübten Gewalt und der 400 Vgl. Jan Philipp Reemtsma: Hässliche Wirklichkeit. In: Süddeutsche Zeitung, 25.1.2008; Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Hamburg 2008, S. 453–455. 401 Befehl Nr. 224/55, MfS, 5.8.1955. BStU, MfS, GH 108/55, Bd. 6, S. 3 f. Gedruckt in: Fricke/Marquardt: DDR-Staatssicherheit, S. 48 f. 402 Diese Deutung missachtete die im »Londoner Protokoll« vom 12. September 1944 getroffene Regelung, Berlin gemeinsam zu verwalten. Vgl. Stöver: Geschichte Berlins, S. 77 f. 403 Schreiben, Erich Mielke an den Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Erfurt, 10.5.1954. Zit. in: Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1175.
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Gewalt des Gegners aufgewiesen werden, sodass die eigene als legitim erscheint. Zu diesem Zweck kann die moralische Überlegenheit der eigenen Sache und/oder der Anspruch, durch die Gewaltanwendung eine bessere soziale Ordnung zu schaffen, hervorgehoben werden.404 Die Machtträger des SEDRegimes griffen zu einer solchen Rechtfertigungs- und Legitimationsstrategie. Sie verwiesen stets auf die Notwendigkeit der (notfalls gewaltsamen) Abwehr »konterrevolutionärer« Kräfte und/oder imperialistischer Gegner, um den Aufbau und die Errungenschaften einer sozialistischen Gesellschaft zu verteidigen.405 Die erste Hälfte der 1950er Jahre als Hochphase der Entführungsaktionen ist Ausdruck der tradierten stalinistischen Gewalt im MfS-Apparat, auch wenn diese in der Sowjetunion zweifelsohne andere Dimensionen aufwies. Nach Stalins Tod nahmen seine Nachfolger Abstand von der exzessiven und willkürlichen Gewalt, welche für die stalinistische Herrschaft prägend gewesen war. Damit änderte sich die Einsatzpraxis der sowjetischen Geheimpolizei: »Die Mitarbeiter des KGB durften Kritiker und Dissidenten überwachen, beschatten und einschüchtern.«, illustriert Jörg Baberowski die signifikanten Veränderungen unter dem sowjetischen Staatschef Nikita Chruschtschow. »Aber sie konnten sie nicht mehr nachts aus ihren Häusern holen und erschießen.«406 Diese Entwicklungen in der Sowjetunion sorgten in der Staatspartei und im MfS-Apparat für eine erhebliche Verunsicherung – vor allem angesichts der traumatisierenden Erfahrungen des Volksaufstandes im Juni 1953 – und zeigten Auswirkungen. In einem bis 1962 andauernden Prozess mit Verzögerungen, konstatiert Jens Gieseke, fand die SED-Diktatur zu einem veränderten, post-stalinistisch geprägten Umgang mit Gewalt und Repression, die für sie allerdings stets ein unverzichtbares Herrschaftsinstrument blieb.407 So führte die Entstalinisierung im MfS nicht zu einer vollständigen Abkehr von gewaltsamen Praktiken, aber zu einem Wandel. In der Ära des MfS-Chefs Ernst Wollweber sanken die Anzahl der Verhaftungen sowie der Verschleppungen und Entführungen, eine Milderung der Haftbedingungen trat ein und zahlreiche Freilassungen wurden vorgenommen. Die zaghafte Entstalinisierung wurde mit dem Führungswechsel im MfS 1957 abgebrochen. Mit Erich Mielke trat ein Stalinist an die Spitze des MfS, der an seiner Bewunderung für Stalin 404 Vgl. Frank Becker u. a. (Hg.): Politische Gewalt in der Moderne. Münster 2003, S. VI; Thomas Lindenberger, Alf Lüdtke (Hg.): Physische Gewalt. Frankfurt/M. 1995, S. 8; NunnerWinkler: Gewaltbegriff, S. 28 f., 52; Imbusch: Gewaltbegriff, S. 36, 50 f. Vgl. Johan Galtungs Begriff der »kulturellen Gewalt«, die darauf ziele, direkte, institutionelle Gewalt zu legitimieren und somit für die Gesellschaft akzeptabel zu machen. Siehe Johan Galtung: Frieden mit friedlichen Mitteln. Opladen 1998, S. 341 f. 405 Vgl. Münkler/Llanque: Rolle der Eliten, S. 1222–1226. 406 Baberowski: Verbrannte Erde, S. 504. Vgl. ebenda, S. 502. 407 Vgl. Jens Gieseke: The Post-Stalinist Re-Shaping of Chekism. Unveröffentlichter WorkshopBeitrag, Krakau 2012, S. 1–17, hier 4 f., 12, 15 f.; ders.: The Future of Torture and »Wet Jobs« after Stalin. Unveröffentlichter Workshop-Beitrag, Potsdam 2014, S. 1–14, hier 5, 7, 9.
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auch nach dessen Entweihung 1956 festhielt und diese keineswegs verbarg. »So lebte im Ministerium für Staatssicherheit wie kaum an einem zweiten Ort in der DDR Stalins Geist fort.«, konstatiert Jens Gieseke.408 Zumal Erich Mielke in dieser Haltung nicht der Einzige im MfS-Apparat war. Die Fortführung tradierter, gewaltsamer Praktiken in der MfS-Arbeit – wenn auch in abgeschwächter Form – war mit den »gewaltgesättigten Erfahrungshorizonten« der älteren Mitarbeiter und vor allem Spitzenkader verknüpft, die mitunter militante Kämpfe in der Weimarer Republik, Verfolgung und Untergrundkampf in der NS-Zeit, Hochstalinismus im russischen Exil sowie den Zweiten Weltkrieg miterlebt hatten.409 Allerdings veränderte sich der Bezugsrahmen: Als Instrument einer vermeintlich ehrbaren Leninschen Herrschaft behielten die Tscheka und ihr Leiter Feliks Dzierzynski ihren Ruhm und ihre Vorbildfunktion. Das beschworene tschekistische Traditionsbild diente nun aber dazu, eine ›saubere‹ (Gewalt-)Legitimation – in Abkehr vom Gewalttäter Stalin – zu schaffen.410 Nach dem Wechsel an der MfS-Führungsspitze und dem Abbruch der zaghaften Entstalinisierung in der DDR erfolgte also in der Strategie eines ›Rollbacks‹ zunächst wieder ein vermehrter Rückgriff auf gewaltsame Praktiken – dies zeigen auch die höheren Entführungszahlen in den Jahren 1958 bis 1960. Langfristig erfolgte jedoch in der Praxis eine weitgehende Abkehr von derartigen Methoden, wie wiederum die Entführungspraxis veranschaulicht. Das gewaltorientierte, extralegale Selbstverständnis des MfS blieb aber bestehen: »Offene Gewalt gehörte fortan nicht mehr im gleichen Maße zum Alltag des MfS-Dienstes, aber als (exemplarisch auch wahrgemachte) Drohung blieb sie immer im Spiel und bildete somit einen in der internen Normenvermittlung und Selbstdefinition der Mitarbeiter zentralen Bezugspunkt.«411
408 Gieseke: Mielke-Konzern, S. 68. 409 Vgl. Gieseke: Mitarbeiter, S. 125 f.; 200–202, 208–217, 286. Angaben zu den Biografien der Gründer des MfS vgl. ebenda, S. 94–105. Die Altkommunisten – darunter eine kleine Gruppe mit Erfahrungen im Untergrundkampf – waren im Mitarbeiterkorps des MfS zwar schon spätestens seit 1952 nur noch eine Minderheit gegenüber der HJ- und Aufbaugeneration, stellten in einer »Generationensymbiose« aber lange Zeit die Spitzenkader. Vgl. ebenda, S. 120–126, 262–266, 286, 540 f. 410 Vgl. Jens Gieseke: The Post-Stalinist Re-Shaping of Chekism. Unveröffentlichter WorkshopBeitrag, Krakau 2012, S. 1–17, hier 15; Roewer, Schäfer, Uhl: Lexikon der Geheimdienste, S. 116. 411 Gieseke: Mitarbeiter, S. 287; vgl. ebenda, S. 285–288. Über die hauptamtlichen MfSMitarbeiter in den 1970er Jahren schreibt Gieseke: »Der Werthorizont der älteren Generationen wirkten jedoch fort: Das Feindbild blieb ganz und gar durch die Erfahrungen des Kalten Kriegs und des Stalinismus geprägt.« Siehe Jens Gieseke: Die dritte Generation der Tschekisten. Der Nachwuchs des Ministeriums für Staatssicherheit in den »langen« siebziger Jahren. In: Annegret Schüle, Thomas Ahbe, Rainer Gries (Hg.): Die DDR auf generationengeschichtlicher Perspektive. Leipzig 2006, S. 229–246, hier 241. Für die 1980er Jahre konstatiert Gieseke jedoch eine Korrosion der tschekistischen Gewaltkultur im MfS-Apparat. Vgl. Jens Gieseke: The Future of Torture and »Wet Jobs« after Stalin. Unveröffentlichter Workshop-Beitrag, Potsdam 2014, S. 1–14, hier 5, 7, 9.
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Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die Mord- und Terrorszenarien im »Operationsgebiet« erklären, die im MfS trotz der Entspannungspolitik Anfang der 1970er Jahre entwickelt und sogar intensiviert wurden. In der friedlichen Koexistenz sahen die Verantwortlichen im Staatssicherheitsapparat offensichtlich eine besondere Bedrohung des SED-Regimes und lediglich eine spezielle Form des Klassenkampfes, die eine Verschärfung der Repressionen im Innern und gewaltsame Einsätze in der Bundesrepublik erforderte.412 Ausschlaggebend war dabei wiederum, stellt Thomas Auerbach fest, »dass Partei- und MfS-Kader […] auf Grund ihrer Biographie einer genuin stalinistischen Denkart anhingen. In deren Machtlogik war es nach dem Motto ›Wer wen?‹ trotz öffentlicher Friedensbeteuerungen selbstverständlich, im Geheimen aggressive Planungen zum letztendlichen Sieg über den äußeren und inneren ›Feind‹ fortzuführen. Der Zweck, die ›kommunistische Weltrevolution‹, heiligte jedes Mittel, auch Mord und Terror.«413
Zwar zogen die Verantwortlichen im MfS – wie die Geheimpolizeien in anderen kommunistischen Ländern414 – Konsequenzen aus den Entwicklungen in den 1950er Jahren (Entstalinisierung, Bemühen um internationale Anerkennung usw.) und verlagerten die Einsatzweisen offener physischer Gewalt zu diskreteren Formen der Überwachung und Repression (durch psychischen und sozialen Druck). Als ultima ratio blieb die Anwendung physischer Gewalt (bis hin zum politischen Mord) aber »fester Bestandteil des MfS-Instrumentariums und damit des Handlungshorizonts« – wie beim sowjetischen Vorbild.415
IV.
Aus dem Westen in die DDR-Haft und zurück – Die Schicksale der Entführungsopfer
Angesichts der skrupellosen, oftmals brutalen Entführungspraxis des MfS hätte es nicht verwundert, wenn die Entführungsopfer ohne Gerichtsverfahren 412 Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 86–91; ders.: Mitarbeiter, S. 368–370. 413 Auerbach: Liquidierung, S. 6 f. 414 Die Entführungsaktionen des tschechoslowakischen Geheimdienstes (v. a. auf österreichischem Gebiet) erfolgten ebenfalls hauptsächlich bis Mitte der 1950er Jahre. Bis in die 1960er Jahre sind noch rund 2 Dutzend Entführungsopfer zu verzeichnen. Entführungspläne gab es aber auch noch in späteren Jahren. Vgl. Thomas Kirschner, Jan Velinger: Kidnapping mit Methode – die frühen Greuel des StB, Radio Prag, 25.10.2007. URL: http://www.radio.cz/de/artikel/96846 (letzter Zugriff: 3.6.2012). 415 Gieseke: Mitarbeiter, S. 287. Vgl. Stéphan Courtois: Das Handbuch des Kommunismus. München/Zürich 2010, S. 618 f.; Roewer: Visier, S. 183. Zum Beispiel wurden in der Bundesrepublik die Anführer des ukrainischen Widerstands Lew Rebet 1957 und Stephan Bandera 1959 mit Blausäure ermordet. Im Jahr 1978 starb der bulgarische Oppositionspolitiker Georgi Markow in London an einer Rizininjektion. Der Mord an der kritischen Journalistin Anna Politkowskaja 2006 in Moskau lässt vermuten, dass der russische Geheimdienst immer noch an dieser Praxis festhält.
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und -urteil hinter DDR-Gefängnismauern verschwunden wären. Doch hier wahrte das SED-Regime einmal mehr den Schein der Rechtsstaatlichkeit und eröffnete gegen einen Großteil der Entführten Strafverfahren, die zumeist mit einer mehrjährigen Haftstrafe endeten. Die Grundlage dieser Verurteilungen schuf das MfS in doppelter Hinsicht: Im Vorfeld der Entführung hatte es mithilfe seiner inoffiziellen Mitarbeiter belastende Informationen und Beweismaterial gesammelt sowie durch die Entführung oder Verschleppung eine strafrechtliche Verfolgung auf dem Boden der DDR erst ermöglicht. Doch damit war sein Einsatz keineswegs abgeschlossen. Laut Statut vom 6. Oktober 1953 hatte das MfS in seiner Funktion als Untersuchungsorgan das Recht, »Verhaftungen von feindlichen Spionen, Agenten und Diversanten vorzunehmen« und »alle erforderlichen Untersuchungen bis zum Schlussbericht an die Organe der Justiz zu führen«.416 Die Entführungsopfer blieben daher mindestens bis zu ihren Gerichtsverhandlungen in der ›Obhut‹ des Staatssicherheitsapparates, zum Teil auch darüber hinaus. Im Hinblick auf die strafrechtliche Verfolgung der Entführten und Verschleppten dürfen allerdings – wie auch bei den Entführungsaktionen – die sowjetischen Akteure nicht vergessen werden. Die Untersuchungstätigkeit des DDR-Staatssicherheitsdienstes stand nicht nur bis Mitte der 1950er Jahre unter dem Einfluss der sowjetischen Instrukteure, sondern die sowjetischen Sicherheitsorgane, Militärstaatsanwälte und Militärtribunale waren bis 1953 bei den Strafverfahren zum Teil auch direkt aktiv. Ihr Einsatz beschränkte sich dabei nicht auf die Fälle, in denen sich die vermeintlichen Straftaten gegen die UdSSR richteten, sondern betraf auch Deutsche, die sich ausschließlich eines Vergehens gegen die DDR schuldig gemacht hatten. Dieses Engagement und Zusammenwirken mit dem MfS zeigt sich am Beispiel der mehr als 1 000 deutschen Zivilisten, die sowjetische Militärtribunale (SMT) in den Jahren 1950 bis 1955 zum Tode verurteilten. In der Mehrzahl dieser Fälle hatte vorab das MfS ermittelt sowie die Festnahme und ersten Vernehmungen durchgeführt. Der sowjetische Geheimdienst war mitunter bereits durch seine Berater oder eigene Informanten an den Ermittlungen vor der Verhaftung beteiligt sowie durch laufende Akteneinsichten informiert. Spätestens bei oder kurz nach der Festnahme erhielt er genaue Auskunft über die Ermittlungsergebnisse des MfS. Mit der Übergabe der Beschuldigten an das sowjetische MGB, die oft erst nach einigen Tagen oder Wochen, in einigen Fällen allerdings auch sofort erfolgte, verschwanden diese dann aus dem Wirkungsbereich des DDRStaatssicherheitsdienstes. Bis zu ihrer Verurteilung blieben sie zunächst in MGB-Gefängnissen auf dem Boden der DDR, wo sie unmenschliche Haftbedingungen und weitere Verhöre ertragen mussten. Gebrochen durch Isolation 416 Statut des Staatssekretariates für Staatssicherheit, 6.10.1953. BStU, MfS, SdM Nr. 1574, S. 1 f. Gedruckt in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente, S. 61–63, hier 62.
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und Schlafentzug, zum Teil auch durch Schläge und Einsperren in Kälte- und Stehzellen gestanden die Beschuldigten, was ihnen vorgeworfen wurde. Nach ihrer Verurteilung durch Militärrichter des SMT Nr. 48420 wurden sie zum Großteil nach Moskau deportiert und dort hingerichtet.417 Erst vor wenigen Jahren konnten diese Schicksale, die über 900 deutsche Zivilisten zwischen April 1950 und Dezember 1953 erleiden mussten, aufgeklärt werden.418 Zu den Opfern zählten mindestens 16 Personen, die aus West-Berlin oder der Bundesrepublik verschleppt oder entführt wurden.419 Viele von ihnen fielen durch Täuschungsmanöver in die Hände des MfS und sowjetischen Geheimdienstes, zum Teil auch unter Anwendung von Gewalt, wie der 25jährige Günter Grell im November 1951. Der Journalist war für den amerikanischen Geheimdienst tätig und im Frühjahr 1950 vor einer drohenden Verhaftung nach West-Berlin geflohen. Am Tatabend war er mit vermeintlichen Informanten an einer Brücke im Grenzgebiet zwischen Berlin-Neukölln (West) und Berlin-Treptow (Ost) verabredet. Es handelte sich um einen Hinterhalt des MfS, das schon seit Monaten seine Verschleppung plante: Mehrere Männer überwältigten Günter Grell und zerrten ihn über die Brücke nach Ost-Berlin. Im April 1952 verurteilte ihn das sowjetische Militärtribunal Nr. 48240 in Potsdam wegen Spionage zum Tode durch Erschießen. Die Todesstrafe wurde zwei Monate später in Moskau vollstreckt.420 Im Juni 1952 verschwand der Vermessungsingenieur Bernhard Dahmen aus Berlin-Schöneberg, der Anfang des Jahres 1949 aus der SBZ geflohen und in West-Berlin für das CDU-Ostbüro tätig war sowie die Vereinigung für politische Ostflüchtlinge mitbegründet hatte. Dahmen war am Tatabend mit einem vermeintlichen Mitarbeiter eines westlichen Nachrichtendienstes in einem Lokal verabredet und kehrte nicht zurück. Vier Tage nach seinem Verschwinden wurden im 417 Fast jedes fünfte Urteil der etwa 6 000 Verurteilungen in den Jahren 1950 bis 1955 sah eine Todesstrafe vor; von diesen 1 112 Todesurteilen wurden ca. 960 vollstreckt. Vgl. Andreas Hilger, Nikita Petrow: »Im Namen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.« Sowjetische Militärjustiz in der SBZ/DDR von 1945 bis 1955. In: Roginskij: Erschossen in Moskau, S. 19–35, hier 25 f., S. 30 f.; Roger Engelmann: Staatssicherheitsjustiz im Aufbau. In: Roger Engelmann, Clemens Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Berlin 1999, S. 133–164, hier 137; Rudolph/ Drauschke/Sachse: Hingerichtet, S. 58–79; Jörg Rudolph: »Verstorben auf dem Territorium der UdSSR«. Das lange Warten auf die Wahrheit. In: Roginskij: Erschossen in Moskau, S. 67–83, hier 67–70. 418 Umfassende Dokumentation der Schicksale vgl. Arsenij Roginskij u. a. (Hg.): »Erschossen in Moskau …« Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953. Berlin 22006. 419 Vgl. ebenda, S. 131, 134, 161, 174, 207, 212, 216 f., 250, 262, 284, 326, 331, 338, 348, 355, 358, 374, 385. 420 Vgl. Statistische Zusammenstellungen über Entführungen aus Berlin 1949–1962, Polizei. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 68/95, Beiakte, o. Pag.; Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Weißbuch über Menschenraub, Bonn 1953. BArch, B 137/1064, o. Pag.; Roginskij: Erschossen in Moskau, S. 174; Rudolph/Drauschke/Sachse: Hingerichtet, S. 52–54.
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Park am Lietzensee in Berlin-Charlottenburg sein Mantel und seine Brieftasche gefunden. Die Westberliner Polizei vermerkte später, dass der 53-Jährige in Haft verstorben sei. Tatsächlich wurde Dahmen im Februar 1953 in Moskau erschossen, nachdem er im November 1952 durch das SMT Nr. 48240 in Berlin-Lichtenberg wegen Spionage, Leitung einer Untergrundorganisation und antisowjetischer Agitation zum Tode verurteilt worden war.421 Einer dieser in Moskau Erschossenen war auch der Jurist und UFJMitarbeiter Walter Linse, dessen gewaltsame Entführung im Sommer 1952 eine der aufsehenerregendsten Entführungsaktionen des MfS war.422 Linse, dem die Entführer auf ihrer Flucht in den Ostsektor noch eine Schussverletzung am Bein zugefügt hatten, wurde zunächst in die MfSUntersuchungshaftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen eingeliefert. Dort musste er die folgenden Monate in einer der berüchtigten Kellerzellen verbringen, die aufgrund der Dunkelheit, Kälte und Feuchtigkeit »U-Boot« genannt wurden, und immer wieder (nächtliche) Verhöre durch das MfS und sowjetische MGB ertragen. Einer seiner Vernehmer war Erich Mielke, der spätere Minister für Staatssicherheit, zu dessen Zuständigkeitsbereich als damaliger Staatssekretär im MfS die Untersuchungshäftlinge gehörten. Im Dezember 1952 übernahm das MGB Linse und inhaftierte ihn mutmaßlich im MGBHauptquartier in Berlin-Karlshorst bis zu seiner Verurteilung vor dem Sowjetischen Militärtribunal Nr. 48240 im September 1953. »Tod durch Erschießen«, lautete das Urteil gegen Linse, da er sich der Spionage, antisowjetischen Propaganda und Bildung antisowjetischer Organisationen schuldig gemacht habe. Linse reichte ein Gnadengesuch ein, in dem er auch auf seine gewaltsame Entführung aus West-Berlin hinwies, das jedoch vom Präsidium des Obersten Sowjets Anfang Dezember 1953 abgelehnt wurde. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Linse bereits seit zwei Monaten im Moskauer Gefängnis Butyrka, wo er in der Nacht des 15. Dezembers 1953 erschossen wurde.423
421 Vgl. Statistische Zusammenstellungen über Entführungen aus Berlin 1949–1962, Polizei. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 68/95, Beiakte, o. Pag.; Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Weißbuch über Menschenraub, Bonn 1953. BArch, B 137/1064, o. Pag.; Roginskij: Erschossen in Moskau, S. 134 f.; Rudolph/Drauschke/Sachse: Hingerichtet, S. 24 f. 422 Zum Ablauf der Entführung vgl. Fallbeispiel 4 im Kapitel II.2. 423 Vgl. Zeugenaussage eines Mithäftlings, UFJ, 12.11.1955. BArch, B 209/1201, o. Pag.; Schreiben bzgl. Walter Linse, ehem. Mithäftling an das Hilfskomitee für politische Häftlinge der Sowjetzone, 26.2.1956. Ebenda, o. Pag.; Aktenvermerk, Staatsanwaltschaft II, 5.12.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. III, Bl. 595–612. Die Staatsanwaltschaft II ging zunächst davon aus, dass Linse zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt wurde und in einem sowjetischen Gefangenenlager verstarb. Im Zuge seiner Rehabilitierung im Mai 1996 wurde das gegen ihn verhängte und vollstreckte Todesurteil bekannt. Vgl. Fricke: Entführungsopfer, S. 716 f.; ders.: Postscriptum, S. 917–919; Rudolph/Drauschke/Sachse: Hingerichtet in Moskau, S. 7 f.; Mampel: Entführungsfall, S. 36–39, 48–62, S. 70–79.
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Mit Blick auf die politische Strafverfolgung in der DDR spricht Roger Engelmann von »Staatssicherheitsjustiz«, da dieser Begriff zum einen das Hauptziel dieser Art justiziellen Handelns kennzeichne. Zum anderen verweise er auf die »Hegemonie des Staatssicherheitsapparates über diesen justiziellen Sonderbereich, die ihren Ausdruck sowohl in dessen intensiver geheimpolizeilichen Überwachung und entsprechenden kaderpolitischen Bestätigungsrechten als auch im mangelnden Einblick justizieller Instanzen in das tatsächliche Ermittlungsgeschehen fand«.424 Dieses massive Eingreifen des Staatssicherheitsapparates in Ermittlungsverfahren erstreckte sich hauptsächlich auf politische Straftaten, die in minderschweren Fällen auch von der Volkspolizei bearbeitet wurden. Die Entscheidung, ob die jeweiligen Ermittlungen selbst geführt oder der Volkspolizei überlassen werden sollten, lag im Ermessen des MfS. Mit Straftaten der allgemeinen Kriminalität oder Wirtschaftsdelikten befasste sich das MfS nur, wenn politische oder operative Interessen damit verknüpft waren.425 Politische Straftaten wurden in den 1950er Jahre zunächst als Verstoß gegen den berüchtigten Artikel 6 der DDR-Verfassung geahndet, der zu diesem Zweck willkürlich ausgelegt werden konnte und wurde. Die dort verankerte Einstufung der sogenannten »Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhass, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze«426 als Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches, diente als Hauptgrundlage bei der Verurteilung politischer Gegner, darunter auch Entführungsopfer. Bis die »Hohe Kommission der UdSSR in der DDR« im August 1954 aufgelöst wurde und die DDR im September 1955 ihre volle Souveränität erlangte, erfolgten diese Verurteilungen in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive Nr. 38 (Abschnitt 2, Artikel III A III). Diese im Oktober 1946 erlassene Direktive des Kontrollrates widmete sich der »Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen«. Sie bezog sich allerdings nicht ausschließlich auf die Strafverfolgung von NS-Verbrechen. So ermöglichte der Artikel III A III im zweiten Abschnitt mit seinem weiten Interpretationsrahmen auch die Verurteilungen von politischen Gegnern der SED-Herrschaft: »Aktivist ist auch, wer nach dem 8. Mai 1945 durch Propaganda für den Nationalsozialismus oder Militarismus oder durch Erfindung und Verbreitung tendenziöser Gerüchte den Frieden des deutschen Volkes oder den Frieden der Welt gefährdet hat oder 424 Engelmann: Staatssicherheitsjustiz, S. 133. 425 Vgl. ebenda, S. 135–137. 426 Artikel 6 Abs. 2 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, 7.10.1949. URL: http://www.documentArchiv.de/ddr/verfddr1949.html (letzter Zugriff: 3.6.2012). Vgl. Fricke: Politik und Justiz, S. 168 f.
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möglicherweise noch gefährdet.«427 Mit Inkrafttreten des Strafrechtsergänzungsgesetzes im Februar 1958 gab es dann differenzierende Strafbestimmungen zu den einzelnen Tatbeständen wie »staatsgefährdende Propaganda und Hetze« (§ 19), Sammlung von Nachrichten (§ 15), Verbindung zu »verbrecherischen Organisationen« (§ 16) und Spionage (§ 14).428 Vor allem letzterer Paragraf wurde bei Strafverfahren gegen Entführungsopfern zur Anwendung gebracht. Am Beispiel der Entführungsopfer wird besonders deutlich, wie die gesetzlich vorgesehenen justiziellen Instanzen429 als bloße Erfüllungsgehilfen dazu beitrugen, den rechtsstaatlichen Schein zu wahren: Die Entscheidung zur Festnahme fiel im Staatssicherheitsapparat, und zwar in den operativen Diensteinheiten, nicht in der Hauptabteilung IX (oder den Abteilungen IX auf Bezirksebene) als Untersuchungsorgan des MfS.430 Staatsanwaltschaft und Haftrichter hatten die Verhaftung nur noch ex post zu legalisieren. Vor diesem Hintergrund ist das regelmäßige Auftauchen zweier Dokumente in den Untersuchungsvorgängen der Entführungsopfer zu erklären: Am Tag der Entführung erging ein Haftbeschluss durch die operative MfS-Diensteinheit, die für die »Festnahme« zuständig war. Dieser musste vom Leiter der entsprechenden Diensteinheit sowie auf der MfS-Leitungsebene bestätigt werden. Erst nach der Inhaftierung folgte der richterliche Haftbefehl, der bestenfalls eigentlich vor der Festnahme und laut DDR-Strafprozessordnung spätestens am Tag nach der Festnahme erwirkt werden sollte.431 In der kurzen Phase der Entstali427 Kontrollratsdirektive Nr. 38, 12.10.1946. URL: http://www.verfassungen.de/de/de45-49/krdirektive38.htm (letzter Zugriff: 3.6.2012). Weitere Informationen zur Kontrollratsdirektive 38 und ihrer Anwendung vgl. Klaus-Dieter Müller: Bürokratischer Terror. Justitielle und außerjustitielle Verfolgungsmaßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht 1945–1956. In: Roger Engelmann, Clemens Vollnhals: Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Berlin 1999, S. 59–92, hier 73; Hermann Wentker: Die Neuordnung des Justizwesens in der SBZ/DDR 1945–1952/53. In: ebenda, S. 93–114, hier 105 f.; Foitzik/Petrow: Apparat, S. 41 f.; Fricke: Politik und Justiz, S. 23–25. 428 Vgl. Gesetz zur Ergänzung des Strafgesetzbuches der DDR (Strafrechtsergänzungsgesetz), 11.12.1957. URL: http://www.verfassungen.de/de/ddr/strafrechtsergaenzungsgesetz57.htm (letzter Zugriff: 3.6.2012). Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz, S. 157; Roger Engelmann: Strafverfolgung, Rolle des MfS. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 290–294, hier 291; Fricke: Politik und Justiz, S. 371–376. 429 Die Zuständigkeiten in Ermittlungsverfahren mit politischen Tatbeständen waren bis in die 1960er Jahre gesetzlich nicht genau geregelt, die Untersuchungen sollten von »staatlichen Untersuchungsorganen« geführt werden. Vgl. Gesetz über das Verfahren in Strafsachen in der Deutschen Demokratischen Republik (Strafprozessordnung), 2.10.1952. Gesetzblatt der DDR Nr. 142, 11.10.1952, S. 996–1029, hier 1004; Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik, 23.5.1952. URL: http://www.verfassungen.de/de/ddr/ staatsanwaltschaftsgesetz 52.htm (letzter Zugriff: 3.6.2012). 430 Zur HA IX vgl. Frank Joestel: Hauptabteilung IX (Untersuchungsorgan/HA IX). In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 130 f. 431 Vgl. § 126 Abs. 4 der DDR-StPO, ursprünglich § 142; Gesetz über das Verfahren in Strafsachen in der Deutschen Demokratischen Republik (Strafprozessordnung), 2.10.1952. Gesetzblatt der DDR Nr. 142, 11.10.1952, S. 995–1029, hier 1008; Dienstanweisung Nr. 1/52 zum Befehl
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nisierung 1956 kritisierten die sowjetischen Berater u. a. den regelmäßigen Verstoß des MfS gegen die Strafprozessordnung durch die vorläufigen Festnahmen ohne Haftbefehl und ausreichende Haftgründe sowie die Nichteinhaltung der 24-Stunden-Frist für die Erwirkung eines richterlichen Haftbefehls. Das MfS änderte daraufhin seine Festnahmepraxis, lenkte sie jedoch nach dem Ende des »Tauwetters« wieder in alte Bahnen.432 Bei den MfS-Entführungsopfern vergingen oft mehrere Tage, bis ein Haftbefehl erlassen wurde – zumeist durch das Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte und den dortigen Haftrichter Karl Krautter.433 IV.1 Die Untersuchungsverfahren und Untersuchungshaft Mit dem Zeitpunkt der Festnahme setzte eigentlich das Aufsichtsrecht des Staatsanwaltes ein: »Die Aufsicht über die Untersuchungen in Strafsachen des Ministeriums für Staatssicherheit führen Staatsanwälte, die vom Generalstaatsanwalt im Einvernehmen mit dem Ministerium für Staatssicherheit bestellt worden sind.«434 Dass der Staatssicherheitsapparat Einfluss auf die Wahl seiner Kontrolleure hatte, lässt die Wirkungskraft dieses Aufsichtsrechts bereits erahnen: De facto spielte bei politischen Strafverfahren das MfS die dominante Rolle, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen werden. In diesem Kontext spricht Engelmann von einer »parteilichen und geheimpolizeilichen Willkür
Nr. 74/52, MfS, 15.5.1952. Gedruckt in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente, S. 51–54, hier 52. Vgl. Johannes Beleites: Haftbefehl, Haftbeschluss. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfSLexikon. Berlin 2011, S. 117 f. 432 Vgl. Engelmann: Staatssicherheitsjustiz, S. 153–156. 433 Vgl. Beispiele: Werner Haase, entführt am 13.11.1953: Haftbeschluss, Abt. IV/4, 14.11.1953. BStU, MfS, AU 15/54, Bd. 4, S. 12; Haftbefehl, Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte, 15.11.1953. Ebenda, Bd. 8, S. 9. Herbert Eigner, entführt am 26.8.1954: Haftbeschluss, Abt. V/4, 27.8.1954. BStU, MfS, AU 102/55, Bd. 1, S. 11; Haftbefehl, Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte, 30.8.1954. Ebenda, Bd. 6, S. 8. Otto Schneider, entführt am 6.5.1955: Haftbeschluss, Abt. III/4, 23.4.1955. BStU, MfS, AU 278/55, Bd. 1, S. 8; Haftbefehl, Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte, 9.5.1955. Ebenda, Bd. 2, S. 6. Jakob Oschewski, entführt am 1.9.1955: Haftbeschluss, Abt. II/1, 8.9.1955. BStU, MfS, AU 1410/58, Bd. 1, S. 35; Haftbefehl, Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte, 5.9.1955. Ebenda, Bd. 7, S. 12. Manfred Richter, entführt am 17.11.1955: Haftbeschluss, HA II/4, 17.11.1955. BStU, MfS, AU 13/57, Bd. 1, S. 13; Haftbefehl, Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte, 25.11.1955. Ebenda, Bd. 8, S. 1 f. Heinrich Berger, entführt am 14.12.1956: Haftbeschluss, HA II/5, 16.12.1956. BStU, MfS, AU 250/57, Bd. 1, S. 24; Haftbefehl, Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte, 17.12.1956. Ebenda, Bd. 6, S. 8. Dr. Erwin Neumann, entführt am 20.8.1958: Haftbeschluss, Abt. V/5, 21.8.1958. BStU, MfS, AU 217/90, Bd. 1, S. 20; Haftbefehl, Stadtbezirksgericht BerlinMitte, 22.8.1958. Ebenda, Bd. 3, S. 10. 434 Dienstanweisung Nr. 1/52 zum Befehl Nr. 74/52, MfS, 15.5.1952. Gedruckt in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente, S. 51–54, hier 53. Vgl. Befehl Nr. 74/52 zum Beschluss des Ministerrates vom 27.3.1952, MfS, 15.5.1952. Gedruckt in: ebenda, S. 49 f.
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im justitiellen Gewand«, die auch nach Tauwetterphasen 1956 und 1962 bis 1964 kaum gemildert fortwirkte.435 Das MfS verfügte über alle notwendigen strafprozessualen Befugnisse: Es durfte Befragungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmungen und Vernehmungen durchführen und dirigierte die Einleitungen sowie den Abschluss von Untersuchungsverfahren. Federführend war dabei die Hauptabteilung IX (oder die Abteilungen IX auf Bezirksebene), die mit den zuständigen operativen MfS-Diensteinheiten zusammenarbeitete.436 Die Bedeutung dieser Kooperation betonte Erich Mielke als stellvertretender Staatssekretär für Staatssicherheit auf einer internen Dienstbesprechung im August 1953: »Es ist wichtig, dass unsere operativen Mitarbeiter immer in Kontakt mit der Untersuchungsabteilung stehen, auch nach Abgabe des Ermittlungsvorganges an die Abteilung IX. Es ist ein großer Fehler, wenn keine konkrete operative Arbeit auch hinterher erfolgt.«437 So blieben die operativen Diensteinheiten, die u. a. die Entführung vorbereitet und durchgeführt hatten, auch weiterhin aktiv und unterstützten die Arbeit der Hauptabteilung IX beispielsweise bei der Beschaffung von Beweisen. Doch die Kooperation sollte sich auch in anderer Richtung auswirken: Erkenntnisse aus den Vernehmungen der Entführungsopfer durch die Hauptabteilung IX wurden umgehend an die operativen Diensteinheiten weitergegeben, die weitere Ermittlungen oder Festnahmen veranlassten. Das MfS hatte sogar eigene Untersuchungshaftanstalten, die pro forma zwar auch der Aufsicht des Generalstaatsanwalts der DDR unterstellt waren, was de facto aber wie das allgemeine Aufsichtsrecht wirkungslos blieb. Denn zum einen wurden die kontrollierenden Staatsanwälte wiederum im Einvernehmen mit dem MfS ausgewählt, zum anderen war das Aufsichtsrecht sehr eingegrenzt.438 MfS-intern unterstand der Untersuchungshaftvollzug der Linie XIV, die auch für den Strafvollzug im MfS zuständig war. Etwa seit Mitte der 1950er Jahre hatte das MfS über 17 Untersuchungshaftanstalten, zwei zentrale in Berlin und je eine in jedem Bezirk. Durch dieses Netz an eigenen Untersu-
435 Engelmann: Staatssicherheitsjustiz, S. 163. Vgl. Engelmann: Strafverfolgung, S. 290–294; Fricke: MfS als Instrument, S. 203 f.; Clemens Vollnhals: Der Schein der Normalität. Staatsssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In: Siegfried Suckut, Walter Süß: Staatspartei und Staatssicherheit. Berlin 1997, S. 213–247, hier 245. 436 Vgl. Johannes Beleites: Der Untersuchungshaftvollzug des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In: Roger Engelmann, Clemens Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Berlin 1999, S. 433–465, hier 438 f.; Johannes Beleites: Ermittlungsverfahren, strafrechtliches. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 75 f. 437 Protokoll einer Dienstbesprechung mit Leitern der Bezirksverwaltungen und Abteilungsleitern, MfS, 21.8.1953. Auszug in: Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 246–248, hier 248. 438 Vgl. Dienstanweisung Nr. 1/52 zum Befehl Nr. 74/52, MfS, 15.5.1952. Gedruckt in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente, S. 51–54, hier 54; Johannes Beleites: Haft im MfS. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 114–118; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 109, 113 f.; Engelmann: Staatssicherheitsjustiz, S. 140 f.
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chungshaftanstalten konnte das MfS Einfluss auf den Ort der Gerichtsverhandlung nehmen. Denn die Zuständigkeit der Gerichte konnte sich seit 1952 laut Strafprozessordnung nicht nur nach dem Tatort oder Wohnsitz richten, sondern auch nach dem Ort der Untersuchungshaft. Durch eine Verlegung des Angeklagten in eine andere Untersuchungshaftanstalt konnte auf diesem Wege die jeweilige Gerichtsverhandlung in eine Stadt verlegt werden, die eine weite Entfernung von Angehörigen, Freunden und Sympathisanten sowie die besten Voraussetzungen zur Geheimhaltung bot.439 Gerade bei den Entführungsopfern lässt sich diese Strategie beobachten. Zum Großteil wurden die Entführten zunächst in eine der beiden zentralen MfS-Untersuchungshaftanstalten in Ost-Berlin gebracht, also in die UHA I in Berlin-Hohenschönhausen oder in die UHA II in der Magdalenenstraße in Berlin-Lichtenberg. Einige der Entführungsopfer kamen hier erst wieder zu Bewusstsein, so wie Karl Wilhelm Fricke, der Anfang April 1955 unter Einsatz eines Betäubungsmittels entführt wurde. »[…] als ich allmählich wieder zu mir kam, fand ich mich auf einem Stuhl vor einem runden Tisch sitzend […], um mich herum standen oder saßen auf der Tischkante vier, zeitweilig fünf männliche Personen, teils in Zivil, teils in Uniform, die auf mich einbrüllten, grob, vulgär, auch obzön […] Ich stand, wie mir später klar wurde, noch unter der Nachwirkung des mir eingegebenen Betäubungsmittels, die erst nach und nach abzuklingen begann, nämlich so, daß in meinem Bewußtsein einige Funktionen wieder normal arbeiteten, andere aber noch gelähmt waren. Erst nachdem ich von einem der Stasi-Offiziere – denn um solche handelte es sich – mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen worden war, vermutlich, um meine Reaktionen zu testen, erst da erfaßte ich instinktiv, daß ich mich in einem feindlichen Umfeld befand. Als ich versuchte, mehr taumelnd, eine Zimmertür zu erreichen, um den Raum zu verlassen, wurde ich zurückgerissen. Ich schrie um Hilfe, schlug um mich, da ich die Ausweglosigkeit meiner Situation noch immer völlig verkannte, und verlor erneut das Bewußtsein.«440
Fricke erlangte nochmals kurz das Bewusstsein, als er auf einem hölzernen Lattenrost liegend mit kaltem Wasser abgebraust wurde. Als er schließlich wachgerüttelt wurde, um zu seiner ersten Vernehmung geführt zu werden, befand er sich auf einer Holzpritsche in einer fensterlosen Zelle. Es war der Morgen nach seiner Entführung.441 Gleich nach ihrer Ankunft in den MfS-eigenen Untersuchungshaftanstalten begann für viele Entführungsopfer ein regelrechter Vernehmungsmarathon – sofern sie schon vernehmungsfähig waren. Der im März 1955 unter Einsatz 439 Im Jahr 1955 erschien MfS-intern die erste Dienstanweisung bzgl. der Untersuchungshaftanstalten des MfS. Vgl. Beleites: Untersuchungshaftvollzug, S. 437, 440 f., 444–448; Beleites: Haft, S. 114–118; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 109. 440 Fricke: Akten-Einsicht, S. 43 f. Vgl. ders.: Taktik, S. 178–181, hier 179. 441 Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 44, 63.
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von Betäubungsmitteln entführte Wilhelm van Ackern befand sich nach eigenen Angaben in einem völlig apathischen Zustand, als er in der UHA I in Berlin-Hohenschönhausen zu sich gekommen sei, und habe noch mehrere Tage unter starken Halluzinationen gelitten. Das MfS begann trotzdem umgehend mit seinen Vernehmungen, die in den ersten Tagen immer nur kurz unterbrochen wurden.442 Im Fall des westlichen Nachrichtendienstlers Friedrich Böhm fand die erste Vernehmung am Krankenbett im Haftkrankenhaus Hohenschönhausen nur einige Stunden nach seiner Entführung statt. Friedrich Böhm hatte bei seiner gewaltsamen Entführung im Oktober 1958 eine Schusswunde und weitere Verletzungen durch Schläge erlitten. Die MfSVernehmer verhörten ihn dennoch rund um die Uhr und nahmen von den nächtlichen Vernehmungen erst Abstand, als Friedrich Böhm nach 14 Tagen bewusstlos zusammenbrach.443 Ähnliches berichtete Manfred Richter, der als Mitarbeiter des dänischen Geheimdienstes im November 1955 gewaltsam entführt worden war, nach seiner Rückkehr aus DDR-Haft im Oktober 1964 über seine Einlieferung in der UHA I in Berlin-Hohenschönhausen: »Ich war schwer verletzt, grün und blau geschlagen, hatte eine Schädelverletzung und eine Gehirnerschütterung, Blut an den Armen, Prellungen und Quetschungen sowie zwei Rippenbrüche. Trotz meines Zustandes wurde ich sofort vernommen und erst am vierten Tag [ärztlich] behandelt. Meine Vernehmung dauerte ununterbrochen 21 Tage ohne Schlaf, bis ich zusammenbrach.«444
Die Beispiele offenbaren die Verhörstrategie des MfS: Unter Ausnutzung des Schockzustandes der entführten Person versuchten die MfS-Vernehmer besonders in den ersten Tagen nach der Verschleppung oder Entführung durch Dauerverhöre und Schlafentzug möglichst umfangreiche Aussagen zu erpressen. Der MfS-Mitarbeiter und Vernehmungsoffizier Bruno Krüger berichtete nach seiner Flucht in die Bundesrepublik: »Die Methode, einen Beschuldigen durch besonders lange Vernehmungen zu einem Geständnis zu veranlassen, war auch in Schwerin üblich. Auch ich selbst habe derartige Vernehmungen durchgeführt, zumal eine direkte Anweisung bestand, daß jeder Beschuldigte mindestens 60 Stunden vernommen werden mußte. […] Die Vernehmungen wurden zum Teil trotz der langen Dauer so durchgeführt, daß der Häftling stehen mußte. […] Sämtliche Vernehmungen wurden nur nachts durchgeführt. 442 Vgl. Aussage Wilhelm van Ackern, UFJ, 21.9.1964. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Protokoll Zeugenvernehmung Wilhelm van Ackern, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin, 10.11.1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 1, Bl. 24–32, hier 29 f. 443 Vgl. Bericht, Polizei, 19.12.1972. BArch, B 209/1070, o. Pag. 444 Aussageprotokoll, UFJ, 2.10.1964. BArch, B 209/1069, o. Pag. Vgl. Vernehmungsprotokoll, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 7.5.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 12, Bl. 42–57, hier 54 f. Die Protokolle des MfS dokumentieren die permanenten nächtlichen Verhöre. Vgl. 12 Vernehmungsprotokolle, MfS, 18.11.–13.12.1955. BStU, MfS, AU 13/57, Bd. 1, S. 55–65, 107–155.
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Die Sowjets und die maßgeblichen SSD-Vorgesetzten waren der Ansicht, daß die Häftlinge nachts ›am aufgeschlossensten‹ seien, d. h. am wenigsten widerstandsfähig seien.«445
Die Auswirkungen dieser Vernehmungstaktik beschreibt Karl Wilhelm Fricke eindringlich, der ihr in der ersten Woche seiner Untersuchungshaft ausgesetzt war: »Ich war längst in völlige Apathie verfallen, hielt mich überhaupt nur mühsam auf dem Holzschemel aufrecht, das Verhör selbst war zu einer sinnlosen Brüllerei des Vernehmers verkommen […]«446 Der VerfassungsschutzMitarbeiter Gustav Buchner, der im Juli 1954 gewaltsam entführt wurde und erst nach elfjähriger DDR-Haft in die Bundesrepublik zurückkehrte, schilderte den systematischen Schlafentzug als eine »schlimmere körperliche Folter als Schlagen«. Das Ausmaß direkter körperlicher Gewalt hatte Gustav Buchner in der Untersuchungshaft allerdings auch erfahren müssen: Als er am Silvesterabend 1954 aufgrund eines »Haftkollers« anfing, in seiner Zelle zu schreien und mit den Fäusten gegen die Tür zu hämmern, prügelte ihn der wachhabende Unterleutnant mithilfe des Zellenschlüssels brutal nieder. Gustav Buchner trug eine Gehirnblutung davon, in deren Folge er auf dem rechten Auge erblindete und auf seinem rechten Ohr das Gehör verlor.447 Im Dienste der Geständniserpressung wandte das MfS – mindestens bis Mitte der 1950er Jahre – körperliche Gewalt und Foltermethoden an. Jens Gieseke konstatiert: »Zahllose Berichte von Opfern dieser Methoden zeigen, daß Wasser- und Heißzellen, nächtliche Dauerverhöre und andere psychische und physische Foltermethoden nach dem Vorbild des NKWD zum ständigen Repertoire des MfS in dieser Phase gehörten.«448 Der in Hohenschönhausen inhaftierte Kurt Müller, der im März 1950 unter Verletzung seiner Immunität als KPD-Bundestagsabgeordneter verschleppt wurde, gab an, fünf Monate in einer Wasserzelle zugebracht zu haben. In dieser fenster- und möbellosen Zelle habe permanent etwa zwei Zentimeter hoch Wasser gestanden. Außerdem sei er in einer Zelle eingesperrt gewesen, die nur so groß wie eine Telefonzelle
445 Auszug aus der Aussage von Bruno Krüger, 2.12.1953. Gedruckt in: BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 216 f., hier 217. Krüger wurde im Oktober 1954 unter ungeklärten Umständen entführt, in der DDR zum Tode verurteilt und im September 1955 hingerichtet. 446 Fricke: Akten-Einsicht, S. 63–68, hier 67. Vgl. Protokoll Vernehmung Karl Wilhelm Fricke, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin, 14.10.1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 283/92, Bd. 8, Bl. 206–235, hier 213 f.; Fricke: Schauprozesse, S. 212; BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 215. Zur Anwendung der Methode der Folter durch Schlafentzug beim verschleppten KPDBundestagsabgeordneten Kurt Müller vgl. Gieseke: Erich Mielke, S. 248. 447 Vgl. Protokoll Vernehmung, Kriminalpolizei, 8.2.1967. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Beiakte, Bl. 11–13, hier 12 f.; Protokoll Vernehmung, 9.2.1967. Ebenda, Bl. 24–41, hier 34 f. Vgl. Horchem: Spione, S. 57. 448 Gieseke: Mitarbeiter, S. 145. Vgl. Sälter: Ablauf der Vernehmung, S. 282–284.
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gewesen sei.449 Der Journalist Alfred Weiland, der im November 1950 mit Gewalt entführt worden war, informierte nach seiner Rückkehr 1958 über seine elfmalige Einsperrung in verschiedene Karzer, darunter auch der »kalte Karzer«. Bei Außentemperaturen von minus 15 Grad sei er barfuß, bis auf die Unterwäsche ausgezogen und die Hände auf den Rücken gefesselt in ein kleines Kellerloch gesperrt worden, das einige Zentimeter unter Wasser stand. Bei seinen Vernehmungen unter sowjetischer Leitung sei er mehrmals »viehisch zusammengeschlagen« worden, u. a. mit einem Gummikabel.450 »Wenn ich keine Antworten gab, stand hinter mir eine Person, die mich würgte […]«451, berichtete Wilhelm van Ackern über seine erste Vernehmung nach seiner Entführung im März 1955. Der im November 1954 entführte Otto Krüger gab nach seiner Rückkehr aus der DDR-Haft an, dass er bei den Verhören wiederholt Gehirnerschütterungen durch Schläge auf den Kopf erlitten habe.452 Seit Mitte der 1950er Jahre griffen die MfS-Vernehmer jedoch mehr zur psychischen Gewalt: Gebrüll und Verhöhnung, wüste Beschimpfungen und Drohungen gehörten zum Psychoterror, dem die Entführungsopfer oft in ihren Vernehmungen ausgesetzt waren.453 So drohten MfS-Vernehmer dem geflohenen und im September 1961 aus West-Berlin entführten Grenzpolizisten Gerd Sommerlatte, dass sie ihn auch »an die Wand stellen«, also exekutieren könnten, wenn er nicht »auspacke«. Sommerlatte sollte Namen von anderen Grenzpolizisten nennen, die er angeblich zur Flucht angestiftet habe. Unter dem enormen psychischen Druck, der durch das Einsperren in eine
449 Brief, Kurt Müller an den Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl, 31.5.1956. Gedruckt in: Weber: DDR-Geschichtsschreibung, S. 17–29, hier 28; vgl. Kurt Müller: Der geplante Schauprozess. In: Knabe: Gefangen, S. 101–129, hier 122; Knabe: Lubjanka, S. 77; Otto: Erich Mielke, S. 132. Von einer solchen Kellerzelle, die etwa 1,80 m hoch und einen Quadratmeter groß gewesen ist, berichtet auch ein anderer ehemaliger DDR-Häftling in: Fricke: Politik und Justiz, S. 230. Vgl. Zahn: Haftbedingungen, S. 40. 450 Schreiben, Alfred Weiland an Bundeskanzler Konrad Adenauer, 24.11.1958. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag.; Erklärung, Alfred Weiland, November 1958. Ebenda, o. Pag.; Alfred Weiland: Partisan der Freiheit (unveröffentliches Manuskript). Berlin 1959, S. 33–51, 121 f., 157– 168, 215–229. Vgl. Kubina: Utopie, S. 395–404; ders.: Alfred Weiland, S. 74 f. Ein ehemaliger DDR-Häftling berichtete von Einzelzellen, in denen widerständige Häftlinge bei Temperaturen von 50 bis 60 Grad Celcius eingesperrt wurden. Vgl. Dokument 90 in: Fricke: Politik und Justiz, S. 224–227. 451 Protokoll Zeugenvernehmung Wilhelm van Ackern, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin, 10.11.1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 1, Bl. 24–32, hier 29. 452 Vgl. Zeugenaussage Otto Krüger, 14.1.1970. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag. 453 Vgl. Vernehmung Manfred Richter, Bundeskriminalamt Sicherungsgruppe, 7.5.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 12, Bl. 42–57, hier 55; Protokoll Vernehmung Karl Wilhelm Fricke, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin, 14.10.1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 283/92, Bd. 8, Bl. 206–235, hier 211 f.; Protokoll Vernehmung, Kriminalpolizei, 8.2.1967. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Beiakte, Bl. 11–13, hier 12 f. Vgl. Engelmann: Strafverfolgung, S. 292; Fricke: Politik und Justiz, S. 229 f., 232; ders.: Menschen- und Grundrechtssituation, S. 46 f. Die Methode des systematischen Schlafentzugs behielt das MfS bis 1989 bei.
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Dunkelzelle noch verstärkt wurde, lieferte Sommerlatte schließlich das gewünschte Geständnis – obwohl er desgleichen nicht getan hatte.454 Die Vernehmungsprotokolle, die eine wichtige Grundlage für die Anklageerhebung und das Gerichtsverfahren bildeten, ließen von diesen Bedingungen nichts erahnen. Sie gaben noch nicht einmal den Wortlaut der Beschuldigten wieder, sondern erweckten durch ihre Dialogform nur den Anschein. Die Aussagen wurden vom Vernehmer in selektierter und/oder verkürzter Form festgehalten sowie sprachlich umgeformt. Doch die erzwungenen Bestätigungen per Unterschrift durch die Verhörten verliehen den Protokollen einen rechtmäßigen Anstrich und Rechtsgültigkeit. In den weiteren Vernehmungen dienten die bereits protokollierten Aussagen dazu, die Verhörten unter Druck zu setzen und einzukreisen.455 Wenn ein Beschuldigter in seiner Gerichtsverhandlung versuchte, Aussagen zu widerrufen, wurden ihm seine Unterschriften entgegengehalten – so auch bei Otto Schneider, der im Mai 1955 gewaltsam entführt und vier Monate später zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Aus seiner Haft in Bautzen II richtete er im September 1956 einen Brief an die Generalstaatsanwaltschaft mit der Bitte um Wiederaufnahme seines Verfahrens und schrieb darin: »Sicher werden Sie fragen, Herr Generalstaatsanwalt, weshalb ich es [Vernehmungsprotokoll, Anm. SM] unterschrieben habe. Ich aber möchte den sehen der dort nicht unterschrieben hat. Denn diese unwürdige und unmenschliche Behandlungsart, die ich dort erlebt habe entspricht [sic!], gemeint ist wohl »widerspricht«, Anm. SM] den wahrhaft tiefsten Grundsätzen der Humanität. Sollte man mich zwecks Wiederaufnahme dorthin holen, dann würde ich lieber auf eine Wiederaufnahme verzichten. Wollte ich eine Berichtigung in meinem Protokoll, so wurde ich einfach überschrien und mir gesagt, das ich den Mund zu halten hätte. Die Wahrheit ist, das mir das Wort im Mund völlig herumgedreht wurde und dadurch das ganze Protokoll zu meinen Ungunsten abgefasst wurde.«456
Zu diesen Vorwürfen äußerte sich der Generalstaatsanwalt in seinem ablehnenden Bescheid nicht.457
454 Vgl. Protokoll Vernehmung Gerd Sommerlatte, Bayerische Landespolizei, 2.8.1966. LAB, B Rep. 058, Nr. 8079, Bl. 126–130, hier 128; Interview mit Gerd Sommerlatte, Jürgen Ast, 14.6.2010; Waltraud Messmann: Stasi fressen Seele auf. Viele Opfer bis heute traumatisiert – Bentheimer 20 Tage nach der Flucht wieder in die DDR verschleppt. In: Neue Osnabrücker Zeitung, 13.8.2011. 455 Vgl. Berichte von ehemaligen Inhaftierten in Fricke: Politik und Justiz, S. 225–227; Sälter: Ablauf der Vernehmung, S. 287–294. Sälter konstatiert: »In der sprachlichen Übermächtigung durch das MfS war also das Urteil bereits angelegt.« Siehe ebenda, S. 294 f. 456 Brief, Otto Schneider an Generalstaatsanwalt der DDR, StVA Bautzen II, 17.9.1956. BStU, MfS, AU 278/55, Bd. 5, Bl. 20–30, hier 25. 457 Vgl. Antwortschreiben, Generalstaatsanwalt der DDR an Leiter der StVA Bautzen II, 16.11.1956. BStU, MfS, AU 278/55, Bd. 5, S. 33.
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Die Verhöre hatten zweierlei Ziel: Zum einen musste für die vorgesehene Verurteilung ein Geständnis »erarbeitet« werden. Auch wenn sich die Verdachtsmomente des MfS als haltlos erwiesen, mussten Aussagen erlangt werden, aus denen Straftatbestände konstruiert werden konnten. Zum anderen galt es, Informationen zu gewinnen: Mit welchen Methoden arbeitet die feindliche Organisation, für die der Angeschuldigte tätig war? Wie ist sie strukturiert? Wer sind die Mitarbeiter? Welche Verbindungen hatte der westliche Regimegegner in die DDR? Über welche Kontaktpersonen verfügte der Mitarbeiter der westlichen »Spionagezentrale«? Die letzten beiden Fragen waren mit einer großen Gefährdung der entsprechenden Personen in der DDR verbunden, denen nun ebenfalls eine Verhaftung drohte. In Kenntnis dieser Gefahr versuchten Entführungsopfer oftmals, entsprechende Aussagen hinauszuzögern, um den gefährdeten Personen Zeit für eine rettende Flucht in den Westen zu verschaffen. Dem 1958 entführten westlichen Nachrichtendienstler Friedrich Böhm gelang es zum Beispiel in seinen Vernehmungen offenbar, die Verfolgung seiner Informanten und Kontaktpersonen durch eine Hinhaltetaktik, widersprüchliche Angaben und angebliche Personenverwechselungen zu beeinträchtigen. So hatte er wenige Tage nach seiner Entführung zwar bereits 32 Personen benannt, von denen das MfS jedoch nur zehn ermitteln konnte.458 Der Westberliner Journalist Karl Wilhelm Fricke – im April 1955 unter Einsatz von Betäubungsmitteln entführt – verweigerte nach fast neunmonatiger Untersuchungshaft im Dezember 1955 weitere Aussagen. Denn er hatte gemerkt, dass seine Vernehmungen immer weniger der Aufklärung seiner angeblichen Straftaten dienten, sondern der Gewinnung von Informationen über Personen aus seinem beruflichen Umfeld.459 Über den im August 1954 entführten Journalisten Herbert Eigner beschwerten sich die zuständigen MfS-Mitarbeiter, dass ihm »aufgrund seines stockigen Verhaltens« mehrere strafbare Handlungen erst durch »Vorhalte
458 Einschätzung, HA II/3, 8.10.1958. BStU, MfS, AOP 20495/62, S. 298–301; Schlussbericht, HA II/3, 17.7.1962. Ebenda, S. 343–351; rund 65 Vernehmungsprotokolle, MfS, 2.10.–18.12.1958. Ebenda, Bd. 10, S. 16–174, 184–271, 296–302; rund 40 Vernehmungsprotokolle und 9 Gegenüberstellungsprotokolle, MfS, 19.12.1958–4.5.1959. Ebenda, Bd. 11, Bl. 9–41, 48–136, 149–174, 180– 194, 201–280. Laut Bilanz der Hauptabteilung II waren in den Ermittlungen gegen Friedrich Böhm insgesamt 99 belastete Personen angefallen, von denen 32 vor und 15 nach seiner Entführung inhaftiert wurden, 27 inoffizielle Mitarbeiter des MfS oder polnischen Geheimdienstes waren sowie 17 nicht ermittelt werden konnten und 3 geflohen waren. Vgl. Bericht, HA II, 5.8.1959. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 7, S. 310–315; Übersicht über die im Vorgang »angefallenen Personen«, HA IX/1, 21.1.1959. Ebenda, S. 303–309, hier 303. 459 Vgl. Protokoll Zeugenvernehmung Karl Wilhelm Fricke, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin, 14.10.1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 283/92, Bd. 8, Bl. 206–235, hier 217; Fricke: Akten-Einsicht, S. 80 f.; ders.: Schauprozesse, S. 212 f.; BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 215 f.
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bzw. Gegenüberstellungen nachgewiesen werden« konnten. Zudem habe er mehrmals durch das Heben seiner geballten Fäuste mit Schlägen gedroht.460 Dieser Hinweis vermittelt einen Eindruck von der ohnmächtigen Wut, die vermutlich viele Entführungsopfer angesichts des ihnen widerfahrenen Unrechts verspürten. Im Untersuchungsvorgang gegen den Westberliner Siegfried Wenzel bilanzierten zwei Mitarbeiter der MfS-Hauptabteilung IX im Dezember 1956: »Seit Beginn seiner Inhaftierung versuchte […] W. laufend, die vernehmungsführenden Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit durch herausforderndes und provokatorisches Verhalten an seiner restlosen Entlarvung zu hindern. Er erklärte dabei, daß er sich mit allen Mitteln wehren müßte […]«461 Siegfried Wenzel war knapp vier Monate zuvor nach einem Lokalbesuch im alkoholisierten Zustand nach Ost-Berlin entführt worden.462 Diese Umstände seiner Festnahme brachte er in den Vernehmungen mehrmals zur Sprache – in verleumderischer Absicht, wie die MfS-Untersuchungsführer angaben.463 Neben der Gegenwehr in Form der Aussageverweigerung versuchten manche Entführungsopfer also auch um ihre Rechte zu kämpfen. Nach viermonatiger Untersuchungshaft richtete beispielsweise Johann Feldmann, der als KgU-Mitglied im März 1954 unter Alkoholeinfluss und mit Gewalt entführt worden war, einen Beschwerdebrief aus der MfS-Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Lichtenberg an den Generalstaatsanwalt von Groß-Berlin. In diesem forderte er die Einhaltung seiner Rechte, die ihm laut Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung zustehen würden wie beispielsweise die Beiordnung einer Rechtsvertretung.464 Ein Antwortschreiben taucht in den MfS-Akten nicht auf. Das MfS begegnete solchen Formen der Gegenwehr mit Drohungen und ihrer Taktik des »Weichkochens«, indem es die Häftlinge wochen- oder gar 460 Bericht, HA IX, 2.12.1954. BStU, MfS, AU 102/55, Bd. 1, S. 377. 461 Bericht, HA IX, 14.12.1956. BStU, MfS, AU 244/57, Bd. 2, S. 62. 462 Seit März 1956 plante die HA II/1 seine Entführung, die im August desselben Jahres gelang. Vgl. Zwischenbericht, Abt. II/4, 4.2.1955. BStU, MfS, AOP 786/57, Bd. 1, S. 16–19; Operativplan, Abt. II/4, 7.2.1955. Ebenda, S. 20–22; Sachstandsbericht, Abt. II/4, 5.7.1955. Ebenda, Bd. 2, S. 92– 97; »Vorplan zur Schleusung des Residenten«, HA II/1, 26.3.11956. Ebenda, Bd. 4, S. 14–21; Plan, HA II/1, 1.8.1956. Ebenda, S. 31 f.; Plan, HA II/1, 3.8.1956. Ebenda, S. 33–37; Festnahmebericht, Abt. VIII, 28.8.1956. Ebenda, S. 70; 19 Treffberichte, HA II/1, 16.4.–31.8.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 115 f., 118, 121 f., 127, 130, 132, 145, 154–157, 160 f., 168 f., 180–186, 188. 463 Vgl. Bericht, HA IX, 14.12.1956. BStU, MfS, AU 244/57, Bd. 2, S. 62. Angeblich freiwillig und auf eigenen Wunsch verfasste Siegfried Wenzel im November 1956 eine handschriftliche Erklärung über sein »freches, teilweise herausforderndes Verhalten«. Vgl. Erklärung, Siegfried Wenzel, 8.11.1956. Ebenda, Bd. 9, S. 99. Siegfried Wenzel wurde im März 1957 wegen Spionage zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt und im August 1964 von der Bundesrepublik freigekauft. Vgl. Urteil, 1. Strafsenat Bezirksgericht Frankfurt/O., 7.3.1957. Ebenda, Bd. 4, S. 81–90; Beschluss, 1. Strafsenat Bezirksgericht Frankfurt/O., 12.8.1964. Ebenda, Bd. 8, S. 184. 464 Vgl. Beschwerde bzgl. Rechtsverletzung, Johann Feldmann an Generalstaatsanwalt von Groß-Berlin, 20.7.1954. BStU, MfS, AU 522/58, Bd. 6, S. 57 f.
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monatelang in der Untersuchungshaft »schmoren« ließ. Der psychische Druck, der dadurch aufgebaut wurde, verschärfte sich noch durch die Isolationshaft, in der viele Entführungsopfer gehalten wurden.465 In diesem Kontext müssen die menschenverachtenden Haftbedingungen und demütigenden Schikanen in den Untersuchungshaftanstalten des sowjetischen MGB und des MfS Erwähnung finden.466 Viele der Entführungsopfer mussten ihre Untersuchungshaft in einem der beiden zentralen MfSUntersuchungshaftanstalten in Berlin verbringen. Die intern UHA II genannte Untersuchungshaftanstalt lag in Berlin-Lichtenberg, unweit der Frankfurter Allee. Das dortige Amtsgericht diente als Sitz der Untersuchungsführer des sowjetischen MGB und des Obersten Militärgerichts in der SBZ/DDR (SMT Nr. 48420). Den angrenzenden Zellentrakt nutzte der sowjetische NKWD/MGB bereits seit 1945 und übergab ihn Mitte der 1950er Jahre an das MfS.467 Bereits im Jahr 1951 hatte das MfS ein Haftgebäude des NKWD/MGB in Berlin-Hohenschönhausen übernommen, das mitten im dortigen Sperrgebiet lag und die interne Bezeichnung UHA I trug. Die Unterbringung der Häftlinge erfolgte dort bis Ende der 1950er Jahre in den berüchtigten Kellerzellen, die aufgrund der Dunkelheit, Kälte und Feuchtigkeit als »U-Boot« bezeichnet wurden. Nur die Zellen an den Außenwänden verfügten über vergitterte Fenster mit blinden Scheiben, die zumindest etwas Tageslicht durchließen. Die anderen Zellen wurden Tag und Nacht mittels einer Glühlampe oberhalb der Zellentür ausgeleuchtet, sodass die Inhaftierten nicht selten sogar die zeitliche Orientierung verloren. Denn ohne Uhr, die bei der Einlieferung meist abgenommen wurde, ohne Tageslicht und dem MfSdirigierten Rhythmus von Vernehmungen ausgesetzt, konnten sie aus eigener Kraft nicht einmal der Tageszeit gewahr werden. Die Ausstattung der Zellen, die maximal neun Quadratmeter groß waren, bestand aus einer (Gemeinschafts-)Pritsche aus Holz und einem Kübel für die Notdurft. Die fensterlosen Zellen hatten zudem einen kleinen Lüftungsschacht, der jedoch nur unzureichend für den Sauerstoffaustausch sorgte. In der Anfangszeit waren diese Zellen mit mehreren Personen belegt, später dienten sie als Einzelzellen – sowohl die mangelnde Bewegungsfreiheit als auch die Isolation dienten der
465 Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 80 f.; BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 215; Interview mit Gerd Sommerlatte, Jürgen Ast, 14.6.2010; Sälter: Ablauf der Vernehmung, S. 284–286. 466 Einen kleinen Überblick zu den Haftorten, die in den 1940er und 1950er Jahren vom NKWD/MGB und MfS genutzt wurden, liefern Rudolph/Drauschke/Sachse: Hingerichtet, S. 58–68. Berichte ehemaliger Häftlinge der Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen sind veröffentlicht in: Hubertus Knabe (Hg.): Gefangen in Hohenschönhausen. Berlin 2007. Ausführlich berichtet der 1950 entführte Alfred Weiland über seine Untersuchungshaft in: Alfred Weiland: Partisan der Freiheit (unveröffentliches Manuskript). Berlin 1959. 467 Vgl. Rudolph/Drauschke/Sachse: Hingerichtet, S. 58–60.
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Zermürbung.468 Entführungsopfer wie Walter Linse, Wilhelm van Ackern oder Karl Wilhelm Fricke waren in derartigen Zellen eingesperrt.469 Die Häftlinge wurden nicht über ihren genauen Aufenthaltsort aufgeklärt. Es lag nicht im Interesse des MfS, ihnen eine Orientierungsmöglichkeit zu geben. Denn die Orientierungslosigkeit war beabsichtigt, da sie das Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins und der Ausweglosigkeit verstärkte. Karl Wilhelm Fricke spricht von einer Taktik der »psychologischen Einkreisung«, die das MfS mit relativ einfachen Techniken betrieb wie beispielsweise durch die permanente Überwachung, die den Häftlingen stets ins Bewusstsein gerufen wurde. Die Kontrolle von Gefängniszellen mithilfe von Türspionen ist keine Besonderheit, doch in der MfS-Untersuchungshaftanstalt kontrollierten die Wachposten die Insassen der Zellen tagsüber im Takt von wenigen Minuten. Und da sie sich auf extra ausgelegten Läufern und mit Filzpantoffeln über ihren Schuhen durch die Kellergänge bewegten, bemerkten die Häftlinge sie erst unmittelbar am Türspion, dessen Abdeckung geräuschvoll betätigt wurde. Die psychische Belastung, die durch diese simple Technik hervorgerufen wurde, ist nicht zu unterschätzen: Unablässig führte das metallische Geräusch den Häftlingen die Ausweglosigkeit ihrer Situation vor Augen und trug zu ihrer Zermürbung bei.470 Diese Funktion erfüllte auch die totale Isolation, der die Häftlinge ausgesetzt waren. In Einzelhaft gehalten, ohne Sprech- und Schreiberlaubnis von der Außenwelt völlig isoliert, blieb oft der Vernehmer die einzige Person, mit der die Entführungsopfer reden durften und konnten. Gezielt potenzierte das MfS das Redebedürfnis der Verschleppten und Entführten, um dieses auszunutzen. Im Dienst der gleichen Taktik kam es in vielen Fällen im Laufe der Untersuchungshaft auch zur Aufhebung der Isolationshaft, um durch einen Zellenspitzel weitere Informationen zu bekommen.471 Karl Wilhelm Fricke verbrachte den Großteil seiner 455 Tage dauernden Untersuchungshaft in Einzelhaft, mit Ausnahme der ersten Wochen, in denen er sich die Zelle mit einem Mithäftling teilen musste. Dass dieser als Zelleninformant für das MfS tätig war und 468 Ende der 1950er Jahre wurde ein Neubau mit über 200 Zellen und Vernehmungszimmern errichtet, in dem die Zellen dann über Tageslicht (durch undurchsichtige Glasbausteine) und Toiletten verfügten. Vgl. Knabe: Lubjanka, S. 77–79; Beleites: Untersuchungshaftvollzug, S. 457–459; Fricke: Akten-Einsicht, S. 74 f.; ders.: Geschichtsrevisionismus, S. 491 f.; Rudolph/Drauschke/Sachse: Hingerichtet, S. 63; Knabe: Gefangen, S. 11–13; Zahn: Haftbedingungen, S. 27. 469 Vgl. Protokoll Zeugenvernehmung Wilhelm van Ackern, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin, 10.11.1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 1, Bl. 24–32, hier 29; BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 213–216; Knabe: Lubjanka, S. 77 f. 470 Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 75; BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 214; Fricke: Politik und Justiz, S. 228; Beleites: Untersuchungshaftvollzug, S. 457–459; Zahn: Haftbedingungen, S. 32 f. 471 Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 114; Engelmann: Staatssicherheitsjustiz, S. 143–145; Knabe: Lubjanka, S. 79; Beleites: Untersuchungshaftvollzug, S. 459 f.; Beleites: Haft, S. 114–118; Sälter: Ablauf der Vernehmung, S. 285.
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ihn gezielt aushorchte, erfuhr Fricke erst aus den MfS-Akten.472 Ein solcher Einsatz von Zellen-IM zeigt sich beispielsweise auch im Untersuchungsvorgang gegen die beiden ehemaligen SED-Funktionäre Otto Krüger und Paul Behm, die im November 1954 und März 1955 aus West-Berlin verschleppt bzw. entführt wurden. Behms Mithäftling in der MfS-Untersuchungshaftanstalt II in Berlin-Lichtenberg berichtete von Ende März bis Anfang Mai 1955 mehrmals über die Gespräche in ihrer Zelle, in denen Behm wiederholt über die stundenlangen Vernehmungen und falschen Protokolle klagte. In derselben Untersuchungshaftanstalt lieferte ein Mithäftling von Otto Krüger im Januar 1955 dem MfS 15 ausführliche Berichte über ihn. Otto Krüger rechnete allerdings damit, dass das MfS die in der Zelle geführten Gespräche über eingebaute Wanzen verfolgen konnte.473 Dass dieser Verdacht nicht unberechtigt war, zeigen die MfS-Akten zu Walter Linse, der im Juli 1952 brutal entführt und schließlich im Dezember 1953 in Moskau erschossen wurde. Der Westberliner Rechtsanwalt wurde während seiner Inhaftierung in der MfS-Untersuchungshaftanstalt I in Berlin-Hohenschönhausen nicht nur durch zwei Mithäftlinge bespitzelt, sondern auch in seiner Zelle abgehört. In erschütternder Weise dokumentieren die über 100 Abhörprotokolle die Haftsituation, aber auch das Gefühlsleben des Entführten. So drehten sich die Gesprächsthemen immer wieder um die mangelnde Verpflegung und den Hunger sowie um die nächtlichen Verhöre und das wechselhafte Verhalten der Vernehmer. Zum Ausdruck kamen zudem Linses Fassungslosigkeit über seine Entführung, über die er mit seinem Zellengenossen immer wieder sprach, seine Niedergeschlagenheit und Verzweiflung, aber auch seine Zuversicht, freigelassen zu werden. Gerade an seine Inhaftierung in einer Gemeinschaftszelle knüpfte Linse die Hoffnung auf eine Haftentlassung. Er war der Ansicht, dass man ihn in Einzelhaft gesteckt hätte, wenn man ihn hätte verschwinden lassen wollen. Vor diesem Hintergrund instruierte er auch wiederholt seinen Zellengenossen, wen er im Falle einer Freilassung in West-Berlin informieren und was er konkret ausrichten sollte.474
472 Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 76. 473 Vgl. 15 Zelleninformator (ZI)-Berichte zu Otto Krüger, MfS, Januar 1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 3, S. 256–321; 10 ZI-Bericht zu Paul Behm, MfS, 30.3.–9.5.1955. Ebenda, Bd. 4, S. 246–259. 474 Die Protokolle zur Abhörmaßnahme finden sich in: BStU, MfS, GH 105/57, Bd. 2, S. 2– 362. Besonders: Protokoll zu Auftrag B 96/6, HA S, 8.9.1952. Ebenda, S. 11 f.; Protokoll zu Auftrag B 96/10, HA S, 10.9.1952. Ebenda, S. 18–20; Protokoll zu Auftrag B 96/16, HA S, 15.9.1952. Ebenda, S. 32 f.; Protokoll zu Auftrag B 96/18, HA S, 16.9.1952. Ebenda, S. 37–43; Protokoll zu Auftrag B 96/21, HA S, 15.9.1952. Ebenda, Bl. 52–54; Protokoll zu Auftrag B 96/22, HA S, 16.9.1952. Ebenda, S. 55 f.; Protokoll zu Auftrag B 96/26, HA S, 18.9.1952. Ebenda, Bl. 64; Protokoll zu Auftrag B 96/29, HA S, 18.9.1952. Ebenda, S. 70–73; Protokoll zu Auftrag B 96/34, HA S, 20.9.1952. Ebenda, S. 85; Protokoll zu Auftrag B 96/37, HA S, 22.9.1952. Ebenda, S. 89–91; Protokoll zu Auftrag B 96/44, HA S, 29.9.1952. Ebenda, S. 123; Protokoll zu Auftrag B 96/52, HA S, 4.10.1952. Ebenda, S. 161–167; Protokoll zu Auftrag B 96/60, HA S, 12.10.1952. Ebenda, S. 213–
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Linse ahnte offenbar nicht, dass ihn das MfS in dieser Zeit (September bis Dezember 1952) in seiner Zelle überwachte – sogar in doppelter Weise: per Abhöranlage und per Zellen-IM. Der Mithäftling, mit dem er die Zelle teilte und dem er soviel anvertraute, gab diese Informationen in mehr als 30 Berichten an das MfS weiter.475 Linse sah seine Zellengenossen als vertrauenswürdige Leidensgenossen. So offenbarte er seinem ersten Mithäftling im Sommer 1952 u. a. seine Taktik bei den Vernehmungen, die Bekanntgabe von Namen möglichst lange zu verzögern oder die Ermittlungen durch falsche oder unvollständige Angaben zu erschweren. Der angebliche Jura-Student informierte darüber das MfS, dem er in einem knappen Monat rund 25 Berichte über Linse lieferte.476 Fast zwei Wochen nach Linses Entführung vermeldete der Zellen-IM: »Linses bisherige Haltung bei seinen Vernehmungen ist gerade in den letzten zwei Tagen mächtig ins Wanken gekommen. Das liegt einesteils an der Erschöpfung, die seine dauernden nächtlichen Verhöre mit sich bringen, andererseits aber auch daran, daß er einzusehen scheint, daß es keinen Zweck hat, seine Vernehmer hinters Licht führen zu wollen. Die Hoffnung auf einen baldigen Austausch kommt durch meine Beeinflussung langsam ins Wanken.«477
Der Nutzen der Zellen-IM wird hier deutlich: Das MfS gewann auf diese Weise nicht nur wertvolle Informationen, die ein Beschuldigter in den Vernehmungen eventuell verschwieg, sondern konnte bisweilen auch indirekt auf ihn einwirken. Es erfuhr mitunter, welche Verhaltens- und Aussagetaktik ein Inhaftierter verfolgte und – im Falle der Entführungsopfer – wie sie ihre Verschleppung oder Entführung wahrnahmen und wen sie als Tatbeteiligte verdächtigten. So berichtete der Verfassungsschutz-Mitarbeiter Gustav Buchner beispielsweise seinem Mithäftling in der MfS-Untersuchungshaft ausführlich über seine gewaltsame Entführung im Juli 1954. Dieser gab die Schilderungen von Gustav Buchner an das MfS weiter, zusammen mit der Einschätzung: »Daß man ihn, wie er sagt, einfach ›geklaut‹ hat[,] erbost ihn maßlos und jedesmal wenn er zur Vernehmung muß, packt ihn darüber immer wieder die Wut.«478
215; Protokoll zu Auftrag B 96/83, HA S, 5.11.1952. Ebenda, S. 279–281; Protokoll zu Auftrag B 96/105, HA S, 27.11.1952. Ebenda, S. 344–349. Vgl. Kirsch: Walter Linse, S. 80–83. 475 Vgl. 33 handschriftliche ZI-Berichte, MfS, 9.9.–1.12.1952. BStU, MfS, GH 105/57, Bd. 4, S. 382–494. 476 Vgl. 25 handschriftliche ZI-Berichte, MfS, 11.7.–9.8.1952. Ebenda, S. 308–381. 477 Handschriftlicher ZI-Bericht, MfS, 21.7.1952. Ebenda, S. 329–331, hier 329. 478 ZI-Bericht, MfS, o. D. BStU, MfS, AU 95/56, Bd. 2, S. 172–179, hier 176. Auch die bereits erwähnten Otto Krüger und Paul Behm machten gegenüber ihren Mithäftlingen Andeutungen zu ihren Entführungen. Vgl. ZI-Bericht über Otto Krüger, MfS, Januar 1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 3, S. 256–263, hier 256; ZI-Bericht über Paul Behm, MfS, ca. Mai 1955. Ebenda, Bd. 4, S. 258– 260, hier 259.
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Die körperliche, aber vor allem die enorme psychische Belastung der Untersuchungshäftlinge führte nicht selten zu sogenannten »Haftkollern«, die im Schreien und Randalieren in der Zelle, in gewalttätigen Ausbrüchen gegen andere oder sich selbst zum Ausdruck kamen. Im Fall eines Entführten diagnostizierte der Chefarzt der Krankenanstalt Waldheim eine schwere Haftpsychose, nachdem dieser mehrmals ausgerastet oder in völliger Apathie versunken war, zum Teil die Nahrungsaufnahme verweigert, sich selbst Verletzungen zugefügt und andere angegriffen hatte. Das MfS vermutete, dass der Entführte nur simuliere, um einer Verurteilung zu entgehen. Tatsächlich bestätigten zwei psychiatrische Gutachten seine Verhandlungs- und Haftfähigkeit, empfahlen allerdings, den Abschluss des Strafverfahrens schnell voranzutreiben und die Unterbringung in Einzelhaft zu vermeiden, da diese für die haftpsychotischen Ausnahmezustände weitgehend verantwortlich sei.479 Von Interesse war hier weniger das Wohl des Patienten, sondern seine Verhandlungsfähigkeit: »Seinem dauernden Drängen auf Herausnahme aus der Einzelzelle mußte jedoch schließlich, um einen Rückfall […] in seinen früheren Zustand zu verhindern und um den […] so schnell wie möglich verhandlungsfähig zu machen, stattgegeben werden.«480 IV.2 Die Prozesse Als Untersuchungsorgan besaßen die MfS-Diensteinheiten der Linie IX nicht nur unmittelbaren Zugriff auf das Ermittlungsverfahren, sondern konnten durch dessen Verlauf und Ergebnisse die gerichtlichen Entscheidungen steuern und manipulieren. Diese weitreichenden Befugnisse waren im Sinne und in der Absicht der SED-Politbürokratie, die gerade in den 1950er Jahren noch Bedenken hinsichtlich der politischen Zuverlässigkeit der Justiz hegte. Das MfS entschied, welche Vernehmungsprotokolle, Dokumente und Beweismittel eines Untersuchungsvorganges an die Staatsanwaltschaft und das zuständige Gericht weitergegeben wurden. Diese Praxis diente nicht nur der Steuerung des Strafverfahrens, sondern auch der Konspiration.481 Denn die Unterlagen
479 Vgl. Aktennotiz, HA IX, 18.3.1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 2, S. 233; Bericht, HA IX, 14.4.1955. Ebenda, S. 270–272; Bericht über Angriff eines U-Häftlings, Abt. XIV Objekt II, 4.7.1955. Ebenda, Bd. 3, S. 111; Bericht, Abt. XIV Objekt I, 8.7.1955. Ebenda, S. 112 f.; Psychiatrisches Gutachten, Krankenanstalt Waldheim, 31.5.1955. Ebenda, Bd. 6, S. 25–33; Psychiatrisches Gutachten, Krankenanstalt Waldheim, 19.10.1955. Ebenda, Bd. 5, S. 162–166. 480 Psychiatrisches Gutachten, Krankenanstalt Waldheim, 19.10.1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 5, S. 162–166. 481 Vgl. Beleites: Ermittlungsverfahren, S. 75 f.; Engelmann: Staatssicherheitsjustiz, S. 141, 143; Fricke: MfS als Instrument, S. 201 f.; ders./Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 108, 111 f. Nach seiner Flucht berichtete der MfS-Mitarbeiter und Vernehmungsoffizier Bruno Krüger im Dezember 1953 in der Bundesrepublik von diesem Verfahren. 10 Monate später wurde er unter ungeklärten
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konnten auch Angaben über die Arbeitsweise des MfS, über hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter etc. enthalten, die natürlich nicht in fremde Hände gelangen sollten.482 Nach dem Prinzip der doppelten Aktenführung bestanden die Untersuchungsvorgänge des MfS somit aus einer Handakte, die operatives Material, Berichte von Zellen-IM und internen Schriftverkehr enthielt, und aus einer Hauptakte mit dem strafprozessual legalem Material. Der aufsichtführende Staatsanwalt bekam nur die offizielle Hauptakte zu Gesicht, ein Einblick in die Handakte war strikt untersagt. Bei der Übergabe eines Untersuchungsvorganges an eine Staatsanwaltschaft beinhaltete dieser auch einen Schlussbericht des MfS, der oft in großen Teilen oder sogar wortwörtlich in die Anklageschrift übernommen wurde.483 Dass das MfS zudem direkt in die Prozessführung eingreifen konnte, soll im Folgenden am Beispiel des Entführungsopfers Karl-Albrecht Tiemann gezeigt werden. Der Volkshochschuldozent, geboren 1902, war im Frühjahr 1950 aus Cottbus nach West-Berlin geflüchtet und ein gutes Jahr später durch einen IM-Bericht als Mitarbeiter des »Amtes Blank« ins Visier des MfS geraten.484 Bereits 1952 begannen im Staatssicherheitsapparat Überlegungen und Planungen, ihn nach Ost-Berlin zu entführen. Zu diesem Zweck warb man im Januar 1954 schließlich einen Cousin Tiemanns als GM »Brigade« an, der Tiemann im Sommer dessselben Jahres in eine Falle lockte. So begab sich Tiemann am Abend des 1. August 1954 mit dem GM »Brigade« zum Westberliner Böttcherberg in der Nähe der Glienicker Brücke, der an drei Seiten an das Gebiet der DDR grenzte, um dort einen vermeintlichen Informanten zu treffen. Dort wartete jedoch bereits ein MfS-Kommando, das Tiemann überwältigte und festnahm.485 Nach seiner Einlieferung in die MfSUmständen entführt, 1955 in der DDR zum Tode verurteilt und hingerichtet. Vgl. Aussage von Bruno Krüger, 2.12.1953. Gedruckt in: BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 216 f. 482 Nach wiederholten Verstößen gegen die Konspiration gab es eine MfS-interne Dienstanweisung, in der aufgeführt war, welche Unterlagen in welcher Reihenfolge ein Untersuchungsvorgang bei einer Abgabe enthalten sollte. Vgl. Dienstanweisung »Übergabe von Untersuchungsvorgängen an die Staatsanwaltschaft und die Gerichte«, MfS, 20.3.1952. Gedruckt in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente, S. 46–48, hier 46. 483 Vgl. Dienstanweisung Nr. 1/52 zum Befehl Nr. 74/52, MfS, 15.5.1952. Gedruckt in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente, S. 51–54, hier 53; Engelmann: Strafverfolgung, S. 290–294; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 108, 111 f.; Engelmann: Staatssicherheitsjustiz, S. 141, 143; Vollnhals: Schein, S. 222–225, 245. 484 Tiemann hatte sich kritisch über die Entlassung des örtlichen Landrates geäußert und wurde daraufhin aus der Partei ausgeschlossen und verlor u. a. sein Amt als Kreissekretär des Kulturbundes. Angesichts der Drohung, dass er als Reaktionär sein Lebensrecht in der DDR verloren habe, floh er in den Westen. Vgl. Engelmann: Karl-Albrecht Tiemann, S. 306 f. 485 Ungeklärt ist, ob Tiemann zuvor die Grenze überschritt. Vgl. Zwischenbericht, MfS, 25.8.1952. BStU, MfS, AOP 151/53, Bd. 1, S. 194–198; Bericht mit Entführungsvorschlägen, GM »Adler«, 27.8.1952. Ebenda, S. 249; Bericht, GM »Adler«, 5.9.1952. Ebenda, S. 247 f.; Zwischenbericht, MfS, 13.10.1952. Ebenda, Bd. 2, S. 92–98; Vermerk, ZERV 213, 7.1.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 122/95, Bd. 3, S. 84–93, hier 86 f.; Vermerk, ZERV 213, 16.1.1997. Ebenda,
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Untersuchungshaft begannen umgehend die Verhöre. Die Hauptabteilung IX/1 erstellte bis Mitte Dezember 1954 über 70 Vernehmungsprotokolle, die sie zur Auswertung und Überprüfung u. a. an die Hauptabteilung II/4 weiterleitete.486 Nachdem sie ihren Schlussbericht verfasst hatte, übermittelte ihr die Hauptabteilung II/4 eine Liste von 18 Personen, die bei einer Übergabe an das Gericht aufgrund ihrer Anwerbung für das MfS im Aktenvorgang gegen Tiemann nicht mehr auftauchen durften.487 Im Frühjahr 1955 begannen dann die Vorbereitungen des Prozesses gegen Tiemann vor dem Bezirksgericht Cottbus, die in enger Absprache zwischen MfS und Staatsanwaltschaft erfolgten. So vereinbarte der zuständige Mitarbeiter der Hauptabteilung IX/1 mit dem Bezirksstaatsanwalt in Cottbus: Der Prozess habe unter Ausschluss der Öffentlichkeit (inklusive Presse) und strengster Geheimhaltung stattzufinden. Es sollte lediglich eine Pressenotiz geben, die vom Bezirksstaatsanwalt verfasst und von der Hauptabteilung IX/1 genehmigt werden sollte. Zudem wurde die Auswahl von Richter, Schöffen und Rechtsanwalt auf Grundlage der politischen Zuverlässigkeit abgesprochen und Hinweise für die staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Vernehmung des Angeklagten Tiemann gegeben.488 Der Entschluss, die Gerichtsverhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit und Presse zu führen, dürfte mit Tiemanns Verhalten während der Untersuchungshaft im Zusammenhang stehen. Dort hatte er sich – auch in den Vernehmungen – als außerordentlich standhaft gezeigt. Und auch in dem inszenierten Prozess vor dem Bezirksgericht Cottbus Anfang März 1955 erfüllte er nicht die ihm zugedachte Rolle: Schon nach der Verlesung des Eröffnungsbeschlusses gab er eine Erklärung ab, in der er auf seine gewaltsame Entführung aus West-Berlin hinwies und vor diesem Hintergrund die Zulässigkeit des Verfahrens und Zuständigkeit des DDR-Gerichts anzweifelte. Er fordert die Aushändigung der Anklageschrift, die er nur einmal habe lesen können. Das Gericht ging auf die Vorwürfe ein, bekräftigte mit Hinweis auf S. 96 f.; Mitteilung, ZERV an Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin, 24.3.1997. Ebenda, S. 134–136.; Vermerk, ZERV 213, 20.6.1997. Ebenda, S. 163; Zusammenfassung Ermittlungsergebnisse, ZERV 213, 14.10.1997. Ebenda, S. 180–185. 486 Vgl. Aufstellung Vernehmungsprotokolle aus Zeitraum 1.8.–17.12.1954, MfS, o. D. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 1, S. 19– 21; 58 Vernehmungsprotokolle, MfS, 1.8.–26.10.1954. Ebenda, S. 47–101, 107–118, 121–124, 128–493; 14 Vernehmungsprotokolle, MfS, 27.10.–16.12.1954. Ebenda, Bd. 2, S. 6–51, 59–62, 199–209, 221–223; Bericht über Zusammenarbeit mit HA II/4, HA IX/1, 16.10.1954. Ebenda, S. 234–236. 487 Vgl. Schlussbericht, MfS, 14.12.1954. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 2, S. 517–541; Mitteilung, HA II/4 an HA IX/1, 23.12.1954. Ebenda, S. 249. Einen Eindruck von den Ermittlungen im Umfeld von Tiemann vermittelt der Operative Vorgang »Material«. Die Zielperson des Vorgangs wurde verdächtigt, mit Tiemann zusammenzuarbeiten, und einen Tag nach dessen Entführung verhaftet. Vgl. BStU, MfS, AOP 199/54. 488 Vgl. Aktenvermerk, HA IX/1, 5.2.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 2, S. 279 f.; Bericht über Prozessverlauf, HA IX/1, 2.3.1955. Ebenda, S. 285–288, hier 286.
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die gesetzliche Grundlage seine Zuständigkeit und überreichte tatsächlich die Anklageschrift. Den Vorwurf der Entführung widerlegte der Staatsanwalt durch den offiziellen Festnahmebericht, der als Ort der Verhaftung Ost-Berlin vermerkte.489 Doch bei der nächsten Gelegenheit, der Beweisaufnahme, schoss Tiemann wieder quer: Er verwies auf den zweifelhaften Charakter der Vernehmungsprotokolle und betonte, sich nach Westberliner Rechtslage nicht strafbar gemacht und in der Überzeugung gehandelt zu haben, einer guten Sache zu dienen. So sei seine Tätigkeit für die Vereinigung Politischer Ostflüchtlinge (VPO) keineswegs Hetze gewesen, sondern habe der Aufklärung über die Verhältnisse in der DDR gedient. Und seine geheimdienstliche Tätigkeit für den britischen Geheimdienst habe er als legaler, hauptamtlicher Mitarbeiter ausgeübt. Ein anwesender Mitarbeiter der MfS-Hauptabteilung IX/1 sah ein Eingreifen als notwendig: »In den Verhandlungspausen wurden dem Staatsanwalt und dem Richter Hinweise zur Zerschlagung der Argumente gegeben, für die die Genossen sehr dankbar waren.«490 Trotz allem lautete das Fazit seines Berichts über den Prozess: »Irgendwelche Pannen traten im Prozessverlauf nicht auf. Die Prozessführung war im allgemeinen gut. Staatsanwalt und Richter hatten sich gut vorbereitet. Organisatorische Mängel traten nicht auf.«491 In der Anklageschrift wurde Tiemann der »Spionage- und Agententätigkeit, Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Völkerhass, Kriegshetze und militaristische Propaganda« beschuldigt. Zum einen habe er eine »systematische Hetztätigkeit« im Dienste der VPO und der Deutschen Freiheitsliga begangen. Zum anderen habe er mit verschiedenen westlichen Geheimdiensten – wie dem französischen, britischen, amerikanischen und dänischen Geheimdienst sowie dem Amt Blank und der Organisation Gehlen – zusammengearbeitet und zu diesem Zweck ein Spionagenetz von etwa 100 Agenten unterhalten. Dadurch habe er sich eines Verbrechens gemäß Artikel 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und Kontrollratsdirektive 38 Abschnitt II Artikel III A III strafbar gemacht.492 Auf dieser Grundlage beantragte der Staatsanwalt am zweiten Verhandlungstag die Todesstrafe. Bereits im Januar 1955 hatte die Generalstaatsanwaltschaft der DDR die Abteilung Justiz des Hohen 489 Wortlaut: »Obengenannter wurde am 1.8.1954 bei der Durchführung einer gegen die Deutsche Demokratische Republik gerichtete Handlung auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik festgenommen.« Vgl. Amtlicher Nachweis, MfS, o. D. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 7, S. 244. 490 Bericht über Prozessverlauf, HA IX/1, 2.3.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 2, S. 285–288, Zitat S. 287; vgl. Protokoll der Hauptverhandlung, Bezirksgericht Cottbus, 28.2.1955. Ebenda, Bd. 4, S. 94–116, hier 94 f., 100–114; Engelmann: Karl-Albrecht Tiemann, S. 308 f. 491 Bericht über Prozessverlauf, HA IX/1, 2.3.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 2, S. 285–288, hier 288. 492 Vgl. Anklageschrift, Staatsanwalt des Bezirks Cottbus, 3.2.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 4, S. 75–86, hier 75 f.; Eröffnungsbeschluss, Bezirksgericht Cottbus, 18.2.1955. Ebenda, S. 89 f.
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Kommissars der UdSSR in Deutschland über die Ermittlungsergebnisse im Fall Tiemann und über den beabsichtigten Antrag auf die Höchststrafe informiert. Das Plädoyer von Tiemanns Rechtsanwalt, mildernde Umstände zu berücksichtigen, blieb wirkungslos.493 Der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Cottbus folgte dem Antrag des Staatsanwalts und bekräftigte im Urteil nochmals seine Zuständigkeit: »Jeder, ganz gleich welcher Nation er angehört, der sich in der Deutschen Demokratischen Republik nach den Gesetzen strafbar macht, wird bestraft. Die Handlung der Angeklagten stellen einen Angriff gegen die Grundlagen unseres Staates dar.«494 Tiemann ließ durch seinen Rechtsanwalt das Urteil anfechten. In seiner Begründung verwies dieser nochmals auf Tiemanns Herkunft aus West-Berlin, dass er die ihm vorgeworfenen Taten nur dort verübt habe und unfreiwillig in der DDR sei.495 Doch das Oberste Gericht der DDR wies die Berufung zurück und konstatierte in seinem Urteil: »Für die Strafbarkeit des Verbrechens des Angeklagten ist es soweit es das Recht der Deutschen Demokratischen Republik betrifft, gänzlich unerheblich, ob die verbrecherischen Handlungen vom Angeklagten unmittelbar auf dem Territorium unseres Staates ausgeführt wurden, oder ob er, wie im vorliegenden Fall, der Inspirator der jeweiligen Verbrechen war und andere Spione und Diversanten mit der Ausführung beauftragte. Die Tätigkeit derartiger Initiatoren wie der Angeklagte einer war, ist noch weitaus gefährlicher als die der einzelnen ausführenden Agenten, und demnach auch strafrechtlich entschieden schwerer zu bewerten.«496
Diese Sichtweise dürfte auch in zahlreichen anderen Gerichtsverfahren gegen Entführungsopfer richtungsweisend gewesen sein. Das Todesurteil gegen Tiemann ist zudem ein Zeugnis für die erneute Radikalisierung der politischen Justiz im Jahre 1955, in dem mindestens 30 Todesurteilen zu verzeichnen sind. Die Hälfte dieser Verurteilungen zum Tode erfolgte unter dem politischen Tatvorwurf des »Staatsverbrechens«.497 493 Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung, Bezirksgericht Cottbus, 28.2.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 4, S. 94–116, hier 115; Schreiben, Generalstaatsanwaltschaft der DDR an den Hohen Kommissar der UdSSR in Deutschland Abt. Justiz, 13.1.1955. Ebenda, Bd. 8, S. 4–11. 494 Urteil, Bezirksgericht Cottbus, 3.3.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 4, S. 117–135, hier 131. Ein mitangeklagter 55-Jähriger war ebenfalls ein Entführungsopfer. Er wurde im November 1954 unter einem Vorwand von einem vermeintlichen Freund (GI des MfS) nach Ost-Berlin gelockt und dort festgenommen. Er stand mit Tiemann in Verbindung und erhielt eine Zuchthausstrafe von 5 Jahren wegen Spionage. Vgl. ebenda, S. 117 f.; Festnahmebericht, HA V/4, 6.11.1954. Ebenda, Bd. 2, S. 296. 495 Vgl. Berufung, Rechtsanwalt, 5.3.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 4, S. 140 f. 496 Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 1.4.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 4, S. 146–161, hier 157. 497 Die anderen 15 Todesurteile wurden im Zusammenhang mit Delikte der allgemeinen Kriminalität (vor allem Tötungsdelikten) und NS-Verbrechen (4 Fälle) gefällt. Mindestens 23 der 30 Todesurteile wurden vollstreckt. Vgl. Werkentin: Recht, S. 36.
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Das anschließende Gnadengesuch des Rechtsanwalts an den Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck konnte vor diesem Hintergrund nur erfolglos verlaufen.498 Nachdem das SED-Politbüro der Hinrichtung Tiemanns zugestimmt hatte, wurde er in den frühen Morgenstunden des 26. Juli 1955 in Dresden enthauptet. Seine letzten Wünsche wurden ihm nur teilweise erfüllt: Einen Brief an seine Ehefrau durfte er schreiben, doch dieser erreichte sie erst nach 1990. Der gewünschte geistliche Beistand wurde ihm hingegen aus »Gründen der Staatssicherheit« verwehrt.499 Die Folgsamkeit der DDR-Richter bei der Urteilsfindung im Hinblick auf die staatsanwaltschaftlichen Strafanträge, wie sie sich im Verfahren gegen KarlAlbrecht Tiemann zeigte, war der Regelfall. Mitunter entsprach die Urteilsbegründung größtenteils dem Wortlaut der Anklageschrift und damit auch des MfS-Schlussberichtes, der als Vorlage für die staatsanwaltschaftliche Anklage diente.500 Werkentin erläutert in diesem Zusammenhang: »Wissend um die engen Beziehungen von Staatsanwaltschaft, Partei und MfS, brauchten sie sich nur an die Strafanträge zu halten, um im Normalfall sicher zu sein, für das ausgesprochene Urteil nicht gerügt zu werden.«501 Staatsanwaltschaft und Richter waren sich bewusst, dass das MfS eine politische Strafsache auch nach der Abgabe des Ermittlungsverfahrens weiter überwachte, und damit auch ihre Amtsausübung kontrollierte. Ein MfS-Bericht über den Verlauf des Prozesses gegen einen Mitarbeiter der russischen Emigranten-Organisation ZOPE, der im Dezember 1956 aus West-Berlin entführt worden war, verdeutlicht diese Überwachung. Der MfS-Beobachter vermerkte die überlegte und sachliche Fragestellung der Richterin und des Staatsanwalts, die dem Angeklagten keine Ausflüchte ermöglicht hätten, sowie die positive Wirkung der Vorlage und 498 Vgl. Gnadengesuch, Rechtsanwalt, 9.4.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 4, S. 172; ablehnende Entscheidung, Präsident der DDR Wilhelm Pieck, 27.6.1955. Ebenda, S. 173. 499 Vollstreckungsprotokoll, Untersuchungshaftanstalt I Dresden, 26.7.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 7, S. 211; Abschiedsbrief, Karl-Albrecht Tiemann, 25.7.1955. Ebenda, S. 213–220; Vorlage für das Politbüro bzgl. Vollstreckung der Todesstrafe im Fall Tiemann, Staatliche Organe, 15.6.1955. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 283/92, Bd. 13, S. 171 f.; Protokoll Nr. 29/55 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees, 21.6.1955. Ebenda, S. 165–169. Vgl. Fricke: Spionage als antikommunistischer Widerstand, S. 572. Der offizielle Bestattungsschein des Standesamts Dresden vermerkt als Todesursache »akutes Herz- und Kreislaufversagen«. Siehe Bestattungsschein, Standesamt Dresden, 28.7.1955. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 122/95, Bd. 2, Bl. 3. 500 Ein Beispiel ist der Untersuchungsvorgang gegen den im Mai 1955 entführten Otto Schneider, der im September desselben Jahres zu einer 10-jährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Vgl. Schlussbericht, HA IX, 15.7.1955. BStU, MfS, AU 278/55, Bd. 1, S. 177–188; Anklageschrift, Staatsanwalt des Bezirks Neubrandenburg, 20.8.1955. Ebenda, S. 99–105; Urteil, Bezirksgericht Neubrandenburg, 16.9.1955. Ebenda, Bd. 2, S. 115–119. 501 Falco Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Berlin 21997, S. 292; vgl. Roger Engelmann: Justiz, Verhältnis des MfS zur. In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 170–173, hier 171 f. Vollnhals warnt mit Blick auf die Ära Honecker allerdings davor, die Staatsanwälte und Richter als bloße Statisten zu sehen, da sie »an den Verfahren aktiv und eigenverantwortlich mitwirkten« und nicht dem MfS unterstellt waren. Vgl. Vollnhals: Schein, S. 245.
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Fülle des Beweismaterials, von der sich anwesende Volkspolizisten beeindruckt gezeigt hätten. Kritik übte er hingegen an dem Plädoyer des Staatsanwalts, das zu unsystematisch gewesen sei und zu viele Wiederholungen enthalten habe. Die Zuhörer hätten ihm daher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt und einen schläfrigen Eindruck gemacht. Im weiteren Verlauf der Verhandlung habe der Staatsanwalt die Zuhörer dann jedoch mit seinen Entgegnungen auf das Plädoyer des Rechtsanwalts beeindruckt. Im Hinblick auf die Rolle des Rechtsanwalts ist noch ein weiterer Hinweis des MfS-Mitarbeiters interessant: Die Verhandlung sei insgesamt reibungslos abgelaufen, da der Angeklagte geständig gewesen sei und der Rechtsanwalt kaum in die Verhandlung eingegriffen habe.502 Durch das Zusammenwirken der Staatsanwaltschaft und Gerichte mit dem MfS waren die als Verteidiger agierenden Anwälte nahezu bedeutungslos. Ihre Einwendungen im Strafprozess, sofern sie überhaupt welche einbrachten, zeigten kaum Auswirkungen. Die DDR-Gerichte, allen voran das Oberste Gericht der DDR mit seinem für politische Strafsachen zuständigen 1. Strafsenat, fungierten als bloße Erfüllungsgehilfen der Politbürokratie, indem sie dort oder im MfS getroffene Entscheidungen justiziell bekräftigten und Legitimität verliehen.503 Deutlich wird das beispielsweise im Strafverfahren gegen den entführten Westberliner Journalisten Karl Wilhelm Fricke: Nach viermonatiger Untersuchung fertigte der zuständige MfS-Untersuchungsführer Anfang August 1955 seinen Abschlussbericht, der eigentlich daraufhin mit dem Untersuchungsvorgang unverzüglich an die Staatsanwaltschaft zur Ausarbeitung einer entsprechenden Anklageschrift gehen sollte. Im Fall Fricke erhielt die Generalstaatsanwaltschaft der DDR beides allerdings erst fünf Monate später, da der Untersuchungsvorgang zwischenzeitlich anscheinend zum Zentralkomitee geschickt worden war. Auch die weiteren Entscheidungsabläufe verzögerten sich, die üblicherweise folgende Gestalt hatten: Der Generalstaatsanwalt übergab seine Anklageschrift nach ihrer Fertigstellung nicht dem Gericht, sondern ließ sie zunächst politisch absegnen. In der Abteilung »Staatliche Organe« (ab 1957 Abteilung »Staats- und Rechtsfragen«) des SED-Zentralkomitees begutachtete eine Kommission die Anklageschrift mit Blick auf die politische Wirksamkeit und machte einen Vorschlag zum Strafmaß. Das Votum der Kommission wurde schließlich in Form einer Beschlussvorlage vom Politbüro oder von Walter Ulbricht mit oder ohne Änderungen bestätigt.504 Das Urteil war also 502 Vgl. Bericht über Prozessverlauf, MfS, Juni 1957. BStU, MfS, AU 250/57, Bd. 4, S. 299–301. 503 Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 113; Engelmann: Staatssicherheitsjustiz, S. 141; Beleites: Untersuchungshaftvollzug, S. 435. 504 Dieser Kommission gehörten der Leiter der ZK-Abteilung (Klaus Sorgenicht oder sein Stellvertreter Herbert Kern), der Vizepräsident des Obersten Gerichts (Walter Ziegler), der Generalstaatsanwalt (Ernst Melsheimer oder Bruno Haid), die Ministerin der Justiz (Hilde Benjamin) und ein hoher Vertreter des MfS (Erich Mielke) an. Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 85; Amos: Politik, S. 360–363.
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bereits vor der Hauptverhandlung festgelegt. Im Entführungsfall Karl Wilhelm Fricke führten jedoch die politischen Ereignisse zu Verzögerungen, da in deren Folge die Anklageschrift gegen Fricke mehrmals der ZK-Abteilung vorgelegt werden musste. Der XX. Parteitag der KPdSU in Moskau im Februar 1956 hatte eine kurze Phase des politischen Tauwetters eingeleitet, in der sich auch die SED zur Wiederherstellung und »strikten Wahrung der sozialistischen Gesetzlichkeit« bekannte. Die ursprünglich vorgesehene Verurteilung Frickes zu 15 Jahren Zuchthaus hätte dieser Maxime widersprochen und war unter den veränderten politischen Bedingungen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Ein geringeres Strafmaß machte aber wiederum eine Änderung der Anklageschrift vom April 1956 erforderlich, die dem hohen Strafmaß entsprechend gestaltet worden war. So übermittelte die Generalstaatsanwaltschaft Ende Juni 1956 der ZK-Abteilung eine durch Kürzungen entschärfte Version der Anklageschrift, die eine nun vorgesehene vierjährige Haftstrafe rechtfertigte.505 In der Hauptverhandlung Mitte Juli 1956 verlieh das Oberste Gericht demnach dem bereits feststehenden Urteil nur noch einen rechtmäßigen Anstrich – bis ins Detail, wie ein Beschluss innerhalb des Prozessgeschehens veranschaulicht. Nach der Verlesung des Eröffnungsbeschlusses hatte der Staatsanwalt Friedrich Jahnke den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt. Den Ausschluss einer Öffentlichkeit, die gar nicht vorhanden war. Denn der Trakt des Gerichtsgebäudes, wo die Verhandlung stattfand, war hermetisch abgeriegelt. Eine Benachrichtigung der Presse war Karl Wilhelm Fricke verwehrt worden. Derartige staatsanwaltschaftliche Anträge auf den Ausschluss einer nicht vorhandenen Öffentlichkeit finden sich in vielen Hauptverhandlungen gegen Entführungsopfer. Als Begründung diente die angebliche Gefährdung der Staatssicherheit – was hier im doppelten Wortsinne gelesen werden kann: gemeint war die Sicherheit des Staates, aber Angst hatte man oft wohl eher um die Sicherheit respektive Konspiration des Staatssicherheitsdienstes. Die Gerichte gaben diesen Pro-formaAnträgen zumeist statt, zumal die Entscheidung zu einem Geheimprozess längst gefallen war. Die Hauptverhandlung gegen Karl Wilhelm Fricke weist jedoch eine Besonderheit auf, die zwar keinerlei Wirkung hatte, aber aufgrund ihrer Kuriosität nennenswert ist: Das Gericht lehnte den Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit ab.506 Durch den größtenteils praktizierten Ausschluss der Öffentlichkeit können die Gerichtsverhandlungen gegen Entführungsopfer als »Geheimprozesse« bezeichnet werden, auch wenn die Anwendung dieses Begriffs aus formaljuristischer Sicht nicht immer ganz richtig ist. Denn selbst wenn die Öffentlichkeit in manchen Fällen (wie bei Karl Wilhelm Fricke) pro forma nicht explizit 505 Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 84–96. Hier finden sich auch die Anklageschriften im Wortlaut, sodass die vorgenommenen Änderungen deutlich werden. 506 Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 101. Zum weiteren Ablauf des Prozesses vgl. ebenda, S. 102–106.
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ausgeschlossen wurde, so war sie es doch größtenteils de facto. Als 1955 zwei geflohene und »zurückgeholte« SED-Funktionäre vor ein DDR-Gericht gestellt werden sollten, erwog die MfS-Hauptabteilung V im April 1955 zwei Prozesse vor geladenem Publikum, das aus Parteifunktionären und Pressevertretern bestehen sollte. Die beiden Prozesse sollten offenbaren, dass der amerikanische Geheimdienst in der Tarnung einer HICOG-Abteilung versuche, die SED zu zersetzen und in das Zentralkomitee einzudringen.507 Diesen Befund präsentierte auch Erich Mielke auf dem 23. Plenum des Zentralkomitees der SED als er über die Ergebnisse der MfS-Operation »Frühling« berichtete, in deren Rahmen die Entführungen der beiden Abtrünnigen erfolgt waren.508 Der Plan, die Verurteilung der beiden öffentlich auszuwerten, entsprach den verstärkten propagandistischen Anstrengungen des Staatssicherheitsapparates unter der Ägide von Ernst Wollweber in dieser Zeit. Doch nach Abschluss der MfS-Untersuchungen im Sommer 1955 – und vermutlich in Kenntnis der Schlussberichte – gab Walter Ulbricht dem MfS die Weisung, einen nichtöffentlichen Prozess vorzubereiten. Vor allem dürfe in der Öffentlichkeit keinesfalls bekannt werden, dass es sich bei einem der Angeklagten um einen ehemaligen Parteihochschüler handele. Vor dem Hintergrund dieser Direktive ersuchte die MfS-Hauptabteilung IX/2 den Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Rostock, wo der Prozess stattfinden sollte, Maßnahmen bezüglich der Zusammensetzung des Gerichts zu ergreifen. Die Auswahl des Richters, Staatsanwalts und Verteidigers sollte gewährleisten, dass der Inhalt der Hauptverhandlung geheim bleibt.509 Die Durchführung der Gerichtsverhandlung vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock Mitte November 1955 entsprach der erwünschten Geheimhaltung: Es wurde nicht nur die Öffentlichkeit ausgeschlossen, sondern man verzichtete auch auf die Vernehmung von Zeugen. Beide Angeklagten erklärten sich für schuldig im Sinne der Anklage und nahmen das Urteil an, das dem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprach. Die verhängten Strafen wegen Verbrechens gegen Artikel 6 der DDR-Verfassung lauteten einmal lebenslänglich und einmal 15 Jahre Zuchthaus. Doch Gegenstand der Verhandlung und des Urteils war weniger die unter dem Artikel 6 erfasste Spionagetätigkeit, Boykott- und Kriegshetze, sondern vielmehr der Verrat an der Partei. Beide hatten nach ihrer Flucht in den Westen dort Anga-
507 Vgl. »Vorschläge zur Auswertung der von der HA V durchzuführenden Prozesse innerhalb der Aktion ›Frühling‹«, HA V/2, 2.4.1955. BStU, MfS, AS 183/56, Bd. 1, S. 102–107, hier 102 f. 508 Redebeitrag Erich Mielkes auf dem 23. Plenum des Zentralkomitees der SED, 14.4.1955. Auszug gedruckt in: Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 328–332, hier 331. 509 Vgl. Aktennotiz, HA V/2, 4.8.1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 4, S. 211; Schlussbericht, HA IX, 5.8.1955. Ebenda, S. 261–283; Mitteilung, HA IX/2 an Leiter der BV Rostock, 27.10.1955. Ebenda, S. 216.
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ben über den Parteiapparat der SED gemacht. Staatsgeheimnisse waren das keinesfalls.510 Eine Mischform aus Geheim- und Schauprozess ist bei dem Strafverfahren gegen den Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt zu beobachten, der im Juni 1961 aus West-Berlin unter Einsatz eines Betäubungsmittels entführt wurde. Im Dezember desselben Jahres begannen im Staatssicherheitsapparat die strategischen Überlegungen zur Durchführung des Prozesses gegen ihn. Dass seine Entführung bei der Gerichtsverhandlung zu Komplikationen führen konnte, wurde dabei von Anfang an als Gefahr benannt. Als Mitangeklagte waren Karl Raddatz, der wie Brandt Verbindung zum SPD-Ostbüro hatte, und Wilhelm Fickenscher als Agent des BND vorgesehen. Das Publikum sollte in einem übersichtlichen Rahmen gehalten werden, maximal 20 Personen, darunter leitende Funktionäre der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK) der SED und Parteikontrollkommission der Bezirksleitung Berlin, der Abteilungen »Sicherheit« und »Leitende Organe« beim ZK sowie der Abteilung »Gesamtdeutsche Arbeit« des FDGB, ein leitender Funktionär des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer und Mitarbeiter des MfS. Die Maßnahmen zur publizistischen Auswertung waren hingegen umfangreicher eingeplant: Die eingeladenen Chefredakteure vom Neuen Deutschland und von dem ZK-Presseorgan Neuer Weg sollten die plangemäße Auswertung in der Presse gewährleisten. Zudem sollten Mitarbeiter der MfS-Abteilung Agitation Filmaufnahmen vom Prozessverlauf anfertigen.511 Anfang Januar wies Walter Ulbricht als 1. Sekretär des ZK den MfS-Chef Erich Mielke an, die Untersuchungen im Fall Brandt unverzüglich abzuschließen und ihm das Material vorzulegen, das an den Staatsanwalt übergeben werden sollte.512 Welches politische Interesse steckte hinter diesem Verfahren gegen Heinz Brandt? Der Prozess sollte als Bestätigung der parteiinternen Säuberung dienen, die im Januar 1958 zum Ausschluss des ehemaligen MfS-Chefs Ernst Wollweber und des damaligen Kaderchefs der SED Karl Schirdewan aus dem SEDZentralkomitee geführt hatte. »Durch diesen Prozess wird darüber hinaus nachgewiesen, welche Auswirkungen die Tätigkeit der fraktionellen Gruppe [um Wollweber und Schirdewan] auf die vom Gegner geplanten aggressiven und konterrevolutionären Bestrebungen gegen die Arbeiter- und Bauernmacht in der DDR hatten und inwieweit es den imperialistischen 510 Vgl. Protokoll der Verhandlung, Bezirksgericht Rostock, 15.11.1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 5, S. 167–188, hier 185; Urteil, Bezirksgericht Rostock, 15.1.1955. Ebenda, S. 189– 197. Näheres zu den Angeklagten und zum Prozess vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 204–214, besonders 209–213. 511 Vgl. Bericht, HA IX, 11.12.1961. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 8, S. 260–270, hier 260; Vorschlag bzgl. Abschluss der Untersuchungen, HA IX/2, 3.1.1962. Ebenda, S. 276–319. 512 Vgl. Mitteilung, Walter Ulbricht an Erich Mielke, 4.1.1962. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 42, S. 11.
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Geheimdiensten und Agentenzentralen gelungen war, unter Ausnutzung reaktionärer Elemente, die mit den Fraktionsmachern liiert waren, staatsfeindliche Gruppierungen innerhalb der DDR zu schaffen, mit deren Hilfe sie umfangreiche Staatsverbrechen organisierten und ihre Pläne und Ziele zu verwirklichen gedachten.«513
Bei dem 1909 geborenen Heinz Brandt handelte es sich um einen langjährigen Parteifunktionär. Als jüdischer Kommunist in der NS-Zeit verfolgt, hatte er elf Jahre in verschiedenen Zuchthäusern und den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Auschwitz und Buchenwald verbringen müssen und überlebt. Nach seiner Befreiung 1945 engagierte er sich wieder in der KPD bzw. seit 1946 SED und stieg vom Abteilungsleiter in der SED-Landesleitung von Berlin zum Bezirkssekretär auf. Seine Skepsis gegenüber der SED-Führung um Walter Ulbricht wurde überlagert von der Überzeugung einer weltgeschichtlichen Überlegenheit des Sozialismus. Letztere zerbrach im Angesicht des Volksaufstands im Juni 1953. Nach der Niederschlagung des Aufstandes begann Brandts Abstieg in der Partei, da er zur SED-internen Opposition um Rudolf Herrnstadt, Wilhelm Zaisser und Hans Jendretzky zählte: Zunächst wurde er wieder zum Abteilungsleiter degradiert, im Sommer 1954 nach einem Parteiverfahren schließlich aller Funktionen in der SED enthoben. Brandt entwikkelte sich zum Kritiker der SED-Politik unter Ulbrichts Führung, trat als solcher in der Phase der Entstalinisierung auch relativ offen auf und handelte sich somit wiederum ein Parteiverfahren ein. Seit November 1956 pflegte er – selbstredend illegal – Kontakt zum SPD-Ostbüro in West-Berlin, der über dessen ehemaligen Leiter Siggi Neumann zustande kam.514 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen war Brandts Flucht in den Westen vorgezeichnet, die letztlich im September 1958 erfolgte, als sich die Hinweise auf seine akute Gefährdung verdichteten. Tatsächlich schlug die MfS-Hauptabteilung V in Kenntnis seiner Verbindung zum SPD-Ostbüro bereits im Juli 1958 Brandts Festnahme vor.515 In West-Berlin arbeitete Brandt zunächst freiberuflich für 513 Vorschlag, HA IX/2, 3.1.1962. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 8, S. 276–319, hier 319. 514 Brandt war bereits seit 1926 in der kommunistischen Bewegung aktiv. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 widmete er sich in Berlin der illegalen Parteiarbeit. Bereits im März 1933 erfolgte seine erste Festnahme durch die SA, die ihn 2 Tage festhielt und misshandelte. Im Dezember 1934 folgte die zweite Verhaftung und seine Verurteilung zu 6 Jahren Zuchthaus. Unmittelbar nach seiner Haftentlassung aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden im Dezember 1940 wurde er wegen seiner jüdischen Abstammung in »Schutzhaft« genommen und war von 1941 bis 1945 in den KZ Sachsenhausen, Auschwitz und Buchenwald. Zur Biografie von Heinz Brandt vgl. Andresen: Widerspruch, S. 29–244; ders.: Judentum als utopische Ressource. Zum 100. Geburtstag von Heinz Brandt. In: Deutschland-Archiv 42(2009)4, S. 644–652, hier 645–647; Wilke: Heinz Brandt, S. 130–132. 515 Das MfS plante bereits 1959 die Entführung Brandts, der er durch seinen Umzug nach Frankfurt/M. jedoch erstmal entkam. Vgl. Auskunftsbericht, HA V/1, 27.12.1957. BStU, MfS, AOP 4617/63, Bd. 1, S. 34–38; Bericht, HA V/1, 5.6.1958. Ebenda, S. 50 f.; Vorschlag der HA V/1 zur Festnahme, HA IX/2, 10.7.1958. Ebenda, S. 53 f.; Maßnahmeplan, HA V/2, 13.11.1958. Ebenda, Bd. 2, S. 38–41; Sachstandsbericht, HA V/2, 9.2.1959. Ebenda, Bd. 3, S. 201–207; Operativplan,
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das SPD-Ostbüro. Er wurde Mitglied der SPD sowie des Deutschen Gewerkschaftsbundes und erhielt im Frühjahr 1959 eine Anstellung als Redakteur bei der Gewerkschaftszeitung Metall in Frankfurt/M. Auf der Grundlage der Vernehmungen Brandts nach seiner Entführung konstruierte das MfS, dass Brandt schon seit 1946 für das SPD-Ostbüro tätig gewesen sei. Im Auftrag des SPD-Ostbüros habe er sodann über seinen Verbindungsmann Karl Raddatz Informationen über die fraktionelle Gruppe um Ernst Wollweber und Karl Schirdewan gesammelt, um diese in ihrem Vorhaben zu unterstützen. Brandt hatte bewusst die Dauer und den Umfang seiner Zusammenarbeit mit dem Ostbüro übertrieben: Zum einen erhoffte er sich anscheinend von einem hohen Strafmaß bessere Chancen auf einen Häftlingsaustausch, zum anderen wollte er die Unglaubwürdigkeit der Anklage gegen ihn deutlicher hervortreten lassen. Mehrmals musste die Hauptabteilung IX ihren Schlussbericht überarbeiten, um die richtige Vorlage für eine »politisch klare, den Beschuldigten in sachlicher Hinsicht keinerlei Angriffspunkte bietende Anklageschrift« zu liefern.516 Die Anklage vor dem 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR im April 1962 richtete sich schließlich gegen Brandt, Fickenscher und Raddatz wegen schwerer Spionage, im Fall Brandt in Tateinheit mit staatsgefährdender Propaganda.517 Ein Maßnahmeplan, der wenige Tage vor der Verhandlung erarbeitet wurde und auch eine Skizze vom Grundriss des Gerichtsgebäudes enthielt, vermittelt einen Eindruck von der minutiösen Planung der Verhandlung: der Aufbau im Sitzungssaal, die Unterbringung und Bewachung der Angeklagten, die Sicherung des Gerichtssaals und -gebäudes durch 24 MfS-Mitarbeiter, die Installation von zwei Tonbandanlagen für den Mitschnitt der Verhandlung.518 In dem Geheimprozess vor einer ausgesuchten Zuhörerschaft und mit dem Charakter eines Schauprozesses wurde Brandt im Mai 1962 zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Nachklang des Verfahrens erarbeitete die MfS-Hauptabteilung IX/2 einen 60seitigen Bericht über das Ermittlungsverfahren gegen Heinz Brandt u. a. als Lehrmaterial.519 Infolge einer anhaltenden Freilassungskampagne für Heinz HA V/2, 9.2.1958. Ebenda, S. 211–213; Arbeitsplan, HA V/2, 5.1.1959. BStU, MfS, AS 1007/67, Bd. 2, S. 205–209; Arbeitsplan, HA V/2, 24.3.1959. Ebenda, S. 210–217. 516 Stellungnahme, HA IX, 13.2.1962. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 8, S. 320 f., hier 320; vgl. Schlussbericht, HA IX, 12.2.1962. Ebenda, Bd. 27, S. 1–138; Schlussbericht, HA IX, 19.2.1962. Ebenda, Bd. 28, S. 1–156; Andresen: Widerspruch, S. 252–254. 517 Die gemeinsame Anklage war völlig konstruiert: Brandt und Fickenscher kannten sich nicht, Letzterer war aber durch seine Kontakte zum BND bedeutsam. Raddatz hatte wiederum keinerlei Kontakte zu westlichen Stellen. Vgl. Andresen: Widerspruch, S. 254. Das Politbüro hatte die Ausarbeitung einer Anklageschrift gegen Brandt, Fickenscher und Raddatz im Februar 1962 beschlossen. Vgl. Wilke: Heinz Brandt, S. 132. 518 Vgl. Maßnahmeplan, MfS, 30.4.1962. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 8, S. 440–454. 519 Vgl. »Lehrmaterial über die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens gegen die Agentengruppe Brandt–Fickenscher–Raddatz«, HA IX/2, 30.6.1962. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 32, S. 1–60. Die
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Brandt sah sich die SED-Führung Ende Mai 1964 gezwungen, Brandt in den Westen zurückkehren zu lassen. Das Ende des SED-Regime erlebte er nicht mehr: Er erlag im Januar 1986 einem Krebsleiden.520 Durchaus wurden auch richtige Schauprozesse, die für die 1950er Jahre typisch waren, gegen Entführungsopfer inszeniert. Das überrascht vor allem in der Hinsicht, dass solche Schauprozesse eigentlich der strengen Geheimhaltungstaktik des MfS widersprachen und sogar ein Wagnis darstellten. Aber vor allem in der Ära des MfS-Chefs Ernst Wollweber 1953 bis 1957 bewertete man den Nutzen größer als das Risiko. Das gezielte propagandistische und agitatorische Ausschlachten von MfS-Aktionen wurde zu einem Charakteristikum seiner Amtszeit. Mit der öffentlichen Zurschaustellung der angeblichen Erfolge verband man zum einen die Hoffnung, das Ansehen des MfS in der DDR-Bevölkerung verbessern zu können. Zum anderen entsprach und diente es der damaligen Parteilinie, auf diese Weise eigene Fehlleistungen öffentlichkeitswirksam auf äußere Einwirkungen (wie beispielsweise westliche Geheimdienste) abzuwälzen. Diese Schauprozesse trugen den Charakter von Inszenierungen, bei denen Angeklagte, Zeugen, Verteidiger, Staatsanwälte und Richter wie Schauspieler die ihnen zugedachte Rollen unter der Regie der SEDFührung zu erfüllen hatten. Das MfS, speziell seine Untersuchungsorgane, war dabei von tragender Bedeutung: Es hatte die geeigneten Beschuldigten und Zeugen auszuwählen sowie Beweismaterial zusammenzutragen, das in erster Linie den propagandistischen Vorgaben der SED entsprach. In den Schauprozessen sollten sich die Angeklagten als reuige Sünder zeigen und ihre angeblichen Auftragsgeber in der Weise diskreditieren, wie es dem parteioffiziellen Feindbild entsprach. Diese Rolle studierten die Untersuchungsführer des MfS mit den Angeklagten regelrecht ein, indem sie in den letzten Vernehmungen vor dem Prozess die ›richtigen‹ Aussagen vorbereiteten. Die Bereitschaft der Angeklagten, sich während des Schauprozesses in gewünschter Weise zu verhalten und auszusagen, wurde mit der Aussicht auf ein milderes Urteil erschlichen. Ein solches hätte jedoch dem Zweck der Schauprozesse widersprochen, denn diese sollten der Öffentlichkeit ja gerade die harte Bestrafung der »Feinde der DDR« vor Augen führen. Dementsprechend hatten die Geständnisse und Selbstbezichtigungen der Angeklagten die genau gegenteilige Wirkung: Sie waren die Basis für drakonische Urteile und propagandistische Diffamierungen.521 Generalstaatsanwaltschaft hatte für Brandt 15 Jahre Zuchthaus gefordert. Die Mitangeklagten Fickenscher und Raddatz erhielten 12 und 7½ Jahre Zuchthaus. Vgl. Andresen: Widerspruch, S. 255. 520 Vgl. Wilke: Heinz Brandt, S. 132. 521 Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 8; Engelmann: Staatssicherheitsjustiz, S. 151 f. Die Zuständigkeit für Schauprozesse lag erst ab 1953 in alleiniger Hand des MfS. Bis dahin fungierte auch die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle (ZKSK) als strafrechtliches Untersuchungsorgan im Dienste der SED. Vgl. Jutta Braun: Justizkorrektur in der Gründungs- und Frühpha-
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Die Funktion und das Funktionieren der Schauprozesse lassen sich anhand der propagandistisch-juristischen Aufarbeitung des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 veranschaulichen, dessen Initiatoren die SED-Führung im Westen lokalisierte, um von der unübersehbaren Legitimitätskrise der SEDHerrschaft in der DDR abzulenken. Das Politbüro hatte den zum Staatssekretariat herabgestuften DDR-Staatssicherheitsdienst beauftragt, die Hintermänner des angeblich von westlichen Geheimdiensten und »Agentenzentralen« initiierten »Putschversuches« zu ermitteln. Angesichts dieses Auftrags gerieten die Mitarbeiter des Staatssicherheitsapparates in eine offenkundige Beweisnot, denn diese Hintermänner gab es nicht. Dennoch folgten sie den politischen Vorgaben der SED-Führung, ermittelten weiter und sorgten im Verbund mit der Justiz für die Inszenierung mehrerer Schauprozesse gegen vermeintliche westliche Agenten und Drahtzieher. Den Höhepunkt dieser Schauprozesswelle bildete ein Gerichtsverfahren vor dem 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR im Juni 1954 – kurz vor dem ersten Jahrestag des Aufstandes. Auf der Anklagebank saßen vier Westberliner, die zuvor vom MfS verschleppt bzw. entführt worden waren: Hans Füldner und Horst Gassa als Mitarbeiter des FDP-Ostbüros, Wolfgang Silgradt als Mitarbeiter beim »Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung«522 und Werner Mangelsdorf, der als Streikführer am 17. Juni in Gommern beteiligt und nach West-Berlin geflüchtet war, wo er das »Komitee 17. Juni« mitbegründet hatte. Ursprünglich sollte der Streikführer aus den Leuna-Werken als Hauptangeklagter vor der Richterbank stehen, aber da dessen Entführung trotz mehrmaliger Versuche nicht gelang, musste das MfS auf ihn verzichten.523 Die Mitarbeiter des FDP-Ostbüros Hans Füldner und Horst Gassa wurden im Oktober und November 1953 Opfer der MfS-Aktion »Schlag«.524 Hans Füldner, Jahrgang 1921, hatte sich als Mitglied der LDP in Erfurt gegen das SED-Regime engagiert und war Anfang September 1949 in den Westen geflohen, als seine Verhaftung drohte. Sein stetiger Kontakt zum Ostbüro der FDP führte im Februar 1953 zu seiner Einstellung als hauptamtlicher Mitarbeiter in se der DDR. Die Zentrale Kontrollkommission als Sonderbehörde im Auftrag der Parteiführung. In: Roger Engelmann, Clemens Vollnhals: Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Berlin 1999, S. 115–132. 522 Der 1952 gegründete Forschungsbeirat erstellte als Beratungsorgan beim Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen Analysen, wie die Zusammenführung der beiden deutschen Teilstaaten auf ökonomischem, politischem und kulturellem Gebeit nach einer Wiedervereinigung erfolgen könnte. Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 versank er in der Bedeutungslosigkeit und wurde 1975 offiziell aufgelöst. Vgl. Stöver: Befreiung, S. 265, 366 f.; Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Revolution, S. 501. 523 Vgl. Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Revolution, S. 525, 538–540, 547–550, 558; Kowalczuk: Werner Mangelsdorf, S. 66; Ilko-Sascha Kowalczuk: »Energisches Handeln erfordert die besondere Lage«. Politische Strafverfolgung vor und nach dem 17. Juni 1953. In: Roger Engelmann, IlkoSascha Kowalczuk (Hg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Göttingen 2005, S. 205–234, hier 228–230. 524 Vgl. Abschlussbericht, HA V/5, 27.10.1959. BStU, MfS, AOP 1539/65, Bd. 4, S. 2–7, hier 4.
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der Westberliner Außenstelle, wo er u. a. Flugblattaktionen in der DDR organisierte.525 Über seine Entführung am 9. Oktober 1953 ist kaum etwas überliefert: Kurz zuvor hatte er Kontakt zu zwei angeblichen Mitarbeitern des bundesdeutschen Abwehrdienstes, die ihm eine dortige Anstellung in Aussicht stellten. Ein in den MfS-Akten überlieferter IM-Bericht verrät, dass es sich hierbei um zwei GM des MfS gehandelt hat.526 In einem BMW mit GBKennzeichen brachten sie ihn nach einem weiteren Treffen nach Ost-Berlin. So berichtete ein MfS-Mitarbeiter am 11. Oktober 1953 von einer ihm befohlenen Durchsuchung des Fahrzeuges, bei der er unter einer Fußmatte im hinteren Teil des Wagens eine Gaspistole gefunden hatte: »Die Pistole gehört einem Häftling, der am 10.10.53 durch Gen. Oberstleutnant Kukelski festgenommen wurde. Es wurde meines Erachtens nach versäumt, den Häftling sofort auf Waffen zu durchsuchen, sodaß es ihm möglich war, die Waffe während der Fahrt unbemerkt im PKW abzulegen.«527 Der erwähnte MfSOberstleutnant Kukelski war zu dieser Zeit in der Leitungsebene der Abteilung IV (Spionageabwehr), die im November 1953 mit der Abteilung II (Spionage) zur Hauptabteilung II zusammengelegt wurde. Dort avancierte Kukelski zum Leiter der Hauptabteilung II/4, die sich dem Kampf gegen westdeutsche Geheimdienste widmete.528 Füldner befand sich ab dem 10. Oktober 1953 in MfS-Untersuchungshaft und musste in den folgenden Wochen und Monaten zahlreiche Vernehmungen, anfangs auch nachts, über sich ergehen lassen. Immer wieder versuchten die MfS-Vernehmer in den Verhören, von ihm ein Geständnis zu erlangen, dass das FDP-Ostbüro an der Vorbereitung des »Putschversuchs« am 17. Juni 1953 beteiligt gewesen sei. Doch Füldner stritt dies ab, er räumte lediglich ein, in einer spontanen Aktion am 17. Juni in der Nähe des Potsdamer Platzes rund 600 Flugblätter verteilt zu haben.529 Erst kurz vor dem Prozess im Mai 1954 erscheint in einem Protokoll eine angebliche Aussage Füldners, die in dem Schauprozess als Geständnis verwertbar war:
525 Vgl. Bericht, FDP-Ostbüro an einen MdB, 1953. BStU, MfS, AOP 1539/65, Bd. 2, S. 37– 47, hier 38 f.; Bericht, MfS, 20.10.1953. Ebenda, Bd. 5, S. 36–51, hier 47 f. Vgl. Buschfort: Parteien, S. 182 f. 526 Vgl. Bericht, GM »Hansen«, 8.10.1953. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 1, S. 74; Schlussbericht, Abt. V.1 (S) V, 22.5.1954. LAB, B Rep. 020, Nr. 8161, o. Pag. Vgl. Buschfort: Parteien, S. 183 f. 527 Bericht, MfS, 11.10.1953. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 1, S. 56. Füldner bestätigte später in einer Vernehmung, dass es sich um seine Waffe handeln würde. Vgl. Aktenvermerk, MfS, 4.1.1954. Ebenda, S. 57. 528 Vgl. Gieseke: Wer war wer, S. 43; Labrenz-Weiß: Bearbeitung, S. 185. 529 Vgl. rund 65 Vernehmungsprotokolle Hans Füldner, 10.10.1953–26.5.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 1, S. 100–369; darunter besonders: 3 Vernehmungsprotokolle, 16.12.1953, 11.3. u. 23.4.1954. ebenda, S. 239–242, 279–282, 326–344; Sachstandsbericht, HA IX, 8.4.1954. Ebenda, S. 303–309, hier 307. Der ebenfalls entführte Horst Gassa bestätigte Füldners Aussage. Vgl. Vernehmungsprotokoll Horst Gassa, MfS, 10.3.1954. Ebenda, Bd. 2, S. 83–85, hier 83.
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»Ja, der 17. Juni 1953 war ein deutlicher Ausdruck der von westlicher Seite geplanten Vorbereitungen für den Tag X. An diesem Tag versuchten die Putschisten ihre bis dahin geleisteten Vorarbeiten in die Tat umzusetzen, indem sie im Auftrage der in Westberlin befindlichen Spionage- und Agentenzentralen und ihrer Hintermänner dazu übergingen, im Gebiete der Deutschen Demokratischen Republik und des demokratischen Sektors von Berlin auf faschistische Art und Weise fortschrittliche Menschen zu terrorisieren durch Brandstiftungen, Plünderungen von Volkseigentum und weitere[r] Verbrechen die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zu stürzen.«530
Dieser plötzliche Umschwung im Aussageverhalten Füldners und die Formulierungen sind entlarvend und lassen daran zweifeln, dass diese Aussage von Füldner stammt. Die Wortwahl ist auf die übliche Praxis bei der Niederschrift der Protokolle durch das MfS zurückzuführen. Ungeklärt bleibt die Frage, ob sich Füldner in der fraglichen Vernehmung unter Druck zu einer ähnlichen Aussage hinreißen ließ und diese in MfS-Manier umformuliert wurde. Der mitangeklagte, 1927 geborene Horst Gassa war im Mai 1951 nach West-Berlin geflohen und dort der FDP beigetreten. Ende April 1953 hatte ihn Füldner zur ehrenamtlichen Mitarbeit beim Ostbüro der FDP motiviert, wo er sich u. a. ebenfalls an den Flugblattaktionen beteiligt hatte. Eine Autofahrt mit zwei Bekannten – mit großer Wahrscheinlichkeit die beiden Entführer von Füldner – an einem Abend im Februar 1954 endete für ihn im Ostsektor Berlins. Am Gendarmenmarkt wartete bereits MfS-Oberstleutnant Kukelski mit weiteren MfS-Mitarbeitern, die ihn festnahmen.531 Interessanterweise gelang diese Entführung, obwohl Gassa sie zu erahnen schien. Denn zum einen war er mit einer Schreckschusspistole bewaffnet. Zum anderen findet sich in den MfS-Akten eine handschriftliche Notiz, die er augenscheinlich wenige Tage zuvor in einer ähnlichen Angelegenheit seiner Ehefrau hinterließ. In dieser Nachricht informierte er sie, dass er in der Nähe des Potsdamer Platzes verabredet sei, und fügte hinzu: »Sollte mir etwas passieren habe ich das Gefühl dass G. + V. dabei sein könnten, beide wohnen Mommsenstr. 56.«532 Fünf Tage nach dieser Notiz erfüllte sich Gassas Befürchtung. Die tagelangen Vernehmungen in den folgenden drei Monaten drehten sich immer wieder um
530 Vernehmungsprotokoll Hans Füldner, 15.5.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 1, S. 352– 355, hier 353. 531 Vgl. Sachstandsbericht, MfS, 1953/54. BStU, MfS, AOP 1539/65, Bd. 6, S. 450–454, hier 451 f.; Festnahmebericht, MfS, 24.2.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 2, S. 12; Schlussbericht, Abt. V.1 (S) V, 22.5.1954. LAB, B Rep. 020, Nr. 8161, o. Pag. 532 Handschriftliche Notiz, Horst Gassa, 18.2.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 2, S. 47. Auch die Westberliner Polizei fand einen Brief von Gassa, in dem er seine Skepsis gegenüber den beiden Bekannten ausdrückte. Vgl. Schlussbericht, Abt. V.1 (S) V, 22.5.1954. LAB, B Rep. 020, Nr. 8161, o. Pag.
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das FDP-Ostbüro und das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, für das Gassa seit Kurzem tätig war.533 Wolfgang Silgradt hatte seit September 1950 mit dem Ostbüro der CDU in Kontakt gestanden. Zu dieser Zeit war der 45-Jährige stellvertretender Landrat in Leipzig. Aus Angst vor einer Verhaftung floh er jedoch im Sommer 1951 nach West-Berlin, wo er auch mit dem FDP-Ostbüro in Verbindung kam und Mitarbeiter des »Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands« wurde. Seit Juli 1953 arbeitete er als hauptamtlicher Referent für Flüchtlingsfragen bei der »Deutschen Liga für Menschenrechte«.534 In dieser Funktion vertrat er im Rahmen der Notaufnahmeverfahren DDR-Flüchtlinge, die in der Bundesrepublik um ihre Anerkennung als politischer Flüchtling ersuchten. So auch im Januar 1954, als es sich bei einem vermeintlichen Flüchtling allerdings um einen GM des MfS mit dem Decknamen »Meier« handelte. Auftragsgemäß baute dieser den Kontakt zu Silgradt auf, der anscheinend keinen Verdacht schöpfte und mit ihm Kneipenabende verbrachte. Am Tatabend im Februar 1954 setzte das MfS zusätzlich noch einen weiblichen GM auf Silgradt an, über dessen Vorlieben der GM »Meier« berichtet hatte. Nachdem sie den Abend gemeinsam in einem Westberliner Lokal verbracht hatten, gelang es den beiden GM nach reichlichem Alkoholkonsum, Silgradt mit einem Taxi in eine Ostberliner Wohnung zu bringen – ohne, dass dieser den Grenzübertritt bemerkte.535 Nach seiner dortigen Festnahme durch MfS-Mitarbeiter begannen auch für ihn in der MfS-Untersuchungshaft die Verhöre, die in den ersten zwei Wochen größtenteils nachts stattfanden.536 Offensichtlich fehlten dem MfS aber noch zusätzliche Beweismittel. So schickte es zur Durchsuchung seiner Wohnung in Berlin-Charlottenburg zwei GM, die sich zwei Tage nach der Entführung als angebliche Kriminalbeamte Zutritt verschafften und belastendes Material entwendeten.537 Der vierte Angeklagte Werner Mangelsdorf war als einziger aktiv am Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der DDR beteiligt, und zwar als Streikführer in 533 Vgl. etwa 30 Vernehmungsprotokolle Horst Gassa, MfS, 23.2.–21.5.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 2, S. 48–157. 534 Vgl. Sachstandsbericht, MfS, 9.4.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 7, S. 191–205. 535 In der Haft erzählte Silgradt später seinem Zellengenossen, dass er mithilfe einer Betäubungszigarette entführt worden sei. Vgl. Festnahmebericht, MfS, 22.2.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 7, S. 42; Bericht, GM »Meier«, 19.1.1954. Ebenda, Bd. 9, S. 17 f.; 6 Treffberichte, HA V/5, 23.1.– 18.2.1954. Ebenda, S. 19–25, 33–41; Bericht, Bautzen II, 1.6.1962. Ebenda, Bd. 33, S. 165. Bei den Treffen am 30.1. und 18.2.1954 entwickelte GM »Meier« den Entführungsplan, der augenscheinlich umgesetzt wurde. Vgl. ebenda, S. 23–25 u. S. 37–41; Silgradts Verhaftung in Pankow zugegeben. In: Berliner Morgenpost, 22.4.1954. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1205. 536 Vgl. rund 20 Vernehmungsprotokolle, MfS, 20.2.–29.4.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 7, S. 29–80, 90–98, 135–190, 206–218, 231–244; ca. 15 Vernehmungsprotokolle, MfS, 1.5.– 4.6.1954. Ebenda, Bd. 8, S. 5–135. 537 Vgl. Bericht, MfS, 21.2.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 7, S. 36; Silgradts Verhaftung in Pankow zugegeben. In: Berliner Morgenpost, 22.4.1954.
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Gommern. Wenige Tage später war er nach West-Berlin geflohen, um nach der Niederschlagung des Aufstands einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen. Dort gründete er im September desselben Jahres mit anderen geflohenen Akteuren des Volksaufstands das »Komitee 17. Juni«. Ferner hatte er zu weiteren antikommunistischen Organisationen Kontakt, ebenso wie zu westlichen Geheimdiensten.538 Mit der Inhaftierung seines Bruders als Druckmittel hatte das MfS Ende des Jahres 1953 versucht, Mangelsdorf für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Als diese Maßnahme nicht den erwünschten Erfolg zeigte, entschied sich der Leiter der Hauptabteilung V Bruno Beater für eine Verschleppung. Unter dem Vorwand, seinen inhaftierten Bruder auslösen zu können, lockte man Mangelsdorf im Januar 1954 mithilfe der Verlobten seines Bruders nach Ost-Berlin, wo er nach seiner Ankunft auf dem Bahnhof Friedrichstraße festgenommen wurde.539 Nach viermonatiger Untersuchungshaft hatten die MfS-Vernehmer über 80 Vernehmungen von Werner Mangelsdorf protokolliert – auf der steten Suche nach den westlichen Drahtziehern des Aufstandes am 17. Juni. In der Hoffnung, durch ein bereitwilliges Aussageverhalten den Ausgang des Strafverfahrens positiv beeinflussen zu können, machte Mangelsdorf weitreichende Aussagen. Dadurch belastete er nicht nur sich selbst sowie weitere Personen in der DDR und in WestBerlin, sondern lieferte dem MfS auch Informationen über westliche Organisationen und Institutionen, mit denen er zusammengearbeitet hatte.540 Nach Abschluss der Ermittlungen erfolgten MfS-intern die Vorbereitungen für den Schauprozess, der öffentlichkeitswirksam zum ersten Jahrestag des Juni-Aufstandes stattfinden sollte. Ein MfS-interner Operativplan gab Anleitung, wie die vier Angeklagten in den letzten Tagen vor der Gerichtsverhand538 Vgl. Kowalczuk: Werner Mangelsdorf, S. 67 f. Das Komitee hatte sich zur Aufgabe gesetzt, über die Hintergründe und Ereignisse des Juni-Aufstandes zu informieren, das Schicksal der Verhafteten aufzuklären und deren Angehörige zu betreuen. Dem MfS gelang es frühzeitig, mithilfe eines GM Zugang zum Komitee zu gewinnen, so kontrollierte es das Komitee nahezu lückenlos. Fehlende konzeptionelle und strategische Fertigkeiten, interne Streitereien sowie Machtkämpfe, persönliche Bereicherungen und nicht zuletzt die Maßnahmen des MfS führten bereits nach 8 Monaten zur Auflösung des Komitees. Vgl. Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Revolution, S. 504–561. 539 Vgl. Bericht, Oberst Beater, 7.1.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 3, S. 27–40, hier 31 f.; Festnahmebericht, HA V, 16.1.1954. Ebenda, S. 11 f.; Sachstandsbericht, MfS, 27.1.1954. Ebenda, S. 45–50; Schlussbericht, Abt. V.1 (S) V, 1.6.1954. LAB, B Rep. 020, Nr. 8161, Bl. 2–5, hier 3 f. Mangelsdorf war zwischen Juni 1952 und April 1953 als GI »Werkzeug« für das MfS aktiv. Im Dezember 1953 willigte er erneut in eine Zusammenarbeit mit dem MfS ein, aber machte anscheinend dem französischen Geheimdienst über diese Anwerbung Mitteilung. Durch den im Komitee platzierten GM erfuhr wiederum das MfS von diesem Doppelspiel. Sein inhaftierter Bruder wurde zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt. Vgl. Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Revolution, S. 525, 541–545; Kowalczuk: Werner Mangelsdorf, S. 68 f., 71; Kowalczuk: Politische Strafverfolgung, S. 229 f. 540 Vgl. ca. 18 Vernehmungsprotokolle, MfS, 18.1.–9.2.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 3, S. 189–270; rund 40 Vernehmungsprotokolle, MfS, 10.2.–24.4.1954. Ebenda, Bd. 4, S. 6–205; rund 20 Vernehmungsprotokolle, MfS, 26.4.–21.5.1954. Ebenda, Bd. 5, S. 6–90; Eisenfeld/Kowalczuk/ Neubert: Revolution, S. 559; Kowalczuk: Werner Mangelsdorf, S. 70 f.
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lung durch nochmalige Vernehmungen vorzubereiten seien.541 Ein Organisationsplan, der mit zuständigen Stellen im Zentralkomitee sowie dem Obersten Gericht abgestimmt und vom Politbüro bewilligt wurde, vermerkte die Auswahl der Richter, Rechtsanwälte und des Publikums. Neben 20 Pressevertretern aus der DDR und »befreundeten Ländern« sollten auch 80 bis 100 Arbeiter aus vorwiegend Berliner Betrieben sowie 30 Verwaltungsangestellte, darunter 20 Staatsanwälte, den Prozess im Gerichtssaal verfolgen.542 Die Abteilung Justiz beim Hohen Kommissar der UdSSR in Deutschland wurde um Mitteilung gebeten, wie viele Eintrittskarten für den Prozess sie benötige.543 Die Anklageschrift listete die Verbindungen der vier Angeklagten zum »Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands« beim Ministerium für gesamtdeutsche Fragen – »eine Organisation der westdeutschen Konzerne, Banken und Grossgrundbesitzer, die eigens zur Durchführung des sogenannten Tages ›X‹ geschaffen wurde« –, zu den Ostbüros der CDU und FDP, zur »Vereinigung politischer Ostflüchtlinge« und »Deutschen Liga für Menschenrechte«, zum »Komitee 17. Juni«, zu »Hetzsendern« wie dem RIAS und der BBC sowie zur »westberliner Kriegshetzerpresse« auf. In den Augen des Generalstaatsanwaltes handelte es sich hierbei ausnahmslos um »jene Verbrecherorganisationen, die im Auftrage des amerikanischen Geheimdienstes, der westdeutschen Konzerne und der Adenauer-Regierung eine systematische Wühl- und Zersetzungsarbeit gegen die Deutsche Demokratische Republik durchführen und massgeblich an der Herbeiführung des faschistischen Putsches am 17. Juni 1954 beteiligt waren.«544 Am 10. Juni 1954 begann schließlich der Schauprozess vor dem Obersten Gericht der DDR, der sich über vier Verhandlungstage erstreckte. Mutmaßlich in Reaktion auf die Spekulationen über ihre Entführungen in der westlichen Presse wurden die Angeklagten während des Prozesses auch zu ihrer Festnahme und Behandlung in der Untersuchungshaft befragt. Vor Gericht versicherten alle, im demokratischen Sektor festgenommen und in der Untersuchungshaft korrekt behandelt worden zu sein.545 Dabei ließ sich bei Füldner beobachten, wie ihm die gewollten Antworten regelrecht in den Mund gelegt wurden: Auf die Frage nach seinem Festnahmeort antwortete er »Im demokratischen Sektor von Berlin«. Der Generalstaatsanwalt begann daraufhin den 541 Vgl. Operativplan, MfS, Juni 1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 9, S. 6–12. 542 Vgl. Organisationsplan, MfS, 4.6.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 8, S. 129–132. 543 Vgl. Schreiben an Abt. Justiz beim Hohen Kommissar der UdSSR in Deutschland, 1.6.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 22, S. 5. 544 Anklageschrift, Generalstaatsanwalt der DDR, 31.5.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 14, S. 53–107, hier 54. 545 Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung, Oberstes Gericht der DDR, 10.6.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 29, S. 1–164; Protokoll der Hauptverhandlung, Oberstes Gericht der DDR, 11.6.1954. Ebenda, Bd. 28, S. 1–254, hier 224; Protokoll der Hauptverhandlung, Oberstes Gericht der DDR, 12.6.1954. Ebenda, Bd. 27, S. 1–154, hier 50 f.
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ergänzenden Satz »Als Sie mit einem westberliner Wagen …«, den Füldner umgehend aufgriff: »Ja, als ich mit einem westberliner Wagen in der Friedrichstrasse fuhr.« Diese verschleiernde Aussage ergänzte der Generalstaatsanwalt abermals: »Als Sie dort unvorsichtigerweise durchfuhren!«546 Die Angeklagten erfüllten die ihnen zugedachte Rolle: In ihren Schlussworten zeigten alle Reue, Füldner warnte vor dem FDP-Ostbüro, Mangelsdorf und Gassa forderten DDR-Flüchtlinge zur Rückkehr auf.547 In seinem Plädoyer konstatierte der Generalstaatsanwalt wortgewaltig: »[…] noch kein Prozeß hat wie dieser die Hintermänner entlarvt, die Organisiertheit des Putsches vor allen Augen enthüllt. Zerrissen ist die Gloriole um den 17. Juni! Zerrissen ist die Legende vom Volksaufstand!«548 Tatsächlich aber fehlten die Beweise dafür, dass der Aufstand von westlichen Organisationen und Geheimdiensten vorbereitet und von diesen initiiert wurde.549 Dennoch sprach der 1. Strafsenat Füldner, Gassa, Silgradt und Mangelsdorf am 14. Juni 1954 des Verbrechens nach Artikel 6 der DDR-Verfassung in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive Nr. 38 (Abschnitt 2 Artikel III A III) schuldig und verurteilte sie zu hohen Zuchthausstrafen: 15 Jahre für Silgradt und Mangelsdorf, zehn Jahre für Füldner und fünf Jahre für Gassa.550 Das Urteil, das absurde Beweiskonstruktionen enthielt, ließ keinen Zweifel an der politischen Intention des Strafverfahrens: »Das vorliegende Verfahren hat den Beweis für den großen Umfang und die Intensität erbracht, mit der der faschistische Putsch am 17. Juni von den Kriegstreibern organisiert wurde und der geplante Tag X vorbereitet wird.«551 Die Propagandamaschinerie sorgte für die Verbreitung dieser »Wahrheit« über den Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR-Bevölkerung. Bereits im Vorfeld des Schauprozesses hatte das MfS dessen Auswertung in den Medien geplant: Filmaufnahmen der DEFA, ein Mitschnitt und tägliche Kommentare durch den staatlichen Rundfunk sowie eine tägliche Berichterstattung in der DDR-Presse.552 Letztere berichtete den politischen Vorgaben entsprechend 546 Protokoll der Hauptverhandlung, Oberstes Gericht der DDR, 12.6.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 27, S. 1–154, hier 50. 547 Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung, Oberstes Gericht der DDR, 12.6.1954. Ebenda, S. 1– 154, hier 150–153. Vgl. Kowalczuk: Werner Mangelsdorf, S. 71. 548 Protokoll der Hauptverhandlung, Oberstes Gericht der DDR, 12.6.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 27, S. 1–154, hier 90. 549 Vgl. Kowalczuk: Werner Mangelsdorf, S. 66; ders.: Politische Strafverfolgung, S. 228; Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Revolution, S. 502. 550 Vgl. Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 14.6.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 14, S. 2– 52, hier 3. 551 Ebenda, S. 6. Vgl. Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Revolution, S. 558–560. Auszüge aus dem Urteil sind gedruckt in: Fricke: Politik und Justiz, S. 313–315. 552 Vgl. Organisationsplan, MfS, 4.6.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 8, S. 129–132, hier 130 f. In dem Aktenvorgang befindet sich auch eine Zusammenstellung von Propaganda-Material für eine Pressekonferenz. Vgl. ebenda, Bd. 21, S. 46–86.
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über den »Prozeß gegen vier Agenten westlicher Spionage- und Terrororganisationen, die als Rädelsführer und Anstifter an der jahrelangen Vorbereitung und der Auslösung des faschistischen Putschversuches vom 17. Juni 1953 maßgeblich mitgewirkt haben«553. Die westliche Presse sprang auf diese Propaganda nicht an, sondern enttarnte die Absichten des SED-Regimes. So meldete Die Welt einen Tag nach der Urteilsverkündung: »Der Prozeß diente vordringlich dem Zweck, den Volksaufstand als einen vom Westen her gesteuerten Putsch hinzustellen.«554 Den Hintergrund erkannte der Autor des Zeitungsartikels jedoch nicht, denn er sah in den Angeklagten nicht die »angebliche[n] Rädelsführer des Juniaufstandes«, sondern »Doppelagenten, die der sowjetzonale Staatssicherheitsdienst in den zurückliegenden Wochen für diesen Schauprozeß vorbereitete«.555 Diese Behauptung ist auf die vom Ost-West-Konflikt geprägte Berichterstattung in den Medien im Westen zurückzuführen. Sie verdeutlicht aber auch die Unsicherheit im Umgang mit dem Verschwinden von Menschen aus West-Berlin. Die Ungewissheit darüber, ob die betroffene Person tatsächlich entführt wurde oder freiwillig in die DDR ging, machte auch vor den betroffenen Organisationen nicht halt. So notierte beispielsweise der Leiter des FDP-Ostbüros am 12. Oktober 1953 in sein Tagebuch: »Füldner ist verschwunden! Seit Freitagabend fehlt von ihm jede Spur. Die Umstände seines Verschwindens lassen jedoch Böses ahnen. Alles spricht für eine Verschleppung unseres Kollegen in den Ostsektor.«556 In späteren Tagebucheinträgen erwähnt Schollwer sodann, dass es in der FDP und ihrem Ostbüro durchaus Zweifel an einer Entführung gebe.557 Im November 1953 erstattete das FDPOstbüro Anzeige gegen ihren verschwundenen Mitarbeiter Füldner aufgrund der Vermutung, er habe sich freiwillig in die DDR begeben. Die Ermittler der
553 Rädelsführer des 17. Juni vor dem Obersten Gericht. In: Neues Deutschland, 11.6.1954; vgl. Agenten westlicher Geheimdienste vor Gericht. In: Der Morgen, 11.6.1954; Haupträdelsführer des Tages X gesteht. In: Berliner Zeitung, 11.6.1954; Was der Ost-Referent Mangelsdorf zu berichten weiß. In: Neues Deutschland, 12.6.1954; Adenauer und Dulles planen neuen Tag X. In: BZ am Abend, 12.6.1954; Stumm-Polizei gab Tips und schützte die Faschisten. In: Neues Deutschland, 13.6.1954; Agenten westlicher Geheimdienste erhielten hohe Zuchthausstrafen. In: Neues Deutschland, 15.6.1954; Hohe Zuchthausstrafe für Silgradt und Konsorten. In: Leipziger Volkszeitung, 15.6.1954. 554 Eigene Agenten bestraft. In: Die Welt, 15.6.1954. 555 Ebenda; vgl. Pankow spielt mit SSD-Agenten. In: Die Welt, 12.6.1954. Bereits im November 1953 hatte Die Welt berichtet, dass es sich bei Füldner um einen »getarnten SSD-Agenten« handeln würde. Vgl. Jagd nach Agenten in der Ost-LDP. In: Die Welt, 24.11.1953. Tatsächlich hatte Mangelsdorf zwischen Juni 1952 bis April 1953 als GI für das MfS gearbeitet. Da er jedoch als unzuverlässig eingestuft wurde, beendete das MfS die inoffizielle Zusammenarbeit. Vgl. Kowalczuk: Werner Mangelsdorf, S. 67. 556 Schollwer: Aufzeichnungen, S. 94. 557 Vgl. Schollwer: Aufzeichnungen, S. 95–97.
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Westberliner Polizei kamen aber nach Abschluss ihrer Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass Füldner entführt worden war.558 Derartige Verwirrungen und Zweifel im Umgang mit den Entführungsfällen waren keine Seltenheit. Oft konnten die Geschehnisse erst nach der Rückkehr der Entführungsopfer aufgeklärt werden – bis dahin vergingen jedoch meist Jahre. So auch bei den vier Verurteilten des Schauprozesses: Horst Gassa musste die ihm auferlegte Haftstrafe voll verbüßen und wurde im Februar 1959 aus der Strafvollzugsanstalt in Brandenburg entlassen. Nach sieben Jahren Haft, u. a. in den Strafvollzugsanstalten Bautzen und Brandenburg, begnadigte der DDR-Staatsrat im November 1960 Hans Füldner. In der Strafvollzugsanstalt Brandenburg war auch Werner Mangelsdorf untergebracht, nachdem er bis 1960 in Torgau inhaftiert war. Wolfgang Silgradt musste hingegen den größten Teil seiner Haft, acht Jahre, in der Strafanstalt Bautzen II verbringen. Beide wurden nach über zehnjähriger Haft im August 1964 von der Bundesrepublik freigekauft.559 Die propagandistische Nutzung von Prozessen gegen Entführungsopfer wird auch am Beispiel des im November 1956 verschleppten Heinz Kramer deutlich. Im Alter von fast 38 Jahren war er aus der DDR geflohen und kam im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens mit westlichen Geheimdiensten in Kontakt, so auch mit dem amerikanischen Geheimdienst CIC, für den er tätig wurde.560 Der MfS-Untersuchungsvorgang gegen ihn enthält zwei Vorschläge vom April und Mai 1957, gegen ihn und drei weitere »Agenten des amerikanischen Geheimdienstes« einen Prozess »unter Zulassung der Öffentlichkeit« vor dem Obersten Gericht der DDR durchzuführen. Diese »Öffentlichkeit« sollten 40 »Werktätige aus volkseigenen Betrieben und Ministerien« und eine bestimmte Anzahl von Pressevertretern herstellen. Ein solcher Prozess sei geeignet, »großen Teilen der werktätigen Bevölkerung die aggressiven Absichten der amerikanischen und deutschen Imperialisten zu erklären« und sie zur Wachsamkeit zu erziehen sowie die entschlossene und erfolgreiche Abwehrar558 Vgl. Schlussbericht, Abt. V.1 (S) V, 22.5.1954. LAB, B Rep. 020, Nr. 8161, o. Pag. 559 Vgl. Führungsbericht, StVA Brandenburg, 15.8.1963. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 22, S. 79 f.; Beschluss, Oberstes Gericht der DDR, 12.8.1964. Ebenda, S. 87; Mitteilung, StVA Brandenburg, 28.11.1960. Ebenda, Bd. 26, S. 26; Mitteilung, SV-Dienststelle Berlin I, 21.8.1964. Ebenda, Bd. 33, S. 42; Haftkarteikarte Wolfgang Silgradt, 1955–1964. Ebenda, S. 45 f.; Haftbogen Hans Füldner, Vollzugsanstalt Brandenburg-Görden, 1955–1960. Ebenda, Bd. 34, S. 1; Haftbogen Horst Gassa, Vollzugsanstalt Brandenburg-Görden, 1954–1959. Ebenda, Bd. 35, S. 2; Abgangsmitteilung, StVA Brandenburg, 21.2.1959. Ebenda, Bd. 36, S. 13. Vor der Haftentlassung von Füldner wurde die Zustimmung der MfS-Hauptabteilung V/5 eingeholt. Vgl. Vermerk, HA V/5, 11.10.1960. BStU, MfS, AOP 1539/65, Bd. 5, S. 160. Werner Mangelsdorf wurde nur 52 Jahre alt und starb 1977, gezeichnet von den Folgen seiner DDR-Haft. Wolfgang Silgradt verstarb ebenfalls in den 1970er Jahren, Horst Gassa 1994 und Hans Füldner 2002. Vgl. Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Revolution, S. 558. 560 Heinz Kramer war 1952 in der DDR wegen eines Wirtschaftsvergehens zu einer 6-jährigen Haftstrafe verurteilt worden, wurde aber vorzeitig aus der Haft entlassen. Vgl. Urteil, Oberstes Gericht der DDR 20.9.1957. BStU, MfS, AU 312/57, Bd. 20, S. 107–142, hier 111–113.
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beit der DDR-Sicherheitsorgane zu demonstrieren. Denn die Untersuchungsergebnisse würden beweisen, »dass die amerikanischen Dienststellen Westberlin immer stärker zu einem Stützpunkt ihrer Untergrundtätigkeit auf dem Gebiet der DDR ausbauen und versuchen, faschistische und kriminelle Elemente zu konterrevolutionären Gruppen zu sammeln und zu bewaffnen«.561 Heinz Kramers erste Verurteilung durch ein DDR-Gericht 1952 wegen eines Wirtschaftsvergehens, sein freiwilliger Eintritt in die Kriegsmarine 1935 sowie die NSDAP-Mitgliedschaft der drei anderen Angeklagten lieferten die erforderliche Kulisse. Zu beachten sei allerdings, dass Heinz Kramer »durch operative Maßnahmen zum Betreten des Demokratischen Sektors veranlasst und hier in angetrunkenem Zustand festgenommen wurde« und die Nachricht von seiner Festnahme durch eine unbeteiligte Person nach West-Berlin gelangt sei.562 Diese Umstände seiner Festnahme schreckten das MfS nicht ab, den geplanten Rahmen des Prozesses noch auszuweiten. Die MfS-Hauptabteilung IX hatte mit ihren Schlussberichten die Grundlage und sogar weitgehend den Wortlaut der Anklage des DDR-Generalstaatsanwalts geliefert, die am 21. August 1957 gegen Heinz Kramer und vier weitere Personen erhoben wurde.563 Kurz vor Prozessbeginn erarbeitete die MfS-Abteilung Agitation Ende August 1957 einen »Agitationsplan«, in dem die Maßnahmen zur Prozessvorbereitung und -auswertung festgehalten und terminiert wurden: u. a. eine ADN-Meldung zum Auftakt, Berichterstattung durch geladene Korrespondenten, eine Ausstellung der Beweismittel, Versammlungskampagnen, die Ergänzung der MfS-Ausstellung »Geheime Front durchbrochen« und die Anfertigung einer speziellen Broschüre.564 Zudem war inzwischen die Entscheidung gefallen, den Prozess nicht nur vor 40, sondern vor 300 bis 320 Zuschauern stattfinden zu lassen: 160 (vom MfS benannte und überprüfte) Personen, insbesondere Parteifunktionäre, aus Betrieben, Verwaltungen und Ministerien, etwa 80 MfS-Mitarbeiter aus den Hauptabteilungen I, II, III, V, IX und XIII sowie von der Hochschule des MfS, außerdem mehrere Mitarbeiter des Ministeriums für Justiz, der Obersten Staatsanwaltschaft sowie des Obersten Gerichts und schließlich rund 50 Pressevertreter. Die Zusammensetzung der Pressevertreter legte die Hauptabteilung IX in Absprache mit der ZKAbteilung Agitation und Propaganda sowie mit dem Presseamt des DDR561 Vorschlag, 3.5.1957. BStU, MfS, AU 312/57, Bd. 24, S. 542–545, Zitate siehe S. 542, 545; vgl. Vorschlag, 15.4.1957. Ebenda, S. 546–554. 562 Vorschlag, 3.5.1957. BStU, MfS, AU 312/57, Bd. 24, S. 542–545, hier 545; vgl. Vorschlag, 15.4.1957. Ebenda, S. 546–554, hier 548 f. 563 Vgl. Schlussbericht, HA IX, 16.3.1957. BStU, MfS, AU 312/57, Bd. 24, S. 509–535; Schlussbericht, HA IX, 12.5.1957. Ebenda, S. 603–710, hier 623–627; Anklageschrift, Generalstaatsanwalt der DDR, 21.8.1957. Ebenda, Bd. 20, S. 2–106. 564 Vgl. Agitationsplan, Abt. Agitation, 27.8.1957. BStU, MfS, AU 312/57, Bd. 24, S. 555 f.
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Ministerpräsidenten fest. Neben Vertretern der Presse, des Rundfunks und Films aus der DDR (ADN, Staatlichen Rundfunkkomitee, DEFA und Zeitungen wie Neues Deutschland, Junge Zeit, Bauern-Echo, Der Grenzpolizist etc.) sollten auch die »Presse der Volksdemokratien« (zum Beispiel Prawda, Iswestija, Ungarisches Telegrafenkorrespondenzbüro, Bulgarische Telegrafenagentur) und die »Bruderpresse des kapitalistischen Auslands« (zum Beispiel L´Humanité, Daily Worker) eingeladen werden. Drei Tage vor Prozessbeginn sollte diesen Pressevertretern in einer gesonderten Veranstaltung kurz der Prozessinhalt vermittelt und »die politische Linie für die zu erwartenden Publikationen« gegeben werden. Am Tag vor dem Prozessbeginn sollten sodann die Pressevertreter aus West-Berlin und der Bundesrepublik (u. a. DPA, Die Welt, Frankfurter Rundschau, Der Spiegel, Stern), die ebenfalls eingeladen werden sollten, über die »Tatsache des Prozesses in Kenntnis« gesetzt werden.565 Diese Planungen offenbaren, wie das MfS gezielt eine »Öffentlichkeit« konstruierte – zum Zweck, die Wahrnehmung des Prozesses steuern respektive manipulieren zu können. Die dreitägige Verhandlung gegen Heinz Kramer und vier Mitangeklagte im September 1957 dürfte zur Zufriedenheit des MfS verlaufen sein: Der Staatsanwalt ›enttarnte‹ ausführlich die gefährlichen und verwerflichen Pläne und Tätigkeiten des amerikanischen Geheimdienstes. Der Rechtsanwalt von Heinz Kramer präsentierte ihn als Opfer dieses Geheimdienstes, der seine Notlage als mittelloser, nicht anerkannter DDR-Flüchtling ausgenutzt habe. Und Heinz Kramer selbst zeigte sich als reuiger Sünder. Er rief sogar seine ehemaligen Kontaktpersonen, denen nach seiner Verschleppung rechtzeitig die Flucht nach West-Berlin gelungen war, zur Umkehr auf: »Ich hoffe, dass alle Personen, die mit mir im Zusammenhang standen und durch meine Arbeit praktisch republikflüchtig geworden sind, im Vertrauen auf die Sicherheitsorgane der Deutschen Demokratischen Republik zurückkehren und ein anständiges Leben führen. Mir selbst wurde leider erst in der Voruntersuchung durch die anständige und grosszügige Behandlung von seiten der Sicherheitsorgane klar: Wenn ich selbst den Mut und die Kraft gefunden hätte, zurückzukehren, würde ich heute nicht hier stehen.«566
Der 1. Strafsenat des Obersten Gerichts verurteilte Heinz Kramer am 20. September 1957 zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren wegen Verbrechens nach Artikel 6 der DDR-Verfassung.567 Derartige Schuldbekenntnisse lassen sich auch bei Gerichtsverhandlungen gegen Entführungsopfer beobachten, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit 565 Vermerk, MfS, 11.9.1957. BStU, MfS, AU 312/57, Bd. 24, S. 561–564. 566 Abschrift des stenographischen Protokolls zur Hauptverhandlung, Oberstes Gericht der DDR, September 1957. BStU, MfS, AU 312/57, Bd. 3, S. 2–412, hier 407. 567 Vgl. Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 20.9.1957. BStU, MfS, AU 312/57, Bd. 20, S. 107–142.
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stattfanden. Der im Dezember 1956 entführte Heinrich Berger, Mitarbeiter der russischen Emigranten-Organisation ZOPE, verkündete in seinem Schlusswort: »Wenn ich gewußt hätte, daß man so human von den Sicherheitsorganen behandelt wird, wäre ich freiwillig gekommen. Ich bekenne mich für schuldig, sehe mein schweres Verbrechen voll ein, muß dafür bestraft werden.«568 Trotz seiner Einlassungen sah das Gericht in Heinrich Berger einen »Feind des Sozialismus«, der »schwerste Verbrechen« gegen die DDR sowie die Sowjetunion begangen habe und einen hohen Grad an »Gesellschaftsgefährlichkeit« aufweise. So folgte es dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verurteilte Heinrich Berger zu 14 Jahren Zuchthaus.569 In vielen Gerichtsverfahren gegen Entführungsopfer lässt sich das Schweigen über ihre rechtswidrigen Verschleppungen oder Entführungen beobachten. Es basierte auf der Hoffnung, das Stillhalten habe eine positive Auswirkung auf das Strafmaß. Zum Teil gab es in dieser Hinsicht auch vonseiten des MfS handfeste Drohungen: Kurz vor dem Prozess gegen den Mitarbeiter der Organisation Gehlen, Wilhelm van Ackern, im Juni 1955 drohte ihm Erich Mielke als stellvertretender Staatssekretär für Staatssicherheit mit der Todesstrafe, wenn er vor Gericht seine gewaltsame Entführung zur Sprache bringe.570 Van Ackern war im Rahmen der großen MfS-Verhaftungsaktion »Blitz« im März 1955 aus West-Berlin unter Einsatz eines Betäubungsmittels entführt worden. Der Erfolg dieser Verhaftungswelle, die 521 vermeintliche Agenten traf, sollte mit Bezug auf die Ratifizierung der Pariser Verträge571 propagandistisch ausgeschlachtet werden. Dementsprechend verkündete ein Sprecher des DDR-Staatssicherheitsdienstes auf einer Pressekonferenz Anfang Mai 1955: »Die Geheimdienste und Spionageorganisationen erhielten – wie viele Aussagen und Beweismaterialien bekräftigen – im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Pariser Verträge den Auftrag, die Deutsche Demokratische Republik im verstärkten Umfang mit einer Flut hinterhältiger Verbrechen zu überziehen, in der Bevölkerung Verwirrung zu stiften und Provokationen vorzubereiten. Das Ganze geschieht mit dem Ziel, den neuen Krieg auf deutschem Boden zu entfesseln. […] 568 Protokoll der Hauptverhandlung, Bezirksgericht Frankfurt/O., 26.–28.6.1957. BStU, MfS, AU 250/57, Bd. 8, S. 124–154, hier 152; vgl. Bericht, MfS, Juni 1957. Ebenda, Bd. 4, S. 299–301, hier 301. 569 Urteil, Bezirksgericht Frankfurt/O., 28.6.1957. BStU, MfS, AU 250/57, Bd. 8, S. 161–169, hier 169. Eine eingelegte Berufung Heinrich Bergers wurde als unbegründet abgewiesen. Vgl. Berufung, Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, 4.7.1957. Ebenda, S. 174–177; Beschluss, Oberstes Gericht der DDR, 19.7.1957. Ebenda, S. 179–181. 570 Vgl. Anklageschrift gegen Erich Mielke und Helmut Träger, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin, 16.2.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 3, S. 80–136, hier 82, 104. 571 Die im Frühjahr 1955 in der Bundesrepublik ratifizierten Pariser Verträge beinhalteten u. a. die Aufhebung des Besatzungsstatuts, die Erklärung der Bundesrepublik zu einem souveränen Staat, den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und zur Westeuropäischen Union. Vgl. Manfred Görtemaker: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 2004, S. 135–137.
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Die Zerschlagung der westberliner Verbrecheragenturen möge allen Anhängern der ›Politik der Stärke‹ die Lehre geben, daß keiner der Verbrecher der gerechten Strafe entgehen wird. Wer im Dienst der Kriegsprovokateure steht, wird vernichtet. Das gebietet der Kampf und die Sicherung des Friedens und des Schutzes der friedlichen Arbeit der Bevölkerung.«572
Van Ackern war bis zu seiner Entführung drei Jahre als hauptamtlicher Mitarbeiter für die Organisation Gehlen tätig. Somit gehörte er zu den Beschuldigten, die sich in den Augen des MfS und der Parteispitze für einen Schauprozess eigneten, um die Propaganda-Offensive zu untermauern. In einer Erklärung des Ministerrates der DDR vom 12. April 1955 und auch auf der erwähnten Pressekonferenz des MfS wurden die Festnahme van Ackerns als Leiter einer Gehlen-Filiale und seiner 21-köpfigen Agentengruppe bekannt gegeben und die bevorstehenden Prozesse angekündigt.573 Der Antrag des Generalstaatsanwalts in seiner Anklage gegen Wilhelm van Ackern und sechs weitere Agenten, das Verfahren vor einer »erweiterten Öffentlichkeit« stattfinden zu lassen, war nur noch pro forma.574 Nun galt es im Hinblick auf den öffentlichen Prozess, den einzigen Makel – seine gewaltsame Entführung – zu verschleiern. Die MfS-Hauptabteilung II/4 hatte ihren Festnahmebericht vier Tage nach der Entführung bereits entsprechend gefälscht und verfasste noch eine zusätzliche Bescheinigung, dass van Ackern »bei der Ausübung einer Spionagetätigkeit im demokratischen Sektor von Berlin verhaftet« worden sei.575 Durch die Androhung der Todesstrafe unter Druck gesetzt, verschwieg van Ackern in der Hauptverhandlung vor dem 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR im Juni 1955 nicht nur seine unrechtmäßige Festnahme, sondern erfüllte auch die ihm zugedachte Rolle. So verkündete er in seinem Schlusswort: »Ich bedauere zutiefst die von mir begangenen Taten und hoffe, dass mein Schicksal und das Schicksal aller Mitangeklagten dazu beitragen möge, daß alle noch tätigen Agenten und alle Personen, an die die Versuchung einmal herantreten sollte, Lehre und Warnung daraus ziehen.«576 Im Gegensatz zu zwei Mitangeklagten 572 Erklärung auf Pressekonferenz, Oberst Borrmann, 4.5.1955. BStU, MfS, AS 183/56, Bd. 1, S. 114–135, hier 115, 135. Vgl. Schluß mit den Agentenzentralen in Westberlin. In: Neues Deutschland, 5.5.1955. 573 Vgl. Sachstandsbericht, HA IX, 28.4.1955. BStU, MfS, AU 162/55, Bd. 4, S. 138–140, hier 140; Erklärung auf Pressekonferenz, Oberst Borrmann, 4.5.1955. BStU, MfS, AS 183/56, Bd. 1, S. 114–135, hier 130; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 140. 574 Anklageschrift, Generalstaatsanwalt der DDR an Oberstes Gericht der DDR, 5.6.1955. BStU, MfS, AU 162/55, Bd. 4, S. 318–370, hier 370. 575 Bescheinigung, HA II/4, o. D. BStU, MfS, AU 162/55, Bd. 4, S. 262; vgl. Festnahmebericht, HA II/4, 28.3.1955. Ebenda, Bd. 4, S. 13. 576 Abschrift der stenographischen Niederschrift zur Hauptverhandlung, Oberstes Gericht der DDR, 9.–11.6.1955. BStU, MfS, AU 162/55, Bd. 17, S. 1–487, hier 478 f.; vgl. Bericht, Oberstes Gericht der DDR, 9.–13.6.1955. Ebenda, Bd. 31, S. 25–50, hier 47.
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entging Van Ackern der Todesstrafe: Dem Antrag des Generalstaatsanwalts entsprechend verurteilte ihn das Oberste Gericht der DDR zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe.577 Größtenteils brachten auch die Rechtsanwälte der Entführungsopfer die unrechtmäßigen Festnahmen in den Gerichtsverhandlungen nicht zur Sprache, nur einige verwiesen jedenfalls auf die Westberliner Herkunft ihrer Mandanten. So argumentierte der Rechtsanwalt des im Juli 1954 entführten Verfassungsschutzmitarbeiters Gustav Buchner, dass eine Verurteilung auf Basis des Artikels 6 der DDR-Verfassung bei einem Teil der vorgeworfenen Straftaten nicht möglich sei, da er diese auf bundesrepublikanischen Gebiet begangen habe. Vor diesem Hintergrund bat der Rechtsanwalt, die vom Staatsanwalt beantragte lebenslange Zuchthausstrafe zu reduzieren. Der Strafsenat am Bezirksgericht Rostock teilte diese Einschätzung jedoch nicht, und auch die eingelegte Berufung blieb erfolglos, sodass Gustav Buchner das Strafmaß zu akzeptieren hatte.578 Der Rechtsanwalt des geflohenen Grenzpolizisten Gerd Sommerlatte deutete sogar die unfreiwillige Rückkehr des Ende September 1961 Entführten an: »Der Angeklagte wollte auf keinen Fall zurückkehren. Gegen seine Willen kehrte er zurück.«579 Zugleich bestätigte er jedoch auch die vom Staatsanwalt konstatierte Tateinheit von Fahnenflucht und Spionage und bat nur um ein »gerechtes Urteil«. Im Urteil des 1. Strafsenats am Bezirksgericht Frankfurt/O. fand der Einwand des Rechtsanwalts keinen Niederschlag: wegen Spionage in Tateinheit mit Anstiftung zur Fahnenflucht und mit Fahnenflucht wurde Sommerlatte zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.580 Zu derartigen Argumentationen waren bei Weitem nicht alle Rechtsanwälte bereit: Als der Westberliner Journalist Karl Wilhelm Fricke seinen Pflichtverteidiger Friedrich Wolff581 über seine gewaltsame Entführung Anfang April 577 Vgl. Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 13.6.1955. BStU, MfS, AU 162/55, Bd. 15, S. 137– 165. Ein weiterer Mitangeklagter erhielt ebenfalls eine lebenslange Zuchthausstrafe, 2 Mitangeklagte 15 Jahre Zuchthaus und ein Mitangeklagter 12 Jahre Zuchthaus. Nähere Informationen zum Gerichtsverfahren und zu den Mitangeklagten siehe Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 143–148. 578 Vgl. Protokoll, Bezirksgericht Rostock, 14.9.1955. BStU, MfS, AU 95/56, Bd. 3, S. 154– 172, hier 170–172; Urteil, Bezirksgericht Rostock, 15.9.1955. Ebenda, S. 173–181; Berufung, Rechtsanwalt an das Bezirksgericht Rostock, 21.9.1955. Ebenda, S. 184 f.; Beschluss, Oberstes Gericht der DDR, 4.11.1955. Ebenda, S. 188–192. 579 Protokoll, Bezirksgericht Frankfurt/O., 20.2.1962. BStU, MfS, AU 5917/62, Bd. 2, S. 212– 237, hier 236. 580 Vgl. Protokoll, Bezirksgericht Frankfurt/O., 20.2.1962. BStU, MfS, AU 5917/62, Bd. 2, S. 212–237, hier 236; Urteil, Bezirksgericht Frankfurt/O., 20.2.1962. Ebenda, Bd. 1, S. 262–272. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1205. 581 Wolff war Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte von Ost-Berlin, und damit auch Vorsitzender des Rats der DDR-Rechtsanwaltskollegien. Im Dezember 1989 übernahm er die Verteidigung von Erich Honecker. Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Wolff, Friedrich. In: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hg): Wer war wer in der DDR? Band 2: M–Z. Berlin 5 2010, S. 1448 f.; Friedrich Wolff: Verlorene Prozesse. Meine Verteidigungen in politischen Verfah-
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1955 unterrichtete, erklärte dieser, dass das nicht von Interesse sei, da es keinen Einfluss auf die Verteidigung habe. Abgesehen davon, dass er den Wahrheitsgehalt dieser Angabe nicht prüfen könne, habe er nichts gegen solche Übergriffe des MfS gegen den »Agentensumpf« in West-Berlin. Dementsprechend wies Wolff in der Gerichtsverhandlung vor dem Obersten Gericht der DDR im Juli 1956 weder auf die Umstände von Frickes Festnahme hin, noch auf die problematische Anwendung des DDR-Rechts bei vermeintlichen Straftaten, die auf bundesrepublikanischem Gebiet erfolgt waren. Doch Fricke selbst brachte in seinem Schlusswort seine Entführung aus West-Berlin unter Einsatz eines Betäubungsmittels zur Sprache und fügte sogar hinzu: »Wenn ich auch weiß, dass der Kalte Krieg in Deutschland gewisse bedauerliche Formen hervorbrachte – […] –, so kann ich dennoch einen solchen Griff über die Sektorengrenze nur schwer verstehen. Ich sehe darin einen illegalen Gewaltakt, den ich niemals billigen werde.«582 Der Strafsenat ließ ihn gewähren – vermutlich da es sich um einen Geheimprozess handelte –, berücksichtigte seine Ausführungen aber nicht bei der Urteilsfindung: Dem Antrag des Staatsanwalts entsprechend lautete das Urteil vier Jahre Zuchthaus wegen Verbrechens nach Artikel 6 der DDR-Verfassung.583 Nur wenige der Entführungsopfer machten in ihrer Gerichtsverhandlung auf ihre Verschleppung oder Entführung aufmerksam oder erhoben gar Protest. Ein weiteres Beispiel ist der im November 1953 entführte Journalist Karl Reimer.584 Zusammen mit fünf weiteren Personen war er wegen Spionage und »Kriegshetze« im Dienste des amerikanischen Geheimdienstes CIC, der »Deutschen Freiheitsliga« und der »Bundesdienststelle« angeklagt.585 Im April 1954 eröffnete der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Karl-Marx Stadt die Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Als der Richter Karl Reimer über seine Festnahme befragte, gelang es diesem in knappen Worten auf seine Entführung unter Mithilfe seines Bekannten Fritz Nitschke hinzuweisen. Umgehend entzog ihm der Richter das Wort, ließ sich aber zu der Erwiderung hinreißen, dass dieser Bekannte ebenso ein Verbrecher wie Karl Reimer sei, in diesem Falle allerdings mal eine gute Tat vollbracht habe.586 In dem kurzen ren 1952–2003. Berlin 22009; Friedrich Wolff: Einigkeit und Recht – Die DDR und die deutsche Justiz. Berlin 22005. 582 Fricke: Akten-Einsicht, S. 104. 583 Vgl. Protokoll Zeugenvernehmung Karl Wilhelm Fricke, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin, 14.10.1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 283/92, Bd. 8, Bl. 206–235, hier 222– 225; Fricke: Akten-Einsicht, S. 99–105; ders.: Schauprozess, S. 315–317. 584 Zum Ablauf der Entführung vgl. Fallbeispiel 2 in Kapitel II.1. 585 Bei den anderen Angeklagten handelte es sich um DDR-Bürger, die mit Karl Reimer in Kontakt gestanden hatten, darunter auch die ehemalige Verlobte von Fritz Nitschke. Vgl. Anklageschrift, Staatsanwaltschaft Bezirk Karl-Marx-Stadt, 12.2.1954. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 18, S. 15–36. 586 Vgl. Vernehmung einer Mitangeklagten, Ab. I 4 KJ 1, 23.11.1957. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1031/93, Bd. I, Bl. 25 f., hier 25; vgl. Protokoll, Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 1.4.1954.
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Bericht des Staatsanwalts über den Ablauf der Verhandlung findet sich kein direkter Hinweis auf den Ausbruch von Karl Reimer, aber der Vermerk: »Der Angeklagte R. verhielt sich in der Hauptverhandlung äußerst aggressiv und spöttisch und man mußte den Eindruck haben, daß er die ganze Sache weniger ernst nimmt.«587 Ob Reimers Protest in der Gerichtsverhandlung negative Auswirkungen auf das Urteil gegen ihn hatte, ist nicht feststellbar. Kurz vor dem Prozess berichtete der Generalstaatsanwalt der DDR Ernst Melsheimer an die Abteilung Justiz beim Hohen Kommissar der UdSSR, dass der Staatsanwalt am Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt einen Strafantrag von zwölf bis 15 Jahren Zuchthaus gegen Karl Reimer beabsichtige. In der Verhandlung beantragte der Staatsanwalt dann jedoch eine lebenslängliche Zuchthausstrafe, und der 1. Strafsenat folgte diesem Strafantrag. Dieses deutlich höhere Strafmaß könnte ein Indiz sein, allerdings lagen die staatsanwaltschaftlichen Strafanträge auch bei zwei anderen Angeklagten in der Verhandlung höher als vom Generalstaatsanwalt angekündigt.588 Im Fall des bereits im November 1950 gewaltsam entführten Journalisten Alfred Weiland fand sein in der Gerichtsverhandlung vorgebrachter Hinweis auf seine Entführung sogar Eingang in die Urteilsbegründung – natürlich in anderer Lesart als von Weiland bezweckt. Vor dem Hintergrund der Gesetze des Alliierten Kontrollrates hatte er seine Festnahme als Menschenraub bezeichnet, da er Angehörige eines fremden Staates sei. Die Strafkammer entgegnete in ihrem Urteil: »Noch besteht Deutschland und alle, die in Deutschland wohnen, sind deutsche Bürger, also nicht Angehöriger fremder Staaten. Folglicherweise kann die Proklamation, die er vorgetragen hat, nicht auf seinen Fall zutreffen, denn er wohnt ja noch in Deutschland.«589 Auf der Grundlage des Artikels 6 der DDR-Verfassung und dem Artikel III A III der Kontrollratsdirektive 38 erhielt Weiland eine Zuchthausstrafe von 15 Jahren. Auch nach der Urteilsverkündung und sogar nach seiner Freilassung kämpfte Weiland weiter um sein Recht: Im Winter 1954 und Sommer 1956 beantragte er vergeblich
BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 18, S. 82–98. Reimer hatte schon in der Untersuchungshaft mit einem Mithäftling über seine Erkenntnis gesprochen, dass Nitschke an seiner Entführung beteiligt gewesen sei. Ferner vertraute er ihm an, dass er sich in den Vernehmungen aber ahnungslos stellen und dieses Wissen erst im Gerichtssaal offenbaren wolle. Ein Zellen-IM gab diese Informationen an das MfS weiter. Vgl. 2 Berichte, MfS, 9. und 27.1.1954. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 1, S. 271–275. 587 Bericht, Staatsanwaltschaft Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 6.5.1954. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 27, S. 112 f., hier 113. 588 Bei den beiden Angeklagten beantragte der Staatsanwalt 10 und 12 Jahre Zuchthaus statt 8 und 8 bis 10 Jahre wie angekündigt. Vgl. Bericht, Generalstaatsanwalt der DDR an Hohen Kommissar der UdSSR in Deutschland Abt. Justiz, 25.3.1954. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 28, S. 37–42, hier 42; Urteil, Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 5.4.1954. Ebenda, Bd. 18, Bl. 99–119, hier 100; Bericht, Staatsanwalt Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 6.5.1954. Ebenda, Bd. 27, S. 112 f., hier 112. 589 Urteil, Landgericht Greifswald, 27.8.1952. BStU, MfS, AU 258/52, Bd. 10, S. 144–165, hier 158.
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die Kassation seines Urteils und Wiederaufnahme seines Strafverfahrens, dessen Rechtswidrigkeit er vor allem mit seiner gewaltsamen Entführung begründete.590 In seinen Beschwerden machte er auch wiederholt auf die Rechtsverstöße in seinem Untersuchungsverfahren aufmerksam und bestritt die ihm vorgeworfenen Straftaten: »Darüberhinaus sind alle Behauptungen u. Unterstellungen der Anklageschrift entweder direkt unwahr oder sinngemäß so entstellt, daß sie völlig der Wahrheit widersprechen. Unwahr ist z. B. die Behauptung der Anklage, ich hätte Spionage etc. betrieben. Wahr ist vielmehr, daß ich mich unter dem harten Druck der Untersuchung zunächst fälschlich selbst der Spionage beschuldigte, sie aber in 16 Wochen nicht beweisen konnte. Nach einem schweren körperlichen Zusammenbruch widerrief ich am 18. April 1951 alle Selbstbeschuldigungen, alle Aussagen u. insbesondere meine vorgebliche Spionage- u. Agententätigkeit.«591
Bereits in der Gerichtsverhandlung vor dem Landgericht Greifswald im Juli 1952 hatte er die Anklage nicht anerkannt und den darin aufgeführten Straftatbeständen der Boykotthetze und Spionage widersprochen.592 Doch seine Proteste blieben wirkungslos. Er musste insgesamt acht Jahre in DDR-Haft verbringen, u. a. in den Strafvollzugsanstalten Bützow-Dreibergen und Brandenburg, bis er im November 1958 nach West-Berlin zurückkehren durfte. Ein entlassener Mithäftling informierte im Dezember 1956 den UFJ in WestBerlin, dass der noch in Brandenburg inhaftierte Weiland stets Schwierigkeiten in der Haft habe, da er sich immer wieder auf seine Westberliner Herkunft und rechtswidrige Entführung berufe.593 Auch im Urteil gegen den im August 1959 verschleppten Manfred Smolka findet sich ein Hinweis auf seine Verschleppung. Kurz vor seinem 28. Geburtstag war er im November 1958 in die Bundesrepublik geflohen, nachdem er aus der Grenzpolizei wegen »Befehlsverweigerung und ideologischer Schwächen«594 entlassen worden war. Im Westen wurde er intensiv von westlichen Geheimdiensten und bundesdeutschen Dienststellen vernommen und offenbarte dort sein Wissen. Das MfS wusste, dass er versuchen würde, 590 Vgl. Antrag auf Kassation, Alfred Weiland an das Oberste Gericht der DDR, 25.11.1954. BStU, MfS, AU 258/52, Bd. 16, S. 190 f.; ablehnender Bescheid, Staatsanwalt an StVA BützowDreibergen, 28.12.1954. Ebenda, S. 194; Antrag auf Wiederaufnahmeverfahren, Alfred Weiland an Generalstaatsanwaltschaft Berlin, 12.7.1956. Ebenda, Bd. 14, S. 211 f.; ablehnender Bescheid, Staatsanwaltschaft an Alfred Weiland, 27.7.1956. Ebenda, S. 213 f. Vgl. Kubina: Utopie, 2001, S. 423–426. 591 Antrag auf Wiederaufnahmeverfahren, Alfred Weiland an Generalstaatsanwaltschaft Berlin, 12.7.1956. BStU, MfS, AU 258/52, Bd. 14, S. 211 f., hier 211; vgl. Antrag auf Kassation, Alfred Weiland an das Oberste Gericht der DDR, 25.11.1954. Ebenda, Bd. 16, S. 190 f. 592 Vgl. Protokoll, Landgericht Greifswald, 27.8.1952. BStU, MfS, AU 258/52, Bd. 10, S. 116– 143, hier 123–126, 141. Vgl. Alfred Weiland: Partisan der Freiheit (unveröffentliches Manuskript). Berlin 1959, S. 412–434. 593 Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 20.12.1956. BArch, B 209/1070, o. Pag. 594 Maßnahmeplan, HA I/DGP, 30.7.1959. BStU, MfS, AOP 234/61, Bd. 3b, S. 3–18, hier 3.
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seine zurückgelassene Ehefrau und Tochter zu sich zu holen. Es sorgte also dafür, dass ihre offiziellen Ausreiseanträge abgelehnt wurden und ließ sich durch einen ehemaligen Kollegen und Bekannten Smolkas über Fluchtpläne der Ehefrau auf dem Laufenden halten. Ihr Fluchtversuch sollte genutzt werden, um Smolka habhaft zu werden. Im Auftrag des MfS bot sich der vermeintliche Freund als Fluchthelfer an, der ihr beim Überwinden der Grenze in der Nähe des thüringischen Titschendorf helfen würde. Den genauen Ort des Fluchtversuches hatte das MfS mit Blick auf die besten Bedingungen für eine Festnahme Smolkas ausgewählt. Als Smolka am Abend des 22. August 1959 an der verabredeten Stelle auftauchte, um seine Frau und seine neunjährige Tochter in Empfang zu nehmen, warteten bereits zwei Festnahmegruppen des MfS auf ihn. Als seine Frau und seine Tochter nicht wie geplant zu ihm kamen, begab er sich wenige Meter auf das DDR-Gebiet, um beiden beim Überwinden des Stacheldrahts zu helfen. Zu spät bemerkte er die auf ihn angesetzten Posten, die nun ihre Deckung im Gebüsch verließen. Zwar versuchte Smolka noch zu fliehen, doch ein MfS-Mitarbeiter eröffnete mit seiner Maschinenpistole das Feuer. Eine Schussverletzung am Oberschenkel brachte Smolka zu Fall, mutmaßlich bereits wieder auf bundesrepublikanischem Gebiet, sodass er verletzt auf DDR-Territorium zurückgebracht werden konnte.595 Laut Festnahmebericht der Hauptabteilung I befand sich Smolka auf dem Gebiet der DDR, als er getroffen wurde.596 Nach monatelanger Haft im Untersuchungsgefängnis des MfS in BerlinLichtenberg begann Ende April 1960 vor dem Bezirksgericht Erfurt der Prozess gegen Smolka, der nach sechs Verhandlungstagen am 5. Mai 1960 enden sollte. Im Vorfeld seiner Gerichtsverhandlung hatte Smolka seine Absicht nicht verhehlt, diese keinesfalls stillschweigend über sich ergehen zu lassen.597 Als er Ende Januar 1960 zu seiner Straftat Stellung nehmen sollte, hatte er den Protest formuliert: 595 Vgl. Zwischenbericht, HA I/DGP, 20.7.1959. BStU, MfS, AIM 1983/61, P-Akte, S. 67–69; Operativplan, HA I/DGP, 20.7.1959. Ebenda, S. 70–72; Operativplan, HA I/DGP, 19.6.1959. BStU, MfS, AOP 234/61, Bd. 1, S. 49–52; Operativplan, HA I/DGP, 27.7.1959. Ebenda, S. 128– 131; Ergänzung zum Operativplan, HA I/DGP, 28.7.1959. Ebenda, S. 132 f.; Bericht, DGP Operativgruppe, 18.8.1959. Ebenda, S. 160 f.; Mitteilung, HA I/DGP, 15.3.1960. Ebenda, Bd. 3b, S. 24; Schlussbericht, ZERV 212, 11.11.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 976/92, Bd. 2, S. 554– 560, hier 556; Verfügung, Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin, 21.3.1997. Ebenda, Bd. 3, S. 714–746, hier 714–718; Maßnahmeplan, HA I/DGP, 30.7.1959. BStU, MfS, AOP 234/61, Bd. 3b, S. 3–18; Ergänzung des Maßnahmeplans, HA I/DPG, 13.8.1959. Ebenda, S. 19–23; Mitteilung, HA I/DGP/4. Brig., 15.3.1960. Ebenda, S. 24; Bericht, MfS, 5.8.1959. Ebenda, Bd. 1, S. 229– 233. Vgl. Sälter: Grenzpolizisten, S. 416–428; Schmude: Fallbeil-Erziehung, S. 144–152; Fricke/ Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1208. 596 Vgl. Festnahmebericht, HA I/DGP/4. Brig., 24.8.1959. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 1, S. 26–29. 597 Vgl. Bericht, HA IX/6, 3.5.1960. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 1, S. 500–502, hier 500; 2 Überführungsanweisungen, HA IX/6, 17.2. und 11.3.1960. BStU, MfS, Abt. XIV Nr. 13572, S. 1–4.
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»Ausgehend von der Tatsache, daß ich Bürger der deutschen Bundesrepublik bin und ich auf westdeutschem Gebiet durch ein bewaffnetes Organ der Deutschen Demokratischen Republik widerrechtlich angeschossen und festgenommen wurde, erübrigt sich eine Stellungnahme zu meiner Handlung, da ich jede Maßnahme gegen meine Person nicht anerkenne.«598
Die ihm ausgehändigte Anklageschrift versah er mit kritischen Anmerkungen und Argumentationsideen. Smolka hatte die Hoffnung, die ihm in den Vernehmungen abgerungenen Aussagen vor Gericht klarstellen zu können.599 Trotzdem schlug die ermittelnde MfS-Hauptabteilung IX/6 vor, den Prozess vor einer »erweiterten Öffentlichkeit« durchzuführen, da das Verfahren geeignet sei, »aus erzieherischen Gründen gegen Smolka die Todesstrafe zu verhängen«. Das bedeutete in diesem Fall: vor 30 Offizieren der Grenzpolizei. MfS-Chef Erich Mielke stimmte dem Plan zu. Der Kreis der Zuhörer wurde noch um 30 Offiziere der NVA, zehn Mitarbeiter der MfS-Hauptabteilung I und je fünf Offiziere der Bereitschaftspolizei sowie des MfS-Wachregimentes erweitert. In diesen Diensteinheiten sollte später auch die Auswertung des Prozesses mit dem klaren Ziel der Abschreckung erfolgen. Erich Mielke bestätigte den Vorschlag per Unterschrift.600 Am Tag des Prozessbeginns wurde dieser in der Sitzung des Politbüros des SED-Zentralkomitees vorgetragen und ohne Widerspruch »zur Kenntnis genommen«. Da der Politbürobeschluss erst am Tag des Prozessbeginns fiel, hatte Erich Honecker als ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen bereits zuvor der Justizministerin Hilde Benjamin seine Zustimmung zum Strafmaß mitgeteilt. So lautet ein Vermerk, der die Unterschrift von Hilde Benjamin trägt: »Vertraulich […] 2. Verfahren gegen Smolka. Rücksprache Benjamin – Honnecker [sic!]. In diesem Verfahren ist Todesstrafe beschlossen.«601 Pünktlich zum Prozessbeginn waren also Gericht und Staatsanwaltschaft über das feststehende Todesurteil informiert.
598 Handschriftliche Stellungnahme, Manfred Smolka, 29.1.1960. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 13, S. 147. 599 Vgl. Anklageschrift, Staatsanwalt an Bezirksgericht Erfurt, 4.4.1960. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 3, S. 226–248; Zeugenaussage eines Mithäftlings, ZERV 212, 3.5.1993. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 976/92, Bd. 1, S. 192–196, hier 194. 600 Vorschlag, HA IX/6, 14.1.1960. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 1, S. 469–471; Mitteilung, HA IX an die HA I, 26.3.1960. Ebenda, S. 472. 601 Vermerk, Hilde Benjamin, o. D. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 14, S. 122. Vgl. Mitteilung, Oberste Staatsanwaltschaft an ZK der SED Abt. Staats- und Rechtsfragen, 19.3.1960. Ebenda, S. 15; Anfrage, Oberste Staatsanwaltschaft an ZK der SED Abt. Staats- und Rechtsfragen, 31.3.1960. Ebenda, Bl. 19; Schlussbericht, ZERV 212, 11.11.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 976/92, Bd. 2, Bl. 554–560, hier 557; Sälter: Grenzpolizisten, S. 423 f. Die Formulierung »zur Kenntnis genommen« zur Absegnung der vorgeschlagenen Todesstrafe war in den Protokollen des Politbüros üblich. Vgl. Falco Werkentin: »Souverän ist, wer über den Tod entscheidet«. Die SED-Führung als Richter und Gnadeninstanz bei Todesurteilen. In: Roger Engelmann, Clemens Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Berlin 1999, S. 181–204, hier 189–192.
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In Erwartung eines »provozierenden Auftretens« von Smolka traf die Hauptabteilung IX/6 Vorkehrungen und informierte bzw. instruierte vorab nicht nur den Richter, den Staatssanwalt und die Zeugen, sondern auch die rund 80 Zuhörer. Diese, so die Bilanz der Hauptabteilung IX/6 nach der Verhandlung, »schätzten das Verhalten des Smolka richtig ein und brachten zum Ausdruck, dass gegen solche Verbrecher die Todesstrafe angewandt werden müsse«.602 In der Hauptverhandlung hatte Smolka nicht nur den ihm zur Last gelegten Umfang der schweren Militärspionage bestritten, sondern auch in aller Deutlichkeit auf seine Verschleppung, die Aussageerpressung sowie gefälschten Vernehmungsprotokolle hingewiesen und die protokollierten Angaben widerrufen. Erstaunlicherweise fand Smolkas Darstellung seiner gewaltsamen Festnahme auf bundesdeutschem Gebiet Eingang in die Urteilsbegründung, ohne jedoch das bereits feststehende Strafmaß zu mildern: Smolka wurde zum Tode verurteilt.603 Smolkas Festnahme auf westlichem Gebiet erkannte der vorsitzende Richter Walter Kubasch nicht als Unrecht, sondern vielmehr als rechtmäßige Notwehrhandlung der DDR.604 Die durch seinen Rechtsanwalt eingelegte Berufung wurde im Juni 1960 vom Obersten Gericht der DDR abgewiesen. In der Urteilsbegründung des Obersten Gerichts findet sich das Eingeständnis der Verschleppung Smolkas allerdings nicht mehr.605 Am 12. Juli 1960 wurde Smolka in Leipzig enthauptet.606 602 Bericht, HA IX/6, 3.5.1960. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 1, S. 500–502, hier 500, 502. 603 Vgl. Protokoll, Bezirksgericht Erfurt, 26.4.1960. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 4, S. 235–299; Urteil, Bezirksgericht Erfurt, 5.5.1960. Ebenda, S. 309–334, hier 326 f.; Verfügung, Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin, 21.3.1997. Ebenda, Bd. 3, S. 714–746, hier 718–724, 736 f.; Joachim Heldt: Vor den Augen seiner Frau. In: Stern, 22.10.1960, S. 33 f., 62–65, hier 34; Joachim Heldt: Vor den Augen seiner Frau. Teil II. In: Stern, 29.10.1960, S. 105–115, hier 114 f. Heldt interviewte Smolkas Rechtsanwalt, der kurz nach dem Prozess in den Westen geflohen war. Er berichtete, schon vor Prozessende von einem MfS-Mitarbeiter über das feststehende Todesurteil informiert worden zu sein. 604 Smolkas ehemaliger Kamerad, der dem MfS als Lockvogel gedient hatte, sagte in der Verhandlung als Zeuge aus, Smolka sei bei der Festnahme auf DDR-Gebiet gewesen. Laut Rundfunkkommentar des BMG unterbrach ihn der Richter daraufhin, da das Gericht zuvor die Festnahme auf bundesdeutschem Gebiet festgestellt hatte. Das Protokoll von der Hauptverhandlung vermerkt dies jedoch nicht. Vgl. Mitschrift RIAS-Sendung »Gesamtdeutsche Fragen«, Staatliches Rundfunkkomittee Abt. Information, 6.8.1960. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 11, S. 21 f., hier 22. Vgl. Sälter: Grenzpolizisten, S. 422, 424. 605 Smolka verfasste auch selbst eine Berufungsschrift, die er auf Anraten seines Rechtsanwalts aber nicht einreichte. Darin verwies er wiederum auf seine widerrechtliche Verschleppung und die Aussageerpressung. Vgl. handschriftliche Berufung, Manfred Smolka an Oberstes Gericht der DDR, 6.5.1960. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 15, S. 5–148; Berufung, Rechtsanwalt an Bezirksgericht Erfurt, 10.6.1960. Ebenda, Bd. 4, S. 335; Protokoll, Oberstes Gericht der DDR, 14.6.1960. Ebenda, S. 356– 358; Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 14.6.1960. Ebenda, S. 359–381. Smolkas ebenfalls verhaftete Ehefrau erhielt wegen Spionage und versuchter Republikflucht eine Zuchthausstrafe von 4 Jahren. Vgl. Urteil, Bezirksgericht Erfurt, 7.7.1960. Ebenda, S. 183–190. 606 Vgl. Schlussbericht, ZERV 212, Berlin, 11.11.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 976/92, Bd. 2, Bl. 554–560, hier 558. In einem internen Befehl gab das Ministerium für Nationale
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Smolka verfasste nach seiner Verurteilung noch mehrere Kassiber, die über Mitgefangene in die Hände seiner Mutter und seiner Schwester in der Bundesrepublik gelangen sollten, aber in den MfS-Akten landeten. Darin informierte er immer wieder über seine widerrechtliche Verschleppung – er fertigte sogar Skizzen über den Tatort an – sowie seine Verurteilung und bat um Hilfe: »Ich bin Bundesbürger, wende dich an die Bundesregierung Presse Rundfunk und Öffentlichkeit. Ich bitte um Hilfe. Es ist kein Tag mehr zu verlieren.«607 Aber die öffentlichen Proteste in der Bundesrepublik, auch vonseiten der Bundesregierung, blieben ebenso wirkungslos wie die Gnadengesuche der Angehörigen: Am 9. Juli 1960 lehnte der DDR-Präsident Wilhelm Pieck die Einleitung eines Gnadenverfahrens ab, drei Tage später wurde Smolka hingerichtet. In seinem Abschiedsbrief äußerte er den Wunsch, in der Bundesrepublik bestattet zu werden, da er sich für ein dortiges Leben entschieden hatte. Der Wunsch blieb ihm verwehrt.608 Insgesamt wurde mindestens gegen 26 Entführungsopfer die Todesstrafe verhängt, die nur in zwei Fällen nicht vollstreckt wurde. Unter diesen 24 Hingerichteten befinden sich 16 Menschen, die bis 1953 von sowjetischen Militärtribunalen zum Tode verurteilt und in Moskau erschossen wurden. Die weiteren acht hingerichteten Entführungsopfer waren der westliche Nachrichtendienstler Karl-Albrecht Tiemann 1955, der geflohene Grenzpolizist Manfred Smolka 1960 und sechs geflohene MfS-Mitarbeiter in den Jahren 1954 bis 1956. Sie gehören zu den 55 Todesurteilen, die deutsche Gerichte in der DDR in den Jahren 1949 bis 1961 wegen politischer Tatbestände verkündeten und Verteidigung die vollstreckte Todesstrafe gegen Smolka bekannt und wies eine Auswertung des Prozesses in den Truppenteilen an. Vgl. Befehl Nr. 45/60, Ministerium für Nationale Verteidigung, 1.8.1960. BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 15643, S. 1–4. 607 Kassiber, Manfred Smolka, Juni 1960. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 3, S. 193 f., hier 193; vgl. weitere Kassiber, Manfred Smolka, Juni 1960. Ebenda, S. 195 f., 210–216; ebenda, Bd. 15, S. 151– 174; vgl. Ergänzung zum Bericht, HA IX/6, 10.5.1960. Ebenda, Bd. 1, S. 503 f. Smolka versah auch seine Haftbriefe mit diesen Informationen, sodass sie nicht weitergeleitet wurden. Vgl. Brief, Manfred Smolka an seine Mutter, 14.4.1960. Ebenda, Bd. 13, S. 169. 608 Vgl. Presseerklärung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen, 4.7.1960. Gedruckt in: BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 186 f.; Die Bundesregierung protestiert gegen das Erfurter Urteil. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.7.1960; Entführter Flüchtling in der Zone zum Tode verurteilt. In: Tagesspiegel, 5.7.1960; Scharfer Protest gegen Todesurteil. In: Telegraf, 5.7.1960; Mutter des Todgeweihten: Rettet Manfred Smolka! In: Bild, 6.7.1960; Smolka war kein Spion. In: Tagesspiegel, 8.7.1960; In fürchterlicher Ungewissheit. In: Telegraf, 10.7.1960; Mitschrift SFBSendung »Hier spricht Berlin«, Staatliches Runkfunkkomitee Abt. Information, 5.7.1960. BStU, MfS, GH 9/89, Bd. 3, S. 183 f.; Mitschrift RIAS-Sendung »Kommentare – Aus der Zone für die Zone«, Staatliches Rundfunkkomitee Abt. Information, 5.7.1960. Ebenda, S. 189 f.; Gnadengesuch, Schwiegermutter und Tochter Smolkas an Präsident der DDR, 23.6.1960. Ebenda, Bd. 13, S. 8–11; Stellungnahme, Oberste Staatsanwaltschaft an den Präsidenten der DDR Präsidialkanzlei Gnadenabteilung, 9.7.1960. Ebenda, Bd. 14, S. 92; Erklärung des Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck, Präsidialkanzlei, 9.7.1960. Ebenda, Bd. 4, S. 413; Vollstreckungsprotokoll, StVA Leipzig, 12.7.1960. BStU, MfS, ASt I 35/60, Bd. 2, S. 10 f.; Abschiedsbrief, Manfred Smolka, 11.71960. Ebenda, S. 14–16.
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von denen 42 vollstreckt wurden.609 Der Großteil dieser Todesurteile fiel in den Jahren 1949 bis 1956, nur vier von ihnen wurden zwischen 1957 und 1961 ausgesprochen und vollstreckt. Der XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, auf dem Chruschtschow mit der Herrschaft Stalins abrechnete, hatte in der Anwendung der Todesstrafe eine abrupte Wende eingeleitet. In den Jahren 1957 bis 1981 verkündeten DDR-Gerichte noch 15 Todesurteile in politischen Strafverfahren, die mit einer Ausnahme vollzogen wurden.610 Im Gegensatz zur nationalsozialistischen Diktatur war die Todesstrafe in der DDR nie ein »Instrument der massenhaften physischen Vernichtung politischer Gegner«, sondern diente – im Hinblick auf Verfahren wegen NSVerbrechen oder politischer Tatbestände – »der exemplarischen Abschreckung und einer gezielt eingesetzten politischen Propaganda mit justiziellen Mitteln, die eng an tagespolitische Konstellationen und Interessen gebunden war«.611 Sehr deutlich wird das an den acht Entführungsopfern, die in den Jahren 1954 bis 1956 und 1960 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Insbesondere die Verurteilungen der sechs geflohenen MfS-Mitarbeiter612 und des Grenzpolizisten Manfred Smolka dienten der internen Repression und wurden aus diesem Grund als Schauprozesse inszeniert – allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das handverlesene Publikum bestand zumeist aus Personen, die im selben Bereich wie der Angeklagte tätig waren. Zudem wurden diese Prozesse anschließend im MfS und in ausgewählten Organen ausgewertet.613 So befahl SfS-Chef Ernst Wollweber im August 1955, alle Mitarbeiter des Staatssicherheitsapparates über das Ergebnis der Ermittlungen und des Prozesses gegen zwei geflohene MfS-Mitarbeiter zu unterrichten, um ihnen »das Schändliche dieses Verrates vor Augen zu führen«.614 Die Todesurteile gegen 609 Insgesamt gab es in diesem Zeitraum 173 Todesurteile (80 Personen wegen NS-Verbrechen und 38 Personen wegen krimineller Delikte), von denen 107 vollstreckt wurden. Bei den Todesurteilen in politischen Strafverfahren war die Vollstreckungsrate mit 76 % am höchsten (vgl. bei NSVerbrechen 64 %, bei kriminellen Delikten 37 %). Vgl. Werkentin: SED-Führung, S. 184. 610 Im Zusammenhang mit NS-Verbrechen wurden in diesem Zeitraum noch 21 Todesurteile (davon 19 vollstreckt) und wegen krimineller Delikte 35 Todesurteile (davon 30 vollstreckt) gefällt. Vgl. Werkentin: SED-Führung, S. 184 f. 611 Werkentin: SED-Führung, S. 185. 612 Paul Rebenstock (entführt im September 1953, hingerichtet im März 1954), Heinz-Georg Ebeling (entführt im April 1954, hingerichtet im Mai 1955), Paul Köppe (entführt im Oktober 1954, hingerichtet im Mai 1955), Bruno und Susanne Krüger (entführt im Oktober 1954 bzw. März 1955, hingerichtet im September 1955) und Sylvester Murau (entführt im Juli 1955, hingerichtet im Mai 1956). 613 Im Fall Smolka erfolgte eine solche Auswertung beispielsweise auch innerhalb der Grenztruppen. Vgl. Sälter: Grenzpolizisten, S. 425–428. 614 Befehl Nr. 224/55, SfS Staatssekretär Ernst Wollweber, 5.8.1955. BStU, MfS, GH 108/55, Bd. 6, S. 3 f., hier 4. Ähnliche Wortlaute finden sich auch in Befehlen nach der Hinrichtung der geflohenen MfS-Mitarbeiter Paul Rebenstock im März 1954 und Paul Köppe sowie Heinz-Georg Ebeling im Mai 1955. Vgl. Befehl Nr. 78/54, SfS, 5.3.1954 und Befehl Nr. 134/55, SfS, 17.5.1955, zit. in: Fricke: Verräter, S. 260; Fricke/Marquardt: DDR-Staatssicherheit, S. 13 f.
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die Abtrünnigen kommentierte er: »Jeden Verräter an unserer gerechten Sache ereilt sein verdientes Schicksal. Er wird genau wie die beiden Krüger ergriffen, auch wenn er sich in einem noch so sicheren Versteck zu befinden glaubt und entgeht in keinem Fall seiner gerechten Strafe, denn die Macht der Arbeiterklasse reicht über alle Grenzen hinaus.«615 Bei den genannten »beiden Krüger« handelte es sich um das Ehepaar Bruno und Susanne Krüger, die Mitarbeiter der MfS-Bezirksverwaltung Schwerin gewesen waren. Nach ihrer Entlassung aus dem MfS waren sie im August/September 1953 nach West-Berlin geflohen und wurden von dort »zurückgeholt«. Bruno Krüger wurde nach dem Besuch einer Gaststätte an der Sektorengrenze in der Nacht zum 8. Oktober 1954 von MfS-Angehörigen überfallen und nach Ost-Berlin verschleppt. Grundlegende Informationen hatte vorab seine Geliebte dem MfS geliefert, die mit ihm nach West-Berlin geflohen war und dort mit ihm zusammenlebte. Kurz vor der Entführung hatte sie sich mit einem MfS-Mitarbeiter am Bahnhof Friedrichstraße getroffen und diesen über Bruno Krüger informiert. Zudem brachte sie nach der Entführung den zweijährigen Sohn von Susanne und Bruno Krüger in die DDR. Verzweifelt und erfolglos bemühte sich Susanne Krüger Informationen über den Verbleib ihres Ehemannes und vor allem ihres Sohnes zu bekommen. Die wiederholten Angebote, in die Bundesrepublik ausgeflogen zu werden, lehnte sie ab. Ohne ihren Sohn wollte sie diesen Schritt nicht tun. Im März 1955 gelang dem MfS schließlich auch ihre Entführung, nachdem es einen ehemaligen Kollegen von ihr als GM angeworben und als vermeintlichen Flüchtling nach West-Berlin geschickt hatte. Er nahm Kontakt zu der verzweifelten Frau auf, die sich über das Wiedersehen freute und hoffte, etwas über ihren Sohn zu erfahren. Nach einem gemeinsamen Lokalbesuch brachte er sie mit einem Taxi über die Sektorengrenze am Potsdamer Platz, wo bereits zwei hauptamtliche MfS-Mitarbeiter warteten und sie festnahmen.616 Das Oberste Gericht der DDR verurteilte Bruno und Susanne Krüger im August 1955 wegen Verbrechen gegen Artikel 6 der DDR-Verfassung in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive 38 zum Tode. Auch in diesem Fall hatte das Politbüro das Todesurteil vorab »zur Kenntnis genommen« und dadurch zugestimmt. Am 14. September 1955 erfolgte in Dresden die Hinrichtung durch das Fall-
615 Befehl Nr. 224/55, SfS Staatssekretär Ernst Wollweber, 5.8.1955. BStU, MfS, GH 108/55, Bd. 6, S. 3 f., hier 4. Gedruckt in: Fricke/Marquardt: DDR-Staatssicherheit, S. 48 f. 616 Nach der Flucht waren rund 16 GI und GM des MfS mit dem Ehepaar befasst. Der Sohn des Ehepaars kam zunächst in ein Kinderheim und später zu Pflegeeltern. Sein Pflegevater war Mitarbeiter der DDR-Generalstaatsanwaltschaft. Den Abschiedsbrief seiner Mutter konnte er erst 56 Jahre nach ihrem Tod in den MfS-Akten lesen. Vgl. Schmole/Staadt: Abschreckungsterror, S. 101–112, 118–121; Sälter: Repression, S. 82–84, 93–95, 98–101; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1203.
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beil, Bruno und Susanne Krüger waren zu diesem Zeitpunkt 31 und 29 Jahre alt.617 Neben den 24 zum Tode verurteilten und hingerichteten Entführungsopfern gab es für mindestens zehn weitere keine Rückkehr aus der DDR-Haft: Sie verstarben in DDR-Haft infolge von Krankheit, Selbsttötung oder körperlichen Misshandlungen. Das Strafmaß, das DDR-Gerichte gegen Entführungsopfer zur Anwendung brachten, ist bislang in fast 200 Verschleppungs- und Entführungsfällen bekannt: Abgesehen von den 24 vollstreckten Todesurteilen war ein Großteil dieser Verurteilten (rund 66 %) mit einer langjährigen Freiheitsstrafe konfrontiert. Lebenslängliche bzw. 25-jährige Haftstrafen wurden insgesamt 35-mal ausgesprochen. In 33 Fällen bewegte sich das Strafmaß zwischen elf und 15 Jahren, darunter 20 Haftstrafen von 15 Jahren. Eine Haftstrafe zwischen fünf bis zehn Jahren verhängten DDR-Richter gegen 62 Entführungsopfer, 18 von ihnen erhielten zehn Jahre und zehn von ihnen fünf Jahre. Mit der Aussicht auf eine Haftstrafe zwischen einem und vier Jahren verließen 37 Entführungsopfer den Gerichtssaal. Sechs Urteile sahen ein Strafmaß von unter zwölf Monaten vor. In vielen Fällen kam es erst gar nicht zu einem Gerichtsverfahren. So sind 83 Fälle bekannt, also etwa 20 Prozent der zwischen 1949 und 1964 Verschleppten und Entführten, die bereits nach spätestens 30 Tagen freigelassen wurden: 46 von ihnen kehrten am selben oder nächsten Tag in den Westen zurück, 33 nach zwei bis 14 Tagen und vier nach 15 bis 30 Tagen. Eine rasche Rückkehr wurde beispielsweise einem kaufmännischen Angestellten aus WestBerlin im Februar 1950 gewährt, der einer Personenverwechslung zum Opfer gefallen war. Der sowjetische Geheimdienst MWD hatte eine Agentengruppe mit der Entführung eines Angehörigen der KgU beauftragt. Diese versuchte ihren Auftrag zu erfüllen: Sie lockte die vermeintliche Zielperson in einen Pkw, betäubte sie mit Chloroform und brachte sie nach Ost-Berlin. Erst dort stellte sich heraus, dass die Einsatzgruppe aufgrund einer Namensähnlichkeit den falschen Mann entführt hatte. Nach einigen Tagen durfte das Entführungsopfer nach West-Berlin zurückkehren.618 617 Vgl. Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 4.8.1955. BStU, MfS, GH 108/55, Bd. 2, S. 319– 333; Vollstreckungsprotokolle, Oberstaatsanwalt Max Haberkorn, 14.9.1955. Ebenda, Bd. 3, S. 315 f.; Vorlage für das Politbüro, Staatliche Organe, 10.6.1955. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 283/92, Bd. 13, Bl. 162 f.; Protokoll Nr. 28/55 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees, 14.6.1955. Ebenda, Bl. 157–160. Das Urteil ist gedruckt in: Fricke/Marquardt: DDRStaatssicherheit, S. 29–46. Vgl. Schmole/Staadt: Abschreckungsterror, S. 109–112; Sälter: Repression, S. 105–114; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1179, 1203. 618 Vgl. Statistische Zusammenstellungen über Entführungen aus Berlin 1949–1962, Polizei. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 68/95, Beiakte, o. Pag. Diese Agentengruppe war noch mit weiteren Entführungen beauftragt, u. a. auch mit der Entführung des KgU-Leiters Rainer Hildebrandt, konnte diese Aufträge aber nicht realisieren. Der Leiter der Gruppe konnte 1953 in West-Berlin
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Die gerichtlich verurteilten Entführungsopfer mussten ihre Haftstrafe größtenteils nicht komplett verbüßen. Begnadigungen, die Freilassungen im Zuge der Entstalinisierung 1956 und ab 1963/64 der Freikauf politischer Häftlinge duch die Bundesregierung führten zu vorzeitigen Haftentlassungen. Bis zu zwölf Monate mussten 37 Entführungsopfer (9 %) in DDR-Haft ausharren, davon 14 zwischen einem und drei Monaten. Aber es sind 186 Opfer registriert, also 45 Prozent der bekannten Entführungsfälle, die mehr als ein Jahr hinter DDR-Gefängnismauern verschwanden: Nach einem oder zwei Jahren DDR-Haft wurden 44 von ihnen freigelassen, 80 nach drei bis fünf Jahren, 54 nach sechs bis zehn Jahren und neun erst nach elf bis 15 Jahren.619 Für viele Opfer war ihre Verschleppung oder Entführung daher der Beginn einer Haftzeit, aus der sie erst nach mehreren Jahren zurückkehrten. IV.3 Die Inhaftierung und Rückkehr Vor dem Hintergrund ihrer westlichen Herkunft, den Umständen ihrer Festnahme und ihrer Kenntnisse hatten die Entführungsopfer oftmals eine Art Sonderstellung unter den politischen Häftlingen in der DDR. Diese kamen in den meisten Fällen nach ihrer Verurteilung in den normalen Strafvollzug, der dem MdI unterstand – so auch die Entführungsopfer. Als Stationen ihrer DDR-Haft tauchen Strafvollzugsanstalten wie Brandenburg-Görden, BützowDreibergen, Torgau, Cottbus und Waldheim auf. Die gemeinsame Inhaftierung mit kriminellen Straftätern war für politische Häftlinge eine zusätzliche psychische Belastung. Das SED-Regime war sich dessen bewusst und demonstrierte mit dieser Gleichbehandlung seine Wahrnehmung politischer Gefangener. Die Strafvollzugsanstalten des MdI standen ebenso wie die Verwaltung Strafvollzug im MdI unter der offiziellen und inoffiziellen Kontrolle des MfS, sodass dessen Zugriff auf die inhaftierten Entführungsopfer gewahrt blieb.620 Darüber hinaus verfügte das MfS in gewisser Weise auch über zwei eigene
festgenommen werden, wurde im Mai 1954 vor dem Landgericht Berlin wegen Verstoßes gegen das Freiheitsschutzgesetz angeklagt und zu 4 Jahren Zuchthaus verurteilt. Vgl. Unterlagen zum Verfahren in: BArch, B 141/12196, Bd. 18; Vermerk, Senator für Justiz, 28.5.1953. BArch, B 141/12195, Bd. 8/1, Bl. 63 f., hier 64; Neue Menschenräuberbande aufgespürt. In: Tagesspiegel, 16.11.1952; SSD-Agentin Ruth Penser verhaftet. In: Neue Zeitung, 16.11.1952; Neuer SSD-Agentenring aufgedeckt. In: Telegraf, 16.11.1952; Versprechen kann man viel. In: Der Spiegel, Nr. 25/1953; Von der Freundin ans Messer geliefert. In: BZ, 19.5.1954; Ost-Journalist der Verschleppung angeklagt. In: Neue Zeitung, 21.5.1954; Vier Jahre Zuchthaus. In: Neue Zeitung, 22.5.1954. 619 Bei 339 Entführungsopfern aus dem Zeitraum Oktober 1949 bis 1964 ist das Rückkehrdatum überliefert, d. h. in 82 Fällen (19,8 %) ist es unbekannt. Die Prozentzahlen ergeben sich aus einer Berechnung mit der Grundmenge von 412 Verschleppungs- und Entführungsopfern. 620 Vgl. Beleites: Untersuchungshaftvollzug, S. 448 f.; Fricke/Klewin: Bautzen II, S. 14–19; Fricke: Menschen- und Grundrechtssituation, S. 60–63.
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Strafvollzugsanstalten, in denen es Entführungsopfer einsperrte: das sogenannte »Lager X« in Berlin-Hohenschönhausen und die Sonderhaftanstalt Bautzen II. Bei dem »Lager X« handelte es sich um ein Haftarbeitslager im MfSSperrgebiet in Berlin-Hohenschönhausen, das von Anfang der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre existierte. In dieser Zeit waren dort schätzungsweise insgesamt mindestens 8 000 Gefangene wegen politischer oder krimineller Delikte inhaftiert, seit Ende der 1950er Jahre überwogen die Kriminellen unter den Häftlingen. In dortigen Werkstätten waren bis zu 900 Gefangene gleichzeitig tätig. Außerdem errichteten die Insassen des Haftarbeitslagers Funktionsgebäude und Untersuchungshaftanstalten des MfS, Wohnhäuser und verschiedene Sportanlagen. Ausschlaggebend für eine dortige Inhaftierung waren berufliche Qualifikationen und die Höhe des Strafmaßes, aber auch operative Interessen des MfS, beispielsweise die beabsichtigte Anwerbung eines Häftlings als IM.621 Die Sonderhaftanstalt Bautzen II diente als eine Art Hochsicherheitsgefängnis für spezielle Häftlinge des SED-Regimes, die als besonders staatsgefährdend eingestuft wurden. Als solche galten politische Häftlinge wie Regimegegner, Fluchthelfer, Agenten, hochrangige Geheimnisträger (zum Beispiel aufgrund früherer Funktionen in der SED oder im Staatsapparat) und abtrünnige MfS-Mitarbeiter oder Angehörige der »bewaffneten Organe«. Der Anteil von sogenannten »Staatsfeinden« war daher unter den Inhaftierten in Bautzen II überdurchschnittlich hoch. Rund 80 Prozent der schätzungsweise 2 500 bis 3 000 Häftlinge in den Jahren 1956 und 1989 verbüßten dort wegen politischer Straftatbestände, rund 20 Prozent wegen krimineller Delikte ihre Strafhaft. Die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft in Bautzen II wies neben diesem sehr hohen Anteil politischer Gefangener zwei weitere Spezifika auf: eine große Anzahl Gefangener mit sehr langen Haftstrafen sowie einen hohen Anteil von Bundesbürgern und Ausländern. Die Bezeichnung als Sonderhaftanstalt rekurriert auf ihre besondere Stellung: De jure unterstand Bautzen II zwar wie andere Strafvollzugsanstalten dem MdI, de facto aber dem MfS. Die Einweisung, den Vollzugsalltag und die Überwachung der Gefangenen organisierte und kontrollierte die MfS-Hauptabteilung IX. Vor Ort war seit 1963 ein eigener Verbindungsoffizier der MfS-Hauptabteilung IX eingesetzt, zeitweise kamen dort auch zwei solcher »Offiziere für Sonderaufgaben« zum Einsatz. Im Jahr 1972 übernahm ein Mitarbeiter der Hauptabteilung IX als OibE (Offizier im besonderen Einsatz) die Leitung der Sonderhaftanstalt. Für die Kontrolle des Personals war – wie in anderen Strafvollzugsanstalten auch – die Linie VII im Staatssicherheitsapparat zuständig.
621 Vgl. Peter Erler, Hubertus Knabe: Der verbotene Stadtteil. Berlin 32008, S. 70–76; Knabe: Lubjanka, S. 78 f.; Beleites: Untersuchungshaftvollzug, S. 448 f.; Erler: »Lager X«, S. 17–40.
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Bautzen II fungierte seit August 1956 auf Weisung des SED-Regimes als Sonderstrafvollzugsanstalt unter MfS-Kontrolle. In dieser spezifischen Funktion erfolgte im selben Monat auch ihre Erstbelegung, als in der Nacht zum 9. August 1956 in einem Konvoi aus mehreren Gefangenentransportwagen 124 Häftlinge aus der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden eintrafen. Zu diesem Häftlingstransport, der zu 75 Prozent aus politischen Häftlingen bestand, gehörten auch einige Entführungsopfer wie der im März 1955 entführte Wilhelm van Ackern und der wenige Tage später entführte Karl Wilhelm Fricke.622 In den folgenden Monaten und Jahren landeten noch viele weitere Entführungsopfer in der Sonderhaftanstalt Bautzen II. Im September 1957 vermerkte die MfS-Hauptabteilung IX/1, dass eine Überführung des zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilten Heinrich Berger in die Strafvollzugsanstalt Bautzen II erforderlich sei. »Diese Notwendigkeit ergibt sich aus den Umständen seiner Festnahme sowie aus der Tatsache, daß B. eine Reihe von Agenten des ZOPE in der DDR benannt hat, die noch einer operativen Bearbeitung unterliegen.«623 Heinrich Berger war neun Monate zuvor mit Gewalt aus West-Berlin entführt worden. Bei ihrer Einweisung in die Haftanstalt Bautzen II mussten die Gefangenen sämtliche persönlichen Sachen abgeben und erhielten neben der blauen Häftlingskleidung (mit eingenähtem gelben Streifen auf dem Rücken, den Ärmeln und Hosenbeinen) eine Gefangenen-Nummer, mit der sie angesprochen wurden und sich auch melden mussten. 624 Die Haftbedingungen in den DDR-Strafvollzugsanstalten in den 1950er und 1960er Jahren müssen als katastrophal beschrieben werden – sowohl hinsichtlich der Versorgung als auch der Unterbringung der Häftlinge. Das Gebäude der Sonderhaftanstalt Bautzen II war beispielsweise in einem maroden Zustand. Es gab kein fließendes Wasser in den Zellen, die Dampfluftheizung und Spülabortanlage waren vollkommen überaltert und in den doppelt vergitterten Milchglasfenstern ließ sich nur eine kleine Luke öffnen. Die kärgliche Ausstattung der Zellen umfasste ein 60 Zentimeter schmales Klappbett mit Strohsack, ein kleines Wandregal, einen an die Wand montierten kleinen Tisch, eine schmale Sitzbank, einen Toilettentrichter und ein Heizungsrohr. Dieses Dampfheizungsrohr sorgte bis Mitte der 1960er Jahre in den kalten Monaten für eine Wärmezufuhr in die Zellen, allerdings nur zwei- bis dreimal täglich für wenige Minuten.625 Walter Janka, der von 1957 bis 1960 in Bautzen II inhaftiert war, schilderte eindringlich:
622 Vgl. Fricke/Klewin: Bautzen II, S. 14, 21–25, 67–69, 75; Beleites: Haft, S. 114. 623 Aktenvermerk, HA IX/1, 24.9.1957. BStU, MfS, AU 259/57, Bd. 4, S. 302. 624 Vgl. Fricke/Klewin: Bautzen II, S. 77; Fricke: Akten-Einsicht, S. 157. 625 Vgl. Fricke/Klewin: Bautzen II, S. 39, 78–81; Fricke: Politik und Justiz, S. 532–544. Erst in den Jahren 1965 bis 1970 wurde der Zustand der Zellen durch Ausstattung mit Heizkörpern, neuen Toiletten, Waschbecken sowie Matratzen und Neuanstrich der Wände verbessert.
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»Die ständige Kälte war eine lautlose Folter. Zumal die Bekleidung völlig unzulänglich war. Richtig erwärmen konnte ich mich in der kalten Jahreszeit überhaupt nicht. […] Selbst wenn ich bis zur Erschöpfung Kniebeugen oder Armstützen machte, schlug das ins Gegenteil um. Das schweißnasse Hemd erkaltete sofort wieder. Und die feuchte Kälte auf der Haut machte alles noch schlimmer. […] Die Wände waren dunkelgrau, fast schwarz gestrichen. Die ständige Dämmerung wechselte mit völliger Finsternis. […] Das Stillliegen und Frieren auf der sechzig Zentimeter breiten Pritsche war so qualvoll wie das ewige Aufundabgehen am Tage.«626
In den zwei mal drei Meter kleinen Zellen waren bis in die 1970er Jahre nicht selten drei Gefangene eingesperrt.627 Viele Entführungsopfer verblieben jedoch auch in der Strafhaft in der Isolation, die sie oft schon monatelang in der Untersuchungshaftanstalt hatten ertragen müssen. Die Anordnungen, bestimmte politische Gefangene in Isolationshaft zu halten, wurden zumindest zum Teil von der MfS-Führungsspitze abgesegnet. So bestätigte MfS-Chef Erich Mielke mit einem »einverstanden« und seiner Unterschrift, dass der im Juni 1961 entführte Gewerkschaftsjournalist Heinz Brandt seine 13-jährige Zuchthausstrafe in der Strafvollzugsanstalt Bautzen II befristet in Einzelhaft verbüßen solle. Die dortige Leitung sollte zudem dafür sorgen, Brandt auf seiner Station isoliert zu halten, alle seine Besuche zu überwachen und besondere Vorkommnisse umgehend an die Hauptabteilung IX/2 zu melden.628 In Bautzen II wurden dementsprechend neben der Einzelhaft alle Maßnahmen ergriffen, Brandt zu isolieren und Möglichkeiten eines Zusammentreffens mit anderen Häftlingen möglichst gering zu halten: Wenn Brandt in oder aus seiner Zelle geführt werden sollte, durften keine anderen Häftlinge auf den Gängen sein; die Freistunde war so organisiert, dass er keinen anderen Inhaftierten sah oder gar sprechen konnte; bei der 14-tägigen Kinovorstellung wurde Brandt als Letzter auf einem völlig isolierten Platz in der letzten Reihe gesetzt.629 Die enorme psychische Belastung für den KZ-Überlebenden spiegelt sich in einer Erinnerung Brandts an seine Haftzeit in Bautzen: »Manchmal schrecke ich des Nachts mit einem Entsetzensschrei auf: Ich habe in der Bautzener Zelle vom KZ geträumt. Sonst fühlte ich mich – wachwerdend – frei, erlöst. So aber bin ich aus dem Alptraum KZ in die Wirklichkeit Isolierungshaft gerissen – kein schönes Erwachen.«630 626 Walter Janka: Spuren meines Lebens. Berlin 1991, S. 404 f. Vgl. Martin Jander: Walter Janka. In: Karl Wilhelm Fricke, Peter Steinbach, Johannes Tuchel: Opposition und Widerstand in der DDR. München 2002, S. 224–229. 627 Vgl. Fricke/Klewin: Bautzen II, S. 79. 628 Vgl. Vorschlag, MfS, 4.6.1962. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 8, S. 654–660, hier 655, 659. 629 Vgl. Bericht, HA VII/1, 20.3.1964. BStU, MfS, HA XX Nr. 1615, Bd. 1, S. 369–376, hier 369, 375; Andresen: Widerspruch, S. 257 f. 630 Vgl. Heinz Brandt: Im Loch von Bautzen. Selbstbildnis aus der Zellen-Perspektive. In: HansJürgen Schultz (Hg.): Trennung. Stuttgart 1984, S. 224–236, hier 228. Zit: in: Andresen: Widerspruch, S. 258.
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Die Isolationshaft bedeutete also nicht nur die Unterbringung in Einzelzellen, sondern auch eine strenge Abschirmung von anderen Häftlingen beim Freigang oder bei der Arbeit – die betroffenen Inhaftierten waren der einfachsten Kommunikationsmöglichkeit beraubt.631 Auch der im April 1955 entführte Westberliner Journalist Karl Wilhelm Fricke musste seine Strafhaft in einer solchen Isolationshaft verbringen. Nachdem er im Juli 1956 zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, kam er für kurze Zeit in die Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden, wo ihm der Kommandoleiter des Hauses IV seine Unterbringung in Einzelhaft mitteilte. Diese Isolierung wurde auch beibehalten, nachdem er im August 1956 in die Sonderhaftanstalt Bautzen II gebracht worden war.632 Der geflohene MfS-Mitarbeiter Walter Thräne, der im September 1962 gewaltsam aus Österreich entführt worden war, blickte bei seiner Entlassung aus der DDR-Haft im Januar 1973 auf eine zehnjährige Isolationshaft zurück. Nach seiner Verurteilung, die unter strengster Geheimhaltung erfolgt war, wurde er ohne Registrierung bei den Strafvollzugsorganen in der MfS-Untersuchungshaftanstalt I in Berlin-Hohenschönhausen eingesperrt. In ihrer Stellungnahme zur Haftentlassung Thränes vermerkte die MfSHauptabteilung IX, dass Thräne durch die jahrelange Einzelhaft »ein besonderes Misstrauen gegenüber dem MfS und bestimmte überspannte Ansichten« entwickelt habe.633 Nicht zwangsläufig erstreckte sich die Isolierung über den gesamten Zeitraum der Haftstrafe. Der im Februar 1954 verschleppte und zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilte Wolfgang Silgradt kam im August 1956 aus der Strafvollzugsanstalt Brandenburg nach Bautzen II, wo er zunächst in Einzelhaft untergebracht wurde und »einer allseitigen Beobachtung unterlag«. Nach drei Jahren guter Führung durfte er dann mit anderen Strafgefangenen zusammen arbeiten.634 Mit »der Schwere seines Verbrechens (Abteilungsleiter im dänischen Geheimdienst) sowie starker feindlicher Einstellung zur DDR und der Gefahr der Flucht«635 begründete die VP-Kommission der Strafvollzugsanstalt Bautzen II die Inhaftierung des im November 1955 entführten Manfred Richter in Einzelhaft. Nach über zweijähriger Einzelhaft wurde er 1959 in die Gemeinschaftshaft überführt und zur Arbeit mit anderen Häftlingen zugelassen. Sorgsam registrierte das MfS jedoch seine dortigen Aussagen in Gesprächen, dass das DDR-Gericht nicht das Recht gehabt habe, ihn als Bundesbürger zu verurteilen.636 Derartige Äußerungen konnten wiederum zur zeitweisen 631 Vgl. Fricke7Klewin: Bautzen II, S. 81 f. 632 Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 153–158. 633 Stellungnahme, HA IX, 21.12.1972. BStU, MfS, GH 317/85, Bd. 2, S. 52–55. 634 Führungsbericht, StVA Bautzen II, 4.3.1964. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 24, S. 19 f., hier 19. 635 Aktenvermerk, VP-Kommission, Bautzen, 18.7.1957. BStU, MfS, 13/57, Bd. 8, S. 41. 636 Vgl. Führungsbericht, StVA Bautzen II, 22.7.1959. BStU, MfS, AU 13/57, Bd. 6, S. 133 f., hier 133.
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Isolierung führen. Als Strafgefangener in Bautzen II hatte beispielsweise der im Juli 1954 entführte Verfassungsschutzmitarbeiter Gustav Buchner in Gesprächen mit Mithäftlingen keinen Hehl aus seiner negativen Einstellung gegenüber der DDR gemacht und bekundet, dass es bald zu einem Aufstand wie in Ungarn 1956 kommen würde. Derartige Äußerungen brachten ihn in Einzelhaft.637 Mit Argusaugen wachte das MfS bei den Entführungsopfern vor allem darüber, dass sie niemanden im Westen Informationen über die Umstände ihrer Festnahme zukommen lassen konnten – sei es auf brieflichem Wege oder mithilfe anderer Häftlinge. So nutzte der bereits erwähnte Manfred Richter die Gelegenheit zur Informationsweitergabe, als er nach seiner Verurteilung im Juni 1956 für kurze Zeit mit mehreren anderen Häftlingen in einer VPHaftanstalt in Frankfurt/O. eingesperrt war. Er beauftragte einen Mitgefangenen, wenn dieser freigelassen werden sollte, seine Ehefrau über seine Entführung und den Verrat durch seinen Bekannten zu benachrichtigen. Das MfS wusste durch eine gezielte Vernehmung des besagten Mithäftlings von diesem Auftrag.638 Die einzigen offiziellen Verbindungen zur Außenwelt waren für die inhaftierten Entführungsopfer der Briefverkehr mit ihren nächsten Angehörigen und die erlaubten Besuche. Diese Besuchsmöglichkeiten konnten die Angehörigen jedes Entführungsopfers prinzipiell wahrnehmen. Doch vor dem Hintergrund der Geschehnisse wagten viele der Angehörigen, die in West-Berlin oder der Bundesrepublik lebten, diesen Gang nicht – in Absprache bzw. teilweise auf Forderung der Inhaftierten. Zu groß war die Angst, dass auch die Angehörigen bei der Gelegenheit festgenommen werden konnten. Außerdem scheuten nicht wenige Häftlinge die große emotionale Belastung, die mit den überwachten und auf Minuten begrenzten Begegnungen einhergingen, und baten vor diesem Hintergrund ihre Angehörigen, nicht ins Gefängnis zu kommen. Der Briefverkehr war streng reglementiert und scharf kontrolliert. In den 1950er und 1960er Jahren durften die Häftlinge monatlich einen 20-zeiligen Brief schreiben und einen Brief empfangen, alle durchliefen eine Kontrolle in der jeweiligen Strafvollzugsanstalt. Bei bestimmten Strafgefangenen – wie einigen der Entführungsopfer – nahmen die Briefe einen zusätzlichen Umweg über das MfS, wo sie eingehend auf verbotene Mitteilungen untersucht wurden. Im Bewusstsein dieser Kontrolle versuchten Häftlinge, Informationen mithilfe von Geheimschrift oder einer Art Geheimcode zu übermitteln.639 Der im Juni 1961 entführte Gewerkschaftsjournalist Heinz Brandt, der in Bautzen II inhaf637 Vgl. Führungsbericht, StVA Bautzen II, 15.8.1957. BStU, MfS, AU 95/56, Bd. 6, S. 66. 638 Vgl. Schreiben, HA IX an BV Frankfurt/O. Abt. IX, 23.7.1956. BStU, MfS, AU 17/57, Bd. 3, S. 171; Ermittlungsbericht, BV Frankfurt/O. Abt. VII, 6.8.1957. Ebenda, S. 175 f. 639 Vgl. Fricke/Klewin: Bautzen II, S. 102–107.
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tiert war, versteckte Angaben zu seiner gewaltsamen Entführung in doppeldeutigen Formulierungen. So schrieb er im scheinbaren Zusammenhang mit der Spiegel-Affäre des CSU-Vorsitzenden Franz-Josef-Strauß von einem »bösen Bayerlein«. Gemeint war damit aber Hans Beyerlein aus der Vorstandsverwaltung der IG Metall, den Brandt der Zusammenarbeit mit dem MfS und Beteiligung an seiner Entführung verdächtigte.640 Das MfS wurde auf diese Art der Nachrichtenübermittlung anscheinend erst im Frühjahr 1964 aufmerksam, nachdem es über einen IM erfahren hatte, dass der IG Metall in der Bundesrepublik »die Tatsachen über die Festnahme des Brandt bekannt«641 seien. Bei dem IM handelte es sich um einen Mithäftling, der in der Kleidungsausgabe tätig war und dort auf Brandt traf. Ihm hatte Brandt recht ausführlich von seiner Entführung erzählt und auch gesagt, dass sein Arbeitgeber IG Metall inzwischen darüber informiert sei – ohne zu erwähnen, wie die Nachrichten dorthin gelangt waren. Das MfS leitete eine Überprüfung aller möglichen Verbindungswege ein: entlassene Strafgefangene, VP-Angehörige, Besucher, Kassiber oder eben seine Briefe, in denen bislang keine Hinweise auf Geheimmittel oder verschlüsselte Botschaften aufgetaucht waren. Aufklärende Informationen erhoffte man sich von dem Mithäftling, der gezielt auf Brandt angesetzt wurde und in den folgenden Wochen drei Berichte lieferte. In den Verdacht der Informationsweitergabe kam auch der Ostberliner Rechtsanwalt Friedrich Wolff, der als Offizialverteidiger Brandt im November 1962 besucht hatte. Aber sein Besuch war vom Anstaltsleiter überwacht worden.642 Fündig wurde hingegen die MfS-Hauptabteilung XX/2, die von der Hauptabteilung IX/2 eine Kopie eines Briefes von Brandt zur Auswertung erhalten hatte: »Aus dem Inhalt des vorliegenden Briefes ist klar ersichtlich, daß Brandt auf eine sehr raffinierte Art und Weise in verschlüsselter Form Informationen und Hinweise über seine Person (Verhaftung und gegenwärtige Haft) an seine Ehefrau gibt. Brandt benutzt dazu bestimmte Gleichnisse aus der Literaturgeschichte und der Geschichte überhaupt […]«643
Zu diesem Zeitpunkt hatten Brandts Briefe mit brisantem Inhalt allerdings schon längst die Zensur passiert. Der untersuchte Brief bot nur noch relativ harmlose Informationen. So entdeckten die MfS-Mitarbeiter – oder glaubten dies zumindest – in Brandts Formulierungen versteckte Hinweise auf seine strenge Isolierung, seinen Gesundheitszustand und seine Aufforderung, dass 640 Vgl. Heinz Brandt: Ein Traum, der nicht entführbar ist. Frankfurt/M. 1985, S. 30 f., 37. 641 Bericht, HA VII/1, 20.3.1964. BStU, MfS, HA XX Nr. 1615, Bd. 1, S. 369–376, hier 369; vgl. Bericht, HA IX StVA Bautzen II, 20.5.1964. Ebenda, S. 383 f. 642 Vgl. Bericht, IM »167«, 7.2.1964. BStU, MfS, HA XX Nr. 1615, Bd. 1, S. 366 f.; 3 Berichte, IM »167«, 12.3.–10.5.1964. Ebenda, S. 379–381; Bericht, HA VII/1, 20.3.1964. Ebenda, S. 369–376; Bericht, HA IX StVA Bautzen II, 20.5.1964. Ebenda, S. 383 f.; vgl. Andresen: Widerspruch, S. 276 f. 643 Einschätzung, HA XX/2, 5.5.1964. BStU, MfS, HA XX Nr. 1615, Bd. 1, S. 335–339, hier 335.
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man sich im Westen für seine Freilassung einsetzen möge. In der Nennung bestimmter historischer Persönlichkeiten sahen sie einen Versuch Brandts, auf Personen aufmerksam zu machen, die ihn verraten hätten. Rätsel gab ihnen Brandts Erwähnung eines Walfisches und des »literarisch beflissenen Jonas« auf, ihr Deutungsvorschlag lautete: »Nach der biblischen Geschichte wurde der Jonas vom Walfisch verschlungen und später unversehrt ausgespien. Damit könnte evt. wieder ein Gleichnis hergestellt worden sein: Walfisch – Sicherheitsorgane der DDR und Jonas – Brandt.«644 Diese Erkenntnisse dürften keine nennenswerten Auswirkungen mehr gehabt haben, denn Brandt wurde schon wenige Wochen später aufgrund der großen internationalen Proteste vorzeitig aus der Haft entlassen. Schwerwiegende Konsequenzen drohten hingegen dem Journalisten und Buchhändler Hermann Becker, der aufgrund einer zweijährigen Tätigkeit für den BND im September 1960 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde und ebenfalls in Bautzen II einsaß.645 Ihm war es gelungen, seit Herbst 1963 in Kassibern Nachrichten in den Westen zu schleusen. Das MfS erhielt davon Kenntnis, als im Dezember 1963 Westberliner und bundesdeutsche Tageszeitungen sowie Rundfunksender über Inhaftierte und Haftbedingungen in Bautzen II berichteten. Umgehend begannen im Staatssicherheitsapparat die Ermittlungen, wie diese Informationen in den Westen gelangt sein könnten. Im Verdacht standen mehrere Inhaftierte, die in den westlichen Veröffentlichungen namentlich genannt waren, darunter auch Hermann Becker, über den außerdem zu erfahren war, dass er Strafanträge gegen das MfS wegen Entführung, Aussage-Erpressung und Urkundenfälschung gestellt habe.646 Die ersten Überprüfungen, ob entlassene Strafgefangene der Haftanstalt Bautzen II in West-Berlin oder in der Bundesrepublik entsprechende Angaben gemacht 644 Ebenda, S. 339. 645 Die Umstände seiner Verschleppung sind unklar: Laut Unterlagen des MfS plante man 1956 zwar eine Entführung, die aber nicht durchgeführt wurde. Im Oktober 1959 sei Becker stark angetrunken in Ost-Berlin festgenommen worden und habe bekundet, in die DDR zurückkehren zu wollen. Dies sagte er auch in der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Leipzig. Der dortige Staatsanwalt und der 1. Strafsenat stellten in der Anklage bzw. dem Urteil unter Bezug auf einen Strafregisterauszug fest, dass Becker wegen Nichtantritts einer Haftstrafe in der Bundesrepublik in Fahndung stehe. Vgl. Operativplan, MfS, BV Karl Marx-Stadt, 15.3.1956. BStU, MfS, AOP 753/60, Bd. 1, S. 186 f.; Abschlussbericht, HA II/4, 10.7.1957. Ebenda, S. 244–246; Bericht, HA V/1, 19.10.1959. Ebenda, Bd. 2, S. 18–23; Festnahmebericht, HA II/4, 10.10.1959. BStU, MfS, AU 381/60, Bd. 1, S. 17; Anklageschrift, Staatsanwalt am Bezirksgericht Leipzig, 11.7.1960. Ebenda, Bd. 5, S. 196–208, hier 200; Protokoll der Hauptverhandlung, Bezirksgericht Leipzig, 12.9.1960. Ebenda, Bd. 5, S. 260–299, hier 262; Urteil, Bezirksgericht Leipzig, 17.9.1960. Ebenda, S. 300–306, hier 302. Karl Wilhelm Fricke konstatiert hingegen, dass Hermann Becker in einem Westberliner Lokal mit einem Narkotikum betäubt und bewusstlos nach Ost-Berlin gebracht worden sei. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1198; Fricke: Politik und Justiz, S. 339. 646 Vgl. Bericht, MfS, 14.12.1963. BStU, MfS, AU 6531/75, Bd. 1, S. 8; Mitschrift eines Beitrags der Deutschen Welle über Häftlinge in Bautzen II, 8.12.1963. Ebenda, S. 22; Verzweifelter Appell von Häftlingen aus dem Zuchthaus Bautzen. In: Telegraf, 4.12.1963.
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hatten, verliefen negativ. Von den ehemaligen Strafgefangenen, die in der fraglichen Zeit in den Westen entlassen worden waren, hatte keiner Kontakt zu den namentlich erwähnten Inhaftierten. Das MfS forderte daraufhin die Leitung der Strafvollzugsanstalt Bautzen II auf, die Besuche dieser Inhaftierten stärker zu überwachen, um eine eventuelle Kassiberübergabe oder anderweitige Nachrichtenübermittlung aufspüren zu können.647 Diese Maßnahme hatte Erfolg: Im Juni 1964 beobachtete ein aufsichtführender Volkspolizist, wie Hermann Becker seiner Schwiegermutter einen mehrseitigen, auf Zigarettenpapier geschriebenen Kassiber übergab. In ihrer anschließenden Vernehmung gab sie an, bereits 1963 einen Kassiber von Hermann Becker bekommen, diesen aber verbrannt zu haben. Bei einer ersten Analyse der Handschrift konnte das MfS aber Hermann Becker nicht eindeutig als Urheber des Kassibers identifizieren, sondern zog sechs weitere Inhaftierte in Betracht – interessanterweise darunter auch die Entführungsopfer Wilhelm van Ackern, Heinz Brandt und Manfred Richter. Ein graphologisches Gutachten der Technischen Untersuchungsstelle des MfS brachte jedoch Gewissheit.648 In dem eingeleiteten Untersuchungsverfahren gegen Hermann Becker wegen Hetze und Spionage gab dieser eine Erklärung ab, in der er versuchte, das MfS unter Druck zu setzen. Ausdrücklich verwies er darauf, dass er Bürger der Bundesrepublik sei und er keine andere Möglichkeit gehabt habe, als seine Familie und die Öffentlichkeit mithilfe von Kassibern und entlassenen Häftlingen über sein Schicksal zu informieren. Hochrangige Personen, wie der Chefredakteur des Norddeutschen Rundfunks und ein Präsidiumsmitglied des Roten Kreuzes sowie der Jurist und ehemalige Bautzen-II-Häftling Helmut Brandt würden sich nun für ihn einsetzen.649 Mit Brandt habe Hermann Becker verschiedene Maßnahmen vereinbart, die dieser ergreifen würden, wenn er bis zum 20. November 1964 nicht in den Westen zurückgekehrt sei. So werde Brandt mithilfe der Medien den Fall von Hermann Becker öffentlich machen, die UNO und andere internationale Organisationen sowie zahlreiche Staatschefs informieren und Strafanzeigen gegen die zuständigen DDR-Behörden stellen. Die Reaktion des MfS auf diese Erklärung ist unbekannt, es plädierte in seinem Schlussbericht jedoch für die Durchführung einer Hauptverhandlung 647 Vgl. Bericht, MfS, 13.2.1964. BStU, MfS, AU 6531/75, Bd. 1, S. 10. 648 Vgl. Bericht, StVA Bautzen II, 9.6.1964. BStU, MfS, AU 6531/75, Bd. 2, S. 14; Bericht, MfS, 8.7.1964. Ebenda, S. 9; Schlussbericht, MfS, 19.12.1964. Ebenda, Bd. 1, S. 80–86, hier 82. 649 Der Jurist Prof. Dr. Helmut Brandt (geb. 1911) war bis zu seinem Freikauf im August 1964 in Bautzen II inhaftiert. Als Staatssekretär im DDR-Justizministerium hatte er Kritik an den Waldheimer Prozessen geübt und war 1950 festgenommen worden. Erst nach fast 4-jähriger Untersuchungshaft wurde er als angeblicher Mitverschwörer im Umfeld des ehemaligen DDR-Außenministers Georg Dertinger zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Als er im September 1958 vorzeitig aus der Strafhaft in Bautzen II entlassen wurde und umgehend die DDR verlassen wollte, wurde er erneut festgenommen. In einem weiteren Prozess erhielt er eine weitere 10-jährige Haftstrafe und wurde wieder in Bautzen II inhaftiert. Vgl. Fricke/Klewin: Bautzen II, S. 142 f.
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unter Ausschluss der Öffentlichkeit.650 Zu einer solchen kam es allerdings nicht mehr: Im Februar 1965 stellte die Generalstaatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Hermann Becker ein, da dieser – auch aufgrund der bisherigen Haft – unter »erheblichen physischen und psychischen Dekompensationserscheinungen« leide.651 Drei Monate später wurde Hermann Becker von der Bundesrepublik freigekauft.652 Hermann Becker hatte bereits seit Januar 1960 mehrere Protestbriefe und Eingaben aus der Haft an den DDR-Staatsrat, die Generalstaatsanwaltschaft, das Oberste Gericht und das Justizministerium gerichtet.653 Als er im September 1961 zum wiederholten Male um die Wiederaufnahme seines Verfahrens bat, teilte die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem ablehnenden Bescheid mit, dass sie seine Briefe nicht mehr beantworten werde, wenn diese weiterhin eine derartige »üble Hetze gegen die DDR und die Untersuchungsorgane« beinhalten würden.654 Das Bemühen um eine Wiederaufnahme ihres Verfahrens lässt sich auch bei anderen Entführungsopfern beobachten. Nach seiner Verurteilung auf Grundlage des Artikels 6 der DDR-Verfassung und der Kontrollratsdirektive 38 ließ beispielsweise der im November 1953 entführte Karl Reimer durch seinen Rechtsanwalt Berufung gegen das hohe Strafmaß einlegen. Das Oberste Gericht der DDR bestätigte jedoch die lebenslange Zuchthausstrafe.655 Aber Karl Reimer kämpfte weiter um seine Freiheit, wie ein Beschwerdebrief an den Generalstaatsanwalt am Obersten Gericht der DDR deutlich macht, in dem er 1956 die Wiederaufnahme seines Verfahrens forderte. Ohne Umschweife verwies er zum einen auf die schwerwiegenden Verfahrensmängel, wie die menschenunwürdigen Bedingungen in der Untersuchungshaft als psychische und physische Druckmittel, die einseitigen Vernehmungsprotokolle und Verweigerung eines Rechtsbeistands. Zum anderen bestritt er die Zuständigkeit der DDR-Jurisdiktion mit dem Verweis, dass er ein Westberliner Bürger sei und die ihm vorgeworfenen Tätigkeiten ausschließlich in Westberlin ausgeübt 650 Vgl. Erklärung des Beschuldigten, MfS, 10.11.1964. BStU, MfS, AU 6531/75, Bd. 1, S. 72– 79; Schlussbericht, MfS, 19.12.1964. Ebenda, Bd. 1, S. 80–86, hier 86. 651 Verfügung, Generalstaatsanwalt der DDR, 5.2.1965. BStU, MfS, AU 6531/75, Bd. 1, S. 123. 652 Vgl. Mitteilung, Staatsanwalt Bezirk Leipzig an den Generalstaatsanwalt der DDR, 22.5.1965. BStU, MfS, AU 381/60, Bd. 8, S. 110. 653 Vgl. Bericht, MfS, 14.12.1963. BStU, MfS, AU 6531/75, Bd. 1, S. 8; Schlussbericht, MfS, 19.12.1964. Ebenda, S. 80–86, hier 82. Nach eigenen Angaben schrieb Hermann Becker insgesamt 34 derartiger Eingaben. Vgl. Erklärung des Beschuldigten, MfS, 10.11.1964. Ebenda, S. 72–79, hier 75. 654 Mitteilung, Generalstaatsanwaltschaft an Leiter der StVA Bautzen II, 1.11.1961. BStU, MfS, AU 381/60, Bd. 8, S. 98. 655 Vgl. Berufung, Rechtsanwalt an Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 11.4.1954. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 18, S. 125–127; Beschluss, Oberstes Gericht der DDR, 30.4.1954. Ebenda, S. 133 f.; Protokoll Vernehmung, Polizei, 7.10.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1031/93, Bd. II, Bl. 3– 11, hier 5 f.
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habe. In den Augen des Staatsanwalts rechtfertigten diese Argumente aber nicht eine Wiederaufnahme des Verfahrens.656 In seinem Führungsbericht aus dieser Zeit konstatierte die Strafvollzugsanstalt Bautzen II, dass Karl Reimer immer wieder auf seine unrechtmäßige Verurteilung hinweise und der »Umerziehungsprozess« noch keinen Erfolg gebracht habe.657 Zwei Jahre später hatte sich daran nichts geändert: Karl Reimer versuchte, einem DDR-Rechtsanwalt einen ähnlichen Beschwerdebrief zukommen zu lassen. Die Strafvollzugsanstalt Bautzen II schickte das Schreiben zur Kenntnisnahme und Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft am Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt. Dort wurde eine Weiterleitung abgelehnt und der Leiter der Haftanstalt Bautzen II beauftragt, Karl Reimer entsprechend zu informieren und mitzuteilen, dass »allein der Staat der Arbeiter und Bauern« für seine Verurteilung »kompetent« gewesen sei.658 Zahlreiche Gnadengesuche wurden ebenfalls abschlägig beschieden.659 Über zehn Jahre musste Karl Reimer in den Zuchthäusern BrandenburgGörden und Bautzen II verbringen, bis er im September 1964 von der Bundesregierung freigekauft wurde.660 In den Führungsberichten der inhaftierten Entführungsopfer vermerkten die Strafvollzugsanstalten immer wieder ihre Uneinsichtigkeit und geäußerte Kritik, ihre negative Einstellung zur DDR und die Wirkungslosigkeit der angestrebten »Umerziehung«. Bei dem 1955 gewaltsam entführten Wilhelm van Ackern, der zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt worden war, registrierte die Strafvollzugsanstalt Bautzen II, dass sein Verhalten in der Haft zwar nicht zu beanstanden sei, er aber keinerlei Reue oder gar Wiedergutmachungswillen zeige. Zudem bekunde er, dass er als Westberliner gar nicht hätte verurteilt werden dürfen.661 Zu einer ähnlichen Bilanz kam die Strafvollzugsanstalt Bautzen II auch im Hinblick auf ihren Häftling Herbert Eigner, gegen 656 Vgl. Antrag, Karl Reimer an Generalstaatsanwalt beim Obersten Gericht der DDR, 17.9.1956. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 28, S. 90 f.; Antwortschreiben, Generalstaatsanwaltschaft beim Obersten Gericht der DDR an Karl Reimer, 12.10.1956. Ebenda, S. 95. 657 Führungsbericht, StVA Bautzen II, 29.11.1956. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 21, S. 10. 658 Schreiben, Staatsanwaltschaft an StVA Bautzen II, 24.9.1958. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 21, S. 2 f., hier 3; Beschwerdebrief, Karl Reimer an Rechtsanwalt, 10.9.1958. Ebenda, S. 5; Schreiben, StVA Bautzen II an Staatsanwaltschaft Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 11.9.1958. Ebenda, S. 4. 659 Vgl. Verfügung, Gnadenkommission Bezirk Karl-Marx-Stadt, 14.2.1957. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 19, S. 1; Vorschlag zur Strafherabsetzung, Rechtsanwalt an Staatsanwaltschaft Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 8.6.1957. Ebenda, Bd. 21, S. 7; Antwortschreiben, Staatsanwalt an Rechtsanwalt, 14.6.1957. Ebenda, S. 6; Antrag, Rechtsanwalt an Generalstaatsanwalt der DDR, 17.10.1960. Ebenda, Bd. 28, S. 132 f.; Mitteilung, Generalstaatsanwalt an Rechtsanwalt, 28.12.1960. Ebenda, S. 137. 660 Vgl. Mitteilung, StVA Bautzen II an Staatsanwaltschaft Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 15.8.1956. BStU, MfS, AU 81/54, Bd. 27, S. 221; Gnadenentscheid, Vorsitzender des Staatsrates Walter Ulbricht, 31.8.1964. Ebenda, Bd. 20, S. 21; Beschluss, Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, 1.9.1964. Ebenda, S. 19; Protokoll Vernehmung, Polizei, 7.10.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1031/93, Bd. II, Bl. 3–11, hier 5 f. 661 Vgl. Führungsbericht, StVA Bautzen II, 5.2.1957. BStU, MfS, AU 162/55, Bd. 38, S. 11; Führungsbericht, StVA Bautzen II, 29.9.1960. Ebenda, S. 22.
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den nach seiner gewaltsamen Entführung 1954 ebenfalls eine lebenslange Zuchthausstrafe verhängt worden war.662 Ein Führungsbericht aus dem Jahr 1963 gibt Auskunft, dass er im Jahr 1958 wegen »groben Verstoß[es] gegen die Hausordnung und fortgesetzten hetzerischen Reden mit anderen Strafgefangenen« eine »hohe Hausstrafe« bekam. Seitdem zeige er ein sehr zurückhaltendes, äußerst vorsichtiges Verhalten und bringe seine negative Meinung nicht mehr offen, sondern versteckt zum Ausdruck. »Seine rein äußerlich fortschrittlich erscheinende Einstellung gegenüber dem Aufsichtspersonal soll lediglich den Zweck erreichen, falsch eingeschätzt zu werden und sich Vorteile zu verschaffen. Innerlich jedoch ist deutlich erkennbar, daß E. nicht die richtigen Schlußfolgerungen zieht und nach wie vor unverbesserlicher Gegner unseres Staates ist.«663
Der aufgrund seiner Kontakte zum SPD-Ostbüro und zur KgU entführte Johann Feldmann, der im November 1954 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, zeigte in der Haft noch eine andere Form des Aufbegehrens.664 Aus Protest gegen seine Strafe und gegen die Ablehnung der von ihm beantragten Wiederaufnahme seines Verfahrens trat er im Februar 1955 in einen Hungerstreik, den er nach drei Wochen abbrach. Ein zweiter Hungerstreik folgte im September 1957. Zu dieser Zeit befand er sich für 15 Tage unter »strengem Arrest«665, den er wegen »provokatorische[r] Reden gegen die Volkspolizei und gegen die DDR« bekommen hatte. Außerdem fügte er sich mehrfach selbst Verletzungen zu, beispielsweise durch das Verschlucken von Fremdkörpern wie Glasscherben oder das Einritzen der Haut mit scharfen Gegenständen. Die Haftanstalten reagierten immer wieder mit Arreststrafen: Als Johann Feldmann im Oktober 1957 versuchte, im Haftkrankenhaus Leipzig ein Rasiermesser aus einem Behandlungszimmer zu entwenden, um sich die Pulsadern zu öffnen, erhielt er 21 Tage »vers[chärften] Arrest«. Anfang November 1957 folgten sieben Tage »strenger Arrest«, als er ein Kellerfenster zerschlug und sich mit den Glasscherben Wunden zufügen wollte.666 Seine 662 Vgl. Führungsbericht, StVA Bautzen II, 18.2.1957. BStU, MfS, AU 102/55, Bd. 17, S. 4. 663 Führungsbericht, StVA Bautzen II, 1.3.1963. BStU, MfS, AU 102/55, Bd. 13, S. 175 f. 664 Zu den verschiedenen Formen des Aufbegehrens von DDR-Häftlingen vgl. Tobias Wunschik: Selbstbehauptung und politischer Protest von Gefangenen im DDR-Strafvollzug. In: Ehrhart Neubert, Bernd Eisenfeld (Hg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Bremen 2001, S. 267–292, hier 283–289. 665 Arreststrafen waren die härtesten Strafen innerhalb der DDR-Gefängnisse, in Bautzen II waren ungefähr 20 % der ausgesprochenen Disziplinarstrafen Arreststrafen. Sie durften maximal 21 Tage dauern (gegen diese Regelung wurde jedoch häufig verstoßen) und wurden in speziellen Zellen vollzogen. Ein zusätzliches Innengitter trennte dort den Toilettenkübel von der ca. 2 mal 2 m großen Zelle und die an der Wand montierte Pritsche konnte durch einen Mechanismus von außen hoch- und runtergeklappt werden. Die Gefängniswärter konnten somit über die Liegezeiten und sogar über die Toilettengänge des Inhaftierten bestimmen. Vgl. Fricke/Klewin: Bautzen II, S. 113–116. 666 Vgl. Auszug aus Tätigkeitsbuch, StVA Berlin I, 22.2.1955. BStU, MfS, AU 522/58, Bd. 8, S. 13; Bericht, StVA Berlin I, 17.3.1955. Ebenda, S. 33; Bericht, StVA Cottbus, 16.12.1955. Ebenda,
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Selbstmordversuche waren allerdings keine reinen Protestaktionen, sondern Ausdruck seines seelischen Zustands. Nach dem Aufenthalt in verschiedenen Strafvollzugsanstalten in Cottbus, Berlin, Torgau und Halle landete Johann Feldmann mit schweren psychischen Problemen im Februar 1961 im Krankenhaus für Psychiatrie in der Strafvollzugsanstalt Waldheim. Nach zweijähriger Behandlung beantragte man dort eine bedingte Strafaussetzung aufgrund der negativen Folgen, die eine Rückverlegung in den Strafvollzug hätte. Denn eine solche würde die erreichten »psychotherapeutischen Heilerfolge« völlig zunichte machen, und Feldmann würde nach kurzer Zeit wieder haftunfähig werden.667 Johann Feldmann wurde daraufhin im Mai 1963 tatsächlich vorzeitig aus der Haft entlassen, allerdings in die DDR.668 Für manche Gefangene im DDR-Strafvollzug waren die physischen und psychischen Belastungen ihrer Haft so unerträglich, dass sie den einzigen Ausweg im Suizid wähnten. Die Verwaltung Strafvollzug registrierte Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre jährlich knapp 20 Selbsttötungen und 25 Selbsttötungsversuche.669 »Ich bin des Treibens müde«, schrieb Paul Behm im September 1964 in seinen Abschiedsbrief nach neuneinhalb Jahren DDRHaft. »Seit 9 1/2 Jahren bemühe ich mich, soviel Vertrauen zurückzugewinnen, daß es sich lohnt, nochmals in die Gesellschaft zurückzukehren. Aber jetzt gebe ich es auf.«670 Der ehemalige SED-Funktionär war im März 1955 aus West-Berlin entführt und auf Grundlage des Artikels 6 der DDRVerfassung zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Im September erhängte er sich in der Strafvollzugsanstalt Berlin-Rummelsburg. Bereits ein Jahr zuvor hatte die Anstaltsleitung von Selbstmordgedanken Behms erfahren, die er hegte seitdem ein Antrag auf Strafaussetzung abgelehnt worden war.671
S. 49 f.; Führungsbericht, StVA Cottbus, 15.2.1956. Ebenda, S. 58; Hausstrafverfügung, StVA Halle I, 23.8.1957. Ebenda, S. 89 f.; Meldung, StVA Halle, 4.9.1957. Ebenda, S. 88; Führungsbericht, Haftkrankenhaus Klein-Meusdorf, 4.11.1957. Ebenda, S. 107; Hausstrafverfügung, Haftkrankenhaus Klein-Meusdorf, 28.10.1957. Ebenda, S. 108 f.; Meldung, Haftkrankenhaus KleinMeusdorf, 29.10.1957. Ebenda, S. 113; Hausstrafverfügung, Haftkrankenhaus Leipzig, 6.11.1957. Ebenda, S. 110 f.; Meldung, Haftkrankenhaus Klein-Meusdorf, 2.1.1958. Ebenda, S. 115; Meldung, Haftkrankenhaus Klein-Meusdorf, 3.1.1958. Ebenda, S. 116; Spitzenmeldung, Haftkrankenhaus Klein-Meusdorf, 3.1.1958. Ebenda, S. 127; Meldung, Haftkrankenhaus Klein-Meusdorf, 4.1.1958. Ebenda, S. 120. 667 Antrag, StVA Waldheim, 21.2.1963. BStU, MfS, AU 522/58, Bd. 8, S. 230; vgl. Führungsbericht, Leiter des Vollzugsdienstes an den Rat des Bezirkes Abt. Innere Angelegenheiten, 13.5.1963. Ebenda, S. 237. 668 Vgl. Beschluss, Stadtgericht Groß-Berlin, 2.5.1963. BStU, MfS, AU 522/58, Bd. 8, S. 252; Entlassungsschein, StVA Waldheim, 31.5.1963. Ebenda, S. 256 f. 669 Diese Angaben müssen aufgrund ihres Ursprungs allerdings kritisch betrachtet werden. Vgl. Wunschik: Selbstbehauptung, S. 286. 670 Abschiedsbrief, Paul Behm, 10.9.1964. BStU, MfS, AS 376/64, S. 25–27, hier 25, 27. 671 Vgl. Bericht, HA IX/7, 14.9.1964. BStU, MfS, AS 376/64, S. 3–9.
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Es sind zehn Entführungsopfer bekannt, die in DDR-Haft verstarben – infolge von Selbstmord wie der genannte Paul Behm, infolge gewaltsamer Übergriffe durch das Haftpersonal wie höchstwahrscheinlich der im August 1954 entführte Rudolf Graf im April 1960672 oder infolge von Erkrankungen (forciert durch die Haftbedingungen) wie der im August 1958 entführte UFJMitarbeiter Erwin Neumann im Juli 1967.673 Die genauen Todesursachen können zum Teil allerdings nicht mit Sicherheit geklärt werden. Rätselhaft ist beispielsweise immer noch der Tod des ehemaligen SED-Funktionärs Robert Bialek, der im Februar 1956 unter Anwendung eines Betäubungsmittels aus West-Berlin entführt wurde. Der 1915 in Breslau geborene Bialek gehörte nach Kriegsende zu den politischen Aktivisten, die im Auftrag der sowjetischen Besatzer mit dem Aufbau des Kommunismus in Deutschland beginnen sollten. Einer seiner Förderer war Hermann Matern, der spätere Vorsitzende der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK) und Vertraute Ulbrichts. Mit seinen ersten Funktionen als Jugendsekretär der sächsischen KPD und Mitbegründer der Freien Deutschen Jugend (FDJ) begann 1946 seine Karriere im Parteiapparat. Er absolvierte ein Studium an der Parteihochschule »Karl Marx« 1947/48 und wurde im Anschluss zum Politkulturkommissar der Kasernierten Volkspolizei (KVP) ernannt. Doch mit seinem dortigen Vorgesetzten Erich Mielke, dem späteren MfS-Chef, geriet er ebenso in Konflikt wie mit Walter Ulbricht und quittierte bereits nach wenigen Wochen im Oktober 1948 den Dienst. Zwar gelang es ihm noch, Kreisvorsitzender der SED in Großenhain 1949 und Kulturdirektor des Lokomotiv- und Waggonbaubetriebes in Bautzen 1950 zu werden, verlor diese Posten allerdings nach kurzer Zeit durch den Einfluss der Partei. Als Bialek im Sommer 1953 von Freunden den Hinweis erhielt, dass seine Verhaf672 Bei einer Überprüfung ungeklärter Verschleppungsfälle tauchte 1972 die Frage nach Grafs Todesumständen auf. Nach Informationen des Gesamtdeutschen Instituts starb Graf an den Folgen von Schlägen eines Wachmannes. Dies hatte ein zurückgekehrter DDR-Häftling ausgesagt. Auf entsprechende Anfrage konnten die Rechtsschutz-Vertreter diese Information nicht bestätigen und verwiesen auf die zahlreichen Mitteilungen über den schlechten Gesundheitszustand Grafs. Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 25.4.1960. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 131/95, Bd. 1, Bl. 12; Mitteilung, Rechtsanwalt Musiolik an BMG, 27.10.1960. BArch, B 137/31970, Bl. 84; Bericht, Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben an Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, 25.10.1972. Ebenda, Bl. 88–90, hier 89; Anfrage, Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen an Rechtsanwälte, 4.12.1972. Ebenda, Bl. 87; Mitteilung, Rechtswälte an Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 28.12.1972. Ebenda, Bl. 91–94, hier 93; Schreiben bzgl. Ermittlungsverfahren wegen Totschlags, Justizvollzugsanstalt Bautzen an ZERV 213, 26.9.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 131/95, Bd. 1, Bl. 49 f.; Zwischenbericht, ZERV 213, 8.7.1996. Ebenda, Bl. 90–95. 673 Er starb im Alter von 55 Jahren an Herzversagen im Haftkrankenhaus Hohenschönhausen. Vgl. Gefangenenakte Erwin Neumann. BStU, MfS, AU 217/90, Bd. 9; Mitteilung, Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben an Versorgungsamt Kassel, 2.7.1971. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Mitteilung, Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben an Versorgungsamt Kassel, 18.2.1976. Ebenda, o. Pag.
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tung wegen Verdachts der »trotzkistischen Zersetzungsarbeit« bevorstehe, floh er nach West-Berlin. Dort zeigte er sich zwar als entschiedener Gegner des SED-Regimes, hielt aber an seiner Überzeugung vom Sozialismus fest. In der Hoffnung auf die Entwicklung einer innerparteilichen Opposition in der SED wurde er für das SPD-Ostbüro tätig und verbreitete seine Kritik am stalinistischen Herrschaftssystem in einer wöchentlichen Rundfunksendung des BBC. Diese Aktivitäten schürten die bestehenden Feindschaften zu Ulbricht und Erich Mielke, der mittlerweile eine führende Position im Staatssicherheitsapparat hatte.674 Vor diesem Hintergrund hat jüngst der Journalist Klaus Taubert die Mutmaßung gewagt, dass Bialek nicht – wie bisher angenommen – kurz nach seiner Entführung in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen verstarb, sondern (im Rahmen eines Rachefeldzugs von Erich Mielke) noch monatelang im Gefängnis Bautzen eingesperrt und dort zu Tode gefoltert worden sei.675 Diese Annahme hatte die ZERV bereits in den 1990er Jahren überprüft und als nicht belegbar eingestuft. Die heutige Gedenkstätte Bautzen fand in den überlieferten Unterlagen keine Anhaltspunkte, die auf einen Aufenthalt Bialeks oder eines anonymen Häftlings in der fraglichen Zeit hindeuten würden.676 Vermutlich starb Bialek an den Folgen seiner Vergiftung, wie ein anonymer Anrufer, der sich als »Angehöriger der Vollstreckungsorgane der DDR« ausgab, Bialeks Ehefrau zehn Tage nach der Entführung mitteilte.677 Die Umstände seines Todes müssen als ungeklärt gelten. Auf eine Rückkehr in den Westen mussten die Entführungsopfer oft mehrere Jahre warten. Von den 341 Verschleppten und Entführten, dessen Rückkehrdatum dokumentiert ist, erlangten über 40 Prozent erst nach drei oder mehr Jahren ihre Freiheit zurück. Etwa ein Fünftel von ihnen verbrachte zwischen sechs und 15 Jahren hinter DDR-Gefängnismauern, nämlich 54 Perso674 Anfang der 1930er Jahre war Bialek in der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und deren Wehrorganisation, dem Sozialistischen Kampfbund aktiv. In der NS-Zeit schloss er sich einer illegalen kommunistischen Gruppe an und wurde deren politischer Leiter. Im November 1934 wurde er von der Gestapo verhaftet. Nach 6 Jahren wurde er aus dem Zuchthaus entlassen und engagierte sich wieder im kommunistischen Widerstand. Zur Biografie und Hintergrundgeschichte des Falls Bialek vgl. Herms/Noack: Aufstieg, S. 35–42; Buschfort: Parteien, S. 178–182. 675 Vgl. Klaus Taubert: Stiller Tod im »Gelben Elend«, siehe URL: http://einestages.spiegel.de/ static/topicalbumbackground/10961/1/stiller_tod_im_gelben_elend.html (Stand: 3.6.2012). 676 Vgl. Bearbeitungsvermerk, ZERV 213, 21.2.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 1, Bl. 90; Philipp Alexander: Alter Wein in neuen Schläuchen. Replik auf den Artikel von Klaus Taubert, siehe URL: http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumdiscussion/10961/stiller_ tod_im_ gelben_elend.html. (letzter Zugriff: 3.6.2012). 677 Vgl. Schreiben, Inge Bialek an DDR-Generalstaatsanwalt Dr. Melsheimer, 30.11.1956. BArch, B 137/31817, o. Pag.; Vermerk, Staatsanwaltschaft II, 3.9.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 2, Bl. 3 f. Taubert sieht in diesem Anruf nur ein Täuschungsmanöver, um Bialeks Ehefrau in den Ostsektor zu locken. Zwar versuchte das MfS tatsächlich, Angehörige von Entführten in die DDR zu locken (vgl. Kapitel V.1.a). Den Tod des Inhaftierten zu diesem Zweck vorzutäuschen, dürfte allerdings kontraproduktiv gewesen sein, besonders im Fall Bialek. Das Bekanntwerden seines Todes hätte das öffentliche Aufsehen über seine Entführung noch verstärkt.
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nen zwischen sechs und zehn Jahren sowie neun Personen zwischen elf und 15 Jahren. Vor dem Hintergrund des drakonischen Strafmaßes, das in den Urteilen gegen Entführungsopfer immer wieder Anwendung gefunden hatte, war die Haftentlassung bei vielen Entführungsopfern mit einer vorherigen Begnadigung verbunden. So erteilte der DDR-Staatsrat beispielsweise dem im Oktober 1953 entführten FDP-Ostbüro-Mitarbeiter Hans Füldner nach siebenjähriger Haft einen Gnadenerweis. Dadurch durfte er drei Jahre vor dem regulären Ende seiner Haftzeit die Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden verlassen. Diese hatte in ihrem Führungsbericht noch von einer bedingten Strafaussetzung abgeraten, da der Strafzweck noch nicht erfüllt sei. Vor seiner Entlassung musste er eine Verpflichtung unterschreiben, dass er sich diesem Gnadenerweis würdig erweisen werde, um »künftig die Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik nicht zu verletzen und mich von keiner Seite gegen die Deutsche Demokratische Republik mißbrauchen zu lassen.«678 Im Fall Heinz Brandt, dem im Juni 1961 gewaltsam entführten Gewerkschaftsjournalisten, wurde der öffentliche Druck zu groß. Im Mai 1962 hatte ihn das Oberste Gericht der DDR zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt. Die öffentlichen Proteste im Westen, die bereits nach seiner Entführung eingesetzt hatten, ebbten jedoch nicht ab. Zwei Jahre später bat MfS-Chef Erich Mielke den DDR-Staatsrat, Brandt im Zuge eines Gnadenerlasses freizulassen.679 Im entsprechenden Beschluss des Politbüros findet sich die Formulierung, dass eine Haftentlassung Brandts »aus politischen Gründen für zweckmäßig gehalten« werde. Er sollte als Bürger der DDR entlassen werden, aber auf Antrag beim Rat des Stadtbezirks Berlin-Pankow entsprechende Papiere ausgehändigt bekommen, falls er seine Familie in der Bundesrepublik »besuchen« wolle.680 In diesem Sinne erfolgte auch eine Unterweisung Brandts durch einen Mitarbeiter der MfS-Hauptabteilung XX, als er über seine bevorstehende Freilassung informiert wurde. Als Bürger der DDR unterliege er nunmehr den Gesetzen und der Gerichtsbarkeit der DDR, »ganz gleich, wo er sich befindet«. In der Unterredung wurde Brandt außerdem auf Verschwiegenheit über seine Haft verpflichtet und hinsichtlich der Umstände seiner Festnahme instruiert: Er sei in Potsdam festgenommen worden, wie er dorthin gekommen sei, sei »seine Sache«. Der Kommentar des MfS-Mitarbeiters, Brandts Mimik sei zu entnehmen gewesen, dass »er von dieser Tatsache nicht voll überzeugt ist«, mutet vor
678 Verpflichtung, Hans Füldner, 28.11.1960. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 26, S. 25. Vgl. Führungsbericht, StVA Brandenburg, 16.9.1960. Ebenda, S. 22 f.; Mitteilung, StVA Brandenburg, 28.11.1960. Ebenda, S. 26; Haftbogen, StVA Brandenburg, o. D. Ebenda, Bd. 34, S. 1. 679 Vgl. Schreiben, MfS (Generaloberst Mielke) an den Sekretär des DDR-Staatsrates, 10.5.1964. BStU, MfS, HA XX Nr. 1615, S. 13. 680 Vgl. Auszug aus Politbüro-Beschluss vom 19.5.1964, MfS, 22.5.1964. BStU, MfS, HA XX Nr. 1615, S. 14.
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dem Hintergrund der wahren Begebenheiten fast komisch an.681 Brandt hatte am Abend seiner Entführung durch einen weiblichen IM ein Betäubungsmittel verabreicht bekommen und war bewusstlos nach Ost-Berlin gebracht worden. Nach seiner Haftentlassung stellte er umgehend einen Ausreiseantrag bei der Abteilung Inneres beim Rat des Stadtbezirks Pankow.682 In einer letztmaligen Unterredung mit dem MfS-Mitarbeiter kurz vor Brandts Ausreise drohte dieser ihm nochmals recht unverhohlen: Als Bürger der DDR werde ihn »die Härte des Gesetzes egal wo er sich aufhält mit aller Schärfe treffen«, wenn er gegen die Gesetze der DDR verstoße bzw. die DDR »durch Verdrehungen der Tatsachen« verleumde, zum Beispiel hinsichtlich seiner Verhaftung in Potsdam.683 Viele Begnadigungen von Entführungsopfern standen im Zusammenhang mit dem »Häftlingsfreikauf« durch die Bundesrepublik, der gegen Bargeld respektive Devisen und Warenlieferungen erfolgte. In den Jahren von 1963 bis 1989 kassierte das SED-Regime Gegenleistungen in Höhe von über 3,4 Milliarden DM/West für die Freilassung von 33 755 politischen Häftlingen, also durchschnittlich über 100 000 DM/West pro Häftling.684 Insgesamt 44 Entführungsopfer sind bekannt, die von der Bundesrepublik freigekauft wurden.685 Auf den ersten Blick mag dieser Anteil angesichts der über 180 Entführten, die länger als ein Jahr inhaftiert waren, nicht hoch wirken. Man muss aber berücksichtigen, dass der Häftlingsfreikauf nach Vorläufern 1962/63 erst 1964 fest und dauerhaft etabliert wurde. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich viele Verschleppte und Entführte nicht mehr in DDR-Haft, vor allem diejenigen, die bereits Anfang der 1950er Jahre in die Fänge des SED-Regimes geraten waren. Eine Ausnahme war zum Beispiel Lothar Moser, der an einem Abend im Oktober 1951 in der Bernauer Straße in Berlin verschleppt worden war. Als ehemaliger FDJ-Sekretär im Westberliner Bezirk Wedding und Mitglied der Jugendgruppe des Freiheitsbundes hatte sich der 23-Jährige mit einem Freund an die dortige Sektorengrenze begeben, um mit FDJ-Angehörigen zu diskutieren. Während der Diskussion sprang ein FDJ-Angehöriger und VPOberwachtmeister aus einer vorbeifahrenden Straßenbahn den im französischen Sektor stehenden Moser von hinten an und stieß ihn in den Ostsektor. Lothar 681 Bericht, HA XX, 25.5.1964. BStU, MfS, HA XX Nr. 1615, S. 31–35, hier 31 f. Vgl. Andresen: Widerspruch, S. 277. 682 Vgl. Antrag auf Übersiedlung, Heinz Brandt an Rat des Stadtbezirks Berlin-Pankow, 25.5.1964. BStU, MfS, HA XX Nr. 1615, S. 104–106; Genehmigung des Antrags, Rat des Stadtbezirks Berlin-Pankow Abt. Innere Angelegenheiten, 26.5.1964. Ebenda, S. 96 f.; Aktenvermerk, HA XX/5, 25.5.1964. Ebenda, S. 63 f. 683 Bericht, HA XX/2, 29.5.1964. BStU, MfS, HA XX Nr. 1615, S. 87 f. 684 Vgl. Jan Philipp Wölbern: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989. Göttingen 2014, S. 541 f.; ders.: Die Entstehung des »Häftlingsfreikaufs« aus der DDR 1962–1964. In: Deutschland-Archiv 41(2008)5, S. 856–867, hier 856; Creuzberger: Kampf, S. 367–374. 685 Diese Erkenntnis verdanke ich der Unterstützung durch Jan Philipp Wölbern.
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Moser stürzte und sah sich umgehend von etwa 20 FDJ-Angehörigen umzingelt, die ihn trotz heftiger Gegenwehr wegzerrten. Mosers Freund versuchte noch, ihm zur Hilfe zu kommen, erlitt dabei jedoch zwei Schussverletzungen an Brust und Schulter. Drei Westpolizisten, die nach seinem Hilferuf »Hilfe, Polizei, Menschenraub!« mit gezogener Waffe herbeieilten, konnten nur noch Mosers Abtransport in einem Auto des DDR-Staatssicherheitsdienstes beobachten. Das Oberste Gericht der DDR unter Vorsitz von Hilde Benjamin verurteilte Lothar Moser im Mai 1952 wegen Verstoßes gegen Artikel 6 der DDR-Verfassung zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe.686 Rund 13 Jahre nach seiner Verschleppung wurde Lothar Moser 1964 von der Bundesrepublik freigekauft.687 Er und mindestens 28 weitere Entführungsopfer gehörten zu den fast 900 Personen, die nach der Einigung zwischen den beiden deutschen Regierungen im August 1964 bis zum Jahresende als Gegenleistung für fast 38 Millionen DM/West die Freiheit erlangten. Im darauffolgenden Jahr konnte die Entlassung von 1 555 Inhaftierten erkauft werden – unter ihnen mindestens acht Entführungsopfer. Die Freikäufe lassen sich anhand der Gerichts- und Haftunterlagen der Entführten nicht rekonstruieren. Dort finden sich lediglich die Beschlüsse der DDR-Gerichte über eine bedingte Strafaussetzung und teilweise vorherige Gnadenerweise des DDR-Staatsrates zur Minderung der Gesamtstrafe, damit eine Strafaussetzung gewährt werden konnte. Zu beobachten ist dies am Beispiel des im März 1955 entführten Wilhelm van Ackern. Der Mitarbeiter der Organisation Gehlen war drei Monate nach seiner gewaltsamen Entführung vom Obersten Gericht der DDR zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Diese Strafe wurde nach einem Gnadenentscheid des Staatsrates am 31. August 1964 auf 15 Jahre reduziert. Einen Tag später gewährte das Oberste Gericht der DDR ihm eine bedingte Strafaussetzung, da er bereits über neun Jahre dieser Strafe verbüßt habe. Am 5. September desselben Jahres kehrte van Ackern nach seinem Freikauf nach West-Berlin zurück.688 Für die Mitarbeiter und Agenten westlicher Geheimdienste unter den Entführungsopfern gab es noch einen anderen, aber sehr selten beschrittenen Weg in die Freiheit: den Agentenaustausch. Auf diese Weise gelangte der hauptamtliche Mitarbeiter der Gehlen-Organisation Werner Haase im Zuge des mutmaßlich ersten Austausches von politischen Häftlingen zwischen den beiden 686 Der zur Tatzeit 19-jährige FDJ-Angehörige und VP-Oberwachtmeister wurde im September 1952 wegen seiner Beteiligung an dieser Verschleppung vom Westberliner Landgericht zu einer Zuchthausstrafe von 6½ Jahren verurteilt. Vgl. Urteil, Landgericht Berlin, 19.9.1952. BArch, B 141/12195, o. Pag.; Opfer: lebenslänglich – Täter: sechseinhalb Jahre Zuchthaus. In: Tagesspiegel, 8.7.1953; BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 42; Fricke: Politik und Justiz, S. 220. 687 Vgl. Forschungsergebnisse von Jan Philipp Wölbern. 688 Vgl. Auszug aus Gnadenentscheid des DDR-Staatsrates, 31.8.1964. BStU, MfS, AU 162/55, Bd. 38, S. 34; Beschluss, Oberstes Gericht der DDR, 1.9.1964. Ebenda, Bd. 15, S. 166.
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deutschen Staaten in die Bundesrepublik zurück. Er war im November 1953 verschleppt und einen Monat später in einem Schauprozess zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt worden.689 Drei Jahre später, am 6. Dezember 1956, teilte Erich Mielke als 1. Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit dem Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck mit: »Das Ministerium für Staatssicherheit hat an einer Begnadigung des Haase größtes Interesse.«690 Erst vor dem Hintergrund der »langwierigen Bemühungen« um einen Austausch Haases, die der BND-Chef Reinhard Gehlen in seinen Erinnerungen andeutet, wird diese plötzliche Nachsicht des MfS gegenüber dem »USA-Spion« und »NaziMajor«691 verständlich: Im Gegenzug für die Freilassung Haases sollte und durfte schließlich ein mutmaßlicher HV A-Agent und Freund des SpionageChefs Markus Wolf, der in West-Berlin festgenommen worden war, in die DDR zurückkehren.692 Für die rechtliche Abwicklung der erwünschten Haftentlassung Haases plante die MfS-Hauptabteilung IX nach Rücksprache mit der Obersten Staatsanwaltschaft der DDR, seine Haftstrafe auf sechs Jahre Zuchthaus zu reduzieren und ihm dann eine bedingte Strafaussetzung zu gewähren. Diese Maßnahme erachtete man als erforderlich, »da eine Begnadigung für Haase in keinem Einklang mit der Schwere der von ihm verübten Verbrechen« stehe.693 Dieser Zwischenschritt entfiel jedoch: Pieck ordnete per Gnadenentscheid am 7. Dezember 1956 Haases unverzügliche Entlassung aus der Strafhaft an.694 Einige Entführungsopfer mussten ihre Haftstrafe vollständig verbüßen, dazu gehörten beispielweise Karl Wilhelm Fricke und Otto Schneider. Der Westberliner Journalist Karl Wilhelm Fricke war zu vier Jahren Zuchthaus unter Anrechnung der Untersuchungshaft verurteilt worden und kehrte auf den Tag genau vier Jahre nach seiner gewaltsamen Entführung zu seiner Verlobten zurück.695 Otto Schneider betrat genau zehn Jahre nach seiner Entführung am 6. Mai 1955 wieder Westberliner Boden, wie es das Urteil vom September 1955 vorgesehen hatte. Die zehnjährige Haftzeit hatte er in den Straf689 Vgl. Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 21.12.1953. BStU, MfS, AU 15/54, Bd. 15, S. 60– 103. Zum Fall Werner Haase vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 120–129; Fricke/ Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1201 f. 690 Schreiben, MfS (1. Stellvertreter des Ministers) an den Präsidenten der DDR, 6.12.1956. BStU, MfS, AU 162/55, Bd. 12, S. 163 f., hier 164. 691 Beide Bezeichnungen stammen aus einer Broschüre der MfS-Abteilung Agitation von 1953, in der auch der Fall Haase progagandistisch aufgegriffen wurde. Siehe »x3265 schweigt …«. BStU, MfS, ZAIG 18533, S. 1–32, hier 17. 692 Gehlen: Dienst, S. 194 f. Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 129; Karl Wilhelm Fricke: Menschenhändler und Menschenfreunde. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.9.1997. 693 Entlassungsvorschlag, HA IX/1, o. D. BStU, MfS, AU 162/55, Bd. 12, S. 161 f., hier 161. 694 Vgl. Gnadenentscheid, Präsident der DDR Wilhelm Pieck, 7.12.1956. BStU, MfS, AU 15/54, Bd. 34, S. 5. 695 Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 167 f.
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vollzugsanstalten Greifswald, Brandenburg und Bautzen II verbringen müssen.696 Ein Großteil der Entführungsopfer kehrte nach ihrer Entlassung aus der DDR-Haft nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik zurück.697 Einige von ihnen, mindestens 13 Personen, blieben jedoch in der DDR. Die Hintergründe dieser Entscheidung sind zumeist nicht dokumentiert, sodass der Einfluss des MfS unbekannt bleibt. Die geringe Anzahl macht jedoch deutlich, dass das MfS keine sonderlichen Anstrengungen unternahm, eine Rückkehr in den Westen zu verhindern. Nur einigen Entführten scheint diese Option gar nicht erst in Aussicht gestellt worden zu sein. Anzunehmen ist dies bei den vier ehemaligen MfS-Mitarbeitern, die nach ihrer Entführung und Inhaftierung in der DDR blieben. Einer von ihnen war Walter Thräne, der nach seiner gewaltsamen Entführung aus Österreich im September 1962 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war.698 Als er nach über zehnjähriger Einzelhaft im Rahmen einer Amnestie im Januar 1973 entlassen werden sollte, wünschte er sich eine Unterbringung in Berlin. Eine solche erachtete die MfS-Hauptabteilung IX allerdings »nicht für zweckmäßig« und plante stattdessen seine Unterbringung im Bezirk Frankfurt/O., »da dort seitens der Abteilung XXI gute Voraussetzungen für dessen operative Kontrolle bestehen«.699 Intern traf das MfS alle Vorkehrungen für die Haftentlassung des »hochgradigen Geheimnisträgers«: Die Hauptabteilung Kader und Schulung wurde mit »allen Maßnahmen im Zusammenhang der Wiedereingliederung« beauftragt, eine Ausreisesperre für das gesamte Ausland wurde veranlasst und die Abteilung XXI übernahm seine Überwachung und Kontrolle. Nach mehreren sogenannten Aussprachen unterschrieb Thräne am Tag seiner Entlassung Ende Januar 1973 eine Verpflichtung, über die Einzelheiten seiner Festnahme und Umstände seiner Inhaftierung Stillschweigen zu wahren.700 Das MfS stattete ihn mit einer finanziellen Starthilfe von 3 000 M/DDR aus, versorgte ihn mit einer Wohnung sowie einem Arbeitsplatz in Eisenhüttenstadt und hielt ihn dort unter Kontrolle.701 696 Vgl. Mitteilung, StVA Bautzen II, 6.5.1965. BStU, MfS, AU 278/55, Bd. 7, S. 336. 697 Mindestens 300 Entführungs- bzw. Verschleppungsopfer kehrten in den Westen zurück, 34 Verschleppte wurden hingerichtet oder verstarben in DDR-Haft und 13 Personen blieben in der DDR. In rund 65 Entführungsfällen ist unbekannt, ob und wann es eine Rückkehr in den Westen gab. 698 Vgl. Urteil, Bezirksgericht Neubrandenburg, 24.1.1963. BStU, MfS, GH 317/85, Bd. 4, S. 225–241. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1208. 699 Stellungnahme, HA IX, 21.12.1972. BStU, MfS, GH 317/85, Bd. 2, S. 52–55, hier 53. Thränes Haftentlassung durch eine Amnestie ermöglichte es dem MfS, seine besonderen Geheimhaltungsmaßnahmen aufrechtzuerhalten. Vgl. ebenda. 700 Bericht, Abt. XXI, 30.11.1972. BStU, MfS, HA II Nr. 1408, Bd. 2, S. 80–83, hier 83; vgl. Stellungnahme, HA IX, 21.12.1972. BStU, MfS, GH 317/85, Bd. 2, S. 52–55, Zitat S. 54; Schweigeverpflichtung, Walter Thräne, 30.1.1973. BStU, MfS, GH 317/85, Bd. 2, S. 64. 701 Vgl. Mitteilung, HA Kader und Schulung, 18.1.1973. BStU, MfS, Diszi. 6978/92, Bd. 1, S. 73; Bericht, Abt. XXI, 20.1.1973. Ebenda, S. 74–76; Bericht, HA Kader und Schulung, 8.2.1973. Ebenda, S. 79 f.; Mietvertrag, VEB Gebäudewirtschaft Eisenhüttenstadt, 13.3.1973. BStU, MfS,
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Ähnliche Vorkehrungen traf das MfS auch, als Thränes Begleiterin, die mit ihm entführt und zu einer vierjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war, aus der Haft in die DDR entlassen wurde. Ihrer Haftentlassung stimmte die Hauptabteilung IX im Oktober 1965 zu. Aufgrund ihrer einwandfreien Führung setzte das Bezirksgericht Neubrandenburg zwei Monate später ihre Haftstrafe bedingt aus. Sie durfte in ihren alten Heimatort zurückkehren, wo das MfS für ihre »Wiedereingliederung« sorgte. Dort lief noch ein Ermittlungsverfahren gegen sie wegen »Republikflucht«, da ihre Inhaftierung geheimgehalten worden war. Unter der Legende, sie sei nach dreijährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik nun freiwillig in die DDR zurückgekehrt, sorgte das MfS für die Einstellung des Verfahrens und Löschung der Fahndung.702 Die Option, nicht in den Westen zurückzukehren, konnte jedoch auch andere Hintergründe haben: Der Journalist und Mitarbeiter der Organisation Gehlen Wolfgang Paul Höher, der im Februar 1953 aus West-Berlin verschleppt worden war, wurde in der DDR-Haft »umgedreht«. Er trat in mehreren Gerichtsverfahren (u. a. im Schauprozess gegen Werner Haase) als Belastungszeuge und auf Pressekonferenzen als Experte auf. Vor diesem Hintergrund glaubte der BND-Chef Reinhard Gehlen nicht mehr an eine Entführung seines Mitarbeiters, sondern an dessen Abzug, um einer Entlarvung als Doppelagent zu entgehen.703 Nach seiner Haftentlassung war Höher zunächst für den KGB als GM aktiv, der ihn aber im Oktober 1958 an den stellvertretenden Minister für Staatssicherheit Bruno Beater übergab. Im darauffolgenden Jahr verstarb Höher im Alter von 45 Jahren in Leipzig.704
HA II Nr. 1408, Bd. 2, S. 193–196; Vermerk, MfS, 11.2.1977. Ebenda, Bd. 3, S. 258; Verlängerung der Ausreisesperre für Walter Thräne, HA II/1, 15.12.1980. Ebenda, S. 261. Der Vorgang MfS HA II Nr. 1408 enthält zahlreiche Kopien von Briefen, die im Rahmen einer Postüberwachung angefertigt wurden. Das MfS wollte ihn auch als IM anwerben, Thräne lehnte die Verpflichtung jedoch ab und weigerte sich, schriftliche Berichte abzugeben. Vgl. Entwurf Verpflichtungserklärung, MfS, ca. 1973/74. Ebenda, S. 258. 702 Vgl. Stellungnahme, HA IX/5, 1.10.1965. BStU, MfS, GH 317/85, Bd. 4, S. 323 f.; Aktennotiz, HA IX/5, 18.12.1965. Ebenda, S. 326; Beschluss, Bezirksgericht Neubrandenburg, 28.12.1965. Ebenda, S. 328; Verfügung, Staatsanwaltschaft Kreis Hohenstein-Ernstthal, 29.12.1965. Ebenda, Bd. 6, S. 104; Verfügung, Staatsanwaltschaft Kreis Hohenstein-Ernstthal, 30.12.1965. Ebenda, S. 105; Bericht, MfS, 27.9.1968. BStU, MfS, HA II Nr. 1408, Bd. 2, S. 5–17. 703 Vgl. Gehlen: Dienst, S. 195 f. Diese Deutung taucht noch 2002 in einer Publikation auf. Vgl. Müller/Mueller/Schmidt-Eenboom: Freund, S. 144 f. Die Autoren ließen aufschlussreiche MfSAkten unberücksichtigt. Höher hatte sich in West-Berlin mit einem Kontaktmann getroffen, der für den sowjetischen Geheimdienst tätig war. Dieser mischte Höher anscheinend ein Betäubungsmittel ins Getränk und veranlasste ihn später, die durch Ost-Berlin fahrende U-Bahn zu nutzen. Auf dem UBahnhof Potsdamer Platz erfolgte dann seine Festnahme durch die Volkspolizei. Vgl. Bericht, MfS, 10.2.1959. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 355/61, P-Akte, S. 68 f.; Strafanzeige, ZERV 215, 6.2.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 68/95 Bd. IIIa, Bl. 110; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 124; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1170 f. 704 Vgl. Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 123 f.
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Eine »Überwerbung« gelang dem MfS auch im Fall des Walter Strauch, der im Juni 1951 durch ein fingiertes Telegramm nach Ost-Berlin gelockt und dort verhaftet worden war. Zu dieser Zeit war der 28-Jährige für das Amt Blank tätig und wollte am Ostbahnhof Informationen von einer vermeintlichen Kontaktperson entgegennehmen. Im Februar 1952 verurteilte ihn das Oberste Gericht der DDR wegen Spionage zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren, die er in der Strafanstalt Brandenburg-Görden verbüßte. Dort wurde er im Juni 1954 als IM »Lolo« angeworben, um Informationen über Mitgefangene zu liefern. Zudem gab es interne Überlegungen, ihn nach seiner Haftentlassung nach West-Berlin zurückzuschicken. Von diesem Plan nahm man jedoch Abstand, da dort seine Zusammenarbeit mit dem MfS durch entlassene DDR-Häftlinge bekannt geworden war. Daher verbot das MfS seinem IM nach dessen vorzeitiger Haftentlassung im März 1957 sogar, WestBerlin zu betreten. Doch »Lolo« missachtete dieses Verbot aus privaten Gründen und wurde im Mai 1957 in West-Berlin wegen Verdachts des Landesverrats verhaftet. Aus Mangel an Beweisen musste die Westberliner Polizei ihn allerdings nach wenigen Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen. In der Furcht vor einer nochmaligen Verhaftung floh »Lolo« daraufhin im November 1957 über die Schweiz und ČSSR zurück in die DDR, wo er noch bis März 1966 als IM tätig war. Das MfS führte ihn allerdings permanent mit großer Vorsicht, da er seit seiner Rückkehr aus der Bundesrepublik im Verdacht der Doppelagententätigkeit stand. Entsprechende Überprüfungs- und Überwachungsmaßnahmen erbrachten jedoch keine Beweise.705 Entführungsopfer, die nach ihrer Entlassung aus der DDR-Haft in die Bundesrepublik zurückkehrten, waren für das MfS als Kandidaten für eine inoffizielle Zusammenarbeit interessant. Ein entsprechender Anwerbungsversuch lässt sich beispielsweise bei Otto Krüger beobachten. Der ehemalige SED-Funktionär war im November 1954 verschleppt und ein Jahr später in einem Geheimprozess zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Im Frühjahr 1969 wurde diese Strafe durch den Gnadenerweis des Staats705 Vgl. Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 12.2.1954. BStU, MfS, AU 230/51, Bd. 2, S. 92– 130; Mitteilung, BV Potsdam Abt. VII an MfS Abt. VII, 4.9.1956. BStU, MfS, AP 7398/57, S. 98; handschriftliche Verpflichtungserklärung, Walter Strauch, 23.6.1954. BStU, MfS, BV Karl-MarxStadt, AOP 1957/67, Beiakte Bd. 1, S. 13; Bericht über Anwerbung, MfS, 26.6.1954. Ebenda, Bl. 11 f.; Auskunftsbericht, Abt. II/3, 2.7.1957. Ebenda, Bd. 1, S. 23–26; Abschrift Tonband-Bericht von GI »Lolo«, MfS, 3.12.1957. Ebenda, S. 150–155; Bericht, Abt. II/5, 25.2.1958. Ebenda, S. 29 f.; Auskunftsbericht, BV Potsdam KD Gransee, 13.3.1962. Ebenda, Beiakte Bd. 1, S. 194–198; Beschluss, BV Karl-Marx-Stadt KD Annaberg, 17.2.1966. Ebenda, Bd. 1, S. 6 f.; Bericht, BV KarlMarx-Stadt KD Annaberg, 12.3.1966. Ebenda, Bd. 2, S. 95–145; Einschätzung, BV Karl-Marx-Stadt KD Annaberg, 18.3.1966. Ebenda, S. 146 f.; Abschlussbericht, BV Karl-Marx-Stadt KD Annaberg, 14.10.1967. Ebenda, Bd. 4, S. 246–248; Beschluss, BV Karl-Marx-Stadt KD Annaberg. BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AIM 452/66, P-Akte, S. 217 f. Der IM-Vorgang enthält rund 180 IM-Berichte und 60 Treffberichte aus den Jahren 1954 bis 1963. Vgl. ebenda, A-Akte Bd. 1–4.
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ratsvorsitzenden Walter Ulbricht auf 15 Jahre herabgesetzt, die er bis auf wenige Tage fast vollständig verbüßte – die längste Inhaftierung unter den Entführungsopfern. Im November 1969 kaufte ihn die Bundesrepublik frei.706 Zu diesem Zeitpunkt hatte ihm die MfS-Hauptabteilung XX/5 bereits in einer sogenannten Aussprache in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg eine inoffizielle Tätigkeit für das MfS im Westen nahegelegt. Otto Krüger sah sich in die Ecke gedrängt. Im Gespräch äußerte er seinen Eindruck, dass er nur die Optionen habe, in der DDR zu bleiben oder im Westen für die DDR zu arbeiten. Vermutlich vor diesem Hintergrund lenkte er nach einer ersten Ablehnung doch noch ein und erklärte sich bei einer zweiten, von ihm gewünschten Aussprache zu einer Zusammenarbeit bereit. Die MfS-Hauptabteilung XX/5 hegte keinen Zweifel an der Bereitschaft von Otto Krüger und stattete ihn kurz vor der Haftentlassung mit letzten Instruktionen aus, vor allem bezüglich der Verbindungsaufnahme.707 Doch Otto Krüger folgte diesen Anweisungen nicht. Im Dezember 1972 begründete die MfS-Hauptabteilung XX/5 die Archivierung des Aktenvorgangs: »Nach der Haftentlassung nach WD nahm die KP die Verbindung nicht wieder auf. Es ist anzunehmen, daß kein Interesse an einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS vorhanden ist.«708 Nach ihrer Rückkehr aus der DDR-Haft war dieses Kapitel ihres Lebens für viele Entführungsopfer nicht abgeschlossen. Viele waren von der zum Teil jahrelangen Inhaftierung psychisch und physisch gezeichnet. Gustav Buchner, der nach seiner Entführung im Juli 1954 über elf Jahre hinter Gefängnismauern in der DDR verbringen musste, litt nach seiner Freilassung an Kreislaufstörungen, einer chronischen Bronchitis und Magengeschwüren. Zudem hatte er in der Haft nicht nur seine Zähne infolge der Mangelernährung, sondern auch sein Sehvermögen auf dem rechten Auge und Hörvermögen auf dem rechten Ohr infolge eines gewaltsamen Übergriffs durch das Haftpersonal verloren.709 Häufiger hatten die Entführungsopfer mit den psychischen Problemen zu kämpfen, die bis zum Zusammenbruch des SED-Regimes immer wieder neue Nahrung erhalten konnten. Die Angst vor dem »langen Arm« des MfS dürfte viele Entführungsopfer lange Zeit durch ihr Leben begleitet und zum Schweigen gebracht haben. Zumal sie vor ihrer Entlassung aus der DDRHaft oft unter Drohungen zum Stillschweigen verpflichtet worden waren. 706 Vgl. Urteil, Bezirksgericht Rostock, 15.11.1955. BStU, MfS, AU 399/55, Bd. 5, S. 189–197; Abschrift Gnadenentscheid, Staatsrat der DDR, 29.2.1969. Ebenda, Bd. 6, S. 1; Mitteilung, Generalstaatsanwalt der DDR an den Staatsanwalt des Bezirks Rostock, 5.5.1969. Ebenda, Bd. 10, S. 92; Entlassungsschein, StVA Berlin, 5.11.1969. Ebenda, Bd. 14, S. 193. 707 Vgl. Bericht, HA XX/5, 29.7.1969. BStU, MfS, AP 1442/73, S. 94 f.; Bericht, HA XX/5, 19.8.1969. Ebenda, S. 96–99; Bericht, HA XX/5, 4.11.1989. Ebenda, S. 100–103. 708 Abverfügung zur Archivierung, HA XX/5, 12.12.1972. BStU, MfS, AP 1442/73, S. 112. 709 Vgl. Protokoll Vernehmung, Kriminalpolizei, 8.2.1967. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Beiakte, Bl. 11–13. Vgl. Horchem: Spione, S. 57; Fricke/Klewin: Bautzen II, S. 93–95.
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Diese Angst verschwand vermutlich nach dem Untergang der SED-Herrschaft und ihrem Staatssicherheitsapparat allmählich, aber die psychischen Folgen der Haft blieben.710 Als Ausnahme ist das Verhalten des im März 1950 verschleppten KPDBundestagsabgeordneten Kurt Müller und des im November 1950 gewaltsam entführten Alfred Weiland zu werten. Beide richteten nach ihrer Entlassung Beschwerdebriefe an die DDR-Führung. Im Mai 1956 wandte sich Müller fast acht Monate nach seiner Rückkehr aus der Haft in der Sowjetunion an den Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl. Der Hintergrund war Chruschtschows Abrechnung mit Stalin auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 und die darauffolgende zaghafte Entstalinisierung in der DDR. Ausdrücklich verwies Müller auf seine unrechtmäßige Festnahme, die er als groben Verfassungsbruch darstellte, die menschenunwürdigen Haftbedingungen sowie den physischen und psychischen Druck bei den Vernehmungen. Er forderte die DDR-Regierung auf, gegen die Verantwortlichen seiner verfassungswidrigen Festnahme ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen, seinen Fall in der Öffentlichkeit richtigzustellen sowie das ihm zugefügte Unrecht publik zu machen und ihm eine Entschädigung für die Haftzeit zu gewähren.711 Die einzige Reaktion, die Müller – erst nach erneuter Nachfrage – aus dem Präsidium des DDR-Ministerrats erhielt, war eine Mitteilung im September 1956, dass noch keine Antwort erfolgen könne, da die Überprüfung noch laufe.712 Der Journalist Alfred Weiland richtete wenige Tage nach seiner Entlassung aus der DDR-Haft im November 1958 jeweils einen Beschwerdebrief an das Zentralkomitee der SED und an das Präsidium der DDR-Volkskammer. Nach der Schilderung seiner Entführung und seines Strafverfahrens bat er darin um eine Stellungnahme zu den ihm widerfahrenen Rechtsverletzungen, die er aufzählte. An oberster Stelle seines Fragenkatalogs findet sich die Frage: »Entspricht der am 11. Nov. 1950 durchgeführte Menschenraub im amerikanischen Sektor von Berlin mit seinen brutalen Umständen und verhängnisvollen Folgen der Verfassung der DDR und der auf ihr beruhenden demokratischen Gesetzlichkeit?«713 Die Generalstaatsanwaltschaft der DDR, die vom Präsidenten der Volkskammer mit der Erledigung der Beschwerde beauftragt worden 710 Vgl. Sybille Plogstedt: Knastmauke. Das Schicksal von politischen Häftlingen in der DDR nach der deutschen Wiedervereinigung. Gießen 2010; Karl Wilhem Fricke: Spätfolgen politischer Haft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.5.2011. 711 Ausführlich hat Kurt Müller in dem Brief auch Stellung zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen des Trotzkismus genommen, diese zurückgewiesen und gegen ihn vorgebrachte Dokumente sowie Aussagen als Fälschungen entlarvt. Der Brief ist gedruckt in: Weber: DDR-Geschichtsschreibung, S. 17–29. 712 Vgl. Weber: DDR-Geschichtsschreibung, S. 17. 713 Beschwerdebrief, Alfred Weiland an das Präsidium der Volkskammer der DDR, 22.11.1958. BStU, MfS, AU 258/52, Bd. 14, S. 242–244, hier 243; vgl. Beschwerdebrief, Alfred Weiland an ZK der SED, 18.11.1958. Ebenda, Bd. 2b, S. 106–108.
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war, reagierte mit einem perfiden Schachzug: Sie bat Weiland, zur Klärung seiner Fragen Ende Dezember des Jahres in ihren Ostberliner Amtssitz zu kommen. Dass der acht Jahre zuvor entführte und gerade aus DDR-Haft entlassene Weiland diesen Gang nicht wagen würde, bedurfte keiner großen Hellsichtigkeit. Und so versuchte man zugleich, sich einen Ausweg zu schaffen: Der zuständige Staatsanwalt wies darauf hin, dass nach einer unentschuldigten Nichteinhaltung dieses Termins weitere Beschwerden nicht mehr bearbeitet würden. Doch so schnell gab Alfred Weiland nicht auf: Er sagte die Einladung ab – mit Verweis auf die gesundheitlichen Schäden, die er in der DDR-Haft erlitten habe und die nun ärztlich behandelt werden müssten – und insistierte, dass die Beantwortung seiner Fragen auch ohne persönliche Rücksprache möglich sei. Diese Antwort blieb die DDR-Generalstaatsanwaltschaft anscheinend schuldig. Im Mai 1959 wandte sich Weiland mit der Bitte um Überprüfung seines Strafverfahrens an das Justizministerium der DDR. Dieses hielt Rücksprache mit der Generalstaatsanwaltschaft, um eine »einheitliche Auffassung« zu gewährleisten. Der zuständige Staatsanwalt informierte daraufhin über sein Gesprächsangebot an Weiland, dass dieser aber nicht wahrgenommen hätte.714 Parallel zu seinen Auseinandersetzungen mit den DDR-Stellen ersuchte Weiland kurz nach seiner Haftentlassung die Bundesregierung um Rechtshilfe, um seine Rehabilitierung erwirken und Schadensersatzansprüche gegenüber der sowjetischen Regierung geltend machen zu können. Er richtete mehrere Eingaben an den Bundeskanzler, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen. Das Auswärtige Amt lehnte Weilands Antrag mit der Begründung ab, dass eine sowjetische Beteiligung an der Entführung nicht nachzuweisen sei.715 Ähnliche Überlegungen riefen auch im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen eine ablehnende Haltung hervor: Nach Einschätzung des Rechtsanwalts Musiolik hatte eine solche Schadensersatzforderung wenig Aussicht auf Erfolg. Er gab zu bedenken, dass die Entführer Weilands nicht ermittelt werden konnten und somit kein Beweis vorliege, dass der DDR-Staatssicherheitsdienst oder sowjetische Stellen als Auftraggeber fungiert hatten. Zudem verwies Musiolik auf die schwierige Rechtslage und die – selbst bei besserer Beweislage – zu erwartende Ablehnung derartiger Forderungen durch die sowjetische Regierung aus grundsätzlichen Erwägungen. Eine Zustimmung würde einen Präzedenzfall schaffen, durch den die zahlrei714 Antwortschreiben, Oberste Staatsanwaltschaft an Alfred Weiland, 19.12.1958. BStU, MfS, AU 258/52, Bd. 14, S. 248; vgl. Schreiben, Alfred Weiland an Oberste Staatsanwaltschaft, 27.12.1958. Ebenda, S. 249; Mitteilung, Ministerium der Justiz Abt. II an Generalstaatsanwaltschaft der DDR, 5.5.1959. Ebenda, S. 255; Antwortschreiben, Staatsanwalt an Ministerium der Justiz, 15.5.1959. Ebenda, S. 256. 715 Vgl. Schreiben, Alfred Weiland an Bundeskanzler Konrad Adenauer, 24.11.1958. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag.; Bericht, Senatskanzlei, 16.2.1960. Ebenda, o. Pag.
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chen SMT-Verurteilten eine Handhabe erhalten würden, Schadensersatzansprüche zu stellen.716 Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen machte seine Entscheidung von einer Rücksprache mit dem Senator für Justiz abhängig, der über den Ausgang der Ermittlungen informieren und eine Einschätzung geben sollte, ob der festgestellte Tatvorgang für eine Schadensersatzforderung gegenüber der Sowjetunion ausreichend sei.717 Der Inhalt dieser Rücksprache ist nicht bekannt, sie dürfte aber ebenfalls ein negatives Votum erbracht haben. Denn im Mai 1960 stellte der Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin das Verfahren gegen Tatbeteiligte an Weilands gewaltsamer Entführung wegen Abwesenheit ein. Eine Beschwerde Weilands gegen diese Verfahrenseinstellung blieb erfolglos.718 Die Eingaben und Beschwerden Weilands bei den bundesrepublikanischen Stellen verdeutlichen, dass er dort nicht nur Rechtshilfe einforderte, sondern auch um die Anerkennung des ihm widerfahrenen Unrechts kämpfte. Er klagte, dass Ärzte und Behörden seine Angaben oft als unglaubwürdig erachten würden, und führte dies auf eine fehlende richtliche Entscheidung über seinen Entführungsfall zurück.719 Zudem musste er in einer Vielzahl von Gesprächen eine Erfahrung machen, mit der sich auch andere Entführungsopfer nach ihrer Rückkehr konfrontiert sahen: »Man hört mir interessiert zu, verbirgt mehr oder weniger geschickt eine nicht ganz unbegründete Skepsis und so ganz zum Schluß kommt zum Ausdruck, na, so ganz kann das ja, was Sie hier erzählen, nicht stimmen. Denn irgendeinen Grund muß doch der Osten gehabt haben, daß er Sie so gewaltsam aus dem Westen herausgeholt hat. Und ganz grundsätzlich wird auch im Osten niemand verurteilt. Im übrigen sehen Sie doch noch ganz passabel aus, so schlimm – wie Sie es schildern – kann es doch gar nicht gewesen sein.«720
Vor diesem Hintergrund kämpfte Weiland in der Bundesrepublik und in der DDR vehement für juristische Entscheidungen in seinem Fall, die seinen Entführungsfall klären und das ihm zugefügte Unrecht unzweifelhaft feststellen sollten.721
716 Vgl. Mitteilung, Rechtsanwalt Musiolik an Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Abt. II, 19.1.1960. BArch, B 137/32640, Bl. 230–232. 717 Vgl. Bericht, Senatskanzlei, 16.2.1960. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag. 718 Vgl. Mitteilung, Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin an Alfred Weiland, 25.5.1960. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag.; Mitteilung, Senator für Justiz an Regierenden Bürgermeister von Berlin, 25.10.1960. Ebenda, o. Pag. 719 Vgl. Schreiben, Alfred Weiland an Senator für Inneres, 30.5.1959. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag. 720 Schreiben, Alfred Weiland an Regierenden Bürgermeister von Berlin Willy Brandt, 6.1.1959. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag. 721 Vgl. ebenda.
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Den Schritt an die Öffentlichkeit wagten nur wenige Entführungsopfer nach ihrer Rückkehr aus der DDR-Haft – und stießen dabei nicht selten auf mangelndes Interesse und/oder politisches Kalkül, wie im folgenden Kapitel deutlich wird.
V. V.1
Was wusste und was tat der Westen?
Die Informationslage – Entführt oder übergelaufen?
Die Hoffnungen der inhaftierten Entführungsopfer auf eine baldige Rückkehr basierten vor allem auf Initiativen und Proteste von westlicher Seite, sei es von Angehörigen, Organisationen, staatlichen Stellen oder der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Je nach Ablauf der Verschleppung oder Entführung hatte das mehr oder minder spurlose Verschwinden einer Person dort allerdings nicht selten für Rätsel gesorgt, die für die Reaktion der zuständigen deutschen Stellen entscheidend sein konnten. Die zentrale Frage lautete oft: Ist die verschwundene Person tatsächlich in die DDR entführt worden oder etwa freiwillig dorthin gegangen? Von östlicher Seite war keine Aufklärung zu erwarten. Das SED-Regime respektive der DDR-Staatssicherheitsdienst und die Staatsanwaltschaften als zuständige Organe reglementierten und manipulierten den Informationsfluss gen Westen stark. In manchen Fällen blieben der Aufenthaltsort und das Schicksal des oder der Verschwundenen lange Zeit unbekannt. Die Angehörigen »Das war ja immer die Ungewissheit: Lebt er oder lebt er nicht mehr?«, schildert Friedelind Fricke heute ihre verzweifelte Situation nach der Entführung ihres Verlobten im April 1955.722 Diese Angst dürfte viele Angehörige und Freunde von Entführten und Verschleppten nach deren Verschwinden gequält haben. Bewusst beseitigte das SED-Regime in vielen Entführungsfällen diese Ungewissheit nicht. Gemäß einer Dienstanweisung über die Zusammenarbeit zwischen Staatssicherheitsapparat und Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 1953 hatten Untersuchungshäftlinge während der gesamten Dauer des Untersuchungsverfahrens keine Sprech- und Schreiberlaubnis. Eine Benachrichtigung der Angehörigen sollte nur erfolgen, wenn der »Zweck der Untersuchung dadurch nicht gefährdet« sei.723 Diese Voraussetzung war in den Augen des MfS in vielen Entführungsfällen nicht gegeben, vor allem wenn die Angehöri722 Vgl. Interview mit Friedelind Fricke in der Fernseh-Dokumentation von Christian Frey: »Mielkes Menschenjäger«, ausgestrahlt im ZDF am 31.1.2010. 723 Dienstanweisung Nr. 38/53, MfS, 1.12.1953. Gedruckt in: Engelmann/Joestel: Grundsatzdokumente, S. 64–66, hier 65.
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gen in West-Berlin oder in der Bundesrepublik lebten. So vermerkte es zwei Tage nach der Verschleppung des Westberliner Journalisten Herbert Eigner Ende August 1954: »Es wird gebeten, die Ehefrau des inhaftierten E. von der erfolgten Festnahme vorläufig nicht zu benachrichtigen, da sie in Westberlin wohnhaft ist.«724 In einigen Entführungsfällen erlangten Angehörige nur über die DDRPresse eine Bestätigung der Verhaftung ihres Verwandten. So forderte die Ehefrau des Mitte Juni 1961 entführten Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt zehn Tage nach seinem Verschwinden den DDR-Staatsrat schriftlich auf, ihr Auskunft über den Verbleib ihres Mannes zu geben. Denn bis dato habe sie nur einer ADN-Meldung entnehmen können, dass er verhaftet worden sei. Eine offizielle Benachrichtigung habe sie noch nicht erhalten.725 Dieses Schreiben sowie drei weitere Briefe an den DDR-Generalstaatsanwalt blieben unbeantwortet, darüber beschwerte sich die besorgte Ehefrau in einem Brief an das MfS Anfang Oktober 1961.726 Den Schreiben an die Generalstaatsanwaltschaft hatte sie ferner Briefe an ihren inhaftierten Mann beigelegt, die ihm jedoch nie ausgehändigt wurden, sondern ohne Eingangsbestätigung in den MfS-Akten verschwanden. Die zuständige MfS-Hauptabteilung IX/2 fürchtete, dass sie in diesen Briefen Hinweise verstecken könnte, die das Untersuchungsverfahren erschweren könnten, da sie über Brandts »Spionagetätigkeit« informiert sei und Kontakte zum SPD-Ostbüro habe.727 Diese Informationssperre konnte auch nach einer Verurteilung bestehen bleiben. Beispielsweise wandte sich die Ehefrau des im Oktober 1958 entführten Friedrich Böhm drei Jahre nach seiner Entführung an das MfS mit der Bitte um Nachricht über den Aufenthaltsort ihres Mannes. Im Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen wusste sie von seiner gewaltsamen Entführung in einem Westberliner Waldgebiet, und sie hatte durch entlassene Häftlinge erfahren, dass ihr Mann in den MfS-Untersuchungshaftanstalten Hohenschönhausen und Magdalenenstraße inhaftiert war. Mit diesem Wissen konfrontierte sie nun das MfS und verwies dabei auch auf eine unwahre Auskunft des Ministeriums für Justiz, das ihr ein Jahr zuvor auf Anfrage mitgeteilt hatte, dass es in den Strafvollzugsanstalten in Ost-Berlin keinen Strafgefangenen Friedrich Böhm gebe.728 Bei dieser Auskunft steckte der Teufel im Detail, 724 Aktenvermerk, MfS, 28.8.1954. BStU, MfS, AU 102/55, Bd. 1, S. 20. 725 In dem Brief protestierte sie zudem gegen die Festnahme ihres Mannes und forderte seine unverzügliche Freilassung. Vgl. Schreiben, Ehefrau von Heinz Brandt an DDR-Staatsrat, 26.6.1961. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 1, S. 443. 726 Vgl. Schreiben, Ehefrau von Heinz Brandt an MfS, 5.10.1961. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 2, S. 532; Anfrage, Ehefrau von Heinz Brandt an Generalstaatsanwaltschaft der DDR, 31.8.1961. Ebenda, S. 248. 727 Stellungnahme, HA IX/2, 24.10.1961. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 2, S. 536. 728 Vgl. Schreiben, Ehefrau von Friedrich Böhm an Minister für Staatssicherheit, 31.7.1961. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 14, S. 272 f.
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denn Friedrich Böhm befand sich in Haftanstalten des MfS, nicht im regulären Strafvollzug: Verurteilt zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verbüßte er seine Haftstrafe zunächst zwei Jahre in Berlin-Lichtenberg, dann drei Jahre in einer Kellerzelle in Bautzen II und schließlich die restliche Haftzeit in BerlinHohenschönhausen. Im September 1972, fast 14 Jahre nach seiner Entführung, konnte Friedrich Böhm im Rahmen des Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik zurückkehren.729 Dort hatte es zehn Jahre zuvor Gerüchte gegeben, dass er in der DDR-Haft den Freitod gesucht habe.730 Eine gezielte Falschauskunft erhielt auch die Ehefrau von Karl-Albrecht Tiemann, der Anfang August 1954 mit List und Gewalt an der Glienicker Brücke nach Ost-Berlin entführt worden war. Nachdem sie fast ein Jahr keine Nachricht über seinen Verbleib erhalten hatte, wandte sie sich an den Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, um eine entsprechende Auskunft bei der Staatsanwaltschaft von Groß-Berlin zu erwirken.731 Diese leitete das Auskunftsersuchen an die Generalstaatsanwaltschaft der DDR mit der Notiz weiter: »Tiemann ist weder von der Staatsanwaltschaft Berlin noch von irgendwelchen Sicherheitsorganen festgenommen worden. Ich bitte nach Überprüfung durch Ihre Dienststelle Herrn Vogel zu benachrichtigen.«732 Zu diesem Zeitpunkt wartete Tiemann bereits auf die Vollstreckung der Todesstrafe, zu der er im März 1955 verurteilt worden war und die am 26. Juli desselben Jahres erfolgte. Einen Monat später erhielt der Ostberliner Anwalt Wolfgang Vogel durch die Generalstaatsanwaltschaft der DDR zwar die Mitteilung, dass Tiemann zum Tode verurteilt worden sei, aber nicht dass die Strafe bereits vollstreckt wurde. Ahnungslos richtete Tiemanns Ehefrau daher noch ein Gnadengesuch an DDR-Präsident Wilhelm Pieck, als ihr Mann bereits längst hingerichtet war.733 Aus der Korrespondenz zwischen dem Staatsanwalt in Cottbus und der Generalstaatsanwaltschaft der DDR geht hervor, dass eine Benachrichtigung über die Vollstreckung der Todesstrafe zwar bereits im August aufgesetzt, aber nicht versandt worden war. Die Generalstaatsanwaltschaft der DDR teilte der Ehefrau nun lediglich mit, dass sie bei persönlichem Erscheinen bei der Ober-
729 Vgl. Protokoll Vernehmung, Polizei, 19.12.1972. BArch, B 209/1070, o. Pag. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1198. 730 BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 45. 731 Vgl. Auskunftsersuchen, Rechtsanwalt Wolfgang Vogel an Generalstaatsanwaltschaft von Groß-Berlin, 17.6.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 8, S. 64. 732 Notiz, Generalstaatsanwalt von Groß-Berlin an Generalstaatsanwalt der DDR, 2.7.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 8, S. 62. 733 Vgl. Gnadengesuch, Ehefrau von Karl-Albrecht Tiemann an Präsident der DDR Wilhelm Pieck, 6.9.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 7, S. 261–264; Schreiben, Rechtsanwalt an Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und Zentrale Rechtsschutzstelle, 14.12.1955. BStU, MfS, AP 21783/80, S. 10–15, hier 13.
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sten Staatsanwaltschaft eine Auskunft erhalte.734 Hierbei handelte es sich um einen erneuten Versuch, Tiemanns Ehefrau auf das Gebiet der DDR zu lokken. Bereits kurz nach seiner Entführung hatte ihre in Cottbus lebende Mutter unter dem Druck des MfS sie zweimal aufgesucht und ausgerichtet, dass sie bedenkenlos zurück nach Cottbus kommen könnte. Sie überbrachte jeweils einen Brief von Tiemann, in dem er seine Frau aufforderte, mit ihren Kindern und seinen Akten in die DDR zu kommen. Tiemanns Ehefrau lehnte dies jedoch vehement ab.735 Vom Tode ihres Mannes erfuhr sie auf anderem Wege: Eine (vermutlich irrtümlich versandte) Mitteilung des Standesamts Dresden über den Sterbefall Tiemann war über die Polizeiinspektion in BerlinZehlendorf an das Haupteinwohnermeldeamt in West-Berlin gelangt. Eine offizielle Benachrichtigung durch die zuständigen Stellen in der DDR erhielt sie nie. Die Abteilung Strafvollzug im Ministerium des Innern forderte sie im Dezember 1955 lediglich auf, die Wertsachen ihres Ehemannes abzuholen.736 Ein Westberliner Ehepaar erhielt zwei Tage nach der gewaltsamen Verschleppung ihres Pflegesohnes Werner Zacher im März 1955 einen Brief von diesem. Darin bekundete der Verschleppte, freiwillig in die DDR gegangen zu sein, und forderte seine Pflegeeltern auf, ebenfalls diesen Schritt zu wagen. Werner Zacher war im Herbst 1954 aus der DDR nach West-Berlin geflohen, wo seine Pflegeeltern bereits seit 1950 als politische Flüchtlinge lebten. Am Abend des 10. März 1955 hatten mehrere Westberliner beobachtet, wie er in der Nähe der Sektorengrenze überwältigt und nach Ost-Berlin verschleppt wurde. Seine briefliche Bekundung, freiwillig in die DDR gegangen zu sein, war daher offensichtlich falsch. Die Pflegeeltern kamen der Aufforderung, ebenfalls zurückzukehren, nicht nach, sondern übergaben den Brief an die Westberliner Polizei. Mehr als drei Monate später erfuhren sie aus der DDR-
734 Vgl. Schreiben, Staatsanwalt Bezirksgericht Cottbus an Generalstaatsanwalt der DDR, 13.9.1955. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 8, S. 82; Mitteilung, Generalstaatsanwalt der DDR an Staatsanwalt Bezirksgericht Cottbus, 23.9.1955. Ebenda, Bd. 7, S. 269. In diesem Brief wies der DDRGeneralstaatsanwalt den Staatsanwalt des Bezirks Cottbus an, ebenfalls keine schriftlichen Auskünfte über Tiemann nach West-Berlin zu senden. 735 Vgl. Schreiben, Rechtsanwalt an Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und Zentrale Rechtsschutzstelle, 14.12.1955. BStU, MfS, AP 21783/80, S. 10–15, hier 12; Protokoll Zeugenvernehmung, Abt. V.1 (S) V, 2.8.1954. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 122/95, Bd. 1, Bl. 3 f.; Protokoll Zeugenvernehmung, Landeskriminalamt Brandenburg, 19.8.1996. Ebenda, Bd. 3, Bl. 67– 71, hier 69. 736 Vgl. Schreiben, Rechtsanwalt Commichau an Polizeipräsident von Berlin Abt. V, 13.9.1955. LAB, B Rep. 020, Nr. 8161, o. Pag.; Schreiben, Rechtsanwalt an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und die Zentrale Rechtsschutzstelle, 14.12.1955. BStU, MfS, AP 21783/80, S. 10– 15, hier 13; Protokoll Zeugenvernehmung, Landeskriminalamt Brandenburg, 19.8.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 122/95, Bd. 3, Bl. 67–71, hier 70; Kopie Bestattungsschein, Standesamt Dresden, 28.7.1955. Ebenda, Bd. 2, Bl. 3.
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Presse, dass ihr Pflegesohn in der DDR zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde.737 Einen Brief ihres entführten Ehemanns mit der Aufforderung, in die DDR zu kommen, erhielt auch die Ehefrau des geflohenen MfS-Mitarbeiters Alfred Glaser, der im Mai 1962 mit Gewalt aus Neckarsulm entführt worden war. Sechs Tage nach seiner Entführung zog sie mit ihren Kindern in die DDR – die Versuche westlicher Stellen, sie von diesem Vorhaben abzubringen, blieben erfolglos.738 Die MfS-Abteilung XXI besorgte der Rückkehrerin eine Wohnung und einen Arbeitsplatz im Bezirk Magdeburg und nahm sie »auf Kontakt«. Diese Maßnahme diente einerseits ihrer Kontrolle, andererseits war sie »nach erfolgter Überprüfung auf Ehrlichkeit für die Bearbeitung der feindlichen Dienststellen, mit denen sie und ihr Ehemann in Westdeutschland zusammenarbeiteten«, vorgesehen. Ihre Überprüfung verlief zur Zufriedenheit des MfS, und die Ehefrau zeigte sich anscheinend bereit, gewünschte Informationen zu liefern. Vier Jahre nach der Entführung resümierte die MfSDiensteinheit: »Sie brachte eine Reihe wertvoller Informationen und führte uns zwei weitere Personen aus dem gleichen Ort in Westdeutschland zu, in dem sie bis zu ihrer Rückkehr in die DDR wohnte, so daß wir durch diese Verbindung wieder Kenntnis erhielten von Massnahmen, die der BND nach der Festnahme des Alfred Glaser dort einleitete.«739 Die verschiedenen Absichten des MfS, die sich hinter diesen an Familienangehörige gerichteten Aufforderungen zur Rückkehr in die DDR verbargen, werden anhand dieser Beispiele deutlich. Zum einen galt es Kontrolle zu gewinnen und einen Unruheherd im Westen zu beseitigen: Die nächsten Angehörigen waren für die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden wichtige Zeugen und nicht selten treibende Kräfte in den Ermittlungen. Ihr Umzug in die 737 Den Brief von Zacher überbrachte die Ehefrau eines Bekannten, der als GM an Zachers Entführung beteiligt gewesen war und in West-Berlin als Tatverdächtiger galt. Zachers Pflegemutter veranlasste daher die Verhaftung der Überbringerin, als diese im März 1955 einen zweiten Brief brachte. Es wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, das jedoch im April 1955 aus Mangel an Beweisen eingestellt wurde. Vgl. Vorführbericht, Abt. V.1 (S) V, 15.3.1955. BStU, MfS, AP 21815/80, S. 46–48; Verfügung, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin, 4.4.1955. Ebenda, S. 50 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 11.3.1955. Ebenda, S. 34 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 11.3.1955. Ebenda, S. 40 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 14.3.1955. Ebenda, S. 42; Angaben des Pflegevaters von Werner Zacher, 17.4.1956. Ebenda, S. 18 f.; überbrachter Brief, angeblich von Werner Zacher, 12.3.1955. Ebenda, S. 26 f.; Wieder Menschenraub. In: Nachtdepesche, 11.3.1955; Im Namen des Volkes! Hauptagent Z. warb 13 Spione. In: Märkische Volksstimme, 26.6.1955. 738 Vgl. Bericht, Abt. XXI, 27.9.1966. BStU, MfS, HA II Nr. 4608, S. 215–220, hier 217; Interview mit Schwager von Alfred Glaser am 2.2.2009. Laut Auskunft des Schwagers teilte Alfred Glaser in dem Brief mit, dass er freiwillig in die DDR zurückgegangen sei. 739 Bericht, Abt. XXI, 27.9.1966. BStU, MfS, HA II Nr. 4608, S. 215–220, hier 217. Die Ehefrau ließ sich während der Haftzeit von Alfred Glaser scheiden. Er wurde 1972 aus der Haft in die DDR entlassen. Vgl. Einschätzung des Strafgefangenen, StVA Bautzen II, 14.2.1969. BStU, MfS, GH 19/63, Bd. 5, S. 210 f.; Beschluss, Bezirksgericht Neubrandenburg, 22.9.1972. Ebenda, S. 281; Abschlussbericht, Abt. XXI, 25.7.1978. BStU, MfS, HA II Nr. 36091, S. 1 f.
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DDR hätte außerdem die (nicht selten gezielt gestreuten) Gerüchte eines freiwilligen Grenzübertritts der verschwundenen Person untermauert. Zum anderen bot ihr Grenzübertritt gen Osten die Möglichkeit für das MfS, auf relativ einfachem Wege Informationen und belastendes Material zu erhalten. In diesem Zusammenhang forderte das MfS auch Angehörige auf, in die DDR zu kommen, um sie anzuwerben. Das geschah beispielsweise im Fall des im Juli 1954 gewaltsam entführten Verfassungsschutzmitarbeiters Gustav Buchner. Im Mai 1955 richtete sein Bruder einen Brief an den DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck mit der Bitte, ihm Gustav Buchners Aufenthaltsort mitzuteilen.740 In der MfS-Hauptabteilung II/4 entstand daraufhin der Plan, den auskunftersuchenden Bruder anzuwerben, da sich nun die Gelegenheit biete, »in direkte Verbindung mit dem Bruder zu treten«. Bei einer Genehmigung der Maßnahmen müsse sodann mit der Hauptabteilung IX gesprochen werden, dass Gustav Buchner keine Todesstrafe, sondern eine lebenslange Haftstrafe erhalte. Erich Mielke bestätigte als stellvertretender Staatssekretär für Staatssicherheit den Plan per Unterschrift. Der Bruder des Entführten wurde dementsprechend per Brief aufgefordert, zur Klärung der Angelegenheit in die DDR zu kommen.741 Im weiteren Aktenvorgang findet sich kein Hinweis, dass er dieser Aufforderung Folge leistete. Spätere Gnadengesuche ließ er über einen Rechtsanwalt einreichen.742 Gustav Buchner wurde im Herbst 1955 zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt und zehn Jahre später von der Bundesrepublik freigekauft.743 Die Informationspolitik des MfS gegenüber den Angehörigen der Entführungsopfer reichte von völliger Verleugnung und Falschauskünften bis zum Einsatz der Informationen als Druckmittel. Die Auswirkungen der dadurch hervorgerufenen Ungewissheit bei den Verbliebenen der Entführungsopfer lassen sich nur erahnen. Sie finden ihren Ausdruck in den unzähligen Auskunftsersuchen und Gnadengesuchen, die in den MfS-Akten der Entführungsopfer enthalten sind. Auf allen erdenklichen Wegen versuchten Angehörige, Informationen zu erlangen und ihren verschleppten oder entführten Angehörigen Unterstützung zukommen zu lassen. Die Sorge um die vermisste Person ließ Angehörige bei zahlreichen Behörden, Institutionen und anti740 Vgl. Auskunftsersuchen an Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck, Stuttgart, 5.5.1955. BStU, MfS, AU 95/56, Bd. 4, S. 4. 741 Plan, HA II/4, 2.7.1955. BStU, MfS, AU 95/56, Bd. 4, S. 8; Briefentwurf, MfS, Juli 1955. Ebenda, S. 9. 742 Vgl. Gnadengesuch, Rechtsanwalt, 17.10.1960. BStU, MfS, AU 95/56, Bd. 6, S. 76 f.; Gnadengesuch, Rechtsanwalt, 13.10.1964. Ebenda, S. 86. 743 Vgl. Urteil, Bezirksgericht Rostock, 15.9.1955. BStU, MfS, AU 95/56, Bd. 3, S. 173–181; Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 4.11.1955. Ebenda, S. 193–200. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1207. Der ehemalige Verfassungsschutz-Mitarbeiter und spätere Chef des Hamburger Landesamts für Verfassungsschutz schildert seine Bemühungen um den Freikauf von Gustav Buchner. Vgl. Horchem: Spione, S. 53–57.
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kommunistischen Organisationen in der Bundesrepublik vorstellig werden. Mit dieser Sorge verband sich zum Teil auch eine andere Last: Einige gerieten in existenzielle Notlagen, da nun der Haupternährer der Familie fehlte. Beispielsweise richtete sich die Mutter eines Entführten mit der Bitte um Gewährung einer materiellen Unterstützung an den UFJ, da sie durch die Entführung ihres Sohnes »in bitterste Not« geraten sei. Der UFJ, der ein Hilfskomitee für politische Häftlinge unterhielt, teilte ihr daraufhin mit, dass er nur Häftling bzw. Häftlingsangehörige unterstützen könne, die sich in der DDR befinden würden.744 Antikommunistische Organisationen in West-Berlin wie der UFJ waren eine wichtige Informationsbörse für Angehörige und Freunde von Entführungsopfern. So benachrichtigte der UFJ beispielsweise Anfang September 1956 die Ehefrau des im November 1950 entführten Journalisten Alfred Weiland, dass sich im August ein entlassener Häftling gemeldet habe, der mit ihrem Ehemann in den Zuchthäusern Bützow-Dreibergen und Brandenburg inhaftiert gewesen sei. Zwar habe sich Weiland stets in Einzelhaft befunden, aber er sei ihm beim Arzt und Frisör begegnet. Da Weiland ihm bei einer solchen Gelegenheit zugerufen habe, dass der entführte Walter Linse auch dort sei, bat der UFJ nun Weilands Ehefrau um Auskunft, ob er entsprechende Andeutungen in seinen Briefen gemacht habe.745 Von den gesammelten Informationen antikommunistischer Organisationen profitierten aber auch staatliche Institutionen bei der Aufklärung der Schicksale von Entführungsopfern.
Staatliche Institutionen und nicht staatliche Organisationen Für die zuständigen staatlichen Institutionen und die zum Teil selbst betroffenen antikommunistischen Organisationen in der Bundesrepublik entstanden im Zusammenhang mit den Verschleppungen und Entführungen des MfS hauptsächlich zwei Aufgabenfelder: einerseits die Suche nach der entführten Person und der Beistand für sie sowie ihre Angehörigen, andererseits das Ergreifen von Schutzmaßnahmen für die eigenen Mitglieder respektive Bürger. Ein wirkungsvolles Agieren konnte allerdings nur durch eine möglichst breite Informationslage gewährleistet werden. Vor diesem Hintergrund sammelten und werteten sie alle verfügbaren Informationen aus, die zum Beispiel über politische Prozesse und das Schicksal von Inhaftierten in den Westen flossen. Von großer Bedeutung waren in dieser Hinsicht die Befragungen von Heimkehrern und DDR-Flüchtlingen, die den verschiedenen antikommunistischen 744 Vgl. Schreiben an den UFJ, 16.1.1957. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Bescheid, UFJ, 30.1.1957. Ebenda, o. Pag. Das Hilfskomitee unterstützte mithilfe privater Spenden politische Häftlinge und ihre Angehörigen in der DDR, betreute Erstere im Anerkennungsverfahren in der Bundesrepublik und stellte Häftlingsbescheinigungen aus. Vgl. Mampel: Untergrundkampf, S. 14. 745 Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 21.8.1956. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Mitteilung, UFJ an Anna Weiland, 3.9.1956. Ebenda, o. Pag.
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Organisationen und staatlichen Institutionen in der Bundesrepublik wichtige Erkenntnisse lieferten. Aus diesem Netzwerk können im Folgenden nur einige Einrichtungen exemplarisch herausgegriffen werden. Selbstverständlich ermittelte die Polizei in den Entführungsfällen wie generell beim Verschwinden von Menschen, aber aufgrund des politischen und zum Teil geheimdienstlichen Hintergrunds wurden auch der Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst und westliche Nachrichtendienste aktiv. Die Entführungsaktionen stellten für diese Stellen eine doppelte Herausforderung dar: Zum einen waren sie für den Schutz der Bevölkerung und speziell der gefährdeten Personen (auch in den eigenen Reihen) verantwortlich, zum anderen mussten sie nach den Opfern und Tatbeteiligten fahnden.746 Da die entsprechenden Unterlagen der westlichen Geheimdienste aus nicht nachvollziehbaren Gründen immer noch für die Forschung unzugänglich sind, bleibt weitgehend ungeklärt, wie sie agierten, ihre Ermittlungen führten und zu welchen Erkenntnissen sie kamen. Es kann nur ein Einblick in die Ermittlungstätigkeit und den Kenntnisstand der Polizei gegeben werden, und zwar im Hinblick auf die Suche nach den verschleppten oder entführten Personen. Den polizeilichen Ermittlungen nach den Tatbeteiligten und deren strafrechtlicher Verfolgung widmet sich das Kapitel X.1 ausführlich. Eine zentrale Rolle bei den Ermittlungen spielte die Westberliner Polizei, da die geteilte Stadt der Hauptschauplatz der geheimdienstlich/-polizeilich und politisch motivierten Entführungen nach 1950 war. Der Umgang mit den Verschleppungs- und Entführungsfällen, die mit der sowjetischen Besatzungsmacht in Verbindung gebracht wurden, hatte 1948 zu einem Eklat in der (Gesamt-)Berliner Polizei geführt. Der erste Berliner Polizeipräsident Paul Markgraf, der sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft dem »Nationalkomitee Freies Deutschland« angeschlossen hatte, war am 19. Mai 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht ernannt und mit dem Aufbau einer Polizeibehörde betraut worden. Den Posten als Kommandeur der Berliner Schutzpolizei erhielt Ende Mai Karl Heinrich, der für sein rigides Vorgehen als Chef der uniformierten Polizei gegen ungenehmigte NSDAP- und KPD-Demonstrationen in den Jahren 1929 bis 1932 bekannt geworden und als Sozialdemokrat während der NS-Zeit verfolgt worden war. Mit großer Unzufriedenheit registrierte Karl Heinrich die Personalpolitik des Polizeipräsidenten, der für die vorrangige Einstellung von Kommunisten sorgte, und strebte eine Änderung dieser politische Ausrichtung an. Dabei hoffte er auf eine Unterstützung durch die WestAlliierten, die Anfang Juli 1945 ihre Besatzungszonen in Berlin übernahmen. Seine Einstellung und sein Handeln blieben dem sowjetischen Geheimdienst 746 Der CIA soll nach der gewaltsamen Entführung des UFJ-Mitarbeiters Walter Linse Mitarbeiter der deutschen CIA-Mission nach Berlin entsandt haben, um die Sicherheitsaspekte der Entführung und ähnlicher Vorfälle zu untersuchen. Vgl. Bailey/Kondraschow/Murphy: Front, S. 166 f.
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nicht verborgen, waren doch sein Personalreferent und seine Sekretärin Informanten des NKWD. Bereits nach zwei Monaten setzte der NKWD Heinrichs Tätigkeit ein Ende: Anfang August 1945 bestellte Markgraf ihn zu einer Besprechung in das Polizeipräsidium, zu der auch ein sowjetischer Major erschien. Dieser forderte Heinrich auf, ihn zum NKWD-Quartier zu begleiten. Karl Heinrich schöpfte keinen Verdacht, er ließ seine Brille und Aktentasche in Markgrafs Diensträumen zurück. Der NKWD plante einen Prozess gegen Karl Heinrich wegen bewaffneten Widerstands gegen die UdSSR und konterrevolutionärer Sabotage – Tatbestände, die eine Todesstrafe vorsahen. Doch die Verhöre, bei denen er wahrscheinlich auch gefoltert wurde, sowie die Haftbedingungen in einer Kellerzelle des NKWD führten zu seinem Tod. Anfang November verstarb Karl Heinrich, der noch von der siebenjährigen Haft im Gefängnis und in Konzentrationslagern während der NS-Zeit gezeichnet war, im Krankenrevier des NKWD-Speziallagers in BerlinHohenschönhausen.747 Vor diesem Hintergrund und der sich abzeichnenden Systemkonkurrenz wurde die Berliner Polizei zu einem Streitpunkt in der geteilten Stadt: Im Mai 1946 kritisierte der US-Stadtkommandant die politische Ausrichtung des Polizeiapparates und forderte den Polizeipräsidenten Markgraf auf, diesen Zustand zu ändern. Fünf Monate später beschlossen die vier Besatzungsmächte eine Neuordnung der Berliner Polizei: Jede Zone erhielt einen eigenen »Polizeisektorleiter«, der dem Polizeipräsidenten und der jeweiligen Besatzungsmacht unterstellt war. Der Polizeipräsident Markgraf nahm von seiner Personalpolitik und der politischen Instrumentalisierung der Polizei dennoch nicht Abstand. Die westliche Presse erhob Anklagen gegen den sowjetisch kontrollierten Polizeipräsidenten und den kommunistisch dominierten Polizeiapparat. Die östliche Presse reagierte auf die Vorwürfe mit Empörung und verwies stets auf die große Gefahr durch ehemalige Nationalsozialisten. Im Magistrat von Berlin, der für die Polizei zuständig war, verfestigte sich der Verdacht, dass sich der Polizeipräsident ausschließlich der sowjetischen Besatzungsmacht verpflichtet fühlte. Dass der Polizeipräsident die Verschleppungen von Personen unter der Regie der sowjetischen Besatzungsmacht nicht als solche benannte, sondern nur von »Vermißtensachen« sprach, galt diesbezüglich als ein Indiz 747 Nach seiner Verhaftung durch den NKWD fand man in seiner Aktentasche eine Pistole, sodass ihm illegaler Waffenbesitz vorgeworfen werden konnte. Denn zu dieser Zeit durften Polizisten in Berlin keine Waffen tragen. Gegenüber den Westmächten begründete die sowjetische Besatzungsmacht seine Festnahme mit dem Verdacht, dass er ein Gestapo-Agent gewesen sei. Vgl. Peter Erler: Polizeimajor Karl Heinrich. NS-Gegner und Antikommunist. Berlin 2007, besonders S. 57–89; Kellerhoff/Kostka: Hauptstadt, S. 129–132; Smith: Stadt, S. 29 f.; Stefan Winckler: Ein Markgraf als williger Vollstrecker des Totalitarismus. In: Heiner Timmermann (Hg.): Die DDR – Analysen eines aufgegebenen Staates. Berlin 2001, S. 343–353, hier 346 f., 349; Ribbe: Berlin, S. 39; Norbert Steinborn, Hilmar Krüger: Die Berliner Polizei 1945–1992. Berlin 1993, S. 3–7, 51–53; Polizeipräsident von Berlin (Hg.): Polizei Berlin 1945 bis 1989. Berlin 1989, S. 8–12.
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und erschütterte seine Glaubwürdigkeit. Der Magistrat ernannte daraufhin im Juli 1948 Johannes Stumm zum stellvertretenden Polizeipräsidenten und beauftragte ihn mit der Führung der Amtsgeschäfte, nachdem Markgraf mit Zustimmung der westlichen Alliierten suspendiert wurde. Markgraf hatte wiederholt keinen Einsatzbefehl gegeben, als kommunistische Demonstranten Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung im Ostsektor Berlins massiv störten und Abgeordnete angriffen. Bereits im März 1948 hatte er auf einer Magistratsitzung erklärt, den Anweisungen des Magistrats nicht mehr Folge zu leisten. Der daraufhin erfolgte Antrag des Magistrats bei der Alliierten Kommandantur, Markgraf zu entlassen, war von sowjetischer Seite blockiert worden. Auf die Suspendierung Markgrafs reagierte der sowjetische Stadtkommandant mit der Weisung an den Magistrat, Stumm zu entlassen und Markgraf weiterhin als Polizeipräsidenten anzuerkennen. Es folgte die Trennung der Berliner Polizei als erste Behörde in der geteilten Stadt: Mit Duldung der Westmächte wurde das Polizeipräsidium unter Leitung von Stumm in den Westteil der Stadt verlegt, und dieser erklärte über den RIAS, dass er das Amt des Polizeipräsidenten von Berlin übernommen habe.748 Die Polizei in West-Berlin registrierte alle Verschleppungen, Entführungen und entsprechende Versuche, von denen sie Kenntnis erhielt. Die Statistiken zur Anzahl der Verschleppungs- und Entführungsfälle in der geteilten Stadt übergab der Polizeipräsident in Berlin im vierteljährlichen Turnus dem Regierenden Bürgermeister.749 Differenziert nach »gewaltsamen Entführungen« (aus dem Stadtinnern oder aus Grenznähe) oder »Entführungen durch List« konnten diesen Statistiken nicht nur die Zahlen in den Monaten des laufenden Jahres entnommen werden, sondern auch die Zahlen der vergangenen Jahre. Denn diese änderten sich fortlaufend durch das Fortschreiten der Ermittlungen und die Angaben der Rückkehrer aus der DDR-Haft, vor allem der zurückgekehrten Entführungsopfer. Der Anstieg der Anzahl registrierter Entführungsfälle in den Statistiken der Polizei zeigt das sehr deutlich.
748 Bereits im Januar 1947 hatte die Stadtverordnetenversammlung versucht, mit Stumm ein Gegengewicht zu Markgraf zu schaffen, indem sie Stumm mit dem Aufbau eines »Dezernats zur Sicherung der Demokratie« beauftragte. Doch die Alliierten blockierten dieses Vorhaben. Vgl. Polizeipräsident: Polizei, S. 8–12; Steinborn/Krüger: Polizei, S. 49–51, 59–80; Winckler: Markgraf, S. 347– 351; Daniell Bastian: Westdeutsches Polizeirecht unter alliierter Besatzung (1945–1955). Tübingen 2010, S. 72–74; Ribbe: Berlin, 2002, S. 63–65; Kellerhoff/Kostka: Hauptstadt, S. 141–145. In der DDR trug die Westberliner Polizei in Anlehnung an ihren Leiter die Bezeichnung »StummPolizei«. Vgl. Stumm-Polizei gab Tips und schützte die Faschisten. In: Neues Deutschland, 13.6.1954. 749 Vgl. 47 Schreiben mit beigefügten Statistiken, Polizeipräsident von Berlin an Regierenden Bürgermeister Büro für gesamtberliner Fragen, 12.5.1956–21.12.1967. LAB, B Rep. 002, Nr. 13063, Bd. 1, o. Pag.
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1962
1961
1959
1958
1957
1956
1955
1954
1953
1952
1951
1950
Stand Gesamtzahl vollendeter Entführungen in den Jahren im Jahr
1960
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1956 k.A. k.A. 45 15 19 17 5 k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. 1957 k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. 3 k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. 1958 k. A. k. A. 45 15 20 17 6 4 6 k.A. k.A. k.A. k.A. 1959 k.A. k.A. 47 15 21 17 6 5 10 5 k.A. k.A. k.A. 1960 43 40 48 15 21 17 7 5 10 6 7 k.A. k.A. 1961 k.A. k.A. 50 16 22 17 7 5 10 8 10 15 k.A. 1962 k.A. k.A. 50 17 23 18 7 5 10 8 15 20 4 1963 k.A. k.A. 50 17 23 18 8 5 10 8 15 20 4 1964 43 41 51 19 23 21 8 5 10 9 15 20 6 1965 44 42 51 20 24 22 8 5 11 10 16 20 6 1966 44 42 51 20 24 22 8 5 12 11 16 20 6 1967 44 43 51 20 24 22 8 5 12 11 16 20 6 Tabelle 2: Kenntnisstand der Westberliner Polizei in den Jahren 1956 bis 1967 über die Anzahl vollendeter Entführungen und Verschleppungen in den Jahren 1950 bis 1962750
Die Abteilung I beim Polizeipräsidenten von Berlin registrierte 1960 in ihrer Statistik insgesamt 78 versuchte und 224 vollendete Verschleppungen und Entführungen, davon 95 mit Gewalt und 207 mit List, im Zeitraum September 1949 bis August 1960. Die Zahl der vollendeten Entführungen und Verschleppungen bewegte sich nach ihren Aufzeichnungen Anfang der 1950er Jahre zwischen 40 und 48 Fällen pro Jahr, ab 1953 dann nur noch zwischen fünf und 20 Fällen jährlich.751 Bis Ende der 1960er Jahre korrigierte die West750 Die Statistik von 1963 verzeichnet zudem eine Entführung im Jahr 1963, die Statistik von 1964 hingegen 5 Entführungen 1963 und eine Entführung 1964. Diese Zahlen tauchen auch in den Statistiken von 1965 bis 1967 für die Jahre 1963 und 1964 auf. In den Jahren 1965 bis 1967 wurde jährlich ein weiterer Entführungsfall registriert. Vgl. Zusammenstellung der bei der Abteilung I bearbeiteten Ermittlungsvorgänge – Entführungen und Entführungsversuche aus West-Berlin, Polizeipräsident von Berlin, 1956–1967. LAB, B Rep. 002, Nr. 13063, Bd. 1, o. Pag.; Zusammenstellung über entführte Personen, Polizeipräsident von Berlin Abt. I 3, September 1960. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag. 751 Vgl. Zahlenmäßige Zusammenstellung über entführte Personen, Polizeipräsident von Berlin Abt. I 3, September 1960. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag.; Zusammenstellung der bei der Abteilung I bearbeiteten Ermittlungsvorgänge – Entführungen und Entführungsversuche aus WestBerlin, Polizeipräsident von Berlin, Dezember 1960. Ebenda, Nr. 13063, o. Pag.
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berliner Polizei diese Statistik auf 295 Entführungsfälle seit Herbst 1949, darunter 87 gewaltsame und 208 durch List begangene. In weiteren 81 Fällen sei der Versuch einer Entführung oder Verschleppung gescheitert.752 In einer namentlichen Aufstellung aller Entführungsopfer vermerkte die Abteilung I der Westberliner Polizei im Jahr 1972 305 vollendete und 87 versuchte Entführungen und Verschleppungen.753 Die rund 80 Entführungsfälle, die hier als Differenz erscheinen, fanden nicht nur Eingang in die polizeilichen Statistiken, weil sie im Laufe der 1960er Jahre geschehen waren. Bei mindestens der Hälfte handelte es sich um Entführungsfälle aus den 1950er Jahren, die nun erst identifiziert werden konnten. Dass der Verfassungsschutz ebenfalls derartige Statistiken führte, geht aus einer internen Korrespondenz in der Berliner Senatskanzlei hervor. Dort bemängelte ein Mitarbeiter 1960 widersprüchliche Zahlenangaben bezüglich der Entführungen in der Denkschrift »Östliche Untergrundarbeit gegen WestBerlin«, die auf eine mangelnde Absprache zwischen dem Landesamt für Verfassungsschutz und der Abteilung I beim Polizeipräsidenten von Berlin zurückzuführen sei.754 In der Denkschrift, herausgegeben von dem Senator für Inneres in Westberlin, wurde die Zahl der durchgeführten Entführungen im Zeitraum 1945 bis 1958 mit 63 beziffert. Zudem verwies sie auf 31 geplante oder verhinderte Personenentführungen und 21 Verdachtsfälle.755 Ein knappes Jahr später erschien ein Nachtrag zu der Denkschrift, in dem 222 Entführungsfälle mit 255 Opfern und 71 Entführungsversuche mit 85 betroffenen Personen seit 1945 genannt wurden.756 Die Differenz von 192 entführten Personen würde, so der kritikübende Mitarbeiter der Senatskanzlei, die Glaubwürdigkeit der Angaben infrage stellen. Eine Abstimmung mit der Abteilung I des Polizeipräsidenten von Berlin, dessen Statistik zu diesem Zeitpunkt 217 entführte Personen seit 1949 vermerkte, sei daher dringend erforderlich.757 Der 1964 pensionierte Leiter der Abteilung Spionageabwehr im Bundesamt für Verfassungsschutz, Richard Gerken, bekundet 1965 in seinem Buch »Spione unter uns«, dass beim Verfassungsschutz über 300 Entführungsfälle registriert worden seien. Er vermutet aber, dass es »auch 1 000 oder mehr« sein 752 Vgl. Auskunft, UFJ, 24.10.1969. BArch, B 209/1070, o. Pag.; Zusammenstellung der bei der Abteilung I bearbeiteten Ermittlungsvorgänge – Entführungen und Entführungsversuche aus WestBerlin, Polizeipräsident von Berlin, Dezember 1967. LAB, B Rep. 002, Nr. 13063, o. Pag. 753 Vgl. namentliche Aufstellung von Entführungsopfern, Polizeipräsident von Berlin Abt. I, 5.10.1972. BArch, B 209/1070, o. Pag. 754 Vgl. Mitteilung, Senatskanzlei, Mai 1960. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag. 755 Vgl. Denkschrift »Östliche Untergrundarbeit gegen West-Berlin«, hg. vom Senator für Inneres, 15.4.1959. LAB, Soz 1623, o. Pag. 756 Vgl. Erster Nachtrag zur Denkschrift »Östliche Untergrundarbeit gegen West-Berlin«, hg. vom Senator für Inneres, 20.2.1960. LAB, Soz 1623, o. Pag. 757 Vgl. Mitteilung, Senatskanzlei, Mai 1960. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag.
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Die Entführungspraxis des MfS und ihre Folgen
könnten, »weil nicht alle Verschleppungen den Behörden bekannt werden«.758 In einem Kapitel dieses Buches erläutert Gerken detailliert die verschiedenen MfS-Entführungsmethoden unter Anwendung von List, Gewalt und Betäubungsmitteln. Seine Angaben, so Gerken, basieren auf den »Aussagen beteiligter Personen in 75 ausgewerteten Fällen«.759 In der Gesamtmenge vermisster Personen in West-Berlin bildeten die in die DDR Verschleppten oder Entführten Anfang der 1950er Jahre nur einen kleinen Anteil von etwa 2 bis 3 Prozent, dessen abnehmende Tendenz sich bereits Mitte der 1950er Jahre abzeichnete als er bei ungefähr 0,8 Prozent lag. Wegen des politischen Hintergrunds dieser Verschleppungen und Entführungen waren die polizeilichen Ermittlungen in diesen Fällen allerdings von besonderer Bedeutung und angesichts der Spaltung Berlins eine große Herausforderung. Zudem hatte die bundesdeutsche, aber vor allem die Westberliner Polizei eine wesentlich höhere Anzahl von Anzeigen in diesem Zusammenhang zu bearbeiten. Die untenstehende Tabelle, die auf Zahlenmaterial des Statistischen Landesamts in West-Berlin basiert, vermittelt einen Eindruck davon: In den Jahren 1952 bis 1956 bewegte sich die Anzahl der Anzeigen im Zusammenhang mit dem Freiheitsschutzgesetz – als gesetzliche Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung der politisch motivierten Entführungen und Verschleppungen – zwischen 629 und 987 pro Jahr.
758 Gerken: Spione, S. 292. 759 Ebenda Exemplarisch berichtet Gerken auch über einige gescheiterte Entführungsversuche und Entführungen, darunter ausführlich über die Entführung von Sylvester Murau 1955. Vgl. ebenda, S. 288–321.
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Jahr
1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961
Kriminalpolizei Vermisste Freiheitsschutzgesetz 1 973 2 360 3 119 (3 021) 3 514 (3 379) 3 412 (3 088) 4 480 (4 107) 4 343 (4 073) 4 231 (4 117) k.A. k.A. k.A. k.A. k.A.
Menschenraub
281
Staatsanwaltschaft FreiheitsVerschleppung schutzgesetz
k.A. k.A. k.A.
35 19 16 (14)
k.A. k.A. k.A.
k.A. k.A. k.A.
752 (628)
44 (15)
k.A.
k.A.
847 (845)
3 (1)
k.A.
k.A.
782 (744)
1
k.A.
k.A.
629 (558)
4 (3)
k.A.
k.A.
987 (707)
16 (16)
k.A.
k.A.
k.A. k.A. k.A. k.A. k.A.
k.A. k.A. k.A. k.A. k.A.
1 206 1 061 842 886 861
160 113 88 103 133
Tabelle 3: Anzahl der Anzeigen bei der Kriminalpolizei und Verfahren bei der Staatsanwaltschaft in Zusammenhang mit verschwundenen Personen in West-Berlin 1949 bis 1961 (in Klammern: Zahl der aufgeklärten Fälle)760
Die in der Tabelle ausgewiesenen Aufklärungsquoten in den Jahren 1952 bis 1956 liegen in den Vermisstenfällen stets über 90 Prozent und bewegen sich 760 Vgl. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Berlin in Zahlen. West-Berlin 1951, S. 271; ders.: Statistisches Jahrbuch Berlin. West-Berlin 1952, S. 288; ders.: Statistisches Jahrbuch Berlin. West-Berlin 1953, S. 299; ders.: Statistisches Jahrbuch Berlin. West-Berlin 1954, S. 307; ders.: Statistisches Jahrbuch Berlin. West-Berlin 1955, S. 271; ders.: Statistisches Jahrbuch Berlin. WestBerlin 1956, S. 278 f.; ders.: Statistisches Jahrbuch Berlin. West-Berlin 1957, S. 100 f.; ders.: Statistisches Jahrbuch Berlin. West-Berlin 1958, S. 109; ders.: Statistisches Jahrbuch Berlin. West-Berlin 1959, S. 111; ders.: Statistisches Jahrbuch Berlin. West-Berlin 1960, S. 106; ders.: Statistisches Jahrbuch Berlin. West-Berlin 1961, S. 109; ders.: Statistisches Jahrbuch Berlin. West-Berlin 1962, S. 109.
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bei den Fällen eines Verstoßes gegen das Freiheitsschutzgesetz zwischen 70 und fast 100 Prozent. Ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1951 zeichnet ein anderes Bild: In den ersten drei Quartalen des Jahres, so der Zeitungsartikel, seien beim Westberliner Polizeipräsidium 223 Anzeigen im Zusammenhang mit Entführungen eingegangen, von denen in nur 14 Fällen die Namen und Umstände ermittelt werden konnten.761 Auf Grundlage der zugänglichen archivierten Unterlagen der Westberliner Polizei lässt sich zwar eine wesentlich bessere Bilanz konstatieren. Es muss aber berücksichtigt werden, dass die Aufklärung einer Entführung nicht gleichbedeutend mit einer abgeschlossenen strafrechtlichen Verfolgung ist. Die hohe Aufklärungsquote darf nicht über die gravierenden Schwierigkeiten bei den Ermittlungen hinwegtäuschen. Im wahrsten Sinne des Wortes stießen die bundesdeutschen Ermittler an Grenzen, da sich die Spuren von Opfern und Tätern im Ostteil Berlins oder in der DDR verloren und sie dadurch unerreichbar waren – wie einige Beispiele im Folgenden zeigen werden. Im Westberliner Polizeiapparat fielen die Ermittlungen bei Verschleppungen und Entführungen in den Aufgabenbereich eines Sonderdezernats der Abteilung V, das für die »Bekämpfung und Verfolgung strafbarer Handlungen mit politischem Einschlag und Sicherung der verfassungsmäßigen Ordnung« zuständig war. Im September 1955 übernahm die Abteilung I in der Verwaltungspolizei dieses Arbeitsfeld. Ein wesentlicher Teil der dort bearbeiteten Ermittlungsvorgänge befasste sich, laut Jahresberichte der Westberliner Polizei, mit Landesverrat (§§ 100 ff. StGB) und Verstößen gegen das Freiheitsschutzgesetz. Wiederholt verwies die Westberliner Polizei in ihren Jahresberichten auf die umfangreichen und langwierigen Ermittlungen dieser Diensteinheit in Entführungsfällen, so beispielsweise 1955 nach den Entführungen des im OstWest-Handel tätigen Otto Schneider und des ehemaligen Volkspolizisten Sylvester Murau sowie dem Entführungsversuch der RIAS-Mitarbeiterin Lisa Stein. Ein Jahr später machte sie auf die beträchtlichen Ermittlungsarbeiten im Zusammenhang mit den Entführungen des ehemaligen Volkspolizisten und SED-Funktionärs Robert Bialek und des Nachrichtendienstlers Heinz Kramer aufmerksam.762 Im Jahresbericht 1958 hob die Westberliner Polizei die gewaltsamen Entführungen des UFJ-Mitarbeiters Erwin Neumann und des Kaufmanns Friedrich Böhm als Beispiele für die »schwersten Verletzungen des Freiheitsschutzgesetzes« hervor.763 761 Vgl. Berlin wird immer gefährlicher. 223 Menschen verschwanden in 10 Monaten/Polizei »beschattet« Gefährdete. In: Frankenpost, 24.11.1951. 762 Vgl. Jahresbericht der Westberliner Polizei 1953. LAB, Zs 505, S. 158; Jahresbericht der Westberliner Polizei 1955. Ebenda, S. 3 f.; Jahresbericht der Westberliner Polizei 1956. LAB, Zs 505, S. 5 f.; Jahresbericht der Westberliner Polizei 1958. Ebenda, S. 13; Jahresbericht der Westberliner Polizei 1959. Ebenda, S. 14; Jahresbericht der Westberliner Polizei 1960. Ebenda, S. 15 f. 763 Jahresbericht der Westberliner Polizei 1958. LAB, Zs 505, S. 13.
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Der für einen französischen Nachrichtendienst tätige Friedrich Böhm war am Morgen des 2. Oktober 1958 mit einem Bekannten in den Forst Gatow gefahren, um eine Birke für seine Vogelvoliere zu holen. Sein Bekannter namens Josef Wirth war dort als Forstaufseher tätig. Beide kehrten nicht zurück. Die Ermittlungen der Westberliner Polizei ergaben schnell den Verdacht, dass Friedrich Böhm von Josef Wirth bzw. mit dessen Mithilfe gewaltsam entführt worden war: Im fraglichen Waldgebiet wurde sein Hund entdeckt, der an einen Baum gebunden war, und auf einem Waldweg in der Nähe war die Erde stark zerwühlt und die Blätter auf dem Boden waren mit Blut befleckt. Zudem fanden die Westberliner Ermittler dort ein zerbrochenes Brillenglas, ein Uhrenglas und ein Lederetui mit Kamm. Diese Gegenstände, die den Eindruck einer Kampfhandlung verstärkten, identifizierte die Ehefrau des verschwundenen Friedrich Böhm als sein Eigentum. Auch den Kadaver eines Frischlings, auf den der Förster einige Meter entfernt aufmerksam geworden war, brachte man mit dem Tatgeschehen in Verbindung. Denn eine Untersuchung des Mageninhalts ergab, dass der Frischling nicht in freier Wildbahn gelebt hatte. Sogar der Fluchtweg der mutmaßlichen Entführer konnte ausfindig gemacht werden: Etwa drei Kilometer vom Tatort entfernt, führte eine Wagenspur über ein Grasgelände an der Potsdamer Chaussee, die in Gatow unmittelbar an der Zonengrenze verlief, auf das Gebiet der DDR. Der Verdacht, dass es sich bei Josef Wirth um einen Tatbeteiligten und kein Opfer handelt, erhärtete sich nicht zuletzt aufgrund des Umstands, dass seine Familie am fraglichen Tag mittags in großer Eile ihre Westberliner Wohnung verlassen hatte, ohne zurückzukehren.764 Rund 14 Tage nach dem Verschwinden von Friedrich Böhm erhielt seine Ehefrau einen anonymen Brief mit dem Hinweis, dass ihr Mann in dem Waldgebiet von sechs Männern gestellt und entführt worden sei. Nach dem Abschluss der Aktion sei die Ehefrau eines in West-Berlin lebenden Entführers sofort benachrichtigt worden, unverzüglich ihre Wohnung zu verlassen. Friedrich Böhm befinde sich nun in der Haftanstalt Hohenschönhausen und werde dort strengen Verhören unterzogen.765 Auf der Grundlage dieser zahlreichen Informationen und Indizien konnte die Westberliner Polizei die Entführung relativ schnell vollständig rekonstruieren: Korrekterweise ging sie davon aus, dass Josef Wirth Friedrich Böhm unter dem Vorwand, eine Birke zu besorgen, in das Waldgebiet gelockt hatte. Der Kadaver des Frischlings 764 Vgl. Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 3.10.1958. BStU, MfS, AP 21826/80, S. 13–18; Vermerk, Abt. I 4 KJ 1, 4.10.1958. Ebenda, S. 37; Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 4.10.1958. Ebenda, S. 38 f.; Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 6.10.1958. Ebenda, S. 46 f.; Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 6.10.1958. Ebenda, S. 48–50; Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 9.10.1958. Ebenda, S. 66 f.; Gutachten, Landesanstalt für Lebensmittel-, Arzneimittel- und gerichtliche Chemie, 15.10.1958. Ebenda, S. 82; Wieder Menschenraub in Berlin? In: Frankfurter Rundschau, 6.10.1958; Perfektion im Gatower Menschenraub. In: Spandauer Volksblatt, 9.10.1958. 765 Vgl. Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 16.10.1958. BStU, MfS, AP 21826/80, S. 70 f.
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habe vor Ort als weiterer Köder gedient, um Friedrich Böhm, der ein passionierter Jäger war, in einen Hinterhalt zu locken. Dort sei er sodann niedergeschlagen und in einen Personenwagen verfrachtet worden, mit dem er in die DDR gebracht worden sei. Die Westberliner Polizei vermutete richtig, dass die Entführung nach einem vorbereiteten Plan erfolgte und gelingen konnte, da Josef Wirth das Vertrauen des eigentlich sehr mißtrauischen Friedrich Böhm besaß.766 Gegen Josef Wirth wurde Mitte November 1958 Haftbefehl wegen Verstoßes gegen das Freiheitsschutzgesetz erlassen, doch das Verfahren am Landgericht Berlin wurde bereits wenige Tage später wegen Abwesenheit vorläufig eingestellt.767 Nähere Angaben zu Friedrich Böhm erhielt die Westberliner Polizei im Frühjahr 1959 durch einen geflüchteten Vertragsarzt des MfS, der Friedrich Böhm in der MfS-Haftanstalt Hohenschönhausen gesehen hatte und daher Auskunft über seine Verletzungen geben konnte. So sei Friedrich Böhm, dessen linke Körperhälfte blutunterlaufen gewesen sei, drei bis vier Wochen nach seiner Einlieferung eine Pistolenkugel aus den Rippen operativ entfernt worden.768 Wenige Monate später erhielt die Westberliner Polizei die Information, dass Friedrich Böhm wahrscheinlich in einem Ostberliner Krankenhaus verstorben sei.769 Doch er lebte. Verurteilt zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verbrachte er nahezu 14 Jahre – fast ausschließlich in Isolationshaft – in den MfS-Haftanstalten Berlin-Hohenschönhausen, BerlinLichtenberg und Bautzen II, eher er im September 1972 freigekauft wurde.770 Eine so weitgehende Aufklärung eines Entführungsfalles, ohne dass es Zeugen für das Tatgeschehen gab, war allerdings selten. Zumeist lieferten Zeugen die entscheidenden Hinweise, wie im Fall des im November 1950 entführten Alfred Weiland. Am Morgen des 11. November 1950 beobachtete eine 13-jährige Schülerin im Westberliner Stadtteil Schöneberg, wie ein Mann auf dem Bürgersteig neben einem parkenden Wagen plötzlich hinfiel und von zwei Männern in denselben Wagen verfrachtet wurde, der sofort losfuhr. Kurze Zeit später bemerkten mehrere Bauarbeiter und ein Passant einen dunklen
766 Vgl. Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 23.10.1958. BStU, MfS, AP 21826/80, S. 85–91; Perfektion im Gatower Menschenraub. In: Spandauer Volksblatt, 9.10.1958. Die Pläne und Berichte zur Entführung von Friedrich Böhm in den MfS-Akten bestätigen den von der Westberliner Polizei rekonstruierten Tatablauf. Vgl. Fallbeispiel 3 im Kapitel II.1. 767 Vgl. Haftbefehl, Amtsgericht Tiergarten, 11.11.1958. BStU, MfS, AP 21826/80, S. 95 f.; interne Mitteilung, BMG Abt. II.1 an BMG Bonn, 13.11.1958. BArch, B 137/1063, o. Pag.; interne Mitteilung, BMG Abt. II.1 an BMG Bonn, 16.7.1959. Ebenda, o. Pag. 768 Vgl. Vernehmungsprotokoll, Abt. I 4 KJ 2, 26.2.1959. BStU, MfS, AP 21826/80, S. 135 f.; Vermerk, Abt. I 4 KJ 2, 16.3.1959. Ebenda, S. 137 f.; Vertragsarzt des SSD enthüllt: B. wurde an der Grenze niedergeschossen. In: BZ, 21.2.1959. Friedrich Böhm hatte eine Schussverletzung in der linken Schulter. Vgl. Protokoll Vernehmung, Polizei, 19.12.1972. BArch, B 209/1070, o. Pag. 769 Vgl. Mitteilung, BMG Abt. II.1 an BMG Bonn, 16.7.1959. BArch, B 137/1063, o. Pag. 770 Vgl. Protokoll Vernehmung, Polizei, 19.12.1972. BArch, B 209/1070, o. Pag.; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1197 f.
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Volkswagen, aus dem Hilferufe schallten und der in sehr schneller Fahrt aus der Westberliner Tiergartenstraße in Richtung Potsdamer Platz (und somit Ost-Berlin) fuhr. Sie beobachteten eine körperliche Auseinandersetzung zwischen zwei Männern im Fond dieses Wagens, wobei der eine sich bemühte, den anderen festzuhalten, der wiederum permanent versuchte, sich loszureißen. Die unmittelbar informierte Westberliner Polizei fand wenige Minuten später in der Nähe des Potsdamer Platzes eine Autoscheibe mit Gummieinfassung aus dem hinteren Teil eines Volkswagens, an der sich Blutspuren771 und Fingerabdrücke befanden. Auf Grundlage dieser Indizien ging die Westberliner Polizei sofort von einer gewaltsamen Entführung einer unbekannten männlichen Person aus. Erste Hinweise auf die Identität des Mannes gingen am nächsten Tag mit einer Vermisstenanzeige ein, derzufolge der Journalist und Angehörige der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Alfred Weiland von einem morgendlichen Gang zu einem Postamt in der fraglichen Gegend nicht zurückgekehrt war.772 Bei ihren Ermittlungen erfuhr die Westberliner Polizei, dass der sowjetische NKWD bereits zwei Mal Personen mit einem Entführungsauftrag auf Weiland angesetzt hätte, die sich ihm jedoch offenbart hätten. Nach diesen Warnungen habe sich Weiland stets sehr vorsichtig verhalten.773 Die nunmehr gelungene Entführung Weilands galt schnell als erwiesen, unbekannt blieben jedoch die Entführer und der Aufenthaltsort Weilands – wie der Schlussbericht der Kriminalpolizei im April 1951 vermerkte. Mit der Information, dass Weiland sich höchstwahrscheinlich im MfS-Gefängnis Potsdam befinde, bat das Westberliner Amt für Verfassungsschutz knapp drei Monate später den Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin um die Übersendung der kriminalpolizeilichen Ermittlungsakten. Die Angaben stammten von entlassenen DDR-Häftlingen. Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes verfügte im Oktober 1951 über keine Meldung über das Schicksal
771 Nach seiner Rückkehr aus der DDR-Haft 1958 berichtete Alfred Weiland über die große Brutalität seiner Entführung: »Mir war sehr elend zumute, dauernd kämpfte ich mit Übelkeit und Brechreiz. Das Innere des Wagens sah wüst aus; alles war mit Blut bespritzt. Meine Zähne waren mir ausgeschlagen und lagen umher. Ich blutete stark aus Nase und Mund und einer Reihe von Schlagwunden. Am ganzen Körper fühlte ich mich elendiglich zerschlagen und war es auch, wie ich später feststellen konnte.« Vgl. Bericht, Alfred Weiland, November 1958. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag.; Erlebnisbericht von Alfred Weiland. In: BMG: Staatssicherheitsdienst, S. 143–148; Alfred Weiland: Partisan der Freiheit (unveröffentliches Manuskript). Berlin 1959, S. 13–27. Vgl. Kubina: Utopie, S. 390 f. 772 Vgl. Bericht, 29./30. Polizei-Revier Kriminalpolizei, 11.11.1950. BArch, B 137/32640, Bl. 4–6; Vermisstenanzeige, Polizeiinspektion Schöneberg, 12.11.1950. Ebenda, Bl. 7–9; Vermerk, Krim. Komm. Tiergarten, 13.11.1950. Ebenda, Bl. 7; Zeugenaussage, Kriminalpolizei Krim. Inspek. M III/2, 17.11.1958. Ebenda, Bl. 14–17; Bericht, Abt. KJ F 5, 18.11.1950. Ebenda, Bl. 17 f.; Schlussbericht, Abt. KJ F 5, 4.4.1951. Ebenda, Bl. 25 f. 773 Vgl. Bericht, Abt. KJ F 5, 13.11.1950. BArch, B 137/32640, Bl. 9 f.
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Weilands.774 Im Herbst 1952 tauchte ausgerechnet in einer Note des Vorsitzenden der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland, Wassili W. Tschuikow, an den Hohen Kommissar der Vereinigten Staaten in Deutschland, Walter J. Donnelly, ein Hinweis auf Weiland auf: Bei der Aufzählung von Organisationen und Einzelpersonen, die von West-Berlin aus angeblich eine Spionage- und Schädlingstätigkeit in Ost-Berlin und in der DDR ausüben würden, nannte Tschuikow auch einen »gewisse[n] Weiland«. Dieser habe in einer Gerichtsverhandlung in Greifswald am 7. August des Jahres seine Spionagetätigkeit für einen amerikanischen Geheimdienst gestanden. Es handelte sich um die erste offizielle Verlautbarung zum Fall Weiland von sowjetischer Seite. Der US-Hochkommissar forderte daraufhin von Tschuikow weitere Informationen über Weiland.775 Im November 1952 fand das Informationsbüro West (IWE)776 heraus, dass Weiland in dem erwähnten Gerichtsverfahren zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren wegen Boykotthetze und Spionage verurteilt worden und mittlerweile in der Strafanstalt BützowDreibergen inhaftiert war.777 Als Weiland acht Jahre nach seiner gewaltsamen Entführung aus der DDR-Haft zurückkehrte und Strafanzeige stellte, waren zwar vier Tatbeteiligte bekannt. Der Generalstaatsanwalt musste das Verfahren jedoch vorläufig einstellen, da ein Tatbeteiligter inzwischen verstorben war und die anderen durch ihren Aufenthalt in der DDR unerreichbar waren.778 In vielen Entführungsfällen fehlten Zeugen und/oder eindeutige Beweisstücke, sodass sich die bundesdeutschen Ermittler gar nicht sicher waren, ob überhaupt eine Entführung stattgefunden hatte. Im Fall des Anfang Dezember 1954 verschwundenen ehemaligen SED-Funktionärs Otto Krüger erhielt die Abteilung V.1 der Westberliner Polizei wenige Tage später die »vertrauliche 774 Vgl. Schlussbericht, Abt. KJ F 5, 4.4.1951. BArch, B 137/32640, Bl. 25 f.; Mitteilung, Senator für Inneres Amt für Verfassungsschutz an Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin, 30.6.1951. Ebenda, Bl. 27; Mitteilung, Deutsches Rotes Kreuz Suchdienst, 18.10.1951. Ebenda, Bl. 56; Vermerk, Regierender Bürgermeister von Berlin, 7.1.1959. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag. 775 Vgl. Abdruck der Note von Tschuikow. In: Neues Deutschland, 2.10.1952; Menschenraub. In: Neue Zeitung, 3.10.1952; Dr. Linse am Alex. Tschuikow gestand den Menschenraub an Alfred Weiland. In: Der Abend, 3.10.1952; Antwort des US-Hochkommissars an Tschuikow. In: Neue Zeitung, 4.11.1952; Bericht, Rechtsschutzstelle an BMG, 28.11.1952. In: BArch, B 137/32640, Bl. 103–105. 776 Bei dem IWE handelte es sich um eine spezielle Nachrichtenagentur, die 1951 auf Initiative des BMG u. a. gegründet und von diesem finanziert wurde. Das BMG konnte über diese verneintlich unabhängige Agentur Einfluss auf die Verbreitung von Informationen aus bzw. über die DDR nehmen. Vgl. Creuzberger: Kampf, S. 145 f. 777 Vgl. Meldung, Informationsbüro West, 25.11.1952. BArch, B 137/32640, Bl. 98; Bericht, Rechtsschutzstelle an BMG, 28.11.1952. Ebenda, Bl. 103–105. 778 Bereits im Frühjahr 1952 hatte ein DDR-Flüchtling die Organisation Gehlen über 2 der Entführer Weilands informiert. Vgl. Vermerk, Regierender Bürgermeister von Berlin, 7.1.1959. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag.; Bericht, Abt. I 4 KJ 2, 31.7.1959. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Mitteilung, Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin an Alfred Weiland, 25.5.1960. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag. Vgl. Kubina: Utopie, S. 391 f.
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Mitteilung«, dass Otto Krüger durch einen »SSD-Agenten« unter Mithilfe von einer Frau, die der »SSD« auf ihn angesetzt habe, nach Ost-Berlin verschleppt worden sei.779 Bei den anschließenden Ermittlungen kamen jedoch Zweifel auf: Ende Januar 1955 tauchte ein in Osnabrück aufgegebener Abschiedsbrief von Otto Krüger auf, dessen Handschrift eindeutig identifiziert wurde. Zwar berücksichtigte die Westberliner Polizei die Möglichkeit, dass Otto Krüger diesen Brief unter Druck in MfS-Haft geschrieben haben könnte. Aber die zusätzliche Information eines V-Mannes, dass Otto Krüger nicht verschleppt, sondern freiwillig in die DDR zurückgekehrt sei, bestärkten die Zweifel. Im Auftrag der Westberliner Polizei hatte dieser V-Mann aufgrund seiner »guten Beziehungen« in Erfahrung bringen sollen, ob und wo Otto Krüger in OstBerlin inhaftiert wurde.780 Stattdessen berichtete er nun über die Motive von Otto Krüger für eine freiwillige Rückkehr. Neben persönlichen Gründen hätten seine Nichtanerkennung als politischer Flüchtling und der Umstand, dass eine amerikanische Dienststelle ihn des zweigleisigen Verhaltens verdächtigte, zu diesem Schritt geführt. Der Verdacht einer Doppelagenten-Tätigkeit für eine amerikanische Dienststelle und das MfS bestätigte sich bei einem Freund von Otto Krüger, der zeitgleich verschwunden war. Entsprechende Ermittlungen bei der amerikanischen Besatzungsmacht anzustrengen, erachtete die Westberliner Polizei als aussichtlos, da diese bereits auf eine andere Anfrage mitgeteilt hatte, keinen Otto Krüger zu kennen. Im März 1955 stellte die Westberliner Polizei die Ermittlungen ein, da die Annahme einer »vollendeten Entführung durch List« nicht einwandfrei bestätigt werden konnte.781 Aus demselben Grund beendete die Westberliner Polizei im März 1954 auch die Ermittlungen im Fall Karl Reimer. Der Journalist war an einem Abend im November 1953 verschwunden, nachdem er mit seinem Freund Fritz Nitschke ausgegangen war und schließlich ein gemeinsam besuchtes Lokal verlassen hatte. Da Karl Reimer als Journalist und für eine bundesdeutsche Dienststelle tätig war, zog die Westberliner Polizei eine Entführung in
779 Vgl. Bericht, Abt. V.1 (S) V, 11.12.1954. LAB, B Rep. 020, Nr. 8161, o. Pag.; Strafanzeige, Abt. V.1 (S) V, 13.12.1954. Ebenda, o. Pag. 780 Der Einsatz solcher V-Personen zur Ermittlung des Verbleibs eines Entführungsopfers war durchaus üblich, zum Beispiel auch bei dem im April 1954 entführten NTS-Leiter Alexander Truschnowitsch. Die V-Person ermittelte ihn im sowjetischen Sperrgebiet in Berlin-Karlshorst. Vgl. Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 20.4.1954. LAB, B Rep. 058, Nr. 6013, Bl. 54. 781 Vgl. Bericht, Abt. V.1 (S) V, 16.2.1955. LAB, B Rep. 020, Nr. 8161, o. Pag.; Bericht, Abt. V.1 (S) V, 26.3.1955. Ebenda, o. Pag.; Aktenvermerk, 21.9.1956. Ebenda, o. Pag. Im Frühjahr 1958 beschuldigte eine Angehörige von Otto Krüger den ebenfalls verschwundenen Freund, an der Entführung Krügers beteiligt gewesen zu sein. Das habe ihr Otto Krüger bei einem Besuch in der Haftanstalt Berlin-Lichtenberg anvertraut. Die Polizei wertete diese Angabe mit Skepsis und stellte das Ermittlungsverfahren wegen Abwesenheit des Beschuldigten ein. Vgl. Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 13.2.1958. BArch, B 137/31872, Bl. 34; Protokoll Vernehmung, Polizei, 5.4.1958. Ebenda, Bl. 35; Vermerk, Abt. I 4 KJ 1, 15.4.1958. Ebenda, Bl. 36.
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Betracht, konnte aber keine Beweise finden. Einen freiwilligen Übertritt in die DDR schloss sie aufgrund ihrer Ermittlungsergebnisse aus. Aber es blieb der Verdacht, dass Karl Reimer (unter Alkoholeinfluss) versehentlich mit der SBahn nach Ost-Berlin gefahren sein könnte. Diese Vermutung hatte ein Freund von ihm geäußert. Karl Reimer war spurlos verschwunden, sein Aufenthaltsort unbekannt. Eine Anfrage bei der Volkspolizei in Ost-Berlin, ob er dort inhaftiert oder in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, blieb unbeantwortet.782 Fünf Monate nach der Entführung gab die DDR-Nachrichtenagentur ADN im April 1954 dann bekannt, dass Karl Reimer wegen Spionage und Boykotthetze zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt wurde.783 In ihren Ermittlungen vernahm die Westberliner Polizei auch den Freund von Karl Reimer, der ihn am fraglichen Abend begleitet und mit seiner Mutter eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte. Die Polizisten ahnten nicht, dass sie einen IM des MfS vor sich hatten, der an Reimers Entführung beteiligt gewesen war. Erst Monate später rückte er in den Kreis der Tatverdächtigen, als im August 1954 ein weiterer Westberliner Journalist unter ähnlichen Umständen verschwand, der sich wieder in seiner Begleitung befunden hatte. Zur Verantwortung konnte er jedoch nicht mehr gezogen werden, da er sich zuvor in die DDR absetzen konnte.784 Im Laufe der nächsten Jahre erlangte die Westberliner Polizei genauere Erkenntnisse: Karl Reimer hatte seine Entführung unter Beteiligung von Fritz Nitschke während seiner Gerichtsverhandlung kurz zur Sprache bringen und eine Mitangeklagte informieren können. Sie gab diese Informationen an eine weitere Mitangeklagte weiter, die nach ihrer Haftentlassung in den Westen 1957 eine entsprechende Aussage bei der Westberliner Polizei machte. Nach seinem Freikauf im September 1964 konnte zudem Karl Reimer selbst detailliert Auskunft geben.785 Eine bedeutende Schwierigkeit bei der Bearbeitung der Entführungen war also ihre zweifelsfreie Identifizierung als solche. Sofern nicht eindeutige Indizien vorlagen, konnte eine freiwillige Rückkehr in die DDR oft nicht ausge-
782 Vgl. Bericht, Abt. V.1, 26.3.1954. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 131/95, Bd. 1, Bl. 21; Protokoll Vernehmung, Abt. V.1, 5.12.1953. Ebenda, Bl. 15–17; Protokoll Vernehmung, Abt. V.1, 21.12.1953. Ebenda, Bl. 18 f. 783 Die Meldung wurde in bundesdeutschen Zeitungen mit kritischen Kommentaren verbreitet. Vgl. Terrorurteil gegen Vorstandsmitglied der Danziger Landsmannschaft. In: Tagesspiegel, 8.4.1954; Terrorurteil. In: Telegraf, 8.4.1954; Lebenslänglich Zuchthaus. In: Berliner Morgenpost, 8.4.1954; Lebenslänglich wegen »Spionage«. In: Der Tag, 8.4.1954. 784 Vgl. Protokoll Vernehmung, Abt. V.1, 5.12.1953. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 131/95, Bd. 1, Bl. 15–17; Protokoll Vernehmung, Abt. V.1, 21.12.1953. Ebenda, Bl. 18 f.; Vermerk, Abt. I 4 KJ 1, 23.11.1957. Ebenda, Bl. 26 f.; Schlussbericht, Abt. V.1 (S) V, 12.4.1955. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 4, S. 75–87. 785 Vgl. Protokoll Vernehmung, Abt. I 4 KJ 1, 23.11.1957. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 131/95, Bd. 1, Bl. 25 f.; Protokoll Vernehmung, Polizei, 7.10.1964. Ebenda, Bd. 2, Bl. 3–11; Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 24.11.1964. Ebenda, Bl. 32–35.
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schlossen werden. Wenn Tatzeugen und Anhaltspunkte fehlten, versuchte die Polizei vorrangig aufzuklären, ob es sich überhaupt um eine Entführung handelte. Falls die verschwundene Person tatsächlich über geheimdienstliche Kontakte verfügte oder aber für antikommunistische Organisationen tätig war, bekam diese Frage besondere Bedeutung. Denn mitunter verfügte sie über sensible Informationen; ihr Überlaufen bedeutete in diesem Fall Landesverrat. Ähnliche Gefahren drohten allerdings auch bei Verschleppungen und Entführungen, denn man wusste nicht, wie lange die betroffene Person den Verhörmethoden in der DDR würde standhalten können. Kontaktpersonen von westlichen Geheimdiensten oder antikommunistischen Organisationen mussten also in der DDR gewarnt werden.786 So startete beispielsweise der UFJ zwei Tage nach dem Verschwinden seines Mitarbeiters Erwin Neumann eine Warnaktion für seine Kontaktpersonen in der DDR, deren Namen Neumann preisgeben könnte und denen dadurch eine Verhaftung drohte. Für eine Kontaktperson kamen die in die DDR geschickten Boten nicht mehr rechtzeitig, das MfS war mit seiner Festnahme wenige Stunden schneller.787 Die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden ermittelten also nicht selten auch gegen Entführungsopfer wegen Verdachts der landesverräterischen Beziehungen, vor allem wenn sie aus dem geheimdienstlichen Milieu stammten. Zum Beispiel lief ein solches Ermittlungsverfahren gegen den Mitarbeiter des dänischen Geheimdienstes Manfred Richter, der im November 1955 gewaltsam aus der Bundesrepublik entführt worden war. Zwar ging die Westberliner Polizei von einer Entführung aus, das entsprechende Ermittlungsverfahren wurde aber vom Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin an den Oberbundesanwalt beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe übergeben. Dort standen sowohl Manfred Richter als auch der mit ihm verschwundene Klaus Blaschke im Verdacht, landesverräterische Beziehungen zu unterhalten. Gegen Manfred Richter wurde dieses Verfahren Anfang Oktober 1957 eingestellt, als seine Entführung unter Beteiligung von Klaus Blaschke als erwiesen galt. Fast sechs Jahre später erfolgte auch die Einstellung des Verfahrens gegen Klaus Blaschke, da die Verjährung eingetreten war. Am Landgericht Berlin war zwar noch ein Verfahren wegen seiner Tatbeteiligung an der Entführung anhängig, das je-
786 Nach der Entführung von Friedrich Böhm Anfang Oktober 1958 berichtete ein IM, der im Auftrag des MfS mit ihm in Verbindung gestanden hatte, am Tag nach der Entführung vom französischen Nachrichtendienst gewarnt und zur Flucht nach West-Berlin aufgefordert worden zu sein. Vgl. Abschrift IM-Bericht, HA II/3, 21.10.1958. BStU, MfS, AOP 228/60, Bd. 2, S. 70–72. Ein weiteres Beispiel ist die Warnaktion des FDP-Ostbüros nach der Entführung des Mitarbeiters Hans Füldner im Oktober 1953. Vgl. Buschfort: Parteien, S. 184. 787 Vgl. Vermerk, UFJ, 25.8.1958. BArch, B 209/1204, o. Pag.; Bericht, UFJ, 25.8.1958. Ebenda, o. Pag.
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doch nicht zum Abschluss gebracht werden konnte, da Klaus Blaschke in der DDR lebte.788 Der Verdacht der Doppelagententätigkeit und des Landesverrats richtete sich auch gegen den mit List verschleppten Hans Keller, der als Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes im April 1957 vor dem Bezirksgericht Potsdam zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt wurde.789 Hans Keller und seine Ehefrau hatten sich an einem Abend Ende Oktober 1956 von seiner Schwester überreden lassen, für den Heimweg eine durch den Ostsektor fahrende U-Bahn zu benutzen, und waren auf dem ersten Bahnhof im Ostteil verhaftet worden.790 Vor seinem Verschwinden hatte die Westberliner Polizei gegen ihn wegen Verdachts des Verstoßes gegen das Freiheitsschutzgesetz und der landesverräterischen Beziehungen ermittelt. Dieser Verdacht war entstanden, weil Hans Keller sich ständig in der Gegend um den Westberliner Bahnhof Gesundbrunnen in unmittelbarer Nähe zur Grenze aufhielt und dort Personen und Häuser beobachtete. Außerdem waren zwei seiner Mittelsmänner im Sommer 1956 in Ost-Berlin verhaftet und verurteilt worden. Er hatte jedoch nachweisen können, dass diese Tätigkeit mit dem Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes in Verbindung stand, Informationen von Personen aus Ost-Berlin zu erhalten.791 »Menschenjäger im Dienste der USA« titulierte ihn die MfS-Abteilung Agitation 1957 in einer Broschüre, die im Stil eines Agentenromans einen »Tatsachenbericht« über sein Vergehen und seine Verurteilung vor dem Bezirksgericht Potsdam zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe lieferte.792 Im Westen nährte das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen, dass Hans Keller und seine Ehefrau freiwillig nach Ost-Berlin gegangen seien, den Verdacht der Doppelagententätigkeit. So habe er für den amerikanischen Geheimdienst zahlreiche Agenten angeworben und diese an das MfS verraten,
788 Vgl. Mitteilung, Polizeipräsident in Berlin Abt. I an Rechtsanwalt, 5.10.1956. BStU, MfS, AP 21835/80, S. 4 f.; Mitteilung, Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin an Rechtsanwalt, 26.10.1956. Ebenda, S. 8 f.; Verfügung, Generalbundesanwaltschaft, Juli 1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 1, Bl. 26 f.; Mitteilung, Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin an Generalbundesanwalt, 16.8.1963. Ebenda, Bl. 29. 789 Vgl. Menschenfalle flog auf. In: Neues Deutschland, 16.4.1957; Lebenslänglich Zuchthaus für Menschenhändler. In: Neues Deutschland, 21.4.1957; Wieder lebenslänglich. In: Welt am Sonntag, 21.4.1957. 790 Der Wagen von Hans Keller soll zuvor durch das Einführen von Zucker in den Tank fahruntüchtig gemacht worden sein. Vgl. Neun Jahre Zuchthaus für führende Agentin des SSD. In: Tagesspiegel, 19.11.1963; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1202. 791 Vgl. Anfrage, Polizeipräsident in Berlin Abt. 1 an Rechtsschutzstelle, 21.6.1957. BArch, B 137/32151, Bl. 8; Vermerk, Abt. I 4 KJ 1, 4.8.1956. Ebenda, Bl. 27; Schlussbericht, Abt. I 4 KJ 1, 17.8.1956. Ebenda, Bl. 28; Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 9.11.1956. Ebenda, Bl. 51–53. 792 MfS Abt. Agitation (Hg.): Menschenjäger im Dienste der USA. Ost-Berlin 1957. BStU, MfS, ZAIG 18533.
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als er von der amerikanischen Seite ›abgeschaltet‹ worden sei.793 Erst vier Jahre später erkannten die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden – mithilfe eines Zeugen, der im Frühjahr 1961 aus der DDR kam –, dass nicht Hans Keller, sondern seine Schwester diesen Verrat begangen hatte, die als Sekretärin für ihn tätig gewesen war. Für ein monatliches Honorar von 400 DM/West soll sie dem DDR-Staatssicherheitsdienst die Namen von schätzungsweise 400 Personen preisgegeben haben, zu denen ihr Bruder Kontakt hatte. Etwa 150 bis 200 dieser Kontaktleute sollen im Rahmen einer großen Verhaftungsaktion im Juli 1956 festgenommen und später zum Teil zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt worden sein. Im Oktober desselben Jahres lieferte sie dem MfS sodann ihren Bruder aus und erhielt dafür eine Prämie von 5 000 DM/West. Das Kammergericht Berlin verurteilte sie im November 1963 wegen »landesverräterischer Beziehungen in Tateinheit mit gewinnsüchtiger Listverschleppung, schwerer Freiheitsberaubung und politischer Verdächtigung« zu neun Jahren Zuchthaus, fünf Jahren Ehrverlust und dem Einzug von 14 200 DM/West.794 Aber auch Hans Keller musste sich noch vor einem bundesdeutschen Gericht verantworten: Fast eineinhalb Jahre nach seinem Freikauf im September 1964 wurde vor dem Landgericht Berlin gegen ihn Anklage erhoben wegen Verstoßes gegen das »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit«. Während seiner DDR-Haft soll er einen ehemaligen Mitarbeiter verdächtigt haben, Sprengstoffanschläge gegen die DDR vorbereitet zu haben. Dieser Mann soll ebenfalls aus West-Berlin verschleppt und in OstBerlin verurteilt worden sein.795 Entführung oder Landesverrat? Diese Frage war mit besonderer Brisanz verbunden, als am 20. Juli 1954 der Verfassungsschutzpräsident Otto John nach dem Festakt zum 10. Jahrestag des Hitler-Attentats aus West-Berlin verschwand. Als er nach eineinhalb Jahren in die Bundesrepublik zurückkehrte, beteuerte er, betäubt und entführt worden zu sein. Kurz nach seinem Verschwinden war man dort auf offizieller Seite zunächst auch von einer Verschleppung ausgegangen. Schon bald verdichteten sich jedoch die Indizien für einen freiwilligen Übertritt: Die Westberliner Zollbeamten bezeugten, dass 793 Vgl. Mitteilung, Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin an Oberbundesanwalt Bundesgerichtshof, 8.3.1957. BArch, B 137/32151, Bl. 29 f. 794 Neun Jahre Zuchthaus für führende Agentin des SSD. In: Tagesspiegel, 19.11.1963; vgl. 400 Menschen und den Bruder an den SSD verkauft. In: Berliner Morgenpost, 31.10.1963; Anklage gegen West-Berlinerin: Den Bruder an den SSD ausgeliefert. In: Tagesspiegel, 1.11.1963; Den Bruder für 5 000 DM verraten. In: Telegraf, 1.11.1963; Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Prozess gegen SSD-Agentin begann – Bruder für 5 000 DM verraten. In: Tagesspiegel, 16.11.1963; Sühne für Bruderverrat. In: Telegraf vom 19.11.1963; Sühne für gewissenlosen Verrat. In: Die Welt, 19.11.1963. 795 Vgl. Aus Zonenhaft freigekauft – als Verräter vor Gericht. In: Bild, 28.2.1966. In einem Schreiben bestätigt die Rechtsschutzstelle die Darstellung in dem Bild-Artikel. Vgl. Mitteilung, Rechtsschutzstelle an BMG, 28.2.1966. BArch, B 137/32151, Bl. 77.
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John beim Passieren der Grenzanlage im Auto seines Freundes Wolfgang Wohlgemuth bei vollem Bewusstsein gewesen sei und keinerlei Auffälligkeiten gezeigt habe. Wohlgemuth hatte zudem einen Brief in West-Berlin hinterlassen, aus dem hervorging, dass John nicht zurückkehren wolle. Zwei Tage nach seinem Verschwinden meldete der Ostberliner Rundfunk, dass John aus eigenem Entschluss in die DDR gekommen sei, um mit Vertretern der Staatsmacht Verbindung aufzunehmen. Am 23. Juli wurde sodann eine Rundfunkansprache Johns veröffentlicht, in der er diesen Schritt als eine demonstrative Aktion bezeichnete, »um alle Deutschen zum Einsatz für die Wiedervereinigung aufzurufen«.796 Die Propagandakampagne rollte. In weiteren Pressemitteilungen und auf einer großen Pressekonferenz am 11. August erklärte John, dass er sich angesichts des Wiedererstarkens des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, der Remilitarisierung und strikten West-Orientierung der Adenauer-Regierung zu einer Übersiedlung in die DDR entschieden habe. In der folgenden Zeit trat John bei zahlreichen Organisationen und auf Veranstaltungen in der DDR auf, absolvierte Rundfunkreden sowie -gespräche und verbrachte einige Wochen in der UdSSR. Die Geheimdienste KGB und MfS waren darüber hinaus natürlich an Johns dienstlichem Wissen interessiert. Im Laufe der Zeit zeigte John sich in dieser Hinsicht immer auskunftsfreudiger und offenbarte einige Dienstgeheimnisse, darunter auch sensible Detailinformationen. Die Anklage wegen landesverräterischer Beziehungen, die ihn nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik erwartete, war also nicht unberechtigt. Das Strafverfahren war allerdings auch politisch aufgeladen: John war in der Position als Verfassungsschutzpräsident aufgrund seiner Biografie – Beteiligung am Widerstand vom 20. Juli 1944 und an der Entnazifizierung unter britischer Regie nach 1945 – höchst umstritten, im rechtskonservativen Lager sogar regelrecht verhasst. Diese Abneigung teilte auch Reinhard Gehlen, der als Chef des BND außerdem in dienstlicher Konkurrenz zu John stand. Der Bundesgerichtshof schenkte Johns Beteuerung, entführt und von sowjetischer sowie ostdeutscher Seite zur Kooperation genötigt worden zu sein, keinen Glauben und verurteilte ihn zu einer vierjährigen Haftstrafe. Bis zu seinem Tod 1997 kämpfte John vergeblich um seine Rehabilitierung.797 Auf der Grundlage des Aktenmaterials und der Zeugenaussagen konstatiert Bernd Stöver, dass John zwar freiwillig in die DDR ging, aber unfreiwillig dort geblieben war. Am 20. Juli 1954 war er nach dem Festakt zu seinem Freund Wolfgang Wohlgemuth nach Berlin-Charlottenburg gefahren, dessen politisch linke Orientierung und Kontakte in der DDR John bekannt waren. 796 Zit. in: Stöver: Zuflucht DDR, S. 176. 797 Vgl. Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, 1968, S. 1127 f.; Stöver: Zuflucht DDR, S. 164–184; ders.: Otto John, S. 160–167, 171; ders.: Fall Otto John, S. 312–327; Gieseking: Fall Otto John, S. 13–59, 97–137, 146–205, 221–368, 413–479; Otto John: Zweimal kam ich heim. Düsseldorf/Wien 1969.
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Vermutlich wusste er jedoch nicht, dass Wohlgemuth bereits seit Jahren für den KGB tätig war. Mit ihm passierte John am späteren Abend die Grenze nach Ost-Berlin, angeblich um zur Ostberliner Charité zu fahren, wie beide den Westberliner Zollbeamten mitteilten. Der Anlass war jedoch, dass John hoffte, ein Geheimgespräch mit wichtigen sowjetischen Repräsentanten führen zu können. Dieses Angebot, das der KGB ihm im Frühjahr 1954 unterbreitet hatte, nahm John an – tatsächlich wohl in der Sorge um die Demokratie in der Bundesrepublik, die er durch eine »Renazifizierung« gefährdet sah, und im Interesse einer Wiedervereinigung. In der DDR warteten allerdings nur Offiziere des KGB, die John anwerben wollten. John lehnte eine solche Zusammenarbeit ab und soll sich sehr entrüstet gezeigt haben. Anscheinend verabreichte man ihm daraufhin Tabletten, um ihn ruhig zu stellen. Im Laufe der Zeit musste John erkennen, dass sein Versuch der Vermittlung und politischen Einflussnahme im Osten zugunsten einer Wiedervereinigung zum Scheitern verurteilt war und seine Bemühungen gegen eine drohende Wiederbelebung des Nationalsozialismus nunmehr instrumentalisiert wurden. Wegen der Rundfunkmeldung am 22. Juli war ihm der Weg zurück in die Bundesrepublik jedoch versperrt, denn dort galt er (nun erst recht) als Verräter. Zu diesem Schritt konnte er sich erst im Dezember 1955 durchringen, obwohl er bereits früher die Möglichkeit zu einer Flucht aus Ost-Berlin gehabt hätte.798 Das Verschwinden des Verfassungsschutzpräsidenten sorgte in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und Politik für viel Aufsehen. »Der Fall John hat eine außergewöhnliche Erschütterung und die größte Vertrauenskrise seit dem Jahre 1945 im gesamten deutschen Volk hervorgerufen.«, konstatierte der SPD-Abgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende Wilhelm Mellies im Deutschen Bundestag. In derselben Sitzung sprach auch der Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) von einer Niederlage und »Schlappe im Kalten Krieg«. Der Fall John sei der »größte politische Skandal in der Bundesrepublik und zugleich ein Erfolg der Sowjets«, die nunmehr hoffen würden, »durch den Fall John das Ansehen der Bundesrepublik nach außen erschüttern zu können und im deutschen Volk selbst Verwirrung und Mißtrauen hervorzurufen«.799 Als Ergebnis der erregten Debatte im Deutschen Bundestag wurde auf Antrag der SPD ein Untersuchungsausschuss eingesetzt, der die Umstände von Johns Übertritt in die DDR, aber auch die Arbeit des Verfassungsschutzes 798 Im Jahr 1955 konnte John sich ohne Begleitung in Ost-Berlin bewegen, und die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin konnte noch relativ leicht passiert werden. Dies zeigt auch Johns Rückkehr nach West-Berlin im Dezember 1955. Ein dänischer Journalist holte John in der Nähe der Humboldt-Universität ab und brachte ihn unbehelligt nach West-Berlin. Vgl. Stöver: Zuflucht DDR, S. 164–184; ders.: Fall Otto John, S. 312–327; Gieseking: Fall Otto John, S. 121–135, 205–221, 561– 577. Gieseking betont, dass es keinen zugänglichen Beweis für einen freiwilligen Übertritt Johns gebe. 799 Protokoll der 42. Sitzung des 2. Deutschen Bundestags, 16.9.1954. PA-DBT 3001 2. WP, Stenographische Berichte Bd. 21, S. 1941–2005, hier 1944, 1953.
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überprüfte. Fast drei Jahre später veröffentlichte er seine Ergebnisse in schriftlicher Form. Die Frage nach den Umständen von Johns Verschwinden ließ er – im Unterschied zum Bundesgerichtshof – ohne klare Antwort, da diese zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben werden könne.800 Aufgrund ihrer politischen Tragweite rückten (vermeintliche und tatsächliche) Entführungsfälle immer wieder auf die Agenda des Bundestags und beschäftigten verschiedene Ministerien auf der bundespolitischen Ebene. Als mehrere CSU-Abgeordnete im Mai 1954 die Bundesregierung um eine Stellungnahme über die bislang bekannte Anzahl von Entführungsfällen und die vorgesehene Reaktion baten, gab Fritz Neumayer (FDP) als Bundesminister für Justiz Auskunft. Er verwies auf die anhaltende Entführungspraxis des SEDRegimes, nannte allerdings keine genaue Anzahl der Entführungen. Dies begründete er damit, dass zum einen die Bundesregierung dazu aufgrund der ungeklärten Fälle nicht in der Lage sei. Zum anderen gebe es auch sachliche Bedenken gegen eine solche Offenlegung, da die Gefahr bestehe, dem SEDRegime dadurch »wertvolle Hinweise« über die Ermittlungen zugänglich zu machen. Die Auskunft des Bundesjustizministers erfolgte »im Einvernehmen mit den Herren Bundesministern des Innern und für gesamtdeutsche Fragen«.801 Das im September 1949 gegründete Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (BMG) sollte den »Willen zur Einheit der Nation in Freiheit« demonstrieren und fördern sowie als eine Art deutschlandpolitische Informationseinrichtung fungieren – in erster Linie für den bundesrepublikanischen Regierungsapparat und die Öffentlichkeit, aber auch für die Menschen in der DDR. Diesen sollte »ein Bild vom Werden und Wesen der deutschen Bundesrepublik, dem Kerngebiet des künftigen einheitlichen Deutschlands«802 vermittelt werden. Die Einrichtung einer Außenstelle des Bonner Ministeriums in 800 Vgl. Antrag der Fraktion der SPD betr. Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Falle John, Deutscher Bundestag, 12.8.1954. PA-DBT 3001 2. WP, Anlagen Bd. 31, Drucksache Nr. 768; Große Anfrage der Fraktion der SPD, Deutscher Bundestag, 12.8.1954. Ebenda, Drucksache Nr. 767; Protokoll der 42. Sitzung des 2. Deutschen Bundestags, 16.9.1954. PA-DBT 3001 2. WP, Stenographische Berichte Bd. 21, S. 2007–2053, hier 2031. Der Untersuchungsausschuss legte 3 Jahre später seinen Bericht vor. Vgl. Bericht des 1. Untersuchungsausschusses – Untersuchung des Falles John, Deutscher Bundestag, 5.7.1957. Ebenda, Anlagen Bd. 54, Drucksache Nr. 3728. Kurzprotokolle der Sitzungen des Untersuchungsausschusses befinden sich in PA-DBT 3310 2. WP – Untersuchungsausschuss »Fall John«. Zu den Reaktionen in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und Politik in der Äffare John vgl. Gieseking: Fall Otto John, S. 481–595. 801 Schnellbrief »Betr.: Menschenraub in der Bundesrepublik«, Bundesminister für Justiz an den Präsidenten des Deutschen Bundestags, 9.7.1954. PA-DBT 3001 2. WP, Anlagen Bd. 30, Drucksache 710; Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Rinke, Donhauser und Genossen betr. Menschenraub in der Bundesrepublik, Deutscher Bundestag, 24.5.1954. Ebenda, Anlagen Bd. 29, Drucksache 543. 802 Vorlage für das Kabinett betr. Aufbau und Arbeit des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen, 26.9.1949. Zit. in: Creuzberger: Kampf, S. 56 f. Zur Struktur des BMG und den Aufgabenbereichen der Abteilungen und Referate vgl. ebenda, S. 106–129.
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der geteilten Stadt Berlin war vor diesem Hintergrund eine bewusst gewählte Symbolhandlung, aber auch unabdingbar. Denn dieser Standort ermöglichte dem BMG über seine in West-Berlin ansässige Abteilung II nicht nur eine direkte Verbindung zu den dortigen antikommunistischen Organisationen, sondern auch einen Zugang zu Ost-Berlin und zur DDR. Beide Kontaktwege waren bedeutsam für den Erhalt von Informationen sowie einschlägigem Material und das Hineinwirken in den kommunistischen Machtbereich. Das BMG hatte über wirtschaftliche und politische Entwicklungen in der DDR, den staatlichen Unterdrückungsapparat und die Propagandakampagnen des SED-Regimes zu informieren. Daher sammelte es alle verfügbaren Informationen, wertete diese systematisch aus und veröffentlichte sie mitunter – so auch bei den Entführungsfällen: Nach der aufsehenerregenden Entführung des Rechtsanwalts Walter Linse veranlasste das BMG, dass im gesamten Bundesgebiet Plakate geklebt wurden, welche die Bevölkerung über den Vorfall unterrichteten.803 Dem Kanzleramt unterstellt, informierte das BMG die Bundesregierung und den Bundestag über den staatlich organisierten Menschenraub des SEDRegimes. Beispielsweise setzte der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser (CDU) noch am Tag der gewaltsamen Entführung des Rechtsanwalts und UFJ-Mitarbeiters Walter Linse im Juli 1952 den Bundeskanzler Konrad Adenauer über die bisherigen Informationen in Kenntnis – in der richtigen Annahme, dass dieses Ereignis in der Bundestagsdebatte am nächsten Tag aufgegriffen wurde.804 Im Rahmen einer großen Anfrage Ende Mai 1956 über die Entwicklungen in der DDR und die Möglichkeiten engerer Verbindungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands erstattete Jakob Kaiser selbst im Bundestag Bericht. Im Zusammenhang mit der Lage in Berlin hatte Willy Brandt als Vertreter der SPD auch eine Auskunft der Bundesregierung über die Zahl der Entführungsfälle in jüngster Zeit gefordert. Kaisers Auskunft fiel allerdings mit dem Hinweis auf drei Gewaltentführungen und vier Entführungsversuche in den ersten sechs Monaten des Jahres 1956 nur sehr knapp aus. Zwei weitere Verschleppungen, die in dieser Zeit ebenfalls geschahen, nannte er nicht.805 Im Auftrag des Bundestages erarbeitete das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen 1953 sogar ein »Weißbuch über politischen Menschenraub«, das sich neben dem Entführungsfall Linse dem Gesamtphänomen seit 1945 unter Anführung weiterer Beispiele widmete. Die in dieser Publikation 803 Vgl. Vermerk zur Entführung Linse, 11.7.1952. BArch, B 141/12195, Bd. 8/1, Bl. 5 f. 804 Vgl. Mitteilung, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser an Bundeskanzler Konrad Adenauer, 8.7.1952. BArch, B 136/6539, o. Pag. In den folgenden Jahren setzte sich Adenauer wiederholt für Linses Ehefrau ein. Vgl. Kirsch: Walter Linse, S. 100–102. 805 Vgl. Protokoll der 146. Sitzung des 2. Deutschen Bundestages, 30.5.1956. PA-DBT 3001, 2. WP, S. 7697–7768, hier 7704, 7713.
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gezogenen Schlussfolgerungen finden in den heute zugänglichen MfS-Akten weitgehend Bestätigung. Die Entführungsaktionen des SED-Regimes seit 1949 geschahen, so eine Feststellung im »Weißbuch«, »nicht zufällig, beiläufig oder gelegentlich, sondern systematisch und institutionell«.806 Zur Verdeutlichung zeigte das »Weißbuch« bereits die ganze Bandbreite des staatlich organisierten Menschenraubs auf, indem es zwischen den Entführungen mit Gewalt (darunter auch die Übergriffe an der Sektorengrenze) und den Verschleppungen durch List differenzierte sowie auf die unterschiedlichen Akteure wie den DDR-Staatssicherheitsdienst, die Volkspolizei und sowjetischen Organe hinwies. Im Hinblick auf die Akteure wurde zudem die Strategie richtig erkannt: »Die Fälle, in denen Angehörige des SSD, der sowjetdeutschen Kriminal- oder Volkspolizei an geplanten Verschleppungen mitten aus Westberlin heraus teilnehmen, sind nicht sehr zahlreich. Das ist verständlich: Man setzt nicht gern seine Sicherheit aufs Spiel, wenn gedungene oder gezwungene Helfershelfer bereit sind, ihre Haut zu Markte zu tragen. Ausserdem wird man befürchten, dass mit der Verhaftung eines Angehörigen einer solchen sowjetdeutschen Organisation auf frischer Tat in Westberlin ein deutlicher Beweis für die eigentliche Urheberschaft der zahlreichen Verschleppungen gegeben wäre.«807
Zur Durchführung von gewaltsamen Entführungen verfüge der DDRStaatssicherheitsdienst im sowjetischen Auftrag über eigens zusammengestellte und entsprechend geschulte »Verbrecher-Banden«, die jederzeit einsatzbereit seien. Auch diese eher propagandistisch anmutende Feststellung trifft im Kern einen wesentlichen Aspekt der Rekrutierungspraxis des MfS, wie im Kapitel VI.5 dieser Studie veranschaulicht wird. Eher als Wunschdenken ist hingegen die Einschätzung einzustufen, dass die Entführungsaktionen aufgrund der Wachsamkeit der Westberliner Polizei und Bevölkerung oft im Stadium der Vorbereitung oder des Versuchs stecken bleiben würden.808 In den folgenden Jahren sollten noch viele Verschleppungen und Entführungen gelingen und die Fahndungsschwächen und -grenzen der bundesdeutschen Polizei offenbaren. Die geplante Veröffentlichung dieses »Weißbuches« hatte in der Bundesregierung für Diskussionen gesorgt. In einem Schreiben an den Staatssekretär des Bundeskanzleramtes meldete der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen im April 1953 die Fertigstellung des Manuskriptes von 410 Seiten, äußerte aber angesichts der großen Anzahl der genannten Namen und Aktenvorgänge starke Bedenken gegenüber einer Publikation. Denn eine solche würde mit 806 Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Weißbuch über Menschenraub. Fälle von sowjetischer und sowjetdeutscher Seite in der Bundesrepublik und Westberlin durchgeführter Verschleppungen. Bonn 1953. BArch, B 137/1064, o. Pag. 807 Ebenda. 808 Ebenda
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einer Gefährdung der erwähnten und zum größten Teil noch in West-Berlin lebenden Personen einhergehen. Die Alternative, die Namen wegzulassen, würde hingegen dem Material den dokumentarischen Wert nehmen.809 Der Bundesminister für Justiz teilte diese Besorgnis um eine erneute Gefährdung von Personen, insbesondere der Mitwirkenden in Menschenraubprozessen wie Richter, Staatsanwälte und Zeugen. Er stufte eine detaillierte Veröffentlichung sogar als »außerordentlich gefährlich« ein. Zudem befürchtete er, die öffentliche Bekanntgabe und damit verbundene Gefährdung von Zeugen könnte eine abschreckende Wirkung auf Belastungszeugen in zukünftigen Prozessen haben und dadurch deren Durchführung erheblich erschweren, wenn nicht unmöglich machen. In den Augen des Bundesjustizministers lauerte noch eine weitere Gefahr in der Veröffentlichung von Ermittlungsvorgängen: »Den Kräften, die hinter den Verbrechen des Menschenraubes stehen, würde hierdurch geradezu willkommenes Lehrmaterial für die Erfindung neuer Entführungsmethoden in die Hand gespielt.«810 Vor diesem Hintergrund plädierte er dafür, bei der Darstellung der Verschleppungs- und Entführungsfälle im Einzelnen nicht detailliert auf den Inhalt von Straf- und Ermittlungsakten einzugehen. In diesem Zusammenhang verzichtete er nicht auf den Hinweis, dass Material aus diesen Akten nur nach Zustimmung der zuständigen Justizbehörden veröffentlicht werden dürfe.811 Tatsächlich wurde das über 400 Seiten starke Manuskript des »Weißbuches« auf Anregung des Bundesministers der Justiz grundlegend überarbeitet. Die redigierte Version umfasste nur noch 72 Seiten und beinhaltete neben der ausführlichen Darstellung der Linse-Entführung bloß eine Auflistung weiterer bekannter Fälle von politischem Menschenraub.812 Die Bedenken gegen eine Veröffentlichung oder auch nur eine Übergabe an den Bundestag blieben jedoch bestehen und wuchsen sogar noch, wie der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen im August 1953 dem Bundestagspräsidenten mitteilte. Im Entführungsfall Linse war der Strafprozess gegen einen Tatbeteiligten noch nicht abgeschlossen, der im März 1953 verhaftet worden war. Eine Veröffentlichung der bisherigen Ermittlungsergebnisse hielt der Bundesminister daher für nicht vertretbar, da sie die Gefahr berge, dass sowjetische und DDR-Behörden Einblick in die Aufklärungsarbeit der Westberliner Ermittlungsbehörden erhalten und diese noch behindern könnten. Außerdem warnte er, dass sich der größte Teil der im »Weißbuch« erwähnten Entführungsopfer noch in den Händen des DDR-Staatssicherheitsdienstes oder des sowjetischen Geheimdienstes befinden würden. Diesen Entführten 809 Vgl. Mitteilung, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen an Staatssekretär im Bundeskanzleramt, 28.4.1953. BArch, B 136/6539, o. Pag. 810 Stellungnahme, Bundesminister für Justiz an Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, 11.5.1953. BArch, B 136/6539, o. Pag. 811 Vgl. ebenda. 812 Ein Exemplar der gekürzten Version des »Weißbuches« findet sich in: BArch, B 137/1063, o. Pag.
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könne die Publikation des »Weißbuches« schaden, da es Informationen über die Personen und Hintergründe ihrer Verschleppung liefere, die den östlichen Dienststellen mitunter noch gar nicht bekannt sein könnten. Deswegen bat der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen den Bundestagspräsidenten, von einer Vorlage oder gar Veröffentlichung des »Weißbuches« abzusehen. Diesem Vorschlag stimmte der Bundestagspräsident zu.813 Dieses »Weißbuch« veranschaulicht den recht hohen Kenntnisstand in wichtigen politischen Institutionen im Westen, die Debatte um seine Veröffentlichung verweist aber auch auf die Brisanz und Probleme im Umgang mit dem staatlich organisierten Menschenraub. Der Ost-West-Konflikt und die deutsch-deutschen Beziehungen gaben den Handlungsrahmen für den Einsatz zugunsten der Entführungsopfer vor. Dieses Engagement erfolgte nicht nur allgemein in Form von Aufklärungskampagnen usw., sondern auch durch konkrete Maßnahmen für einzelne Opfer, die zur Freilassung führen sollten. Als eine Art Rechtsvertretung für die Entführten und damit wichtige Anlaufstelle für die Angehörigen fungierte die Zentrale Rechtsschutzstelle (ZRS), die dem Auswärtigen Amt angegliedert war. Ursprünglich sollte sie angeklagten und verurteilten Kriegsgefangenen im Ausland rechtliche Hilfe leisten.814 Dieses Mandat wurde auf die Zivilisten, die in der direkten Nachkriegszeit in die Sowjetunion verschleppt worden waren, und die politischen Häftlingen in der DDR erweitert. Zu diesem Zweck unterhielt die Zentrale Rechtsschutzstelle in Bonn eine Zweigstelle in West-Berlin. Die Berliner Rechtsschutzstelle funktionierte im Prinzip wie eine Anwaltskanzlei, auch wenn die übliche Beratung und Vertretung der Mandanten unter den gegebenen Umständen oft nicht möglich war. Da die Rechtsschutzstelle eine enge Zusammenarbeit mit einer Vielzahl an Organisationen und staatlichen Stellen pflegte, war sie in vielen Fällen politischer Verhaftungen und Verurteilungen unterrichtet. Die dort tätigen Anwälte standen mit den Angehörigen sowie mit den Staatsanwaltschaften, die in den Entführungsfällen ermittelten, in Kontakt. Die zusammengetragenen Informationen gaben sie laufend an das Bundesministeri813 Vgl. Mitteilung, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen an Präsidenten des Deutschen Bundestages, 3.8.1953. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Vorlage für den Bundeskanzler über den Entführungsfall Linse, Bundeskanzleramt, 20.1.1955. Ebenda, o. Pag. 814 Die ZRS war im März 1950 aus der »Koordinierungsstelle zur Förderung des Rechtsschutzes für die deutschen Gefangenen im Ausland« beim Länderrat in Stuttgart hervorgegangen und zunächst beim Bundesjustizministerium angesiedelt. Unter Leitung von Hans Gawlik, der als Verteidiger an den Nürnberger Prozessen teilgenommen hatte, wurde die ZRS auch zur Interessenvertretung der in Deutschland inhaftierten Kriegsverbrecher. Vgl. Frei: Vergangenheitspolitik, S. 164, 181–184, 187 f. Massive Kritik an der ZRS entstand u. a. durch die Affäre »Warndienst West« 1968: Das Auswärtige Amt fahndete über den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes nach 800 Deutschen und Österreichern, um sie über ihre Verurteilung in Abwesenheit wegen Kriegsverbrechen durch französische Gerichte zu unterrichten und zu warnen. Vgl. Kriegsverbrecher. Ist benachrichtigt. In: Der Spiegel, Nr. 16/1968, S. 51–53.
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um für gesamtdeutsche Fragen weiter.815 Aufgrund ihrer eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten begann die Rechtsschutzstelle 1955 mit Zustimmung des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen, Rechtsanwälte in der DDR einzuschalten, um dort die Verteidigung der Entführten zu übernehmen und Gnadenverfahren zu betreuen.816 Diese DDR-Rechtsanwälte wurden bei dem Versuch, diesen Auftrag zu erfüllen, jedoch oft behindert. So hatte beispielsweise die Schwester des im April 1955 gewaltsam entführten Journalisten Karl Wilhelm Fricke einen in Ost-Berlin zugelassenen Rechtsanwalt mit der Verteidigung ihres Bruders beauftragt. Diesem gelang es zunächst auch, Informationen über den Stand des Verfahrens zu bekommen und diese nicht nur der Schwester Frickes, sondern auch der Rechtsschutzstelle mitzuteilen, die wiederum den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen informierte. In dem Hauptverfahren wurde er jedoch nicht als Verteidiger zugelassen, sodass Fricke mit dem ihm vom Gericht beigeordneten Offizialverteidiger Friedrich Wolff Vorlieb nehmen musste.817 Bereits bei der Suche nach einer Rechtsvertretung in der DDR konnten sich Schwierigkeiten ergeben. So meldete die Rechtsschutzstelle im Fall Robert Bialek an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, dass sich »auf Grund der Besonderheit dieses Falles« und den daraus resultierenden persönlichen Risiken keiner der infrage kommenden Rechtsanwälte in der DDR zu einer solchen Tätigkeit bereitgefunden hätte.818 Der ehemalige Volkspolizist und SED-Funktionär war im Februar 1956 gewaltsam unter Anwendung eines Betäubungsmittels aus West-Berlin entführt worden und seitdem spurlos verschwunden. Die staatlichen Stellen der DDR hüllten sich in Schweigen. Auf Anfrage der verzweifelten Ehefrau teilte die DDR-Generalstaatsanwaltschaft zunächst mit, dass sich Bialek in keiner Haftanstalt der DDR befinde, und forderte sie auf, nähere Angaben zu seiner angeblichen Entführung zu machen.819
815 Vgl. Unterlagen zur Rechtsschutzsache Robert Bialek vgl. BArch, B 137/31817. Zur Rechtsschutzstelle in West-Berlin vgl. Creuzberger: Kampf, S. 368. 816 Zu den ersten dieser Rechtsanwälte in der DDR gehörte Wolfgang Vogel, der später am Häftlingsfreikauf beteiligt war und in diesem Zusammenhang auf den Mitarbeiter der Westberliner Rechtschutzstelle Jürgen Stange traf. Vgl. Ludwig A. Rehlinger: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963–1989. Berlin 1991, S. 12 f.; Creuzberger: Kampf, S. 368. 817 Vgl. Bericht, Rechtsschutzstelle an BMG, 23.4.1955. BArch, B 137/31949, Bl. 8–11; Bericht, Rechtsschutzstelle an BMG, 11.6.1955. Ebenda, Bl. 13 f.; Aktennotiz, Rechtsschutzstelle, 18.8.1955. Ebenda, Bl. 18; Vermerk, Rechtsschutzstelle, 12.9.1955. Ebenda, Bl. 19; Aktenvermerk, Rechtsschutzstelle, 17.10.1955. Ebenda, Bl. 24; Bericht, Rechtsschutzstelle an BMG, 24.3.1956. Ebenda, Bl. 33–35; Vermerk, Rechtsschutzstelle, 21.8.1956. Ebenda, Bl. 58; Bericht, Rechtsschutzstelle an BMG, 19.11.1956. Ebenda, Bl. 64–66. 818 Schreiben, Rechtsanwalt Musiolik an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, 24.4.1958. BArch, B 137/31817, Bl. 75 f. 819 Vgl. Schreiben, Bialeks Ehefrau an Generalstaatsanwalt der DDR, 15.10.1956. BArch, B 137/31817, o. Pag.; Antwortschreiben, Generalstaatsanwalt der DDR an Bialeks Ehefrau,
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Minutiös schilderte sie in ihrem Antwortschreiben den Tatablauf und die Indizien, die keinen Zweifel an einer gewaltsamen Entführung zuließen. Sie berichtete auch über die telefonische Nachricht eines Angehörigen der Vollstreckungsorgane der DDR im Februar 1956, dass ihr Mann eine Woche nach seiner Entführung an den Folgen der Vergiftung verstorben sei.820 Dieser sowie weitere Briefe – auch an den DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck und den sowjetischen Stadtkommandanten – blieben unbeantwortet.821 Vor diesem Hintergrund sah die Rechtsschutzstelle in der Beauftragung eines in der DDR zugelassenen Rechtsanwalts die einzige, geringe Chance, Informationen über das Schicksal Bialeks zu erlangen. Doch diese Hoffnung wurde enttäuscht.822 Nähere Informationen über die Todesumstände von Robert Bialek in der DDR-Haft fehlen bis heute. Die Rechtsschutzstelle widmete sich der Vertretung von Entführungsopfern nicht immer mit derselben Intensität, wie ein Aktenvermerk zeigt: »Da die Rechtsschutzwürdigkeit K. ausserordentlich in Zweifel zu ziehen ist, ist von hier aus die Tätigkeit nicht intensiviert worden.«823 Die westlichen Ermittlungsbehörden hatten das Verschwinden von Hans Keller im Oktober 1956 nicht hinlänglich aufklären können, sodass noch der Verdacht einer Doppelagententätigkeit und eines freiwilligen Übertritts in die DDR bestand. Da es sich in den Augen der Rechtsschutzstelle um einen »bezahlten Agenten« einer amerikanischen Dienststelle und einen »charakterlich zumindest sehr zweifelhaft[en]« Mann handelte, der von ihm geworbene Agenten an das MfS ausgeliefert habe, entschied man sich, die Angelegenheit lediglich zu beobachten und den Angehörigen einen Rechtsanwalt in der DDR zu empfehlen.824 Jahre 22.11.1956. Ebenda, o. Pag. Diese Briefe finden sich auch in den MfS-Unterlagen. Vgl. BStU, MfS, AOP 249/56, Bd. 3, S. 370, 372. 820 Vgl. Schreiben, Bialeks Ehefrau an Generalstaatsanwalt der DDR, 30.11.1956. BArch, B 137/31817, o. Pag. Dieser Brief findet sich auch in den MfS-Unterlagen.Vgl. BStU, MfS, AOP 249/56, Bd. 3, S. 373–378. 821 Vgl. Schreiben, Bialeks Ehefrau an Generalstaatsanwalt der DDR, 25.11.1957. BArch, B 137/31817, o. Pag.; Schreiben, Bialeks Ehefrau an DDR-Präsident Wilhelm Pieck, 8.3.1956. Ebenda, o. Pag.; Schreiben, Bialeks Ehefrau an Justiz- und Rechtsausschuss der Volkskammer der DDR, 23.11.1957. Ebenda, o. Pag.; Schreiben, Bialeks Ehefrau an Hermann Matern als ZK-Mitglied, 23.11.1957. Ebenda, o. Pag. 822 Vgl. Schreiben, Rechtsschutzstelle an BMG, 6.12.1957. BArch, B 137/31817, Bl. 59–66. Das BMG stimmte einer Beauftragung eines DDR-Rechtsanwalts zu. Vgl. Schreiben, BMG an Rechtsschutzstelle, 18.1.1958. Ebenda, Bl. 69. Schreiben, Rechtsschutzstelle an Bialeks Ehefrau, 5.8.1958. Ebenda, Bl. 86. 823 Vgl. Aktenvermerk, Rechtsschutzstelle, 30.9.1957. BArch, B 137/32151, Bl. 16. 824 Aktenvermerk, Rechtsschutzstelle, 20.1.1958. BArch, B 137/32151, Bl. 20; vgl. Mitteilung, Rechtsschutzstelle an Büro für gesamtberliner Fragen, 20.6.1958. Ebenda, Bl. 37. In der Auseinandersetzung über eine finanzielle Hilfeleistung zur Bezahlung des Anwalts in der DDR empfahl ein Mitarbeiter der Rechtsschutzstelle einem ungehaltenen Angehörigen, doch die Amerikaner als ehemalige Auftraggeber von Hans Keller um Unterstützung zu bitten. Eine Kostenerstattung wurde aufgrund mangelnder Rechtsschutzwürdigkeit abgelehnt. Vgl. Aktenvermerk, Rechtsschutzstelle, 13.5.1958.
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später wurde im Westen bekannt, dass der Hans Keller zur Last gelegte Verrat von seiner Schwester begangen worden war, die 1963 vor dem Bundesgerichtshof verurteilt wurde. Im September 1964 wurde Hans Keller aus seiner lebenslangen Zuchthausstrafe in der DDR freigekauft.825 Als rechtsschutzunwürdig galt auch der Ende November 1954 entführte Otto Krüger, da er nicht nur ein ehemaliger SED-Funktionär war, sondern »für eine ganze Reihe von westl. Nachrichtenorganisationen gearbeitet und infolgedessen seine Verhaftung und Verurteilung zu vertreten« habe. Die Berliner Rechtsschutzstelle entschied sich zunächst, den Fall Otto Krüger zu beobachten, doch im August 1958 schloss sie ihn nach Rücksprache mit dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen ab.826 Als sich das Deutsche Rote Kreuz sechs Jahre später nach den Gründen der Rechtsschutzunwürdigkeit erkundigte, gab die Berliner Rechtsschutzstelle Auskunft, dass sich Otto Krüger gemäß den geführten Ermittlungen nicht in DDR-Haft befinden könne. Ferner würden umfangreiche Verdachtsmomente vorliegen, die Otto Krüger aus westlicher Sicht politisch erheblich belasten würden.827 Zu diesem Zeitpunkt befand sich Otto Krüger schon seit fast zehn Jahren in DDR-Haft, aus der er fünf Jahre später im November 1969 freigekauft wurde. Die Rechtsschutzstelle hatte Mitte der 1960er Jahre rund 12 000 politische Häftlinge in der DDR registriert und führte zu jedem einzelnen eine Akte, welche die persönlichen Daten sowie alle verfügbaren Angaben über Verurteilung, Strafmaß und Haftort und den Schriftwechsel mit Angehörigen, Organisationen und bundesdeutschen Stellen beinhaltete.828 Im Fall der Entführungsopfer enthielten die Akten der Rechtsschutzstelle mitunter auch die Berichte der bundesdeutschen Ermittlungsbehörden. Es war dem MfS gelungen, Zugriff auf diese sensiblen Unterlagen zu bekommen, denn diese finden sich zum Teil in den MfS-Akten wieder. Das »Leck« verortet Wolfgang Buschfort in der Kanzlei des Westberliner Rechtsanwalts und Leiters der Rechtsschutzstelle Werner Commichau. Aus dessen Kanzlei seien die Unterlagen der
Ebenda, Bl. 23; Aktenvermerk, Rechtsschutzstelle, 11.6.1958. Ebenda, Bl. 34; Mitteilung, Rechtsschutzstelle an Angehörige, 20.6.1958. Ebenda, Bl. 36; Aktenvermerk, Rechtsschutzstelle, 15.7.1958. Ebenda, Bl. 40; Aktenvermerk, Büro für gesamtberliner Fragen, 15.7.1958. Ebenda, Bl. 42. 825 Vgl. Neun Jahre Zuchthaus für führende Agentin des SSD. In: Tagesspiegel, 19.11.1963; Sühne für Bruderverrat. In: Telegraf, 19.11.1963; Sühne für gewissenlosen Verrat. In: Die Welt, 19.11.1963; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1202. 826 Vermerk, Rechtsschutzstelle, 19.9.1957. BArch, B 137/31872, Bl. 14; Mitteilung, Rechtsschutzstelle an BMG, 25.9.1957. Ebenda, Bl. 15 f.; Vermerk, Rechtsschutzstelle, 15.11.1957. Ebenda, Bl. 22; Bericht, Rechtsschutzstelle an BMG, 30.7.1958. Ebenda, Bl. 42; Mitteilung, BMG an Rechtsschutzstelle, 12.8.1958. Ebenda, Bl. 45. 827 Mitteilung, Rechtsschutzstelle an DRK-Suchdienst Hamburg, 20.6.1964. BArch, B 137/31872, Bl. 50; Anfrage, DRK-Suchdienst an Rechtsschutzstelle, 21.5.1964. Ebenda, Bl. 49. 828 Vgl. Rehlinger: Freikauf, S. 23.
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Westberliner Staatsanwaltschaft zum Fall Bialek an das MfS gelangt.829 Auch Karl Wilhelm Fricke vermutet einen IM in dem fraglichen Rechtsanwaltbüro, der in seinem Fall die dortige Korrespondenz an das MfS weitergab.830 Tatsächlich enthalten die MfS-Akten zu einigen anderen Entführungsopfern ebenfalls Unterlagen aus deren Rechtsschutzverfahren und damit auch aus den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten. Dies ist beispielsweise der Fall bei dem im August 1954 entführten und im Juli 1955 hingerichteten Verfassungsschutz-Mitarbeiter Karl-Albrecht Tiemann, dem im November 1955 gewaltsam entführten Manfred Richter oder dem ZOPE-Mitarbeiter Heinrich Berger, der im Dezember 1956 Opfer einer gewaltsamen MfS-Entführungsaktion geworden war.831 Im Juli 1980 archivierte das MfS diese Unterlagen, zusammengefasst in einem Aktenvorgang je Person, in seiner »Allgemeinen Personenablage«, wie die fortlaufenden Archivsignaturen erkennen lassen. Die Archivierung begründete die Hauptabteilung II/2 stets gleichlautend: »Die genannte Person wurde durch inoffizielle Erkenntnisse aus dem Operationsgebiet bekannt. Im zurückliegenden Bearbeitungsprozeß konnten keine Angaben erarbeitet werden, die eine entsprechende feindliche Tätigkeit bestätigen.«832 Offensichtlich eine Standardformulierung, die angesichts der Verschleppung bzw. Entführung und Verurteilung der Opfer zu oft jahrelanger Haft wegen ihrer angeblichen Feindtätigkeit zynisch anmutet. Im Jahr 1980 waren die Unterlagen aus den bundesdeutschen Rechtsschutzverfahren allerdings nicht mehr von aktueller »operativer Bedeutung« für das MfS, sodass sie im Archiv abgelegt wurden. Auch im Fall des im August 1954 entführten Rudolf Graf war das MfS im Besitz der bundesrepublikanischen Rechtsschutz-Unterlagen, die einen Einblick in den Handlungsraum und die Schwierigkeiten der bundesdeutschen Akteure geben. Ein Mithäftling wandte sich nach der eigenen Haftentlassung an verschiedene Stellen in der Bundesrepublik, um Grafs Freilassung zu erwirken. Ausführlich berichtete er gleich nach seiner Ankunft im Notaufnahmelager Marienfelde über Graf und dessen Entführung unter Einsatz von Betäubungsmitteln. Im Auftrag Grafs informierte er umgehend die Westberliner Polizei, wo er erfuhr, dass bereits mehrere entlassene Bautzen-Häftlinge Angaben über Graf gemacht hatten. Er benachrichtigte den Suchdienst des Deut829 Vgl. Buschfort: Parteien, S. 180. Zum Fall Bialek finden sich Unterlagen der Westberliner Polizei sowie Korrespondenz der Rechtsschutzstelle u. a. in: BStU, MfS, AP 21859/80. 830 Vgl. »Ich wollte die Sprache derer sprechen, die zum Schweigen verurteilt waren.« Interview von Ilko-Sascha Kowalczuk mit Karl Wilhelm Fricke. In: Karl Wilhelm Fricke: Der Wahrheit verpflichtet. Berlin 22000, S. 13–115, hier 78. Siehe BStU, MfS, AP 21892/80. 831 Vgl. BStU, MfS, AP 21783/80; ebenda, AP 21835/80; ebenda, AP 21774/80. 832 Vgl. bspw. Abverfügung zur Archivierung, HA II/2, 14.7.1980. BStU, MfS, AP 21774/80, S. 43; Abverfügung zur Archivierung, HA II/2, 14.7.1980. Ebenda, AP 21783/80, S. 28; Abverfügung zur Archivierung, HA II/2, 14.7.1980. Ebenda, AP 21878/80, S. 114; Abverfügung zur Archivierung, HA II/2, 14.7.1980. Ebenda, AP 21859/80, S. 61.
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schen Roten Kreuzes, setzte sich mit dem UFJ sowie dem evangelischen Bischof Otto Dibelius in West-Berlin in Verbindung und sorgte sogar für ein Interview im RIAS.833 In seiner Sorge um seinen Mithäftling, dessen Leben er stark gefährdet sah, wandte er sich auch an den Bundeskanzler Konrad Adenauer. Eine Antwort erhielt er vom BMG, wo er im Frühjahr 1957 über den mangelnden Erfolg seiner Initiativen klagte: »Ja, sind wir denn wirklich so machtlos? Schutzlos? Ich bin bitter enttäuscht, denn ich glaube nicht, daß Herr G. mit seinem Alter und dem Zustand das alles noch lange aushält.«834 Das BMG verwies ihn an den Westberliner Rechtsanwalt Commichau, der mit dem Rechtsschutz Grafs betraut war. Dieser war im Juni 1956 – zwei Jahre nach Grafs Entführung – vom Polizeipräsidenten in West-Berlin über die Ermittlungen wegen Verdachts einer Entführung in Kenntnis gesetzt worden und erstattete dem BMG entsprechend Bericht. Er vermerkte, dass die Rechtsschutztätigkeit noch nicht aufgenommen werden könne, da er keine Verbindung zu Grafs Angehörigen habe.835 Dem engagierten ehemaligen Mithäftling ließ er schließlich eine ausführliche Stellungnahme zukommen, die offenbart, mit welchen Schwierigkeiten der Einsatz für die Entführungsopfer verbunden war und an welche Grenzen bundesdeutsche Institutionen dabei stießen: Sowjetische Stellen in dieser Angelegenheit anzusprechen, hielt der Rechtsanwalt für sinnlos, da diese nur darauf hinweisen würden, dass es sich um eine Angelegenheit der souveränen DDR handele. Eine formale Intervention der Bundesregierung zugunsten eines einzelnen Häftlings sei nicht möglich und nicht angebracht, da diese keine Beziehungen zur DDR-Regierung unterhalte. In dieser Hinsicht sei nur auf weitere Entlassungsaktionen zu hoffen, welche die Bundesregierung mit ihren permanenten Forderungen nach Freilassung aller politischen Häftlinge bereits ausgelöst habe. Als aussichtslos wertete er die Möglichkeit, mithilfe von Presse und Rundfunk die Öffentlichkeit zu mobilisieren und die DDR-Regierung dadurch unter Druck zu setzen. Zwar würden auf diesem Wege erneut die unmenschlichen Verfolgungsmaßnahmen des SED-Regimes öffentlich gebrandmarkt, aber für Graf eher Haftverschärfungen als eine Freilassung herbeigeführt werden. Der Rechtsanwalt sah außerdem 833 Vgl. Bericht, ehem. Mithälftling im Notaufnahmelager Marienfelde, 9.8.1956. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 131/95, Bd. 2, Bl. 46–52; Protokoll Vernehmung, LKA NRW, 22.7.1958. Ebenda, Bl. 163–168; Schreiben, ehem. Mithäftling an UFJ, 17.1.1957. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Schreiben, ehem. Mithäftling an Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, 3.3.1957. BArch, B 137/31970, Bl. 33 f. 834 Schreiben, ehem. Mithäftling an BMG, 3.3.1957. BArch, B 137/31970, Bl. 33 f. 835 Vgl. Mitteilung, Polizeipräsident in Berlin Abt. I an Rechtsanwalt Commichau, 28.6.1956. BArch, B 137/31970, Bl. 1; Bericht, Rechtsanwalt Commichau an BMG und Zentrale Rechtsschutzstelle, 5.9.1956. Ebenda Bl. 6–8; Vermerk, 19.11.1956. Ebenda, Bl. 22; Schreiben, BMG an ehem. Mithäftling, 25.3.1957. Ebenda, Bl. 32; Schreiben, ehem. Mithäftling an Rechtsanwalt Commichau, 31.12.1956. BStU, MfS, AP 21878/80, Bd. 1, S. 25, 28; Vermerk, Rechtsanwalt Commichau, 11.4.1957. Ebenda, S. 32 f.
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kaum Chancen, Ansprüche im Rahmen der DDR-Strafprozessordnung geltend zu machen. Die völlige Isolierung Grafs deute darauf hin, dass das SEDRegime ein besonderes Interesse habe, dessen Hintergrund erst geklärt werden müsse. Generell bestehe erst Aussicht auf eine Haftentlassung, wenn über die Hälfte der verhängten Strafe verbüßt worden sei.836 In Reaktion auf diese Einschätzung lieferte Grafs ehemaliger Mithäftling weitere Informationen und bot an, den Kontakt zwischen dem Rechtsanwalt und Grafs Ehefrau herzustellen. Da diese in der DDR lebte, mahnte der Rechtsanwalt zur großen Vorsicht, so dürfe er in seinem Brief an die Ehefrau zum Beispiel nicht den Namen des Rechtsanwalts nennen. Die Kontaktherstellung gelang, es kam sogar zur persönlichen Begegnung.837 Auf diesem Wege erhielt der Westberliner Rechtsschutz-Vertreter die Nachricht über ein schwebendes Gnadenverfahren mit dem Ziel einer Herabsetzung der Strafe, dass der Bezirksstaatsanwalt in Dresden initiiert hatte. Die Hoffnung auf eine unerwartete Chance, eine vorzeitige Haftentlassung erwirken zu können, keimte auf, wurde aber im Januar 1958 mit der Nachricht über die Ablehnung dieses Gnadengesuchs zerschlagen. In den Augen des Rechtsschutz-Vertreters in West-Berlin bot sich erst nach Ablauf der Hälfte des Strafmaßes im August desselben Jahres eine neue Perspektive.838 Die Mitteilung eines weiteren zurückgekehrten Mithäftlings über den schlechten Zustand Grafs in der Isolationshaft im Zuchthaus Bautzen im Mai 1958 dürfte ihm die Dringlichkeit vor Augen geführt haben.839 Im August reichte der Westberliner Rechtsanwalt ein Gesuch auf bedingte Strafaussetzung ein, das jedoch umgehend abgewiesen wurde. Der inhaftierte Rudolf Graf hatte seine in der DDR lebende Ehefrau gebeten, von derartigen Gnadengesuchen abzusehen, da er die Wiederaufnahme seines Verfahrens in der Hoffnung erstrebte, seine Unschuld beweisen zu können. Sie ließ sich aber durch den Rechtsschutz-Vertreter von der absehbaren Wirkungslosigkeit dieser Strategie überzeugen und reichte ebenfalls Gesuche um vorzeitige Haftentlassung ein, die aber abschlägig beschieden wurden. Währenddes836 Vgl. Schreiben, Rechtsanwalt Commichau an ehem. Mithäftling, 18.5.1957. BStU, MfS, AP 21878/80, Bd. 1, S. 34–39. Die Aussichtslosigkeit des Versuchs, Grafs Freilassung durch eine Pressekampagne zu erwirken, teilte auch der UFJ. Vgl. Schreiben, UFJ an ehem. Mithäftling, 28.1.1957. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag. 837 Vgl. Schreiben, ehem. Mithäftling an Rechtsanwalt Commichau, 28.5.1957. BStU, MfS, AP 21878/80, Bd. 1, S. 41 f.; Schreiben, Rechtsanwalt Commichau an ehem. Mithäftling, 14.6.1957. Ebenda, S. 43 f.; Schreiben, ehem. Mithäftling an Rechtsanwalt Commichau, 17.6.1957. Ebenda, S. 45–47; Mitteilung, Rechtsanwalt Commichau an ehem. Mithäftling, 27.6.1957. Ebenda, S. 49 f. 838 Vgl. Mitteilung, Rechtsanwalt Commichau an ehem. Mithäftling, 27.6.1957. BStU, MfS, AP 21878/80, Bd. 1, S. 49 f.; Mitteilung, Rechtsanwalt Commichau an BMG, 27.6.1957. Ebenda, S. 51 f.; Mitteilung, Rechtsanwalt an BMG, 22.7.1957. BArch, B 137/31970, Bl. 58; Aktenvermerk, Rechtsanwalt, 4.2.1958. Ebenda, Bl. 60. 839 Vgl. Schreiben, VOS an Rechtsanwalt Musiolik, 8.5.1958. BArch, B 137/31970, Bl. 63; Postkarte, ehem. Mithäftling an Rechtsanwalt Musiolik, 16.5.1958. Ebenda, Bl. 64; Antwortschreiben, Rechtsanwalt Musiolik an ehem. Mithäftling, 2.6.1958. Ebenda, Bl. 69.
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sen verschlechterte sich der Gesundheitszustand Grafs immer weiter: Er erlitt einen Schlaganfall, der zu einer linksseitigen Lähmung führte.840 Im April 1960 verstarb Rudolf Graf in DDR-Haft. Der Rechtsschutz-Vertreter in WestBerlin erhielt ein halbes Jahr später die Todesnachricht und informierte das BMG über den Abschluss der Rechtsschutztätigkeit im Fall Graf.841 Informationen über Entführungsopfer bezogen die politischen Stellen wie das BMG u. a. von antikommunistischen Organisationen wie dem UFJ und Institutionen wie dem Deutschen Roten Kreuz. Letzteres verfügte über einen Suchdienst, der zur Aufklärung des Schicksals von Verschollenen des Zweiten Weltkriegs gegründet worden war.842 Bereits in den frühen 1950er Jahren wandten sich auch Angehörige von Gefangenen der Speziallager des sowjetischen NKWD an diese Stelle. Wie groß der Informationsbedarf war, lässt sich anhand der Zahl der NKWD-Gefangenen erahnen: Etwa 189 000 Zivilisten wurden zwischen 1945 und 1950 in NKWD-Lagern interniert, etwa ein Drittel von ihnen überlebte die Haft nicht. Ihre Angehörigen erhielten jedoch keine Todesnachricht. Nach der Auflösung der NKWD-Lager wurden rund 45 000 Inhaftierte entlassen, 14 200 wurden an die DDR übergeben und rund 20 000 in die Sowjetunion gebracht. Die Möglichkeiten, diese Schicksale aufzuklären, waren infolge der deutschen Teilung verschwindend gering. Das änderte sich erst 1992, als der Suchdienst Zugang zu den NKWD-Akten in Moskau erhielt. In den 1950er Jahren waren zurückgekehrte Häftlinge und Augenzeugen die wichtigste und oft einzige Informationsquelle. Zudem erhielt der Suchdienst in München Mitte der 1950er Jahre von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit eine 900 000 Karten umfassende Kartei, in der sie Informationen über Verschwundene zusammengetragen hatte.843 Eine wichtige Informationsquelle für den Suchdienst und die antikommunistischen Organisationen bei der Suche nach Entführungsopfern waren Be840 Vgl. Vermerk, 19.2.1959. BArch, B 137/31970, Bl. 73; Mitteilung zur Rechtsschutzsache, Rechtsanwalt Musiolik an ehem. Mithäftling, 23.2.1959. Ebenda, Bl. 75; Mitteilung zur Rechtsschutzsache, Ehefrau an Rechtsanwalt Musiolik, 19.2.1960. Ebenda, Bl. 82. Im Oktober 1959 informierte erneut ein entlassener Mithäftling über Grafs schlechten Gesundheitszustand. Vgl. Schreiben, ehem. Mithäftling an Rechtsanwalt Musiolik, 19.10.1959. Ebenda, Bl. 77 f. 841 Vgl. Mitteilung, Ehefrau an Rechtsanwalt Musiolik, 21.10.1960. BArch, B 137/31970, Bl. 83; Mitteilung, Rechtsanwalt Musiolik an BMG, 27.10.1960. Ebenda, Bl. 84. Die Todesumstände Grafs sind nicht geklärt, eventuell starb er nach dem gewaltsamen Übergriff eines Wachmanns. Vgl. Bericht über ungeklärte Verschleppungsfälle, Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben an Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, 25.10.1972. Ebenda, Bl. 88– 90, hier 89; Anfrage, Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen an Rechtsanwälte, 4.12.1972. Ebenda, Bl. 87. 842 Vgl. Klaus Mittermaier: Vermißt wird … Die Arbeit des deutschen Suchdienstes. Berlin 2002; Hansjörg Kalcyk, Hans-Joachim Westholt: Suchdienst-Kartei. Millionen Schicksale in der Nachkriegszeit. Bonn 1996. Eine wissenschaftliche Studie zum Suchdienst fehlt bislang. 843 Vgl. Mittermaier: Vermißt, S. 101–109; Greiner: Verdrängter Terror, S. 10–15, 343–368; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 27–31; Naimark: Moskaus Suche, S. 43.
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richte entlassener DDR-Häftlinge. Den Wahrheitsgehalt dieser Mitteilungen einzuschätzen, dürfte oft schwierig gewesen sein. Exemplarisch veranschaulicht dies der Entführungsfall Linse. Der Tatablauf der gewaltsamen Entführung des UFJ-Mitarbeiters im Juli 1952 konnte weitreichend aufgeklärt werden. Aber trotz intensiver Bemühungen auf politischer Ebene fehlten Kenntnisse über seinen Verbleib. Zwar bekam der UFJ zahlreiche Hinweise durch DDRFlüchtlinge und entlassene DDR-Häftlinge.844 Oftmals beurteilten UFJMitarbeiter die erhaltenen Informationen jedoch mit Vermerken wie »sehr zweifelhafte Angaben des wenig zuverlässig erscheinenden Besuchers«.845 Im UFJ war man sich bewusst, dass die Aussicht auf Vorteile im Notaufnahmeverfahren und finanzielle Belohnungen durchaus zur Ablieferung von falschen Informationen führte. Vor diesem Hintergrund wurden Spuren nicht verfolgt, die sich aus heutiger Sicht bewahrheitet haben: Im Oktober 1954 berichtete ein aus der Sowjetunion zurückgekehrter Häftling dem UFJ, 1953 im Moskauer Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes »Lubjanka« mit Linse per Klopfzeichen in Verbindung gestanden zu haben, und gab genaue Angaben über die Lage von Linses Zelle. Da seine finanziellen Interessen nicht zu übersehen waren, bewertete man im UFJ seine Glaubwürdigkeit jedoch als gering.846 Anderen entlassenen DDR-Häftlingen, die sich als Mithäftlinge Linses identifizierten, schenkte man hingegen mehr Vertrauen und gelangte auf diese Weise an Informationen über Linses Haftbedingungen in Hohenschönhausen und Karlshorst.847 Allerdings folgte der UFJ auch falschen Spuren: Im Januar 1953 tauchte ein Mann aus Schwerin auf, der über einen Bekannten berichtete, der gelegentlich in der Schweriner »SSD-Haftanstalt« arbeitete und dort über Klopfzeichen Kontakt mit einem Inhaftierten aufgenommen hatte. Der Inhaftierte hatte ihn gebeten, eine Meldung an den UFJ zu vermitteln. Da es keine Möglichkeit gebe, Papier und Bleistift in die verschlossene Zelle zu bekommen, wollte der Besucher nun einen ihm bekannten Wachtmeister darum bitten. Der UFJ nahm dieses Angebot an und beauftragte ihn, dem Inhaftier-
844 Vgl. Vermerk, UFJ, 8.8.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 30.7.1952. Ebenda, o. Pag.; Vermerk, UFJ, 26.8.1952. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 13.10.1952. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 18.12.1952. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 5.1.1953. BArch, B 209/1201, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 18.2.1953. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 5.10.1953. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 30.12.1953. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 24.6.1954. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 22.10.1955. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 20.12.1955. Ebenda, Einzelfallakte, o. Pag. 845 Besuchervermerk, UFJ, 30.7.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag. 846 Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 19.10.1954. BArch, B 209/1201, o. Pag. 847 Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 12.11.1955. BArch, B 209/1201, o. Pag.; Schreiben, ehem. Mithäftling an UFJ, 26.2.1956. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 5.11.1956. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 4.10.1958. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 17.9.1964. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 22.12.1955. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 22.3.1956. Ebenda, Einzelfallakte, o. Pag.
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ten durch den Wachtmeister bestimmte Fragen zur Beantwortung vorlegen zu lassen. Falls sich anhand der Antworten und der Handschrift die Identität Linses bestätigte, wollte der UFJ mithilfe des Wachtmeisters Linse eine Flucht ermöglichen.848 Drei Jahre nach der Entführung meldete sich das Deutsche Rote Kreuz bei Linses Ehefrau mit der Nachricht, ihr Mann sei nach Angaben eines entlassenen Häftlings im Dezember 1954 nach einem Hungerstreik in Waldheim verstorben. Das Deutsche Rote Kreuz stufte die Meldung als wahr ein, der UFJ äußerte hingegen große Skepsis, da es keinen Hinweis auf Linses Aufenthalt in einer DDR-Haftanstalt gegeben habe.849 Der UFJ verfolgte die Spur dennoch und machte den Häftlingsarzt ausfindig, auf den die Nachricht laut Aussage des entlassenen Häftlings zurückging und der inzwischen ebenfalls aus der Haftanstalt Waldheim entlassen worden war. Er gab jedoch an, weder Linse in einer Haftanstalt begegnet zu sein, noch eine Aussage über seinen Tod gemacht zu haben. Daraufhin schickte der UFJ eine entsprechende Mitteilung an den DRK-Suchdienst in Hamburg.850 Walter Linse war zu diesem Zeitpunkt bereits über zwei Jahre tot, er wurde im Dezember 1953 in Moskau erschossen. Das korrekte Todesdatum teilte das Sowjetische Rote Kreuz – auf Initiative des Deutschen Roten Kreuzes851 – im Mai 1960 mit, dementierte diese Meldung vier Monate später allerdings und bezeichnete sie als Fehler eines Sachbearbeiters. Der nun wiederholten Behauptung sowjetischer Stellen, keine Kenntnis über den Verbleib Linses zu haben, schenkte man im Westen zwar keinen Glauben. Zumal eindeutige Zeugenaussagen keinen Zweifel ließen, dass Linse im Dezember 1952 in sowjetische Haft übergeben worden war. Sein genaues Schicksal blieb jedoch trotz aller Bemühungen – auch des Deutschen Roten Kreuzes – im Ungewissen. Im Dezember 1962 stellte das Amtsgericht Berlin-Lichterfelde Linses Tod amtlich fest.852 848 Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 14.1.1953. BArch, B 209/1201, o. Pag. 849 Vgl. Besuchervermerk Ehefrau von Dr. Walter Linse, UFJ, 18.12.1955. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Vermerk, UFJ, 16.12.1955. Ebenda, o. Pag. 850 Vgl. Mitteilung, UFJ an DRK Suchdienst Hamburg, 7.2.1956. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag. 851 Der Präsident des DRK Waitz konnte bei einer Moskau-Reise diese Auskunftserteilung erreichen. Vgl. Mitteilung, UFJ Beratungsstelle Frankfurt/M. an UFJ-Leiter Walther Rosenthal, 1.6.1960. BArch, B 209/1204, o. Pag. 852 Vgl. Mitteilung, UFJ Beratungsstelle Frankfurt/M. an UFJ-Leiter Walther Rosenthal, 1.6.1960. BArch, B 209/1204, o. Pag.; Mitteilung, UFJ, 10.6.1960. Ebenda, o. Pag.; Situationsbericht, UFJ, 8.6.1960. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Schreiben, Leiter des Suchdienstes der Verwaltung Auswärtiger Beziehungen des Exekutivkomitees der UdSSR, 19.7.1960. Gedruckt in: BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 167 f.; Mitteilung, UFJ an Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, 12.9.1960. BArch, B 137/1063, o. Pag.; Antwortschreiben, Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen Abt. I.4 an UFJ, 30.9.1960. Ebenda, o. Pag.; Interne Mitteilung, Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, 22.10.1953. Ebenda, o. Pag.; Auskunft nach Anfrage eines Bürgers, UFJ, 4.4.1962. BArch, B 209/1201, o. Pag.; Auskunft nach Anfrage eines Rundfunkkommentators, UFJ,
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Dieses Beispiel verdeutlicht wiederum den wichtigen Stellenwert antikommunistischer Organisationen in West-Berlin als Informationslieferanten für Angehörige, aber auch für staatliche Stellen. Als Anlaufpunkt für entlassene DDR-Häftlinge erhielten sie oft Angaben über den Haftort und die Haftbedingungen von Entführungsopfern. Zu nennen wäre beispielsweise auch die Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS), die im Februar 1950 von ehemaligen Häftlingen aus der SBZ/DDR mit den Zielen gegründet wurde, Hilfestellung bei der Befreiung von Inhaftierten zu bieten, Entlassene zu beraten und das Unrecht des SED-Regimes zu dokumentieren. Sie war bundesweit organisiert und erfreute sich einer hohen Breitenwirkung – in den Augen des MfS gehörte sie nicht zuletzt aus diesem Grund zu den wichtigsten »Feindzentralen«.853 Eine übergeordnete Rolle spielte aber der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ), der seit Mai 1950 eng mit dem BMG zusammenarbeitete, das eine Vielzahl seiner Informationen über Entführungsfälle vom UFJ bezogen haben dürfte. Der UFJ sammelte Informationen über die Justiz, aber auch über die Wirtschaft und die soziale Lage in der DDR, und dokumentierte Fälle von Unrechtsjustiz, darunter auch Entführungsfälle. Dabei profitierte der UFJ, der von aus der SBZ/DDR geflohenen Juristen gegründet worden war, von den Kontakten seiner Mitarbeiter zu Gerichten, Verwaltungen und Ministerien in der DDR.854 Zudem bekam er als Anlaufpunkt für Rückkehrer aus der DDR-Haft immer wieder Hinweise über den Verbleib von Entführungsopfern. Zum einen meldeten sich diese nach ihrer Haftentlassung beim UFJ und berichteten über ihre Verschleppung oder Entführung sowie ihre Haftzeit in der DDR.855 Zum anderen konnten zurückgekehrte Häftlinge (darunter auch Entführungsopfer) Angaben über Entführungsopfer machen, wenn sie von solchen in den DDR-Haftanstalten gehört hatten oder ihnen sogar begegnet waren. Der UFJ stellte den zurückgekehrten 15.10.1963. Ebenda, o. Pag.; Mitteilung, UFJ an BMG, 17.10.1953. Ebenda, o. Pag.; Pankow und der Menschenraub. Vor 10 Jahren wurde Dr. Linse entführt. In: Tagesspiegel, 7.7.1962; Tod Walter Linses amtlich festgestellt. In: Die Welt, 17.12.1962. 853 Vgl. Stöver: Befreiung, S. 282 f.; Thomas Schrapel: Vereinigung der Opfer des Stalinismus. In: Hans-Joachim Veen u. a. (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. München 2000, S. 363 f.; Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Revolution, S. 584. 854 Vgl. Hagemann: Drohung, S. 196–198; Mampel: Untergrundkampf, S. 3, 8, 11–13; ders.: Organisierte Kriminalität, S. 910 f.; Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 91. 855 Z. B.: Martin Römer, im Dezember 1950 an Sektorengrenze gelockt und überwältigt, Ende April 1956 aus DDR-Haft zurückgekehrt. Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 4.5.1956. BArch, B 209/1070, o. Pag.; Herbert Eigner, im August 1954 verschleppt und im August 1964 freigekauft. Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 25.8.1964. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Otto Krüger, im November 1954 entführt und 1969 freigekauft. Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 16.12.1969. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Manfred Richter, im November 1955 gewaltsam entführt und im September 1964 freigekauft. Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 2.10.1964. BArch, B 209/1069, o. Pag.; Elisabeth Pfeifer, im August 1961 nach Ost-Berlin gelockt und 1962 aus DDR-Haft entlassen. Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 27.8.1962. Ebenda, o. Pag.
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Entführungsopfern Haftbescheinigungen aus, die beispielsweise im Anerkennungsverfahren vorgelegt werden mussten, um Leistungen des Häftlingshilfegesetzes (HHG)856 in Anspruch nehmen zu können.857 Manche Aktenvermerke verdeutlichen, dass den UFJ-Mitarbeitern die Beurteilung der ihnen erstatteten Berichte zum Teil nicht leicht fiel. So notierte im Juli 1963 ein UFJMitarbeiter: »Bes. machte nicht unbedingt einen unglaubwürdigen Eindruck, obwohl an seiner Darstellung, insbesondere über die angebliche Verschleppung manche Zweifel bestehen. Andererseits war ein gewisser Nachweis für den politischen Charakter des Verfahrens erbracht, so daß ich ihm trotz einiger Bedenken die HB nicht verweigern konnte.«858
Aus viereinhalbjähriger DDR-Haft zurückgekehrt, hatte der Besucher berichtet, am 26. Dezember 1958 von einem Bekannten unter dem Vorwand, Gepäck abzuholen, in einen Zug am Bahnhof Zoo gelockt worden zu sein. In einem Abteil sei er dann von drei Männern überwältigt und mit der Bahn nach Ost-Berlin verschleppt worden.859 Zu den entlassenen Entführungsopfern, die Informationen über andere inhaftierte Entführungsopfer lieferten, gehörte beispielsweise der im März 1955 entführte Wilhelm van Ackern. Nach seinem Freikauf im September 1964 bevorzugte er den UFJ als Anlaufstelle, dem er mehr Vertrauen als der Polizei schenkte. So berichtete er dort ausführlich über seine gewaltsame Entführung und gab an, noch nicht bei der Polizei gewesen zu sein. Denn Mithäftlinge hätten ihm erzählt, dass der DDR-Staatssicherheitsdienst ihnen Kopien von Polizeiprotokollen aus West-Berlin vorgehalten habe.860 Der UFJ übersandte den detaillierten Bericht van Ackerns über seine Entführung an die Abteilung I des Westberliner Polizeipräsidenten.861 Van Ackern informierte den UFJ außerdem, dass sich der im Mai 1955 entführte Otto Schneider noch in der Haftanstalt Bautzen II befinde. Dieser fand dementsprechend auch Platz auf der Namensliste, die van Ackern einen Monat später dem UFJ überreichte 856 Das Häftlingshilfegesetz regelt seit 1955 Hilfsmaßnahmen für Personen, die in der SBZ/DDR aus politischen Gründen inhaftiert waren, und ihre Angehörigen. Vgl. URL: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/hhg/gesamt.pdf (letzter Zugriff: 3.6.2012). 857 Z. B.: Mitteilung über Alfred Weiland, UFJ an Bezirksamt Schöneberg Abt. Sozialwesen Vertriebenenstelle HHG, 3.12.1958. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Haftbescheinigung für Karl Wilhelm Fricke, UFJ, 5.5.1959. Ebenda, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Haftbescheinigung für Wilhlem van Ackern, UFJ, 28.2.1964. Ebenda, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Haftbescheinigung für Herbert Eigner, UFJ, 25.8.1964. Ebenda, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Haftbescheinigung für Otto Krüger, UFJ, 18.12.1969. Ebenda, B 285/Einzelfallakte, o. Pag. Vgl. Mampel: Untergrundkampf, S. 14. 858 Besuchervermerk, UFJ, 8.7.1963. BArch, B 209/1069, o. Pag. 859 Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 8.7.1963. Ebenda. 860 Vgl. Besuchervermerk Wilhelm van Ackern, UFJ, 21.9.1964. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag. 861 Vgl. Mitteilung, UFJ an Polizeipräsidenten Abt. I, 1.10.1964. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.
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und 71 politische Häftlinge der Strafvollzugsanstalt Bautzen II mit Angaben zur Person und zum Strafmaß aufführte.862 Derartige Informationen flossen in eine Kartei, in welcher der UFJ Personen erfasste, die in der DDR aus politischen Gründen verurteilt worden waren.863 Der UFJ verlor mit Walter Linse im Juli 1952 und Erwin Neumann im August 1958 selbst zwei Mitarbeiter durch MfS-Entführungsaktionen. Bei einem Segelausflug auf dem Berliner Wannsee war Erwin Neumann unter Anwendung von Betäubungsmitteln entführt worden. Ein Aktenvermerk des UFJ-Leiters Walter Rosenthal vermittelt einen Eindruck von den dortigen Erstmaßnahmen. Neben der Unterstützung der polizeilichen Ermittlungen864 sorgte der UFJ dafür, dass die Presse zunächst noch Stillschweigen bewahrte. Denn man erwog, dass Neumann eventuell versehentlich die Zonengrenze auf dem Wannsee überquert haben und festgenommen worden sein könnte, sich aber bei der Volkspolizei nicht zu erkennen gegeben haben könnte. Am zweiten Tag schwand diese Hoffnung jedoch, und auch die Presse ließ sich nicht mehr zurückhalten, sodass die Westberliner Polizei in Absprache mit dem UFJ eine Presseerklärung herausgab.865 Es blieben kaum Zweifel, dass er entführt wurde, über seinen Verbleib in der DDR fehlten jedoch jegliche Informationen. »Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde er in eine Falle gelockt und in die SBZ verschleppt.«, verlautbarte 1962 eine Publikation des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen über den DDRStaatssicherheitsdienst. »Da weder das Segelboot noch Trümmer des Bootes auffindbar waren und eine der Tat dringend verdächtige Person seit diesem Zeitpunkt verschwunden ist, scheint ein Unfall ausgeschlossen. Über das Schicksal Neumanns hüllen sich die Kommunisten in Schweigen.«866 Acht Jahre nach der Entführung erreichten den UFJ im Juni 1966 Informationen mittels eines Kassibers. Ein Mithäftling hatte seinem Vater bei einem Sprechtermin den Kassiber übergeben können, in dem er kurze Angaben über 862 Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 15.9.1964. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 21.9.1964. Ebenda; Schreiben mit Namensliste politischer Häftlinge in Bautzen II, Wilhelm van Ackern an Hilfskomitee für politische Häftlinge der Sowjetzone beim UFJ, 21.10.1964. Ebenda. 863 Vgl: Mampel: Untergrundkampf, S. 14 f. 864 Vgl. Protokolle der Vernehmungen von 4 UFJ-Mitarbeitern, Polizei, 25.8.–22.9.1958. BStU, MfS, AP 21814/80, Bd. 1, S. 15–17; 25–28, 53 f., 87–91. Die Westberliner Polizei ging angesichts der Umstände von Neumanns Verschwinden schnell von einer Entführung aus und verdächtigte auch die richtige Person als Tatbeteiligten. Ihr fehlten aber die Beweise, zumal der Tatverdächtige ebenfalls verschwunden war. Vgl. Zwischenbericht, Polizeipräsident von Berlin Abt. I, 11.9.1958. Ebenda, S. 63–75. 865 Vgl. Vermerk, UFJ, 25.8.1958. BArch, B 209/1204, o. Pag.; Bericht, UFJ, 25.8.1958. Ebenda, o. Pag.; Nachfolger Linses verschwunden. In: Tagesspiegel, 23.8.1958; Linse-Nachfolger verschwunden. Seit drei Tagen fehlt jede Spur – In den Händen des SSD? – Die mysteriöse Segelpartie. In: Telegraf, 23.8.1958. 866 BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 44.
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Neumann und dessen Entführung gemacht hatte. In einem Monatsbrief vom August 1966 gelang es dem Mithäftling zudem, weitere Angaben über Neumann, in erster Linie über dessen schlechten gesundheitlichen Zustand, verschlüsselt mitzuteilen. Der Vater lieferte diese Mitteilungen an den UFJ.867 Wie ein weiterer Mithäftling nach seiner Freilassung im Oktober 1966 dem UFJ mitteilte, stammten die Informationen wiederum aus Kassibern von Neumann selbst, der in Isolationshaft gehalten wurde. Ihm war es gelungen, in den Freigangzellen im Hof der Berliner MfS-Haftanstalt Magdalenenstraße mehrere Kassiber abzulegen. Dass der entlassene Mithäftling zudem Neumanns Handschrift wiedererkannte, erhöhte die Glaubwürdigkeit der Angaben.868 Zum Verbleib Neumanns erreichten den UFJ respektive das Gesamtdeutsche Institut, in das der UFJ im Juli 1969 aufgegangen war, allerdings ebenso Falschmeldungen: Im Juli 1970 berichtete ein entlassener DDRHäftling, in der Strafanstalt I in Berlin von einem politischen Häftling im Mai 1970 erfahren zu haben, dass sich Neumann seit mehr als zwei Jahren im Lager X in Berlin-Hohenschönhausen in Isolationshaft befinde.869 Das Gesamtdeutsche Institut engagierte sich immer noch für eine Freilassung Neumanns und trat mit einem entsprechenden Anliegen an seinen Dienstherrn, das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, heran. Dieses wandte sich an die Rechtsanwälte Jürgen Stange und Wolfgang Vogel, die den Freikauf politischer Häftlinge vermittelten. Als Vertreter der Ostberliner Seite bestritt der Rechtsanwalt Vogel nachdrücklich, dass sich Neumann noch in DDR-Haft befinde. Die Annahme, dass ein solcher Aufenthalt von den Verantwortlichen in der DDR verleugnet werden würde, widerspreche jeder Logik und bisherigen Erfahrung. Er habe nie etwas über einen Aufenthalt Neumanns in der DDR erfahren.870 Tatsächlich befand sich Neumann zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in einer DDR-Haftanstalt, er war im Juli 1967 in dortiger Isolationshaft verstorben. Wie im Entführungsfall Linse war die Nachricht vom Tod des Entführungsopfers nicht in den Westen gelangt.871
867 Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 5.6.1966. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 24.8.1966. Ebenda, o. Pag. 868 Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 17.10.1966. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 24.10.1966. Ebenda 869 Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 21.7.1970. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag. Weitere Berichte von entlassenen DDR-Häftlingen über Neumann finden sich in: BArch, B 209/1071. 870 Vgl. Schriftwechsel zwischen ehem. UFJ-Leiter Rosenthal und Präsidenten des Gesamtdeutschen Instituts Ludwig Rehlinger, September 1970. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 198/92, Bd. 1, Bl. 104 a–f; Schreiben, BMG an Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben, 5.3.1971. Ebenda, Bl. 104 g–h. Ein entlassener DDR-Häftling sollte bezeugen, dass Neumann sich im Gewahrsam des MfS befand. Vgl. Bericht, Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben, 16.9.1970. Ebenda, Bl. 102 f. 871 Vgl. Mitteilung, Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben an Versorgungsamt Kassel, 2.7.1971. BArch, B 285/Einzelfallakte, o. Pag.; Mitteilung, Gesamtdeutsches
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Informationen über die Entführungspraxis des SED-Regimes bekam der UFJ zuweilen auch durch DDR-Flüchtlinge. Den Wahrheitsgehalt ihrer Angaben einzuschätzen, war ebenfalls schwierig. Im Februar 1958 meldete sich ein weiblicher DDR-Flüchtling beim UFJ und erklärte, dass sie vom MfS aufgefordert worden war, eine Bekannte aus West-Berlin »herüberzuholen«. Gegenüber dem MfS habe sie eingewilligt, sich und das Ansinnen des MfS aber umgehend der Bekannten offenbart. Nach ihrer Rückkehr in die DDR habe sie dem MfS erzählt, dass der Versuch, ihre Bekannte nach Ost-Berlin zu locken, gescheitert sei. Das MfS habe sie daraufhin allerdings wiederum nach West-Berlin geschickt und instruiert, die Bekannte in einem Lokal nahe der Sektorengrenze zu reichlichem Alkoholkonsum zu animieren. Erneut habe sie eine Annahme des Auftrags vorgetäuscht, aber nach ihrer Ankunft in WestBerlin sofort ihre Bekannte informiert. Nun wolle sie im Westen bleiben.872 Der UFJ war aufgrund seiner verschiedenen Informationsquellen also relativ gut über den staatlich organisierten Menschenraub des SED-Regimes unterrichtet. Zwar fehlten in Einzelfällen verständlicherweise oft detaillierte Informationen. Diesbezüglich heißt es in einem Bericht von 1959: »Die Opfer der Verschleppungsaktionen werden im östlichen Machtbereich in einer Weise liquidiert, die es häufig unmöglich gemacht hat, über ihren Verbleib irgendwelche sicheren Nachrichten zu gewinnen.« Entsprechende Informationen könnten daher nur durch Zeugenaussagen, die Ergreifung und Geständnisse von Tatbeteiligten sowie Angaben zurückgekehrter politischer Häftlinge gewonnen werden.873 Das Gesamtphänomen hatte der UFJ jedoch weitgehend erfasst. Da er alle ihm bekannt gewordenen Entführungsfälle registrierte und über entsprechende Informationen der Polizei verfügte, hatte er einen Überblick über die Anzahl der Verschleppungen und Entführungen sowie die verschiedenen Varianten. Bereits im Dezember 1951 meldete er dem Bundestagsausschuss für gesamtdeutsche Fragen nicht nur 66 registrierte Entführungsfälle der vergangenen zwei Jahre (1950 15 und 1951 51 Personen), sondern informierte auch kenntnisreich über die Methoden des Herüberlockens und der gewaltsamen Entführungen. Im Hinblick auf die letztere Variante erläuterte der UFJ u. a.: »Nach wochenlanger Erkundung der täglichen Lebensgewohnheiten der Betroffenen werden diese plötzlich auf der Strasse von einigen Agenten umringt und in ein bereitstehendes Auto unter oft erheblicher GeInstitut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben an Versorgungsamt Kassel, 18.2.1976. Ebenda, o. Pag. 872 Vgl. Erklärung, UFJ, 27.2.1958. BArch, B 209/1070, o. Pag. In einem Bericht wird von einer »beträchtlichen Zahl« von Personen gesprochen, »die sich durch Flucht der Ausführung aufgenötigter Verschleppungsaufträge entzogen haben«. Vgl. Denkschrift »Östliche Untergrundarbeit gegen West-Berlin«, hg. vom Senator für Inneres, 15.4.1959. LAB, Soz 1623, o. Pag.; Bericht »Menschenraub und Verschleppung«, 13.10.1959. BArch, B 209/1070, o. Pag. 873 Vgl. Bericht »Menschenraub und Verschleppung«, UFJ, 13.10.1959. BArch, B 209/1070, o. Pag.
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waltanwendung gezerrt.«874 Sieben Monate später fiel ein eigener Mitarbeiter, der Rechtsanwalt Walter Linse, eben dieser Entführungsmethode zum Opfer. Zusammenfassend muss die Informationslage bei den staatlichen Stellen und antikommunistischen Organisationen hinsichtlich der Schicksale einzelner Entführungsopfer zwar als oftmals problematisch eingeschätzt werden. Das Gesamtphänomen der Entführungsaktionen hatten diese staatlichen und nichtstaatlichen Stellen aber erstaunlich gut erfasst. Ihre Kenntnisse gaben sie an die bundesdeutsche, vor allem Westberliner Öffentlichkeit weiter – zu Aufklärungszwecken, aber auch als eine Art Propagandamittel in der Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Regime. Schließlich ließen sich das institutionalisierte Unrecht des SED-Regimes und die Bedrohung durch den kommunistischen Machtbereich durch die Übergriffe in Form der Entführungen eindrucksvoll vermitteln. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch die Presse. Der Weg in die Öffentlichkeit – Die Berichterstattung in der Presse Der Blick in die zeitgenössische bundesdeutsche Presse lässt den Schluss zu, dass die bundesdeutsche und vor allem Westberliner Öffentlichkeit, spätestens seit der aufsehenerregenden Entführung von Walter Linse informiert und sensibilisiert war. Im Laufe der 1950er Jahre verdichtete sich der Kenntnisstand über die Entführungspraxis des MfS, nicht zuletzt durch die Rückkehr von Entführungsopfern aus der DDR-Haft, und gelangte durch die Presse auch an eine breitere Öffentlichkeit. Westliche Zeitungen verbreiteten Informationen über die Auftraggeber der Entführungen im Osten, über die Entführer und ihre Opfer sowie über Vorgehensweisen und Methoden. Diese Berichterstattung war nicht Ausdruck reiner Sensationslust, sondern hatte die nicht zu unterschätzende Funktion der öffentlichen Aufklärung und Warnung. Gefährdete Personen, aber auch die Westdeutschen und insbesondere die Westberliner allgemein sollten zu einer größeren Achtsamkeit motiviert werden. Der Bundesminister für Justiz Fritz Neumayer erklärte in diesem Zusammenhang im Juli 1954: »Da im Bundesgebiet bisher Verschleppungen vornehmlich dadurch begangen worden sind, daß die Opfer durch List in den Machtbereich des sowjetischen Regimes gelockt wurden, hat die Bundesregierung die in der Presse laufend erfolgende Aufklärung der Bevölkerung über die Gefährdung, der bestimmte Personenkreise ausgesetzt sind, sehr begrüßt.«875
874 Mitteilung mit Aufstellung der registrierten Entführungsfälle, UFJ an Bundesausschuss für Gesamtdeutsche Fragen, 5.12.1951. BArch, B 209/1070, o. Pag. Vgl. Bericht »Menschenraub und Verschleppung«, 13.10.1959. UFJ, BArch, B 209/1070, o. Pag. 875 Schnellbrief »Betr.: Menschenraub in der Bundesrepublik«, Bundesminister für Justiz an den Präsidenten des Deutschen Bundestags, 9.7.1954. PA-DBT 3001 2. WP, Anlagen Bd. 30, Drucksache 710.
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Westliche Zeitungen widmeten sich immer wieder mit großer Aufmerksamkeit den Entführungspraktiken des MfS, um die bundesdeutsche und Westberliner Bevölkerung aufzuklären und zu warnen. Kurz nach der Entführung des Westberliner Journalisten Karl Wilhelm Fricke und den gegen eine RIASMitarbeiterin gerichteten Entführungsversuch mittels vergifteter Pralinen erschien 1955 beispielsweise ein Artikel im Tagesspiegel mit dem Titel: »SSD verfeinert seine Mittel«. Der Verfasser konstatierte, dass der DDRStaatssicherheitsdienst bei seinen Entführungen nun vermehrt auf Betäubungsmittel zurückgreife, um den »zu riskanten ungetarnten Straßenüberfall« wie bei der Linse-Entführung zu vermeiden.876 Auch eine Westberliner Illustrierte registrierte diesen Wandel in den Entführungsmethoden: »Es gab keine Hilferufe, keine Schüsse und keine letzten Schreie in Autos gezerrter Opfer. Anstelle der offenen Gewalt sind raffinierte Methoden getreten. Vergiftete Pralinen und blitzartig wirkende Betäubungsspritzen gehören zu den neuen Kampfmitteln der Menschenräuber.«877 Der Westberliner Journalist Karl Wilhelm Fricke, dessen gewaltsame Entführung im April 1955 Anlass für die genannten Artikel war, wurde nach seiner Rückkehr aus der DDR-Haft 1959 in seiner Zunft zum engagiertesten Aufklärer über die MfS-Entführungsaktionen. In bemerkenswerter Sachlichkeit bot er nicht nur eine detaillierte Rekonstruktion der Umstände seiner eigenen gewaltsamen Entführung, sondern widmete sich immer wieder dem gesamten Themenkomplex.878 In einer Studie über den DDRStaatssicherheitsdienst, die 1962 vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen herausgegeben wurde, dokumentierte er 25 Entführungsfälle ausführlich, gab Einblicke in die Entführungsmethoden (Täuschung, körperliche Gewalt und Betäubungsmittel) und identifizierte sogar schon einige der beteiligten MfS-Diensteinheiten.879 Eine beachtenswerte Gesamtbetrachtung der Entführungspraxis des SED-Regimes von Rainer Hildebrandt, die im Juni 1964 in dem Artikel »Technik und Psychologie des Menschenraubes« im 876 SSD verfeinert seine Methoden. In: Tagesspiegel, 6.4.1955. Vgl. Menschenraub jetzt unauffälliger. Vergiftete Pralinen – Entführung einer Mitarbeiterin des RIAS mißglückt. In: Ebenda. 877 Verschleppt, verschwunden, gestorben … Der Fall Fricke – ein Beispiel ohne Spuren. In: IBZ – Die Illustrierte Westberlins, 14.5.1955. 878 Vgl. Karl Wilhelm Fricke: Mit »Knock-Out-Cocktail« betäubt. So wurde ein Journalist in den Sowjetsektor entführt. In: Der Kurier, 16.5.1962; ders.: Ein gefälschtes Telegramm. In: Der Kurier, 18.5.1962. Bereits kurze Zeit nach seiner Rückkehr veröffentlichte Fricke einen ausführlichen Bericht in einer Broschüre, die vom Rheinischen Merkur herausgegeben wurde und im SBZ-Archiv erschien. Vgl. Karl Wilhelm Fricke: Menschenraub in Berlin. Köln/Koblenz 1959; ders.: Taktik, S. 178–181; ders.: Schauprozesse, S. 210–213; ders.: Ein Schauprozess, S. 315–317; ders.: Der kommunistische Strafvollzug will ›erziehen‹. Authentischer Bericht aus der politischen Sonderstrafanstalt Bautzen II. In: SBZ-Archiv 10(1959)24, S. 378–380. 879 Vgl. BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 38–48. Fricke zitierte darin ein Gutachten der Universität Heidelberg über die Einsatzmöglichkeiten und Wirkung einschläfernder Medikamente wie Scopolamin und Atropin.
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Tagesspiegel erschien, basierte anscheinend auf Frickes Erkenntnisse. Anhand mehrerer Beispiele erläuterte Hildebrandt die drei, zum Teil kombinierten Entführungsmethoden des MfS unter Einsatz von Täuschungsmanövern, Betäubungsmitteln oder roher Gewalt. Als »Psychologie des Menschenraubs« erkannte er zutreffend die Funktion der Entführungen als Machtdemonstration: »Furcht vor dem ›langen Arm‹ des Staatssicherheitsdienstes ist die beste Gewähr, um sich die Treue der Agenten zu erhalten. Die Schaffung eines Nimbus der ›Allmacht‹ wiegt dem Regime den Prestigeverlust infolge des Bekanntwerdens seiner verbrecherischen Methoden auf.«880 Hildebrandt nannte in seinem Artikel auch die bis dato registrierte Anzahl von Entführungen und Verschleppungen: Etwa 600 Personen seien von 1945 bis 1949, vor allem in den ersten Nachkriegsmonaten, aus West-Berlin verschleppt oder entführt worden. Seit 1949 seien 274 Entführungsfälle registriert worden, darunter 27 Personen nach dem Mauerbau im August 1961.881 Aus den Zeitungen in West-Berlin und der Bundesrepublik erfuhr die Bevölkerung bereits während der 1950er Jahre – in der Hochphase der Verschleppungen und Entführungen – laufend die Anzahl und ihre Aufklärungsquote, beispielsweise wenn diese von politischer Seite, von Organisationen oder von der Polizei bekannt gegeben wurden. So wurde im Juli 1954 die vom UFJ geführte Statistik publik, die 34 gewaltsame Entführungen und 98 ListVerschleppungen aus West-Berlin aufführte.882 Im September 1955 meldete der Tagesspiegel, dass laut Bekanntgabe des Berliner Polizeipräsidenten seit dem 1. Januar 1954 22 Personen entführt oder nach Ost-Berlin gelockt und dort festgenommen worden seien. Sieben dieser Fälle würden als geklärt gelten, allerdings hätten nur zwei Tatbeteiligte festgenommen werden können, da sich die anderen bekannten Tatbeteiligten in der DDR aufhalten würden.883 Fünf Jahre später, im September 1960, berichtete Der Tag über die »erschreckende Bilanz der Bundesregierung«, die 159 Fälle von »Menschenraub« und 143 Entführungsversuche seit 1953 durch »Beauftragte des sowjetischen oder sowjetzonalen Dienst« registriert habe.884 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung 880 Vgl. Rainer Hildebrandt: Technik und Psychologie des Menschenraubes. In: Tagesspiegel, 12.6.1964. Der Artikel lehnt sich an die Studie von Karl Wilhelm Fricke von 1962 an. Vgl. BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 39. 881 Vgl. Technik und Psychologie des Menschenraubes. In: Tagesspiegel, 12.6.1964. Ähnliche Zahlen gaben die »Berliner Häftlingskreise« im Juli 1962 bekannt. Vgl. Pankow und der Menschenraub. In: Tagesspiegel, 7.7.1962; Menschenraub auch nach dem 13. August. In: Die Welt, 7.7.1962. Der Bundesminister für Justiz sprach im Oktober 1963 von 862 Menschen, die seit 1945 in die »Sowjetzone« verschleppt worden seien. Vgl. Bilanz des Terrors. In: Berliner Morgenpost, 29.10.1963; Bucher: 862 Personen aus West-Berlin verschleppt. In: Tagesspiegel, 29.10.1963. 882 Vgl. Tresor der Gerechtigkeit. Menschenräuber müssen in Zukunft härter bestraft werden. In: BZ, 15.7.1954. 883 Vgl. 22 Entführungen in knapp zwei Jahren. In: Tagesspiegel, 24.9.1955. 884 159mal Menschenraub in sieben Jahren. In: Der Tag, 22.9.1960.
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titelte Ende Juni 1961 – zwei Wochen nach der gewaltsamen Entführung des Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt: »232 Menschen aus West-Berlin entführt«. Von diesen seien 170 »durch Anwendung von List«, 55 »mit Gewalt« und sieben »mit Hilfe von Gift und Drogen« entführt worden.885 Anläßlich des 15-jährigen Bestehens des MfS veröffentlichte der Tagesspiegel 1965 eine Bilanz des UFJ, die insgesamt 276 Entführungen und Verschleppungen aus West-Berlin nannte, davon 80 mit Gewalt und 196 mit List.886 In den 1960er Jahren schlug sich in den Zeitungsmeldungen aber auch die deutliche Abnahme der Entführungsaktionen nieder. Im Juli 1962 hatten die »Berliner Häftlingskreise«, ein Zusammenschluss von Verbänden politischer Verfolgter des SED-Regimes, anläßlich des zehnten Jahrestages der Linse-Entführung bekannt gegeben, dass seit dem Mauerbau im August 1961 noch mindestens 15 Westberliner entführt oder verschleppt worden seien. Die Gesamtzahl der Entführungen und Verschleppungen in den Jahren 1949 bis 1962 würde damit bei 262 liegen, von denen 76 Personen gewaltsam entführt und 186 durch List verschleppt worden seien.887 Zwei Jahre später bilanzierte Rainer Hildebrandt in seinem bereits erwähnten Zeitungsartikel 27 Entführungen und Verschleppungen nach dem Bau der Berliner Mauer und folgerichtig eine Gesamtzahl von 274 entführten und verschleppten Personen.888 Der Umfang und die Methoden des Menschenraubs dürften durch die Berichterstattung in der Presse und im Rundfunk also einer breiten Öffentlichkeit, vor allem in West-Berlin, bekannt gewesen sein. Schwieriger gestaltete sich mitunter für die westlichen Berichterstatter der Umgang mit einzelnen Entführungsfällen. Nur über wenige Entführungen konnte die bundesdeutsche Presse der Öffentlichkeit zeitnah so detaillierte Informationen liefern wie im Fall von Walter Linse oder Robert Bialek. Bereits am dritten Tag nach Bialeks gewaltsamer Entführung aus West-Berlin fanden sich in verschiedenen Zeitungen Berichte, in denen der Ablauf der Entführung mit allen Einzelheiten sowie (aus heutiger Sicht) weitgehend korrekt rekonstruiert und die Tatbeteiligten mit MfS-Auftrag benannt wurden. Eine Voraussetzung für eine solche Berichterstattung war das Vorhandensein von Augenzeugen. Im Fall Bialek hatte der Hauptmieter der Tatwohnung Bialek als Gast seines Untermieters bewusstlos im Badezimmer gefunden und dessen vermeintlichen Abtransport
885 232 Menschen aus West-Berlin entführt. Protest gegen die Verschleppung des Redakteurs Brandt nach Ost-Berlin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.6.1961. 886 Vgl. 276 Entführungen aus West-Berlin. In: Tagesspiegel, 24.2.1965. 887 Vgl. Pankow und der Menschenraub. In: Tagesspiegel, 7.7.1962; Menschenraub auch nach dem 13. August. In: Die Welt, 7.7.1962. 888 Vgl. Rainer Hildebrandt: Technik und Psychologie des Menschenraubes. In: Tagesspiegel, 12.6.1964.
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in ein Krankenhaus beobachtet.889 Vor den Augen zahlreicher Zeugen fand die gewaltsame Entführung des Rechtsanwalts Walter Linse im Juli 1952 statt: Viele Passanten hatten seine Überwältigung auf offener Straße und die anschließende wilde Verfolgungsjagd mit Schusswechsel und Reifentötern beobachtet. Die Informationen über den genauen Tathergang fanden daher schnell ihre Verbreitung durch die Presse und den Rundfunk.890 Die brutale Entführung erregte in der bundesdeutschen Öffentlichkeit viel Aufsehen und Empörung, sodass die bundesdeutsche Presse auch über den sich formierenden großen Protest berichtete.891 Bereits einige Monate später lieferte die Festnahme eines Tatbeteiligten weitere Hintergrundinformationen (vor allem über die Täter), die wiederum durch die bundesdeutschen Zeitungen ihren Weg in die Öffentlichkeit fanden.892 Das Schicksal Linses blieb jedoch weiterhin ungeklärt. In diesem Punkt stieß die bundesdeutsche Presse an die (Informations-) Grenzen, die sich in anderen Entführungsfällen wesentlich früher zeigten. An dieser Stelle deutet sich die Komplexität der zeitgenössischen Berichterstattung im Zusammenhang mit den Entführungen und Verschleppungen an, deren Betrachtung nicht auf die Presse in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland begrenzt bleiben darf. Denn gerade die Interaktion zwischen der westlichen Presse und der DDR-Presse in der Berichterstattung über die verschwundenen Bundesbürger ist aufschlussreich. Im Fall Linse enthüllte das Presseorgan der SED fünf Tage nach seiner gewaltsamen Entführung die an889 Vgl. Entführungsaktion in Wilmersdorf. In: Tagesspiegel, 7.2.1956; Menschenraub in Westberlin. In: Der Tag, 7.2.1956; Der perfekte Menschenraub. In: Der Abend, 7.2.1956; Robert Bialek – Vergiftet und entführt. In: BZ, 7.2.1956; SSD-Kopfjäger seit Jahren unter Verdacht. NachtDepesche, 7.2.1956; Raffinierter Menschenraub in Westberlin. In: Münchner Merkur, 7.2.1956; Die Entführung in Westberlin. In: Neue Zürcher Zeitung, 8.2.1956; Kidnapping in Berlin. Fugitive drugged, taken to east. In: Manchester Guardian, 7.2.1956. Sogar in der Bild-Zeitung fand sich eine realitätsnahe Darstellung. Vgl. Ulbricht holte seinen Erzfeind aus Westberlin. In: Bild, 7.2.1956. 890 Vgl. Überfallen und in die Zone entführt. In: Der Abend, 8.7.1952; Rechtsanwalt entführt. Wieder toller Menschenraub. In: Nacht-Depesche, 8.7.1952; Berlin schützt sich gegen Terrorakte. Beschluss des Senats: Übergänge in die Sowjetzone sichern. In: Neue Zeitung, 9.7.1952; 7.45 Uhr ging der Schlagbaum hoch. In: Telegraf, 14.11.1952. Der RIAS sendete eine Erklärung des UFJ. Vgl. Verlautbarung zur Entführung Linses im RIAS, UFJ, 8.7.1952. BArch, B 209/1204, o. Pag. 891 Vgl. Schluß mit Menschenraub. In: Tagesspiegel, 9.7.1952; »Unsere Geduld ist zu Ende!« Erregte Protestkundgebung gegen die Verschleppung von Dr. Linse. In: Telegraf, 11.7.1952. 892 Vgl. Entführer Dr. Linses gefasst. In: Tagesspiegel, 12.3.1953; Wie der Entführer Dr. Linses gefasst wurde. In: Tagesspiegel, 13.3.1953; Linse-Entführer legte Geständnis ab. In: Telegraf, 13.3.1953; Entführer Dr. Linses gefasst. In: Die Welt, 13.3.1953; Gruppe II verschleppte Linse. Das Geständnis des Menschenräubers. In: Der Tag, 13.3.1953; Judaslohn: Erholungsreise ging ins Ostseebad – So sehen Moskaus gefürchtete Handlanger aus. In: Illustrierte Woche, 4.7.1953. Im Jahre 1955 konnte noch ein weiterer Tatbeteiligter festgenommen werden, was wiederum zum Erscheinen diverse Presseartikel führte. Vgl. Schlag gegen SSD-Gruppe Paul. Menschenräuber in Neukölln gefasst. In: Der Abend, 14.4.1955; Nach drei Jahren verhaftet. In: Tagesspiegel, 15.4.1955; Schwerer Junge des SSD gefasst. In: Telegraf, 15.4.1955; Entführer Linses in Neukölln gefasst. In: Der Tag, 15.4.1955; Berlins Polizei griff zu: Entführer! Mitschuldiger an Verschleppung Dr. Linses nach fast drei Jahren gefasst. In: Bonner Rundschau, 15.4.1955.
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geblich ›wahren‹ Hintergründe der westlichen Berichterstattung. So kommentierte das Neue Deutschland: »Den Kriegstreibern ist dieser Tage ein Agent aus Westberlin verlorengegangen und sie machen deswegen ein fürchterliches Geschrei. Warum eigentlich?«893 Das »Geschrei« diene nur der Ablenkung von dem »Generalkriegsvertrag«, der zur gleichen Zeit in Bonn zur Verhandlung stehe, und von der Empörung der Westberliner Arbeiterschaft über die negativen politischen Entwicklungen im Vergleich zum erfolgreichen Aufbau des Sozialismus in der DDR. Vor diesem Hintergrund würde Linses Verschwinden als Schlag gegen die gesamte Bevölkerung West-Berlins dargestellt, obwohl die »anständigen Menschen in Westberlin nicht das geringste Interesse« an diesem »Oberspion« haben. Denn Linse habe nichts für die Westberliner getan, sondern als Handlanger der »Kriegstreiber« gegen sie gearbeitet. Nach der im Sinne dieses Feindbildes erhobenen Anklage, dass die Westberliner Polizei und Justiz gegen dieses »Gangstertum« nicht einschreite, schließt der Artikel mit der Heilsversprechung: »Wir, die Erbauer des Sozialismus in dem von der einigen Arbeiterschaft beherrschten Teil Deutschlands, werden der westberliner Bevölkerung in ihrem Kampf gegen die Gangsterbanden helfen und wir tun das, indem wir jedem, der seine dreckigen Finger nach unseren Errungenschaften ausstreckt, so energisch darauf klopfen, daß er seine Pfoten nie wieder gebrauchen kann.«894
Diese Drohung wurde im Fall Linse zur traurigen Realität: Im Dezember 1953 wurde er in Moskau erschossen.895 Der ND-Artikel war die einzige öffentliche Verlautbarung in der DDR im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Walter Linse. Dass eine Vertuschung der Verhaftungsumstände in diesem Fall durch die zahlreichen Tatzeugen von vornherein offensichtlich chancenlos war, hatte auch das SED-Regime erkannt.896 In anderen Entführungsfällen tauchte in der DDR-Presse immer wieder eine verfälschende Darstellung als reguläre Festnahme eines Agenten auf dem Boden der DDR auf. Jedoch erschienen dort eher selten Artikel über Entführungsopfer, oft handelte es sich um Reaktionen auf westliche Pressemeldungen. Die westlichen Mutmaßungen und Berichte über eine Entführung versuchte man zu widerlegen oder zumindest zu diskreditieren. »Seit Anfang dieser Woche schlägt die westberliner Presse Lärm, weil sich ein gewisser Frik893 Ein USA-Agent ging verloren … Warum schreien die ›Hinterbliebenen‹ so laut? In: Neues Deutschland, 13.7.1952. 894 Ebenda. 895 Die Nachricht seines Todes erreichte die Angehörigen erst 1960 und wurde aus der Sowjetunion umgehend wieder dementiert. Vgl. Pankow und der Menschenraub. In: Tagesspiegel, 7.7.1962; Tod Walter Linses amtlich festgestellt. In: Die Welt, 17.12.1962; Alle Hoffnung war vergebens. Dr. Linse für tot erklärt. In: Bild, 17.12.1962. 896 Vgl. Zaisser fälscht Fall Linse. Pankows Version für die Öffentlichkeit: »Im Ostsektor verhaftet«. In: Telegraf, 14.8.1952.
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ke unabgemeldet aus dem Staube gemacht haben soll«, spottete das Neue Deutschland sechs Tage nach der gewaltsamen Entführung des Westberliner Journalisten Karl Wilhelm Fricke. Zudem würden die Westberliner Zeitungen berichten, dass »sich eine Mitarbeiterin des RIAS vergiftet hat«.897 Gemeint war die RIAS-Mitarbeiterin Lisa Stein, die nur knapp einer Entführung durch den DDR-Staatssicherheitsdienst entgangen war. Ein beauftragter IM hatte im März 1955 versucht, sie mit vergifteten Pralinen zu betäuben und in die DDR zu entführen. Doch Lisa Stein war nicht wie geplant im Wilmersdorfer Café, sondern erst vor ihrer Wohnungstür zusammengebrochen.898 Die in OstBerlin erscheinende Berliner Zeitung kommentierte die westliche Berichterstattung über die Untersuchung des Mageninhalts der vergifteten RIASMitarbeiterin zynisch: »Nur erscheint uns das Verfahren zu kompliziert, denn die Giftquelle liegt sehr viel näher. Dieser Angestellten der speziellsten RiasHetzabteilung ist offenbar das stündlich dort verzapfte politische Gift auf den Magen geschlagen. Man sollte die Dame entlassen. Sie verträgt nichts mehr.«899 Der Autor des ND-Artikels sah in den Berichten der West-Presse den Beweis, dass es für Westberliner Journalisten offensichtlich keine andere Möglichkeit gebe, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, als sich für Agententätigkeiten herzugeben.900 Tatsächlich lieferten Presseartikel westlicher Herkunft in dieser Hinsicht zum Teil Schützenhilfe. So bezog sich die Berliner Zeitung zur Bestätigung des Agentenvorwurfs in einem Artikel über Karl Wilhelm Fricke auf Verlautbarungen in den Rheinisch-Westfälischen Nachrichten, dass er für einen britischen Nachrichtendienst tätig gewesen und sein Schicksal symptomatisch sei.901 »Es ist nicht ausgeschlossen, daß K. W. Fricke entweder seit längerer Zeit schon für den Osten arbeitet oder seit kurzem von den Organen der Staatssicherheit zu einem Rücktritt in die Sowjetzone gepreßt wurde.«, meldete die Nacht-Depesche unter der Schlagzeile »Entführung oder übergelau897 Zwei westberliner Journalisten. In: Neues Deutschland, 7.4.1955. In derselben Ausgabe erschien eine Meldung über Kurt Rittwagen, einen Agenten der Organisation Gehlen, der in Ost-Berlin um Asyl gebeten habe. Rittwagen war in Wirklichkeit ein GM des MfS, der an Frickes Entführung beteiligt gewesen und nach Absprache mit dem MfS in die DDR geflohen war. Vgl. Mitarbeiter der Gehlen-Organisation stellte sich Staatsorganen der DDR. In: Neues Deutschland, 7.4.1955. 898 Der beteiligte IM konnte festgenommen werden und wurde im Mai 1955 zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. Vgl. Urteil, Landgericht Berlin, 17.5.1955. BArch, B 137/1063, o. Pag. Vgl. Menschenraub jetzt unauffälliger. Vergiftete Pralinen – Entführung einer RIAS-Mitarbeiterin mißglückt. In: Tagesspiegel, 6.4.1955; Die süße Falle des SSD. In: IBZ – Die Illustrierte Westberlins, 28.5.1955; Ein Mensch zappelt im Netz der Geheimdienste. In: Süddeutsche Zeitung, 20.5.1955; Senat von Berlin: Chronik 1955–1956, 1971, S. 160 f. 899 Gift im Magen. In: Berliner Zeitung, 6.4.1955. 900 Vgl. Zwei westberliner Journalisten. In: Neues Deutschland, 7.4.1955; Agent Berndt brach mit Verbrechern. Kurier des englischen Geheimdienstes/Westjournalist als Spion. In: Berliner Zeitung, 20.4.1955. 901 Vgl. Agent Berndt brach mit Verbrechern. Kurier des englischen Geheimdienstes/Westjournalist als Spion. In: Berliner Zeitung, 20.4.1955.
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fen?«902 Zwar erhielt die These von einer Entführung größeren Zuspruch in der westlichen Presse, jedoch tauchten angesichts Frickes spurlosen Verschwindens auch Vermutungen über eine freiwillige oder erzwungene Rückkehr in die DDR auf.903 Aufseiten der DDR gab es keine offizielle Meldung über die Festnahme von Karl Wilhelm Fricke. Ein Schweigen, das wiederum entlarvend war: Auf einer Pressekonferenz Anfang Mai 1955 antwortete der Pressesprecher des DDR-Staatssicherheitsdienstes auf die Frage eines bundesdeutschen Korrespondenten nach Frickes Verbleib, dass ihm »weder der Name Fricke noch ein Fall Fricke bekannt« sei.904 Dieses Leugnen wirkte angesichts der zahlreichen Pressemeldungen alles andere als glaubhaft. Die Strategie, eine Entführung respektive – in den Augen des SED-Regimes – Festnahme einer Person durch ihre Entlarvung als »Agent« zu rechtfertigen, wurde möglichst durch die Meldung ergänzt, dass diese bei Ausübung ihrer Spionagetätigkeit auf DDR-Gebiet festgenommen worden sei. So reagierte die DDR-Presse beispielsweise auf Entführungsberichte in der westlichen Presse, als das Mitglied der Liga für Menschenrechte und des Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Wolfgang Silgradt verschwand. Dort folgerte man aus den Berichten von Augenzeugen, die Silgradt zuletzt am späten Abend des 19. Februar 1954 angetrunken und in Begleitung einer Frau beim Verlassen eines Tanzlokals in Berlin-Schöneberg gesehen hatten, dass er gezielt in die DDR gelockt und festgenommen wurde.905 Drei Tage später entgegnete die DDR-Nachrichtenagentur ADN dieser »Lüge« über Silgradts Verschleppung, er sei »bei der Durchführung von Spionageaufträgen im demokratischen Sektor Berlins« verhaftet worden und habe sich in diesem Zusammenhang bald vor einem Gericht der DDR zu verantworten.906 Die westlichen Bericht902 Entführt oder übergelaufen? Rätsel um Fricke – Im Gewahrsam des SSD. In: NachtDepesche, 5.4.1955. 903 Vgl. Ost-Spezialist des Kaiser-Ministeriums verschwand spurlos. Entführung oder Flucht? In: Der Abend, 4.4.1955; Fricke verschwand spurlos. Opfer oder Agent des SSD? In: BZ, 5.4.1955; Keine Spur von Fricke. In: Der Tag, 6.4.1955. 904 Vgl. Borrmann stellt sich dumm. In: BZ, 5.5.1955; SSD droht Westberlin. In: Tagesspiegel, 5.5.1955; SSD–Borrmanns dunkle Andeutungen. In: Der Kurier, 5.5.1955; Fricke: Taktik, 1959, S. 180. Auf der Pressekonferenz die Festnahme von über 500 vermeintlichen Agenten bekannt gegeben. In seiner dortigen Erklärung nannte Borrmann verschiedentliche Beispiele, darunter auch das Entführungsopfer Wilhelm van Ackern, Karl Wilhelm Fricke jedoch nicht. Vgl. Erklärung des SfSVertreters Oberst Borrmann, 4.5.1955. BStU, MfS, AS 183/56, Bd. 1, S. 114–135; »Schluss mit den Agentenzentralen in West-Berlin!« Aus der Erklärung des Vertreters des Staatssekretariats für Staatssicherheit der DDR auf der Pressekonferenz in Berlin. In: Neues Deutschland, 5.5.1955. 905 Vgl. West-Berliner verschwunden. Wieder ein Menschenraub? In: Der Abend, 17.4.1954; Brachte er sich selbst in Gefahr? Seit 19. Februar vermisst/Wahrscheinlich im Ostsektor verhaftet. In: Der Tag, 18.4.1954. Diese Meldungen basierten auf einer Bekanntgabe der Westberliner Polizei und erschienen erst 2 Monate nach Silgradts Verschwinden. 906 Vgl. Agent Silgradt in Haft. Neue Lüge der Westpresse über angebliche Verschleppung widerlegt. In: Neues Deutschland, 22.4.1954; Von »Verschleppung« kann keine Rede sein. ADNErklärung zu einer Lügenmeldung der Westpresse. In: Thüringische Landeszeitung, 23.4.1954.
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erstatter sahen darin jedoch eher eine Bestätigung ihrer Annahme, dass Silgradt entführt wurde.907 Im Fall des Mitte Juni 1961 entführten Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt hatte die ostdeutsche Nachrichtenagentur ADN fünf Tage nach seiner gewaltsamen Entführung seine angebliche Verhaftung im Bezirk Potsdam »bei der Durchführung von Aufträgen westlicher Geheimdienste« gemeldet.908 In der westlichen Presse wurde diese Darstellung zurückgewiesen: Auch wenn einige Zeitungen noch ein Fragezeichen hinter »Menschenraub« setzten, bestanden kaum Zweifel an einer Entführung Brandts.909 Es kam zum regelrechten Schlagabtausch zwischen Ost- und Westpresse, der erneut entflammte, als Brandt ein Jahr später vor dem Obersten Gericht der DDR zu einer Zuchthausstrafe von 13 Jahren verurteilt wurde. Westliche Zeitungen berichteten über die Proteste gegen Brandts Verurteilung und bezeichneten das Urteil als »Justizverbrechen« und »menschenverachtenden Justizterror«.910 Unter den Titeln »Zuchthaus für Spione« und »Agenten ohne Chance« verkündete in der DDR hingegen beispielsweise die Berliner Zeitung triumphierend: »Die Deutsche Demokratische Republik weiß sich erfolgreich gegen die Anschläge und Machenschaften imperialistischer Geheimdienste zu schützen. Die Werktätigen der DDR sind auf der Wacht.«911 Die gewaltsame Entführung des Gewerkschaftsjournalisten aus West-Berlin wurde als Festnahme eines »Spions« 907 Vgl. Silgradts Verhaftung von Pankow zugegeben. In: Berliner Morgenpost, 22.4.1954; Abduction of german from W.Berlin. In: The Times, 22.4.1954; Flüchtlingsreferent vom SSD verhaftet. Silgradt angeblich ›auf frischer Tat‹ ertappt – Schauprozeß angekündigt. In: Der Kurier, 22.4.1954; Silgradt war kein Agent. In: Berliner Morgenpost, 23.4.1954. 908 Die Meldung beruhte auf eine Mitteilung des Ministeriums des Innern der DDR. Vgl. Agent festgenommen. In: Neues Deutschland, 22.6.1961; Agent festgenommen. In: Berliner Zeitung, 22.6.1961. 909 Vgl. Gewerkschaftsredakteur in den Händen des SSD. In: Tagesspiegel, 22.6.1961; Vom SSD verschleppt? Journalist geriet in die Fänge der Zonen-Justiz. In: Berliner Morgenpost, 22.6.1961; Menschenraub in West-Berlin? In: BZ, 22.6.1961; Menschenraub. In: Frankfurter Rundschau, 27.6.1961; DGB: Menschenraub. In: Telegraf, 27.6.1961. Der Leiter des Pressamtes beim Ministerpräsidenten der DDR reagierte auf die westliche Berichterstattung mit einem Offenen Brief an die Gewerkschaftszeitung »Metall«. Vgl. Das wahre Gesicht des Ostbüros der SPD. Kurt Blecha an westdeutsche IG-Metall-Zeitung. In: Berliner Zeitung, 29.6.1961. Dieser offene Brief rief wiederum Reaktionen in der westlichen Presse hervor. Vgl. Er ist kein Spion. In: Telegraf, 30.6.1961; 232 Menschen aus West-Berlin entführt. Protest gegen die Verschleppung des Redakteurs Brandt nach Ost-Berlin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.6.1961; IG Metall: Heinz Brandt wurde entführt. Gewerkschaft beschuldigt Zonenregierung der Lügen. In: Die Welt, 4.7.1961; Ulbrichts Wahlschlager. Schauprozeß gegen Heinz Brandt zielt auf die SPD. In: Telegraf, 4.7.1961. 910 Vgl. Justizverbrechen an Heinz Brandt. In: Telegraf, 11.5.1962; 13 Jahre Zuchthaus für Heinz Brandt. In: Tagesspiegel, 11.5.1962; SED-Terrorurteil: 13 Jahre Zuchthaus für Heinz Brandt. In: BZ, 11.5.1962; Proteste gegen Verurteilung Brandts. In: Tagesspiegel, 12.5.1962; Proteste aus aller Welt. Terrorurteil gegen Heinz Brandt verhöhnt die Menschenrechte. In: Telegraf, 12.5.1962. 911 Agenten ohne Chance. In: Berliner Zeitung, 13.5.1962; vgl. Zuchthaus für Spione. In: Berliner Zeitung, 11.5.1962; Spione verurteilt. Hohe Zuchthausstrafen für Agenten imperialistischer Geheimdienste. In: Neues Deutschland, 11.5.1962.
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auf frischer Tat und damit als großer Erfolg im Kampf gegen die feindlichen Geheimdienste verkauft. Diese Strategie der Verleugnung von Entführungen versuchte man sogar noch nach Brandts Freilassung aufrechtzuerhalten.912 In Reaktion auf die ersten Pressemeldungen im Westen913 berichtete der ostdeutsche Nachrichtendienst ADN, dass Brandt, der sich nach seiner Begnadigung in der DDR frei habe bewegen können, nach Ankunft in der Bundesrepublik umgehend in Polizeigewahrsam genommen worden sei. »Durch diese Polizeimaßnahmen«, so die ADN-Meldung, »bezweckte das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz, von Anfang an Brandt für ein öffentliches Auftreten auf einer Pressekonferenz vorzubereiten, um die von den Bonner Ultras seit seiner Festnahme in der DDR zur Irreführung der Öffentlichkeit propagierte angebliche Verschleppung zu bestätigen«. Zur Rechtfertigung dieser Polizeimaßnahmen habe der Verfassungsschutz sogar einen anonymen Drohanruf fingiert. Unter diesem Druck habe »der 1961 auf dem Boden der DDR straffällig gewordene Brandt« schließlich auf einer Pressekonferenz eine Erklärung abgegeben, die nicht den Tatsachen entsprochen habe.914 Das große Medieninteresse im Westen und die breite Rezeption der Einzelheiten, die der freigelassene Brandt über seine gewaltsame Entführung auf der Pressekonferenz vor rund 200 Journalisten bekanntgab, konnte dadurch allerdings nicht beeinflusst werden.915 Wahlweise präsentierte die DDR-Presse Entführungsopfer nicht nur als auf dem Boden der DDR festgenommene Agenten, sondern auch als Überläufer. Unter dem Titel »Gehlen-Agenten sind ehemalige Faschisten« veröffentlichte das Neue Deutschland im Oktober 1954 eine vermeintliche Erklärung des Westberliners Karl Niemann. Er fühle sich verpflichtet, den falschen und lügenhaften Meldungen der Westberliner Presse die Wahrheit entgegenzusetzen, dass er freiwillig und ohne Zwang in die DDR gegangen sei.916 Öffentlich wurde der ehemalige Mitarbeiter der Organisation Gehlen und angebliche Überläufer nicht präsentiert, aber er gab dieselbe Erklärung auch über den
912 Vgl. Heinz Brandt begnadigt. In: Neues Deutschland, 24.5.1964. 913 Vgl. Pankow meldet Haftentlassung von Heinz Brandt. In: Tagesspiegel, 24.5.1964; Wo bleibt Heinz Brandt? Pankow amnestierte den westdeutschen Gewerkschaftsredakteur. In: Telegraf, 25.5.1964; Heinz Brandt kehrt zurück. In: Die Welt, 25.5.1964; Proteste erzwangen Freilassung. Heinz Brandt bei seiner Familie in Frankfurt a. M. eingetroffen. In: Tagesspiegel, 29.5.1964. 914 ADN-Meldung zur Freilassung von Heinz Brandt, Juni 1964. BStU, MfS, AP 7720/68, Bd. 1, S. 83 f. Vgl. westliche Pressemeldung zum Drohanruf: Drohungen gegen Heinz Brandt. In: Telegraf, 30.5.1964. 915 Vgl. Heinz Brandt wurde in West-Berlin betäubt und entführt. In: Tagesspiegel, 31.5.1964; Betäubt und verschleppt. So wurde Heinz Brandt aus West-Berlin entführt. In: Telegraf, 31.5.1964; Heinz Brandt schildert Entführung. In: Tagesspiegel, 4.6.1964; Fall Heinz Brandt bleibt mysteriös. Pressekonferenz unter Polizeischutz – Die Geschichte der Entführung. In: Telegraf, 4.6.1964. Vgl. Andresen: Widerspruch, S. 278–280. 916 Vgl. Gehlen-Agenten sind ehemalige Faschisten. In: Neues Deutschland, 16.10.1954.
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Rundfunk ab. Seine Flucht in die DDR begründete er darin mit der »Wiedergeburt des Faschismus und Vorbereitung eines neuen Krieges« im Westen.917 Doch Karl Niemann war Anfang September 1954 von zwei US-Bürgern, die für den sowjetischen Geheimdienst tätig waren, an diesen ausgeliefert worden – wie die Westberliner Presse richtigerweise bekannt gab. Nach einem gemeinsamen Lokalbesuch hatten sie Karl Niemann in einen Hinterhalt an der grenznahen Autobahn in Berlin-Dreilinden gebracht, wo er gewaltsam überwältigt und vom sowjetischen Geheimdienst festgenommen wurde.918 Seine Entführer John und Henry Smith präsentierte der SED-Propagandachef Albert Norden Anfang Oktober 1954 auf einer Pressekonferenz ebenfalls als Überläufer, um die in der Westpresse aufgetauchte Vermutung zu widerlegen, sie seien auch entführt worden.919 Tatsächlich waren sie mit Karl Niemann verschwunden, aber als dessen Entführer.920 Mit erheblichem Aufwand versuchte die gesteuerte DDR-Presse auch, die gewaltsame Entführung des Exilrussen Alexander Truschnowitsch im April 1954 als eine freiwillige Rückkehr zu verkaufen. Am Morgen nach seinem Verschwinden meldete der DDR-Rundfunk, dass Truschnowitsch sich aus eigener Initiative in der DDR gestellt und vom NTS sowie vom amerikanischen Geheimdienst distanziert habe. Als Beweis für seine Umkehr habe er dem DDR-Staatssicherheitsdienst einen Agenten der Organisation Gehlen 917 Vgl. Radio Warschau stellt einen westdeutschen Überläufer vor. In: Neue Zürcher Zeitung, 4.1.1955; Entführer verhaftet. In: Telegraf, 11.1.1957. 918 Vgl. Wieder ein Fall von Menschenraub. Westberliner Bürger von amerikanischen Überläufern verschleppt. In: Tagesspiegel, 8.10.1954; Auf Menschenjagd in Berlin. Amerikanische Überläufer spielten dem SSD einen Deutschen in die Hände. In: Telegraf, 8.10.1954; Von Amerikanern in den Osten verschleppt. In: BZ, 8.10.1954; Er wurde doch entführt. In: BZ, 19.10.1954; Er schickte den Onkel. In: Berliner Morgenpost, 19.10.1954; Naiver Idealist oder eiskalter Agent. MenschenraubAnklage gegen Amerikaner. In: Tagesspiegel, 28.9.1957; Zuhörer mußten Gerichtssaal räumen. Amerikanischer Staatsbürger wegen Menschenraubs angeklagt. In: Berliner Morgenpost, 28.9.1957; Männer zerrten ihn ins Gebüsch. Sowjetischer Agent gesteht Entführung eines West-Berliners. In: Frankfurter Rundschau, 2.10.1957. 919 Vgl. Sicherheitsorgane faßten 547 Geheimagenten. Internationale Pressekonferenz/»Entführte« Amerikaner stellten sich vor. In: National-Zeitung, 5.10.1954; Pankow fühlt sich durch London überrollt. Neue Gehlen-Enthüllungen/Zwei amerikanische Überläufer. In: Frankfurter Rundschau, 5.10.1954; U.S. Brothers get east zone asylum. Jersey men say they fled to Soviet Area because of american war aims. In: The New York Times, 5.10.1954. 920 Die Brüder wurden 1950 aus der Kommunistischen Partei in den USA ausgeschlossen. Nach eigenen Angaben suchten sie 1953 in Ost-Berlin den Kontakt zum sowjetischen Geheimdienst, um ihre Wiederaufnahme in die Partei zu erwirken. Henry Smith kehrte zum Jahreswechsel 1956/1957 nach West-Berlin zurück, wo er festgenommen wurde und sich vor dem Westberliner Landgericht zu verantworten hatte. Vgl. Entführer verhaftet. In: Telegraf, 11.1.1957; Naiver Idealist oder eiskalter Agent. Menschenraub-Anklage gegen Amerikaner. In: Tagesspiegel, 28.9.1957; Zuhörer mussten Gerichtssaal räumen. Amerikanischer Staatsbürger wegen Menschenraubs angeklagt. In: Berliner Morgenpost, 28.9.1957; Männer zerrten ihn ins Gebüsch. Sowjetischer Agent gesteht Entführung eines West-Berliners. In: Frankfurter Rundschau, 2.10.1957; Der geheimnisvolle Mister. In: Tagesspiegel, 19.10.1957.
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ausgeliefert. DDR-Zeitungen griffen die kurze Meldung am folgenden Tag auf, weitere Berichte erschienen jedoch nicht.921 Dieses Schweigen forcierte im Westen den bereits vorhandenen Argwohn über die Richtigkeit dieser Meldung, den westliche Berichterstatter in ihren zahlreichen Artikeln über das Verschwinden Truschnowitsch’ auch zum Ausdruck brachten.922 Zu Recht, denn Truschnowitsch war zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr am Leben: Er starb unter ungeklärten Umständen kurz nach seiner gewaltsamen Entführung.923 Vor diesem Hintergrund erscheint es als eine ›Flucht nach vorne‹, dass Rundfunkanstalten und verschiedene Zeitungen in der DDR wie das Neue Deutschland und die Berliner Zeitung nach einer Woche eine angebliche Erklärung des leitenden Mitarbeiters der russischen Emigrantenorganisation NTS mit dem Titel »Warum ich mit meiner Vergangenheit gebrochen habe« veröffentlichten. Diesen Schritt habe er gemacht, so Truschnowitsch' vermeintliche Erklärung, da er die Sinnlosigkeit des Kampfes der Emigrantenorganisationen und deren Missbrauch durch westliche Geheimdienste erkannt habe.924 Eingang in die Berichterstattung der DDR-Presse erhielt zudem eine Rede Ernst Wollwebers im VEB Industriewerk Ludwigsfelde, in welcher der DDRStaatssicherheitschef über die Beschlüsse des IV. SED-Parteitages und die »Friedenspolitik« der DDR sprach, aber auch den Fall Truschnowitsch aufgriff. Jeder feindliche Agent müsse mit seiner Aufdeckung rechnen, warnte Ernst Wollweber und knüpfte an, dass aber jeder von ihnen eine zweite Chance erhalte, wenn er sich wie Truschnowitsch rechtzeitig den Sicherheitsorganen der DDR stelle. In Bezug auf Truschnowitsch rief Ernst Wollweber sodann auf, den erfundenen »Menschenräubergeschichten« in der bundesdeutschen Presse keinen Glauben zu schenken. In Wirklichkeit sei nichts weiter geschehen, als dass Truschnowitsch sich selbst gestellt habe.925 In den folgenden 921 Vgl. Weißgardistischer Agent stellte sich in der DDR. In: Berliner Zeitung, 15.4.1954; Führendes Mitglied der NTS stellte sich den Staatsorganen der DDR. In: Tägliche Rundschau, 15.4.1954. 922 Vgl. Ein zweiter Fall Linse? Führender Vertreter der russischen Emigrantenbewegung unter mysteriösen Umständen aus Westberlin verschwunden – Sowjetzonenbehörden sprechen von »freiwilliger Rückkehr«. In: Tagesspiegel, 15.4.1954; Der Menschenraub war vorbereitet. In: Tagesspiegel, 15.4.1954; Neue Ermittlungen im Falle Truschnowitsch – Hinweise auf den Sowjetsektor. In: Tagesspiegel, 18.4.1954; Truschnowitsch schweigt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.4.1954; 100 000 DM Belohnung für die Aufklärung des Falles Truschnowitsch. In: Tagesspiegel, 23.4.1954; Menschenraub und 100 000 DM Belohnung. In: Quick, 9.5.1954. 923 Vgl. Bailey/Kondraschow/Murphy: Front, S. 532. 924 Warum ich mit meiner Vergangenheit gebrochen habe. Erklärung des vor Kurzem in die DDR gekommenen leitenden Angehörigen der NTS, A. R. Truschnowitsch. In: Neues Deutschland, 21.4.1954; Warum ich mit meiner Vergangenheit brach. Erklärung von Dr. Alexander Truschnowitsch. In: Berliner Zeitung, 21.4.1954. Im Rundfunk verbreiteten der »Deutschlandsender« und »Radio Berlin« die Erklärung. Vgl. Menschenraub und 100 000 DM Belohnung. In: Quick, 9.5.1954. 925 Vgl. Jeder Agent kann sich ausrechnen, wann er fällt. In: Neues Deutschland, 22.4.1954; Es gibt keine Rätsel um Truschnowitsch. In: BZ am Abend, 21.4.1954.
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Tagen konzentrierte die DDR-Presse sich auf den Versuch, die westliche Berichterstattung zu diskreditieren. In einer im Neuen Deutschland veröffentlichten Stellungnahme beschuldigte das Ministerium des Innern die Westberliner Presse einer »zügellose[n] Hetz- und Lügenkampagne«, deren Ursache in der entstandenen Panik der »Agentenzentralen« liege. Denn die »anständigen Bürger Westberlins« würden sich zunehmend von diesen »Verbrecher- und Untergrundorganisationen« distanzieren, die mit ihrer »Spionage- und Sabotagetätigkeit« den Frieden und die Einheit Deutschlands boykottieren würden. Die »Hetz- und Lügenkampagne« würde aber nicht verhindern, dass noch weitere Mitarbeiter dieser Organisationen die Aussichtslosigkeit ihres Handels erkennen und den gleichen Schritt wie Truschnowitsch tun würden.926 Einige DDR-Journalisten griffen in ihren Kommentaren diese Töne und Anklage gegen ihre Westberliner Kollegen auf. Die Mutmaßungen über den Hergang der Entführung Truschnowitsch in der Westberliner Presse kommentierte die Berliner Zeitung wie folgt: »Sie sind mit ihren Nerven so heruntergekommen, daß sie kaum noch wissen, was sie zusammenorakeln sollen. Zunächst wurde von ihnen selbstverständlich erfunden, daß Truschnowitsch ›gewaltsam geraubt‹ wurde, [...] Natürlich wurde der Geraubte mit einem Auto abtransportiert. Ein ›Diplomatenwagen‹ sollte es gewesen sein. Unter dem machen es eben Menschenräuber nicht.«927
Einem Journalisten der Westberliner Zeitung Der Abend attestierte sie Verfolgungswahn und unterstellte dem »Revolverjournalist« des »Westberliner Radaublattes«, eine »neue Gestapo« zur Unterdrückung der »friedliebenden demokratischen Kräfte in Westberlin« gefordert zu haben. Er solle sich aber um seine Sicherheit keine Sorgen machen, so die Berliner Zeitung, da sich bestimmt keiner an einem »Schmierfinken« wie ihm die Hände schmutzig machen wolle. Journalisten wie er mit seinem »hysterischen Geschrei« würden es nicht schaffen, die Verständigung der Deutschen untereinander aufzuhalten.928 Diese Losung stellte auch das Neue Deutschland einem Artikel voran, in dem es 926 Panik in den Agentenzentralen. Stellungnahme des Ministeriums des Innern zur Angelegenheit Dr. A. Truschnowitsch. In: Neues Deutschland, 23.4.1954. Vgl. Agentenzentralen entlarven sich selbst. In: Neues Deutschland, 20.5.1954; Stellungnahme des Ministeriums des Innern zur Angelegenheit Dr. A. Truschnowitsch. In: Tägliche Rundschau, 23.4.1954. 927 Mit den Nerven völlig heruntergekommen. Die neueste Pleite der Kriegshetzer. In: Berliner Zeitung, 22.4.1954. 928 Mit den Nerven völlig heruntergekommen. Die neueste Pleite der Kriegshetzer. In: Berliner Zeitung, 22.4.1954. Vgl. Neue Jädickiade gegen die Verständigung. In: Neues Deutschland, 22.4.1954. Im besagten Artikel in Der Abend wurde als Mittel zum schärferen Vorgehen gegen die Entführungen die Einrichtung einer politischen Polizei gefordert. Die Wortwahl des Artikels war durchaus provozierend: »Dies ist nicht nur ein Kalter Krieg, dies ist auch Krieg im Dunkel, und ein solcher Krieg hat seine eigenen Gesetze. Wir müssen die Glacéhandschuhe ausziehen, wenn wir mit dem Gesindel da drüben fertig werden wollen. Ist es erst einmal aus dem Lande, dann können wir wieder vornehm sein.« Siehe Spitzel sind unter uns! In: Der Abend, 21.4.1954.
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sich ausführlich mit der westlichen Berichterstattung über Truschnowitsch auseinandersetzte. Die Überschrift des Artikels »Der ›Menschenräuber‹ schleppte sich selbst auf den Schultern davon« lässt bereits den diffamierenden Tonfall erkennen. Dieser gipfelte in der Forderung, die vom Westberliner Senat ausgesetzte Belohnung von 100 000 DM/West929 für Hinweise müsse der DDR ausgezahlt werden, da das dortige Ministerium des Innern bereits einen Tag nach Truschnowitsch' Verschwinden aufgeklärt habe, dass sich dieser freiwillig den DDR-Staatsorganen gestellt habe. Auf einzelne im Westen erschienene Zeitungsartikel eingehend, ›enttarnte‹ der Autor die dortigen Mutmaßungen über Truschnowitsch' Entführung als angebliche Lügenkampagne, die nun zusammenbreche. Sie diene der Störung der Genfer Konferenz und des Verständigungswillens der Deutschen in Ost und West sowie der Ablenkung von der permanenten Verschlechterung der Lebensbedingungen in West-Berlin. Zudem solle sie einen Vorwand liefern »zum widerrechtlichen Verbot der SED in Westberlin, zur gewaltsamen Unterdrükkung aller demokratischen Regungen der Bevölkerung, zur Bewaffnung faschistischer Terrorbanden, zur Schaffung einer politischen Polizei vom Schlage der Gestapo und zur hermetischen Absperrung Westberlins durch einen dichten Polizei- und Stacheldrahtkordon von der Umwelt«.930
Wohlgemerkt bezogen sich diese Vorwürfe aus dem Neuen Deutschland auf den Westen, nicht auf die DDR, wo zur Durchsetzung der SED-Diktatur unlängst eine Geheimpolizei aktiv war und auf Initiative der SED-Führung West-Berlin 1961 tatsächlich hermetisch abgeriegelt wurde. Die NationalZeitung sah hinter der Berichterstattung in der westlichen Presse ein Ablenkungsmanöver von den »eigenen Verbrechen«, von »widerrechtlichen Verhaftungen aufrechter Deutscher« und Verschleppungen.931 Diese Versuche, die westliche Berichterstattung über die Entführung Truschnowitsch zu diskreditieren und diffamieren, waren eine weitere ›Flucht nach vorne‹. Denn dieser Entführungsfall hatte großes öffentliches und mediales Aufsehen erregt und tatsächlich zu zahlreichen Spekulationen in der westlichen Presse geführt, die sich jedoch – entgegen der Darstellung in der DDR929 Vgl. 100 000 DM Belohnung für die Aufklärung des Falles Truschnowitsch. In: Tagesspiegel, 23.4.1954; Senat setzt hohe Belohnung aus. 100 000 DM für Aufklärung des Falles Truschnowitsch. In: Berliner Morgenpost, 23.4.1954; 100 000 DM Belohnung. Aufklärung des Menschenraubes an Dr. Truschnowitsch – Ein Senatsbeschluss. In: Telegraf, 23.4.1954. 930 Der »Menschenräuber« schleppte sich selbst auf den Schultern davon. In: Neues Deutschland, 28.4.1954. Vgl. Sie schreien nach einer neuen Gestapo. In: Neues Deutschland, 22.4.1954; Verstärkte Polizei an den Sektorengrenzen. Lipschitz für Selbstisolierung der Westsektoren und Überwachung der Bahnhöfe. In: National-Zeitung, 24.4.1954. Im Westen gab es in der Presselandschaft wiederum Reaktionen auf diese Artikel. Vgl. Pankow fordert die Belohnung vom Senat. In: Der Kurier, 28.4.1954. 931 Vgl. Truschnowitsch und die anderen. In: National-Zeitung, 25.5.1954.
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Presse – oft bewahrheiteten. Das Interesse widmete sich dem als Leiter der russischen Emigrantenorganisation NTS recht prominenten Opfer, aber auch seinem mutmaßlichen Entführer Peter Gormann. Denn die Verstrickung des Westberliner Architekten sorgte für einen kleinen Skandel, schließlich war er der Vorsitzende des Heimkehrerverbandes in einem Westberliner Bezirk. Das Verschwinden beider sorgte für Rätsel, über deren versuchte Aufklärung die westliche Presse bundesweit ausführlich berichtete. Die Spekulationen, dass beide entführt worden oder freiwillig in die DDR gegangen sein könnten, wichen immer mehr der Gewissheit, dass Gormann als Geheimer Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes die Entführung Truschnowitsch' ermöglicht hatte.932 Meldungen aus der DDR, die auf verschiedenen Wegen die Zeitungsredaktionen in West-Berlin erreichten, sorgten dort zwar zeitweise für Verwirrungen, wurden oft aber mit großer Skepsis aufgenommen und mit entsprechenden Kommentaren verarbeitet. So wunderte sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung über das untypische Schweigen Truschnowitsch' als angeblicher Überläufer, für den ansonsten in der DDR »Mikrofone und Tribünen im Überfluss freigemacht werden« würden.933 Am Tag darauf veröffentlichten DDR-Zeitungen die vermeintliche Rückkehr-Erklärung Truschnowitsch', die im Westen zumeist argwöhnisch rezipiert wurde.934 Auch das Auftauchen von Briefen, in denen Truschnowitsch seinen freiwilligen Übertritt in die DDR bekräftigte und Peter Gormann bekundete, in eine Falle gelockt worden zu sein, führte zwar in einigen Zeitungen nochmals zur Frage »Wer entführte 932 Vgl. Ein zweiter Fall Linse? Führender Vertreter der russischen Emigrantenbewegung unter mysteriösen Umständen aus Westberlin verschwunden – Sowjetzonenbehörden sprechen von »freiwilliger Rückkehr«. In: Tagesspiegel, 15.4.1954; Der Menschenraub war vorbereitet. In: Tagesspiegel, 15.4.1954; Gewaltstreich des SSD – Neuer Menschenraub in Berlin. In: Telegraf, 15.4.1954; Rätsel um Truschnowitsch. In: Berliner Morgenpost, 16.4.1954; Fall Truschnowitsch noch ungeklärt. Polizei: Der Verschwundene wurde niedergeschlagen. In: Tagesspiegel, 16.4.1954; Einzigartiger Fall von Menschenraub. In: Der Tag, 16.4.1954; Menschenraub aufgeklärt. In: Telegraf, 16.4.1954; Menschenraub in Berlin noch nicht geklärt. In: Frankfurter Rundschau, 17.4.1954; Neue Ermittlungen im Falle Truschnowitsch – Hinweise auf den Sowjetsektor. In: Tagesspiegel, 18.4.1954; Der Fall Truschnowitsch. Neue Vermutungen, neue Rätsel um einen dritten Mann. In: Die Welt, 18.4.1954; Mit Stahlruten überwältigt. Rätsel um die Entführung Truschnowitsch lichtet sich. In: Berliner Morgenpost, 18.4.1954; CD-Wagen tarnte die Flucht. Wie die Menschenräuber die Grenze passierten. In: Telegraf, 18.4.1954; Menschenraub-Affäre Truschnowitsch hält Berlin in Spannung. In: Münchener Merkur, 20.4.1954; Welche Rolle spielte Alois K.? Neue Rätsel um den verschwundenen Truschnowitsch. In: Berliner Morgenpost, 21.4.1954; Das Verschwinden des Dr. Truschnowitsch. In: Stuttgarter Zeitung, 21.4.1954; Ein ›Volkspolizist‹ packt aus. 20 Wagen mit Geheimpolizisten warteten auf Truschnowitsch. In: Berliner Morgenpost, 22.4.1954; Der Dank des SSD. In: Telegraf, 31.10.1954. 933 Truschnowitsch schweigt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.4.1954. 934 Vgl. Truschnowitsch meldet sich. Angebliche Erklärung des verschwundenen Russen veröffentlicht. In: Die Welt, 21.4.1954; Statement by Dr. Truchnovic. Reasons for going to East Berlin. In: The Times, 21.4.1954; Missbrauch mit dem Namen Truschnowitsch. Ostpresse veröffentlicht eine angebliche Erklärung des Verschleppten. In: Der Kurier, 21.4.1954; Pankow droht mit neuem Menschenraub. In: Der Kurier, 23.4.1954.
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wen?«935 Viele zogen die Echtheit dieser Briefe jedoch von vornherein in Zweifel, zumal die Abfertigung laut Poststempel zeitlich vor der Entführung erfolgte, und bezeichneten sie als »Verwirrungsmanöver des SSD«.936 Ebenso skeptisch wurde in den westlichen Zeitungsredaktionen die Mitteilung des DDRInnenministeriums aufgenommen, dass Gormann als Gehlen-Agent verhaftet worden sei und als solcher ein Geständnis abgelegt habe. Der Tagesspiegel sah darin beispielsweise nur eine »Neue Version Pankows«.937 Eine Verstrickung von Peter Gormann bezweifelte die westliche Presse auch nicht mehr, als dieser sich Ende Mai 1954 angeblich aus dem MfS-Gefängnis in Berlin-Lichtenberg zu Wort meldete und verlauten ließ, er sei bei der Entführung Truschnowitsch' mit entführt worden.938 Die Versuche des SED-Regimes, mithilfe der DDR-Presse Truschnowitsch' Entführung zu verschleiern, gelangen nicht, aber sein Tod konnte verborgen werden. Zum Jahrestag der Entführung Truschnowitsch’ verwies der Telegraf auf Truschnowitsch' ungeklärtes Schicksal und kritisierte – auch mit Blick auf den kurz zuvor entführten Westberliner Journalisten Karl Wilhelm Fricke – das Versagen der Kriminalpolizei. Zwar habe die zuständige Abteilung V den Entführer ermittelt, ihn aber in die DDR entkommen lassen – ebenso wie den mutmaßlichen Entführer Frickes.939 In beiden Entführungsfällen waren Tatbeteiligte relativ schnell bekannt, konnten aber nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, was zu vehementer Kritik in der bundesdeutschen Presse führte.940 935 Affäre Truschnowitsch wird immer rätselhafter. Wer entführte wen? / Auch jetzt eingetroffene Briefe geben keine Aufklärung. In: Frankfurter Rundschau, 28.4.1954; Ich wurde in eine Falle gelockt! Neue Rätsel im Fall Truschnowitsch. In: BZ, 27.4.1954. 936 Plumpes Verwirrungsmanöver des SSD. In: Der Kurier, 27.4.1954; Ein Manöver des SSD. In: Der Tag, 28.4.1954. Vgl. Mysteriöse Briefe. In: Tagesspiegel, 28.4.1954; Abduction case mystery. Letters received in West-Berlin. In: The Times, 28.4.1954; Der »Entführte« wird zum Entführer. Fall des russischen Emigrantenführers Truschnowitsch immer verworrener. In: Kölnische Rundschau, 28.4.1954. 937 Neue Version Pankows. In: Tagesspiegel, 6.5.1954; vgl. East german spy charge. Alleged confession by missing man. In: The Times, 6.5.1954. 938 Vgl. Neue Spur im Fall Truschnowitsch. Frau des Architekten unter Polizei-Aufsicht in Ostberlin. Eltern wollen ihn im SSD-Gefängnis gesprochen haben. In: Berliner Morgenpost, 26.5.1954; »Ich wurde entführt!« Sensationelle Nachricht aus dem SSD-Gefängnis. In: BZ, 26.5.1954. 939 Vgl. Sein Schicksal blieb ungeklärt. Vor einem Jahr wurde Dr. Truschnowitsch entführt – Kripo versagte. In: Telegraf, 13.4.1955. 940 Zum Fall Truschnowitsch vgl. Aufklären, nicht verwirren. In: Telegraf, 21.4.1954; Kripo ließ SSD-Spitzel entkommen. In: Telegraf, 15.5.1954; Abwehr gegen SSD versagte. Folgenschwere Unterlassungssünden im Fall Truschnowitsch – Warum schweigt die Kripo? In: Telegraf, 16.5.1954; Neue Ermittlungen im Falle Truschnowitsch – Hinweise auf den Sowjetsektor. In: Tagesspiegel, 18.4.1954. Zum Fall Fricke vgl. Polizei versagte. In: Berliner Morgenpost, 7.4.1955; Tatverdächtiger im Fall Fricke geflüchtet. Polizei vernachlässigte Überwachung. In: Tagesspiegel, 7.4.1955; Eine Unterlassungssünde. In: Telegraf, 7.4.1955; Nach der Vernehmung geflohen. Einer der mutmaßlichen Entführer Frickes jetzt in Ostberlin. In: Der Tag, 7.4.1955.
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Diese Beispiele veranschaulichen die Herausforderungen, die sich den westlichen Berichterstattern im Umgang mit den Entführungen stellten, insbesondere wenn diese ohne Spuren und Zeugen geschehen waren. Die zentrale Frage nach dem Verschwinden der Person lautete dann erst recht: entführt oder geflohen bzw. übergelaufen? Trotz zahlreicher Anzeichen für eine Entführung tauchte diese Frage sogar im Fall Karl Wilhelm Fricke zunächst in verschiedenen Zeitungen auf.941 Sie drängte aber vor allem bei Verschwundenen in den Vordergrund, deren geheimdienstliche Kontakte bekannt wurden. Zu beobachten ist dies bei Manfred Richter, der als Mitarbeiter des dänischen Geheimdienstes Mitte November 1955 in der Bundesrepublik brutal überfallen und in die DDR entführt wurde. Das IM-Einsatzkommando des MfS hatte dabei den Wagen von Manfred Richter mitgenommen, um den Eindruck zu erwecken, er sei selbst in die DDR gefahren. Diese Strategie verfehlte ihre Wirkung nicht: Unter Überschriften wie »Agent verschwand. Trat er nach Ostberlin über?« und »Deutscher Agent spurlos verschwunden. Entführt oder zum SSD übergelaufen?«, widmeten sich bundesdeutsche Zeitungen der Frage, ob Manfred Richter entführt worden oder übergelaufen war.942 Die Welt am Sonntag titelte hingegen bereits: »Alarm: Neuer Menschenraub« und berichtete über die polizeilichen Ermittlungen, die sich gegen die Begleiter von Manfred Richter richten würden.943 »Es ist Menschenraub« verkündete auch die Boulevardzeitung BZ in großen Lettern auf ihrem Titelblatt, nachdem sie einen Tag zuvor bereits das spurlose Verschwinden des Geheimdienstmitarbeiters und den Verdacht einer gewaltsamen Entführung publik gemacht hatte. In ausführlichen Artikeln enttarnte sie den tatverdächtigen Begleiter von Manfred Richter als »Menschenräuber«, der »ein meisterhaft getarntes Doppelleben« führe und dem es mit der Hilfe weiterer »Menschenräuber« gelungen sei, Manfred Richter zu überwältigen und im eigenen Wagen in die DDR zu entführen.944 Der DDR-Nachrichtendienst ADN versuchte derweil die Mutmaßungen zu festigen, dass Richter »übergelaufen« sei: Er sei in der DDR festgenommen worden, als die Volkspolizei während einer Verkehrskontrolle 941 Vgl. Ost-Spezialist des Kaiser-Ministeriums verschwand spurlos. Entführung oder Flucht? In: Der Abend, 4.4.1955; Entführt oder übergelaufen? Rätsel um Fricke – Im Gewahrsam des SSD. In: Nacht-Depesche, 5.4.1955; Fricke verschwand spurlos. Opfer oder Agent des SSD? In: BZ, 5.4.1955; Keine Spur von Fricke. In: Der Tag, 6.4.1955. 942 Vgl. Agent verschwand. Trat er nach Ostberlin über? In: Telegraf, 26.11.1955; Deutscher Agent spurlos verschwunden. Entführt oder zum SSD übergelaufen? In: Kölnische Rundschau, 26.11.1955; West-Berliner Agent verschwunden. In: Süddeutsche Zeitung, 26.11.1955; Mysteriöses Verschwinden eines Flüchtlings. In: Tagesspiegel, 26.11.1955. 943 Alarm: Neuer Menschenraub. In: Welt am Sonntag, 27.11.1955. Vgl. Vom SSD verschleppt. In: Der Tag, 26.11.1955. 944 Vgl. Verschwunden: Chef der dänischen Spionage-Abwehr in Westberlin. In: BZ, 25.11.1955; Es ist Menschenraub. Jetzt steht es fest: Der dänische Chefagent wurde vom SSD entführt. In: BZ, 26.11.1955; Neues zum »Fall R«. In: BZ, 28.11.1955.
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eine Pistole bei ihm entdeckt habe. »Nach der Festnahme«, so die ADNMeldung weiter, »erbot sich R. mit dem Bemerken, dass er leitender Angestellter eines westlichen Geheimdienstes ist, ausführliche und umfangreiche Aussagen über seine Tätigkeit zu machen.«945 Ebenso habe sich sein Begleiter verhalten, der ebenfalls verhaftet worden sei, nun seine Taten bereue und über »alle Umtriebe der imperialistischen Geheimdienste« berichten wolle.946 Die ADNMeldung sollte somit nicht nur die Entführung verschleiern, sondern auch das Mitwirken von Richters Begleiter, der als GM für das MfS tätig war. Die zentrale Frage in der westlichen Berichterstattung, ob eine Person entführt oder übergelaufen war, verband sich nicht selten mit dem Verdacht, dass es sich bei der verschwundenen Person um einen MfS-Agenten handelte. So wusste Die Welt beispielsweise im Zusammenhang mit dem Verschwinden des westlichen Nachrichtendienstlers Karl-Albrecht Tiemann zu berichten, dass dieser – neben seiner Tätigkeit für den Verfassungsschutz sowie für französische und britische Abwehrstellen in West-Berlin – ein »fest besoldeter Agent des sowjetzonalen Staatssicherheitsdienstes« gewesen sei.947 Der vermeintliche Doppelagent war Anfang August 1954 in die Nähe der Glienicker Brücke gelockt und dort von einer »Operativgruppe« überwältigt worden. Ein Jahr später starb er unter dem Fallbeil in Dresden.948 Als Doppelagenten meinte Die Welt auch die Angeklagten Wolfgang Silgradt, Werner Mangelsdorf, Hans Füldner und Horst Gassa enttarnen zu müssen, als diese im Juni 1954 im Rahmen eines Schauprozesses vor dem Obersten Gericht der DDR als westliche Rädelsführer des Aufstandes vom 17. Juni 1953 zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Zwar entlarvte Die Welt den Prozess richtigerweise als Verschleierungsmanöver, doch das Aufdecken der vermeintlichen Doppelagenten-Tätigkeit der Angeklagten zur Untermauerung dieses Postulats verstellte den Blick auf die Umstände ihrer
945 Aktenvermerk zur ADN-Erklärung, o. D. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. V/4, S. 66 f., hier 66. 946 Ebenda, hier 67. 947 Doppelagent täuschte den Westen. In: Die Welt, 17.8.1954. 948 Vgl. Schlussbericht, MfS, 14.12.1954. BStU, MfS, AU 67/55, Bd. 2, S. 517–541; Urteil, Bezirksgericht Cottbus, 3.3.1955. Ebenda, S. 117–135; Urteil, Oberstes Gericht der DDR, 1.4.1955. Ebenda, S. 146–161; Vollstreckungsprotokoll, Untersuchungshaftanstalt I Dresden, 26.7.1955. Ebenda, Bd. 7, S. 211; Vermerk, ZERV 213, 7.1.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 122/95, Bd. 3, Bl. 84–93, hier 86 f.; Vermerk, ZERV 213, 16.1.1997. Ebenda, Bl. 96 f.; Mitteilung, ZERV an Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin, 24.3.1997. Ebenda, Bl. 134–136; Vermerk, ZERV 213, 20.6.1997. Ebenda, Bl. 163; Zusammenfassung der Ermittlungsergebnisse, ZERV 213, 14.10.1997. Ebenda, Bl. 180–185; Engelmann: Karl-Albrecht Tiemann, S. 306 f.
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Festnahmen.949 Alle vier waren Opfer von Verschleppungen bzw. Entführungen durch das SED-Regime.950 An diesen Beispielen wird besonders deutlich, wie die Mentalität des Kalten Krieges die Berichterstattung in der westlichen Presse prägte. Denn die zentrale Frage »Entführt, übergelaufen oder gar als Stasi-Agent abgezogen?« war auch eine Prestigefrage im Ost-West-Konflikt. Anhand der Entführungen und Verschleppungen konnten die verbrecherischen Methoden und der Unrechtscharakter des SED-Regimes veranschaulicht und öffentlichkeitswirksam angeklagt werden. Entpuppte sich das vermeintliche Entführungsopfer aber als übergelaufener Agent oder gar als MfS-Agent, der nach erfolgreichem Einsatz abgezogen worden war, triumphierte der Systemkonkurrent im Osten. Dort dienten die (vermeintlich reumütigen) Überläufer und zurückgekehrten Agenten als Zeugen der »Renazifizierung« sowie Remilitarisierung der Bundesrepublik und der Kriegs- und Eroberungsabsichten im Westen.951 Vor diesem Hintergrund erklärt sich die in manchen Entführungsfällen zu beobachtende Skepsis in der bundesdeutschen Presse. Der Blick in die bundesdeutsche Presse vermittelte jedoch auch einen Eindruck von den Ängsten und Forderungen, die in der Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Menschenraub des SED-Regimes entstanden. Oftmals war es der Ruf nach Schutzmaßnahmen und nach einem Eingreifen der Politik, die wiederum über die Presse ihre beabsichtigten Maßnahmen ankündigen ließ. »Schluß mit Menschenraub« und »Entführungen müssen ein Ende haben« lauteten die entsprechenden Schlagzeilen nach der aufsehenerregenden Entführung des UFJ-Mitarbeiters Walter Linse oder »Berliner seid wachsam! Macht Schluss mit den Menschenräubern!« nach der gewaltsamen Entführung des NTS-Leiters Alexander Truschnowitsch im April 1954.952 »Es ist ein Kinder949 Vgl. Pankow spielt mit SSD-Agenten. Schauprozeß vor dem Obersten Gericht als Verschleierungsmanöver. In: Die Welt, 12.6.1954; Eigene Agenten bestraft. In: Die Welt, 15.6.1954. 950 Mangelsdorf war zwischen Juni 1952 und April 1953 tatsächlich als GI »Werkzeug« für das MfS registriert und ließ sich im Dezember 1953 offenbar zum Schein erneut verpflichten. Vgl. Eisenfeld/Kowalczuk/Neubert: Revolution, S. 525, 541–545; Kowalczuk: Politische Strafverfolgung, S. 229 f. 951 Zu beobachten ist dies auch im Fall des Verfassungsschutzpräsidenten Otto John, der im Juli 1954 aus West-Berlin verschwand. Vgl. Kapitel V.1.b; Stöver: Zuflucht DDR, S. 164–184; Bernd Stöver: Konterrevolution versus Befreiung. Das Wechselspiel von amerikanischer Liberation Policy und MfS-Aktivitäten in den fünfziger Jahren. In: Georg Herbstritt, Helmut Müller-Enbergs: Das Gesicht dem Westen zu … DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2004, S. 153–180, hier 168. 952 Vgl. Schluß mit Menschenraub. In: Telegraf, 9.7.1952; Entführungen müssen ein Ende haben. Berliner Senat sichert Grenzübergänge zur Sowjetzone und zum Sowjetsektor. In: Tagesspiegel, 9.7.1952; Bundestag fordert Schutz der Berliner Bürger. In: Neue Zeitung, 17.7.1952; Da könnt ihr lange kratzen. Eisenträger wachsen aus der Erde – Schutzmaßnahmen gegen Menschenraub. In: Die Welt, 19.7.1952; Besserer Schutz für Westberliner. Senat bereitet weitere Maßnahmen vor – Alarmnetz vervollständigt. In: Telegraf, 30.7.1952; Berliner seid wachsam! Macht Schluss mit den Menschenräubern! In: Der Abend, 21.4.1954.
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spiel, Menschen aus Westberlin gegen ihren Willen in die Zone zu bringen«, alarmierte der Telegraf zu dieser Zeit. Der Artikel übte heftige Kritik an der zu schlecht bewachten und stellenweise völlig unbewachten Zonengrenze, also der Grenze zwischen West-Berlin und DDR-Gebiet. Es sei leichter, die wenigen Stellen aufzuzählen, an denen eine Entführung unmöglich sei, als die unzähligen Grenzabschnitte, wo ein Passieren der Grenze ohne westliche Kontrolle erfolgen könne.953 Tatsächlich nutzte das MfS für seine Entführungsaktionen einige der Grenzabschnitte, die in dem Telegraf-Artikel als kritisch aufgeführt wurden: An der von Berlin-Spandau nach Glienicke führenden Potsdamer Chaussee wurde im Oktober 1958 der gewaltsam entführte Friedrich Böhm über die Zonengrenze gebracht, die dort direkt neben der Straße verlief.954 An der Autobahn nach Berlin-Dreilinden erfolgte im September 1954 die Grenzüberfahrt mit dem gewaltsam entführten Karl Niemann. MfS-Pläne zur Entführung eines KgU-Mitglieds im Sommer 1957 sowie eines Fluchthelfers im April 1962 sahen ebenfalls einen dortigen Grenzübertritt vor.955 In der Nähe des Grenzkontrollpunktes Dreilinden verfügte das MfS 1962 über die sogenannte Grenzschleuse »Stadtrand«, ungefähr 500 Meter von der Autobahnbrücke Königsweg entfernt. An einer unübersichtlichen Stelle konnte dort ein aus West-Berlin kommendes Fahrzeug den Grünstreifen und die andere Fahrbahn der Autobahn überqueren, um auf einen Weg zu gelangen, der nach wenigen Metern zu den Grenzanlagen führte. Der dort verlaufende Grenzzaun war durchbrochen und lediglich mit spanischen Reitern versperrt, die kurzzeitig beiseite geräumt werden konnten.956 Diese Grenzschleuse wurde im August 1962 anscheinend entdeckt. So meldete die Bild-Zeitung, dass kurz vor dem Grenzkontrollpunkt Dreilinden der Stacheldraht der Grenzanlagen nur verknüpft sei und daher jeder Zeit geöffnet werden könne.957 Über derartige Lücken in der Zonengrenze und ihre Nutzung bei Entführungen berichteten im Sommer 1962 auch andere westliche Zeitungen. Der Tagesspiegel informierte über gründlichere Kontrollen durch die Westberliner Polizei auf dem
953 Offene Wege für Menschenräuber. Berlins ungeschützte Flanken – Entführungen fast überall möglich. In: Telegraf, 25.4.1954. Vgl. Berlins ungesicherte Grenze. Leichte Arbeit für Menschenräuber – Pressechefs informieren sich. In: Telegraf, 24.4.1954. 954 Vgl. Zusatzplan, HA II/3, 30.9.1958. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 14, S. 227–232; Bericht, HA II/3, 2.10.1958. Ebenda, S. 233–236; Bericht, GM »Heinz Neuhaus«, 2.10.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 118–120; Ermittlungsbericht, Abt. I 4 KJ 1, 23.10.1958. BStU, MfS, AP 21826/80, Bd. 1, S. 85–91. 955 Vgl. Männer zerrten ihn ins Gebüsch. Sowjetischer Agent gesteht Entführung eines WestBerliners. In: Frankfurter Rundschau, 2.10.1957; Operativplan, HA V/5, 5.7.1957. BStU, MfS, AOP 518/59, Bd. 42a, S. 99–112; Auftrag an GI »Lord«, MfS, 5.4.1962. BStU, MfS, AIM 8087/67, Bd. 2, S. 118 f. 956 Vgl. »Plan der operativen Maßnahmen zur Schleusung«, HA I, 4.4.1962. BStU, MfS, AIM 8087/67, Bd. 2, S. 111–114; Zusatzbericht, HA I, April 1962. Ebenda, S. 115. 957 Vgl. Menschenfalle auf der Autobahn. In: Bild, 17.8.1962.
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Weg zur Exklave Steinstücken in der Nähe von Babelsberg, nachdem ein geflohener DDR-Grenzpolizist den dortigen Grenzabschnitt als Schlupfloch bei Entführungen benannt hatte.958 Der Kurier kritisierte unter der Überschrift »Stärkerer Schutz gegen Menschenraub«, dass der Westberliner Zoll westliche Fahrzeuge vor der Überfahrt nach Ost-Berlin nur oberflächlich kontrolliere. Da der Kofferaum dieser Fahrzeuge überhaupt nicht überprüft werde, seien Entführungen durch den DDR-Staatssicherheitsdienst mithilfe von gefälschten Personal- und Fahrzeugpapieren theoretisch jederzeit und ohne Schwierigkeiten möglich.959 Diese Beispiele aus der westlichen Presseberichterstattung vermitteln bereits einen Eindruck von der Empörung, den Protesten und Forderungen nach Schutz- und Gegenmaßnahmen, die das Bekanntwerden von Entführungsfällen in betroffenen Organisationen, auf politischer Ebene und in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit aufkeimen ließ. V.2
Die Reaktionen
Proteste und Solidaritätsaktionen
Längst nicht alle Verschleppungen und Entführungen von West nach Ost wurden einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Einige Entführungen lösten allerdings in West-Berlin, aber auch deutschlandweit und sogar international große Proteste und zahlreiche Solidaritätsaktionen aus. An erster Stelle sind hier die umfangreichen Protestaktionen zugunsten des am 8. Juli 1952 entführten Rechtsanwalts und UFJ-Mitarbeiters Walter Linse zu nennen. Die Nachricht über seine Entführung unter Waffengewalt und mit einer wilden Verfolgungsjagd hatte sich wie ein Lauffeuer in West-Berlin verbreitet und für Empörung gesorgt. Der UFJ, der mit Walter Linse einen eigenen Mitarbeiter verloren hatte, erhielt in den Tagen nach der gewaltsamen Entführung zahlreiche Bekundungen der Anteilnahme und Solidarität von anderen Organisationen und aus der Bevölkerung, darunter auch von Menschen aus der DDR.960 In einem Brief aus Wittenberge, wo man über den RIAS von Linses Entführung erfahren hatte, hieß es: »Im Namen der Wittenberger Bevölkerung, mindestens zu 90 %, fordern wir die sofortige Freilassung des Herrn Rechtsanwalt 958 Vgl. Schlupfloch für den SSD. Jetzt gründlichere Polizeikontrolle zur Exklave Steinstücken. In: Tagesspiegel, 18.7.1962; Pankow und der Menschenraub. In: Tagesspiegel, 7.7.1962. 959 Stärkerer Schutz gegen Menschenraub. Kofferraum westlich getarnter SSD-Fahrzeuge bleibt unkontrolliert. In: Der Kurier, 10.7.1962. 960 Vgl. Brief, »Kampfgemeinschaft der Ost-LDPD-Flüchtlinge« im FDP-Landesverband Berlin an UFJ, 9.7.1952. BArch, B 209/1204, o. Pag.; Brief, Zentralverband Politischer Ostflüchtlinge und Ostgeschädigter e.V. an UFJ, 9.7.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag.; Protesterklärung, Arbeitsgemeinschaft der politischen Flüchtlinge in der SPD, Landesverband Berlin-Kreuzberg, 10.7.1952. Ebenda, o. Pag.; Brief, DDR-Bürger an UFJ, 9.7.1952. Ebenda, o. Pag. In der Akte befinden sich ca. 30 Loyalitätsbekundungen, darunter einige wenige aus der DDR.
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Linse.«961 In einigen Briefen wurde der Ruf nach Vergeltungsmaßnahmen laut, so regte der Absender eines anonymen Einschreibens aus Ost-Berlin an, nun Gleiches mit Gleichem zu vergelten und in West-Berlin wohnende kommunistische Funktionäre einzusperren und hungern zu lassen. Denn die »Sprache, die bisher in Westberlin gesprochen wurde, erkennen die Machthaber der Zone als Schwäche an«.962 Derartige Forderungen wurden auch schon bei früheren Entführungsfällen geäußert: Der Bund der Verfolgten des Naziregimes (BVN) appellierte im Sommer 1951, die Bundesregierung solle »SEDAgenten« festnehmen und so lange in Gewahrsam halten, bis der im November 1950 entführte Journalist Alfred Weiland und 27 Leidensgenossen freigelassen werden würden.963 Den UFJ erreichten auch Befreiungsangebote, die dort aber mit großer Skepsis aufgenommen wurden: Ende August berichtete ein Besucher, dass ein Freund von ihm beim MfS arbeite und zu Linse Kontakt habe. Da er selbst aus der DDR fliehen wolle, plane er eine Befreiung Linses.964 Ein weiteres Angebot unterbreitete wenige Tage später ein Mitarbeiter einer »ostzonalen Dienststelle« mit dem falschen Namen Herr Müller. Er gab an, dass es ihm »infolge eines besonderen dienstlichen Auftrages« möglich sei, Linse nach West-Berlin zurückzubringen. Als Gegenleistung forderte er, ihn und seine Familie im Anschluss an die Befreiungsaktion umgehend in die Bundesrepublik auszufliegen, seine dortige Versorgung zu gewährleisten und für seinen Schutz zu sorgen. Bei der Befreiungsaktion werde ihm eine Person behilflich sein, die an der Entführung Linses beteiligt gewesen sei. Für diese Person verlangte er daher Straffreiheit und ebenfalls Schutzmaßnahmen. Zudem benötige er zwischen 15 000 und 18 000 M/DDR zur Durchführung der Befreiung, um Schmiergelder, falsche Ausweise usw. bezahlen zu können. Laut Aktennotiz traf sich ein Vertreter des UFJ sogar mit dem sogenannten Herrn Müller, der bei dem Zusammentreffen eher unfreiwillig seinen richtigen Namen preisgab und seitdem nichts mehr von sich hören ließ.965 Der große Unmut in der Bevölkerung über die gewaltsame Entführung Linses am hellichten Tag zeigte sich am 10. Juli 1952 vor dem Schöneberger Rathaus. Schätzungsweise 20 000 bis 30 000 Westberliner versammelten sich zu einer großen Protestkundgebung, auf welcher u. a. der Regierende Bürgermeister 961 Brief an UFJ, 10.7.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag. 962 Anonymes Einschreiben an UFJ, 14.7.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag.; anonymer Aufruf beim UFJ, 9.7.1952. Ebenda, o. Pag. Ein anonymer Absender empfahl ehemalige SA- und SS-Leute zu engagieren, die aufräumen würden. Vgl. anonymer Brief an den UFJ, 9.7.1952. Ebenda, o. Pag. 963 Vgl. BVN: Repressalien. In: Telegraf, 5.6.1951. 964 Vgl. Besuchervermerk, UFJ, 30.8.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag. Ähnliche Angebote siehe zwei Besuchervermerke, UFJ, 15./16.12.1952. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 3.3.1953. BArch, B 209/1201, o. Pag. 965 Vgl. Angebot einer Befreiungsaktion, Herr Müller an UFJ, 8.9.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag.; Aktennotiz, UFJ, 17.9.1952. Ebenda, o. Pag.
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von Berlin Ernst Reuter sprach und Linses Freilassung forderte.966 Unter den Zuhörern befanden sich auch MfS-Spitzel, von denen einer berichtete: »Einige Minuten dröhnte die Freiheitsglocke über den Platz. [...] Fanatische Wut loderte aus der Menge auf. Die Raserei der Menschen entlud sich in wild applaudierten Zwischenrufen, die sich gegen die SED richten. [...] Reuter ist an der Reihe. Er beginnt massiv, schildert aufgeregt seine Empörung, erklärt: Das Maß ist nun voll. Die Menge tobt.«967
Der IM-Bericht sprudelt regelrecht vor Dramatisierungen, die Empörung der Teilnehmer verwandelte der Berichtende in eine regelrechte Pogromstimmung.968 Tatsächlich kam es zu Handgemengen und Schlägereien, als mehrere Personen versuchten, die Kundgebung zu stören, und damit den Unmut der Demonstranten auf sich zogen. Die Polizei griff ein und nahm sieben Störer und 16 weitere Teilnehmer fest.969 In überregionalen Zeitungen forderte UFJ-Leiter Horst Erdmann alias Theo Friedenau in einem offenen Brief »Freiheit für Dr. Walter Linse!« Darin bekundete er: »Linse selbst kann nur geholfen werden, wenn der Entrüstungssturm gegen diese Gewalttat nicht abnimmt.«970 Auf Veranlassung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen wurden im gesamten Bundesgebiet Plakate geklebt, die Informationen über die Entführung Linses lieferten.971 Weitere Plakate wurden von antikommunistischen Organisationen verbreitet, so auch vom 1950 gegründeten Volksbund für Frieden und Freiheit (VFF), der sich der Abwehr des Bolschewismus972 verschrieben hatte. »Menschenraub. 966 Vgl. Bericht, Bundeskanzleramt, 19.1.1955. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Mitteilung, UFJ, 10.6.1960. BArch, B 209/1204, o. Pag.; »Unsere Geduld ist zu Ende!« Erregte Protestkundgebung gegen die Verschleppung von Dr. Linse. In: Telegraf, 11.7.1952; Bild von der Protestkundgebung mit Text. In: Der Spiegel, Nr. 29/1952; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 425 f.; Kirsch: Walter Linse, S. 90; Mampel: Entführungsfall, S. 21; Lemke: Vor der Mauer, S. 185 f. 967 Abschrift Bericht von GM »Procontra«, Abt. VI/2, 11.7.1952. BStU, MfS, GH 105/57, Bd. 5, S. 192–194. Ein längerer Auszug aus dem Bericht ist gedruckt in: Mampel: Entführungsfall, S. 21–23. 968 Vgl. Abschrift Bericht von GM »Procontra«, Abt. VI/2, 11.7.1952. BStU, MfS, GH 105/57, Bd. 5, S. 192–194. 969 Vgl. »Unsere Geduld ist zu Ende!« Erregte Protestkundgebung gegen die Verschleppung von Dr. Linse. In: Telegraf, 11.7.1952; Bild von der Protestkundgebung mit Text. In: Der Spiegel, Nr. 29/1952; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 425 f.; Kirsch: Walter Linse, S. 90 f.; Mampel: Entführungsfall, S. 22; Kellerhoff/Kostka: Hauptstadt, S. 225 f. 970 Freiheit für Dr. Walter Linse! In: Die Zeit, 17.7.1952. 971 Vgl. Vermerk, Bundesministerium für Justiz, 11.7.1952. BArch, B 141/12195, Bl. 5. 972 Die Tradition des Antibolschewismus im VFF wird anhand seines Gründers und zweiten Vorsitzenden Eberhard Taubert deutlich: Der Jurist arbeitete im »Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda« seit dessen Gründung im März 1933 und stieg bis zum Amt des Ministerialdirektors auf. Er war Autor des Propagandafilms »Der ewige Jude« und leitete seit 1942 die Abteilung Ost im Goebbelschen Propagandaministerium. Als Beisitzer am Volksgerichtshof war er an Todesurteilen beteiligt. Im August 1955 sah sich Taubert aufgrund seiner NS-Verstrickung zum Rücktritt gezwungen, Anfang 1956 distanzierte sich der VFF von ihm. Vgl. Mathias Friedel: Der Volksbund für
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Das ist das Mittel, zu dem der Kommunismus greift, wenn seine verlogene Propaganda freiheitsgesinnte Menschen nicht zum Schweigen bringen kann. […] Das deutsche Volk kann und wird den bolschewistischen Mordterror nicht länger dulden.«973 Seinen Aufruf zur Freilassung Linses verband der Volksbund auf Plakaten und Protestversammlungen mit der Forderung nach einem Verbot der KPD.974 Die Linse-Entführung gab der Diskussion über die KPD in der Bundesrepublik neuen Zündstoff. Im Bonner Bundestag führte die Thematisierung der Entführung am Tag der großen Protestkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus zu einem Eklat. Während der Bundestagssitzung verließ die Mehrzahl der Abgeordneten aller Parteien (außer der KPD) aus Protest den Sitzungssaal, als der KPD-Abgeordnete Max Reimann das Wort ergriff. Zuvor hatte ein CDU-Abgeordneter im Namen der Regierungsparteien – und laut Protokoll »unter Beifall von der SPD bis ganz rechts« – gegen die Verschleppungen und Entführungen in West-Berlin protestiert und erklärt, dass diese ein Anhören von KPD-Reden solange ablehnen würden, bis sich die KPD öffentlich von »derartigen Verbrechen« distanziere. Dieser Aufforderung leistete der KPDAbgeordnete Reimann nicht Folge, sondern sprach im Zusammenhang mit dem Fall Linse von einer Verhaftung.975 Einige Tage später debattierte der Bundestag noch einmal ausführlicher Linses gewaltsame Entführung. Die CDU/CSU hatte eine große Anfrage und die FDP sowie SPD hatten Anträge eingereicht, in denen Protest gegen den Menschenraub erhoben und Schutzmaßnahmen – in Absprache mit den drei Westmächten – für die Westberliner Bürger gefordert wurden. Zudem regte die SPD die Erarbeitung eines »Weißbuchs« über die bisher bekannten Entführungsfälle an, das dem Europarat und den Vereinten Nationen unter Berufung auf die Menschenrechte und mit der Bitte um Unterstützung übergeben
Frieden und Freiheit. Sankt Augustin 2001; Klaus Körner: »Die rote Gefahr«. Antikommunistische Propaganda in der Bundesrepublik 1950–2000. Hamburg 2002, S. 21–74; Taube nagt am Kohlstrunk. In: Der Spiegel, Nr. 42/1950, S. 15; Den Brüdern helfen. In: Der Spiegel, Nr. 27/1955, S. 10 f. 973 Plakattext »Freiheit für Dr. Linse«, Volksbund für Frieden und Freiheit, 9.7.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag. 974 Diese beiden Forderungen – letztere wurde zum weltweiten Verbot kommunistischer Parteien erweitert – unterbreitete der Volksbund zudem in Protesttelegrammen an die UNO, den Papst und andere antikommunistische Organisationen. Vgl. Presseinformation, Volksbund für Frieden und Freiheit, 9.7.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag.; DPA-Meldung »UNO soll zugunsten Linse eingreifen«, 10.7.1952. BArch, B 209/1204, o. Pag. 975 Protokoll der 222. Sitzung des Deutschen Bundestags, 10.7.1952. PA-DBT 3001 1. WP, Stenographische Berichte Bd. 12, S. 9847–9930, hier 9863 f. Im Ministerium für gesamtdeutsche Fragen erwog man daraufhin eine Klage gegen die KPD vor dem Bundesverfassungsgericht. Vgl. Vermerk, Bundesministerium für Justiz, 11.7.1952. BArch, B 141/12195, Bl. 5; DPA-Meldung »Bundestag protestiert gegen Verschleppungen in Berlin«, 10.7.1952. BArch, B 209/1204, o. Pag.
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Bildteil
Abb. 1: Der 1952 entführte Rechtsanwalt und UFJMitarbeiter Walter Linse, 1951 | ullstein bild, Bild: 00017938
Abb. 2: Walter Linse kurz vor seiner Hinrichtung in Moskau, 1953 | ullstein bild/Chronos Media GmbH, Bild: 00345683
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Abb. 3: Als mehrere tausend Menschen vor dem Schöneberger Rathaus in WestBerlin für die Freilassung von Walter Linse demonstrierten, kam es zu Schlägereien mit Gegendemonstranten, 10. Juli 1952 | ullstein bild/dpa, Bild: 00236307
Abb. 4: Der West-Berliner Senat ließ nach der Entführung von Walter Linse Straßenübergänge zwischen West- und Ost-Berlin mit beweglichen und festen Sperren sichern, 1952 | picture alliance/akg-images, Bild: 30525885
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Abb. 5: Demonstration für die Freilassung von Alexander Truschnowitsch und Walter Linse vor der sowjetischen Militärmission in Frankfurt am Main, 17. April 1954 | ullstein bild, Bild: 00237196
Abb. 6: Der 1955 entführte Journalist Karl Wilhelm Fricke nach seiner Rückkehr nach West-Berlin, April 1959 | ullstein bild, Bild: 00173418
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Abb. 7: Der 1961 entführte Gewerkschaftsjournalist Heinz Brandt mit seiner Familie nach seiner Rückkehr nach Frankfurt am Main, Mai 1964 | ullstein bild/dpa, Bild: 00103257
Abb. 8: Warnschild an einem West-Berliner S-Bahnhof, Juni 1956 | ullstein bild, Bild: 00192285
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Abb. 9: In West-Berlin warnten Schilder vor der Sektorengrenze zu Ost-Berlin, hier in der Nähe des Potsdamer Platzes, Oktober 1952 | Günter Bratke, picture alliance, Bild: 23810481
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Abb. 10: Skizze des MfS zur gewaltsamen Entführung des West-Berliners Siegfried Wenzel, 3. August 1956 | BStU, MfS, AOP 786/57, Bd. 4, S. 36
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Abb. 11: Skizze aus dem Plan der Hauptabteilung II/SR 3 des MfS für die Entführung des geflohenen MfS-Mitarbeiters Alfred Glaser aus der Nähe von Heilbronn, 24. Februar 1958 | BStU, MfS, HA II, Nr. 4606, S. 101
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Abb. 12: Fotodokumentation des IM »Norge« zu einem Fluchtweg nach der gewaltsamen Entführung des Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt aus West-Berlin, 1961 | BStU, MfS, AIM 6039/57 A-Akte, Bd. 5b, S. 54
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werden sollte.976 Der Bundestagssitzung am 16. Juli 1952, in der die Anträge beraten wurden, wohnte auch die Ehefrau des entführten Walter Linse bei. Die Forderungen, welche die Vertreter der CDU/CSU-, FDP- und SPDFraktion in ihren Reden übereinstimmend benannten, brachte Willy Brandt als Vertreter der SPD mit folgendem Appell am Ende seiner Rede auf einen Nenner: »Wir rufen das Gewissen der Welt: Helft uns, Walter Linse zu befreien! Pocht mit uns an die Kerkertür, bis sie sich öffnet! Schluß mit dem Menschenraub!«977 Laut Protokoll reagierten alle Parteien mit Ausnahme der KPD mit langanhaltendem, lebhaftem Beifall. Als Vertreter der Bundesregierung nahm der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser Stellung zu den Anträgen. Er sagte zu, dass sich die Bundesregierung nachdrücklich bei den Westmächten für ein Einwirken auf die sowjetische Besatzungsmacht einsetzen werde. Ferner werde sie den Europarat und die Vereinten Nationen über sämtliche Fälle von Menschenraub in West-Berlin und der Bundesrepublik informieren und dort um Schutz und Hilfe ersuchen. Auch sei die Zusammenstellung eines »Weißbuches über politischen Menschenraub« vorgesehen. Im Hinblick auf die Schutzmaßnahmen mahnte Kaiser, dass dabei die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit nicht verletzt werden dürften. Unrecht dürfe nicht mit Unrecht beantwortet werden. Mit dem »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit« bestehe ein wirksamer strafrechtlicher Schutz und der Senat von Berlin habe auf die Linse-Entführung bereits mit notwendigen Sicherungsmaßnahmen an den Grenzübergängen reagiert. Allerdings sei zum Schutz der Bevölkerung in der Bundesrepublik noch eine Verstärkung des Bundesgrenzschutzes erforderlich. Außerdem appellierte Kaiser, dass der Gefahr des Menschenraubs nur mit erhöhter Aufmerksamkeit der Bevölkerung, Polizei und Besatzungsmächte wirksam begegnet werden könne. In der anschließenden Abstimmung wurden die Anträge mit überwiegender Mehrheit und wenigen Gegenstimmen sowie unter stürmischen Pfui-Rufen der KPD angenommen.978 In dem Beschluss hieß es:
976 Vgl. Große Anfrage der CDU/CSU »Betr. Menschenraub durch den sowjetzonalen Staatssicherheitsdienst in Westberlin«, Deutscher Bundestag, 9.7.1952. BArch, B 137/1063, o. Pag.; Antrag der FDP »Betr.: Schutz der Berliner Bevölkerung«, Deutscher Bundestag, 8.7.1952. PA-DBT 3001 1. WP, Anlagen Bd. 19, Drucksache Nr. 3580; Antrag der SPD »Betr.: Menschenraub in Berlin«, Deutscher Bundestag, 9.7.1952. Ebenda, Drucksache Nr. 3591; Bericht, Bundeskanzleramt, 19.1.1955. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Vorlage für den Bundeskanzler über den Entführungsfall Linse, Bundeskanzleramt, 20.1.1955. Ebenda, o. Pag.; DPA-Meldung: »SPD beantragt Weißbuch über Menschenraub«, 10.7.1952. BArch, B 209/1204, o. Pag. 977 Protokoll der 223. und 224. Sitzung des Deutschen Bundestages, 16.7.1952. PA-DBT 3001 1. WP, Stenographische Berichte Bd. 12, S. 9931–10045, hier 9943. 978 Vgl. Protokoll der 223. und 224. Sitzung des Deutschen Bundestages, 16.7.1952. PADBT 3001 1. WP, Stenographische Berichte Bd. 12, S. 9931–10045, hier 9944 f.; Bericht, Bundeskanzleramt, 19.1.1955. Ebenda, o. Pag.; Vorlage für den Bundeskanzler über den Entführungsfall Linse, Bundeskanzleramt, 20.1.1955. Ebenda, o. Pag.; Bundestag fordert Schutz der Berliner Bürger.
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»Der Bundestag protestiert aufs schärfste dagegen, daß am Dienstag, dem 8. Juli 1952, auf Westberliner Gebiet erneut ein Mitarbeiter einer Westberliner Organisation, die sich die Bekämpfung des Unrechts in der sowjetischen Besatzungszone zum Ziel gesetzt hat, von Beauftragten des sowjetzonalen Staatsssicherheitsdienstes überfallen, in ein Auto gezerrt und in die sowjetische Besatzungszone verschleppt wurde. Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sich für eine sofortige Freilassung der Verschleppten einzusetzen […]«979
Diesem Bundestagsbeschluss entsprechend wandte sich das Auswärtige Amt an die Alliierte Hohe Kommission, die sich im Fall Linse engagierte. Bereits am Tattag hatte der amerikanische Stadtkommandant Mathewson beim Vertreter der sowjetischen Kontrollkommission in Berlin Dengin Protest erhoben und die Freilassung Linses sowie die Festnahme und Verurteilung der Verantwortlichen gefordert: »Ich bin nicht nur empört über die Abscheulichkeit dieses Verbrechens, sondern auch über das offensichtliche Zusammenspiel von Personen, die der sowjetischen Kontrolle unterstehen. Ich kann nicht glauben, daß das zweckdienliche Hochheben der gewöhnlich so eifrig bewachten Zonenschranke reiner Zufall war, noch kann ich es dulden, daß die Täter dieses Verbrechens in dem Gebiet Zuflucht finden dürfen, das Ihrer Kontrolle untersteht.«980
Der amerikanische Hohe Kommissar John J. McCloy verlangte in einem persönlichen Gespräch von dem Vorsitzenden der sowjetischen Kontrollkommission Armeegeneral Tschuikow eine Aufklärung des Vorfalles. Dieser versprach zwar die Einleitung einer Untersuchung, blieb aber – auch auf erneute Nachfrage McCloys – entsprechende Auskünfte schuldig. Daraufhin übermittelte Samuel Reber als Geschäftsführender Hoher Kommissar der Vereinigten Staaten – auch im Namen der beiden Hohen Kommissare Frankreichs und Großbritanniens – Tschuikow nochmals eine nachdrückliche Aufforderung, Auskunft über Linses Verschwinden zu erteilen und ihn freizulassen.981 Die AntIn: Neue Zeitung, 17.7.1952; Menschenraub. In: Die Welt am Sonntag, 27.7.1952. Zur Diskussion über das geforderte »Weißbuch« vgl. Kapitel V.1.b. 979 Beschluss des Deutschen Bundestags in seiner 223. Sitzung, Deutscher Bundestag an den Bundeskanzler, 17.7.1952. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 428. 980 Note, Kommandeur der Vereinigten Staaten in Berlin General Mathewson an den Vertreter der Sowjetischen Kontrollkommission in Berlin Sergej A. Dengin, 8.7.1952. PA-DBT 3001 1. WP, Anlagen Bd. 20, Drucksache Nr. 3842, S. 3; Schreiben, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes an Präsidenten des Deutschen Bundestages, 29.10.1952. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Berlin schützt sich gegen Terrorakte. In: Neue Zeitung, 9.7.1952. 981 Vgl. Bericht, Amt des Hohen Kommissars der Vereinigten Staaten für Deutschland Informationsamt, 11.7.1952. PA-DBT 3001 1. WP, Anlagen Bd. 20, Drucksache Nr. 3842, S. 3 f.; Schreiben, Hoher Kommissar der Vereinigten Staaten McCloy an General Tschuikow, 18.7.1952. Ebenda, S. 4; Schreiben, Geschäftsführender Hoher Kommissar der Vereinigten Staaten in Deutschland Reber an General Tschuikow, 31.7.1952. Ebenda, S. 4–6; Mitteilung, UFJ, 10.6.1960. BArch, B 209/1204, o. Pag.; Bericht, Bundeskanzleramt, 19.1.1955. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Vorlage für den Bundes-
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wort des stellvertretenden Vorsitzenden der sowjetischen Kontrollkommission Semitschastnow lautete im August 1952 wie folgt: »In Beantwortung Ihres Schreibens vom 31. Juli 1952 darf ich feststellen, daß sich die Untersuchung der tatsächlichen Umstände des von Ihnen berichteten Vorfalls als schwierig erwies, um so mehr als er sich, wie Sie bemerkt hatten, in dem Gebiet unter der Kontrolle der Vereinigten Staaten ereignete. Eine Prüfung bezüglich Ihrer Feststellung über das Vorgehen der Volkspolizei der Deutschen Demokratischen Republik, das angeblich am 8. Juli 1952 erfolgt sein soll, hat nicht zu einer Bestätigung dieser Feststellung geführt. Ihre Behauptung über eine angeblich geöffnete Schranke entbehrt jeglicher Grundlage.«982
Die Hohen Kommissare der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs, die diese Antwort selbstredend als unbefriedigend erachteten, forderten daraufhin in einem Schreiben an Tschuikow erneut die Freilassung Linses und Bestrafung der Entführer.983 Einen Monat später erklärte Tschuikow, daß sich »ein gewisser Linse nicht in sowjetischem Gewahrsam« befinde. Der amerikanische Hohe Kommissar Walter J. Donnelly erinnerte Tschuikow in einem Protestschreiben, dem das Ermittlungsergebnis der Westberliner Polizei beigefügt war, an seine Zusage über eine gemeinsame Untersuchung des Vorfalls. Zum Weihnachtsfest 1952 wandte er sich nochmals mit einem persönlich gehaltenen Schreiben an Tschuikow, in dem er u. a. darum bat, Linse jedenfalls seine Brille zukommen zu lassen. Die einzige Reaktion war jedoch, dass das Lebensmittelpaket für Linse, das Donnelly seinem Brief beigefügt hatte, als »unzustellbar« zurückkam. Alle Versuche der west-alliierten Hohen Kommissare, eine Aufklärung der Entführung Linses sowie seines Aufenthaltsortes und seine Freilassung zu erwirken, blieben erfolglos.984 Im Frühjahr 1956 suchte der UFJ die Rücksprache mit dem Auswärtigen Amt, um eine neue Intitative für die Freilassung Linses in Gang zu setzen. kanzler über Entführungsfall Linse, Bundeskanzleramt, 20.1.1955. Ebenda, o. Pag. Auch antikommunistische Organisationen wandten sich mit Protestschreiben an Tschuikow, z. B. Telegramm, Befreiungskomitee für die Opfer totalitärer Willkür an den Vorsitzenden der sowjetischen Kontrollkomission General Tschuikow, 12.7.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag.; Senat von Berlin: Chronik 1951– 1954, S. 426, 435, 450; Kirsch: Walter Linse, S. 92; Mampel: Entführungsfall, S. 24. 982 Schreiben, Stellv. Vorsitzender der sowejtischen Kontrollkommission Semitschastnow an den Hohen Kommissar der Vereinigten Staaten für Deutschland Reber, 25.8.1952. PA-DBT 3001 1. WP, Anlagen Bd. 20, Drucksache Nr. 3842, S. 6; vgl. Mitteilung, UFJ, 10.6.1960. BArch, B 209/1204, o. Pag.; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, 1968, S. 469. 983 Vgl. Schreiben, Hoher Kommissar der Vereinigten Staaten Walter J. Donnelly an Armeegeneral Tschuikow, 26.8.1952. PA-DBT 3001 1. WP, Anlagen Bd. 20, Drucksache Nr. 3842, S. 6; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, 1968, S. 475. 984 Vgl. Schreiben, Alliierte Hohe Kommission für Deutschland Alliiertes Generalsekretariat Büro des Sekretärs der Vereinigten Staaten an das Auswärtige Amt, 10.10.1952. PA-DBT 3001 1. WP, Anlagen Bd. 20, Drucksache Nr. 3842, S. 2; Mitteilung, UFJ, 10.6.1960. BArch, B 209/1204, o. Pag.; Bericht, Bundeskanzleramt, 19.1.1955. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 484, 486 f., 508, 516, 548, 567 f., 583, 605 f.; Mampel: Entführungsfall, S. 24 f.
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Übereinstimmend war man der Ansicht, dass eine solche nur Erfolg haben könnte, wenn sie nicht mit Druck der öffentlichen Meinung, sondern ohne Aufsehen zu erregen vor sich gehen würde, da es für die Sowjetunion eine Prestigefrage darstelle. Das Auswärtige Amt schlug dementsprechend vor, Linse in eine Liste von Zivilgefangenen in der Sowjetunion aufzunehmen, die im Auswärtigen Amt geführt wurde. Auf diese Weise würde man der Sowjetunion die Gelegenheit bieten, Linse unauffällig in einem größeren Transport freizulassen. Wenn diese Variante wirkungslos bleibe, könne das Auswärtige Amt noch eine Demarche des Deutschen Botschafters veranlassen. UFJ-intern war man über eine Vorgehensweise zwischen den UFJ-Büros in Bonn und West-Berlin uneinig. Denn in der Westberliner UFJ-Vertretung erachtete man den ersten Schritt als sinnlos, da die sowjetischen Machthaber Linse schon längst in einem der Heimkehrertransporte hätten unterbringen können, wenn sie gewollt hätten. Der favorisierten zweiten Herangehensweise leistete man hingegen Vorschub, indem man dem deutschen Botschafter in Moskau bei einem Besuch in West-Berlin Unterlagen zum Fall Linse überreichen ließ. Der UFJ-Vertreter in Bonn teilte daraufhin dem Auswärtigen Amt den Wunsch des UFJ nach einer Sonderaktion für Linse durch den Botschafter mit. In Bonn erachtete man eine solche aber als geradezu verhängnisvoll und hielt weiterhin am ursprünglichen Vorschlag fest. Auch als sich im Herbst 1956 abzeichnete, dass eine Rückkehr Linses über das Listenverfahren nicht erreicht werden konnte, beharrte das Auswärtige Amt auf seiner Einschätzung einer möglichen Sonderaktion seitens des Botschafters als aussichtslos. Bei beiden Vorgehensweisen habe sich gezeigt, dass vonseiten der Sowjetunion der dortige Aufenthalt einer auszuliefernden Person verleugnet werde, wenn nicht deren genauer Standort angegeben werden konnte. Man verfolge daher nun eine neue Strategie, in deren Rahmen man erstmal nur Anfragen über den Verbleib von bestimmten Personen an die Sowjetunion stelle. Da diese erste Erfolge habe, zeige sich auf diesem Wege vielleicht auch eine Möglichkeit, Informationen über Linse zu erlangen. Aber eine entsprechende Anfrage könne erst erfolgen, wenn diese Strategie gefestigt sei.985 Diese Manöver blieben hinsichtlich Linse jedoch offensichtlich erfolglos. Erst die Mitteilung des Sowjetischen Roten Kreuzes über den Tod Linses und das anschließende Dementi im Herbst 1960 brachte wieder Bewegung in die Causa Linse. Der UFJ bat die Bundesregierung um ein Ersuchen bei der US-Regierung, die Ungewissheit über Linses Schicksal durch eine Rückfrage bei den sowjetischen Vertretern in der UN zu beseitigen. Im Bundesministeri985 Vgl. Aktenvermerk, UFJ-Büro Bonn, 24.4.1956. BArch, B 209/1201, o. Pag.; Mitteilung, UFJ-Büro West-Berlin an UFJ-Büro Bonn, 28.4.1956. Ebenda, o. Pag.; Antwortschreiben, UFJ-Büro Bonn an UFJ-Büro West-Berlin, 2.5.1956. Ebenda, o. Pag.; Aktenvermerk, UFJ-Büro Bonn, 18.5.1956. Ebenda, o. Pag.; Aktenvermerk, UFJ-Büro Bonn, 19.10.1956. Ebenda, o. Pag.
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um für gesamtdeutsche Fragen wurde dieser Vorschlag als »sehr schwer realisierbar« eingeschätzt. Man vertröstete den UFJ mit dem Hinweis, dass der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Ernst Lemmer den Fall Linse im Europarat zur Sprache gebracht habe und sich das Deutsche Rote Kreuz intensiv bemühe.986 Die politischen und diplomatischen Bemühungen bundesdeutscher und west-alliierter Stellen zugunsten der Entführungsopfer, die am Beispiel Linse deutlich werden, waren keine Ausnahme. In einem Schreiben an das Auswärtige Amt im Oktober 1952 betonte der Sekretär der Vereinigten Staaten von der Alliierten Hohen Kommission für Deutschland, dass man sich nicht nur dem Fall Linse, sondern auch jedem anderen Entführungsfall mit großer Aufmerksamkeit widme und ebenso energische Maßnahmen zur Erwirkung einer Freilassung ergreife.987 Voraussetzung eines solches Engagements war allerdings, dass eine Entführung auch als solche erkannt bzw. überhaupt bekannt wurde. Zudem spielte auch eine Rolle, inwieweit es treibende Kräfte aus dem Umfeld des Entführten oder Verschleppten gab, seien es Familienangehörige und/oder Organisationen. Allen Verschleppungs- und Entführungsopfern dürfte daher kaum dieselbe Aufmerksamkeit zuteil geworden sein. Großes öffentliches Aufsehen erregte erst wieder eine gewaltsame Entführung, die knapp zwei Jahre nach der Linse-Entführung in West-Berlin geschah. Am 13. April 1954 wurde der Leiter der russischen EmigrantenOrganisation NTS Alexander Truschnowitsch gewaltsam aus West-Berlin entführt. Vier Tage später folgten etwa 2 000 Menschen dem kurzfristigen Aufruf des NTS zu einer Kundgebung, an der sich auch die bundesdeutschen Parteien CDU, FDP und SPD beteiligten. Ähnliche Protestversammlungen fanden in Frankfurt/M., München, Brüssel, Paris und New York statt. Als Vertreter der Parteien sprachen in West-Berlin Ernst Lemmer für die CDU, Carl-Hubert Schwennicke für die FDP und Willy Brandt für die SPD.988 Ein Dokument aus dem Bundeskanzleramt offenbart jedoch auch die Bedenken in der Bundesregierung hinsichtlich eines Engagements für Truschnowitsch. Mit der Bitte um eine finanzielle Untersützung für die Durchführung von Protestkundgebungen und Flugblattaktionen im Ruhrgebiet sowie in Hamburg, Köln, Frankfurt und München hatte sich der NTS Frankfurt an das Bundes986 Vgl. Schreiben, UFJ an Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, 12.9.1960. BArch, B 137/1063, o. Pag.; Antwortschreiben, Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen an UFJ, 30.9.1960. Ebenda, o. Pag. 987 Vgl. Schreiben, Alliierte Hohe Kommission für Deutschland Alliiertes Generalsekretariat Büro des Sekretärs der Vereinigten Staaten an das Auswärtige Amt, 10.10.1952. PA-DBT 3001 1. WP, Anlagen Bd. 20, Drucksache Nr. 3842, S. 2. Interventionen west-alliierter Stadtkommandanten beim sowjetischen Stadtkommandanten gab es z. B. auch im Fall des im Februar 1956 entführten ehemaligen SED-Funktionär Robert Bialek. Vgl. Senat von Berlin: Chronik 1955–1956, S. 433. 988 Vgl. Bericht, Polizeipräsident von Berlin an Regierenden Bürgermeister, 20.4.1954. LAB, B Rep. 002, Nr. 4885, Bd. 2, o. Pag.; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 1008.
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ministerium für gesamtdeutsche Fragen gewandt. Dieses richtete daraufhin an das Bundeskanzleramt die Anfrage, ob überhaupt Bundesmittel für derartige Aktionen von russischen Emigranten zur Verfügung gestellt werden können. Im Bundeskanzleramt vermerkte Ministerialdirigent Karl Gumbel handschriftlich auf dem Brief, dass die »Angelegenheit Tr.« nach seinem Eindruck noch nicht eindeutig geklärt sei, obwohl die Regierung auf Grundlage von amerikanischen Informationen von einer Verschleppung ausgehe. Als Unterstützer und Nutznießer des NTS hätten die Amerikaner aber ein »einseitiges« Interesse. Zudem seien die russischen Emigranten in zahlreiche, sich befehdende Gruppen gespalten, sodass eine Bevorzugung einer dieser Gruppen aus politischen Gründen nicht empfehlenswert sei. Aus diesen Gründen riet Gumbel von einer Unterstützung des NTS bei dessen geplanten Aktionen ab. Dem Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen wollte er jedoch lediglich mitteilen, dass eine Beihilfe aufgrund der »Gesamtumstände« nicht angebracht wäre. Ob der Staatssekretär sein Einverständnis zu dieser Strategie gab, ist nicht bekannt.989 Vonseiten der Westmächte ergingen zwei Tage nach Truschnowitsch' Entführung Protestnoten der drei Stadtkommandanten an den sowjetischen General Sergej A. Dengin, der diese jedoch mit dem Hinweis ablehnte, dass Truschnowitsch freiwillig nach Ost-Berlin gekommen sei. Mit derselben Begründung verweigerte er auch eine Befragung Truschnowitsch' durch alliierte Untersuchungsbehörden, um die der britische Stadtkommandant Ende April 1954 in Reaktion auf die erste Ablehnung bat.990 Eine gleichlautende Erklärung hatte die ostdeutsche Nachrichtenagentur ADN bereits am Tag nach Truschnowitsch' Entführung verbreitet, eine Woche später folgte die Veröffentlichung einer angeblichen Verlautbarung von ihm.991 Zu diesem Zeitpunkt war Truschnowitsch aber bereits tot, er war noch am Tag seiner Entführung mutmaßlich an den Folgen der ihm zugefügten Gewalt gestorben. Der NTS wies die vermeintliche Erklärung von Truschnowitsch in einer öffentlichen Stellungnahme als »plumpe Fälschung des SSD/MWD« zurück und forderte eine internationale Untersuchung seines Verschwindens durch eine Sonderkommission der UNO.992 Der Skandal zog weitere internationale Kreise: Der stellvertretende amerikanische Hohe Kommissar Walter Dowling protestierte in einer Note an den sowjetischen Hohen Kommissar Wladimir S. Semjonow 989 Anfrage, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen an Bundeskanzleramt, 4.5.1954. BArch, B 136/6480, o. Pag. 990 Vgl. Zusammenfassender Bericht zur Entführung Truschnowitsch', o. D. BArch, B 136/6480, o. Pag.; Broschüre »Dokumente zur Entführung von Dr. Alexander Truschnowitsch«, NTS, 1954. LAB, B Rep. 002, Nr. 4885, Bd. 2, S. 26; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 1007, 1017. 991 Vgl. Broschüre »Dokumente zur Entführung von Dr. Alexander Truschnowitsch«, NTS, 1954. LAB, B Rep. 002, Nr. 4885, Bd. 2, S. 6–9. 992 Vgl. ebenda, Bd. 2, S. 9.
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in scharfen Worten gegen das »vorsätzlich brutale und unzivilisierte Vorgehen der Sowjetregierung« gegen Truschnowitsch und andere russische Emigranten.993 An die Regierungschefs der Westmächte, an die Vereinten Nationen und das Internationale Rote Kreuz ergingen zahlreiche Protestschreiben. Im Mai 1954 reiste die Ehefrau von Truschnowitsch nach Genf, um beim dortigen Internationalen Komitee vom Roten Kreuz vorzusprechen und den dort anläßlich der Außenministerkonferenz weilenden sowjetischen Außenminister Molotow zu kontaktieren. Schriftlich bat sie ihn, ihr ein Zusammentreffen mit ihrem Mann in der Schweiz zu gewähren. Noch am selben Tag musste sie Genf jedoch auf eindringliche Bitte der Schweizer Behörden verlassen, die sich nicht in der Lage sahen, ihre Sicherheit zu garantieren. Im amerikanischen Kongress gab ein Senator eine Erklärung ab, in der er Maßnahmen gegen den sowjetischen Menschenraub und zur Befreiung Truschnowitsch' forderte. Ende Juni 1954 sprach die Ehefrau Truschnowitsch' vor dem »Ausschuss für Fragen kommunistischer Agression« (nach dem Vorsitzenden Charles J. Kersten kurz Kersten-Komitee genannt) des amerikanischen Kongresses vor. Vertreter des Kersten-Komitees führten in West-Berlin zwei Tage lang Gespräche mit DDR-Flüchtlingen und Entscheidungsträgern, darunter auch Polizeipräsident Johannes Stumm, der über die Entführungstechniken östlicher Dienste berichtete. In New York gründete sich ein »Komitee zur Bekämpfung sowjetischen Menschenraubs« mit Zweigstellen in Washington, San Francisco, Los Angeles, Chicago und Houston, das sich für Truschnowitsch' Freilassung einsetzte.994 Doch wie im Fall Linse blieben alle Initiativen zur Befreiung Truschnowitsch' wirkungslos und angesichts des Todes von Truschnowitsch waren sie von Anfang an chancenlos. Erfolg hatten hingegen die Proteste gegen die Entführung des Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt Mitte Juni 1961 und die daraus erwachsene Freilassungskampagne. Als Hauptinitiatoren sind neben Brandts Ehefrau, die dem Kampf um Brandts Freilassung immer wieder neue Impulse gab, Unterstützer gewann und koordinierte, die IG Metall in Frankfurt/M. und ein internationales Netzwerk politischer Freunde Brandts zu nennen.995 Der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) protestierte in einer öffentlichen Erklärung gegen Brandts Entführung und forderte seine umgehende Freilassung. Auf Initiative der IG Metall wandte sich der Internationale Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) an den UN-Generalsekretär Hammarskjöld mit der Bitte, den Fall Brandt vor die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen zu bringen. Nach langen Beratungen erklärte sich diese 993 Vgl. ebenda, S. 26; Scharfer Protest gegen den MWD-Terror. Amerikanische Note wirft Sowjets »brutales und unzivilisiertes Handeln« vor. In: Der Kurier, 24.4.1954. 994 Vgl. Broschüre »Dokumente zur Entführung von Dr. Alexander Truschnowitsch«, NTS, 1954. LAB, B Rep. 002, Nr. 4885, Bd. 2, S. 20–28; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 1089. 995 Vgl. Andresen: Widerspruch, S. 260–266; ders.: Judentum, S. 647 f.
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Kommission allerdings für nicht zuständig, da die DDR nicht der UN angehörte.996 Zahlreiche, zum Teil internationale Organisationen setzten sich für Brandt ein, der bereits in der Zeit des Nationalsozialismus politische Verfolgung und mehr als zehn Jahre Haft in Zuchthäusern und Konzentrationslagern (darunter Auschwitz) hatte ertragen müssen. In Frankfurt/M. schlossen sich im Juni 1961 Vertreter der »Falken«, der Jusos und des SDS zu einem »Komitee Freiheit für Heinz Brandt« zusammen und organisierten Anfang Juli eine Kundgebung, an der über 500 Menschen teilnahmen. Auf einer Pressekonferenz des »Kongress für die Freiheit der Kultur« Ende Juni 1961 in Bonn setzten sich Carola Stern und Wolfgang Leonhard für Heinz Brandt ein. Der »Verband für Freiheit und Menschenwürde« (Bund der rassisch, politisch oder religiös Verfolgten) erhob Protest und forderte das DDR-Innenministerium auf, Brandt freizulassen. Ebenso verlangten etwa 300 Frankfurter Bürger sowie namhafte Persönlichkeiten aus der Bundesrepublik, Frankreich und den USA – darunter Erich Fromm und Eugen Kogon – in Telegrammen an Chruschtschow und Ulbricht die Freilassung Brandts. Nach Aufrufen von Organisationen wie der »Vereinigung politischer Häftlinge des Sowjetsystems« schickten Menschen aus der Bundesrepublik und der DDR Briefe und Postkarten an das MfS, in denen sie ihrem Protest und ihrer Forderung, Brandt freizulassen, Ausdruck verliehen.997 National und international widmeten sich zentrale politische Foren der Entführung Brandts. Im Bundestag nahm der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Ernst Lemmer in einer Fragestunde Stellung zu den Maßnahmen der Bundesregierung, um eine Freilassung Brandts zu erwirken. Er versicherte, dass diese sich seit Bekanntwerden der Entführung mit besonderem Nachdruck engagiere und »alle ihr zu Gebote stehenden Wege beschritten« habe. Nähere Auskunft könne er im Interesse des Entführten und angesichts des gegen ihn schwebenden Verfahrens in der DDR im Augenblick nicht geben, so Lemmer. Auf Nachfrage informierte er aber noch, dass die deutsche Beobachter-Delegation bei der UNO den Auftrag erhalten werde, sich mit größtmöglichem Nachdruck für Brandt im Wirtschafts- und Sozialrat der UNO einzusetzen.998 Dort stand der Fall Brandt auf der Agenda der Tagung im
996 Vgl. Protesterklärung, DGB-Bundesvorstand, 23.6.1961. BArch, B 137/31844, Bl. 23; Protest des IBFG bei Hammarskjöld. In: Telegraf, 5.7.1961; Andresen: Widerspruch, S. 264 f., 269, 274. 997 Vgl. Schreiben, Verband für Freiheit und Menschenwürde an das DDR-Innenministerium, 6.7.1961. BArch, B 137/31844, Bl. 27; Brandts Freilassung gefordert. In: Der Tag, 15.7.1961; Freiheit für Heinz Brandt! Internationale Aktion für verhafteten Gewerkschaftsredakteur. In: Telegraf, 30.7.1961; Protestaktion für Heinz Brandt. In: Telegraf, 16.1.1962. Einige der Protesttelegramme und über 250 Protestbriefe und -postkarten finden sich heute in den Unterlagen des MfS. Vgl. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 1, 37 u. 38; Andresen: Widerspruch, S. 263 f., 266–268. 998 Vgl. Stenographischer Bericht über 12. Sitzung des Deutschen Bundestags, 24.1.1962. PADBT 3001 4. WP, Stenographische Berichte Bd. 50, S. 289–333, hier 290.
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Frühjahr 1962.999 Im Hinblick auf die UN-Versammlung forderte Walter Ulbricht den MfS-Chef Erich Mielke auf, unverzüglich die Untersuchungsverfahren gegen Brandt zum Abschluss zu bringen und das Material, das der Staatsanwaltschaft übergeben werden soll, dem Sekretär des ZK – also ihm selbst – vorzulegen. Zudem sollte Erich Mielke ihn mit »Tatsachenmaterial über die Angelegenheit Brandt« und Materialien über »Abwerbung und Menschenhandel vonseiten der Organe der Bonner Regierung und verschiedener Agenturen, die von den USA und NATO-Staaten in Westberlin unterhalten werden«, versorgen.1000 Diese Unterlagen dienten der Weitergabe an die sowjetische Delegation, die das Ministerium für Auswärtige Anlegenheiten der DDR über den drohenden Tagesordnungspunkt des Wirtschafts- und Sozialrates informiert hatte und das Material für ihre dortige Stellungnahme benötigte. Als das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten zwei Monate später beklagte, immer noch keine entsprechenden Unterlagen erhalten zu haben, wies Ulbricht Erich Mielke an, diese den »sowjetischen Freunden« über das Innenministerium zukommen zu lassen. Von sowjetischer Seite wurde zudem angeregt, über den DDR-Nachrichtendienst ADN eine kurze »sachliche« Meldung zu veröffentlichen, dass das Untersuchungsverfahren gegen Brandt noch in der Schwebe sei und der Prozess voraussichtlich Mitte April stattfinden werde. Das würde der sowjetischen Delegation in der Kommission die Argumentation erleichtern.1001 Das SED-Regime erklärte daraufhin im März 1962, ein öffentliches Gerichtsverfahren gegen Brandt zu eröffnen, der bei Spionagetätigkeiten in Potsdam festgenommen worden sei. Wenige Wochen später traf allerdings im Westen die Nachricht ein, dass Brandt in einem nichtöffentlichen Prozess vor dem Obersten Gericht der DDR zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Nicht einmal die von der IG Metall beauftragten Rechtsanwälte hatten der Gerichtsverhandlung als Beobachter, geschweige denn als Verteidiger beiwohnen dürfen.1002 Die Verurteilung Brandts entfachte eine neue Protestwelle. Der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Ernst Lemmer bezeichnete die Verurteilung als Kennzeichen für »den menschenverachtenden Justizterror des kommunisti-
999 Vgl. Fall Brandt vor der UNO. In: Tagesspiegel, 5.9.1961; Fall Brandt vor UNO-Organ. In: Tagesspiegel, 23.12.1961. 1000 Mitteilung, Walter Ulbricht an Erich Mielke, 4.1.1962. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 42, S. 11. 1001 Vgl. Mitteilung, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR an Walter Ulbricht und Erich Mielke, 2.1.1962. BStU, MfS, AU 228/90, Bd. 42, S. 12; Mitteilung, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR an 1. Sekretär des ZK der SED Walter Ulbricht, 20.3.1962. Ebenda, S. 16. 1002 Vgl. Zone: Öffentliches Verfahren gegen Heinz Brandt. In: Tagesspiegel, 9.3.1962; Justizverbrechen an Heinz Brandt. In: Telegraf, 11.5.1962; 13 Jahre Zuchthaus für Heinz Brandt. In: Tagesspiegel, 11.5.1962; Brandt: Traum, 1985, S. 33, 340.
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schen Regimes«.1003 Der Bundesausschuss des DGB wandte sich erneut mit einem Appell an die UNO. Das Internationale Presse-Institut, dem zu der Zeit rund 1 400 Redakteure aus 48 Ländern angehörten, protestierte auf seiner Generalversammlung in Paris gegen Brandts Verurteilung. Zudem setzte sich eine gerade in Großbritannien gegründete Organisation für Brandt ein, die sich fortan weltweit für politische Gefangene engagieren sollte: Amnesty.1004 Die Proteste rissen nicht ab, allerdings wurde es schwieriger, mediales Interesse zu gewinnen: Im Frühjahr 1963 thematisierte der UN-Wirtschafts- und Sozialrat zum dritten Mal den Fall Brandt.1005 Amnesty erklärte Brandt Weihnachten 1963 zum »Gefangenen des Jahres«. Nach wiederholten Protesten gegen die Inhaftierung Brandts schickte der britische Philosoph Lord Bertrand Russell, dem 1963 in der DDR die »Carl-von-Ossietzky-Medaille für den Frieden« verliehen worden war, selbige Anfang Januar 1964 aus Protest zurück. Für die Parteiführung war Russells Engagement für den inhaftierten Brandt ein tiefer Schlag.1006 Als Brandt vier Monate später vorzeitig aus der DDR-Haft entlassen wurde, ließ er umgehend ein Danktelegramm an Russell schicken.1007 Der anhaltende Druck der (zum Teil internationalen) Proteste von Einzelpersonen und Institutionen – allen voran des DGB und Amnesty – hatte seine Freilassung erzwungen. Brandt bezeichnete seine Entlassung aus der DDR-Haft als »dritte Auferstehung« nach seiner Entlassung aus einer Berliner SA-Kaserne im März 1933, wo er schwer misshandelt worden war, und nach seiner Befreiung aus dem KZ Buchenwald durch die amerikanische Armee.1008 Diese Beispiele können nur schlaglichtartig veranschaulichen, wie vielfältig die Intiativen für die Entführungsopfer waren und mit welchen Schwierigkeiten sie verbunden waren. Oft waren die Bemühungen erfolglos. So wurde im 1003 Proteste gegen Verurteilung Brandts. In: Tagesspiegel, 12.5.1962. Vgl. Proteste aus aller Welt. Terrorurteil gegen Heinz Brandt verhöhnt die Menschenrechte. In: Telegraf, 12.5.1962; Protest der Widerstandskämpfer. In: Tagesspiegel, 15.5.1962. 1004 Vgl. Appell für Heinz Brandt. In: Telegraf, 18.5.1962; DGB-Appell an die UNO für Heinz Brandt. In: Tagesspiegel, 18.5.1962; Internationale Proteste gegen Verurteilung von Heinz Brandt. In: Tagesspiegel, 19.5.1962. Vgl. Anja Mihr: Die internationalen Bemühungen von Amnesty International im Fall Heinz Brandt. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 37(2001)4, S. 449–464. 1005 Vgl. Fall Heinz Brandt erneut vor die UNESCO. In: Tagesspiegel, 12.1.1963; Andresen: Widerspruch, 2007, S. 274 f. In der DDR beriet das Politbüro, wie es auf die erneute Thematisierung der Verurteilung Brandts im Wirtschafts- und Sozialrat der UNO reagieren sollte. Vgl. Protokoll Nr. 16/63, Politbüro des SED-Zentralkomitees, 21.5.1963. BArch DY 30/J IV 2/2/880. 1006 Vgl. Fall Heinz Brandt erneut vor die UNESCO. In: Tagesspiegel, 12.1.1963; Lord Russell schickt Pankower Friedenspreis zurück. In: Tagesspiegel, 8.1.1964; Ohrfeige für Pankow. In: Telegraf, 8.1.1964; Brandt: Traum, 1985, S. 336; Heinrich Mohr: Heinz Brandt. In: Karl Wilhelm Fricke, Peter Steinbach, Johannes Tuchel: Opposition und Widerstand in der DDR. München 2002, S. 332– 339, hier 339; Andresen: Widerspruch, S. 274 f.; ders.: Judentum, S. 648. 1007 Vgl. Heinz Brandt rief Brenner an. Hoffnung auf baldige Rückkehr nach Frankfurt am Main. In: Tagesspiegel, 26.5.1964. 1008 Vgl. Brandt: Traum, S. 336; Proteste erzwangen Freilassung. In: Tagesspiegel, 29.5.1964.
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Bundesamt für Verfassungsschutz Anfang 1961 die Akte eines 1954 entführten Mitarbeiters mit dem resignierenden Vermerk geschlossen: »1. Eine weitere Aufklärung der Vorgänge, die mit der Entführung von B. am 17. Juli 1954 zusammenhängen, ist nicht möglich. 2. Alle Versuche, B. aus der DDR herauszuholen oder seine Freiheit zu erreichen, sind gescheitert.«1009 Eine Erklärung des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt vor dem Abgeordnetenhaus von Berlin im September 1958, kurz nachdem der UFJ-Mitarbeiter Erwin Neumann entführt worden war, lässt die politische Brisanz des Engagements für die Entführten erahnen: »Das Hohe Haus und die Bevölkerung von Berlin dürfen davon überzeugt sein, daß der Senat auch in den beiden jüngsten Fällen des Verschwindens von Mitbürgern nicht untätig geblieben ist. Aber es liegt in der Natur der Sache, daß nicht immer alles an die große Glokke gehängt werden kann.«1010 Neben politischen Instanzen wie die UNO, die Westmächte, die Bundesregierung und der Bundestag, der Berliner Senat und das Abgeordnetenhaus u. a. gab es eine Vielzahl an Organisationen, die aktiv wurden. Bei den meisten von ihnen basierte der Einsatz für die Entführungsopfer auf ihrem generellen Engagement gegen das Unrecht in der DDR und für die Einhaltung von Menschenrechten. Auch spielte die eigene Betroffenheit eine Rolle, wenn ein eigener Mitarbeiter einer Entführung zum Opfer gefallen war. Das Phänomen des politischen Menschenraubs führte aber darüber hinaus zur Gründung von Vereinigungen, die sich speziell diesem Thema annahmen. So konstituierte sich im Sommer 1955 in Paris eine »Europäische Kommission zur Untersuchung von politischen Entführungen«. In ihrem Programm beklagte sie: »Wir erleben handfeste Männer, die zu allen Sachen und Verbrechen bereit sind, ihre Opfer in Hinterhalte locken, sie niederschlagen, sie in geheimnisvolle Wagen ziehen, sie mit höchster Geschwindigkeit in unbekannter Richtung fortbringen, sie ihren Gegnern ausliefern und sie so dem Schlimmsten aussetzen. Das ist eine Banditerei, deren geistige Urheber wie auch Ausführende direkt von bestimmten sehr mächtigen Staaten abhängig sind, was sie zu bekämpfen eine so heikle Sache werden läßt, daß man versucht ist, sich angesichts dessen als vollkommen entwaffnet zu bezeichnen.«1011
1009 Zit. in: Horchem: Spione, S. 53. Der ehemalige Chef des Hamburger Landesamts für Verfassungsschutz Hans Josef Horchem war mit dem Entführungfall betraut. 1010 Stenographischer Bericht zur 90. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 4.9.1958. Stenographische Berichte des Abgeordnetenhauses von Berlin, Wahlperiode II, Bd. IV, Heft Nr. 16, Berlin 1958, S. 499–506, hier 501. Bei dem 2. Entführungsfall, von dem Brandt sprach, handelte es sich um einen Mann, der Anfang August 1958 von DDR-Volkspolizisten gewaltsam aus der Westberliner Exklave Steinstücken verschleppt wurde. 1011 Konstitution und Programm der »Commission Européene D’Enquête Sur Les Enlèvements Politiques«, 16.6.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 6016, Bl. 32–35, hier 33.
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Mit der Gründung der Untersuchungskommission wolle man nun der Passivität entgegenwirken, mit welcher der politische Menschenraub hingenommen und dadurch forciert würde. Im Dienste der »Aufrechterhaltung des Begriffs von Recht und Gerechtigkeit« setzte sie sich die Überprüfung aller bekannt gewordenen und werdenden Entführungsfälle zur Aufgabe. Die Ergebnisse sollten sodann der Öffentlichkeit und »internationalen Organen« unterbreitet werden, und »nötigenfalls [sollte] feierlicher Protest« erhoben werden. 1012 Die Protestaktionen und der Einsatz für die Entführungsopfer waren jedoch nur ein Aktionsfeld, das sich angesichts der Verschleppungen und Entführungen für staatliche Stellen und nichtstaatliche Organisationen in der Bundesrepublik ergab. Als Gefahr für westdeutsche, vor allem Westberliner Bürger wurde dem Menschenraub darüber hinaus mit entsprechenden Schutzmaßnahmen begegnet. Schutzmaßnahmen In den politischen Stellungnahmen, Presseberichten und öffentlichen Protesten, die sich nach dem Bekanntwerden von Verschleppungen und Entführungen häuften, artikulierte sich immer wieder auch die Frage nach einem wirksamen Schutz vor derartigen Übergriffen. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Generell galt es, den Schutz der westdeutschen, insbesondere der Westberliner Bevölkerung zu gewährleisten. Es mussten aber auch gesonderte Schutzmaßnahmen für gefährdete Personen ergriffen werden. Diese Anforderung stellte sich in erster Linie dem bundesrepublikanischen Staat mit seinen west-alliierten Schutzmächten und seinen Ermittlungsbehörden. Die westlichen Geheimdienste, aber auch die antikommunistischen Organisationen verließen sich beim Schutz gefährdeter Personen, also ihrer eigenen Mitarbeiter, allerdings nicht nur auf den Staat. Grundsätzlich waren westliche Nachrichtendienste und antikommunistische Organisationen natürlich bemüht, einen Informationsabfluss an den DDR-Staatssicherheitsdienst zu verhindern – das diente auch dem Schutz ihrer Mitarbeiter und Kontaktleute. Mittels eingehender Überprüfungen versuchte man, der Einschleusung von ›Maulwürfen‹ zu entgehen – dennoch gelang dies dem MfS immer wieder. Ferner trugen Personen und Einrichtungen zum eigenen Schutz Decknamen. Zu dieser geheimdienstlichen Methode griffen manche antikommunistischen Organisationen allerdings zu spät: Als im FDP-Ostbüro nach der Entführung eines Mitarbeiters im Oktober 1953 die Entscheidung für die Nutzung von Decknamen fiel, waren dem MfS die Klarnamen der Mitarbeiter bereits bekannt.1013
1012 Ebenda, Bl. 33 f. 1013 Vgl. Buschfort: Parteien, S. 184 f., 188.
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Angesichts der oft raffinierten und nicht selten skrupellosen Verschleppungen und Entführungen ergriffen staatliche Stellen, westliche Geheimdienste und antikommunistische Organisationen aber auch unmittelbare Schutzmaßnahmen. So sicherten sie beispielsweise ihre Dienstsitze mit Alarmsystemen. Die Büroräume der Rechtsschutzstelle verfügten über Klingelknöpfe, mit denen eine Alarmanlage ausgelöst werden konnte. Der Raum mit der Inhaftiertenkartei wurde mit einer elektrischen Signalanlage ausgestattet, die unmittelbar an die Funkwagenzentrale der Polizei angeschlossen war.1014 Im Wissen um den Gefahrenpunkt der Berliner S-Bahn, die in West-Berlin ›unter DDRFlagge‹ verkehrte, verbot der Leiter des FDP-Ostbüros Karl-Heinz Naase im Sommer 1954 seinen Mitarbeitern, diese zu benutzen. Es durften nur noch Verkehrsmittel gewählt werden, die unter Westberliner Obhut standen und nicht in der Lage waren, die letzte Haltestelle vor der Sektorengrenze zu überfahren. Derartige Regelungen wurden auch in den anderen Ostbüros getroffen. Mitunter wurden Mitarbeiter abends sogar gesammelt nach Hause gebracht, so zum Beispiel beim Ostbüro der SPD.1015 Eine erwünschte Schutzmaßnahme bot allerdings immer wieder Diskussionsstoff: die Ausstattung gefährdeter Personen mit einer Schusswaffe. Nach der Entführung seines Mitarbeiters Walter Linse forderte der Leiter des UFJ, Horst Erdmann alias Theo Friedenau, dass allen Bürgern, die im öffentlichen Leben der geteilten Stadt Berlin stehen, die Erlaubnis zum Tragen einer Waffe erteilt werden müsse.1016 In Loyalitätsbekundungen, die in den Tagen nach Linses gewaltsamer Entführung den UFJ erreichten, wurde die Forderung nach einer Bewaffnung zum Selbstschutz und insgesamt härteren Maßnahmen gegen den politischen Menschenraub unterstützt.1017 In diesem Sinne appellierten auch andere Organisationen wie beispielsweise die Vereinigung Politischer Ostflüchtlinge (VPO). In einem Schreiben an den Bundeskanzler Konrad Adenauer erhob sie schwere Vorwürfe gegen den Berliner Senat sowie die Polizei und drängte auf das schon seit Langem von ihnen geforderte Ergreifen von Schutzmaßnahmen: Neben einer harten Bestrafung der Tatbeteiligten sollten die Überwachung der Sektorengrenzen verschärft und alle Flüchtlingslager in unmittelbarer Nähe der Sektoren- respektive Zonengrenzen unter besonderen Polizeischutz gestellt werden. Dieser sollte auch gefährdeten politischen Akteuren zuteil werden, an die außerdem umgehend Waffenscheine auszuhändigen
1014 Vgl. Schreiben »Betr.: Sicherung der Büroräume der Berliner Rechtsschutzstelle sowie persönliche Sicherung«, Rechtsschutzstelle an BMG, 25.2.1960. BArch, B 137/1741, o. Pag.; Bestätigung, BMG an Rechtsschutzstelle, 9.3.1960. Ebenda, o. Pag. 1015 Vgl. Buschfort: Parteien, S. 184 f. 1016 Vgl. Berlin schützt sich gegen Terrorakte. In: Neue Zeitung, 9.7.1952. 1017 Vgl. rund 30 Loyalitätsbekundungen von Organisationen und Bürgern an den UFJ, 9.– 24.7.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag.; darunter: Schreiben, VPO an UFJ, 9.7.1952. Ebenda, o. Pag.
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seien.1018 Die Forderung nach einer Ausgabe von Waffenscheinen und damit einem Angleichen der Berliner Bestimmungen zum Waffenbesitz an die im Bundesgebiet geltenden Reglungen tauchte auch in einem Dringlichkeitsantrag der Fraktionen SPD, CDU und FDP im Westberliner Abgeordnetenhaus auf und wurde einstimmig verabschiedet. Der Berliner Senat versuchte daraufhin diesen Punkt mit der alliierten Kommandantur zu verhandeln, die sich jedoch sehr zurückhaltend zeigte. Deshalb schränkte der Senat seine Bitte um die Ausgabe von Waffenscheinen auf einen Kreis von 30 besonders gefährdeten Personen ein, der dann nach erteilter Genehmigung nach und nach erweitert werden sollte.1019 Doch die Initiative blieb erfolglos, sodass sich die betroffenen Organisationen nach anderen Verteidigungsmöglichkeiten umsahen. Bereits drei Monate vor der Linse-Entführung hatte sich der UFJ bereits bei einem Händler für Schusswaffen um Gaspistolen bemüht, deren Lieferung sich jedoch verzögerte.1020 Nach der gewaltsamen Entführung Linses wurde die Frage nach einer Bewaffnung der hauptamtlichen UFJ-Mitarbeiter akut: »Ich schlage vor, unter allen Umständen zu versuchen, auf dem bisherigen Wege noch Pistolen zu beschaffen.«, lautet ein interner Vermerk Ende Juli 1952. »Die mit x bezeichneten Personen brauchen m. E. sofort eine Waffe. Für die anderen könnten nach und nach besorgt werden. Für die X-Herren müssten, falls nicht anders möglich, Pistolen ›schwarz‹ beschafft werden, [...]«1021 Der UFJ bestellte daraufhin bei einem Büchsenmachermeister 10 Pistolen mit dem Kaliber 6,35 mm und dazugehöriger Munition. Dieser sollte sich auch um die behördlichen Genehmigungen respektive Waffenscheine kümmern. Die Lieferung der Pistolen blieb aber aus, da die Bemühungen um Waffenscheine beim Berliner Senat und bei der Alliierten Kommandantur erfolglos verliefen. »Wahrscheinlich müssen erst noch mehr Menschen verschleppt oder gar umgebracht werden«, monierte der Büchsenmacher gegenüber dem UFJ.1022 Ob der UFJ daraufhin tatsächlich auf illegalem Wege Pistolen für einige seiner hauptamtlichen Mitarbeiter beschaffte, ist in den überlieferten Akten nicht 1018 Vgl. Schreiben, VPO an Bundeskanzler Konrad Adenauer, 9.7.1952. BArch, B 136/6539, o. Pag. Das Bundesministerium für Justiz versicherte, den Senat und die alliierten Stadtkommandanten von Berlin aufzufordern, alle denkbaren Sicherungsmaßnahmen (auch zum persönlichen Schutz von gefährdeten Personen) zu ergreifen. Vgl. Antwortschreiben, Bundesministerium der Justiz, 19.7.1952. BArch, B 141/12195, Bd. 8/1, Bl. 20 f. Erneute Forderung des VPO nach Bewaffnung vgl. Schreiben, VPO an Polizeipräsidenten von Berlin, 29.12.1952. Ebenda, Bl. 55. 1019 Vgl. stenographischer Bericht zur 51. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 17.7.1952. LAB, B Rep. 228, Nr. 998, S. 548–590, hier 550; Schreiben, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen an Bundeskanzleramt, 6.10.1952. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 433. 1020 Vgl. Schreiben, UFJ an Schusswaffenhändler, 16.4.1952. BArch, B 209/29, o. Pag. 1021 Vermerk, UFJ, 26.7.1952. BArch, B 209/29, o. Pag.; Aufstellung bzgl. Aushändigung einer Pistole, UFJ, 25.7.1952. Ebenda, o. Pag. Zu den mit einem x gekennzeichneten Personen gehörte auch Erwin Neumann, der 6 Jahre später einer Entführungsaktion des MfS zum Opfer fiel. 1022 Vgl. Schreiben, UFJ an Büchsenmachermeister, 9.8.1952. BArch, B 209/29, o. Pag.
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dokumentiert. Auf jeden Fall informierte er sich über Gaspistolen, wie in den archivierten Unterlagen enthaltene Werbeblätter über die »Scheintod-Pistole« oder »Notwehrpistole K.O.« zeigen, und händigte solche auch aus. Ein UFJMitarbeiter quittierte den leihweisen Erhalt einer Gaspistole mit dem Satz: »Ich halte in keiner Weise die Gaspistole für einen ausreichenden Schutz, sondern bitte nach wie vor um Aushändigung einer Pistole Kal. 7,65.«1023 Dieser Meinung waren anscheinend auch andere UFJ-Mitarbeiter: Nachdem der UFJ-Mitarbeiter Erwin Neumann im August 1958 gewaltsam entführt worden war, fand die Westberliner Polizei einen Trommelrevolver und eine Pistole in seiner Wohnung.1024 Hinweise auf die Ausrüstung Westberliner Akteure mit Gaspistolen geben auch die MfS-Akten. So vermerkte das MfS nach einer Entführungsaktion im März 1955, dass der Agent des amerikanischen Geheimdienstes eine Schreckschusspistole bei sich gehabt hätte. Er wurde von einem GM in ein Lokal in der Nähe der Sektorengrenze in Berlin-Kreuzberg gelockt, dort überwältigt und verschleppt.1025 Im Besitz einer sogenannten Alarmpistole war auch ein Mitarbeiter des FDP-Ostbüros, den das MfS im Oktober 1953 verschleppen ließ.1026 Ein anderer Mitarbeiter des FDP-Ostbüros gab in einer Vernehmung an – nachdem er im Februar 1954 ebenfalls vom MfS verschleppt worden war –, dass das FDP-Ostbüro daraufhin Schreckschuss-Pistolen an seine Mitarbeiter verteilte.1027 Von der Wirkung der Gaspistolen zeigte sich ein dortiger Mitarbeiter nach Probeschüssen sehr enttäuscht: Bestraft sei eigentlich nur derjenige, der die Pistole hinterher säubern müsse. Neben der Ausstattung mit Gaspistolen versorgte die Bonner Leitung des FDP-Ostbüros ihre Mitarbeiter auch mit Anleitungen für die Kampfsportart Jiu-Jitsu.1028 Die aufsehenerregende Entführung des NTS-Leiters Alexander Truschnowitsch im April 1954 entfachte erneut die Forderung, gefährdeten Personen das Recht auf eine Bewaffnung zum Selbstschutz einzuräumen. »Bewaffnete Banditen gegen wehrlose Menschen, Bleirohre und Pistolen gegen ›Vorschriften‹, so sieht dann der Freiheitskampf der Demokratie in Westberlin aus«, lautete die Anklage in einem Kommentar im Berliner Montagsecho. Eine Bewaffnung sei erforderlich, da die zuständigen bundesrepublikanischen und alliierten Stellen offensichtlich nicht in der Lage seien, ausreichenden Schutz 1023 Bescheinigung, UFJ, 23.7.1952. BArch, B 209/29, o. Pag. In der Akte befinden sich insgesamt rund 25 gleichlautende Bescheinigungen über den leihweisen Erhalt einer Gaspistole aus dem Zeitraum Juli bis November 1952. 1024 Vgl. Mitteilung, Generalstaatsanwaltschaft Landgericht Berlin an Abt. I 4 KJ 2, 17.11.1958. BStU, MfS, AP 21882/80, S. 305. 1025 Vgl. Bericht, Abt. III, 18.3.1955. BStU, MfS, BV Potsdam, AOP 329/55, Bd. 2, S. 40–44, hier 40; Entführungsplan, Abt. III, 4.3.1955. Ebenda, S. 24–30. 1026 Vgl. Bericht, MfS, 20.10.1953. BStU, MfS, AOP 1539/65, Bd. 5, S. 36–51, hier 48. 1027 Vernehmungsprotokoll, MfS, 28.4.1954. BStU, MfS, AU 402/54, Bd. 2, S. 150 f., hier 150. 1028 Vgl. Buschfort: Parteien, S. 188 f.
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zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund laufe man Gefahr, dass sich keiner mehr dazu bereit finden würde, »für die Sache der Freiheit seine amtlich wehrlose Haut hinzuhalten«.1029 Der Kurier meldete, dass einige prominente Westberliner in exponierter Stellung im öffentlichen und politischen Leben beantragt hätten, zum eigenen Schutz Schusswaffen tragen zu dürfen. Die Alliierten hätten die Ausgabe von Pistolen nach langen Verhandlungen jedoch erneut abgelehnt.1030 Die Gaspistole blieb die einzige legale Waffe, die zur Selbstverteidigung genutzt werden durfte. Drei Rechtsanwälte der Rechtsschutzstelle wurden noch im Frühjahr 1960 zur eigenen Sicherheit mit Gaspistolen ausgestattet.1031 Inwieweit Mitarbeiter und Kontaktpersonen antikommunistischer Organisationen und erst recht westlicher Geheimdienste sich selbst zum eigenen Schutz Pistolen besorgten oder mit solchen ausgestattet wurden, ist anhand der Aktenlage nicht rekonstruierbar. Hinweise finden sich wiederum in den MfSAkten. So vermerkte ein IM im August 1952 über den zu entführenden Verfassungsschutz-Mitarbeiter Karl-Albrecht Tiemann, dass dieser ständig eine Waffe bei sich trage und man damit rechnen müsse, dass er bei einem Entführungsversuch von dieser sofort Gebrauch machen würde. Da Tiemann in der Nähe von S-Bahn-Gleisen wohnte, schlug der IM daraufhin vor, ihn nachts aufzusuchen, mit Chloroform zu betäuben und sodann mit einem Güterzug in die DDR zu bringen.1032 Zwei Jahre später gelang dem MfS die Entführung Tiemanns, der in der DDR zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Die Forderung nach der Aushändigung von Waffen an gefährdete Personen fand ihre Begründung immer wieder in der Klage über die mangelnden Fähigkeiten und Möglichkeiten der Westberliner Polizei, Schutz zu bieten. In der Kritik standen allerdings nicht in erster Linie die Maßnahmen, die von polizeilicher Seite zum Schutz einzelner Gefährdeter ergriffen worden waren. Im Westberliner Polizeipräsidium beriet das zuständige Dezernat gefährdete Personen und warnte diese vor Fahrten nach Ost-Berlin (selbst nach Anrufen über angeblich verunglückte Angehörige) oder Verabredungen in unmittelbarer Grenznähe. Besonders Gefährdete wurden auf Anweisung des Dezernats durch das nächstgelegene Polizeirevier überwacht, und beim Verdacht einer unmittelbar bevorstehenden Entführung entsandte es Spezialbeamte zum ständigen Schutz des Betroffenen.1033 Entsprechende Hinweise finden sich auch in den 1029 Der liebe Gott und die sieben Patronen. In: Berliner Montagsecho, 20.4.1954. 1030 Als Kompromiss, so der Zeitungsartikel, habe die Westberliner Polizei einige ihrer Holzschlagstöcke an die betroffenen Personen ausgeteilt. Vgl. Hölzern. In: Der Kurier, 5.5.1954. 1031 Vgl. Schreiben, Rechtsschutzstelle an BMG, 25.2.1960. BArch, B 137/1741, o. Pag.; Bestätigung, BMG an Rechtsschutzstelle, 9.3.1960. Ebenda, o. Pag. 1032 Vgl. Bericht, GM »Adler«, 27.8.1952. BStU, MfS, AOP 151/53, Bd. 1, S. 249. 1033 Vgl. Berlin wird immer gefährlicher. 223 Menschen verschwanden in 10 Monaten/Polizei »beschattet« Gefährdete. In: Frankenpost, 24.11.1951.
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MfS-Akten: So gab ein Entführungsopfer in einer Vernehmung durch das MfS an, bei der Westberliner Polizei in einer Gefährdetenkartei registriert gewesen zu sein und unter besonderem Schutz der Westberliner Polizei gestanden zu haben.1034 Den speziellen Polizeischutz konnten gefährdete politische Akteure jederzeit bei den jeweiligen Polizeirevieren beantragen. Zudem erhielten manchmal auch DDR-Flüchtlinge in Westberliner Notaufnahmelagern besonderen Polizeischutz. Nach der Entführung von Walter Linse führte die Westberliner Polizei eine regelmäßige Beobachtung der Flüchtlingslager in unmittelbarer Nähe der Zonengrenze mit Funkwagen und Polizeistreifen ein. Außerdem konnten die Lagerleitungen bei den zuständigen Polizeistellen einen erhöhten Polizeischutz anfordern.1035 Der Schwachpunkt der staatlichen, vor allem polizeilichen Schutzmaßnahmen gegen den politischen Menschenraub lag in den Augen der Öffentlichkeit eher auf einem anderen Gebiet: bei der Sicherung der Zonen- und Sektorengrenzen, die der Westberliner Schutzpolizei oblag.1036 Diese hatte zwar bereits 1951 in Reaktion auf die Verschleppungen ihre Streifentätigkeit an der Grenze verstärkt, zum Teil durch motorisierte Polizeikommandos, und in grenznahen Straßen Polizei-Notruftelefone errichtet.1037 Doch ihre eigentliche Machtlosigkeit trat bei der gewaltsamen und aufsehenerregenden Entführung des UFJMitarbeiters Walter Linse deutlich zutage. Der Wagen der Entführer hatte in rasender Fahrt und ohne Halt einen Grenzübergang passiert, an dem der Schlagbaum auf östlicher Seite extra geöffnet worden war. Die öffentliche Empörung wurde auch im Bundestag artikuliert. Am Tag nach der Entführung richtete die Bundestagsfraktion der CDU/CSU eine Anfrage an die Bundesregierung mit dem Appell: »Die Bedrohung der Freiheit der deutschen Bürger in Westberlin und in der Bundesrepublik durch brutale Entführungen bedarf eines umfassenden Schutzes und umfangreicher Sicherungsmaßnahmen. Es ist unerträglich, daß immer wieder deutsche Menschen mit rücksichtsloser Gewalt verschleppt und den Terrormethoden eines sowjetischen Regimes überantwortet werden.«1038
1034 Protokoll Gegenüberstellung Friedrich Böhm mit GM »Tell«, MfS, Frühjahr 1959. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 11, S. 125–133, hier 129. 1035 Vgl. Schreiben, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen an das Bundeskanzleramt, 6.10.1952. BArch, B 136/6539, o. Pag. 1036 Vgl. Jahresbericht der Berliner Polizei, 1953. LAB, Zs 505, S. 159; Jahresbericht der Berliner Polizei, 1955. Ebenda, S. 13. 1037 Vgl. Berlin wird immer gefährlicher. 223 Menschen verschwanden in 10 Monaten/Polizei »beschattet« Gefährdete. In: Frankenpost, 24.11.1951. 1038 Große Anfrage der CDU/CSU »Betr.: Menschenraub durch den sowjetzonalen Staatssicherheitsdienst in Westberlin«, Deutscher Bundestag, 9.7.1952. PA-DBT 3001 1. WP, Anlagen Bd. 19, Drucksache Nr. 3592; vgl. Antrag der FDP »Betr.: Schutz der Berliner Bevölkerung«, Deutscher Bundestag, 8.7.1952. Ebenda, Drucksache Nr. 3580.
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Auch die FDP plädierte in einem Antrag für einen besseren Schutz der Westberliner Bevölkerung.1039 In der Bundestagssitzung, in der die Anträge debattiert wurden, verliehen die Vertreter der CDU/CSU-, FDP- und SPDFraktion in ihren Reden dieser Forderung Nachdruck, am vehementesten die FDP. Stellvertretend für die Bundesregierung begrüßte der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser in seiner Rede die Sicherungsmaßnahmen, die der Berliner Senat an den Grenzübergängen in der geteilten Stadt ergriffen hatte. Außerdem kündigte er an, den Senat und die alliierten Stadtkommandanten zu bitten, Sicherungsmaßnahmen zum persönlichen Schutz gefährdeter Personen zu ergreifen. Zum Schutz der Bevölkerung in der Bundesrepublik sei ferner eine Verstärkung des Bundesgrenzschutzes erforderlich.1040 In einem Beschluss forderte der Bundestag acht Tage nach Linses Entführung die Bundesregierung auf, »sich für eine sofortige Freilassung der Verschleppten einzusetzen und unverzüglich an die drei Westmächte als die für Westberlin zuständigen Besatzungsmächte heranzutreten, damit sofort besondere Schutzmaßnahmen für alle in Westberlin wohnenden und durch ihre Stellung im öffentlichen Leben besonders gefährdeten Personen veranlaßt und alle geeigneten sonstigen Maßnahmen getroffen werden, um ähnliche Vorfälle in Zukunft zu verhindern.«1041
Konkrete Sicherungsmaßnahmen veranlasste derweil der Westberliner Senat: Die Straßenübergänge zwischen West- und Ost-Berlin wurden durch bewegliche und feste Sperren (Gräben, Steine, Granitpfosten, Stahlträger) sowie bewaffnete Polizisten besonders gesichert, und an den Zonen- und Sektorengrenzen wurde ein verstärkter Polizeischutz eingerichtet.1042 Das Berliner Abgeordnetenhaus begrüßte diese Sofortmaßnahmen, erachtete sie jedoch nicht als ausreichend und forderte in einem Dringlichkeitsantrag der Fraktionen der SPD, CDU und FDP, das Ergreifen weiterer Maßnahmen zu prüfen: Unter anderem sollten an den Straßenübergängen zu Ost-Berlin noch mehr Polizisten zum Einsatz kommen und das polizeiliche Warnsystem – eventuell unter 1039 Vgl. Antrag der FDP »Betr.: Schutz der Berliner Bevölkerung«, Deutscher Bundestag, 8.7.1952. PA-DBT 3001 1. WP, Anlagen Bd. 19, Drucksache Nr. 3580. 1040 Vgl. Protokoll der 223. und 224. Sitzung des Deutschen Bundestages, 16.7.1952. PA-DBT. 3001 1. WP, Stenographische Berichte Bd. 12, S. 9931–10045, hier 9940–9945. 1041 Beschluss des Deutschen Bundestags in seiner 223. Sitzung, Deutscher Bundestag an den Bundeskanzler, 17.7.1952. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 428. 1042 Vgl. Schreiben, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen an das Bundeskanzleramt, 6.10.1952. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Entführungen müssen ein Ende haben. Berliner Senat sichert Grenzübergänge zur Sowjetzone und zum Sowjetsektor. In: Tagesspiegel, 9.7.1952; Berlin schützt sich gegen Terrorakte. In: Neue Zeitung, 9.7.1952; Da könnt ihr lange kratzen. Eisenträger wachsen aus der Erde – Schutzmaßnahmen gegen Menschenraub. In: Die Welt, 19.7.1952; Neuntausend sind echt. In: Der Spiegel, Nr. 32/1952, S. 6; Vermerk, Bundesministerium für Justiz, 14.7.1952. BArch, B 141/12195, Bl. 7–11; Bericht, Bundeskanzleramt, 19.1.1955. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 418; Lemke: Vor der Mauer, S. 185 f.
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Nutzung noch vorhandener Alarmsirenen – ausgebaut werden. Ein verstärkter polizeilicher Schutz sollte zudem Flüchtlingslagern zuteil werden, die unmittelbar an der Zonengrenze lagen. Ferner sollten die Alliierten um den Einsatz von Militärposten, eine stärkere Bewaffnung der Polizei und umfangreichere Kontrollmöglichkeiten der gen Ost-Berlin fahrenden Fahrzeuge ersucht werden. Einstimmig nahm das Abgeordnetenhaus diesen Dringlichkeitsantrag an, dessen Vorschläge der stellvertretende Regierende Bürgermeister Walther Schreiber im Namen des Senats in der Sitzung des Abgeordnetenhauses begrüßt und teilweise als bereits umgesetzt bezeichnet hatte.1043 Die anvisierte generelle Fahrzeugkontrolle blieb allerdings auf den Interzonengrenzdienst und deutsche Fahrzeuge beschränkt. Und auch der Wunsch nach einer besseren Bewaffnung der Westberliner Polizei ließ sich nicht so einfach umsetzen. Die Alliierte Kommandantur hatte eine Bewaffnung mit Schlagstöcken aus Holz und nur teilweise mit Pistolen verordnet. Die Benutzung von Karabinern gestatteten die Alliierten der Polizei nur an den Zonen-, nicht an den Sektorengrenzen. Zur Unterstützung der Westberliner Polizei beschlossen die westlichen Stadtkommandanten aber, den Streifendienst der alliierten Militärpolizei an der Sektoren- und Zonengrenze zu verstärken, um Entführungsversuche gemeinsam zu verhindern.1044 Ein Zwischenfall an der Zonengrenze im Dezember 1952, in dessen Verlauf ein Westberliner Polizist durch den Schuss eines sowjetischen Soldaten tödlich getroffen wurde, entfachte die Forderungen im Abgeordnetenhaus nach einer besseren Bewaffnung der Polizei neu.1045 Im Namen des Senats erklärte Walther Schreiber, dass der Senat erneut die Alliierte Kommandantur um eine wirksamere Bewaffnung der Westberliner Polizei, insbesondere um die Ausstattung mit automatischen Waffen, ersucht habe. Mit dem Hinweis, dass die DDR-Volkspolizei ebenfalls nicht über automatische Waffen verfüge und man diese in der Waffenausstattung nicht übertrumpfen wolle, hätten die alliierten Kommandanten dieses Begehren jedoch abgewiesen. Stattdessen hätten sie
1043 Vgl. Dringlichkeitsantrag der Fraktionen der SPD, CDU und FDP, Abgeordnetenhaus von Berlin, 16.7.1952. LAB, B Rep. 228, Nr. 1004, o. Pag.; stenographischer Bericht zur 51. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 17.7.1952. LAB, B Rep. 228, Nr. 998, S. 548–590, hier 549–551; Schwerste Strafe für Menschenräuber. Abgeordnetenhaus für Militärposten und bessere Bewaffnung der Polizei. In: Tagesspiegel, 18.7.1952; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 433 f. 1044 Vgl. Schreiben, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen an das Bundeskanzleramt, 6.10.1952. BArch, B 136/6539, o. Pag.; Jahresbericht der Berliner Polizei, 1953. LAB, Zs 505, S. 159; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 435, 446 f., 609 f.; Steinborn/Krüger: Polizei, S. 109–111. Im Jahr 1955 wurden die hölzernen Schlagstöcke durch Gummiknüppel ersetzt. 1045 Der Polizeioberwachtmeister Herbert Bauer (geb. 1925) starb am 1. Weihnachtsfeiertag 1952 an der Westberliner Grenze zur DDR, als er Westberliner vor Belästigungen durch angetrunkene sowjetische Soldaten zu schützen suchte. Die sowjetischen Soldaten eröffneten das Feuer und trafen Bauer, der im Kugelhagel verblutete. Vgl. Anna Kaminsky (Hg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR. Berlin 22007, S. 120.
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eine wesentliche Verstärkung der Grenzkontrollen durch ihre Militärpolizei in Aussicht gestellt. Das entsprach auch einer Forderung des Senats, der diese noch mit dem Vorschlag ergänzte, west-alliierte Posten in Kooperation mit Westberliner Polizisten dauerhaft an Stellen zu positionieren, an denen permanent sowjetische Posten in Verbindung mit Volkspolizisten stationiert waren. Die Vertreter der Fraktionen der FDP, SPD und CDU bestärkten in der anschließenden Aussprache die Initiativen des Senats und forderten insbesondere die Ausstattung der Westberliner Polizisten in den Funkwagen mit Maschinenpistolen. Der FDP-Abgeordnete Schwennicke verwies in diesem Zusammenhang besonders auf die psychologische Wirkung, da die Übergriffe der vergangenen Monate den Eindruck erweckt hätten, als sei die »westliche freie Welt nicht in der Lage […], für einen ausreichenden Schutz der demokratischen Kräfte zu sorgen«.1046 In Reaktion auf die Entführung eines FDPFunktionärs forderte die CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus wenige Wochen später den Senat außerdem auf, die Westberliner Polizei anzuweisen, jeden von West- nach Ost-Berlin oder auf das Gebiet der DDR fahrenden Wagen anzuhalten und zu kontrollieren.1047 Die Umsetzung dieser politischen Initiativen spiegelt sich im Jahresbericht der Westberliner Polizei 1953, der eine beträchtlich verstärkte Streifentätigkeit der Schutzpolizei im Sektorenund Zonengrenzgebiet »zur wirksamen Abwehr etwaiger Übergriffe aus den sowjetisch besetzten Gebieten« vermerkt. Zum Einsatz im Grenzgebiet seien darüber hinaus 20 veraltete Volkswagen gegen neue Mercedes-Funkwagen ausgetauscht worden, um die Ausfallstraßen besser überwachen und Gefahrenpunkte an den Grenzen schneller erreichen zu können. Zudem seien nicht nur die Stützpunktbesatzungen, sondern alle an der Zonengrenze tätigen Streifen und Posten mit Karabinern ausgerüstet worden.1048 Die kritischen Fragen nach einer ausreichenden Sicherung der Grenze blieben allerdings evident und flammten nach der gewaltsamen Entführung des NTS-Leiters Alexander Truschnowitsch im April 1954 wieder auf. In der Öffentlichkeit tauchten wiederum vehemente Forderungen nach einer besseren Sicherung der Sektoren- und Zonengrenzen auf. »Nur ein totalitäres Regime 1046 Stenographischer Bericht von der 61. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 8.1.1953. LAB, B Rep. 228, Nr. 999, S. 2–48, hier 12–14, Zitat S. 12. Der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter war am 2. Januar 1953 von den westlichen Stadtkommandanten empfangen worden und hatte die Forderung des Senats vorgetragen. 3 Tage später gab es eine weitere Aussprache diesbezüglich zwischen den westlichen Stadtkommandanten und dem Bürgermeister Schreiber sowie dem Polizeipräsidenten Stumm. Vgl. Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 609 f. 1047 Vgl. Antrag »Betr.: Maßnahmen zur Verhinderung von Menschenraub«, CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Drucksache WP 1 Nr. 1822, 25.2.1953. LAB, B Rep. 228, Nr. 1007, o. Pag.; stenographischer Bericht zur 65. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 5.3.1953. Ebenda, Nr. 999, S. 169–208, hier 204; stenographischer Bericht zur 67. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 9.4.1953. Ebenda, S. 227–282, hier 241. 1048 Jahresbericht der Berliner Polizei, 1953. LAB, Zs 505, S. 159.
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scheint über die Polizeikräfte zu verfügen, um diese Grenze hermetisch abzuriegeln«, konstatierte der Telegraf in einem Artikel mit der Überschrift »Offene Wege für Menschenräuber« spitz. An der Grenze zwischen West-Berlin und der DDR seien die wenigen eingesetzten Polizisten mangelhaft ausgerüstet, ganz zu schweigen von den mit Dienstausweis und Signalpfeife ›bewaffneten‹ Zollbeamten. »Wahrlich, furchterregende Waffen für Menschenräuber!« kommentierte der Telegraf sarkastisch.1049 Auf einer Protestkundgebung des NTS am Westberliner Funkturm griffen auch die Vertreter der Parteien CDU, FDP und SPD diese Thematik in ihren Reden auf. Unter den Teilnehmern der Kundgebung sei vor allem der Westberliner Polizei die Schuld am Gelingen der Entführung gegeben worden, wie ein Bericht vermerkte, den der Polizeipräsidenten an den Regierenden Bürgermeister weiterleitete.1050 Eine entsprechende Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus ließ nicht lange auf sich warten. In einer Dringlichkeitsanfrage forderte die SPD-Fraktion vom Senat Auskunft, inwieweit sich die Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen an den Sektoren- und Zonengrenzen angesichts der jüngsten Entführungsfälle als ausreichend erwiesen hätten.1051 In seiner Erklärung zu dieser Anfrage konstatierte der Regierende Bürgermeister Walther Schreiber, dass die nach der Linse-Entführung ergriffenen Sicherungsmaßnahmen an den Sektoren- und Zonengrenzen eine abschreckende Wirkung gehabt hätten. Dabei erweckte er den (falschen) Eindruck, als habe es zwischen den Entführungen von Linse 1952 und Truschnowitsch 1954 keinen »echten Fall von Menschenraub« mehr in West-Berlin gegeben. Zudem sei Truschnowitsch nach »bisherigen Ermittlungen« nicht über eine der Straßengrenzen, sondern mit der Eisenbahn aus West-Berlin herausgebracht worden. Tatsächlich wurde dieser Fluchtweg bei den Ermittlungen in Betracht gezogen, aber relativ schnell wieder verworfen. Schreiber verwies darüber hinaus auf die Maßnahmen, die der Senat bereits zum Schutz der Berliner beschlossen hatte. So werde man u. a. die alliierten Militärregierungen ersuchen, die Möglichkeiten einer zusätzlichen Sicherung der Grenzen durch verstärkte Polizeimaßnahmen zu überprüfen. Er ermahnte jedoch auch die Berliner Bevölkerung zu erhöhter Wachsamkeit und Vorsicht, ohne die alle behördlichen Maßnahmen wirkungslos blei1049 Offene Wege für Menschenräuber. Berlins ungeschützte Flanken – Entführungen fast überall möglich. In: Telegraf, 25.4.1954. Vgl. Berliner seid wachsam! Macht Schluss mit den Menschenräubern! In: Der Abend, 21.4.1954; Spitzel sind unter uns! Ebenda. Im letzteren Artikel wurde die Einrichtung einer politischen Polizei gefordert, die Vorbeugungsmaßnahmen ergreifen sollte. Zwar gebe es schon verschiedene Ämter wie das Amt für Verfassungsschutz und die Abteilung V des Polizeipräsidenten von Berlin, die über Informationen verfügen, diese aber durch fehlende Zusammenarbeit nicht effektiv nutzen würden. 1050 Vgl. Bericht, Polizeipräsident von Berlin an Regierenden Bürgermeister, 20.4.1954. LAB, B Rep. 002, Nr. 4885, Bd. 2, o. Pag. 1051 Vgl. Dringlichkeitsanfrage der SPD-Fraktion, Drucksache WP 1 Nr. 2634, 22.4.1954. LAB, B Rep. 228, Nr. 1010; vgl. Anfrage der SPD zum Fall Truschnowitsch. In: Tagesspiegel, 22.4.1954.
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ben würden: »Endlich muss jeder einzelne nicht nur auf seinen eigenen Schutz bedacht sein, sondern durch Alarmierung der Polizei und durch Warnung der Betroffenen jeden erkennbaren Versuch einer Freiheitsbedrohung verhindern.«1052 Im Verlauf der Debatte kritisierten SPD, CDU und FDP die ungenügenden Sicherheitsmaßnahmen der Polizei, darunter auch ihre unzureichende Bewaffnung. Diese Kritik richtete sich gegen die Westmächte, in deren Zuständigkeit der Einsatz und die Bewaffnung der Polizei lagen. In diesem Zusammenhang befasste sich der Berliner Senat auch mit einem Gesetzesentwurf über die Polizeizuständigkeit, der die Polizeihoheit der Alliierten auf den Senat überleiten sollte. Denn formell war die Westberliner Polizei zwar dem Regierenden Bürgermeister unterstellt, aber seine Verfügungsgewalt war durch alliierte Vorbehalte eingeschränkt.1053 Vonseiten der SPD wurden zudem bauliche Veränderungen an den Grenzübergangstellen gefordert, die schnelles Durchfahren verhindern und eine bessere Kontrolle des Wageninneren ermöglichen sollten. In Bezug auf den Einwand, derartige Maßnahmen würden dem Bild des Schaufensters zur freien Welt widersprechen, konstatierte der SPD-Abgeordnete Joachim Lipschitz: »Dieses Argument zieht nicht; wenn diesem Schaufenstergedanken die Freiheit auch nur eines einzigen Menschen geopfert würde, ist dieses Schaufenster ein schlechtes Schaufenster.«1054 Auf Ersuchen des Berliner Senats verhandelte die Bundesregierung daraufhin im Frühsommer 1954 abermals mit der Alliierten Hohen Kommission über die Bewaffnung des Berliner Interzonengrenzdienstes.1055 Im Bundestag berichtete Bundesminister für Justiz Fritz Neumayer im Juli 1954, dass angesichts der Entführungsfälle in der Bundesrepublik die Notwendigkeit »präventiv-polizeilicher Maßnahmen« auf Bundesebene überprüft werde. Zunächst seien entsprechende Maßnahmen Aufgabe der Bundesländer, zudem sei der Bundesgrenzschutz zur besonderen Wachsamkeit aufgerufen.1056 Dass die Absicherung der Grenzen zu Ost-Berlin ein dauerhaftes Problem war, macht ein Entführungsplan des MfS aus dem Jahr 1956 deutlich: Bei 1052 Stenographischer Bericht zur 99. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 22.4.1954. LAB, B Rep. 228, Nr. 1000, S. 273–316, hier 274 f.; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 1010. 1053 Vgl. Stenographischer Bericht zur 99. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 22.4.1954. LAB, B Rep. 228, Nr. 1000, S. 273–316, hier 275–280. Vgl. Anfrage der SPD zum Fall Truschnowitsch. In: Tagesspiegel, 22.4.1954; 100 000 DM Belohnung für die Aufklärung des Falles Truchnowitsch. In: Tagesspiegel, 23.4.1954; Berlin fordert: Schutz vor Menschenraub. In: Der Kurier, 22.4.1954; Aktion gegen Sowjetagenten und SSD-Spitzel. In: Tagesspiegel, 6.5.1954; Waffen für Grenz-Zollbeamte? Wieder Verhandlungen mit Alliierten – Affäre Truschnowitsch als Anstoß. In: Der Kurier, 12.5.1954; Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 1010 f. 1054 Stenographischer Bericht zur 99. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 22.4.1954. LAB, B Rep. 228, Nr. 1000, S. 273–316, hier 279. 1055 Vgl. Waffen für Grenz-Zollbeamte? Wieder Verhandlungen mit Alliierten – Affäre Truschnowitsch als Anstoß. In: Der Kurier, 12.5.1954. 1056 Schnellbrief »Betr.: Menschenraub in der Bundesrepublik«, Bundesminister für Justiz an den Präsidenten des Deutschen Bundestags, 9.7.1954. PA-DBT 3001 2. WP, Anlagen Bd. 30, Drucksache 710.
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einem reibungslosen Verlauf der Entführung sollte die entführte Person über die Avus Richtung Wannsee auf DDR-Gebiet gebracht werden, und zwar ohne einen westlichen Kontrollpunkt passieren zu müssen, indem ein »schon bekannte[r] Weg für solche Sachen« gewählt werden sollte. Dort verfügte das MfS demnach über ein Schlupfloch respektive eine Grenzschleuse. Falls die Entführung einen Polizeialarm auslösen sollte, war die Nutzung eines kürzeren Fluchtweges Richtung Bornholmer Brücke vorgesehen, »wo man mit hoher Geschwindigkeit vom Gefahrenort den Kontrollpunkt passieren kann«.1057 Im Sommer 1960 teilte die Senatskanzlei des Regierenden Bürgermeisters auf eine private Anfrage über das Schicksal Walter Linses und die Maßnahmen gegen den Menschenraub in West-Berlin mit, dass das Ergreifen geeigneter Sicherungsmaßnahmen für einen Rückgang der Entführungsfälle gesorgt habe. Dabei habe sich besonders der Einsatz von Streifenwagen mit Funk als effektiv erwiesen, da diese ein schnelles Eingreifen durch ihre Anleitung über eine Funkzentrale ermöglicht hätten. Ferner gewährleiste ein schnelles und zuverlässiges Alarmsystem eine schärfere Überwachung der Straßenübergänge gen Ost-Berlin. Durch eine permanente Aufklärung sei außerdem in der Bevölkerung eine große Bereitschaft entstanden, an der Verhinderung und Untersuchung von Entführungen mitzuwirken. Und zu guter Letzt habe auch die Anprangerung des staatlich organisierten Menschenraubs in der in- und ausländischen Presse zu dessen Rückgang beigetragen.1058 Tatsächlich darf die Sensibilisierung der bundesdeutschen, in erster Linie der Westberliner Öffentlichkeit durch die umfangreiche Presseberichterstattung sowie Informationskampagnen der Bundesregierung, des Berliner Senats oder antikommunistischer Organisationen nicht unterschätzt werden. Auch wenn die Westberliner Polizei die mangelnde Achtsamkeit und Vorsicht von gefährdeten Personen gelegentlich monierte. So kommentierte sie in ihrem Jahresbericht 1958 die gewaltsamen Entführungen des UFJ-Mitarbeiters Erwin Neumann und des Kaufmanns Friedrich Böhm: »Sie gelangen, weil die Opfer trotz vieler öffentlicher Warnungen nicht genügend Vorsicht walten ließen.«1059 Ein ähnlicher Vorwurf klang auch im nächsten Jahresbericht der Westberliner Polizei bei der Feststellung an, dass im Jahr 1959 »trotz fortgesetzter Aufklärung der Bevölkerung« sechs Personen aus West-Berlin durch List entführt worden seien.1060 Dennoch ist davon auszugehen, dass die Aufklärungsarbeit insbesondere einen erheblichen Anteil am Rückgang der ListVerschleppungen gehabt hat. Während 1950 noch drei Viertel der Entführungen und Verschleppungen durch bloße Täuschungsmanöver gelangen, waren 1057 Bericht, GM »Konsul«, 20.4.1956. BStU, MfS, AOP 20495/62, Bd. 1, S. 213 f., hier 214. 1058 Vgl. Auskunft über Maßnahmen gegen Entführungen, Regierender Bürgermeister von Berlin Senatskanzlei, 22.6.1960. LAB, B Rep. 002, Nr. 13363, o. Pag. 1059 Jahresbericht der Berliner Polizei, 1958. LAB, Zs 505, S. 13. 1060 Ebenda, S. 15.
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es 1952/53 etwa die Hälfte und 1956/57 nur noch ungefähr ein Drittel. Warnhinweise im öffentlichen Raum, wie beispielsweise ein LeuchtschriftLaufband am Potsdamer Platz, verfehlten ihre Wirkung offenbar nicht. »Vorsicht bei Einladungen – Menschenraub!« warnten Schilder DDR-Flüchtlinge im Notaufnahmelager Marienfelde. Zum Schutz der DDR-Flüchtlinge konnte man dort nur über bewachte Eingänge auf das umzäunte Gelände kommen.1061 In Reaktion auf die Entführungsfälle sorgte der Berliner Senat – wie bereits erläutert – für einen besonderen polizeilichen Schutz der Flüchtlingsund Notaufnahmelager. Gefährdete Personen unter den anerkannten DDRFlüchtlingen versuchte man mitunter möglichst schnell in die Bundesrepublik auszufliegen. Die Verschleppungen und Entführungen führten aber auch dazu, dass der Umgang mit DDR-Flüchtlingen in der geteilten Stadt Berlin auf politischer Ebene und in der Öffentlichkeit hinterfragt wurde. Beispielsweise im Hinblick auf die Problematik der DDR-Flüchtlinge, die im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens keine Anerkennung und damit keine Aufenthaltserlaubnis erhielten. Ihnen blieb – abgesehen von der Rückkehr in die DDR – nur die Möglichkeit, illegal in West-Berlin zu leben. Das Gefahrenpotenzial dieser Politik erkannte der Tagesspiegel: »Sowohl seine Opfer als auch seine Mitarbeiter pflegt sich der Osten aus Kreisen zu holen, die abseits der eigentlichen Berliner Bevölkerung leben.« Mit dieser Feststellung wurde in dem Artikel die Forderung verbunden, dass der Berliner Senat mit größerem Nachdruck auf die Unterbringung der nicht in Berlin eingewiesenen Flüchtlinge in der Bundesrepublik dringen sollte.1062 Ein weiterer Kritikpunkt waren die Befragungen der DDRFlüchtlinge durch westliche Nachrichtendienste als fester Bestandteil des Notaufnahmeverfahrens. Im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde hatten die sogenannten Alliierten Sichtungsstellen sogar als Erste Zugriff auf die DDRFlüchtlinge, während diese in den Bundesnotaufnahmelagern in Gießen und Uelzen jedenfalls erst ihre Anträge auf Notaufnahme stellen konnten.1063 Im Bundestag führte 1958 eine große Anfrage in Bezug auf Flüchtlingsfragen zu kritischen Redebeiträgen über die Rolle der Nachrichtendienste im Notaufnahmeverfahren. Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid verlangte, dass die Alliierten die Durchgangslager für DDR-Flüchtlinge nicht mehr als Verneh1061 Vgl. Katja Augustin: Im Vorzimmer des Westens. In: Bettina Effner, Helge Heidemeyer (Hg.): Flucht im geteilten Deutschland. Berlin 2005, S. 135–151, hier 143. 1062 100 000 DM Belohnung für die Aufklärung des Falles Truchnowitsch. Stärkere Sicherungen gegen Menschenraub gefordert. In: Tagesspiegel, 23.4.1954. 1063 Bundesdeutsche Stellen kritisierten dieses alliierte Vorrecht. Mitte der 1950er Jahre kam es zum Konflikt: Mitarbeiter der Berliner Senatsverwaltung begannen, »interessante« Flüchtlinge in der Neuaufnahme-Stelle abzufangen, um sie ins Bundesgebiet auszufliegen und der unmittelbaren Befragung durch die Alliierten zu entziehen. Die Alliierten besetzten daraufhin die Neuaufnahme in Marienfelde auch mit eigenen Mitarbeitern und übernahmen im November 1958 die dortige Zuständigkeit ganz. Vgl. Kimmel: Notaufnahmeverfahren, S. 126–129; Allen: Befragung, S. 163–211.
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mungslager missbrauchen sollten. Erich Mende von der FDP pflichtete ihm bei und konstatierte, dass der »Überwucherung nachrichtendienstlicher Tätigkeit Einhalt« geboten werden muss. Er forderte die Bundesregierung auf, mit den Alliierten über Grenzen ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit zu verhandeln.1064 Die Befragungen von DDR-Flüchtlingen durch alliierte Stellen blieben jedoch bis 1990 bestehen.1065 Die Entführungsaktionen des MfS lösten auf der politischen Ebene in der Bundesrepublik also zahlreiche Initiativen und Debatten, von denen hier einige exemplarisch dargestellt werden konnten. Sie führten sogar zur Änderung bestehender respektive Schaffung neuer Gesetze. Gesetzliche Maßnahmen Neben den Sicherungsmaßnahmen an den Zonen- und Sektorengrenzen sowie dem polizeilichen Schutz und dem Selbstschutz gefährdeter Personen griffen die politischen Entscheidungsträger in West-Berlin und der Bundesrepublik auch zu gesetzlichen Regelungen zum strafrechtlichen Schutz der Bundesbürger vor den Entführungen und Verschleppungen in den Osten. Bereits im Juli 1949 reagierte die Stadtverordnetenversammlung Berlin auf die Verschleppungen von Personen aus West-Berlin durch die sowjetische Besatzungsmacht und ihren deutschen Helfershelfern mit einem speziellen Gesetz, das die strafrechtliche Verfolgung ermöglichte. Die Verwendung des Begriffs »Menschenraub« lehnte der Magistrat dabei ab, da dieser Ausdruck bereits durch das im Paragrafen 234 StGB normierte Verbrechen besetzt sei. Demnach handelte es sich um Menschenraub, wenn eine Person durch List, Drohung oder Gewalt in eine hilflose Lage oder in Leibeigenschaft, Sklaverei oder auswärtige Kriegsdienste gebracht wurde. Die Menschenverschleppungen im West-Berlin der Nachkriegszeit hätten, so der Magistrat, zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem Tatbestand, würden aber nicht die erforderliche Ergänzung des StGB-Paragrafen rechtfertigen. Denn das vom Magistrat vorgesehene Gesetz würde nur einen örtlich beschränkten Tatbestand erfassen und voraussichtlich nur einen zeitbedingten Charakter haben. Auch auf die Anwendung des im Strafrecht üblichen Begriffs »Entführung« verzichtete der Magistrat, um eine Fokussierung auf eine Gewaltanwendung zu vermeiden und explizit auch die Verschleppungen mittels Täuschung zu erfassen. Der Magistrat griff in seinem Gesetz daher zu folgender Formulierung:
1064 Zudem regte Mende eine Überprüfung an, ob der Missbrauch junger Menschen zur nachrichtendienstlichen Tätigkeit unter Ausnutzung ihrer Notlage nicht unter Strafe gestellt werden sollte. Vgl. Protokoll der 41. Sitzung des 3. Deutschen Bundestages, 1.10.1958. PA-DBT 3001 3. WP, Stenographische Berichte Bd. 42, S. 2391–2428, hier 2412 und 2417. 1065 Vgl. Kimmel: Notaufnahmeverfahren, S. 122; Allen: Befragung, S. 209–211.
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»Wer sich eines Menschen durch List, Drohung oder Gewalt bemächtigt, um ihn gegen seinen Willen in ein Gebiet ausserhalb der Westsektoren Gross-Berlins zu verschleppen oder dort festzuhalten, oder wer bei einer solchen Handlung Hilfe leistet, wird mit Zuchthaus bestraft.«1066
Als Strafmaß war eine mindestens dreijährige Zuchthausstrafe vorgesehen, wenn die Verschleppung gegen Geld oder unter Zufügung einer schweren Körperverletzung erfolgt war. Im Fall, dass sie den Tod der entführten Person verursacht hatte, konnte eine lebenslange Zuchthausstrafe ausgesprochen werden. Der Rechtspolitische Ausschuss änderte die Gesetzesvorlage des Magistrats nur hinsichtlich des Strafmaßes bei mildernden Umständen (mindestens sechs statt drei Monate) und fügte ein, dass für die Aburteilung das Schwurgericht zuständig sein sollte. Die Stadtverordnetenversammlung nahm diese geänderte Fassung einstimmig an.1067 Doch das Gesetz erwies sich schon bald als nicht ausreichend. Im März 1951 beriet das Abgeordnetenhaus in West-Berlin eine Dringlichkeitsvorlage des Senats zur Beschlussfassung über ein »Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit« und überwies sie zur Ausarbeitung an den Rechtspolitischen Ausschuss. Der Senat strebte eine Erweiterung des bestehenden Gesetzes über die Verschleppungen an, indem die Tatbestände der politischen Verdächtigung und Denunziation sowie der vorbereitetenden Handlung aufgenommen werden sollten.1068 Der Rechtspolitische Ausschuss ergänzte, dass bereits die Hinderung an einer Rückkehr nach einem Besuch in der DDR den Straftatbestand erfüllte. Ferner sollte das Unterlassen einer Anzeige bei Kenntnis von einer beabsichtigten Verschleppung unter Strafe gestellt werden. In der Beratung der Gesetzesvorlage im Abgeordnetenhaus betonte der Vertreter der SPD-Fraktion die beabsichtigte präventive Funktion des Gesetzes. Da es sich bei den Tatbeteiligten in der Regel nicht um Idealisten, sondern um »gekaufte Subjekte oder feige Menschen« handeln würde, müsse das Gesetz deutlich machen: »Wer sich dem anderen System für eine Verschleppungsaktion zur Verfügung stellt, 1066 Vorlage zur Beschlussfassung, Magistrat von Gross-Berlin an Stadtverordnetenversammlung, 25.7.1949. LAB, B Rep. 001, Nr. 53, o. Pag.; vgl. Verordnungsblatt für Groß-Berlin Nr. 62, hg. vom Magistrat von Groß-Berlin Abt. Rechtswesen, 20.9.1949. LAB, Zs 416, S. 329–332, hier 331. 1067 Vgl. Vorlage zur Beschlussfassung, Magistrat von Gross-Berlin an Stadtverordnetenversammlung, 25.7.1949. LAB, B Rep. 001, Nr. 53, o. Pag.; Beschluss zur Vorlage, Rechtspolitischer Ausschuss, 27.7.1949. Ebenda, o. Pag.; Protokoll der 23. Sitzung der Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin, 28.7.1949. Ebenda, o. Pag.; Verordnungsblatt für Groß-Berlin Nr. 62, hg. vom Magistrat von Groß-Berlin Abt. Rechtswesen, 20.9.1949. LAB, Zs 416, S. 329–332, hier 331. 1068 Vgl. Dringlichkeitsvorlage zur Beschlußfassung über Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, Senat von Berlin, 22.3.1951. LAB, B Rep. 228, Nr. 1001, Drucksache Nr. 140; stenographischer Bericht zur 9. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 29.3.1951. LAB, B Rep. 228, Nr. 997, S. 141–162, hier 142–144. Im Mai desselben Jahres beriet das Abgeordnetenhaus über das Gesetz, wies es aber an den Rechtspolitischen Ausschuss zur Nachprüfung zurück. Vgl. stenographischer Bericht zur 14. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 17.5.1951. Ebenda, S. 318–344, hier 338.
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wird härter bestraft, als die Gefahren sind, denen er sich aussetzt, wenn er auf diese Aktion verzichtet.«1069 Das Abgeordnetenhaus verabschiedete die Gesetzesvorlage wiederum einstimmig. Mit seinem Inkraftreten am 18. Juni 1951 ersetzte das »Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit« das »Gesetz über die Verschleppung von Personen aus den Berliner Westsektoren« vom 20. September 1949.1070 Der erste Paragraf des neuen Gesetzes widmete sich nun dem Tatbestand der politischen Verdächtigung: »Wer einen anderen durch eine Anzeige oder Verdächtigung der Gefahr aussetzt, aus politischen Gründen verfolgt zu werden und hierbei im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen durch Gewalt- oder Willkürmaßnahmen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, der Freiheit beraubt oder in seinem Vermögen, seiner beruflichen oder wirtschaftlichen Stellung empfindlich beeinträchtigt zu werden, wird wegen politischer Verdächtigung mit Gefängnis bestraft.«
In schweren Fällen sollte bei diesem Tatbestand aber auch eine Zuchthausstrafe von bis zu zehn Jahren ausgesprochen werden können. Zudem galt schon der Versuch als strafbar. Der zweite Paragraf lässt die Verfeinerungen der Bestimmungen des Gesetzes von 1949 erkennen, die auf die gesammelten Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre zurückzuführen sind: »Wer einen anderen durch List, Drohung oder Gewalt in ein Gebiet außerhalb des Bereichs der in Berlin geltenden Gerichtsverfassung verbringt oder veranlaßt, sich dorthin zu begeben, oder davon abhält, von dort zurückzukehren und dadurch der Gefahr aussetzt, verfolgt zu werden und hierbei im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen durch Gewalt- oder Willkürmaßnahmen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, der Freiheit beraubt oder in seinem Vermögen, seiner beruflichen oder wirtschaftlichen Stellung empfindlich beeinträchtigt zu werden, wird wegen Verschleppung mit Zuchthaus, in minder schweren Fällen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.«
Das vorgesehene Strafmaß für diesen Straftatbestand blieb im Vergleich zum Gesetz von 1949 in Grundzügen gleich: eine lebenslängliche Zuchthausstrafe, wenn das Opfer bei der Verschleppung zu Tode kam, und wenigstens drei Jahre Zuchthaus sowie in minder schweren Fällen mindestens sechs Monaten, wenn der Täter aus Gewinnsucht oder aus voller Absicht handelte. Neu war allerdings, dass vorbereitende Handlungen und das Unterlassen von Anzeigen bei Kenntnis von Verschleppungsabsichten ebenfalls explizit unter Strafe gestellt wurden.1071 1069 Stenographischer Bericht zur 15. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 7.6.1951. LAB, B Rep. 228, Nr. 997, S. 345–392, hier 372. 1070 Vgl. ebenda, S. 345–392, hier 369–373. 1071 Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin Nr. 33, hg. vom Senator für Justiz, 26.6.1951. LAB, Zs 416, S. 417–428, hier 417 f. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1190 f.
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Als Mitte Juni 1951 in West-Berlin das »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit« verabschiedet wurde, hatte man auch auf Bundesebene den Handlungsbedarf erkannt. Einen Tag nach Inkrafttreten des Berliner Gesetzes reichte die Fraktionen der CDU/CSU, FDP und DP im Bundestag einen gleichnamigen Gesetztesentwurf mit einem gleichlautenden Gesetzestext ein. Dieses Gesetz sollte als Ergänzungen der Paragrafen 234 und 241 Eingang in das Strafgesetzbuch finden. Der Bundestag überwies den Gesetzesentwurf an den Ausschuss für Rechtswesen und Verfassungsrecht.1072 Die Beratung im Bundestag gestaltete sich recht lebhaft: zum einen, da sie mit der Diskussion des Falles Kemritz verbunden wurde, zum anderen aufgrund des Auftretens der KPD-Fraktion. Hans Kemritz hatte als Anwalt in Ost-Berlin 1945/46 mehrere Personen (etwa 20), die einer Tätigkeit für den nationalsozialistischen Abwehrdienst verdächtigt wurden oder für die sowjetische Besatzungsmacht anderweitig interessant waren, in sein Büro gelockt und dort vom sowjetischen Geheimdienst verhaften lassen. Da Kemritz auch für den amerikanischen Geheimdienst CIC arbeitete, erhielt es frühzeitig Kenntnis von Kemritz' Machenschaften. Es ließ sich anscheinend von Kemritz sogar Listen mit den Namen der betroffenen Personen aushändigen und warnte diese – allerdings nur, wenn ein eigenes Interesse vorlag. Der sowjetische Geheimdienst war über diese Doppelagententätigkeit nicht informiert, und so fürchtete Kemritz seine Enttarnung. Erst recht nachdem der sowjetische Geheimdienst ihn im Herbst 1946 ausgiebig verhört und seine Büroräume durchsucht hatte. Er zog sich zunächst in seine Villa in Berlin-Dahlem zurück. Bereits wenige Tage später wurde er mit einer amerikanischen Militärmaschine aus West-Berlin in die Bundesrepublik ausgeflogen und ließ sich als Rechtsanwalt in Bad Homburg nieder. Öffentlich bekannt wurde die »Affäre Kemritz« erst im Jahre 1950, nachdem eine Angehörige eines Kemritz-Opfers Anzeige erstattet hatte. Der Verdacht gegen Kemritz, eine »sowjetzonale Menschenfalle« unterhalten zu haben, führte zur Eröffnung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Doch die amerikanische Besatzungsmacht blockierte das Ermittlungsverfahren, sorgte für eine Entlassung Kemritz' aus der Untersuchungshaft und stellte ihn sogar unter besonderen Schutz. Die Empörung in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und auf dem politischen Parkett war groß. Der Bundestag beauftragte die Bundesregierung, beim Hohen Kommissar der USA die Auslieferung von Kemritz und die Durchführung eines Verfahrens gegen ihn zu erwirken.1073 1072 Vgl. Antrag zu Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit, Fraktionen CDU/CSU, FDP und DP, Deutscher Bundestag, 15.6.1951. PA-DBT 4000, Ges-Dok I/179, Dok 5; Auszug aus Protokoll der 154. Sitzung des Deutschen Bundestages, 20.6.1951. Ebenda, Dok 6, S. 6106–6122. 1073 Es trat sogar ein deutsch-amerikanischer Ausschuss zusammen, aber alle Bemühungen der Bundesregierung blieben erfolglos. Kemritz tauchte im Frühjahr 1952 in den USA unter. Vgl. Unter-
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Vor dem Hintergrund des Falles Kemritz verwiesen insbesondere die Vertreter der CDU und SPD auf die Notwendigkeit eines »Gesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit« wie es in West-Berlin bereits verabschiedet worden war.1074 Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der KPD Heinz Renner berief sich bei seiner gegensätzlichen Beurteilung des Falles Kemritz hingegen auf die Rechtfertigung der Amerikaner, dass es sich bei Kemritz' Opfern um Kriegsverbrecher gehandelt habe. Zugleich nannte er die Ereignisse ein Paradebeispiel für die amerikanische Unmoral, da Kemritz als ein Agent der Amerikaner unter allen Umständen beschützt werde. Unter vielen Zwischenrufen und Gelächter verwies der KPD-Abgeordnete auf die zahlreichen »Spione, Agenten und Saboteure« in West-Berlin, die in die DDR geschickt würden, um »die Ordnung und Ruhe sowie den Aufbau, den dort drüben alle demokratischen Parteien und Kräfte gemeinschaftlich geleistet haben, zu stören«. Die Festnahme dieser »von Westen gelenkten Verbrecher in der Ostzone« würde aber stets umgehend als Verschleppung tituliert. Nach Ansicht Renners sollten daher »die Agenten, die Saboteure, die Verbrecher, die hier vom Westen aus in der DDR diese vernichtende Arbeit in Ihrem Auftrag tun, zurückgepfiffen werden«.1075 Diese Ausführungen des KPD-Vertreters konterte der SPD-Abgeordnete Willy Brandt mit Verweisen auf das »System des Menschenraubs« der SED und kommentierte schließlich: »Herr Renner, ich habe vorhin im Zusammenhang mit dem Fall Kemritz von Begriffen wie Empörung und Enttäuschung [über das Verhalten der Amerikaner, Anm. S. M.] gesprochen; aber für das, was Sie gesagt haben, bleibt nur noch die Kategorie ›Verachtung‹ übrig.«1076 Das Bundestagsprotokoll vermerkt daraufhin einen anhaltenden, lebhaften Beifall von der SPD bis zur DP. Nach der Zustimmung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht zum Gesetzesentwurf verabschiedete der Bundestag – unter Enthaltung der KPD – am 21. Juni 1951 das »Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit«. Der Bundesrat trat diesem Beschluss bei, sodass das »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit« am 15. Juli 1951 bundesweit in Kraft treten konnte.1077 Die Bestimmungen des zweiten Paragrafen im Berliner »Gesetz zum lagen zum Fall Kemritz. LAB, B Rep. 002, Nr. 33; Zeitungsartikel zum Fall Kemritz. LAB, B Rep. 002, Nr. 8811; Smith: Stadt, S. 15–18, 40–57, S. 106–129 (Dokumente); Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 106, 144 f., 154 f., 297 f., 359; Kellerhoff/Kostka: Hauptstadt, S. 133–140. 1074 Vgl. Auszug aus Protokoll der 154. Sitzung des Deutschen Bundestages, 20.6.1951. PADBT 4000, Ges-Dok I/179, Dok 6, S. 6106–6122, hier 6107–6120; Auszug aus Protokoll der 155. Sitzung des Deutschen Bundestages, 21.6.1951. Ebenda, Dok 10, S. 6160–6162. 1075 Auszug aus Protokoll der 154. Sitzung des Deutschen Bundestages, 20.6.1951. PADBT 4000, Ges-Dok I/179, Dok 6, S. 6106–6122, hier 6116–6118. 1076 Auszug aus Protokoll der 154. Sitzung des Deutschen Bundestages, 20.6.1951. PADBT 4000, Ges-Dok I/179, Dok 6, S. 6106–6122, hier 6119 f. 1077 Vgl. Kurzprotokoll der 115. Sitzung des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht, Deutscher Bundestag, 21.6.1951. PA-DBT 4000, Ges-Dok I/179, Dok 8; Auszug aus Protokoll der
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Schutz der persönlichen Freiheit« wurden fast wortgleich als Paragraf 234a1078 in das Strafgesetzbuch eingefügt: »Wer einen anderen durch List, Drohung oder Gewalt in ein Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungsbereiches dieses Gesetzes verbringt oder veranlaßt, sich dorthin zu begeben, oder davon abhält, von dort zurückzukehren, und dadurch der Gefahr aussetzt, aus politischen Gründen verfolgt zu werden und hierbei im Widerspruch zu rechtssstaatlichen Grundsätzen durch Gewalt- oder Willkürmaßnahmen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, der Freiheit beraubt oder in seiner beruflichen oder wirtschaftlichen Stellung empfindlich beeinträchtigt zu werden, wird wegen Verschleppung mit Zuchthaus bestraft.«
Im Vergleich zum Bundesgesetz war das Berliner Gesetz allerdings schärfer, da es in bestimmten Fällen ein höheres Strafmaß festschrieb. Die Bestimmungen zum Straftatbestand der politischen Verdächtigung, die im ersten Paragrafen des Berliner Gesetzes verankert waren, gelangten als Paragraf 241a1079 in das Strafgesetzbuch.1080 Das Westberliner und bundesdeutsche »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit« rückten in den folgenden Jahren immer wieder auf den Prüfstand, vor allem nach den gewaltsamen Entführungen des UFJ-Mitarbeiters Walter Linse im Juli 1952 und des NTS-Vorsitzenden Alexander Truschnowitsch im April 1954. Infolge der spektakulären Entführung des Rechtsanwalts Walter Linse beschäftigte sich das Berliner Abgeordnetenhaus mit einem Dringlichkeitsantrag der Fraktionen der SPD, CDU und FDP, in dem u. a. eine Überprüfung gefordert wurde, ob der Strafrahmen verschärft werden müsste.1081 Diese Frage wurde auch auf Bundesebene beraten. Das Bundesministerium für Justiz vertrat jedoch die Ansicht, dass mit dem Freiheitschutzgesetz »in strafrechtlicher Hinsicht alles Erforderliche getan [sei], um die Bewoh155. Sitzung des Deutschen Bundestages, 21.6.1951. Ebenda, Dok 10, S. 6160–6162; Auszug aus Protokoll der 61. Sitzung des Bunderates, 27.6.1951. Ebenda, Dok 13. 1078 Der § 234 bezieht sich auf den Tatbestand des »Menschenraubs« und lautet: »Wer sich einer anderen Person mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List bemächtigt, um sie in hilfloser Lage auszusetzen oder dem Dienst in einer militärischen oder militärähnlichen Einrichtung im Ausland zuzuführen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.« Vgl. Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland. URL: http://www.gesetze-iminternet.de/bundesrecht/ stgb/gesamt.pdf (letzter Zugriff: 3.6.2012). 1079 Der § 241 erfasst den Straftatbestand der Bedrohung. Vgl. Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland, siehe URL: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/stgb/gesamt.pdf (letzer Zugriff: 3.6.2012). 1080 Zudem wurde die Formulierung »eines Menschenraubes oder gemeingefährlichen Verbrechens« im § 139 Abs. 1 durch die Einfügung »Verschleppung« ergänzt. Vgl. Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit, Bundesgesetzblatt, 15.7.1951. PA-DBT 4000, Ges-Dok I/179, Dok 15; Bericht, Große Strafrechtskommission, 16.12.1958. BArch, B 141/90208, Bl. 70–90, hier 75. 1081 Vgl. Dringlichkeitsantrag der Fraktionen der SPD, CDU und FDP, Abgeordnetenhaus von Berlin, 16.7.1952. LAB, B Rep. 228, Nr. 1004, o. Pag.; stenographischer Bericht zur 51. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 17.7.1952. LAB, B Rep. 228, Nr. 998, S. 548–590, hier 550.
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ner der Bundesrepublik und Westberlins gegen Entführungen, Denunziationen und Bespitzelung zu schützen«.1082 Nach der gewaltsamen Entführung von Alexander Truschnowitsch beauftragte das Abgeordnetenhaus – nach Antrag der SPD-Fraktion – den Senat erneut mit einer Überprüfung, ob eine Ergänzung des Gesetzes notwendig sei.1083 Zu diesem Zeitpunkt hatte der Regierende Bürgermeister Walther Schreiber bereits öffentlich angekündigt, die gesetzlichen Bestimmungen hinsichtlich der strafrechtlichen Verfolgung dahingehend prüfen zu lassen, ob Straftatbestände neu gefasst und das Strafmaß verschärft werden müsse.1084 Mit derartigen Forderungen traten auch verschiedene Organisationen in dieser Zeit an die Öffentlichkeit. So verlangte beispielsweise die Vereinigung Politischer Ostflüchtlinge (VPO) eine schärfere Ahndung von versuchten und vollendeten Verschleppungen sowie der Beteiligung an den Vorbereitungen. In einer Denkschrift an das Berliner Abgeordnetenhaus und den Bundestag im Mai 1954 forderte sie sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe, die bei »Menschenräubern« zum Einsatz kommen sollte.1085 Der UFJ plädierte in einem Memorandum wenige Tage nach der Truschnowitsch-Entführung für eine Ergänzung des Strafgesetzbuches und des Westberliner Gesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit, die es ermöglichen sollte, »schon vor der erkennbaren Vorbereitung oder einem Versuch des Menschenraubes gegen Personen vorzugehen, die sich in West-Berlin oder der Bundesrepublik in nicht klar erkennbarer Absicht aufhalten, und gegen die der Nachweis geführt werden kann, daß sie entweder hauptamtlich für den SSD tätig sind oder sich zu Diensten für den SSD verpflichtet haben«.
Einen entsprechenden Gesetzestext zur Ergänzung des Paragrafen 241 im Strafgesetzbuch hatte der UFJ schon ausgearbeitet.1086 Bereits nach der Entführung seines Mitarbeiters Walter Linse hatte der UFJ in einem Schreiben an den Deutschen Bundestag angeregt, den DDR-Staatssicherheitsdienst zu einer verbrecherischen Organisation zu erklären und damit die Bestrafung von MfSAngehörigen zu erleichtern.1087 Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen leitete den Vorschlag des UFJ mit einer befürwortenden Stellungnah1082 Vermerk, Bundesministerium für Justiz, 14.7.1952. BArch, B 141/12195, Bl. 7–11, hier 11. 1083 Vgl. Antrag über Ergänzung des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, SPDFraktion, 30.4.1954. LAB, B Rep. 228, Nr. 1010, Drucksache Nr. 2647; stenographischer Bericht zur 100. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 6.5.1954. Ebenda, Nr. 1000, S. 317–362, hier 355 f. 1084 Vgl. 100 000 DM Belohnung für die Aufklärung des Falles Truchnowitsch. In: Tagesspiegel, 23.4.1954. 1085 Vgl. Todesstrafe für Menschenraub gefordert. Vorstoß der politischen Flüchtlinge beim Berliner Abgeordnetenhaus und beim Bundestag. In: Der Kurier, 21.5.1954. 1086 Schreiben inkl. Memorandum, UFJ an BMG, 17.4.1954. BArch, B 137/1063, o. Pag.; SSDTätigkeit muss bestraft werden! In: Der Tag, 23.4.1954; Tresor der Gerechtigkeit. Menschenräuber müssen in Zukunft härter bestraft werden. In: BZ, 15.7.1954. 1087 Vgl. Schreiben, UFJ an Deutschen Bundestag, 14.7.1952. BArch, B 209/1204, o. Pag.
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me an das Bundesministerium für Justiz weiter. In den Augen des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen bot eine solche Erweiterung der Strafbestimmungen die Chance, die Zugriffsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden sinnvoll auszudehnen, als Abschreckung präventiv zu wirken und nicht zuletzt die bundesdeutsche Öffentlichkeit zu beruhigen. Im Bundesministerium für Justiz wurde die vorgeschlagene Ergänzung des Strafgesetzbuches nach eingehender Prüfung allerdings als nicht sinnvoll eingestuft, weil das geltende Strafrecht ausreiche. Der mangelnde Erfolg bei der Bekämpfung der Verschleppungen sei nicht auf fehlende Strafbestimmungen, sondern auf die Schwierigkeiten bei der Aufklärung des Verbrechens (u. a. durch das Verschwinden der Täter in der DDR) zurückzuführen. Daher müsse eher die staatliche Verfolgungstätigkeit weiter ausgebaut und die Bevölkerung zur Mithilfe aufgerufen werden.1088 Dementsprechend reagierte der Bundesminister für Justiz Fritz Neumayer auch auf eine Anfrage einiger CSU-Abgeordneter im Bundestag. Er stellte fest, dass sich die Strafbestimmungen durch den Paragrafen 234a StGB und den Paragrafen 2 des Berliner »Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit« als gesetzliche Maßnahme zur Bekämpfung der Verschleppungen als ausreichend erwiesen hätten. Die geforderte Strafverschärfung, die in schweren Fällen eine lebenslange statt einer 15-jährigen Zuchthausstrafe vorgesehen hätte, hielt er nicht für notwendig.1089 Auch der Westberliner Senat wies die vom Abgeordnetenhaus gewünschte Ergänzung des »Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit« zurück, da die vorhandenen Strafbestimmungen dem Ziel der gerechten Bestrafung und Abschreckung hinreichend Rechnung tragen würden.1090 Mit diesen Bestimmungen zu den Tatbeständen der »Verschleppung« und »politischen Verdächtigung« war die gesetzliche Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung der Entführer, die im Auftrag des MfS handelten, geschaffen. Im Frühjahr 1970 trat das Westberliner Freiheitsschutz-Gesetz außer Kraft und wurde durch die Bestimmungen des Paragrafen 234a StGB ersetzt. Fortan gab es in West-Berlin und der Bundesrepublik eine einheitliche Grundlage der strafrechtlichen Verfolgung von politischen Entführungsdelikten. Diese Bestimmungen sind noch heute als Paragrafen 234a und 241a im Strafgesetzbuch verankert.1091 1088 Vgl. Schreiben, BMG an BMJ, 10.5.1954. BArch, B 137/1063, o. Pag.; Schreiben, BMG an BMJ, 14.6.1954. Ebenda, o. Pag.; Antwortschreiben, BMJ an BMG, 18.8.1954. Ebenda, o. Pag.; Antwortschreiben, BMG an BMJ, 27.8.1954. Ebenda, o. Pag. 1089 Schnellbrief »Betr.: Menschenraub in der Bundesrepublik«, Bundesminister für Justiz an Bundestagspräsidenten, 9.7.1954. PA-DBT 3001, 2. WP, Anlagen Bd. 30, Drucksache 710. 1090 Vgl. Senat von Berlin: Chronik 1951–1954, S. 1090 f. 1091 Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1191; Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland. URL: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/stgb/gesamt.pdf (letzter Zugriff: 3.6.2012). Die Anwendung des Strafrechts wird in Kapitel X.1 näher betrachtet.
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Entführer im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit
Als »Hauptwaffe im Kampf gegen den Feind«1 pflegte MfS-Chef Erich Mielke die IM des MfS zu bezeichnen, und tatsächlich waren sie das wichtigste Instrument des MfS, um seinen umfassenden Kontrollauftrag zu erfüllen. In dieser Funktion war ihr Einsatzgebiet nicht auf die DDR beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf die Bundesrepublik und West-Berlin als »Operationsgebiet«. In Anlehnung an seine verschiedenen Aufgabenbereiche führte das MfS seine IM in mehreren Kategorien, die im Laufe der Zeit ausdifferenziert wurden. Drei elementare Funktionstypen inoffizieller MfS-Arbeit lassen sich unterscheiden: IM zur »Sicherung bestimmter Bereiche«, IM zur aktiven »Feindbekämpfung« und IM für logistische Aufgaben. Der weitaus größte Teil der IM gehörte zur ersten Kategorie und war vor allem mit der Beschaffung von Informationen beauftragt. In den 1950er Jahren führte das MfS sie unter der Bezeichnung »Geheimer Informator« (GI) und baute ihre Anzahl von schätzungsweise 13 200 im Jahr 1952 auf über 82 000 im Jahr 1962 aus. Die IM zur aktiven »Feindbekämpfung«, die bis 1968 als »Geheime Mitarbeiter« (GM) bezeichnet wurden, bildeten im IM-Netz hingegen nur einen sehr kleinen Anteil von schätzungsweise 3 Prozent. Als »hochkarätige Agenten des MfS« bestand ihr Auftrag im direkten Einsatz gegen »Feinde«. Sie waren also nicht nur mit Beobachtungen und Ermittlungen betraut, sondern wirkten auch bei »aktiven Maßnahmen« gegen feindliche Personen und Organisationen mit.2 Die IM fungierten also in erster Linie als Zuträger von Informationen aller Art, aber ihr Einsatz für das MfS konnte auch anders aussehen: Im Parteiauftrag setzten sie Menschen psychisch unter Druck und schreckten mitunter sogar vor physischen Angriffen nicht zurück, wie bei den Entführungsaktionen des MfS offenkundig wird. Im Heer der IM des MfS von insgesamt etwa 624 000 zwischen 1950 und 1989 waren diese IM eine Randerscheinung. Dennoch bildeten sie den gefürchteten »langen Arm« des MfS, der über die Grenzen der DDR hinausreichte.
1 Richtlinie 1/79 für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit (GMS). Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 1, S. 305–373, hier 305. 2 Müller-Enbergs: IM 1, S. 76. Vgl. ebenda, S. 25, 62–81; Müller-Enbergs: IM 3, S. 53–68. Für eine Hochrechnung der GM-Zahlen fehlen geeignete statistische Erhebungen des MfS. Die IM für logistische Aufgaben stellten dem MfS ihre Wohnungen, Adressen oder Telefone zur Verfügung.
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Entführer im Auftrag des MfS
Bei den Entführungsaktionen bediente sich das MfS seiner IM in unterschiedlicher Weise: Im Vorfeld mussten sie die Lebensgewohnheiten des zu Entführenden erkunden, die Umgebung des Wohnortes und/oder Arbeitsplatzes beobachten und die Fluchtmöglichkeiten (zu nutzende Straßen, Grenzübergänge etc.) in Richtung DDR prüfen. Dieses Sammeln von Informationen musste nicht, konnte aber erfolgen, ohne den IM über die Entführungsabsicht und -pläne zu unterrichten. Eine andere Ausprägung erhielt die IM-Arbeit beim unmittelbaren Einsatz in einer Entführungsaktion. Im Wissen, dass dem Betroffenen eine Festnahme bevorsteht, lockten die Entführer-IM ihnen bekannte Personen entweder direkt in die DDR oder in Hinterhalte des MfS oder sie lieferten ihnen bekannte oder fremde Menschen nach Anwendung von körperlicher Gewalt dem MfS aus. Die Entführer-IM standen demnach in unterschiedlichen Beziehungen zu den späteren Entführungsopfern, verfügten über verschiedene Ausgangspositionen und übten bei den Aktionen verschiedene Funktionen aus. Vor diesem Hintergrund lassen sich drei verschiedene Typen von Entführer-IM definieren, die spezifische Merkmale aufweisen: Typ 1: Für besondere Einsätze in West-Berlin und in der Bundesrepublik wie Einbrüche und Entführungen rekrutierte das MfS IM, die es zu Spezialkräften ausbildete und zum Teil mehrfach einsetzte. Diese IM hatten zumeist vor der Entführung keinerlei direkten Kontakt mit dem Entführten; Täter und Opfer waren einander völlig unbekannt. Typ 2: Mit dem Auftrag, das Vertrauen des Entführungsopfers zu gewinnen, agierte der Entführer-IM des zweiten Typs. Er wurde gezielt auf den zu Entführenden angesetzt, da er spezielle Anknüpfungspunkte zum Opfer hatte. Er sollte den Kontakt aufbauen und das Vertrauen des zu Entführenden gewinnen, um die Entführungsaktion zu erleichtern bzw. überhaupt erst zu ermöglichen. Diese IM kamen häufig nur einmal zum Einsatz – ebenso wie der dritte Typus. Typ 3: Der Entführer-IM des dritten Typs zeichnet sich durch eine bereits bestehende Verbindung zum Entführungsopfer aus, sei es Bekanntschaft, Freundschaft oder Verwandtschaft. Das vorhandene Vertrauensverhältnis zwischen dem Entführer-IM und späteren Opfer nutzte das MfS für seine Zwecke. Welcher Typus des Entführer-IM am häufigsten auftrat, lässt sich nicht feststellen, da die Gesamtzahl der IM, die bei geplanten und/oder durchgeführten Verschleppungen und Entführungen zum Einsatz kamen, unbekannt ist. In der Auswahl der vorliegenden Studien verteilen sich die 50 analysierten Entführer-IM wie folgt: 26 sind dem ersten Typus zuzurechnen, 14 dem zweiten und zehn dem dritten Typus.3 3 Da die Bildung der 3 Typen und die Zuordnung der analysierten Entführer-IM nach der Auswahl und Auswertung der vorhandenen Unterlagen erfolgten, gibt es keine gleichmäßige Vertei-
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Entführer im Auftrag des MfS
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Die sehr heterogene Gruppe der Entführer-IM eint im Grunde nur eine zentrale Gemeinsamkeit: Alle machten sich eines Vergehens schuldig, das sowohl gegen das Strafrecht der Bundesrepublik als auch gegen das der DDR verstieß.4 Aber der Blick auf die biografischen und sozialen Hintergründe der in der Auswahl erfassten Entführer-IM offenbart nicht nur Unterschiede, sondern auch weitere Gemeinsamkeiten innerhalb der Typen. Er lässt ein spezielles Rekrutierungsmuster des MfS erkennen.
VI.
Biografische und soziale Hintergründe
VI.1 Alterskohorten und generationelle Prägung Im Vergleich zur Altersstruktur der IM im gesamten Staatssicherheitsapparat wird deutlich, dass die Entführer-IM deutlich jünger waren. In den Diensteinheiten des MfS lag der Anteil der 25- bis 40-Jährigen etwa zwischen 30 und 40 Prozent, der Anteil der 40- bis 65-Jährigen hingegen bei rund 50 Prozent.5 Bei den Entführer-IM der untersuchten Auswahl zeigt sich in diesen Alterskohorten ein Verhältnis von 60 Prozent zu 28 Prozent. Die überwiegende Mehrzahl (33 IM) war bei der Anwerbung durch das MfS im Alter zwischen 22 und 40 Jahren. Von diesen 33 Entführer-IM waren 17 Personen unter (einschließlich) 30 Jahre alt sowie 16 Personen 31 Jahre und älter. Neun IM gehörten zu den 41- bis 50-Jährigen und vier zu den 51- bis 60-Jährigen. Nur ein IM war bei seiner Anwerbung über 61 Jahre alt und drei IM waren noch unter oder gerade 21 Jahre alt.6 Allerdings gilt es bei dieser Gegenüberstellung zu berücksichtigen, dass Helmut Müller-Enbergs sich in seiner Studie auf statistische Angaben aus den 1980er Jahren bezieht und an diesen auch einen Alterungsprozess des IM-Netzes diagnostiziert. Die untersuchte Gruppe der Entführer-IM wurde hingegen nahezu komplett in den 1950er Jahren angeworben. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass das MfS für das spezielle Einsatzgebiet der Entführungen gezielt auf junge Männer in den Zwanzigern und Dreißigern zurückgriff. Sie brachten die notwendige körperliche Fitness mit und befanden sich zumeist in einer Lebenssituation, die der MfS-Tätigkeit dienlich war. Bei ihrer ersten Entführungsaktion waren 34 der untersuchten 50 IM unter 40 Jahre alt, 21 IM sogar unter 30 Jahre alt. Unter lung der IM auf die Kategorien. Eine Übersicht der untersuchten IM und Kontaktpersonen mit Angaben ihrer Lebensdaten und der Zeit ihrer IM-Tätigkeit befindet sich im Anhang. 4 Vgl. Straftatbestand Freiheitsberaubung § 234 StGB Bundesrepublik und § 239 RStGB (bis 1968 in der DDR geltend) bzw. § 131 DDR-StGB. 5 Vgl. Müller-Enbergs: IM 3, S. 85 f. 6 In 4 Fällen liegt keine IM-Verpflichtung vor. Aber die Kontaktaufnahme durch das MfS erfolgte in diesen Fällen kurz vor der Entführungsaktion, sodass das Alter der Tatbeteiligten berechnet werden kann.
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den Entführer-IM des ersten Typs waren 18 der 26 IM unter 40 Jahre alt (davon neun IM unter 30 Jahre). Im zweiten Typus waren es sieben der 14 IM, davon fünf IM unter 30 Jahre, und im dritten Typus der Entführer-IM sogar neun der zehn IM, davon sieben unter 30 Jahre. Da alle 50 Entführer-IM zwischen 1950 und 1961 vom MfS angeworben oder eingesetzt wurden7, ergeben sich folgende Alterskohorten: Zum größten Teil (44 IM) wurden sie im Zeitraum von 1906 bis 1935 geboren, davon wurden 15 zwischen 1906 und 1915 geboren, 12 zwischen 1916 und 1925 sowie 17 zwischen 1926 und 1935. Die erste Alterskohorte, die zum Teil der sogenannten Kriegsjugendgeneration8 angehörte, erfuhr ihre Sozialisation in der Weimarer Republik und erlebte die Zeit des Nationalsozialismus als Erwachsene.9 In der zweiten Alterskohorte war weniger die Weimarer Republik als die NS-Zeit und der Zweite Weltkrieg der prägende Sozialisationshintergrund in ihrer Lebensphase als Jugendliche und junge Erwachsene. Bei 17 IM prägte diese Zeit die Kindheit und Jugend, da sie zwischen 1926 und 1935 geboren wurden. Dieser Blick auf die Alterskohorten respektive Generationen10, aus der die untersuchten Entführer-IM stammten, kann in begrenztem Maße einen Eindruck vermitteln, welche gesellschaftlichen Strukturen und Dynamiken potenziell Einfluss auf sie hatten.11 Zweifellos waren die NS-Zeit und der Zweite Weltkrieg für einen Großteil von ihnen prägend, wenn auch in unterschiedlichen Ausmaßen und Ausprägungen.12 Die MfS-Akten der Entführer-IM geben zum Teil Aufschluss über die jeweiligen Erfahrungshorizonte. Bei sechs 7 Bei 40 der 50 untersuchten Entführer-IM erfolgte die Anwerbung bzw. der erste Einsatz (wenn keine Verpflichtung vorliegt) in den Jahren 1950 bis 1955, nur bei 10 IM in den Jahren 1956 bis 1961. 8 Vgl. Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989. Bonn 31996, S. 42–45; Wildt: Generation, S. 847–849. 9 Ahbe und Gries verweisen auf die nachhaltige Prägung eines Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren, in dem die Auseinandersetzung mit moralischen Fragen, gesellschaftlichen Widersprüchen und politischen Bewegungen besonders ausgeprägt sei. Siehe Thomas Ahbe, Rainer Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte. In: Annegret Schüle, Thomas Ahbe, Rainer Gries (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Leipzig 2006, S. 475–571, hier 483. 10 Zur Problematisierung des Begriffs »Generation« und seine Bedeutung in der sozialgeschichtlichen Analyse vgl. Ahbe/Gries: Generationengeschichte, S. 482–486; Ulrike Jureit, Michael Wildt: Generationen. In: Dies. (Hg.): Generationen. Hamburg 2005, S. 7–26; Bernd Weisbrod: Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 55(2005)8, S. 3–9. 11 Individuelle Lebensläufe sind nach Thomas Ahbe und Rainer Gries das »Resultat eines verflochtenen Zusammenwirkens entwicklungspsychischer und gesellschaftlicher Dynamiken«. Vgl. Ahbe/Gries: Generationengeschichte, S. 477. 12 Karl Mannheim spricht von »Generationseinheiten«, die zwar in einem »Generationszusammenhang« leben, aber die entsprechenden Erlebnisse unterschiedlich verarbeiten. Siehe Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. In: ders.: Wissenssoziologie. Berlin 1970, S. 509–565. Zit. in: Ahbe/Gries: Generationengeschichte, S. 484; Michael Corsten: Biographie, Lebensverlauf und das »Problem der Generation«. In: BIOS 14(2001)2, S. 32–59, hier 33–35.
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Personen findet sich der Hinweis auf eine Mitgliedschaft in den nationalsozialistischen Jugendorganisationen Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel. Bei 23 Entführer-IM (51 % der männlichen Entführer-IM) ist überliefert, dass sie den Zweiten Weltkrieg in den Reihen der Wehrmacht erlebten.13 Der 1898 geborene IM »Friedrich« hatte sogar bereits im Ersten Weltkrieg als Soldat gekämpft, wurde 1941 zur Wehrmacht eingezogen und geriet 1942 in sowjetische Gefangenschaft, aus der er 1945 entlassen wurde.14 Die Erfahrung der Kriegsgefangenschaft machten 14 der untersuchten Entführer-IM (31 % der männlichen IM), sechs waren in sowjetischer und acht in amerikanischer Gefangenschaft. Für vier unter ihnen dauerte die Gefangenschaft nur wenige Wochen oder Monate, sodass sie bereits 1945 wieder entlassen wurden. Sechs waren ein bis zwei Jahre in Kriegsgefangenschaft und drei kehrten nach drei bis vier Jahren zurück. So beispielsweise Walter Böhm, 1927 geboren, der 1943 zur Wehrmacht einberufen wurde. Nach einer dreimonatigen Grundausbildung und einem sechswöchigen Lehrgang für Reserveoffizierbewerber besuchte er für neun Monate eine Kriegsschule, die er im Alter von 18 Jahren als Oberfähnrich verließ. Nach einer Verwundung bei einem Fronteinsatz wurde er in einem Lazarett bei Magdeburg von der sowjetischen Armee gefangen genommen. 1948 kehrte er aus einem Kriegsgefangenenlager bei Stalingrad nach Berlin zurück.15 Drei der 23 IM, die in der Wehrmacht dienten, sollen laut MfS-Akten auch der Waffen-SS angehört haben: IM »Schütte«, 1913 geboren, meldete sich bereits 1935 freiwillig zur Wehrmacht und erlangte bis 1945 den Rang des Oberleutnants, dekoriert mit dem Eisernen Kreuz I. und II. Klasse, InfanterieSturmabzeichen, Verwundetenabzeichen in Bronze, der Ostmedaille und Nahkampfspange in Silber. Neben seinen Einsätzen an den Fronten in Polen, Norwegen, Finnland und Ungarn soll er 1941 für ein halbes Jahr bei der Waffen-SS gewesen sein. 1944 wurde er in Ungarn verwundet und im Juli 1945 aus einem Lazarett in Gießen entlassen.16 »Während des Krieges war er Angehöriger der Waffen-SS, bei der er [eine] Sonderausbildung erhielt und zu Sondereinsätzen verwandt wurde«17, berichte13 Die Angaben zur NS-Vergangenheit der Entführer-IM beruhen nur auf den MfSUnterlagen. Von einer weiteren Überprüfung der Angaben wurde abgesehen, da hier der Kenntnisstand und die Wahrnehmung des MfS ausschlaggebend ist. 14 Vgl. Vorschlag, HA II/1, 16.10.1954. BStU, MfS, AIM 2275/55, P-Akte, S. 9 f. 15 Vgl. Urteil, Landgericht Berlin, 26.6.1956. BStU, MfS, AP 21893/80, Bd. 2, S. 55–86, hier 59 f. 16 Vgl. Vorschlag, MfS, 10.9.1952. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/1, S. 20; Auskunftsbericht, MfS, 1952. Ebenda, S. 42–44. 17 Auskunftsbericht, MfS, 11.6.1958. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/2, S. 20–23, hier 20. In weiteren Berichten heißt es hingegen vorsichtiger, dass er »als Soldat bei einer Sondergruppe (wahrscheinlich SS)« tätig gewesen sei. Siehe Auskunftsbericht, MfS, 25.11.1955. Ebenda, Bd. I/4, S. 19 f.; Bericht, Abt. XXI, 8.1.1970. Ebenda, Bd. II/8, S. 138 f., hier 138.
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te ein MfS-Führungsoffizier über seinen 1927 geborenen IM »Donner«. Dieser hatte in der Motorenschule des Reichsjugendführers von 1941 bis 1943 eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker absolviert und wurde im Oktober 1943 zum Reichsarbeitsdienst im Arbeitsgau V in Stettin/Pommern eingezogen. Ein knappes Jahr später wurde er zur Reichsjugendführung der Hitlerjugend kommandiert und Ende des Jahres 1944 einem Panzer-Jagdkommando zugeteilt. Nach eigenen Angaben erhielt er für die Dienste in diesem Kommando das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse.18 Nähere Angaben zu seiner angeblichen Zugehörigkeit zur Waffen-SS finden sich in seinem IM-Vorgang nicht. Der IM »Hering« wurde nach eigenen Angaben gegenüber dem MfS 1941 zur Wehrmacht eingezogen, im Juli 1941 aber bereits an der Ostfront verwundet und fortan in einem Ersatztruppenteil in Berlin eingesetzt. 1944 sei er dann wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und nach einer Begnadigung zu 15 Jahren KZ-Haft im April 1945 aus dem KZ Dachau befreit worden.19 Laut eines Schlussberichtes der Volkspolizei wurde »Hering« jedoch bereits 1940 zur Waffen-SS einberufen und sei durch seine Körpergröße zur Leibstandarte Adolf Hitlers gekommen. Im Jahr 1945 sei er dann wegen »krimineller Verbrechen, Ungehorsam und anderer Verfehlungen« von einem Polizeigericht in Berlin zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden.20 Hier liegt der Verdacht nahe, dass der IM »Hering« seinen Lebenslauf im Hinblick auf die Zeit des Nationalsozialismus absichtlich verfälscht hatte. Wenn die Informationen der Volkspolizei stimmen, war das MfS auf diese falschen Angaben des IM erst im Rahmen eines Untersuchungsverfahrens aufmerksam geworden. Eine Überprüfung durch das MfS hatte offensichtlich vorher nicht stattgefunden.21 Denselben Eindruck erwecken auch die Akten von zwei weiteren Entführer-IM, die ebenfalls gegenüber dem MfS angaben, wegen Wehrkraftzersetzung bestraft und degradiert worden zu sein. IM »Pelz«, geboren 1920, gab gegenüber dem MfS an, sich 1938 freiwillig zur Luftwaffe gemeldet zu haben und im Februar 1945 in Dänemark wegen Zersetzung der Wehrkraft und Wehrmittelschädigung zum Tode verurteilt worden zu sein. Er benannte zwei Mitangeklagte und berichtete, dass das Urteil wegen »Frontbewährung« nicht vollstreckt worden sei.22 In einer drei Jahre später verfassten Charakteri18 Vgl. Auskunftsbericht, MfS, 25.11.1955. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/4, S. 19 f., hier 19; Auskunftsbericht, MfS, 11.6.1958. Ebenda, Bd. I/2, S. 20–23, hier 20; Bericht, Abt. XXI, 8.1.1970. Ebenda, Bd. II/8, S. 138 f., hier 138; Auskunftsbericht, AG beim 1. Stellv. d. Min., 11.6.1980. Ebenda, Bd. I/3, S. 153–187, hier 160; Schlussbericht, HA III/T/6, 9.7.1985. Ebenda, Bd. I/1, S. 480–485, hier 480. 19 Vgl. handschriftlicher Lebenslauf, 29.6.1954. BStU, MfS, AP 5009/57, S. 93–95. 20 Vgl. Schlussbericht, VPI Mitte, 27.6.1956. Ebenda, S. 116–122, hier 117. 21 Gieseke konstatiert hinsichtlich der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter auch mangelhafte Überprüfungen in den 1950er Jahren, sodass es hier ebenfalls verfälschte Biografien und verschwiegene NS-Belastungen gab. Vgl. Gieseke: Erst braun, S. 141–145. 22 Vgl. Bericht, MfS, 4.2.1950. BStU, MfS AIM 3119/56, P-Akte, S. 16–22, hier 17.
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stik zum IM »Pelz« wird diese Aussage im Konjunktiv wiedergegeben, anscheinend hatte das MfS sie nicht weiter überprüft.23 Die im handschriftlichen Lebenslauf des 1906 geborenen IM »Deckert« gemachte Angabe, dass er im März 1944 wegen Wehrkraftzersetzung vom Oberfeldwebel zum Schützen degradiert und mit zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung bestraft worden sei, wird in einem späteren Auskunftsbericht der Hauptabteilung II/4 wortgetreu übernommen.24 Drei weitere IM, die in der Wehrmacht gedient hatten, bekundeten dem MfS, fahnenflüchtig geworden zu sein. Nach eigenen Angaben desertierte beispielsweise der 1929 geborene IM »Steffen«, der seit 1939 der Hitler-Jugend angehörte, als er Ende 1944 an die Ostfront kommandiert werden sollte.25 Das MfS nahm diese Angaben zur Kenntnis und thematisierte sie anscheinend nicht weiter. Generell lässt sich anhand der IM-Akten der hier analysierten Entführer-IM eine MfS-interne Überprüfung auf ihre NSVergangenheit und auf etwaige Beteiligung an Kriegsverbrechen nicht feststellen. Allem Anschein nach schenkte man möglichen NS-Verstrickungen bei der Rekrutierung der Entführer-IM keine größere Aufmerksamkeit. Das erlaubt zugleich den Rückschluss, dass das MfS für das mitunter gewalttätige Einsatzgebiet der Entführungen nicht gezielt auf Kräfte zurückgriff, die bereits in NSTerrororganisationen entsprechende Erfahrungen gemacht hatten. Die etwaige Verstrickung eines Entführer-IM in nationalsozialistische Gewaltverbrechen wurde in den 50 untersuchten Fällen weder als qualifizierendes noch als disqualifizierendes Merkmal thematisiert. Spielten also – wie bei den hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern – vielmehr Erfahrungen mit militanten Formen der kommunistischen Bewegung in der Weimarer Republik und NS-Zeit eine Rolle bei ihrer Rekrutierung? Die erste Generation und damit die ›Gründer‹ des MfS, die größtenteils aus den Jahrgängen 1905 bis 1915 stammten, hatten häufig bereits in der Weimarer Republik kleine Funktionen in Jugendverbänden und Organisationen der kommunistischen Arbeiterbewegung übernommen und die Straßen- und Saalschlachten erlebt. In der Zeit des Nationalsozialismus hatten viele im Exil (in der Sowjetunion) leben oder mehrere Jahre in Haft verbringen müssen. Einige waren in den Interbrigaden im Spanischen Bürgerkrieg oder in sowjetischen Partisaneneinheiten aktiv, andere wechselten erst als kriegsgefangene Wehrmachtsangehörige in das Lager des sowjetischen Kommunismus.26 Die Ansprüche des MfS hinsichtlich der politischen Vergangenheit waren bei seinem hauptamtlichen Personal höher als bei den inoffiziellen Mitarbeitern, 23 Vgl. Charakteristik, MfS, 11.5.1953. Ebenda, S. 97–100. 24 Vgl. Lebenslauf, 10.12.1953. BStU, MfS, AIM 6805/61, P-Akte, S. 26–34, hier 28 f.; Auskunftsbericht, HA II/4, 19.12.1957. Ebenda, S. 146–149, hier 147. 25 Vgl. Lebenslauf, o. D. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 1, S. 31–33, hier 31; P-Akten der Vorgänge BStU, MfS, AIM 3370/61 u. AIM 1639/61. 26 Vgl. Gieseke: Generation, S. 231; Kowalczuk: Stasi konkret, S. 64–84.
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zu denen es diesbezüglich noch keine übergreifende Analyse gibt. Bei den untersuchten Entführer-IM zeigt sich folgendes Bild: Elf der 50 IM waren laut MfS-Unterlagen in der Weimarer Republik in Verbänden und Organisationen der Arbeiterbewegung aktiv, beispielsweise im Kommunistischen Jugendverband, in der »Roten Hilfe« oder in der KPD. Der 1910 geborene IM »Kleist« trat beispielsweise mit 16 Jahren dem Kommunistischen Jugendverband bei, 1928 wurde er Mitglied der KPD. Nach eigenen Angaben kam er in diesem Jahr »im Kampf um die elementarsten Rechte der Arbeiter« mit dem Gesetz in Konflikt. So sei er zwischen 1928 und 1941 aufgrund seines politischen Engagements mehrmals inhaftiert gewesen.27 Auch der 1909 geborene IM »Heinrich« war seit 1929 bis zum Verbot der Partei in der Bundesrepublik 1956 Mitglied der KPD. Auf seine Behauptung, in der NS-Zeit illegal für die KPD tätig gewesen zu sein, wird in den MfS-Akten nicht weiter eingegangen.28 Im September 1962 war er an der Entführung des geflohenen MfS-Mitarbeiters Walter Thräne beteiligt, ebenso wie der IM »Ludwig«. Der 1896 geborene »Ludwig« war 1913 bis 1915 in der Arbeiterjugendbewegung aktiv und seit 1916 Mitglied der SPD, 1919 wechselte er in die USPD und 1920 schließlich in die KPD. Während der NS-Zeit wurde er angeblich von der KPD in das Nationalsozialistische Kraftfahrerkorps (NSKK) delegiert, dem er von 1938 bis 1945 als Scharführer angehörte. Außerdem sei er mehrere Male aufgrund seiner illegalen Tätigkeit in Haft gewesen. Nach Kriegsende trat er sofort wieder der KPD bei und gehörte somit nach 1946 der SED an.29 Eine Ausnahmeerscheinung unter den analysierten Entführer-IM ist in diesem Zusammenhang der 1914 geborene IM »Fritz«. Er war seit 1928 im JungSpartakus-Bund und Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) aktiv. Als Seemann desertierte er 1935 in Leningrad von Bord eines deutschen Schiffes, wurde jedoch nach einigen Tagen von der sowjetischen Miliz zurückgebracht, da er weder ein Einreisevisum noch eine Aufenthaltserlaubnis besaß. Am folgenden Tag setzte er sich erneut ab, wurde allerdings wiederum festgenommen und ausgeliefert. Ein deutsches Gericht verurteilte ihn im November 1935 zu sechs Wochen Gefängnis wegen Dienstentweichung und Überschreitens der Reichsgrenze. Im Frühjahr 1936 machte er sich erneut auf den Weg in die Sowjetunion, wo er im Mai unter dem Vorwurf der Spionage und des 27 Handschriftlicher Lebenslauf, 14.11.1952. BStU, AIM 1717/62, P-Akte, S. 20. 28 Vgl. Fragebogen, 24.4.1960. BStU, AIM 9184/68, P-Akte, S. 21 f.; Auskunftsbericht, MfS, 8.1.1963. Ebenda, S. 36–39. Auch im Urteil des Bundesgerichtshofes gegen Heinrich Strauch findet sich der Hinweis auf seine KPD-Mitgliedschaft, aber keine weiteren Angaben zu einer eventuell illegalen Tätigkeit während der NS-Zeit. Vgl. Urteil, Bundesgerichtshofs, 14.10.1968. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 1, S. 26–83, hier 32. 29 Vgl. Ermittlungsbericht, HA VIII/2 an die HA II/1, 20.2.1959. BStU, AIM 1371/72, PAkte, S. 20–23, hier 21; Werbungsvorschlag, HA II/1c, 14.9.1959. Ebenda, S. 32–35, hier 34; Auskunftsbericht, HA II/1, 8.12.1965. Ebenda, S. 101–105, hier 102.
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illegalen Grenzübertritts verhaftet wurde. Nach seiner Verurteilung vor einem Sondergericht erfolgte im Januar 1937 sein Transport in das Arbeitslager Karaganda. Im Rahmen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes wurde »Fritz« mit anderen deutschen Staatsangehörigen freigelassen, Ende 1939 ausgewiesen und im Februar 1940 – wie auch Margarete Buber-Neumann30 – in Brest-Litowsk an die SS übergeben. Nach ersten Vernehmungen der »Rückkehrer« in einem Gefängnis in Lublin wurde »Fritz« nach Berlin gebracht. Es folgte eine kurzzeitige Inhaftierung im KZ Fuhlsbüttel und im Mai 1940 schließlich die Einlieferung in das KZ Sachsenhausen, wo er sich in einer illegalen Widerstandsgruppe engagierte. Auf dem Todesmarsch vom KZ Sachsenhausen in Richtung Ostsee im April 1945 wurde er freigelassen.31 Nicht zuletzt aufgrund dieser Verfolgungsgeschichte gelang es ihm in den 1950er Jahren, das Vertrauen seines Entführungsopfers Karl Wilhelm Fricke zu gewinnen.32 Dieser verworrene Lebenslauf des IM »Fritz« entsprach jedoch nicht dem Idealbild eines »Kundschafters« des MfS und wurde später entsprechend ›bereinigt‹. So heißt es in einem Dokument mit dem Titel »Kurzer Lebensabriss des Major a. D. Rittwagen, Kurt« von 1988, das sich in MfS-Unterlagen zur Gestaltung eines Traditionskabinetts der Hauptabteilung XX befindet: »Auf Beschluss der Hamburger Leitung des KJVD emigrierte Gen. Kurt Rittwagen 1932 in die Sowjetunion. Hier arbeitete er bis 1939. Auf Beschluss des NKWD der Sowjetunion wurde Gen. Rittwagen 1939 in das faschistische Deutschland geschickt, um inoffiziell für die sowjetischen Sicherheitsorgane zu arbeiten. Durch den Verrat eines Spitzels der Gestapo in der eingesetzten Gruppe wurden alle Mitglieder derselben verhaftet. Gen. Rittwagen wurde 1939 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach Absolvierung des Strafvollzuges wurde er durch die Gestapo 1942 in das KZ Sachsenhausen eingewiesen. Im KZ Sachsenhausen wurde Gen. Major a. D. Rittwagen mit wichtigen Aufgaben des illegalen Lagerkomitees betraut. Unter Nutzung seiner Tätigkeit als Kalvaktor bei der Waffen-SS hatte er durch das Lagerkomitee den Auftrag, den ständigen Kontakt mit den sowjetischen Kriegsgefangenen im Lager aufrechtzuerhalten. Diese Aufgabe löste Gen. Rittwagen unter Einsatz seines Lebens, mit Initiative und großer Beweglichkeit.«
30 Vgl. Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler. Köln 1952. Mit ihrem Lebensgefährten, dem deutschen Kommunisten Heinz Neumann, lebte sie seit 1935 im Exil in Moskau. Im Rahmen der stalinistischen Säuberungsaktionen wurde Heinz Neumann 1937 ermordet und sie wurde im NKWD-Lager in Karaganda inhaftiert. Nach ihrer Auslieferung an die SS kam sie in das KZ Ravensbrück. 1951 gründete sie in Frankfurt/M. das »Befreiungskomitee für die Opfer totalitärer Willkür«. Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 25. 31 Vgl. Erler: Opfer des Stalinismus, S. 47–53. 32 Vgl. Interview mit Karl Wilhelm Fricke am 25.10.2007; Fricke: Akten-Einsicht, S. 38.
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Zum weit überwiegenden Teil konnten die in der Auswahl erfassten Entführer-IM keine Erfahrungen als militante Verfechter des Kommunismus in der Weimarer Republik und NS-Zeit vorweisen. Von den elf Entführer-IM, die in der Weimarer Republik und NS-Zeit überhaupt in irgendeiner Form im kommunistischen Milieu aktiv waren, gaben vier gegenüber dem MfS an, den kommunistischen Untergrundkampf während des Nationalsozialismus unterstützt zu haben. Die meisten der analysierten IM waren in der NS-Zeit als Soldat in der Wehrmacht, da sie im wehrpflichtigen Alter waren, oder gehörten den nationalsozialistischen Jugendorganisationen HJ und BDM an. Auffällig ist jedoch: Von keinem der Entführer-IM ist eine Mitgliedschaft in der NSDAP bekannt, fünf waren hingegen in der Weimarer Republik in der KPD aktiv. Eine vergleichsweise ausgeprägtere Affinität zum linken politischen Spektrum scheint demnach vorhanden gewesen zu sein. VI.2 Politische Orientierung Das MfS legte großen Wert auf die »politisch-ideologische Überzeugung« seiner IM, da diese in den Augen des Staatssicherheitsapparates ein engagiertes Arbeiten als IM in Aussicht stellte. Zudem waren die von der Richtigkeit der SED-Herrschaft Überzeugten auch leichter zugänglich. Doch gab es ein entscheidendes Problem: Das geheimpolizeiliche Interesse galt besonders den herrschaftsferneren Teilen der Gesellschaft und erforderte Informanten mit Zugang zu diesen Kreisen. Der Mangel an entsprechenden Informanten und der hohe Anteil an SED-Mitgliedern unter den IM waren in den 1950er Jahren ein stetiger Kritikpunkt im MfS-Apparat. So besaßen in den 1950er und 1960er Jahren etwa die Hälfte der IM eine SED-Mitgliedschaft. Dieser Anteil sank in den 1970er und 1980er Jahren stellenweise auf ein Drittel der IM, in manchen Diensteinheiten blieb er jedoch auch weiterhin bei rund 50 Prozent – trotz aller Kritik und Mahnungen.33 In der untersuchten Auswahl der Entführer-IM liegt der Anteil der SEDMitglieder bei 16 Prozent, denn nur acht der IM waren zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung Parteimitglied. Fünf weitere IM hatten vor ihrer Tätigkeit für das MfS der SED zumindest zeitweilig angehört, waren aber aus verschiedenen Gründen aus der Partei ausgeschlossen worden. Bei dem 1953 angeworbenen IM »Deckert« erfolgte beispielsweise nach vierjähriger Mitgliedschaft 1950 ein Parteiausschluss wegen Nichtzahlung der Mitgliedsbeiträge. Das traf im selben Jahr auch den 1955 verpflichteten IM »Neuhaus, der seit 1945 Mitglied der KPD und dann der SED war. Bei »Neuhaus« mag aber auch sein Verbleib in West-Berlin nach der Teilung der Stadt nach der doppelten Staatsgründung
33
Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 121; Müller-Enbergs: IM 3, S. 101.
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1949 eine Rolle gespielt haben.34 Ihre Flucht aus der DDR bedeutete bei den IM »Albert« und »Steffen« das Ende ihrer Parteimitgliedschaft. Als 43-Jähriger war »Albert« 1945 der KPD beigetreten und gehörte dann der SED an, bis er 1953 nach West-Berlin flüchtete.35 Der 1929 geborene IM »Steffen« war Kandidat der SED als er 1953 aus Ost-Berlin gen Westen floh und damit diesen Status verlor. Im Juni 1955 wurde er wieder als Kandidat der SED aufgenommen, nachdem er durch seine IM-Arbeit bewiesen hatte, »dass er treu zur Sache der Arbeiter- und Bauernmacht steht und immer bereit ist, Aufträge für unsere Republik zu erfüllen«.36 »Steffen« hatte zu diesem Zeitpunkt an zwei Entführungen mitgewirkt und war danach in die DDR zurückgezogen worden. In einem Zwischenbericht hielt das MfS im Juni 1955 fest, dass es sein größter Wunsch sei, wieder Mitglied der SED zu werden.37 Nach seiner Bewährung als Entführer-IM wurde ihm dieser Wunsch Anfang Juli 1956 erfüllt.38 Das gleiche Bestreben zeigte der bereits erwähnte IM »Fritz«, der 1951 aus der SED ausgeschlossen worden war. Der Auslöser dieses Parteiausschlusses war eine Überprüfung der SED-Mitglieder, bei der man entdeckte, dass »Fritz« einige Aspekte seiner Biografie bei der Aufnahme in die KPD 1945 verschwiegen hatte. Beispielsweise hatte er seine Verhaftung durch den NKWD und die Inhaftierung in der Sowjetunion verheimlicht, um nicht als Trotzkist zu erscheinen. Gegen den Parteiausschluss wehrte sich »Fritz« vergeblich. Im August 1951 bestätigte die Zentrale Parteikontrollkommission (ZPKK) der SED unter Vorsitz von Hermann Matern diesen mit der Begründung: »Rittwagen ist undurchsichtig und unehrlich. Er verschweigt manches aus seiner Vergangenheit, was heute kaum noch kontrollierbar ist. […] Ungeklärt bleibt seine Rolle in der Sowjetunion von 1935–1939. Es besteht der Verdacht, dass er im Auftrag der Gestapo dort war. […] Rittwagens Aussagen tragen den Charakter der Doppelzüngelei.«39
Ein Jahr später nahm das MfS Kontakt zu dem treuen Kommunisten auf, der alles daran setzte, wieder ein »Genosse« werden zu dürfen. Seine Beteiligung an 34 Vgl. Vorschlag, MfS, 3.11.1953. BStU, MfS, AIM 6805/61, P-Akte, S. 19–21, hier 20; Auskunftsbericht, MfS, 7.1.1954. Ebenda, S. 53–56, hier 54; Auskunftsbericht, HA II/4, 19.12.1957. Ebenda, S. 146–149, hier 148; Auskunftsbericht, HA II SR 3, 16.7.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 209–214, hier 210. 35 Vgl. Bericht, Präsidium der Volkspolizei, 15.8.1953. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 62 f., hier 62; Lebenslauf, Martin Damaschke, 1953. Ebenda, S. 24–27; handschriftlicher Lebenslauf, Martin Damaschke, 1956. Ebenda, S. 178–195. 36 »Vorschlag zur Aufnahme des GM ›Steffen‹ als Kandidat der SED«, HA V/2, 27.6.1955. Ebenda, S. 61; vgl. Bericht, HA V/1, 1.2.1954. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 1, S. 46 f.; Fragebogen für Mitglieder und Kandidaten der SED, 28.6.1955. Ebenda, S. 66–73. 37 Vgl. Zwischenbericht, HA V/2, 23.6.1955. Ebenda, S. 62–64. 38 Vgl. Aktenvermerk, MfS, 22.1.1959. BStU, MfS, KS 10/78, S. 26–28. 39 Zit. nach: Erler: Opfer des Stalinismus, S. 51.
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der Entführung des Journalisten Karl Wilhelm Fricke als Akt der Wiedergutmachung ermöglichte auch ihm die Rückkehr in die Partei. Im Februar 1956 hob das höchste Parteigericht seinen im Mai 1951 gefassten Entscheid zum Parteiausschluss des IM »Fritz« einfach wieder auf: »Fest steht, dass Gen. Rittwagen weder in der Sowjetunion von 1935–39 noch im Lager Sachsenhausen von 1940–1945 und nach 1945 eine Haltung hatte, die zur Annahme berechtigt, er sei ein Feind der Partei. Im Gegenteil, für seine Tätigkeit in den Jahren 1951–1955 wurde Gen. Rittwagen für seine hervorragenden Leistungen und Erfolge im Kampf um die Festigung der DDR mit dem ›Vaterländischen Verdienstorden‹ ausgezeichnet.«40
Von den 13 aktiven und ehemaligen SED-Genossen unter den Entführer-IM waren fünf bereits seit 1945, zwei seit 1946, einer seit 1947, drei seit 1949 und jeweils einer seit 1950 sowie seit 1953 Mitglied der KPD bzw. (seit 1946) SED. Zwei dieser SED-Mitglieder waren zudem in der FDJ organisiert, der auch fünf weitere Entführer-IM zur Zeit ihrer Anwerbung angehörten bzw. vorher angehört hatten. Der relativ geringe Anteil von SED-Mitgliedern unter den Entführer-IM muss vor zwei Hintergründen betrachtet werden: Erstens handelt es sich bei fast der Hälfte der untersuchten IM (48 %) um West-IM, also Personen aus der Bundesrepublik und West-Berlin.41 Zwar war die SED auch in WestBerlin vertreten, erhielt aber bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus nur geringe Stimmenanteile, ebenso wie die in der Bundesrepublik vertretene KPD (bis zu ihrem verfassungsrechtlichen Verbot 1956).42 Nur einer der acht Entführer-IM, die zur Zeit ihrer Anwerbung aktive SED-Mitglieder waren, kam aus West-Berlin: Max Pohl. Im Jahre 1907 geboren und in Berlin-Schöneberg wohnhaft, trat Pohl am 1. Juni 1949 der SED bei. Nach seinen eigenen Angaben im Personal-Fragebogen der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft waren schon seine Eltern über 40 Jahre lang in der Arbeiterbewegung organisiert und sein Vater Mitglied der SPD, USPD, KPD und schließlich der SED. Er selbst habe in sowjetischer Kriegsgefangenschaft die Antifaschule besucht und sei durch Selbststudium zum Marxisten und Leninisten geworden.43 Unter den fünf Entführer-IM, die bei ihrer Anwerbung nicht mehr SED-Mitglied waren, befinden sich drei West-IM, deren Mitgliedschaft durch ihre Flucht aus der DDR erloschen war. Ein West-IM muss hier allerdings 40 Vgl. Beschluss, ZPKK, 15.2.1956. BStU, MfS, KS 549/89, Teil II, S. 20. 41 Anteil Bundesbürger oder Westberliner in den 3 Entführer-IM-Typen: Typ 1 53,8 %, Typ 2 21,1 % und Typ 3 70 %. 42 Der höchste Stimmenanteil, den die in West-Berlin aktive SED – seit 1969 unter dem Namen Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) – je erreichte, war 2,3 %. Vgl. Stöver: Geschichte Berlins, S. 71 f. 43 Vgl. Personal-Fragebogen, Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, 18.6.1950. BStU, MfS, AS 275/66, S. 4–7.
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noch Erwähnung finden, der zwar kein SED-Mitglied, aber im Prinzip auch ein Parteigenosse war: Der westdeutsche, 1959 geworbene IM »Heinrich« gehörte bereits seit 1929 der KPD an bis zu deren Verbot in der Bundesrepublik 1956.44 Zweitens steht der niedrige Anteil an SED-Mitgliedern unter den Entführer-IM mit ihrer IM-Kategorie in Zusammenhang. In der Kategorie der sogenannten IM zur aktiven »Feindbekämpfung« (bis 1968 als GM, danach als IMB für »IM mit Feindverbindung« abgekürzt) waren kaum SED-Mitglieder zu finden, da diese selten über den erforderlichen Kontakt zu »feindlichen« Milieus verfügten.45 Ein Großteil der hier untersuchten Entführer-IM gehörte zu dieser Kategorie. Der Anteil an aktiven und ehemaligen SED-Mitgliedern unter ihnen war entsprechend gering: Nur bei fünf der 26 Entführer-IM des ersten Typs, von denen über die Hälfte aus West-Berlin stammte und über zwei Drittel als GM erfasst war, ist eine SED-Mitgliedschaft überliefert (19,2 %). Etwa ebenso groß ist der Anteil unter den zehn Entführer-IM des dritten Typs (20 %), von denen sieben in West-Berlin lebten und drei als GM registriert waren. Bei den 14 Entführer-IM des zweiten Typs, die zwar ungefähr zur Hälfte als GM aktiv waren, aber zum größten Teil aus der DDR (fast 80 %) waren, ist der Anteil der SED-Mitglieder mit sechs von 14 (42,9 %) hingegen doppelt so hoch. Neben den 13 aktiven und ehemaligen SED-Mitgliedern bescheinigte das MfS weiteren neun Entführer-IM eine »positive« oder zumindest »loyale« Haltung zum SED-Staat. Diese Einschätzungen sind jedoch als Indikatoren für die »politische Überzeugung« noch problematischer als die Mitgliedschaft in der Staatspartei. Denn sie können erst recht das Resultat bloßer Lippenbekenntnisse der IM aus Opportunismus sein. Außerdem können diese Einschätzungen Ergebnisse der bereits erwähnten Vorliebe der MfS-Mitarbeiter für das Motiv der »politisch-ideologischen Überzeugung« sein. VI.3 Soziale Herkunft und Bildung Bei der Analyse und Differenzierung der biografischen Hintergründe und Erfahrungsräume ist nicht nur der generationelle Kontext ausschlaggebend, sondern ebenso die soziale Herkunft und das Aufwachsen in einem spezifischen Milieu.46 Auch im Staatssicherheitsapparat interessierte man sich für das Herkunfts- und Bildungsprofil der IM. Entsprechende Statistiken sind überliefert, allerdings nur von einzelnen MfS-Diensteinheiten. Statistische Analysen, die sich auf die sozialstrukturelle Zusammensetzung des gesamten IM-Netzes 44 Vgl. Fragebogen, Heinrich Strauch, 24.4.1960. BStU, MfS, AIM 9184/68, P-Akte, S. 21 f., hier 21. 45 Vgl. Müller-Enbergs: IM 3, S. 103. 46 Vgl. Gieseke: Generation, S. 234; Corsten: Biographie, S. 38 f., 46.
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beziehen, fehlen hingegen und lassen sich auch nicht auf Grundlage der vorhandenen Statistiken einzelner Diensteinheiten hochrechnen. Denn angesichts der nach Territorialprinzipien und Schwerpunktbereichen organisierten operativen Arbeit des MfS ist davon auszugehen, dass die IM-Netze der Diensteinheiten eine jeweils spezifische Zusammensetzung aufwiesen.47 Hinsichtlich der untersuchten Entführer-IM fehlen nicht nur mögliche Vergleichswerte auf der Gesamtebene, sondern leider auch der involvierten Diensteinheiten. Die Analyse des Herkunftsmilieus und Bildungsprofils der Entführer-IM basiert daher lediglich auf den Angaben des MfS in den einzelnen IM-Akten und ist nur bedingt aussagekräftig. So hat der DDR-Staatssicherheitsdienst in den Auskunftsberichten zu seinen Entführer-IM zwar die soziale Herkunft und/oder den Beruf des Vaters genannt, aber meist in der DDR-spezifischen sozialen Strukturierung.48 Diese Angaben sollen im Folgenden trotzdem kurz benannt werden, da sie zumindest im Ungefähren einen Einblick in die soziale Struktur der untersuchten Entführer-IM ermöglichen. Bei 33 Entführer-IM ist der Beruf des Vaters angegeben: 15 IM stammten aus einem Arbeiter-, sechs IM aus einem Handwerker-, sieben IM aus einem Angestellten- und ein IM aus einem Beamtenhaushalt. Drei IM waren Söhne von Händlern bzw. einem Unternehmer und ein IM hatte einen Bauern zum Vater. In den MfS-Unterlagen von 28 Entführer-IM sind zusätzlich (bei 16 IM) oder nur (bei zwölf IM) die Herkunftsschichten benannt: Zwei IM waren demnach bürgerlicher und sechs IM kleinbürgerlicher Herkunft. Mit 20 IM stammte der größte Teil der Entführer-IM, zu denen entsprechende Angaben vorliegen, aus der Arbeiterschicht. Diese Herkunftsmilieus spiegeln sich auch in den Schullaufbahnen und Bildungsgraden der Entführer-IM49: 35 IM durchliefen die acht Klassenstufen der Volksschule (ein IM brach sie ab), fünf von ihnen besuchten danach noch für zwei Jahre eine Mittelschule bis zur Erlangung der Mittleren Reife. Zwei IM verbrachten jeweils vier Jahre an der Volks- und Mittelschule. Zwei IM wechselten nach sechs Jahren Volksschule für drei Jahre an eine Mittelschule, drei weitere IM bereits nach drei bzw. vier Jahren Volksschule für sechs Jahre an eine Mittelschule und ein IM war acht Jahre auf einer Mittelschule. Zwei 47 Vgl. Müller-Enbergs: IM 3, S. 97–100. 48 Das Statistische Jahrbuch der DDR führt nur 3 große Beschäftigtengruppen auf: Arbeiter und Angestellte, Mitglieder von Produktionsgenossenschaften und »übrige Berufstätige«. In letztere Kategorie fallen Einzelbauern, private Handwerker, private Groß- und Einzelhändler sowie Freiberufler. Für das Jahr 1955 registrierte man: 78,4 % Arbeiter und Angestellte, 2,4 % Mitglieder von Produktionsgenossenschaften und 19,3 % »übrige Berufstätige«. Vgl. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hg.): Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1980. OstBerlin 1980, S. 84. 49 In den MfS-Unterlagen zu 48 der 50 Entführer-IM finden sich Angaben zu ihrer Schullaufbahn. Bei einem IM ist als Schulform die »höhere Schule« und als Abschluss die Mittlere Reife angegeben, da erstere Angabe nicht genau zuzuordnen ist, bleibt die Angabe unberücksichtigt.
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IM besuchten die Oberrealschule und ein IM das Gymnasium. Im Hinblick auf die erreichten Schulabschlüsse ergibt sich demnach folgendes Bild: 34 IM hatten vermutlich einen Volksschulabschluss, 12 IM erreichten wahrscheinlich die Mittlere Reife und ein IM das Abitur.50 Nach ihrer regulären Schulzeit waren drei IM auf einer Berufsschule, ein IM auf einer Handelsschule und ein IM studierte. Insgesamt 37 IM schlossen eine Lehre oder Ausbildung ab, zehn IM brachen eine solche hingegen ab – was bei drei IM auf Kriegseinwirkungen zurückzuführen ist. Unter den erlernten Berufen befinden sich vor allem handwerkliche Berufe wie Fleischer, Bäcker, Tischler, Schlosser, Karosseriebauer, Schmied und Zimmermann sowie technische Berufe wie KfzMechaniker, Elektriker, Rundfunkmechaniker und technischer Zeichner. Zudem absolvierten mehrere IM kaufmännische Ausbildungen und ein IM eine Banklehre. Im Kontext ihrer IM-Tätigkeit ist jedoch vor allem die berufliche Situation der Entführer-IM zur Zeit ihrer Anwerbung interessant. Nur 20 der 50 in der Auswahl erfassten Entführer-IM befanden sich in festen, geregelten Arbeitsverhältnissen, als das MfS sie anwarb: Vier waren selbstständig (u. a. KfzMeister, Händler), sechs waren als Arbeiter und zehn als Angestellte tätig. Zwei dieser IM im Angestelltenverhältnis gehörten der Volkspolizei an, einer war bei der Grenzpolizei und einer im Strafvollzug eingesetzt. Dort warb das MfS aber auch andere Personen an: Vier IM befanden sich zur Zeit ihrer Anwerbung in Haft, vier weitere IM waren gerade aus der Haft entlassen und einem IM drohte eine Inhaftierung. 18 Entführer-IM waren bei ihrer Verpflichtung erwerbslos, drei IM verdienten sich mit Gelegenheitsarbeiten ihren Lebensunterhalt und drei IM lebten vom Warenschmuggel, der in der geteilten Stadt Berlin vor allem bis Mitte der 1950er Jahre florierte.51 Gerade bei den Entführer-IM des ersten Typs zeichnet sich hier ein signifikantes Bild: Von den 26 IM dieses Typs waren bei ihrer Anwerbung drei IM inhaftiert und einem IM drohte eine Inhaftierung, zwölf IM waren erwerbslos (darunter vier IM, die gerade aus der Haft entlassen worden waren), drei IM betrieben illegalen Handel und zwei verrichteten Gelegenheitsarbeiten. Demnach befanden sich 22 der Entführer-IM des ersten Typs, also fast 85 Prozent, in Lebensumständen, die sie mutmaßlich für die Angebote des MfS besonders empfänglich machten. Denn angesichts ihrer Erwerbslosigkeit und der damit einhergehen50 Die Abschlüsse wurden nach Dauer der Schulzeit berechnet, da entsprechende Angaben in den MfS-Unterlagen zumeist fehlen. Explizit genannt wird die Mittlere Reife als Schulabschluss in den MfS-Akten von 7 Entführer-IM. 51 Zum Schwarzmarkt und Warenschmuggel in Berlin Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre vgl. Malte Zierenberg: Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950. Göttingen 2008, S. 14 f., 30–32, 289–316. Zum »Einkaufstourismus«, zur Warenkonkurrenz und zum Warenschmuggel im Berlin der 1950er Jahre vgl. Lemke: Vor der Mauer, S. 346–353, 361–364, 370– 393, 626 f.
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den finanziellen Schwierigkeiten erschien die inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS als lukrative Einkommensquelle.52 Soziale Herkunft und Bildungsstand der IM waren für das MfS augenscheinlich weniger von Interesse als das Milieu, in dem die IM zur Zeit ihrer Anwerbung verkehrten. VI.4 Handlungsmilieus Im Gegensatz zu den größtenteils spärlichen Angaben über die Herkunftmilieus der Entführer-IM liefern die MfS-Unterlagen weitaus mehr Informationen über die Milieus, in denen sich die IM zur Zeit ihrer Anwerbung bewegten. In Anlehnung an Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul soll hier der klassische biografische Ansatz (mit den Faktoren Jahrgang und Generation, soziale Herkunft und Bildung) durch eine »handlungstheoretische Perspektive«53 erweitert und ein Blick auf die Handlungsfelder und dort gemachten Erfahrungen der Entführer-IM vor ihrer Anwerbung für das MfS geworfen werden. Das Handlungsmilieu eines Großteils der untersuchten Entführer-IM muss als kriminell beschrieben werden. Knapp über die Hälfte der 50 untersuchten IM (26 IM) hatten zur Zeit ihrer Anwerbung bereits eine oder mehrere Haftstrafen verbüßt. Besonders unter den Entführer-IM des ersten Typs befinden sich viele Vorbestrafte: 20 der 26 IM (74,1 %) hatten vor ihrer Anwerbung bereits einmal (vier IM), der Großteil sogar mehrere Male (16 IM) in Haft gesessen. Größtenteils handelte es sich um Delikte wie Warenschmuggel, Betrug und Raub.54 Das kriminelle Milieu der geteilten Stadt Berlin, das nicht zuletzt von der Teilung des Polizeiapparates 1948 profitiert hatte,55 bot für den Staatssicherheitsapparat ein großes Reservoir von Handlangern und »operativ interessanten« Kontakten, beispielsweise zu dem »Chef einer großen Einbrecher-Organisation der Westberliner Unterwelt«56. Norbert Drews, geboren 1906, hatte nach zwei abgebrochenen Lehren zum Seemann und Kfz-Schlosser den Beruf des Kaufmannes erlernt. Im Jahre 1934 wurde er allerdings wegen krimineller Delikte festgenommen und blieb bis 1943 inhaftiert, u. a. in den 52 Die starken finanziellen Interessen als vorrangiges Handlungsmotiv der Entführer-IM dieser Kategorie werden im Kapitel VII.3 näher erläutert. 53 Mallmann/Paul: Sozialisation, S. 9 f. 54 Unter den Vorbestraften befinden sich 11 DDR-IM, bei denen man einen politischen Hintergrund ihrer Verurteilungen vermuten könnte. Dieser Verdacht erscheint jedoch nur in einem Fall naheliegend, wo die Anklage »Unterschlagung« lautete. 55 Da die seit 1948 zweigeteilte Polizeibehörde in Berlin eine Zusammenarbeit ablehnte, brauchten Kriminelle nur den Sektor zu wechseln, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Vgl. Steinborn/ Krüger: Polizei, S. 80–83. 56 Vorschlag, HA XX/5, 27.1.1965. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 275–278, hier 275.
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Konzentrationslagern Esterwegen und Sachsenhausen. Nach 1945 verdiente er sich mit Gelegenheitsarbeiten, aber auch mit Warenschmuggel und illegalem Handel seinen Lebensunterhalt. Seine Verbindungen zu anderen Kriminellen waren für das MfS von besonderem Interesse, aber auch die Perspektive, ihn bei sogenannten »aktiven Maßnahmen« einsetzen zu können. Zumal Norbert Drews mit Personen in Kontakt stand, die bereits auf diesem Gebiet für das MfS arbeiteten – wie Max Pohl, der im August 1950 den Kellner Richard Dewitz und im November 1950 den Journalisten Alfred Weiland im Auftrag des MfS nach Ost-Berlin entführte. Während eines Streits erstach Norbert Drews im Februar 1951 Max Pohl. Da er glaubhaft machen konnte, in Notwehr gehandelt zu haben, entging er einer strafrechtlichen Verfolgung.57 Vermutlich war Norbert Drews zumindest bei der Entführung des Richard Dewitz beteiligt, er hatte also schon selbst Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht. So bekundete er gegenüber dem MfS, als er im Mai 1952 seinen ersten Entführungsauftrag erhielt, dass ihm diese »Arbeit« nicht neu sei und er bereits 1949 für den sowjetischen Geheimdienst »eine solche Sache abgewickelt« habe. Für ihn sei es »bei genauer Adressenangabe und wenn derjenige keinen persönlichen Schutz hat, nicht schwer […], diese Person mit Gewalt in das Fahrzeug einzuladen und nach hier zu bringen«.58 Im Dezember 1951 hatte sich Norbert Drews zur Zusammenarbeit mit dem MfS als GM mit dem Decknamen »Rosenberg« verpflichtet. Im Laufe seiner IM-Tätigkeit wurde »Rosenberg« mehrmals auf bestimmte Personen angesetzt, um deren Entführungen vorzubereiten (zum Beispiel Ernst Tillich und Rainer Hildebrandt von der KgU, Hans Schröder vom Ostbüro der DP), zur Durchführung kam es letztendlich jedoch nicht.59 Als die MfS-Abteilung III den GM »Rosenberg« im Mai 1953 an die Abteilung V übergab, verwies sie im Übergabevermerk explizit auf seine zahlreichen Kontakte ins kriminelle Milieu und »guten organisatorischen Fähigkeiten«.60 Das MfS wusste diese Eigenschaften zu nutzen, wie ein Auskunftsbericht der Hauptabteilung XX/5 im August 1964 bestätigt: »Durch seine vielseitigen Verbindungen zu uns interessierenden Personen, wurde er zur Aufklärung dieser und für bestimmte ›Zieh‹-Aktionen eingesetzt, wo er beim letzteren bestimmte Erfolge hatte. Hierbei bediente er sich mehrfach anderer Personen.
57 Vgl. Polizeibericht, Abt. I 4 KJ 2, 31.7.1959. BArch B 258/Einzelfallakte Alfred Weiland, o. Pag.; Menschenraub nach vier Jahren aufgeklärt. In: Tagesspiegel, 12.6.1954; Menschenraub vor vier Jahren durch zurückgekehrten Häftling aufgeklärt. In: Neue Zeitung, 12.6.1954; Unterweltler arbeiten für den SSD. In: Telegraf, 11.6.1954. Vgl. Kubina: Utopie, S. 392. 58 Treffbericht, HA III, 21.5.1952. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 56. 59 Vgl. Bericht, Abt. III, 8.5.1953. Ebenda, S. 75; Bericht, Abt. V, 12.6.1953. Ebenda, S. 80– 85; Auskunftsbericht, HA V/3, 27.9.1961. Ebenda, S. 201–204; Auskunftsbericht, HA XX/5, 19.8.1964. Ebenda, S. 260–262; Vorschlag, HA XX/5, 27.1.1965. Ebenda, S. 275–278. 60 Bericht, Abt. III, 8.5.1953. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 75.
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In diesem Zusammenhang führte er uns mehrere brauchbare Personen, die später IM wurden, zu.«61
Eine dieser Personen war Hans Zobel. Der 1910 geborene Tischler aus WestBerlin wurde im Januar 1953 vom MfS als GM »Kleist« verpflichtet, nachdem er 1952 mit dem GM »Rosenberg« an den Vorbereitungen zu den geplanten Entführungen der KgU-Leiter Rainer Hildebrandt und Ernst Tillich mitgewirkt hatte.62 Das war jedoch nicht ihre erste Zusammenarbeit. Das MfS hielt in einer Charakteristik über Hans Zobel fest: »Kleist ist ein kriminelles Element, der mit dem GM ›Rosenberg‹ […] Einbrüche tätigte.«63 Während seiner IM-Tätigkeit übernahm der GM »Kleist« zahlreiche Beobachtungs- und Ermittlungsaufträge, oft im Zusammenhang mit geplanten Entführungen. Im März 1955 war er dann führend an der Entführung eines geflohenen MfSMitarbeiters beteiligt.64 Der GM »Rosenberg« brachte das MfS auch mit einem Mann namens Konstantin Halem in Verbindung, der schließlich als GM »Legal« angeworben wurde.65 Beide wussten von der IM-Tätigkeit des jeweils anderen – was jedoch nicht Vertrauen, sondern Misstrauen weckte. »Rosenberg« befürchtete, von »Legal« verraten zu werden, und brachte gegenüber dem MfS zum Ausdruck, »daß er wohl die Fähigkeiten des ›Legal‹ anerkennt, ihn jedoch als gefährlichen Ganoven«66 betrachte und daher nichts mehr mit ihm zu tun haben möchte. Tatsächlich war Konstantin Halem eine schillernde Figur in der Berliner Unterwelt und ein wertvoller IM des MfS. Der 1910 in Jugoslawien geborene Konstantin Halem war Berufssoldat und soll zwischen 1942 und 1944 als Waffeneinkäufer gearbeitet haben, bis er von deutschen Militärbehörden verhaftet wurde. Im April 1945 soll er von den Alliierten aus dem KZ Mauthausen befreit, dann aber vom amerikanischen Geheimdienst CIC bis 1946 inhaftiert worden sein. Nach Zwischenstationen in Frankfurt/M. und München kam er 1950 nach Berlin, wo er seinen Lebensunterhalt mit diversen Betrüge61 Auskunftsbericht, HA XX/5, 19.8.1964. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 260– 262, hier 261. 62 Vgl. Bericht, HA III, 28.1.1953. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 31; Charakteristik, HA III/2, 6.7.1954. Ebenda, S. 61 f.; Bericht, HA V, 12.6.1953. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 80–85, hier 82 f.; 2 Treffberichte, HA III, 10.12./16.12.1952. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 7– 10; Aufstellung von Personen, GM »Walter«, 6.4.1955. Ebenda, S. 155; Mitteilung, HA V/3, 14.9.1956. Ebenda, S. 156–159. 63 Charakteristik, HA III/2, 6.7.1954. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 61 f., hier 62. 64 Vgl. Charakteristik, HA III/5, 22.3.1955. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 112 f. Der geflohene MfS-Mitarbeiter erhielt eine Zuchthausstrafe von 12 Jahren und wurde im Juni 1961 aus der Haft in die DDR entlassen. Vgl. Urteil, Bezirksgericht Gera, 2.9.1955. BStU, MfS, GH 123/55, Bd. 3, S. 126–133; Beschluss, Bezirksgericht Gera, 20.6.1961. Ebenda, S. 152. 65 Bericht, Konstantin Halem, 11.3.1954. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 1, S. 85–96, hier 85; Bericht, GM »Konsul«, 15.4.1957. Ebenda, P-Akte Bd. 2, S. 196–211, hier 196; Aufstellung von Personen, GM »Walter«, 6.4.1955. BStU, MfS, AIM 6957/63, A-Akte Bd. 2, S. 155. 66 Charakteristik, HA III, 5.9.1952. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 72.
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reien bestritt. So war er auch in einem Polizeiskandal verwickelt, der 1951 vor ein Westberliner Gericht kam: Gemeinsam mit zwei Kriminalpolizisten hatte Konstantin Halem inoffizielle Beschlagnahmungen bei Schmugglern durchgeführt, den Gewinn hatten die drei unter sich aufgeteilt. Als sie 14 Kilogramm Feingold aus einer Goldscheideanstalt in West-Berlin ›beschlagnahmten‹, flog der Betrug auf. In dem anschließenden Prozess gegen die beiden Kriminalbeamten und Konstantin Halem wurde Letzterer zu 13 Monaten Haft verurteilt.67 Nach seiner Haftentlassung lebte er wiederum von Einbrüchen und Betrügereien und erlangte den Ruf eines »Königs der Unterwelt«. Einer seiner Komplizen war Norbert Drews alias GM »Rosenberg«, der im März 1952 den Kontakt zwischen Konstantin Halem und dem MfS herstellte. Als »berüchtigter Anführer der Berliner Unterwelt« besaß Halem Verbindungen, für die sich das MfS sehr interessierte.68 Nach seiner Anwerbung im September 1952 als GM »Legal« war er an einer Entführung beteiligt. Seine kriminelle Tätigkeit für das MfS blieb im Westen jedoch nicht unbemerkt. Als die Westberliner Presse im November 1952 berichtete, dass Halem für den »SSD« arbeite und ein Kopfgeld von 100 DM/West69 für bestimmte Westberliner kassiere, zog er nach Ost-Berlin. »Ist Berlins König der Unterwelt tot?« titelte die in WestBerlin erscheinende Berliner Morgenpost im April 1954. In dem Artikel heißt es: »Gardeoffizier der königlich-jugoslawischen Armee, Raubmörder, Paßfälscher, Agent des sowjetischen Geheimdienstes, Menschenräuber und ungekrönter König der Berliner Unterwelt: das alles in einer Person ist der hünenhafte Jugoslawe […] Im Berliner Polizeiskandal hatte er die Fäden gezogen, eine große Bande von Autodieben arbeitete auf seinen Befehl, er belieferte Berlins Unterwelt mit raffiniert gefälschten Westberliner Personalausweisen und den Geheimdienst des Ostens mit vertraulichen Informationen. Jetzt soll sein großes Spiel zu Ende sein. Nach vertraulichen Berichten, die dem Polizeipräsidium zugingen, brach er bei einer wilden Schießerei in der Ruine eines Kaufhauses am Leipziger Platz im Kugelhagel einer Maschinenpistole zusammen.«70
Doch Konstantin Halem lebte zu dieser Zeit in Ost-Berlin und wurde gerade aus der Haft entlassen, in die er einige Monate zuvor wegen Verdachts der
67 Vgl. Vorschlag, HA III Referat IX, 18.9.1952. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 1, S. 12 f; Bericht, MfS, 17.4.1963. Ebenda, P-Akte Bd. 3a, S. 243–261, hier 243 f.; Ist Berlins König der Unterwelt tot? In: Berliner Morgenpost, 14.4.1954. 68 Bericht, MfS, 28.5.1955. BStU, MfS, AIM 271/63, P-Akte Bd. 3a, S. 43–46, hier 43; Treffbericht, HA III, 31.3.1952. BStU, MfS, AIM 6957/63, A-Akte Bd. 1, S. 37 f.; Bericht, HA III, 4.4.1952. Ebenda, S. 39 f.; Bericht, GM »Walter«, 28.7.1958. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 255 f. 69 Vgl. 100 DM Kopfgeld für Entführung. In: Neue Zeitung, 5.11.1952; Diebe, Fälscher, Spitzel. In: Telegraf, 5.11.1952. 70 Ist Berlins König der Unterwelt tot? In: Berliner Morgenpost, 14.4.1954.
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Spionage genommen worden war.71 Allerdings verhaftete ihn die Ostberliner Kriminalpolizei bereits im Juni 1954 erneut, dieses Mal wegen Betrugs und Hehlerei.72 Unterdessen bekundete MfS-intern die Hauptabteilung III Interesse an dem GM, da sie verschiedene Vorgänge zu Beschuldigten in West-Berlin zum Abschluss bringen wolle, aber »nicht die geeigneten Leute für gewaltsame Festnahmen zur Verfügung« habe.73 Nur wenige Tage nach der Übergabe des GM an die Hauptabteilung III im März 1955 leitete diese Maßnahmen ein, um Halem aus der Haft zu entlassen und ihn für eine weitere Zusammenarbeit zu verpflichten: »Er soll in der Hauptsache für Festnahmen auf dem Gebiet der Westsektoren von Berlin eingesetzt werden, weil er dafür die erforderlichen Möglichkeiten durch seinen Verkehr in Ganoven- und Berufsverbrecherkreisen hat.«74 Schon eine Woche nach diesem Vorschlag wurde Konstantin Halem »durch Handschlag erneut verpflichtet« und wählte den Decknamen »Konsul«.75 In den folgenden Monaten beteiligte er sich an drei Entführungsaktionen des MfS, wobei er für die Einsätze ebenfalls vorbestrafte Bekannte engagierte, da er in West-Berlin wegen Betrugs und Menschenraubs polizeilich gesucht wurde.76 Wer waren seine Komplizen, die er für die Durchführung der Entführungsaktionen engagierte? Im Jahre 1952 lernte Konstantin Halem den 54-jährigen Kellner Karl Teuscher kennen. Karl Teuscher hatte im Ersten Weltkrieg zwei Jahre als Soldat gedient, danach als Former und kurzzeitig als Selbstständiger in der Autobranche gearbeitet, bevor er ins Gaststättengewerbe wechselte. 1941 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und geriet bereits ein Jahr später in sowjetische Gefangenschaft, aus der er 1945 entlassen wurde. Im Berlin der Nachkriegszeit rutschte er anscheinend in die Kriminalität: 1947 erhielt er wegen schweren Diebstahls eine Gefängnisstrafe von eineinhalb Jahren, von der er ein halbes Jahr verbüßen musste. Weitere Strafeinträge bekam er 1948 wegen Diebstahls und Hehlerei. Nach seiner Haftentlassung wurde er wieder im Gaststättenbereich tätig und unterhielt schließlich eine eigene Gaststätte, in der Personen aus dem kriminellen Milieu Berlins verkehrten, darunter auch Konstantin Halem. In der Folgezeit führte er für Halem verschiedene Aufträge durch. Bei 71 Vgl. Bericht, HA III Referat IX, 28.10.1952. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 1, S. 74; Vorschlag, HA III/3, 1.4.1955. Ebenda, P-Akte Bd. 2, S. 18 f.; Bericht, MfS, 28.5.1955. Ebenda, PAkte Bd. 3a, S. 43–46. 72 Vgl. Bericht, HA II/1, 17.6.1954. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 1, S. 150. 73 Vorschlag, HA III/3, 1.4.1955. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 2, S. 18 f., hier 19. 74 Vorschlag, HA III/3, 1.4.1955. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 2, S. 18 f., hier 19; vgl. Mitteilung, HA III/3 an HA II, 27.10.1954. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 162; Aktenvermerk, HA III/3, 4.3.1955. Ebenda, S. 188; Mitteilung, Generalstaatsanwaltschaft von Groß-Berlin an das SfS, 18.3.1955. Ebenda, S. 192; Aktenvermerk, HA III/3, 18.3.1955. Ebenda, S. 193. 75 Vgl. Bericht, HA III/4, 9.4.1955. Ebenda, P-Akte Bd. 2, S. 20. 76 Beurteilung, HA III/4, 9.7.1955. Ebenda, P-Akte Bd. 2, S. 44; Bericht, HA III/4, 28.3.1956. Ebenda, S. 107 f.
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einer dieser Auftragsarbeiten wurde Karl Teuscher jedoch von der Westberliner Polizei verhaftet: Halem hatte ihn beauftragt, den ehemaligen Mitarbeiter der Erfassungsstelle für Ostflüchtlinge in West-Berlin und Inhaber eines Detektivbüros Günter Sommer mit Gewalt aus West-Berlin zu entführen. Doch Halem hatte bei der Auftragserteilung eine entscheidende Tatsache verschwiegen: Zwei Entführungsversuche waren bereits fehlgeschlagen. Infolgedessen hatte Günter Sommer seine Nachbarschaft alarmiert, darunter war auch ein Polizei-Hauptwachtmeister, und um erhöhte Aufmerksamkeit gebeten. Bei dem erneuten Entführungsversuch lief Karl Teuscher der Westberliner Polizei daher geradewegs in die Arme. Der Tatbestand »versuchter Menschenraub« führte zu einer Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren. Nach seiner Haftentlassung im Juli 1954 meldete sich Karl Teuscher dann direkt bei der DDRStaatssicherheit.77 Im November 1954 erfolgte seine Anwerbung als GI »Friedrich« für die Hauptabteilung II/178, denn auch er hatte sich »gut über die Kreise der Berliner Unterwelt informiert«79 gezeigt, besaß dort »gute Verbindungen« und hatte im September 1954 eine weitere Entführungsaktion »mit gutem Geschick«80 durchgeführt: »Bei der Herüberschleusung des S. aus den West- in den Demokratischen Sektor, konnte man erkennen, dass der T. für derartige Sachen gut geeignet ist.«81 Die Einsatzperspektive für den GI »Friedrich« wurde ein halbes Jahr später in einer Beurteilung klar definiert: »Der GI ›Friedrich‹ kann zum Schleusen von Agenten des amerikanischen Geheimdienstes eingesetzt werden. Hierbei muß noch bemerkt werden, daß ›Friedrich‹ auch für Gewaltaktionen eingesetzt werden kann. Desweiteren hat er einen großen Bekanntenkreis. Bei diesen Bekannten handelt es sich meist um kriminelle Elemente wie z. B. Einbrecher, Taschendiebe, Hochstapler, Schließer usw. Wird bei einer Aktion eine derartige Person gebraucht, so kann man bei der Auswahl derselben ohne weiteres ›Friedrich‹ zu Rate ziehen. Es wäre sogar angebracht, daß er selber derartige Gruppen zusammenstellt. Die Eignung und nötige Intelligenz hierzu ist bei ›Friedrich‹ vorhanden.«82
Kurz darauf folgte ein entsprechender Einsatz: Zusammen mit Konstantin Halem beteiligte sich Karl Teuscher an der Entführung eines Mannes aus Berlin-Schöneberg im Mai 1955. Ein weiterer Komplize war dabei der Berufs77 Vgl. Vorschlag, HA II/1, 16.10.1954. BStU, MfS, AIM 2275/55, P-Akte, S. 9 f.; Bericht, HA II/1, 11.8.1954. Ebenda, S. 21 f.; Bericht, Karl Teuscher, 9.10.1954. Ebenda, S. 25–27; Lebenslauf, Karl Teuscher, o. D. Ebenda, S. 28 f.; Bericht, HA II/1, 23.5.1955. BStU, MfS, AIM 271/58, PAkte Bd. 3a, S. 39–42, hier 40. 78 Vgl. Verpflichtungserklärung, Karl Teuscher, 2.11.1954. BStU, MfS, AIM 2275/55, P-Akte, S. 13 f.; Bericht, HA II/1, 3.11.1954. Ebenda, S. 15 f. 79 Bericht, HA II/1, 11.8.1954. Ebenda, S. 21 f., hier 22. 80 Auskunftsbericht, MfS, o. D. Ebenda, S. 31 f., hier 32. 81 Antrag, HA II/1, 22.10.1954. Ebenda, S. 23 f., hier 23. 82 Beurteilung, MfS, 22.4.1955. Ebenda, S. 32 f., hier 33.
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verbrecher Otto Lehmann, der auf Empfehlung von Karl Teuscher kurz zuvor durch das MfS angeworben worden war.83 So heißt es im Vorschlag zur Anwerbung des Otto Lehmann: »Durch den geheimen Informator ›Friedrich‹ wurde uns die Person L. genannt, mit dem Vermerk, daß diese Person gut geeignet wäre, Schleusungen von Residenten vorzunehmen.«84 Der 1915 geborene Otto Lehmann war zur Zeit seiner Anwerbung für das MfS erwerbslos und verkehrte im kriminellen Milieu Berlins. Nach achtjähriger Volksschule hatte er keine Lehrstelle gefunden und war als Arbeiter und Kraftfahrer tätig bis er 1937 zur Wehrmacht einberufen wurde. Nach seinen Einsätzen als Soldat in Polen, Frankreich, der Sowjetunion und im Balkan desertierte er 1944 und lebte bis zum Kriegsende illegal in Berlin. In der Nachkriegszeit beging er immer wieder kriminelle Delikte zur Finanzierung seines Lebensunterhalts und war dadurch mehrmals vorbestraft. Als er am 5. Mai 1955 die Verpflichtungserklärung für das MfS schrieb, hatte er gerade seine letzte Strafe wegen Diebstahls verbüßt.85 Die Entführung des Mannes aus dem Westberliner Stadtteil Schöneberg geschah am nächsten Tag. Für diese Aktion hatte Konstantin Halem noch einen weiteren Kriminellen engagiert: »Durch einen unserer GM wurde B. im April dieses Jahres [1955] zur Mitarbeit innerhalb seiner Gruppe herangezogen, unter der Bedingung, sich ab sofort nicht mehr mit kriminellen Dingen zu befassen.«86 Diese Prämisse hielt das MfS angesichts des »Berufsverbrechers, welcher sich während seines Aufenthaltes in Westberlin von Einbrüchen und Diebstählen ernährte«87, für notwendig. Walter Böhm, geboren 1927, hatte bereits eine Haftstrafe wegen Diebstahls verbüßt. Wie sein Komplize Otto Lehmann hatte Walter Böhm keine abgeschlossene Lehre. Eine begonnene Klempnerlehre musste er abbrechen, als er 1943 zur Wehrmacht eingezogen wurde. 1945 kam er in sowjetische Gefangenschaft, aus der er 1948 zurückkehrte. In den folgenden Jahren verdiente er als Ofensetzer, Notstandsarbeiter und Hutmacher seinen Lebensunterhalt. Zwischenzeitlich war er aber auch immer wieder erwerbslos und verübte Diebstähle. Als er in West-Berlin eine Strafverfolgung wegen Diebstahls befürchtete, floh er nach Ost-Berlin und hielt sich dort bei seinem Bekannten Karl Teuscher auf, der wiederum den Kontakt zu Konstantin Halem herstellte.88 Am Beispiel dieser Entführergruppe um Konstantin Halem wird deutlich, dass das MfS bei der Rekrutierung ihrer Entführer-IM auf die Empfehlungen bereits geworbener IM zurückgriff. Zu den von Halem Empfohlenen gehörte 83 Vgl. Bericht, HA II/1, 23.5.1955. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 3a, S. 39–42, hier 41. 84 Vorschlag, HA II/1, 8.7.1955. BStU, MfS, AIM 3370/61, P-Akte, S. 9–12, hier 9. 85 Verpflichtungserklärung, Otto Lehmann, 5.5.1955. Ebenda, S. 17; Lebenslauf, MfS, 22.4.1955. Ebenda, S. 16; Vorschlag, HA II/1, 8.7.1955. Ebenda, S. 9–12, hier 10 f. 86 Auskunftsbericht, HA III/4, 10.8.1955. BStU, MfS, AP 243/57, S. 17. 87 Ebenda. 88 Urteil, Landgericht Berlin, 26.6.1956. BStU, MfS, AP 21893/80, Bd. 2, S. 55–86, hier 59 f., 68 f.
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auch Oskar Nehring, der wiederum weitere Personen zur Anwerbung vermittelte, die eine Einsatzgruppe mit dem Decknamen »Donner« bildeten.89 Der 1919 geborene Fleischer Oskar Nehring wurde im Juli 1954 durch die Hauptabteilung II/1 angeworben. Zu dieser Zeit war er als Güterkontrolleur im VEB Großberliner Vieh- und Schlachthöfe tätig. Während des Zweiten Weltkriegs hatte Oskar Nehring in den Reihen der Wehrmacht gedient bis er 1945 in amerikanische Gefangenschaft geriet, aus der er 1946 entlassen wurde. Zunächst lebte er in der sowjetischen Besatzungszone von Berlin, wo er im Dezember 1946 wegen Schwarzschlachtung zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Nach seiner Flucht aus dem Zuchthaus Luckau im August 1948 lebte Oskar Nehring illegal im Westsektor Berlins. Ausgerüstet mit gefälschten Ausweisen führte er dort als angeblicher Kriminalkommissar Beschlagnahmungen von Schwarzmarktwaren durch, bis ihn die Westberliner Kriminalpolizei Ende 1948 verhaftete. Er verbüßte daraufhin zwei Jahre Haft in der Strafanstalt Berlin-Tegel und siedelte danach wieder nach Ost-Berlin über. Dort warb ihn das MfS als GM »Fred Thornau« an und betraute ihn mit der Vorbereitung und Durchführung sogenannter »aktiver Maßnahmen«, ab September 1954 sogar als hauptamtlichen IM. Nachdem er aktiv an einer Entführung mitgewirkt hatte, erhielt er den Auftrag, eine Einsatzgruppe für derartige Aufgaben aufzubauen.90 Im September 1989 erinnerte sich Oskar Nehring: »Im Auftrag gelang es mir geeignete Personen anzuwerben und zu schulen. Eine Dreier-Gruppe, welche ich anwarb und zusammenstellte, konnte mit Erfolg wiederholt in der BRD eingesetzt werden.«91 Zu dieser Gruppe gehörten der Kfz-Meister Hans Wax, der Karosseriebauer Bruno Jäger und der Gemüsehändler Paul Lindner – »Donner«, »Blitz« und »Teddy«. »Hanne ist ein Mann der Tat, der nicht viele Worte macht.«, empfahl »Fred Thornau« den Westberliner Hans Wax gegenüber dem MfS: »Seine Taten beweisen, dass er die ihm gestellten Aufgaben nicht nur mit Kraft, sondern mit viel und guter Überlegung löst. […] Indem er sich nun für uns entschlossen hat, wird er zu uns halten und nie fahnenflüchtig werden, auch wenn es den Einsatz seines Lebens kosten würde. Hanne wird jede Aufgabe, die ihm aufgetragen wird, unter allen Umständen meistern. Er ist ein guter Pistolen-Schütze.«92
89 Bericht, MfS, 23.3.1955. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 1, S. 210; Bericht, HA III/3, 24.3.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 3, S. 66; Bericht, MfS, 28.5.1955. Ebenda, P-Akte Bd. 3a, S. 43–46, hier 45; Bericht, Abt. XXI, 4.2.1965. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 2041/78, S. 47–55, hier 47. 90 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/1, 2.11.1984. BStU, MfS, HA II Nr. 1438, S. 309–315, hier 309–311. Vgl. Christiane Kohl: Donner, Blitz und Teddy. In: Der Spiegel, Nr. 10/1996, S. 52–68. 91 Schreiben, »Fred Thornau« an den Leiter der HA II, 20.9.1989. BStU, HA II Nr. 1438, S. 301–304, hier 302. Vgl. Bericht, HA II/1, 5.6.1989. Ebenda, S. 352–355, hier 352. 92 Charakteristik, GM »Fred Thornau«, 25.11.1955. BStU, MfS, AIM 11599/85 Bd. I/4, S. 21.
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Der 1927 geborene Hans Wax war gelernter Kfz-Mechaniker und arbeitete als solcher nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft 1946 auf verschiedenen Stützpunkten der US-Army. Zugleich gehörte er einer Bande an, die gezielt Eigentum der amerikanischen Besatzungsmacht stahl. Im Jahre 1947 ging er nach Berlin, wo er weiterhin Einbrüche verübte und sich in großem Maße am Schwarzmarkthandel und Warenschmuggel beteiligte. Gewalttaten scheute er dabei nicht und tauchte immer tiefer in das kriminelle Milieu der geteilten Stadt ein. Bei einem größeren Einbruch 1948 verriet ihn jedoch ein Komplize. Hans Wax wurde verhaftet, zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt und nach drei Jahren aufgrund guter Führung wieder entlassen.93 Nach seiner Haftentlassung leitete er einen Kfz-Betrieb in Berlin-Charlottenburg bis er 1954 einen eigenen Autoreparaturbetrieb eröffnete – finanziert mit illegalem Handel, Autodiebstählen und Einbrüchen. Permanent bewegte sich Hans Wax im kriminellen Milieu Berlins und kam auf diese Weise auch mit dem MfS in Kontakt. Aus seinem kriminellen Umfeld erhielt er im Frühsommer 1955 den Auftrag, einen der größten Schmuggler in Berlin zu dieser Zeit, Michael Wischnewski,94 aus dem Ost- in den Westteil Berlins zu entführen. Der Auftraggeber war Sascha Roder, der ebenfalls in Schmugglerkreisen aktiv war und Wischnewski erpressen wollte. Hans Wax nahm den Auftrag an, wandte sich damit aber zugleich an den ihm bekannten Oskar Nehring alias GM »Fred Thornau«, der wiederum Wischnewski informierte. Im Einvernehmen mit Wischnewski überzeugte der GM »Fred Thornau« schließlich Hans Wax davon, die Entführung in umgekehrter Richtung durchzuführen: Statt Wischnewski nach West-Berlin zu bringen, entführte Hans Wax im August 1955 den Auftraggeber Sascha Roder nach Ost-Berlin und kassierte dafür eine Prämie von 2 000 DM/West.95 Ein entsprechender Entführungsauftrag seitens 93 Vgl. Auskunftsbericht, MfS, 25.11.1955. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/4, S. 19 f.; Auskunftsbericht, MfS, 11.6.1958. Ebenda, Bd. I/2, S. 20–23, hier 21; Bericht, Abt. XXI, 8.1.1970. Ebenda, Bd. II/8, S. 138 f.; Auskunftsbericht, AG beim 1. Stellvertreter des Ministers, 11.6.1980. Ebenda, Bd. I/3, S. 153–187, hier 161; Schlussbericht, HA III/T/6, 9.7.1985. Ebenda, Bd. I/1, S. 480–485, hier 480. 94 In der SED waren Wischnewskis Schmuggelgeschäfte mit Kaffee nicht nur bekannt, sondern wurden gezielt unterstützt, um Devisen zu erhalten. Wischnewski bekam große Mengen an Kaffee gegen DM/West, den er nur in West-Berlin verkaufen durfte. Vgl. Bericht, HA III/4, 15.7.1955. BStU, MfS, AIM 715/57, P-Akte, S. 60–67; Bästlein: Fall Mielke, S. 276. Zum Warenschmuggel im geteilten Berlin vgl. Lemke: Vor der Mauer, S. 389–393. 95 Vgl. Auskunftsbericht, MfS, 11.6.1958. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/2, S. 20–23, hier 21; Sachstandsbericht, MfS, 14.10.1957. Ebenda, Bd. II/2, S. 258–265, hier 258 f.; Festnahmebericht, 25.8.1955. BStU, MfS, AU 1751/58, Bd. 1, S. 30 f.; Vernehmungsprotokoll, MfS, 26.8.1955. Ebenda, S. 86–88; Vernehmungsprotokoll, MfS, 26.8.1955. Ebenda, S. 89–96; Vernehmungsprotokoll, MfS, 26.8.1955. Ebenda, S. 97–106; Schlussbericht, MfS, 25.11.1955. Ebenda, S. 152–155; Bericht, MfS, 27.8.1957. BStU, MfS, AU 5219/64, Bd. 1, S. 52–54; Vernehmungsprotokoll, MfS, 16.1.1973. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 3, S. 120–123; Vermerk, Staatsanwaltschaft II, 25.3.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 23/96, Bd. II, Bl. 48–51; Vernehmungsprotokoll, ZERV 213, 28.5.1997. Ebenda, Bl. 61–65; Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 4.9.1955. Staatsanwaltschaft
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des MfS hatte zwar nicht vorgelegen, aber diese Aktion und die Empfehlung des GM »Fred Thornau« zeigten im Staatssicherheitsapparat ihre Wirkung: Nach einer Überprüfung seiner Person warb man Hans Wax unter dem Decknamen »Donner« als GM an, da er sich als »ohne weiteres für eine Zusammenarbeit geeignet« erwiesen und für eine spezielle Einsatzrichtung qualifiziert hatte: »Sein besonderer Wert liegt darin, dass ›Hanne‹ für Sonderaktionen eingesetzt werden kann.«96 Unter »Donners« Leitung sollte eine Operativgruppe für Sondereinsätze im »Operationsgebiet« entstehen – und entstand tatsächlich.97 Wiederum vermittelte dabei der GM »Fred Thornau«: Er stellte für das MfS den Kontakt zum 1929 geborenen Gemüsehändler Paul Lindner in OstBerlin her und informierte über dessen Charakterzüge: »Zuverlässig, schweigsam und mutig. Steht seinen Mann in jeder Situation. […] Versteht auch [, wenn] es darauf ankommt, kräftig zuzuschlagen, ist bereit als Fahrer für mich jede Fahrt zu machen.«98 Allerdings hatte Lindner im Dezember 1954 seinen Führerschein dauerhaft entzogen bekommen, da er wiederholt unter Alkoholeinfluss gefahren war und 1951 einen Unfall mit tödlichem Ausgang verursacht hatte.99 Die Lösung für dieses Problem sah der GM »Fred Thornau« darin, dass man ihm den Führerschein als Prämie wieder aushändigen sollte.100 Der Volkspolizei war Paul Lindner nicht unbekannt: Im Jahr 1953 hatte sie ihn wegen eines illegalen Möbeltransportes festgenommen. Er hatte sichergestellte Möbel von DDR-Flüchtlingen transportiert und zum Teil angekauft. Schließlich entließ man ihn aber wieder aus der Untersuchungshaft, da diese Handlung als nicht strafbar bewertet wurde. Der zuständige VP-Kommissar lieferte jedoch im Juli 1955 die folgende Charakteristik an die Hauptabteilung II/1: »L. ist ein aggressiver Mensch, der seine strafbaren Handlungen bis zuletzt zu leugnen versuchte, der völlig unzugänglich und skrupellos über seine Handlungen hinweggeht und nicht mehr zugibt[,] als ihm bewiesen werden kann.«101 Diese Verhaltensweise störte das MfS nicht: Nachdem er sich in der Gruppe »Donner« bei verschiedenen Aktionen in West-Berlin und der BunBerlin, Az 29 Js 23/96, Bd. I, Bl. 4; Vermerk, Abt. I 4 KJ 2, 13.2.1958. Ebenda, S. 76; Schlussbericht, Abt. I 4 J 1, 10.10.1955. BStU, MfS, AP 21758/80, S. 23–25; Neuer Menschenraub in Berlin. Die Unterwelt nahm Rache. In: Telegraf, 4.9.1955; Belastungszeuge entführt? In: Tagesspiegel, 6.9.1955. 96 Auskunftsbericht, MfS, 25.11.1955. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/4, S. 19 f., hier 20. Vgl. Auskunftsbericht, MfS, 11.6.1958. Ebenda, Bd. I/2, S. 20–23, hier 21; Bericht, Abt. XXI, 8.1.1970. Ebenda, Bd. II/8, S. 138 f.; Schlussbericht, HA III/T/6, 9.7.1985. Ebenda, Bd. I/1, S. 480– 485, hier 481. 97 Vgl. Auskunftsbericht, MfS, 11.6.1958. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/2, S. 20–23, hier 21. 98 Charakteristik, GM »Fred Thornau«, 25.11.1955. BStU, MfS, AIM 13639/85, Bd. I/1, S. 89. 99 Vgl. Schreiben, HVDVP an Paul Lindner, 10.12.1954, BStU, MfS, AIM 13639/85, Bd. I/1, S. 88. 100 Charakteristik, GM »Fred Thornau«, 25.11.1955. BStU, MfS, AIM 13639/85 Bd. I/1, S. 89. 101 Bericht, HA II/1, 25.7.1955. Ebenda, S. 90.
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desrepublik bewährt hatte, warb das MfS ihn im Dezember 1957 als GM »Teddy« an. Im MfS schätzte man vor allem seine Fahrkünste, sodass er bei den Einsätzen zumeist als Fahrer fungierte.102 Der gelernte Karosseriebauer Bruno Jäger, geboren 1931, war der Dritte im Bunde, den der GM »Fred Thornau« an das MfS vermittelte. Nach Beendigung seiner Lehrzeit hatte Bruno Jäger mehrfach die Arbeitsstelle gewechselt und war wiederholt straffällig geworden. In dieser Zeit hatte er Hans Wax kennengelernt, der ihn fortan in seiner Autowerkstatt beschäftigte.103 »Unter Berücksichtigung seiner Persönlichkeitsmerkmale wurde ›Blitz‹ der ehemaligen GM-Gruppe ›Donner‹ zugeordnet […]«104, erinnerte man sich in der Hauptabteilung II/1 im Jahre 1979. Zu diesen Persönlichkeitsmerkmalen gehörte: »Er bevorzugt seit jeher eine asoziale Lebensweise. Seine persönlichen Interessen liegen im Bestreben nach persönlicher Bereicherung durch Diebstähle und andere kriminelle Handlungen. Der IMV neigt stark zu Gewalttätigkeit […]«105 Als »operativ interessantes Merkmal des IM« galt zudem, dass er »ausschließlich in der Westberliner Unterwelt« verkehre und »dort eine große Anzahl asozialer und kriminell veranlagter Personen«106 kenne. Nach seiner Beteiligung an der Entführung von Sascha Roder und seiner Bewährung bei den ersten Aktionen der Gruppe »Donner« wurde er im Januar 1956 von der Hauptabteilung II/7 als GM »Blitz« angeworben. Das MfS beurteilte »seine geistigen Eigenschaften […] nicht besonders hoch« und schlussfolgerte, dass er »einen Menschen [brauche], der ihn lenkt und leitet«107 – diese Aufgabe übernahm »Donner«. Die Einsatzgruppe um den GM »Donner« entführte im Laufe ihrer MfS-Tätigkeit drei Personen aus West-Berlin sowie der Bundesrepublik und bereitete weitere Entführungen vor. Eine ähnliche Einsatzgruppe wie beim GM »Donner« bildete sich um Lothar Borowski, geboren 1921, der sich im Juni 1952 als GM »Barth« verpflichtete. Seine Anwerbung erfolgte direkt aus der Haft, da Borowski gerade eine Zuchthausstrafe von fünf Jahren im Ostberliner Stadtvogtei-Gefängnis verbüßte. Das MfS wurde wiederum durch andere GM, aber auch durch einige Zeitungsartikel auf ihn aufmerksam – auf einen »unerschrockenen Banden102 Vgl. Bericht, Abt. XXI, 18.11.1971. Ebenda, S. 293–295; Übergabevermerk, Abt. XXI, 10.9.1978. Ebenda, S. 353 f. 103 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/7, 25.11.1955. BStU, MfS, AIM 13912/79, Bd. I/1, S. 28 f.; Auskunftsbericht, MfS, 11.6.1958. Ebenda, Bd. I/1, S. 42 f.; Bericht, Abt. XXI, 10.1.1973. Ebenda, S. 149–152, hier 149; Auskunftsbericht, HA II/1, 5.7.1974. Ebenda, S. 239–247, hier 240; Bericht, Abt. XXI, 7.8.1978. Ebenda, S. 328–333, hier 328 f.; Auskunftsbericht, HA II/1, 12.1.1979. Ebenda, S. 363–372, hier 364. 104 Auskunftsbericht, HA II/1, 12.1.1979. BStU, MfS, AIM 13912/79, Bd. I/1, S. 406–408, hier 406. 105 Auskunftsbericht, HA II/1, 5.7.1974. Ebenda, S. 239–247, hier 241. 106 Auskunftsbericht, HA II/1, 5.7.1974. Ebenda, S. 239–247, hier 242. 107 Auskunftsbericht, HA II/7, 25.11.1955. Ebenda, S. 28 f., hier 29.
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führer […], welcher mit seiner Bande lediglich den Westsektor von Berlin mit Einbruchsdiebstählen und Raubüberfällen unsicher gemacht hat.«108 Im Jahr 1946 war Borowski erstmals in West-Berlin wegen Einbruchdiebstahls festgenommen worden, in der Haft schlug er einen Gefängnisbeamten nieder und erhielt eine Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. In den folgenden Jahren wurde er immer wieder straffällig: Bereits im Oktober 1949 erfolgte die nächste Verurteilung wegen Raubüberfalls zu fünf Jahren Zuchthaus. Ein Jahr später gelang ihm die Flucht aus der Strafanstalt in West-Berlin. Doch bereits im Februar 1951 wurde Borowski erneut festgenommen – dieses Mal von der Volkspolizei in Ost-Berlin. Im Dezember 1951 wurde er dort zu vier Jahren Zuchthaus wegen Einbruchs in drei Fällen und Waffenbesitz verurteilt. Seine noch zu verbüßenden Strafen in Ost- und West-Berlin beliefen sich auf ungefähr acht Jahre als er Ende Juni 1952 vom MfS verpflichtet und damit aus der Haft entlassen wurde. Bereits wenige Tage später, am 8. Juli 1952, leitete er als GM »Barth« die Einsatzgruppe, die den Rechtsanwalt Walter Linse brutal aus West-Berlin entführte.109 Das MfS hatte ihn speziell für diesen Einsatz angeworben: Borowski sei »[…] der Typ eines Bandenführers, der rücksichtslos vorgeht, wenn es gilt eine Sache durchzuführen und keine Rücksicht auf seine eigene Person, noch auf andere Personen nimmt. Verrätern gegenüber ist er der Meinung, daß man sie so zum Schweigen bringen muß, sodaß sie nie mehr sprechen können. […] Er prahlt gerne mit seiner Vergangenheit, die eine gewisse Praxis aufwiese […]«110
Zu der Operativgruppe des GM »Barth« gehörte auch der GM »Boxer«, der ebenfalls Ende Juni 1952 gezielt verpflichtet worden war. Hinter dem Decknamen verbarg sich der 1930 geborene Paul Keyser. Er hatte 1945 im Ostsektor Berlins eine Lehre zum Zimmermann begonnen, wurde jedoch Anfang 1947 straffällig und dreieinhalb Monate inhaftiert. Danach lebte er ein Jahr in Westdeutschland, kehrte aber 1948 zurück und wurde erneut straffällig: Wegen Beihilfe zum Einbruchdiebstahl erhielt er im Juni 1949 eine Gefängnisstrafe von drei Monaten und im November 1950 wegen schweren Diebstahls in neun Fällen eine Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren. Nach seiner Haftentlassung 1952 bestritt er seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten und als Schmuggler.111 Aufgrund seiner Fertigkeiten als Boxer, seines Mutes 108 Vorschlag, Abt. V, 30.6.1952. BStU, MfS, AIM 1639/61, P-Akte Bd. 1, S. 14 f., hier 14. 109 Vgl. Vorschlag, Abt. V, 30.6.1952. BStU, MfS, AIM 1639/61, P-Akte Bd. 1, S. 14 f.; handschriftlicher Lebenslauf, Lothar Borowski, 29.6.1952. Ebenda, S. 17–19; Charakteristik, MfS, 11.5.1953. Ebenda, S. 86–91, hier 89; Abschlussbericht, MfS, 24.2.1961. Ebenda, P-Akte Bd. 2, S. 163 f. 110 Charakteristik, MfS, 11.5.1953. BStU, MfS, AIM 1639/61, P-Akte Bd. 1, S. 86–91, hier 90. 111 Vgl. Vorschlag, Abt. V, 29.5.1952. BStU, MfS, AIM 2559/63, P-Akte, S. 15; handschriftlicher Lebenslauf, Paul Keyser, 27.6.1952. Ebenda, S. 17–19; Strafregisterauszug, Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin, 21.3.1953. LAB, B Rep. 058, Nr. 2903, o. Pag.
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und Draufgängertums war sein Einsatzgebiet bereits im Vorschlag zu seiner Anwerbung klar definiert: »K. wird eingesetzt zum ersten Angriff auf festzunehmende Personen.«112 Ein weiteres Mitglied der Gruppe um den GM »Barth« war Paul Bunge, geboren 1925, der als gelernter Fleischer, aber nebenbei auch als Berufsringer und Rausschmeißer in Ost-Berlin arbeitete. Zum Zeitpunkt seiner Anwerbung Anfang Juli 1952 war Paul Bunge ebenfalls inhaftiert: Er hatte kleine Mengen Fleisch von seinem Arbeitsplatz gestohlen und in West-Berlin verkauft. Seine Anwerbung war keineswegs Zufall: Er saß in einer Zelle mit Lothar Borowski alias GM »Barth«, der seinem Führungsoffizier die Haftentlassung und Verpflichtung von Paul Bunge vorschlug. Nur vier Tage vor der Entführungsaktion wurde er als GM »Ringer« angeworben.113 Als Fahrer bei der Entführung – und damit der vierte Mann im Bunde – agierte der 1920 geborene Erich Kühne. Der gelernte Maschinenschlosser und Kraftfahrer war bereits seit Februar 1950 für das MfS als GI »Pelz« aktiv. Ein Jahr zuvor hatte er für fünf Monate in Untersuchungshaft gesessen unter dem Verdacht, illegal Fleisch in den Westsektor Berlins gebracht zu haben. Zum Leidwesen des MfS betätigte er sich auch noch nach seiner Anwerbung im Schwarzhandel und Warenschmuggel. Mehrmals musste das MfS eingreifen, um polizeiliche Ermittlungen gegen ihn zu stoppen.114 Die gezielte Anwerbung von Personen aus dem kriminellen Milieu Berlins, die anhand dieser Beispiele deutlich wird, steht im engen Zusammenhang mit den Arbeitsmethoden des MfS in den stalinistisch geprägten 1950er Jahren. Doch auch noch in den 1970er Jahren griff das MfS in Einzelfällen auf Kriminelle zurück, die im Westen »besondere Maßnahmen« durchführen sollten – wie das Beispiel IM »Karate« zeigt.115 »Karate«, alias Martin Toben, wurde 1922 geboren und lebte zur Zeit seiner Anwerbung in Köln. Nach Absolvierung der Volksschule hatte er eine Fachschule für Artistik besucht und sich auf die Fachrichtung Judo/Karate konzentriert. Nach eigenen Angaben gehörte er im Zweiten Weltkrieg einer Sondereinheit der Wehrmacht an, die für besondere Kommandoaufträge zuständig war. Nach Ende des Krieges verrichtete »Karate« Gelegenheitsarbeiten und war zeitweise als Wäschereibesitzer und als Casinobetreiber selbstständig. Diese Arbeitsstellen dienten jedoch hauptsäch112 Vorschlag, Abt. V, 29.5.1952. BStU, MfS, AIM 2559/63, P-Akte, S. 15. 113 Vgl. Vorschlag, Abt. V, 4.7.1952. BStU, MfS, AIM 1640/61, P-Akte, S. 14; handschriftlicher Lebenslauf, Paul Bunge, o. D. Ebenda, S. 24 f.; Aktenvermerk, MfS, 1.2.1953. Ebenda, S. 29; Charakteristik, MfS, 11.5.1953. Ebenda, S. 40–43. 114 Vgl. Personalbogen, MfS, o. D. BStU, MfS, AIM 3119/56, P-Akte, S. 13; Bericht, MfS, 4.2.1950. Ebenda, S. 16–22, hier 17; Bericht, MfS, 1.11.1950. Ebenda, S. 64 f.; Festnahmebericht, VPI Mitte, 4.9.1951. Ebenda, S. 74; Ermittlungsbericht, 11.9.1951. Ebenda, S. 80 f.; Charakteristik, MfS, 11.5.1953. Ebenda, S. 97–100, hier 99. 115 Die im Folgenden genannten IM »Karate« und »Rennfahrer« gehören nicht zu den 50 Entführer-IM, die in dieser Studie untersucht werden.
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lich der »Legalisierung« seiner Einkünfte, die er durch Einbrüche und Diebstahl machte. Er war mehrfach wegen schweren Einbruchdiebstahls vorbestraft, so hatte er 1958 eine fünfjährige Haftstrafe erhalten und wurde 1974 zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Diese Strafe trat er jedoch nicht an, sondern tauchte unter. Zur gleichen Zeit stellte ein guter Bekannter, der als IM »Rennfahrer« für das MfS tätig war, den Kontakt zur DDRStaatssicherheit her. Er charakterisierte Martin Toben gegenüber dem MfS als »keinesfalls ängstlich veranlagt, hat bei Durchführungen von Einbrüchen usw. nicht die geringsten Hemmungen und scheut auch davor nicht zurück, jemand zu beseitigen, der sich evtl. unvorhergesehen in den Weg stellen würde«.116 »Rennfahrer« wusste, wovon er sprach: Gemeinsam hatten sie schon Mitte der 1950er Jahre zahlreiche Straftaten begangen. Und bereits zu dieser Zeit hatte das MfS über den IM »Rennfahrer« zu Martin Toben Kontakt aufgebaut. Doch die Verbindung brach ab, als »Rennfahrer« wegen eines Einbruchs eine mehrjährige Haftstrafe verbüßen musste. Ende des Jahres 1974 wurden sie nun vom MfS wiederum gemeinsam eingesetzt und verübten im Frühjahr 1975 im Auftrag des MfS einen Mordanschlag auf den Westberliner Siegfried Schulze. Im April 1975 folgte die Anwerbung von Martin Toben als IM im besonderen Einsatz (IME), da er »operativ interessante Merkmale« vorwies: »Der IM kann als zuverlässiger Mitarbeiter eingeschätzt werden, der bedingungslos alle übertragenen Aufgaben, auch solche mit hohem Gefährlichkeitsgrad, realisiert.« Zudem verfüge er über »operativ nutzbare Verbindungen […] zu Kreisen der sogenannten Unterwelt«.117 Bis Januar 1981 erledigte er »37 besondere Maßnahmen, 27 Beobachtungsersuchen, 23 Ermittlungsersuchen« – die Bezeichnung »besondere Maßnahmen« stand hierbei für kompliziertere Aufträge, die sich gegen Geheimdienststellen und Fluchthelfer richteten. Im Frühjahr 1981 wurde »Karate« auf den Fluchthelfer Julius Lampl angesetzt – wieder mit dem Ziel einer »spezifischen Maßnahme«: Er sollte ihn töten.118 Die häufige Rekrutierung von Kriminellen als Entführer-IM ist bei näherer Betrachtung des Aufgabenfeldes dieser speziellen IM verständlich. Das MfS benötigte Einsatzkräfte, die skrupellos agierten, keine Fragen stellten und vor 116 Sachstandsbericht, HA VIII/6, 14.5.1974. BStU, MfS, AIM 4902/88, P-Akte Bd. 1, S. 75– 79, hier 77. 117 Auskunftsbericht, HA VIII/6, 10.8.1975. BStU, MfS, AIM 4902/88, P-Akte Bd. 1, S. 18– 26, hier 24 f. Vgl. Vermerk, MfS, 3.3.1975. Ebenda, S. 66–74. Nach Angaben des IM »Rennfahrer« führte er gemeinsam mit »Karate« bis 1957 rund 25 Einbrüche in Juweliergeschäfte durch. Vgl. Sachstandsbericht, HA VIII/6, 14.5.1974. Ebenda, S. 75–79; Auskunftsbericht, HA VIII/6, 27.11.1974. Ebenda, S. 83–89; Vorschlag, HA VIII/6, 8.4.1975. Ebenda, S. 92–103; Aktenvermerk, HA VIII/6, 20.3.1975. Ebenda, S. 139–142; Sachstandsbericht, HA VIII, 20.2.1975. Ebenda, Bd. II/1, S. 34–48. 118 Vgl. Kurzinformation, MfS, 23.2.1981. Ebenda, Bd. II/7, S. 218–221; Kurzeinschätzung, HA VIII, 15.11.1983. Ebenda, Bd. II/7, S. 271–273. Vgl. Schmole: Hauptabteilung VIII, S. 65–68, 85 f.
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der Anwendung von Gewalt nicht zurückschreckten. Im Staatssicherheitsapparat wurden sie zu Spezialkräften für die sogenannten »aktiven Maßnahmen« im Westen, die – wenn möglich – mehrfach eingesetzt wurden. Diese eigene Anwerbestrategie und -praxis machte das MfS den angeblichen »Kriegstreibern« im Westen zum Vorwurf. So findet sich beispielsweise ausgerechnet in einem Schlussbericht über ein Entführungsopfer folgende Beschuldigung gegenüber den westlichen Geheimdiensten: »Sie bedienen sich dabei vorwiegend krimineller, asozialer und verkommener Elemente aus den Reihen der Gesellschaft, die sie für ihre verbrecherischen Ziele ausnutzen.«119 Ein weiteres Handlungsmilieu, das dem MfS für seine Zwecke dienlich war, zeigt der Blick auf die wenigen Frauen, die an Entführungsaktionen des MfS beteiligt waren. Nur fünf der untersuchten 50 IM sind weiblichen Geschlechts. Da die Gesamtzahl der als Entführer tätigen IM unbekannt ist, können hier keine genauen Angaben zum Geschlechterverhältnis gegeben werden. Auf der Gesamtebene des MfS betrug der Anteil der weiblichen IM in der DDR rund 17 Prozent und in der Bundesrepublik etwa 28 Prozent.120 Im Falle der Entführer-IM dürfte die Frauenquote deutlich niedriger gelegen haben. Aber nicht nur quantitativ, sondern auch in Bezug auf die Einsatzart der weiblichen IM zeigt sich ein deutlicher Unterschied: Während die sogenannten »operativen Betten« beim Einsatz weiblicher IM generell als Randphänomen gesehen werden müssen, nutzte das MfS die weiblichen IM bei den Entführungsaktionen hauptsächlich, um intime Kontakte zum Opfer aufzubauen.121 Im August 1954 warb die MfS-Kreisdienststelle Brandenburg den weiblichen GM »Lisa König« an. Die 1929 geborene Frau hatte nach der Volksschule eine kaufmännische Lehre angefangen, aber nicht zu Ende geführt. Danach arbeitete sie in verschiedenen Berufen, u. a. als Serviererin in einem sowjetischen Offizierskasino, als Postsachbearbeiterin bei der Kasernierten Volkspolizei (KVP) und Telefonistin. Sie gehörte der FDJ seit deren Gründung an, zeichnete sich ansonsten aber nicht durch eine aktive Teilnahme am politischen Leben aus. Im Rahmen eines operativen Vorgangs wurde das MfS auf sie 119 Schlussbericht, MfS, 11.1.1956. BStU, MfS, AU 1410/58, Bd. 4, S. 153–186, hier 156. 120 Vgl. Müller-Enbergs: IM 3, S. 89; Angela Schmole: Frauen im Ministerium für Staatssicherheit (MfS). In: Horch und Guck 10(2001)34, S. 15–19; dies.: Frauen und MfS. In: DeutschlandArchiv 29(1996)4, S. 512–525; Annette Maennel: Frauen zwischen Alltag und Konspiration. In: Horch und Guck 4(1995)14, S. 24–32. 121 Vgl. Müller-Enbergs: IM 3, S. 89, 95. Der Begriff »operative Betten« umfasst das gezielte Ansetzen von Frauen auf westdeutsche Politiker, Korrespondenten und Geschäftsmänner. Ihnen wurden mitunter bestimmte Zimmer in den Interhotels zugewiesen, die mit Abhör- und Beobachtungsanlagen ausgestattet waren. Vgl. Katja Augustin: Verführerinnen und Verführte. Frauen und die Staatssicherheit. In: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Duell im Dunkel. Spionage im geteilten Deutschland. Köln 2002, S. 99–109; Schmole: Frauen und MfS, S. 520–522; Maennel: Frauen, S. 27.
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aufmerksam, da sie Kontakt zu der im Visier stehenden Person hatte. Bei ihrer Überprüfung weckten zwei Aspekte das Interesse des MfS: Sie hatte bereits als Informantin für den sowjetischen Geheimdienst gearbeitet und führte einen »unmoralischen Lebenswandel«.122 Ein Jahr nach ihrer Anwerbung wurde »Lisa König« verstärkt für Aufträge in West-Berlin eingesetzt. Das MfS war mit der Arbeit seiner GI »Lisa König« zufrieden und plante ihren zukünftigen Einsatz: »Auf Grund ihres guten Auftretens, Aussehens und ihrer Intelligenz« sollte sie in West-Berlin an einen »Hauptagenten« eines westlichen Geheimdienstes herangeschleust werden.123 Diese Planungen wurden schon wenig später realisiert: Ausgestattet mit einer Legende baute »Lisa König« Mitte Februar 1956 Kontakt zu einem Mitarbeiter der ZOPE namens Heinrich Berger auf. Erfreut registrierte das MfS das Aufgehen seiner Strategie: »Da der GI eine ansehnliche Erscheinung ist und es versteht, auf Anspielungen von Männern zu reagieren, versuchte Viktorow [gemeint ist Heinrich Berger, Anm. S. M.], mit ihr in nähere Beziehungen zu treten, was aber von dem GI zur Zeit noch abgelehnt wurde bzw. noch weiter abgelehnt wird. […] Perspektive des GI: Nach dem jetzigen Stand der Bearbeitung zu urteilen hat der GI eine Perspektive an der Ziehung des Hauptagenten.«124
»Lisa König« erhielt genaue Anweisungen für ihren Umgang mit Heinrich Berger, der ihr – wie sie gegenüber dem MfS zum Ausdruck brachte – sehr unsympathisch war: »Für die Durchführung des Treffs gilt insbesondere, daß V. [gemeint ist Heinrich Berger, Anm. S. M.] sich verstärkt Hoffnungen macht mit ihr intim zu verkehren, aber zu einem Geschlechtsverkehr darf es nicht kommen. Das schließt aber natürlich nicht aus, daß Sie sämtliche fraulichen Reize spielen um ihn persönlich zu reizen und dadurch V. fester an sich zu ziehen.«125
122 Vorschlag, KD Brandenburg, 19.7.1954. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 17 f., hier 18; vgl. Bericht, KD Brandenburg, 10.8.1954. Ebenda, S. 19 f.; handschriftliche Verpflichtungserklärung, Ursula Rothe, 9.8.1954. Ebenda, S. 21; Auskunftsbericht, KD Brandenburg, 12.7.1956. Ebenda, S. 28–32, hier 29; handschriftlicher Lebenslauf, Ursula Rothe, 8.12.1953. Ebenda, S. 100 f.; handschriftlicher Lebenslauf, Ursula Rothe, 23.8.1956. Ebenda, S. 134 f.; Auskunftsbericht, HA VIII Operativgruppe, 7.12.1960. Ebenda, S. 220–225, hier 220 f. Der »unmoralische Lebenswandel« bezog sich vor allem auf den Umgang mit Alkohol und Männern. Vgl. Ermittlungsbericht, Volkspolizeikreisamt Brandenburg, 27.2.1954. Ebenda, S. 120; Schlussbericht, HA VIII Operativgruppe, 13.9.1961. Ebenda, S. 261. 123 Beurteilung, KD Brandenburg, 1.2.1956. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 24. Vgl. Auskunftsbericht, KD Brandenburg, 12.7.1956. Ebenda, S. 28–32, hier 30. 124 Auskunftsbericht, KD Brandenburg, 12.7.1956. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 28–32, hier 31. Vgl. Auskunftsbericht, HA VIII Operativgruppe, 7.12.1960. Ebenda, S. 220–225, hier 222. 125 Auftragserteilung, KD Brandenburg, 29.9.1956. BStU, MfS, AIM 6183/61, A-Akte Bd. 1, S. 115 f., hier 115. Vgl. Treffbericht, KD Brandenburg, 7.5.1956. Ebenda, S. 74.
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Der perfide Plan des MfS sah vor, dass »Lisa König« das Entführungsopfer zu gegebener Zeit in eine bestimmte Pension locken und ihn dann mithilfe eines Betäubungsmittel »transportfähig« machen sollte.126 Im Dezember 1956 gelang »Lisa König« – in Zusammenarbeit mit den GM »Donner« und »Blitz« – die Entführung von Heinrich Berger.127 Ein Jahr später, im Oktober 1957, sollten diese GM erneut gemeinsam bei einer Entführungsaktion zum Einsatz kommen – doch der Plan misslang.128 Einen »sehr starken Geschlechtstrieb«129 attestierte das MfS seinem weiblichen GM »Sylvia«. Die 1928 geborene Monika Hoffmann wurde 1952 von der MfS-Bezirksverwaltung Potsdam angeworben. Nach achtjähriger Volksschule hatte sie eine Lehre zur Rechtswahrerangestellten abgeschlossen. Ihr weiterer beruflicher Weg war durch viele Arbeitsplatzwechsel geprägt: Sie war als Hilfsarbeiterin, kaufmännische Angestellte und als Sekretärin (u. a. bei der Volkspolizei und beim Landessportausschuss Brandenburg) tätig – mehrmals wurde ihr wegen »unmoralischen Lebenswandels« und »schlechter Arbeitsmoral« gekündigt.130 Im März 1952 verpflichtete sie sich dann »auf freiwilliger Grundlage mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenzuarbeiten und mitzuhelfen, Agenten, Saboteure, Spione, die die Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik sabotieren wollen, zu entlarven und sie der gerechten Bestrafung zuzuführen.«131
Ihre Rolle bei diesem Einsatz gegen Agenten und Spione entsprach ihrer vom MfS attestierten Fertigkeit: »Sie […] versteht es, besonders mit Männern umzugehen.«132 So wurde sie im Juni 1954 auf einen hauptamtlichen Mitarbeiter des Ostbüros des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) angesetzt, der im Rahmen der Aktion »Wannsee« nach Ost-Berlin entführt werden sollte. Auftragsgemäß baute sie ein intimes Verhältnis zu ihm auf und lockte ihn in die
126 Vgl. Auftragserteilung, KD Brandenburg, 29.9.1956. BStU, MfS, AIM 6183/61, A-Akte Bd. 1, S. 115 f., hier 115. 127 Vgl. Bericht, HA II, o. D. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 209 f.; Auskunftsbericht, HA VIII Operativgruppe, 7.12.1960. Ebenda, S. 220–225, hier 222. 128 Vgl. Festnahmeplan, HA II Leitung, 16.10.1957. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/2, S. 54–56; Bericht, GM »Teddy«, 21.10.1957. Ebenda, S. 31 f.; Bericht, GM »Red Niel«, 17.6.1958. Ebenda, S. 38 f.; Verfügung, Staatsanwaltschaft II, 8.7.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 2, Bl. 82–111, hier 84 f. 129 Einschätzung, BV Leipzig Abt. V, 20.6.1957. BStU, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 2, S. 347 f., hier 348; Einschätzung, HA V/2, 5.9.1956. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 116. Vgl. Ermittlungsergebnis, BV Potsdam Abt. VIII an Abt. V, 28.5.1954. Ebenda, S. 28 f. 130 Vgl. Vorschlag, BV Potsdam Abt. VI, 13.11.1951. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 1, S. 6; Auskunftsbericht, MfS, 30.7.1959. Ebenda, P-Akte Bd. 3, S. 47–52, hier 49. 131 Handschriftliche Verpflichtungserklärung, Monika Hoffmann, März 1952. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 1, S. 20. 132 Auskunftsbericht, BV Leipzig Abt. V, 31.8.1956. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 1, S. 96.
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Falle – doch die Entführung misslang.133 Eine Zuteilung von Westgeld im März 1955 gibt einen Hinweis auf ihre Beteiligung bei der Entführung des geflohenen SED-Funktionärs Paul Behm, denn für diesen Einsatz sollte sie sich vorab mit Westkleidung ausstatten können.134 Im Juni 1957 und Februar 1958 war »Sylvia« sodann für zwei weitere Entführungsaktionen vorgesehen, die jedoch beide scheiterten.135 Im August 1958 erfolgte schließlich unter Mitwirkung des GM »Sylvia« die Entführung des UFJ-Mitarbeiters Erwin Neumann. Bei einer Segelpartie auf dem Wannsee gelang es den GM »Weitzel« und »Sylvia« Neumann ein in Bier aufgelöstes Betäubungsmittel zu verabreichen und ihn über die Grenze in den DDR-Sektor zu bringen.136 Der weibliche GM »Martina Matt« erfüllte im Juni 1961 einen ähnlichen Auftrag des MfS: Sie mischte ein Betäubungsmittel in einen Whisky, den sie dem Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt anbot. Nach dieser Vorarbeit konnte er im bewusstlosen Zustand nach Ost-Berlin gebracht werden. Gezielt war »Martina Matt« bereits einige Monate vorher in einer Bar an Heinz Brandt herangeschleust worden – vermittelt wurde diese Bekanntschaft durch einen Mitarbeiter der IG Metall, der zugleich als IM für das MfS arbeitete.137 Die 1928 geborene »Martina Matt« hatte eine Lehre zur Chemielaborantin durch das Kriegsende nicht beenden können und war in den Nachkriegsjahren u. a. als Telefonistin beschäftigt. Als das MfS Anfang des Jahres 1960 auf sie aufmerksam wurde, arbeitete sie als Tischdame in einer Westberliner Nachtbar, wo sie die GI »Eva« kennengelernt hatte.138 Nach der Kontaktaufnahme bescheinigte ihr das MfS:
133 Vgl. Bericht, HA V/2, 2.9.1955. BStU, MfS, HA XX Nr. 1662, S. 65–73, hier 65–67; Auskunftsbericht, MfS, 30.7.1959. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 3, S. 47–52, hier 50; Berichte des GI »Sylvia« und Treffberichte aus dem Zeitraum März bis Juni 1955 siehe ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 91–168. 134 Vgl. Antrag, HA V/2, 5.3.1955. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 1, S. 70; Treffbericht, HA V/2, 23.3.1955. BStU, MfS, AIM 439/57, A-Akte Bd. 1, S. 168. 135 Zur Entführungsaktion 1957 vgl. Treffbericht, BV Leipzig Abt. V, 30.6.1957. BStU, MfS, AIM 2285/60, A-Akte Bd. IV, S. 118 f. Im Februar 1958 sollte »Sylvia« einem KgU-Mitarbeiter ein Betäubungsmittel verabreichen. Der vorgesehene Einsatz des GM »Sylvia« wurde aber nicht realisiert. Vgl. Vorschlag, HA V/5, 17.1.1958. BStU, MfS, AOP 518/59, Bd. 32 a, S. 82–93; Sachstandsbericht, HA V/5, 17.3.1959. Ebenda, Bd. 48 a, S. 282–313, hier 299 f. 136 Vgl. Vorschlag, HA V/5, 24.7.1958. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 114–126; Bericht, HA V/5, 3.9.1958. Ebenda, S. 143–149, hier 144; Bericht, GM »Weitzel« und »Sylvia«, 21.8.1958. Ebenda, A-Akte Bd. 6, S. 21–26. 137 Vgl. Aktenvermerk, Staatsanwaltschaft, Frankfurt/M., 29.5.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1376/92, Bd. I, Bl. 35–40; Vermerk, ZERV 216, 16.2.1994. Ebenda, Bl. 170–172; Vernehmungsprotokoll, ZERV 216, 7.3.1994. Ebenda, Bd. Ia, Bl. 7–19; Zwischenbericht, ZERV 216, 24.5.1994. Ebenda, Bl. 105–110; Zwischenbericht, ZERV 213, 28.6.1995. Ebenda, Bd. VII, Bl. 18– 37, hier 19 f., 27. Vgl. Andresen: Widerspruch, 2007, S. 246, 249. 138 Vgl. handschriftlicher Lebenslauf, Anna Wessel, 14.6.1960. BStU, MfS, AIM 12056/64, PAkte, Bd. 1, S. 38 f.; Vorschlag, HA V/5, 30.6.1960. Ebenda, S. 48–54; Bericht, GI »Eva«,
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»Bei […] handelt es sich um eine hübsche elegante Frau, die neben ihrer Schönheit auch noch den Vorteil hat, klug zu sein. […] Sonst ist sie redegewandt und man merkt, daß sie es versteht, mit Männern umzugehen und diese beeindrucken kann. Zusammenfassendes Urteil: Eine sehr brauchbare Person, die viele Fähigkeiten besitzt, die in der operativen Arbeit notwendig sind, um Aufgaben erfolgreich lösen zu können.«139
Ohne Umschweife wurde ihr schon wenige Tage später ihr Einsatzgebiet erläutert. Im Auftrag des MfS sollte sie versuchen, zu bestimmten Personen »in engeren Kontakt« zu treten. Auf Nachfrage erklärte sie sich nach einiger Überlegung – die nach Einschätzung des MfS gespielt war – auch bereit, einen solchen Auftrag »bis zur Endkonsequenz durchzuführen«, also eine intime Beziehung aufzubauen.140 Dementsprechend formulierte der zuständige MfSOberleutnant Eichhorn in seinem Werbungsvorschlag: »Ihr Aussehen, Auftreten, ihre Intelligenz und ihre Beziehungen geben allen Anlass, sie zu einer brauchbaren inoffiziellen Mitarbeiterin zu entwickeln, die in bürgerliche Kreise, auch in Westberlin und WD [West-Deutschland] eindringen kann. […] Bei der Durchführung von Aufträgen hinsichtlich männlicher Personen, würde sie, wenn erforderlich, alles tun, wozu eine Frau imstande ist, wenn dadurch ein Erfolg in der Arbeit zu erzielen ist.«141
Am 28. Juni 1960 schrieb »Martina Matt« ihre Verpflichtungserklärung für das MfS und nahm im Auftrag des MfS ihre inzwischen aufgegebene Tätigkeit in der Westberliner Nachtbar wieder auf. Ihre Beteiligung bei der Entführung von Heinz Brandt blieb aber der einzige Einsatz dieser Art.142 An dieser Entführung war ferner der GM »Norge« beteiligt, der im Februar 1958 mit der GM »Sylvia« einen KgU-Mitarbeiter entführen sollte und bereits im Juli 1957 bei einem Entführungsversuch mitgewirkt hatte, der gegen einen anderen KgU-Mitarbeiter gerichtet war – wieder in Kooperation mit einem weiblichen GM: »Dita Schönberg«.143 Die MfS-Kreisdienststelle Güstrow warb die 1933 geborene »Dita Schönberg« im Juni 1953 als GI, nachdem sie einem MfS-Mitarbeiter als Kellnerin in einer HO-Gaststätte aufgrund ihres »sehr leichten Lebenswandels« aufgefallen war. In der Gaststätte verkehrten viele KVP-Angehörige, sodass das MfS einen dortigen Informanten für notwendig erachtete. »Dita Schönberg« erschien als die Richtige, da sie zu vielen dieser 12.1.1960. Ebenda, S. 20; Vernehmungsprotokoll, ZERV 216, 7.3.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1376/92, Bd. Ia, Bl. 7–19. 139 Bericht, HA V/5, 11.6.1960. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte Bd. 1, S. 28–31, hier 30 f. 140 Bericht, HA V/5, 15.6.1960. Ebenda, S. 32–37, hier 34. 141 Vorschlag, HA V/5, 30.6.1960. Ebenda, S. 48–54, hier 49, 52. 142 Vgl. Bericht, HA V/5, 29.6.1960. Ebenda, S. 55–58; handschriftliche Verpflichtungserklärung, Anna Wessel, 28.6.1960. Ebenda, S. 59; Bericht, GI »Martina Matt«, 29.8.1960. Ebenda, S. 84. 143 Vgl. Vorschlag, HA V/5, 17.1.1958. BStU, MfS, AOP 518/59 Bd. 32a, S. 82–93.
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kasernierten Volkspolizisten Kontakt hatte.144 Obwohl ihr Lebensstil im Staatssicherheitsapparat auch Anlass zur Kritik gab,145 bewährte sie sich, sodass im Januar 1956 als Perspektive festgelegt wurde: »Der GI wird systematisch geschult, um dann als Beobachter und Ermittler in Westberlin eingesetzt zu werden. Weiterhin soll sie in Westberlin mit Hauptagenten der NTS in Verbindung gebracht werden, um die Ziehung derselben vorzubereiten.«146 In Abstimmung mit der Hauptabteilung V/5 wurde »Dita Schönberg« dann von der BV Schwerin allerdings nicht auf den NTS, sondern auf die KgU angesetzt. Ihr gelang es, die Verbindung aufzunehmen und auszubauen. Vor diesem Hintergrund wurde sie im Mai 1956 zum GM umgruppiert und im April 1957 an die Hauptabteilung V/5 übergeben. Die relativ späte Übergabe resultierte aus einer Inhaftierung, mit der die DDR-Justiz ihren sexuellen Umgang mit verschiedenen Männern geahndet hatte. Da das MfS sie jedoch »für eine dringende operative Maßnahme« benötigte, regelte es intern die vorzeitige Haftentlassung und beauftragte sie wiederum mit der Verbindungsaufnahme zur KgU. Auftragsgemäß gewann sie das Vertrauen eines »KgU-Hauptagenten«.147 Der Entführungsplan misslang im letzten Augenblick. Zwar konnte »Dita Schönberg« ihm planmäßig bei einem Ausflug ein in Bier gelöstes Betäubungsmittel verabreichen, aber aufgrund einer Reifenpanne des GM »Norge« scheiterte die weitere Durchführung. Die Hauptabteilung V/5 zollte ihren beiden GM dennoch Anerkennung für »ihre Einsatzfreudigkeit und ihren Mut« bei der Aktion.148 GM »Dita Schönberg« kam aber kein weiteres Mal bei einer Entführung zum Einsatz, da sie nach dieser Aktion als »dekonspiriert« galt. Diese vier weiblichen GM zählen zum zweiten Typus der Entführer-IM, da sie über spezielle Anknüpfungspunkte verfügten, mit dessen Hilfe sie erfolgreich auf das Entführungsopfer angesetzt werden konnten. Im Fall der weiblichen IM waren das ihre weiblichen Reize und ihr (in den Augen des MfS) ungehemmter Umgang mit Männern. Wie viele Entführer-IM des ersten Typs 144 Vgl. Bericht, MfS, 15.6.1953. BStU, MfS, AIM 4283/58, P-Akte, S. 9; Vorschlag zur Anwerbung, Abt. I/1, o. D. Ebenda, S. 21 f.; Auskunftsbericht, Abt. II/6, 26.1.1956. Ebenda, S. 34 f.; Operativ-Plan, HA V/5, 5.7.1957. BStU, MfS, AOP 518/59, Bd. 42a, S. 99–112, hier 105 f. 145 So heißt es in einer Beurteilung: »Eine besondere Schwäche besteht bei dem GM darin, daß er für Männer sehr empfänglich ist.« Siehe Beurteilung, MfS, o. D. BStU, MfS, AIM 4283/58, PAkte, S. 135 f. 146 Auskunftsbericht, Abt. II/6, 26.1.1956. BStU, MfS, AIM 4283/58, P-Akte, S. 34 f., hier 35. 147 Vgl. Beschluss, BV Schwerin Abt. II, 23.5.1956. Ebenda, S. 95; Antrag auf vorzeitige Haftentlassung, BV Schwerin Abt. II/5 an MfS Abt. VII, 27.11.1956. Ebenda, S. 130; Beurteilung, MfS, o. D. Ebenda, S. 135 f.; Mitteilung, MfS Stellvertreter des Ministers Beater an die BV Schwerin, 9.4.1957. Ebenda, S. 137; Zusatzplan, HA V/5, 18.4.1957. BStU, MfS, AOP 660/58, Bd. 1, S. 128; Operativ-Plan, HA V/5, 5.7.1957. BStU, MfS, AOP 518/59, Bd. 42a, S. 99–112, hier 103, 105. 148 Einschätzung, HA V/5, 26.7.1957. BStU, MfS, AOP 518/59, Bd. 42a, S. 118–122, hier 122; vgl. Operativ-Plan, HA V/5, 5.7.1957. Ebenda, S. 99–112, hier 107–110; Plan, HA V/5, 10.7.1957. Ebenda, S. 115–117; Schlussbericht, HA V/5, 21.10.1958. BStU, MfS, AIM 4283/58, PAkte, S. 191.
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wurden diese weiblichen IM zum Teil bei mehreren Entführungsaktionen eingesetzt. Die männlichen Entführer-IM des zweiten Typs weisen – im Gegensatz zu den vorwiegend kriminellen Hintergründen der Entführer-IM des ersten Typs – kein typisches Handlungsmilieu auf. Ausschlaggebend für ihren zumeist einmaligen Einsatz bei einer Entführung waren bestimmte Aspekte in ihrer Biografie, ihr Beruf oder ihre Freizeitinteressen, die zum Aufbau und Missbrauch der Verbindung zum Entführungsopfer genutzt werden konnten. Zum Beispiel konnte der 1952 geworbene IM »Fritz« aufgrund seiner doppelten Verfolgungsgeschichte als Jungkommunist in der stalinistischen Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland sowie als angeblicher politischer Flüchtling erfolgreich in das von Margarete Buber-Neumann 1951 gegründete »Befreiungskomitee für die Opfer totalitärer Willkür« eingeschleust werden, zumal er – wie Margarete Buber-Neumann – zu jenen deutschen Kommunisten gehörte, die im Februar 1940 vom NKWD an die SS ausgeliefert worden waren. Im Rahmen seiner Berichte über das Befreiungskomitee informierte »Fritz« das MfS auch über den Journalisten Karl Wilhelm Fricke, der somit ins Visier der Hauptabteilung V geriet.149 Die Strategie des MfS ging auf, wie Fricke zurückblickend bestätigt: »›Fritz‹ alias Kurt Maurer alias Kurt Rittwagen konnte sich mein Vertrauen um so leichter erschleichen, als ich ihm, dem Opfer zweier totalitärer Systeme, mit Sympathie und Solidarität gegenübergetreten war. Immerhin war er ja auch wirklich Gefangener bei Stalin und Hitler gewesen.«150
Zudem versorgte »Fritz« den engagierten Journalisten mit Büchern und Zeitschriften aus der DDR sowie mit Einverständnis des Befreiungskomitees auch mit Informationen aus der dortigen Personenkartei. Unter dem Vorwand, ihm ein gewünschtes Buch aushändigen zu wollen, lockte »Fritz« den jungen Journalisten im April 1955 in seine angebliche Wohnung und damit in die Falle des Staatssicherheitsapparates. Sich nicht in Gefahr wähnend, trank Fricke mit seinem Gastgeber und dessen Ehefrau Weinbrand und ahnte nicht, dass ein darin gelöstes Betäubungsmittel ihn schon kurze Zeit später wehrlos machen sollte. Der GM »Fritz« hatte seinen Auftrag erfüllt, dem »Transport« von Karl Wilhelm Fricke nach Ost-Berlin stand danach nichts mehr im Wege.151 Eine operative Gruppe holte den bewusstlosen Journalisten aus der Westberliner Wohnung und brachte ihn im Kofferraum eines Autos, vermutlich in einem Schlafsack verschnürt, zur MfS-Untersuchungshaftanstalt BerlinHohenschönhausen.152 149 Zur Geschichte der Entführung von Karl Wilhelm Fricke vgl. Fallbeispiel 5 in Kapitel II.2. 150 Fricke: Akten-Einsicht, S. 38. 151 Vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 25, 29–31, 33–42, 54–59; ders./Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 154, 215–217. 152 Fricke/Engelmann: Staatssicherheitsaktionen, S. 217.
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Berufliche Anknüpfungspunkte waren es im Fall des geflohenen SEDFunktionärs und VP-Offiziers Robert Bialek, auf den zwei Volkspolizisten als GM »Albert« und »Fritz Vogelsdorf« angesetzt und an seiner Entführung beteiligt waren.153 Der 1902 geborene »Albert« war nach achtjähriger Dienstzeit in den Reihen der VP 1953 in den Westen geflüchtet. In West-Berlin stand er mit der Zeitung Telegraf und dem Ostbüro der SPD in Verbindung, das sich für ihn einsetzte als sein Antrag auf einen Flüchtlingsausweis abgelehnt wurde. Aufgrund seiner Flucht und seines Kontaktes zum Telegraf bearbeitete das MfS »Albert« im operativen Vorgang »Deserteur«, bot ihm aber über seine in Ost-Berlin lebende Schwägerin im Mai 1955 eine Zusammenarbeit an. Noch im selben Monat verpflichtete er sich als GM »Albert« und trieb fortan im Auftrag des MfS ein doppeltes Spiel: Als das SPD-Ostbüro den Wunsch nach Gesprächen mit VP-Angehörigen äußerte, brachte »Albert« – nach Abstimmung mit dem MfS – einen ehemaligen Kollegen: Eduard Hinze alias GM »Fritz Vogelsdorf«. Im Rahmen seiner Tätigkeit für das SPDOstbüros traf sich Bialek seit Oktober 1955 mit den beiden VP-Angehörigen, die – im Auftrag des MfS – sein Vertrauen gewannen und so seine Entführung im Februar 1956 ermöglichten.154 Ebenso wie »Albert« kam der GM »Fritz Vogelsdorf« nur aus dem Grund zum Einsatz, weil er mit seiner VPZugehörigkeit einen Anknüpfungspunkt bot. Der 1913 geborene »Fritz Vogelsdorf« hatte nach der Volksschule den Beruf des Buchdruckers erlernt. Nach seiner Einberufung 1939 diente er bis zum Kriegsende in der Wehrmacht und wurde im Juni 1946 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Politisch war er zwischen 1930 und 1933 in der Sozialistischen Arbeiterjugend, dem Sozialistischen Jugendverband und der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) organisiert. Bereits im Jahre 1946 schloss er sich der SED an. Nachdem er als Transportarbeiter und von 1949 bis 1950 im Jugendgefängnis Köpenick tätig war, kam er 1951 zur Volkspolizei. Zur Zeit seiner Anwerbung im August 1954 durch die Abt. VII arbeitete er mit dem Dienstgrad eines VPHauptwachtmeisters im Strafvollzug, wo er speziell auf ehemalige SPD-
153 Zur Biografie und Hintergrundgeschichte des Fall Bialeks vgl. Herms/Noack: Aufstieg, S. 35–42. 154 Vgl. Beschluss, HA V/2, 7.3.1955. BStU, MfS, AOP 535/56, S. 10 f.; Schlussbericht, HA V/2, 12.4.1955. Ebenda, S. 116–119; Vorschlag, HA V/2, 14.5.1955. Ebenda, S. 121; Schlussbericht, HA V/2, 31.7.1956. Ebenda, S. 155; Schreiben, SPD Flüchtlingsbetreuungsstelle Ost, 14.7.1954. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 32–34; Treffbericht, HA V/2, 9.5.1955. Ebenda, S. 76 f.; handschriftliche Verpflichtung, Martin Damaschke, 22.5.1955. Ebenda, S. 81; Bericht, HA V/2, 29.6.1955. Ebenda, S. 118–121; Treffbericht, HA V/2, 13.7.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 157–159; Bericht, GM »Albert«, 29.9.1955. Ebenda, S. 350 f.; Berichte, GM »Albert«, 8.10.1955– 24.1.1956. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 11–13, 35–37, 44–46, 102–106, 146–150, 158–160, 173–181, 237–242.
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Angehörige angesetzt werden sollte.155 Rasch bewährte sich »Fritz Vogelsdorf« als GI, indem er Berichte und Charakteristiken über seine Kollegen lieferte.156 Als VP-Angehöriger und Mitarbeiter im Strafvollzug bot sich dem MfS mit dem GI »Fritz Vogelsdorf« ein idealer ›Lockvogel‹ für Robert Bialek vom SPDOstbüro. Die zuständige Hauptabteilung V/2 nutzte ihren GM »Albert«, um den zum GM umgruppierten »Fritz Vogelsdorf« in das SPD-Ostbüro einzuschleusen. Beide GM kannten sich von der gemeinsamen Dienstzeit in der Haftanstalt Berlin-Rummelsburg, doch »Fritz Vogelsdorf« wusste nichts über die IM-Tätigkeit seines ehemaligen Kollegen. Brav berichtete er dem MfS also im Juli 1955, dass ein geflohener Kollege zu ihm Kontakt aufgenommen und ihn nach West-Berlin eingeladen habe. Ausgestattet mit genauen Verhaltensrichtlinien baute »Fritz Vogelsdorf« den Kontakt auf und berichtete fortan über »Albert« und später auch über Bialek, als er diesen durch »Albert« kennengelernt hatte.157 Ebenso informierte »Albert« das MfS über seine Treffen mit »Fritz Vogelsdorf« und den Verbindungsaufbau zwischen »Fritz Vogelsdorf« und Bialek158 – das MfS hatte damit ein recht wirksames Kontrollinstrument. Wann sie sich ihre inoffizielle Zusammenarbeit mit der DDRStaatssicherheit gegenseitig offenbarten respektive offenbaren durften, geht aus den MfS-Unterlagen nicht hervor. Die gegen das SPD-Ostbüro gerichtete Entführung des Robert Bialek macht deutlich, wie das MfS den Wissensdurst auf westlicher Seite nutzte, um seine IM an die späteren Entführungsopfer heranzubringen. Ein ähnliches Vorgehen zeigt sich auch im Entführungsfall Erwin Neumann vom Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen (UFJ). Über eine Sekretärin in der Berliner Geschäftsstelle des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen gelang es dem MfS Ende des Jahres 1956, den GM »Weitzel« mit dem UFJHauptabteilungsleiter Siegfried Mampel in Verbindung zu bringen. Nach einigen Zusammentreffen vermittelte ihn dieser im September 1957 wiederum an Erwin Neumann, der im UFJ für wirtschaftliche Angelegenheiten zuständig war. Denn »Weitzel« wollte angeblich über seine Arbeitsstelle »Exportgesell-
155 Vgl. Auszug aus der Personalakte, 12.4.1954. BStU, MfS, AIM 667/59, P-Akte, S. 15–17; Vorschlag, Abt. VII, 12.6.1954. Ebenda, S. 63. 156 Vgl. Beurteilung, Abt. VII, 2.10.1954. BStU, MfS, AIM 667/59, P-Akte, S. 71; Beurteilung, Abt. VII/3, 1.6.1955. Ebenda, S. 78; Berichte, GI »Fritz Vogelsdorf«, 25.8.1954–8.7.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 7–32 . 157 Vgl. Beschluss, Abt. VII, 19.10.1955. BStU, MfS, AIM 667/59, P-Akte, S. 80; Treffnotiz, Abt. VII/3, 22.7.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 35–37; Berichte, GM »Fritz Vogelsdorf«, 4.8.1955– 9.12.1955. Ebenda, S. 39–121; Treffbericht, HA V/2, 13.7.1955. BStU, MfS, AIM 442/57, A-Akte Bd. 1, S. 157–159 . 158 Vgl. Berichte, GM »Albert,« 26.7.1955–15.9.1955. BStU, MfS, AIM 442/57, A-Akte Bd. 1, S. 216 f., 227–229, 299 f.; Berichte, GM »Albert«, 8.10.1955–5.12.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 11–13, 35–37, 44–46, 51 f., 102–106, 146–150, 158–160.
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schaft für Wirkwaren und Raumtextilien« (Wiratex) sprechen.159 Unter diesem Vorwand lernte er Neumann kennen und baute in den folgenden Monaten eine freundschaftliche Beziehung zu ihm auf. »Weitzel« war bereits im Oktober 1954 im Alter von 25 Jahren zur inoffiziellen Mitarbeit angeworben worden, nachdem er unaufgefordert Informationen über eine »Republikflüchtige« und eine Freimaurerloge in Dresden an das MfS geliefert hatte. Zu dieser Zeit studierte er an der Hochschule für Planökonomie in Karlshorst, nachdem er bereits die Textilingenieurschule in Forst absolviert hatte.160 Allerdings bemängelte die Abteilung V der MfS-Verwaltung Groß-Berlin in ihrem Anwerbungsvorschlag seine »mangelhafte gesellschaftliche Arbeit« und stellte fest: »Der Kandidat hat es infolge seiner bürgerlichen Herkunft schwer, in jeder Frage den Klassenstandpunkt des Proletariats zu vertreten.« Dieses Manko stellte jedoch kein Hinderungsgrund für eine Anwerbung dar. Denn zum einen schien er trotz allem »in den Grundfragen der Politik unserer Partei und Regierung […] fest zu unserer Sache« zu stehen. Zum anderen bot seine bürgerliche Herkunft in den Augen des MfS den Vorteil, dass er »sehr gute Verbindung zu bürgerlichen Kreisen nach Westberlin hat«.161 Dementsprechend heißt es im Schlussvermerk zur Anwerbung des GM »Weitzel«: »Die Hauptaufgabe des Kandidaten besteht darin, konkret führende Personen in Westberlin zu bearbeiten, mit diesen guten Kontakt [zu] halten und [zu] versuchen, diese in den demokratischen Sektor zu locken.«162 Ganz dieser Aufgabestellung entsprechend suchte GM »Weitzel« seit September 1957 den Kontakt zum UFJ-Mitarbeiter Erwin Neumann, dessen Freundschaft und Vertrauen er sich über das angeblich gemeinsame Interesse an Fotografien erschlich.163 Zufrieden registrierte die MfS-Hauptabteilung V im Juli 1958 kurz vor der Entführung: »Man kann ohne Übertreibung sagen, daß sich der GM Weitzel bestens auf die Eigenschaften und Mentalitäten des Neumann eingestellt hat, wodurch es möglich war, daß Neumann ihm ein großes Vertrauen entgegen bringt.«164 159 Vgl. Zeugenvernehmung Siegfried Mampel, Polizei, 25.8.1958. BStU, MfS, AP 21814/80, Bd. 1, S. 15–17. Vgl. Kühn: Entführung, S. 916. 160 Vgl. Vorschlag, Verwaltung Groß-Berlin Abt. V, 26.10.1954. BStU, MfS, AIM 6041/57, PAkte, S. 35–37. Vgl. Kühn: Entführung, S. 914 f. 161 Vorschlag, Verwaltung Groß-Berlin Abt. V, 26.10.1954. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 35–37. 162 Schlussvermerk, Verwaltung Groß-Berlin Abt. V, 29.10.1954. BStU, MfS, AIM 6041/57, PAkte, S. 39 f., hier 39. 163 Vgl. 15 Berichte, GM »Weitzel«, 2.11.1957–30.1.1958. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd. 1, S. 131–136, 142 f., 149–157, 174–177, 182–203, 214–217; Treffbericht, HA V/5, 15.11.1957. Ebenda, S. 138–141; Treffbericht, HA V/5, 28.11.1957. Ebenda, S. 158 f.; Treffbericht, HA V/5, 13.12.1957. Ebenda, S. 178–181; Treffbericht, HA V/5, 17.1.1958. Ebenda, S. 210–213; 18 Berichte, GM »Weitzel«, 11.2.–5.7.1958. Ebenda, Bd. 2, S. 8–13, 21–32, 40–50, 58–62, 68–76; Treffbericht, HA V/5, 27.2.1958. Ebenda, S. 17 f.; Treffbericht, HA V/5, 21.4.1958. Ebenda, S. 37–39; Treffbericht, HA V/5, 2.6.1958. Ebenda, S. 66 f. 164 Vorschlag, HA V/5, 24.7.1958. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 114–126, hier 117.
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Dieses Vertrauen missbrauchte »Weitzel«, um Neumann in eine Falle zu lokken und ihn im Auftrag des MfS im August 1958 nach Ost-Berlin zu entführen.165 Der Blick auf die Handlungsmilieus der 50 Entführer-IM offenbart einen wesentlichen Unterschied: Die IM des ersten Typs weisen zum großen Teil mit ihren kriminellen Hintergründen ein gemeinsames Handlungsmilieu auf. Das MfS nutzte ihre dort gemachten Erfahrungen für ihren (mitunter mehrfachen) Einsatz als Entführer. Die IM des zweiten und dritten Typs zeigen hingegen kein typisches Handlungsmilieu, sondern ihr Einsatz erfolgte gewissermaßen in Abstimmung mit dem Milieu des Entführungsopfers. Ähnliche Erfahrungen, Interessen oder Berufe boten die Möglichkeit, ein Vertrauensverhältnis zwischen IM und zu entführender Person aufzubauen und dieses für eine Verschleppung oder Entführung zu nutzen. Dieser Unterschied deutet bereits auf einen wesentlichen Aspekt des Werbungs- und Einsatzmusters des MfS bei seinen Entführer-IM hin. VI.5 Rekrutierungsmuster des MfS Das MfS rekrutierte seine IM in einem Prozess, der streng normiert war und zumeist in vier Schritten verlief. Nach der Auswahl des Kandidaten folgte eine Überprüfung, die bei zufriedenstellendem Ergebnis zur Kontaktaufnahme und Verpflichtung führte. Die Auswahl eines potenziellen IM war zielorientiert: Im Idealfall sollte ein IM für eine bestimmte, bereits relativ genau definierte Aufgabe rekrutiert werden. In diesem Zusammenhang achtete das MfS bei der gezielten Auswahl auf charakteristische Merkmale, aber auch auf gute Voraussetzungen für einen erfolgreichen Einsatz. Zum Beispiel sollten GMKandidaten über Verbindungen zu »feindlich« gesinnten Personen verfügen, um »besonders wertvolle Angaben über deren Spionage- und andere illegale, antidemokratische Tätigkeit zu beschaffen«.166 Die allgemeinen Erwartungen des MfS an einen inoffiziellen Mitarbeiter zeigen die Zwiespältigkeit der IMTätigkeit: Zuverlässigkeit, Anpassungsfähigkeit und Ehrlichkeit gegenüber dem MfS bei gleichzeitiger Bereitschaft zur Unehrlichkeit und zum Verrat gegenüber den Observierten. Nach der Auswahl eines potenziellen Kandidaten wurden (möglichst ohne sein Wissen) seine Eignung und seine möglichen Motive für eine Zusammenarbeit gründlich überprüft. Das MfS analysierte detailliert den bisherigen Lebensweg, Verhaltensweisen, Beziehungen, Einstel165 Erwin Neumann wurde im November 1959 zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Er starb im Juli 1967 in Isolationshaft. Vgl. Fallbeispiel 6 in Kapitel II.2; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1203 f. 166 »Richtlinie über die Erfassung der geheimen Mitarbeiter, der Informatoren und der Personen, die konspirative Wohnungen unterhalten«, 20.9.1950. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 1, S. 159–163, hier 159; Richtlinie 21, 20.11.1952. Gedruckt in: ebenda, S. 164–191, hier 165.
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lungen, Leistungen und Interessen des Kandidaten.167 Wenn eine Anwerbung lohnend und sicher erschien, nahm ein Führungsoffizier Kontakt zum Kandidaten auf und machte gegebenenfalls einen Rekrutierungsvorschlag. Nach Zustimmung des Vorgesetzten erfolgte die eigentliche »Anwerbung« des Kandidaten durch eine in der Regel schriftlich oder auch mündlich abgegebene Verpflichtung zur inoffiziellen MfS-Arbeit.168 Dieser Rekrutierungsprozess lässt sich auch bei vielen der 50 untersuchten Entführer-IM zumindest in Grundzügen beobachten. Bei der Auswahl der IM, die bei Entführungsaktionen zum Einsatz kommen sollten, zeigt sich jedoch zudem eine Besonderheit: Das MfS ließ sich von bereits angeworbenen Entführer-IM weitere potenzielle Kandidaten für derartige Einsätze empfehlen und rekrutierte seine Entführer also nach einer Art Schneeballsystem. Diese Art der Rekrutierung findet sich vor allem bei den Entführer-IM des ersten Typs, die als Spezialisten mitunter mehrfach und insbesondere für gewaltsame Entführungen eingesetzt wurden. Die Ausführungen zu den biografischen und sozialen Hintergründen der Entführer-IM haben gezeigt, welche Personen das MfS für den Einsatz als Entführer rekrutierte. Eine Rolle spielte das Alter: Die Mehrzahl der 50 untersuchten Entführer-IM (36 Personen) war bei ihrer Anwerbung respektive ersten Einsatz als Entführer für das MfS unter 40 Jahre alt. Der Anteil der 22bis 30-Jährigen und 31- bis 40-Jährigen ist in der Auswahl recht ausgewogen. Da das MfS in den 1950er Jahren Personen in diesem Alter für Entführungsaktionen anwarb, dürften die meisten von ihnen die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg als Jugendliche und (junge) Erwachsene erlebt haben – wie 32 der hier untersuchten 50 Entführer-IM. Interessanterweise findet sich bei keinem dieser IM in den MfS-Unterlagen ein Hinweis auf eine Mitgliedschaft in der NSDAP. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Wehrpflicht seit 1935 dienten 23 von ihnen in der Wehrmacht, zwei IM gehörten nach MfS-Angaben außerdem zeitweise der Waffen-SS an. Der Anteil an ehemaligen Wehrmachtssoldaten unter den männlichen Entführer-IM entspricht mit 46 Prozent ungefähr dem des hauptamtlichen MfS-Apparates, den Jens Gieseke auf 45 Prozent der männlichen MfS-Mitarbeiter schätzt. Seine Feststellung, dass es weder eine personelle Kontinuität zwischen NS-Terrororganisationen und dem hauptamtlichen Apparat des MfS, noch eine kaderpolitische Strategie zur Rekrutierung 167 In den 1950er und 1960er Jahren wurden die Vorgaben zur gründlichen »Aufklärung« allerdings nur grob erfüllt, die Praxis wich deutlich vom normativen Anspruch des MfS. Mit der Richtlinie 1/68 wurden die Prüfkriterien ausgeweitet und qualifiziertere Überprüfungen forciert. Das Problem, die anspruchsvollen Prüfkriterien zu realisieren, blieb jedoch bis zuletzt bestehen. Vgl. KerzRühling/Plänkers: Verräter, S. 14–16; Müller-Enbergs: Motivation, S. 105; ders.: IM 1, S. 98 f. 168 In der Verpflichtungserklärung war auch der zukünftige Deckname zu nennen, den der IM selbst wählen konnte. Vgl. Müller-Enbergs: IM 1, S. 91–107. Müller-Enbergs schildert hier detailliert wie sich die Normen für diese Arbeitsschritte im Werbungsprozess in den Richtlinien veränderten.
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von Geheimpolizeispezialisten aus NS-Institutionen gegeben habe, lässt sich auf die Entführer-IM übertragen.169 Schwach ausgeprägt war aber ebenso die personelle Kontinuität zu kommunistisch militanten Kreisen: Nur wenige Entführer-IM hatten Erfahrungen mit militanten Formen kommunistischer Politik, wie Straßen- und Saalschlachten in der Weimarer Republik oder Untergrundarbeit in der NS-Zeit. Vier IM gaben gegenüber dem MfS an, sich während der NS-Zeit an dem Untergrundkampf der KPD beteiligt zu haben. Immerhin waren insgesamt elf der 50 untersuchten IM in der Weimarer Republik in kommunistischen Verbänden und Organisationen aktiv, fünf gehörten der KPD an. Eine Affinität zum linken politischen Spektrum lässt sich unter den Entführer-IM also durchaus konstatieren und spiegelt sich auch in der Anzahl der SED-Mitglieder: Acht der Entführer-IM waren zur Zeit ihrer Anwerbung Mitglied der SED. Dabei muss berücksichtigt werden, dass nur die Hälfte der analysierten Entführer-IM aus der DDR kam. Die Mitgliedschaft in der SED war jedoch kein ausschlaggebendes Kriterium für die Anwerbung eines Entführer-IM. Zwar legte das MfS großen Wert auf eine politisch »positive«, zumindest loyale Haltung ihrer Entführer-IM und versuchte, die IM in diesem Sinne politisch zu erziehen, denn die Zusammenarbeit auf Basis der »politisch-ideologischen Überzeugung« versprach mehr Sicherheit und Beständigkeit. Jedoch war gerade im Hinblick auf die Entführungsaktionen ein Problem, mit dem das MfS generell kämpfte, gravierend: SEDMitglieder verkehrten zumeist nicht in den Kreisen, die für das MfS »operativ« interessant waren, und eigneten sich aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft oftmals gerade nicht für den Einsatz im Westen. Das vornehmlich westliche Einsatzgebiet der Entführer-IM führte zur gezielten Anwerbung von Westbürgern, da diese zwei Vorteile boten: Zum einen konnten sie mitunter besser den Kontakt zum Entführungsopfer aufbauen oder hatten einen solchen bereits. Zum anderen konnten sie sich unauffälliger in der geteilten Stadt Berlin und über die Sektorengrenze bewegen. Fast die Hälfte der 50 erfassten Entführer-IM lebte zur Zeit ihrer Anwerbung in WestBerlin oder der Bundesrepublik, darunter sechs IM, die kurz zuvor aus der DDR geflohen waren. Auffällig ist zudem der mit fast 56 Prozent hohe Anteil an Westbürgern unter den Entführer-IM des ersten Typs. Die überwiegend bei gewaltsamen Entführungen, mitunter mehrfach eingesetzten Spezialkräfte stammten demnach zum großen Teil aus West-Berlin.170 Als kaum ausschlaggebend für eine Anwerbung erweisen sich der Bildungsgrad oder die soziale Herkunft der untersuchten Entführer-IM, mit einer bedeutenden Ausnahme: die berufliche Situation der IM zur Zeit der Kontaktaufnahme und Verpflichtung durch das MfS. Zu diesem Zeitpunkt befanden 169 Vgl. Gieseke: Erst braun, S. 138, 147. 170 Nur einer der 15 West-IM kam aus der Bundesrepublik.
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sich nur 20 der 50 Entführer-IM in festen, geregelten Arbeitsverhältnissen. Die Mehrheit der 50 untersuchten Entführer-IM war hingegen erwerbslos, kriminell aktiv oder inhaftiert, bei den Entführer-IM des ersten Typs betraf dies fast 81 Prozent. Sie erhielten das Angebot einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS demnach in einer Situation, die mutmaßlich von finanziellen Schwierigkeiten geprägt war. Die Auswirkungen dieses Rekrutierungsmusters zeigten sich in den Motivstrukturen der Entführer-IM, wie im Kapitel VII veranschaulicht wird. Von entscheidender Bedeutung bei der Auswahl der Entführer-IM war für das MfS das Handlungsmilieu der Anzuwerbenden. Bei den Entführer-IM des ersten Typs, die das MfS speziell für mitunter gewalttätige Einsätze in WestBerlin und in der Bundesrepublik verpflichtete und mehrfach einsetzte, handelte es sich hierbei größtenteils um ein kriminelles Milieu. Rund 74 Prozent der Entführer-IM dieses Typs hatten zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung bereits eine oder mehrere Vorstrafen. Drei der 26 IM dieses Typs wurden sogar in der Haft angeworben und speziell für ihren Einsatz freigelassen. Sie brachten die für ihr Einsatzgebiet notwendige Skrupellosigkeit, Gewaltbereitschaft sowie das ›technische Knowhow‹ mit und bewegten sich in einer »Halbwelt zwischen Spionage- und Kriminalmilieu«.171 Bei der Rekrutierung der Entführer-IM des zweiten und dritten Typs spielte hingegen ein anderer Aspekt die tragende Rolle: eine bestehende Vertrauensbeziehung zum Opfer oder die Möglichkeit, eine solche aufzubauen. Der Einsatz eines IM hing folglich davon ab, ob er Anknüpfungspunkte in seiner Biografie, seinem Beruf oder sozialem Umfeld anzubieten hatte, welche die Basis für eine Kontaktaufnahme und/oder Freundschaft bilden konnten. Für ihren Auftrag, das Vertrauen des späteren Entführungsopfers zu gewinnen und zu missbrauchen, benötigten diese IM zwar auch eine gewisse Skrupellosigkeit, aber keine kriminellen Erfahrungen. Ins Blickfeld kommen hierbei auch die wenigen Frauen unter den EntführerIM, die bei den Verschleppungs- und Entführungsaktionen als eine Art ›Lockvogel‹ fungierten.172 Bei vielen Entführungsaktionen organisierte das MfS ein Zusammenspiel von einem als ›Lockvogel‹ agierenden IM und Einsatzkräften, welche die eigentliche Entführung übernahmen. Die im ersten Hauptteil der Studie dargestellten Fallbeispiele veranschaulichen dies ausführlich. Zusammenfassend lassen sich im Wesentlichen also zwei verschiedene Rekrutierungsmuster für die drei Typen der Entführer-IM erkennen. Die als Spezialkräfte mitunter mehrfach bei Entführungen eingesetzten IM wurden vor allem vor dem Hintergrund ihres kriminellen Handlungsmilieus und ihrer von Erwerbslosigkeit geprägten Lebensumstände verpflichtet. Die Rekrutierung erfolgte dabei oft nach einer Art Schneeballprinzip, indem bereits ange171 Bästlein: Fall Mielke, S. 275. 172 Bei 4 der 5 erfassten weiblichen IM war dies der Fall.
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worbene IM weitere Einsatzkräfte empfahlen. Dreh- und Angelpunkt der Anwerbungsstrategie bei den Entführer-IM des zweiten und dritten Typs war hingegen ein bestehendes Vertrauensverhältnis zum späteren Entführungsopfer oder die Möglichkeit, ein solches aufzubauen. Zu diesem Zweck spannte das MfS Bekannte, Freunde oder gar Familienangehörige ein oder warb Personen an, die spezielle Anknüpfungspunkte in ihrer Biografie oder ihren Lebensumständen boten. Diese unterschiedlichen Rekrutierungsmuster spiegeln sich in den Mentalitäten und Motivstrukturen der Entführer-IM wider.
VII. Mentalitäten und Motivstrukturen Die Hauptaufgabe der inoffiziellen Mitarbeiter im MfS-Apparat war laut Wörterbuch der Staatssicherheit die »Gewinnung operativ bedeutsamer Informationen«.173 Je nach Art ihrer Berichte konnten die IM mehr oder weniger erahnen, welche Folgen ihre an das MfS gegebenen Informationen für den Bespitzelten haben konnten. Nach 1989 rechtfertigten sich viele der enttarnten IM, dass sie ›nur‹ Informationen geliefert und niemandem geschadet hätten. Sicherlich diente diese Rechtfertigungsstrategie auch vor 1989 einigen IM zur Beruhigung des eigenen Gewissens.174 Die Entführer-IM konnten sich dahinter nicht verstecken: Sie lieferten dem MfS nicht nur Informationen, sondern Menschen aus – in dem Wissen, dass diese in der DDR bestraft werden. Ihre IM-Arbeit hatte eine andere ›Qualität‹: Sie erforderte eine noch skrupellosere Bereitschaft zum Verrat und in vielen Fällen auch die Bereitschaft zu delinquentem und gewaltsamen Handeln. Dass dieses im Auftrag eines staatlichen Organs erfolgte, dürfte das Unrechtsbewusstsein zögernder Entführer-IM beruhigt haben. Zwar dürfte den meisten Entführer-IM die Illegalität ihres Handelns – nicht zuletzt angesichts der umfangreichen Geheimhaltungsmaßnahmen des MfS – nicht verborgen geblieben sein, aber der Rechtfertigungsmechanismus funktionierte trotzdem. Bei Bedarf leisteten die zuständigen Führungsoffiziere Überzeugungsarbeit hinsichtlich der Notwendigkeit und Richtigkeit der Aktion. Das Bewusstsein, im Auftrag eines staatlichen Organs zu handeln, also an staatlicher – wenn auch illegitimer – Gewalt zu partizipieren, wirkte in der Frage nach der eigenen Verantwortung entlastend und dien-
173 Vgl. Stichwort »Inoffizieller Mitarbeiter; Einsatzrichtung, individuelle«, in: Suckut: Wörterbuch der Staatssicherheit, S. 185. 174 Vgl. Sabine Gries: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR: Täter oder Opfer? In: Lothar Mertens, Dieter Voigt (Hg.): Opfer und Täter im SED-Staat. Berlin 1998, S. 169–198.
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te als Rechtfertigung des eigenen Handelns.175 Unter den Entführer-IM gab es allerdings auch solche, für die die Frage der Legitimität ihrer Tätigkeit unerheblich war. Sie suchten und fanden in dem DDR-Staatsicherheitsapparat vielmehr einen lukrativen Auftraggeber, der ihre materiellen Interessen befriedigte. In den MfS-Unterlagen vieler Entführer-IM tauchen immer wieder die Attribute Mut und (kaltblütige) Entschlossenheit auf – sie waren in den Augen des MfS anscheinend die richtige mentale Basis für die im »Operationsgebiet« durchzuführenden Aufträge. So vermerkte das MfS zu seinem GM »Simon«, der 1951 an einer Verschleppung beteiligt war: »Er ist eine kräftige, gutaussehende Figur und traut sich zu, mit jeder, ihm noch so gross und kräftig erscheinenden Person, seine Kräfte zu messen.«176 In ihrem Vorschlag zur Anwerbung des im Juni 1952 verpflichteten GM »Boxer«, der zu den Entführern von Walter Linse gehörte, hob die Hauptabteilung V hervor: »Sagt er einmal zu einer Sache ja, dann ist er bemüht, sich mit ganzer Kraft für diese einzusetzen. Er ist Boxer. Er besitzt Mut und Draufgängertum, ohne damit besonders anderen Personen gegenüber aufzutreten und zeigt seine Stärke und Gewandheit nur dann, wenn dies unbedingt notwendig ist.«177 Die Hauptabteilung II/1 charakterisierte einen Westberliner, der 1956 im Auftrag des MfS zwei Entführungsaktionen durchführte, als »sehr kaltblütig und mutig«. Mit dem Hinweis auf sein »besonderes Talent für Aufgaben, bei denen evtl. Gewaltanwendung notwendig ist«178, erfolgte im Juli 1957 seine Anwerbung als GI »Neuhaus« für die Hauptabteilung II, nachdem er eineinhalb Jahre als KP registriert war. Dort lobte man auch in späteren Jahren immer wieder seinen Mut, seine Entschlossenheit und besonderen Fähigkeiten »auf dem Gebiet der aktiven Maßnahmen«179. Von zentraler Bedeutung waren der Befehlsgehorsam und die Bereitschaft, alle Aufträge auszuführen – notfalls auch unter Gefährdung der eigenen Person.180 »W. kennt keine Angst. Er ist bereit, jeden Agenten aus dem Westen
175 Vgl. Imbusch: Gewaltbegriff, S. 36, 43 f.; Nunner-Winkler: Gewaltbegriff, S. 28. Vgl. Begriff der »partizipatorischen Gewalt« von Akteuren bei Massengewalt. Vgl. Christian Gerlach: Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. München 2011, S. 10 f., 46. 176 Bericht, Abt. VIII, 25.10.1952. BStU, MfS, AIM 715/57, P-Akte, S. 18 f., hier 19. 177 Vorschlag, Abt. V, 29.5.1952. BStU, MfS, AIM 2559/63, P-Akte, S. 15. 178 Vorschlag, HA II/1b, 12.7.1957. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 183–185, hier 185. 179 Einschätzung, MfS, o. D. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 13; vgl. Einschätzung, HA II/SR 3, 14.7.1959. Ebenda, S. 21 f.; Auskunftsbericht, HA II/4, 19.8.1961. Ebenda, S. 26–28, hier 27; Beurteilung, HA II/4a, 2.3.1960. Ebenda, S. 205; Bericht, HA II/1b, 18.7.1957. Ebenda, S. 273. 180 Z. B. GI »Friedrich«, der im November 1954 angeworben wurde und an 2 Entführungen beteiligt war. Vgl. Beurteilung, HA II/1, 22.9.1955. BStU, MfS, AIM 2275/55, P-Akte, S. 69 f.; Bericht, Abt. VIII, 25.10.1952. BStU, MfS, AIM 715/57, P-Akte, S. 18 f., hier 19.
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oder aus Berlin zu holen. […] Er macht überhaupt nur das gern, was mit Gefahren verbunden ist. Für ihn ist überhaupt erst eine Arbeit interessant wenn sie kompliziert ist«181, beurteilte ein MfS-Mitarbeiter seinen GM »Wenig«. Dieser war 1950/51 an einer Entführung maßgeblich beteiligt und führte in den folgenden Jahren viele Aktionen für das MfS im Westen durch, darunter auch einen Sprengstoffanschlag auf den saarländischen Ministerpräsidenten im Februar 1955. In den Augen des MfS zeichnete auch er sich durch Mut und kaltblütige Entschlossenheit aus.182 Die MfS-Unterlagen können nur begrenzte Einblicke in die Mentalitäten der erfassten Entführer-IM vermitteln, die sich aus den vielfältigen »sozialen, kulturellen und generationellen Sozialisationserfahrungen und Prägungen«183 individuell zusammensetzen. Die genauere Betrachtung der Motive, die ihrer mitunter brutalen IM-Arbeit zugrunde lagen, ebnet hier einen Weg. Sie veranschaulichen die Zweck- und/oder Wertrationalität ihres Einsatzes von Gewalt oder ihrer Denunziation.184 Basierte ihre Tatbeteiligung auf der Verfolgung eigener Interessen und Vorteile und/oder dem Glauben an die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit der Entführung? Das Ansehen des MfS in der DDR-Gesellschaft war alles andere als positiv: Es wurde als allmächtig und fast allwissend gesehen, galt aber auch als abstoßend und anrüchig. Diese gesellschaftliche Stigmatisierung war ein Hindernis bei der Anwerbung. Auf der Suche nach den Beweggründen derjenigen, die sich dennoch zur Arbeit als IM verpflichteten, stößt man auf ein komplexes Bündel an Motiven.185 Die Frage »Was treibt den Spion?«186 beschäftigte auch den DDR-Staatssicherheitsapparat, wie ein Blick auf die normativen Grundlagen des MfS zum Umgang mit seinen IM verrät. In diesen IM-Richtlinien wurden die Motive der IM indirekt thematisiert, indem die verschiedenen, auf die Motivation abgestimmten Anwerbungsstrategien nach Priorität aufgelistet und erläutert wurden. Folglich spiegeln sich in diesen Richtlinien, die die Erfahrungen aus der alltäglichen Praxis aufnahmen, auch Kontinuität und Wandel im normativen Umgang mit den Motiven (als Werbungsgrundlagen). 181 Charakteristik, MfS, 15.8.1953. BStU, MfS, AIM 1844/70, P-Akte Bd. 1, S. 76. 182 Vgl. Beurteilung, HA XV/A3, 29.2.1956. BStU, MfS, AIM 1844/70, P-Akte Bd. 1, S. 108; Beurteilung, MfS, 8.4.1953. Ebenda, S. 69; Auskunftsbericht, KD Dessau, 9.4.1954. Ebenda, S. 77– 79, hier 79; Bericht, Abteilung IV/MfS, 26.3.1964. Ebenda, Sonderakte, S. 24–56. 183 Hans-Ulrich Thamer: Zwischen zwei Diktaturen. Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Prozess der Diktatur. In: Thomas Großbölting, Hans-Ulrich Thamer (Hg.): Die Errichtung der Diktatur. Münster 2003, S. 11–20, hier 14. 184 Zum zweck- und wertrationalen Einsatz von Gewalt vgl. Nunner-Winkler: Gewaltbegriff, S. 49–53; Imbusch: Gewaltbegriff, S. 36. 185 Vgl. Kerz-Rühling/Plänkers: Verräter, S. 132; Müller-Enbergs: Motivation, S. 110 f.; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 124–127. 186 Vgl. Rüdiger Henkel: Was treibt den Spion? Spektakuläre Fälle von der »Schönen Sphinx« bis zum »Bonner Dreigestirn«. Berlin 2001.
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Bereits in der Richtlinie 21 »Über die Suche, Anwerbung und Arbeit mit Informatoren, geheimen Mitarbeitern und Personen, die konspirative Wohnungen unterhalten« vom 20. November 1952 differenzierte das MfS vier verschiedene Werbungsarten. An obersten Stelle rangierte die Anwerbung auf Basis der »politisch-ideologischen Überzeugung«, gefolgt von der Anwerbung »durch Druck«, die vor allem bei kriminellen Personen mit Erfolg verwandt werden könne. Als dritte Möglichkeit galt die »Überwerbung« von Agenten westlicher Geheimdienste und Institutionen. Personen, die sich selbst zur inoffiziellen Zusammenarbeit anboten, bildeten die vierte Werbungsgrundlage – versehen mit einem ausführlichen Hinweis, dass diesen jedoch mit besonderer Vorsicht begegnet werden müsse.187 Diese Richtlinie diente bis Ende der 1950er Jahre als normative Grundlage in der Arbeit mit DDR-IM wie auch mit West-IM. In den Jahren 1958 und 1959 folgte dann der Erlass getrennter Richtlinien, in denen hinsichtlich der Werbungsgrundlagen weitere Differenzierungen und verschiedene Gewichtungen vorgenommen wurden: In der Richtlinie 1/58 für die Arbeit mit IM im Gebiet der DDR tauchte an letzter Stelle eine neue Werbungsart auf: die »Werbung unter Ausnutzung materieller Interessiertheit«. Personen, bei denen keine Aussicht auf eine erfolgreiche Werbung durch »Überzeugung« bestand, sollten durch materielle Zuwendungen gewonnen werden. Die Hoffnung war in diesen Fällen, dass »mit der Zeit auch eine auf ideeller Basis beruhende Zusammenarbeit erreicht werden kann, wenn der dann so Angeworbene die Stärke und die siegreiche Zukunft des sozialistischen Lagers erkennt«. Auf Rang drei fand sich die »Werbung durch Druck«, allerdings umbenannt in »Werbung auf der Grundlage kompromittierenden Materials«. Diese Werbungsart sollte aber »nur bei feindlich oder negativ eingestellten Personen Anwendung finden, wenn andere Arten der Werbung nicht möglich sind bzw. erfolglos verlaufen würden«. Dabei gelte es zu beachten, dass das kompromittierende Material auch in der Bundesrepublik eine entsprechende Wirkung habe, um eine Flucht des IM-Kandidaten zu verhindern. Zu dieser Werbungsart zählte nun auch die »Überwerbung«, die als die schwierigste, aber auch sehr erfolgversprechende Methode ausgewiesen wurde. Die »Werbung durch politische Überzeugung« führte in der Richtlinie 1/58 wiederum die Rangliste der Werbungsarten an. Sie sollte »im tieferen Sinn« auf der »Lehre des Marxismus-Leninismus und auf Grund der Stärke und der siegreichen Zukunft des sozialistischen Lagers« basieren. Allerdings hatte man diese Werbungsart noch um eine zweite Variante ergänzt, für den Fall, dass »die zu werbende Person einer direkten Verpflichtung zur Zusammenarbeit 187 »Richtlinie 21: Über die Suche, Anwerbung und Arbeit mit Informatoren, geheimen Mitarbeitern und Personen, die konspirative Wohnungen unterhalten«, MfS, 20.11.1952. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 1, S. 164–191, hier 171–174.
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zunächst ablehnend gegenübersteht«. So sollten beispielsweise Angehörige der Intelligenz und Kirchenfunktionäre in einem längeren Prozess »durch allmähliches Heranziehen zur Mitarbeit« geworben werden.188 Die »Werbung durch politisch-ideologische Überzeugung« sollte laut Richtlinie 1/59 auch die »Hauptmethode der Anwerbung von inoffiziellen Mitarbeitern in Westdeutschland, Westberlin und im kapitalistischen Ausland« sein, da sie die »sicherste Basis« und »beste Gewähr für die Ehrlichkeit in der Zusammenarbeit« biete. Diese Werbungsart bedeute allerdings »in der Regel nicht Werbung überzeugter Marxisten«, sondern sei auch bei einer nur teilweisen Übereinstimmung in politischen Grundfragen möglich. Der Kreis möglicher IM-Kandidaten reiche daher von den »ehrlichen mit der DDR Sympathisierenden, den Friedensanhängern, Atomkriegsgegnern bis zu nationalistisch gesinnten Kräften«. Als zweite Werbungsart erschien in dieser Richtlinie bereits die »Werbung aufgrund materieller und persönlicher Interessiertheit«, gefolgt von der »Werbung auf der Grundlage kompromittierenden Materials« als dritte Methode. Diese bedürfe aber einer gründlichen Vorbereitung, die manchmal auch »die künstliche Herbeiführung kompromittierender Situationen« beinhalte.189 Dieser Reihenfolge schloss sich auch die Richtlinie 1/68 für DDR-IM an: »Aus den hauptsächlich bestimmenden Motiven ergeben sich folgende Werbungsarten: […] Werbung auf Grundlage der Überzeugung«, »Werbung auf der Grundlage persönlicher oder materieller Interessiertheit« und »Werbung zur Förderung des Wiedergutmachungswillens«. In dieser Richtlinie findet sich ebenso ein expliziter Hinweis, dass die Bereitschaft zur inoffiziellen Zusammenarbeit von mehreren Motiven getragen werde – diesen Umstand gelte es bei der Werbung zu beachten.190 Etwas detaillierter widmete sich die HV A diesem Aspekt in der Richtlinie für die West-IM aus demselben Jahr: »Die Grundlage der Werbung ist die Zusammenfassung der für die Bereitschaft des IM zur Zusammenarbeit wirksamen Motive und Beweggründe. Sie ergibt sich vor allem aus der Analyse des Persönlichkeitsbildes, der objektiven Lebensbedingungen und der konkreten politischen Situation.«191
In ihrer nächsten IM-Richtlinie 1979 sprach die HV A dann von einem »Motivationsgefüge«, in dem »im unterschiedlichen Maße politische Überzeugun-
188 »Richtlinie 1/58 für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik«, MfS, 1.10.1958. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 1, S. 195–239, hier 212–214. 189 Richtlinie 1/59, MfS, 17.6.1959. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 1, S. 290–340, hier 301 f. 190 »Richtlinie 1/68 für die Zusammenarbeit mit Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit und Inoffiziellen Mitarbeitern im Gesamtsystem der Sicherung der Deutschen Demokratischen Republik«, MfS, Januar 1968. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 1, S. 242–282, hier 265–268. 191 IM-Richtlinie 2/68, MfS, Januar 1968. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 2, S. 352–388, hier 359.
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gen, materielle und sonstige persönliche Interessen und Bedürfnisse wirksam« seien.192 Die Frage nach den Motiven der IM war auch Forschungsgegenstand an der MfS-Hochschule, wo der Analytiker Manfred Hempel im Jahre 1967 seine Dissertation mit dem Titel »Die Wirkung moralischer Faktoren im Verhalten der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit den Organen des Ministeriums für Staatssicherheit« einreichte.193 Im Rahmen dieser Studie hatte er eine »repräsentative Auswahl« von IM der Bezirksverwaltung Potsdam mittels Fragebogen über die Motive ihrer IMTätigkeit befragt und im Ergebnis gezeigt, dass beim überwiegenden Anteil der IM »politisch-ideologische Faktoren« ausschlaggebend waren. So nannten 60,5 Prozent aller befragten IM das »Erkennen des gesellschaftlichen Erfordernisses« und 49,1 Prozent ein »sittliches Pflichterleben und Gewissenszwang« als Motiv für ihre inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS. In der Gruppe der SED- oder Blockparteien-Mitglieder unter den IM lag der Anteil dieser Faktoren mit 83 bzw. 55,5 Prozent und 68,5 bzw. 42,1 Prozent noch wesentlich höher. Unter den parteilosen IM sahen hingegen nur 41,2 Prozent ihre IM-Arbeit als »gesellschaftliches Erfordernis« und 31,2 Prozent als »sittliches Pflichterleben«. Fast 40 Prozent aller Befragten gaben »lebenspraktische Zielsetzungen«, 27,4 Prozent persönliche »Vorteilserwägungen« und 11,9 Prozent »Selbstzweckmotivationen« an. Als »unerwartet hoch« stufte Hempel den Anteil derer ein, die als Hauptmotiv »Druck- und Zwangserlebnisse« anführten: 23,4 Prozent. Zudem nannten 22,1 Prozent diesen Faktor als Nebenkomponente ihrer Motivation.194 DDR-IM entschieden sich demnach größtenteils aus ideellen Motiven für eine inoffizielle Zusammenarbeit, auch wenn persönliche und materielle Interessen sowie Druck- und Zwangserlebnisse ebenso eine Rolle spielten. Die Werbung unter Druck oder Zwang war bei den West-IM ein weitaus selteneres Motiv, da das MfS hier bedeutend weniger Möglichkeiten hatte, die Furcht vor negativen Konsequenzen zu schüren. Weit weniger als ein Prozent (0,3)
192 IM-Richtlinie 2/79, MfS, 8.12.1979. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 2, S. 471–513, hier 479. 193 Vgl. Manfred Hempel: Die Wirkung moralischer Faktoren im Verhalten der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit den Organen des Ministeriums für Staatssicherheit. Potsdam 1967. BStU, MfS, JHS Nr. 21775. 194 Vgl. Manfred Hempel: Die Wirkung moralischer Faktoren im Verhalten der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit den Organen des Ministeriums für Staatssicherheit. Potsdam 1967. BStU, MfS, JHS Nr. 21775, S. 83–85, 94 f. Zit. in: Müller-Enbergs: IM 3, S. 107 f. Vgl. ders.: Motivation zur nachrichtendienstlichen Arbeit, S. 157–159; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 125, 127.
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der West-IM wurden »unter Druck«195 geworben, wie Helmut Müller-Enbergs nach einer umfassenden Auswertung der Statistikbögen der HV A mit Stand vom Dezember 1988 feststellt. Die Mehrzahl der geworbenen Bundesbürger (54,2 bis 67,8 %) gab ebenfalls »politisch-ideologische Überzeugung«196 und 17 bis 28 Prozent materielle Interessen als ausschlaggebendes Motiv für ihre IM-Tätigkeit an. »Persönliche Zuneigung zur Bezugsperson«197 führte bei 7 bis 12 Prozent zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS. Bei 3 bis 5 Prozent unterlag die Anwerbung einer Irreführung durch das MfS, indem der West-IM »unter falscher Flagge«198 geworben wurde.199 Obwohl die HV A von einem »Motivationsgefüge« ausging, ordnete sie ihren West-IM in diesen statistischen Auswertungen jeweils nur ein Motiv als primären Ausgangspunkt zu und nur gelegentlich eine Kombination aus zwei Motiven. Weiterführende Erkenntnisse liefert daher die Motivationsanalyse von Georg Herbstritt in seiner Studie über 499 West-IM, gegen die in den 1990er Jahren bundesdeutsche Ermittlungsverfahren liefen. Nach Herbstritt nahmen finanzielle Interessen einen großen Raum in dem mehrschichtigen Motivationsgefüge dieser West-IM ein. Sie seien zwar nur bei 15 Prozent das primäre Einstiegsmotiv gewesen, aber im Laufe ihrer Agententätigkeit hätten 80 bis 90 Prozent dieser West-IM regelmäßig Geldzuwendungen erhalten, die ihren Zweck erfüllt hätten: Sie vertieften die Abhängigkeit der IM vom Staatssicherheitsapparat. Nur etwa 10 Prozent der West-IM hätten ohne Agentenlohn oder anderweitige materielle Interessen für das MfS gearbeitet. Der Anteil der Idealisten, die politisch motiviert und ohne eigene Bereicherung irgendeiner Art handelten, liege sogar nur bei 6 Prozent. Insgesamt hätten zwar etwa ein Drittel bis die Hälfte dieser West-IM ihre Spitzelarbeit auch aus politischer »Überzeugung« im weitesten Sinne ausgeübt, allerdings sei diese bei den meisten nur ein Motiv in einem zumeist finanziell geprägten Motivbündel gewesen. Ferner habe über ein Viertel der 499 West-IM (27,1 %) in den Ermitt195 Umstände, die zur Erpressung genutzt werden konnten, waren Gesetzesübertretungen, Steuerhinterziehung, moralische Fehltritte oder die Unterstellung einer MfS-Tätigkeit. Diese Vorwürfe mussten nicht der Realität entsprechen. Vgl. Müller-Enbergs: IM 2, S. 138. 196 Politische Motive hatten nicht unbedingt die Form einer bedingungslosen Übereinstimmung mit dem DDR-System, sondern standen z. T. im Kontext patriotischer Gefühle oder der Unzufriedenheit über Entwicklungen in der Bundesrepublik. Vgl. Müller-Enbergs: IM 2, S. 135–138. 197 Damit ist ein mitunter intimes Vertrauensverhältnis zwischen Kontaktperson und Führungsoffizier bzw. Instrukteur gemeint. 198 Bei dieser Methode sollte der IM-Kandidat nicht merken, für wen er tatsächlich arbeitet. Sie wurde sowohl bei anzuwerbenden DDR- als auch bei BRD-Bürgern angewandt. Vgl. Müller-Enbergs: IM 1, S. 139–142. 199 Da in den Statistikbögen zum Teil ein Motiv, teilweise jedoch auch Motivkombinationen genannt werden, lassen sich nur Größenordnungen angeben. Dabei markiert der untere Wert den Anteil derer, bei denen das jeweilige Motiv als alleiniger Beweggrund angegeben wurde. Nach MüllerEnbergs enthalten die Daten einen vergleichsweise hohen Plausibilitätsgehalt. Vgl. Müller-Enbergs: IM 3, S. 109–113.
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lungsverfahren angegeben, sich vom MfS unter Druck gesetzt gefühlt zu haben. Herbstritt kommt nach Auswertung der Akten jedoch zu dem Ergebnis, dass die Bereitschaft zur IM-Tätigkeit nur bei vier West-IM (0,8 %) tatsächlich erpresst wurde. In diesem Zusammenhang müsse allerdings das subjektive Empfinden berücksichtigt werden, das zum Teil nicht dokumentiert sei: Auch im Westen willigten manche IM-Kandidaten aus Furcht vor negativen Konsequenzen ein, obwohl diese Angst meist unbegründet war. Herbstritt benennt außerdem ein Motiv, das in den Statistikbögen der HV A nicht auftauche, aber in 28 der 499 Fälle (5,6 %) im Ermittlungsverfahren als erstrangig genannt worden sei: die Abenteuerlust.200 Sie motivierte auch einige EntführerIM, deren Beweggründe im Folgenden beleuchtet werden sollen. Eine Analyse der Motivstrukturen der erfassten IM muss sich ihrer Grenzen bewusst sein: Sie basiert nicht auf individuellen psychoanalytischen Untersuchungen, sondern auf Aktenmaterial des MfS und der bundesdeutschen Ermittlungsbehörden, deren Wahrnehmungen und Aufzeichnungen in bestimmten Funktionszusammenhängen und Absichten erfolgten.201 Darüber hinaus verweist Herbstritt in seiner Studie zu Recht auf ein generelles Problem: »Denn die Komplexität der Handlungsmotive, ihre Abhängigkeit von äußeren Umständen, von subjektiven Faktoren und ihre Veränderbarkeit über einen längeren Zeitraum entziehen sich letztlich einer […] rein formalen Betrachtungsweise und sind immer nur ausschnittsweise quantitativ zu erfassen.«202 Trotz dieser Einschränkung lassen sich jedoch aussagekräftige Tendenzen im Motivationsgefüge der Entführer-IM herausarbeiten. Zur besseren Darstellungsmöglichkeit werden zu diesem Zweck wiederum einzelne Motive auf ihre Häufigkeit hin untersucht. Welchen Stellenwert der einzelne Beweggrund in den Motivstrukturen der als Entführer agierenden IM eingenommen hat, kann nur tendenziell festgestellt werden. VII.1 »Politische Überzeugung« und ideelle Motive Die Anwerbung von inoffiziellen Mitarbeitern auf Basis der »politischideologischen Überzeugung« besaß im Staatssicherheitsapparat den obersten Stellenwert. Bis Mitte der 1950er Jahre appellierte die MfS-Führungsetage mehrmals an die Führungsoffiziere, mehr Anwerbungen auf ideologischer
200 Im Unterschied zu Helmut Müller-Enbergs, der sich auf Statistiken und Analysen des MfS stützt, basieren Georg Herbstritts Forschungsergebnisse auf Aussagen von angeklagten ehemaligen IM in Ermittlungsverfahren nach 1990. Vgl. Herbstritt: Bundesbürger, S. 252, 258, 261, 263 f., 267 f. 201 Vgl. Herbstritt: Bundesbürger, S. 254; Helmut Müller-Enbergs: Aktenlage und persönliche Aussagen der Interviewten. In: Ingrid Kerz-Rühling, Thomas Plänkers: Verräter oder Verführte. Berlin 2004, S. 151–194, hier 152. 202 Herbstritt: Bundesbürger, S. 251.
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Grundlage vorzunehmen.203 In der IM-Richtlinie 1/58 wurde die Werbung »durch politische Überzeugung« als »wichtigste und hauptsächlichste« Werbungsart genannt.204 Denn die Zusammenarbeit aus »politisch-ideologischer Überzeugung« galt sowohl für die IM des Abwehr- als auch des Aufklärungsbereichs im MfS als die sicherste und beständigste Grundlage. Inwieweit politische Ideale und Überzeugungen einzelne Entführer-IM tatsächlich motivierten, kann anhand der MfS-Akten nur bedingt herausgearbeitet werden.205 Da die entsprechenden Angaben größtenteils auf den Einschätzungen der operativen Mitarbeiter des MfS beruhen, sind sie nicht unproblematisch. Bereits in der Phase der Anwerbung versuchten die MfS-Mitarbeiter mit allen Mitteln, den IM-Kandidaten von der politischen Notwendigkeit der MfS-Arbeit zu überzeugen und Interessensidentitäten zu schaffen. Häufig waren dabei »die Grenzen zwischen Überzeugung, Suggestion und Manipulation fließend«.206 Die erfolgreiche Anwerbung wurde dann jedoch unter »politisch-ideologische Überzeugung« verbucht. Zudem führte der Umstand, dass die Werbung und Zusammenarbeit auf Basis der »politischen Überzeugung« im Staatssicherheitsapparat als erstrebenswert galt, bei so manchem Führungsoffizier vermutlich zum bevorzugten Griff nach dieser Formulierung. Sichtbar wird das beispielsweise im Fall des GM »Bär«, der laut Beurteilung der Hauptabteilung II/4 im November 1955 »durch Überzeugung für das MfS geworben« worden war.207 Diese fünf Jahre nach der Verpflichtung des IM getroffene Einschätzung steht im Widerspruch zu den Berichten aus der Zeit seiner Anwerbung: Ausschlaggebend für den GM »Bär« war demnach zwar eine Art Wiedergutmachungswille, aber ebenso finanzielles Interesse und Bereitschaft zu deliquentem Verhalten. Zudem enthält die IM-Akte des 1924 geborenen Westberliners keinerlei Hinweise auf eine politische Nähe zum linken Parteienspektrum oder gar auf ein politisches Engagement.208 Die IM-Akten müssen also nach etwaigen Indizien, aber auch nach Widersprüchen untersucht werden. Ein Indikator für eine politische Motivation kann dabei zum Beispiel eine jahrelange Mitgliedschaft in der KPD oder SED sein. Im Ergebnis kann aller203 Eine Konsequenz war ein hoher Anteil an SED-Mitgliedern in den Reihen der IM. Ehemalige IM stellen heute die ideologischen Motivation oft als ihren Hauptbeweggrund dar. Der damit mögliche Bezug auf einen »politischen Irrtum« hat unverkennbar einen entlastenden Charakter. Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 124; Herbstritt: Bundesbürger, S. 268; Müller-Enbergs: IM 1, 2001, S. 108. 204 »Richtlinie 1/58 für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik«, MfS, 1.10.1958. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 1, S. 195–239, hier 212. 205 Vgl. Ausführungen zur politischen Orientierung der untersuchten Entführer-IM in Kapitel VI.2. 206 Herbstritt: Bundesbürger, S. 272. 207 Vgl. Beurteilung, HA II/4, 2.3.1960. BStU, MfS, AIM 3112/83, Bd. I/1, S. 133; Vorschlag, HA II/4, 13.2.1961. Ebenda, Bd. I/3, S. 91 f., hier 91. 208 Vgl. Einschätzung, HA III/3, 28.11.1955. BStU, MfS, AIM 3112/83, Bd. I/1, S. 15–18, hier 16; Ermittlungsbericht, Abt. VIII/IIa, 23.1.1956. Ebenda, S. 48 f., hier 48; Auskunftsbericht, HA II/1, 23.3.1956. Ebenda, S. 51–55, hier 55; Vorschlag, MfS, 5.9.1956. Ebenda, S. 65.
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dings nur aufgezeigt werden, bei wem eine »politische Überzeugung« mutmaßlich Teil der Motivstrukturen war, meistens ohne den Stellenwert dieses Motivs erfassen zu können. In 28 Fällen der 50 untersuchten Entführer-IM finden sich Hinweise auf politische Motive als Grundlage ihrer inoffiziellen Arbeit für das MfS. Dabei liegen bei den Entführer-IM des zweiten und dritten Typs die Anteile höher: Bei zehn der 14 IM des zweiten Typs (71,4 %) und bei sechs der zehn IM des dritten Typs (60 %) war eine Art »politischer Überzeugung« Bestandteil ihrer Motivstrukturen. Bei immerhin 12 der 26 Entführer-IM des ersten Typs (46,2 %) attestierte das MfS ebenfalls politische Beweggründe, aber sie dürften nur bei drei dieser IM das primäre Motiv gewesen sein. Bei acht dieser IM äußerte sich die »politische Überzeugung« in einer Zugehörigkeit zu kommunistischen Gruppierungen vor 1945 und/oder nach 1945. Ein Beispiel ist der 1950 geworbene GM »Wenig«, der von 1926 bis 1933 im kommunistischen Jugendverband aktiv war und 1949 Mitglied der SED wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint die Beurteilung des MfS nicht abwegig, dass er »vor allem zu jeder Zeit und überall für die Interessen der Arbeiterklasse und der Partei der SED eintritt. Er trägt in sich einen unversöhnlichen Haß gegen die Klassenfeinde.«209 Auch in späteren Beurteilungen wird stets auf die politischideologische und freiwillige Basis seiner Zusammenarbeit mit dem MfS hingewiesen.210 Der GM »Deckert« trat bereits 1946 der SED bei, wurde aber 1950 wegen Nichtzahlens der Mitgliedsbeiträge ausgeschlossen. Im Schlussbericht zu seiner Anwerbung vermerkte der zuständige MfS-Mitarbeiter im Oktober 1953: »In der Unterhaltung, welche geführt wurde, über die Zusammenarbeit mit den Organen der Staatssicherheit, nahm er eine gute Haltung ein. Er war damit einverstanden, dass die Bevölkerung mit den Sicherheitsorganen der DDR zusammenarbeiten muß, um Feinde unserer Entwicklung zu entlarven.«211
In den folgenden Berichten und Einschätzungen lobte das MfS immer wieder die große Einsatzbereitschaft und Aufopferung des GM »Deckert«.212 Offenbar handelte er hauptsächlich aus ideellen Motiven. Zwar bekam er materielle und finanzielle Unterstützung, aber diese scheint für ihn nicht ausschlaggebend gewesen zu sein. So lehnte er im September 1955 ein monatliches Gehalt von
209 Auskunftsbericht, KD Dessau, 9.4.1954. BStU, MfS, AIM 1844/70, P-Akte Bd. 1, S. 77–79, hier 78. 210 Vgl. Auskunftsbericht, Abt. III/4, 23.6.1958. Ebenda, S. 307–315, hier 312, 314; Einschätzung, Abt. IV/4, 28.12.1959. Ebenda, S. 357. 211 Schlussbericht, MfS, 10.10.1953. BStU, MfS, AIM 6805/61, P-Akte, S. 22. 212 Vgl. Beurteilung, MfS, 10.3.1955. Ebenda, S. 46; Bericht, HA II/4, 22.10.1956. Ebenda, A-Akte Bd. 3, S. 196–198, hier 186.
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400 DM ab.213 Und die Hauptabteilung II/4 hielt in zwei Auskunftsberichten explizit fest, dass er nicht zugunsten persönlicher Vorteile mit dem MfS zusammenarbeite.214 Als dieselbe Diensteinheit im Juni 1959 vorschlug, dem GM »Deckert« die Medaille »Für treue Dienste« in Bronze zu überreichen, betonte sie: »Der GM ist fest mit der Arbeiter- und Bauernmacht der DDR verwachsen.«215 Der 1929 geborene GM »Steffen« gehörte vor seiner Flucht 1953 nach West-Berlin vier Jahre der FDJ und drei Jahre der SED an. Ein halbes Jahr nach seiner Anwerbung im Januar 1954 konstatierte sein Führungsoffizier nach einem Treffen: »In der politischen Diskussion die etwa 1 Stunde dauerte, stellte ich fest, dass er noch nicht, trotz seiner Erfahrungen, die seine Familie in Westdeutschland hatte, sich von allen bürgerlichen Schlacken freigemacht hat. Man kann aber sagen, dass er gegen die Gesellschaftsordnung des Westens einen schweren Haß in sich trägt [...]«216
Am 23. März 1955, einen Tag bevor »Steffen« bei einer Entführung zum Einsatz kommen sollte, vergewisserte sich der Führungsoffizier bei einem Treffen, ob »Steffens« Entschlossenheit, das MfS »bei aktiven Maßnahmen zu unterstützen, echt und begründet« sei. Das Ergebnis dürfte das MfS zufriedengestellt haben: Im Gespräch versicherte »Steffen«, dass er »aus Überzeugung und für die erhaltene Unterstützung« mehr für die DDR-Staatssicherheit tun wolle.217 Beim nächsten Treffen am darauffolgenden Tag erhielt »Steffen« eine Prämie von 1 000 DM/West und die Mitteilung, dass »auf Grund seiner disziplinierten Arbeit« bei der Entführungsaktion seine Wiederaufnahme in die SED vom MfS befürwortet werde. Über diese Bekanntgabe soll sich »Steffen« – laut Bericht seines Führungsoffiziers – stärker beeindruckt und erfreut gezeigt haben als über die Geldprämie.218 Bereits wenige Tage später bewährte »Steffen« sich bei der Entführung von Karl Wilhelm Fricke. Das MfS registrierte, dass es der »größte Wunsch« des GM »Steffen« sei, Mitglied der SED zu werden und er sich bemühe, »sich politisch weiterzubilden und sein Bewusstsein zu festigen.« Nicht zuletzt durch die Entführungsaktion hatte er bewiesen, dass er »im Interesse unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates bereit ist, 213 Trotz des Kürzels DM handelt es sich hierbei vermutlich um die Währung der DDR, die bis 1964 als Deutsche Mark, dann bis 1968 als Mark der Deutschen Notenbank (MDN) und bis 1990 als Mark der DDR (M/DDR) bezeichnet wurde. Vgl. Vermerk, MfS, 13.9.1955. BStU, MfS, AIM 6805/61, P-Akte, S. 59; Auskunftsbericht, HA II/4, 28.5.1957. Ebenda, S. 122–126, hier 126; Bericht, MfS, 16.7.1954. Ebenda, S. 42. 214 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/4, 28.5.1957. BStU, MfS, AIM 6805/61, P-Akte, S. 122–126, hier 126; Auskunftsbericht, HA II/4, 19.12.1957. Ebenda, S. 146–149, hier 149. 215 Vorschlag, HA II/4, 30.6.1959. BStU, MfS, AIM 6805/61, P-Akte, S. 157 f., hier 158. 216 Treffbericht, HA V/1, 6.7.1954. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 1, S. 84 f., hier 85. 217 Treffbericht, HA V/2, 23.3.1955. BStU, MfS, AIM 439/57, A-Akte Bd. 1, S. 168. 218 Treffbericht, HA V/2, 24.3.1955. Ebenda, S. 169.
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jede Aufgabe für unser Organ durchzuführen«.219 Aufgrund seiner Treue zum »Arbeiter-und-Bauern-Staat« und seiner großen Einsatzbereitschaft empfahl die Hauptabteilung V/2 im Juni 1955 dann tatsächlich dem Leiter der Hauptabteilung V, ihren GM »Steffen« als Kandidat der SED aufzunehmen.220 Schon am nächsten Tag füllte »Steffen« den Fragebogen für Kandidaten und Mitglieder der SED aus und war ab dem 1. Juli 1956 wieder ordentliches Parteimitglied.221 Seine Treue und Ehrlichkeit gegenüber der Partei und der Arbeiterklasse wurde auch im Abschlussbericht vom Januar 1957 hervorgehoben, als er von den inoffiziellen zu den hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS wechselte.222 Zur Aufnahme in die SED schlug die Hauptabteilung V/2 auch ihren GM »Kleist« im April 1960 vor, dabei sollte ihm seine KPD-Mitgliedschaft seit 1928 angerechnet werden.223 Der gelernte Tischler war seit 1926 Mitglied der Kommunistischen Jugend sowie im ASV und trat 1928 der KPD bei. Nach eigenen Angaben führte sein Engagement in diesen Kreisen zu mehreren Inhaftierungen, die aber wohl auch auf seine kriminellen Machenschaften zurückzuführen waren. Wenige Monate vor seiner Anwerbung betonte er: »Ich möchte zur Erhaltung der geschaffenen Errungenschaften der Deutschen Demokratischen Republik meinen persönlichen Beitrag liefern. Und dieser ist wenn es sein muß mein Leben. Aus der Erkenntnis heraus, das[s] sich mit jeden Tag der Klassenkampf verschärft und ich einen unversöhnlichen Haß gegenüber unserm Klassenfeind habe[,] kam dieser Entschluß zu stande.«224
In den Augen des MfS bewährte sich »Kleist« als GM: Bereits vor und nach seiner Anwerbung im Januar 1953 war er an der Vorbereitung mehrerer Entführungsaktionen beteiligt, von denen allerdings nur eine im März 1955 zum Abschluss gebracht wurde. Auftragsgemäß observierte er zudem das SPDOstbüro in West-Berlin bis zum August 1956, als er dort von der Kriminalpolizei festgenommen und zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Nach seiner Haftentlassung siedelte er im September 1958 in die DDR über.225 »Kleist« versicherte gegenüber dem MfS stets, »daß er im Interesse der Arbei219 Zwischenbericht, HA V/2, 23.6.1955. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 1, S. 62–64, hier 62. 220 Vorschlag, HA V/2 an HA V Leitung, 27.6.1955. Ebenda, S. 61. 221 Fragebogen für Kandidaten und Mitglieder der SED, Kurt Schliep, 28.6.1955. Ebenda, S. 66–73; Aktenvermerk, MfS, 22.1.1959. BStU, MfS, KS II 10/78, S. 26–28, hier 28. 222 Vgl. Abschlussbericht, HA V/2, 16.1.1957. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 1, S. 94. 223 Vgl. Bericht, HA V/2, 19.4.1960. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 203 f. 224 Handschriftlicher Lebenslauf, Hans Zobel, 14.11.1952. Ebenda, S. 20. Vgl. handschriftliche Verpflichtungserklärung, Hans Zobel, 20.10.1952. Ebenda, S. 24; handschriftliche Verpflichtungserklärung, Hans Zobel, 27.1.1953. Ebenda, S. 29 f. 225 Vgl. Bericht, HA V/2, 19.4.1960. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 203 f.; Mitteilung, HA V, 23.9.1958. Ebenda, S. 184; Charakteristik, HA III/5, 22.3.1955. Ebenda, S. 112 f.; Auskunftsbericht, HA V/2, 13.4.1956. Ebenda, S. 186 f.
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terklasse jeden Auftrag erfüllt«.226 Im MfS vernahm man jedoch auch, dass finanzielle Interesse seiner IM-Tätigkeit zugrunde lagen: »Die politische Einstellung des ›Kleist‹ ist, nach den Gesprächen während des Treffs zu urteilen, gut. Er vertritt in seinen Reden und im Handeln unbedingt die Interessen unseres Staates. Es ist jedoch festzustellen, dass er nicht immer die nötige ideologische Klarheit besitzt, sondern sich oftmals mehr instinktiv als klar denkend leiten lässt. […] Ich habe den Eindruck gewonnen, dass ›Kleist‹ nicht der Sache wegen, sondern des Geldes mit uns zusammenarbeitet.«227
Auch die Abteilung VIII, die im August 1955 »Kleist« als GM von der Hauptabteilung III übernahm, vermerkte in einer Beurteilung, dass er sich gerne als »alter revolutionärer Arbeiter« bezeichne, aber »fast bei jedem Treff seine kleinbürgerliche Einstellung zum Ausdruck [komme], indem er sehr kleinlich in seinen Forderungen« sei.228 Ähnlich ambivalent waren im Staatssicherheitsapparat die Einschätzungen im Hinblick auf den GM »Neuhaus«, der in den Jahren 1931 bis 1933 Mitglied der »Roten Falken« und (nach eigenen Angaben) von 1945 bis 1950 Mitglied der KPD bzw. SED gewesen war, obwohl er in West-Berlin lebte.229 So wies die Hauptabteilung II/4 in einer Beurteilung des GM 1960 zwar darauf hin, dass er aus »Überzeugung« im Juli 1957 als GI geworben worden sei, stellte im selben Dokument jedoch fest, dass sein Verhalten im Widerspruch zu seiner Selbstdarstellung als ein »bewusster Genosse« stehe.230 Ein halbes Jahr zuvor hatte ein MfS-Mitarbeiter der Hauptabteilung II/SR 3 zur Motivation des GM »Neuhaus« eingeschätzt: »Er ist zuverlässig, mutig und steht auf dem Boden der DDR. Trotz der guten durchgeführten operativen Aufgaben, kann man erkennen, daß er diese Aufgaben weniger aus politischer Überzeugung, sondern aus materiellen Gründen usw. durchführt.«231 Der GM »Neuhaus« versuchte hingegen zu überzeugen, dass er seine »Arbeit für das MfS aus Überzeugung der Richtigkeit und Notwendigkeit getan habe, die Feinde der DDR
226 Charakteristik, HA III/2, 6.7.1954. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 61 f., hier 61; vgl. Bericht, HA III, 28.1.1953. Ebenda, S. 31. 227 Charakteristik, HA III/5, 22.3.1955. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 112 f., hier 112; vgl. Charakteristik, HA III/2, 6.7.1954. Ebenda, S. 61 f. 228 Beurteilung, Abt. VIII, 3.11.1955. BStU, MfS, AIM1717/62, P-Akte, S. 166. 229 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/SR 3, 16.7.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 209–214; Vorschlag, HA II/1, 12.7.1957. Ebenda, S. 183–185, hier 184; Vorschlag, MfS, 5.7.1960. Ebenda, S. 23–25, hier 24; Auskunftsbericht, HA II/1, 7.12.1975. Ebenda, S. 397–407, hier 399; Abschlussbericht, HA II/1, 15.12.1986. Ebenda, P-Akte Bd. 4, S. 147–149, hier 147. 230 Beurteilung, HA II/4a, 2.3.1960. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 205; vgl. Einschätzung, MfS, o. D. Ebenda, S. 13. »Neuhaus« war seit Dezember 1955 als KP für das MfS tätig, wenige Monate nach seiner Anwerbung als GI wurde er zum GM umregistriert. 231 Einschätzung, HA II/SR 3, 14.7.1959. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 21 f., hier 22.
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unschädlich zu machen«.232 Zudem bat »Neuhaus« schon seit 1956 um Mitgliedschaft in der SED, auf die er aber noch bis 1967 warten musste.233 Im Abschlussbericht von 1986 heißt es dann schließlich: »›Heinz Neuhaus‹ ist ein der Partei treu ergebener inoffizieller Mitarbeiter, der fest zur SED steht.«234 Dass der Begriff der »politischen Überzeugung« nicht ausschließlich mit der Nähe des IM zur marxistisch-leninistischen Ideologie gleichzusetzen ist, zeigt das Beispiel eines 1951 als GM »Rosenberg« verpflichteten Westberliner Kaufmanns. Nach eigenen Angaben sympathisierte dieser zwar vor 1945 mit der KPD, war vor 1933 Mitglied im Sportverein »Roter Stern« in BerlinCharlottenburg und unterstützte die »Rote Hilfe«.235 Ausschlaggebend war aber wohl eher seine lange Haft in NS-Konzentrationslagern236, die allerdings nicht ein Resultat seiner politischen Haltung, sondern seiner kriminellen Delikte war. Neben seinen finanziellen Interessen speiste sich aus dieser Erfahrung seine Motivation für die inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS: »Nach seinen Worten hat er während seiner Haftzeit in den KZ-Lagern den Faschismus kennen und hassen gelernt. Heute will er ein Gegner des Bonner Staates sein und hält die Entwicklung in der DDR als das richtige.«237 Unter dem Begriff der »politischen Überzeugung« subsumierte das MfS also nicht nur die Zustimmung zur marxistisch-leninistischen Ideologie, sondern auch die Übereinstimmung mit einzelnen politischen Ideen und Idealen, wie beispielsweise der vom SED-Regime proklamierte Antifaschismus. Bei einigen Entführer-IM handelte es sich demnach nicht um eine »politische Überzeugung« im ideologischen Sinn, sondern eher um das Gefühl, einer gerechten Sache zu dienen. In die Verpflichtungserklärung des GM »Norge« diktierte der Führungsoffizier im Oktober 1954: »Als fortschrittlich denkender Mensch 232 Handschriftlicher Brief, GM »Neuhaus« an den MfS Operativstab, 25.10.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 259–261, hier 261; vgl. Schreiben, GM »Neuhaus« an das MfS, 23.3.1958, Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 102–107, hier 102; Schreiben, GM »Neuhaus« an das MfS, 27.8.1958. Ebenda, S. 114 f., hier 114. 233 Vgl. Bericht, GM »Neuhaus«, 24.10.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 258; Schreiben, GM »Neuhaus«, 4.11.1962. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 152; Auskunftsbericht, HA II/1, 7.12.1975. Ebenda, S. 397–407, hier 399; Vorschlag, MfS, 5.6.1978. Ebenda, P-Akte Bd. 4, S. 109. 234 Abschlussbericht, HA II/1, 15.12.1986. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 4, S. 147– 149, hier 148. 235 Vgl. Lebenslauf, Norbert Drews, o. D. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 43 f., hier 43. 236 Der GM »Rosenberg« verbrachte zwischen 9 und 12 Jahren in verschiedenen Konzentrationslagern, u. a. Esterwegen und Sachsenhausen. Hinsichtlich der Haftdauer finden sich in den Unterlagen unterschiedliche Angaben. Vgl. Lebenslauf, Norbert Drews, o. D. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 43 f., hier 43; Einschätzung, HA V/3, 13.3.1959. Ebenda, S. 195 f., hier 195; Auskunftsbericht, HA V/3, 27.9.1961. Ebenda, S. 201–204, hier 201. 237 Auskunftsbericht, HA XX/5, 19.8.1964. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 260– 262, hier 260. Vgl. Einschätzung, HA V/3, 13.3.1959. Ebenda, S. 195 f., hier 195; Auskunftsbericht, HA V/3, 27.9.1961. Ebenda, S. 201–204, hier 201, 203. In diesen beiden Berichten ist sogar von einer engen Verbundenheit mit dem Sozialismus die Rede.
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betrachte ich es als meine Pflicht und Ehre, mit den Organen der Staatssicherheit für die Erhaltung des Weltfriedens zusammen zu arbeiten.«238 Der Fotograf aus der Bundesrepublik war politisch im national-liberalen Parteienspektrum aktiv gewesen, hatte aber auch Verbindungen zur KPD. Im Frühjahr 1954 war er in Ost-Berlin verhaftet und wegen eines Wirtschaftsvergehens (versuchte Ausfuhr von Filmen) zu vier Monaten Haft verurteilt worden. Aufgrund seines positiven Verhaltens in der Haft, wie seine »positiven Diskussionen« mit den Mithäftlingen, wurde er nach zwei Monaten entlassen und baute über seinen Rechtsanwalt Kontakt zum MfS auf. Der als GI »Eva« registrierte Rechtsanwalt berichtete dem MfS von seinem Mandanten, der »beabsichtige seine ganze Kraft für die DDR einzusetzen«.239 Die Hauptabteilung V/4 zeigte Interesse, zumal der Selbstanbieter nicht mit leeren Händen kam, sondern Filmaufnahmen von Agenten in West-Berlin versprach.240 Nach ersten Treffen und Überprüfungen folgte im September 1954 von der Hauptabteilung V/4 der Vorschlag zur Anwerbung, dem der stellvertretende Staatssekretär für Staatssicherheit Erich Mielke per Unterschrift zustimmte.241 Bei seiner Verpflichtung versicherte »Norge«, dass er sich nicht aus finanziellem Interesse zur Verfügung stelle, »sondern aus der Erkenntnis heraus, daß in Westdeutschland und in Westberlin der Faschismus und Militarismus von der Bonner Regierung ins Leben gerufen werden«.242 Dass die »Überzeugung« des GM »Norge« weniger auf einer gefestigten marxistisch-leninistischen Ideologie beruhte, zeigte sich als er 1961 in die DDR übersiedelte. So bilanzierte das MfS im Mai 1965: »Dem Genossen […] fällt es manchmal noch schwer, unseren gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß in seiner Kompliziertheit zu begreifen. Seine geringen marxistischleninistischen Kenntnisse bringen ihn ab und zu in Widerspruch zu bestimmten gesellschaftlichen Erscheinungen und Vorgängen in der DDR. In diesbezüglichen Aus-
238 Handschriftliche Verpflichtungserklärung, GM »Norge«, 8.10.1954. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 1, S. 60; vgl. Verpflichtungsbericht, HA V/4, 9.10.1954. Ebenda, S. 61 f.; Auskunftsbericht, HA V/5, 22.8.1962. Ebenda, P-Akte Bd. 2a, S. 164–167, hier 166. 239 Treffbericht, HA V/4, 2.6.1954. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 1, S. 29. Vgl. Vorschlag zur Anwerbung, HA V/4, 17.9.1954. Ebenda, S. 49–52; Verpflichtungsbericht, HA V/4, 9.10.1954. Ebenda, S. 61 f.; Bericht, HA V/4, 11.8.1954. Ebenda, S. 36 f.; Bericht, MfS, 18.8.1954. Ebenda, S. 39–44, Einschätzung, MfS, o. D. Ebenda, S. 172–175. 240 Vgl. Treffbericht, HA V/4, 2.6.1954. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 1, S. 29; Bericht, HA V/4, 11.8.1954. Ebenda, S. 36 f.; Verpflichtungsbericht, HA V/4, 9.10.1954. Ebenda, S. 61 f. 241 Vgl. Bericht, MfS, 18.8.1954. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 1, S. 39–44; Ermittlungsbericht, Abt. VIII, 3.9.1954. Ebenda, S. 45 f.; Vorschlag, HA V/4, 17.9.1954. Ebenda, S. 49–52. 242 Verpflichtungsbericht, HA V/4, 9.10.1954. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 1, S. 61 f., hier 61. Vgl. Bericht, HA V/5, 17.10.1955. Ebenda, S. 186 f.; Auskunftsbericht, HA V/5, 22.8.1962. Ebenda, P-Akte Bd. 2a, S. 164–167, hier 165.
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einandersetzungen hat sich aber auch gezeigt, daß der Genosse A. bereit ist, richtige Lehren anzunehmen und falsche Auffassungen zu verwerfen.«243
Das MfS erkannte, dass materielle Anreize beim GM »Norge« eine bedeutende Rolle spielten.244 Ein deutlich nachrangiges Motiv gegenüber finanziellen Interessen war die »politische Überzeugung« auch bei dem 1955 geworbenen GM »Schubert«. Aber sein Führungsoffizier hielt im Werbungsvorschlag ausdrücklich fest, dass »Schubert« positiv zur Gesellschaftsordnung der DDR stehe, und dieser erklärte in seiner Verpflichtung: »Ich werde einen schonungslosen Kampf gegen alle Feinde der DDR und des Welt-Friedenslagers führen.«245 Als seine Zusammenarbeit mit dem MfS und Beteiligung an der Entführung des Westberliners Otto Schneider 1956 in der Bundesrepublik bekannt und über die Presse verbreitet wurde, versicherte »Schubert« gegenüber dem MfS mehrmals, das berühre ihn gar nicht. Denn er wisse, dass seine Tätigkeit einer gerechten Sache diene.246 Die Anwerbung des GM »Schubert« hatte ein anderer GI mit dem Decknamen »Friedrich« dem MfS empfohlen, da er gut für Entführungsaktionen geeignet sei.247 Auch »Friedrichs« Einstellung zur DDR bewertete das MfS als positiv und warb ihn 1954 »auf der Grundlage der Überzeugung« an.248 Im Bericht über seine Verpflichtung lobte man seine gute »Orientierung« über »politische Tagesfragen«, verwies dabei aber auch auf »radikale Tendenzen«: »Er erklärte z. B., das[s] nach seiner Meinung von unserer Seite große Fehler gemacht werden. Wenn er etwas zu sagen hätte dann wäre Westberlin schon lange ausgehungert.«249 Mit Argwohn beobachtete das MfS eine ähnliche Radikalität bei der KP »Gustav«, die 1956 neben »Schubert« und »Friedrich« ebenfalls an der Entführung des Otto Schneider beteiligt war. So berichtete der Führungsoffizier, dass »Gustav« zwar »aus innerer Überzeugung«, aber auch »aus einem Rachegefühl« für das MfS tätig sein wolle, um die Zustände in West-Berlin zu ändern. Dabei zeige er zum Teil eine radikale Denkweise, auf die zur Sicherheit der KP immer wieder eingegangen werden müsse. Der Ursprung des Rachegefühls wird in dem Dokument nicht genannt. Ein Auslöser kann jedoch die sechsjährige 243 Beurteilung, Abteilung Agitation, 1.5.1965. BStU, MfS, AIM 15351/69, P-Akte Bd. 1, S. 13–15, S. 15. 244 Vgl. Jahreseinschätzung, HA VII/3, 11.12.1968. BStU, MfS, AIM 15351/69, P-Akte Bd. 2, S. 247–252, hier 249. 245 Handschriftliche Verpflichtungserklärung, Otto Lehmann, 5.5.1955. BStU, MfS, AIM 3370/61, P-Akte, S. 17; Vorschlag, HA II/1, 8.7.1955. Ebenda, S. 9–12, hier 10. 246 Bericht, HA II/1, 9.5.1956. BStU, MfS, AIM 3370/61, P-Akte, S. 25. 247 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/1, 9.5.1956. BStU, MfS, AIM 3370/61, P-Akte, S. 22–24, hier 22. 248 Vorschlag, HA II/1, 16.10.1954. BStU, MfS, AIM 2275/55, P-Akte, S. 9 f., hier 10. Vgl. Beurteilung, MfS, 22.4.1955. Ebenda, S. 32 f. 249 Bericht, HA II/1, 3.11.1954. BStU, MfS, AIM 2275/55, P-Akte, S. 15 f.
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Haft gewesen sein, die »Gustav« von 1956 bis 1962 in West-Berlin wegen seiner Beteiligung an der Entführung von Otto Schneider verbüßen musste.250 Im Gegensatz zum ersten Typus der Entführer-IM weist ein Großteil der untersuchten Entführer-IM des zweiten Typs politische Motive für ihre Tätigkeit auf. Bei zehn der 14 IM dieses Typs (71,4 %) gehörte die »politische Überzeugung« zu ihren Motivstrukturen. In diesem Zusammenhang ist auch die hohe Dichte der Parteizugehörigkeit auffällig. Sechs der 14 IM waren zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung bereits langjähriges Mitglied der SED: Drei waren schon 1945 der KPD beigetreten sowie jeweils einer 1946 und 1947 der SED. Die drei West-IM waren in der Bundesrepublik KPD-Mitglieder oder sympathisierten mit der KPD, wie beispielsweise der im Mai 1955 angeworbene GM »Albert«. Dieser war seit 1924 Mitglied der KPD und wechselte 1927 zur SPD. Aufgrund seiner Parteizugehörigkeit musste er 1934 sein Studium abbrechen und wurde 1937 auf Grundlage des sogenannten »Heimtückegesetzes« zu einer Haftstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Nach Kriegsende trat er gleich der KPD bei und gehörte somit vor seiner Flucht nach West-Berlin im Mai 1953 der SED an.251 Im Mai 1945 begann er zudem seinen Dienst in der Volkspolizei und half – nach eigenen Angaben – bei der Verfolgung von »Nazigrößen, Kriegsverbrecher[n] und sonstige[n] üble[n] Denunzianten«, was für ihn eine besondere »Genugtuung als Antifaschist und alter Sozialist« gewesen sei.252 Als »Albert« später in der Strafvollzugsanstalt Rummelsburg arbeitete, bekam er Kontakt zu einem Redakteur des Telegraf, dem er seit 1951 Informationen lieferte. Als er aufzufliegen drohte, floh »Albert« im Mai 1953 nach West-Berlin. Nach seiner Desertion resümierte die Volkspolizei: »Wenn man den Lebenslauf des D. betrachtet, könnte man zu der Annahme gelangen, daß er bereit ist, sein Leben für die Entwicklung der Arbeiterklasse hinzugeben.« Neben seinem »mangelnden Klassenbewusstsein« habe es ihm aber letztendlich an einem »ernsten Willen« gefehlt, »sich politisch richtig zu informieren und danach zu handeln«.253 Als das MfS im April 1955 über einen Familienangehörigen Kontakt zu »Albert« aufnahm und ihm ein Treffen in die DDR offerierte, stimmte dieser gleich zu: »Ich habe mich zu diesem Zusammentreffen entschlossen, weil ich nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gekommen bin, daß ich damit dem Aufbau des Sozialismus 250 Einschätzung, HA III/2, 26.11.1963.: BStU, MfS, AP 7351/66, S. 178–181, hier 180. 251 Bericht, Präsidium der Volkspolizei, 15.8.1953. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 62 f., hier 62; Lebenslauf, Martin Damaschke, 1953. Ebenda, S. 24–27; handschriftlicher Lebenslauf, Martin Damaschke, 1956. Ebenda, S. 178–195. 252 Handschriftlicher Lebenslauf, Martin Damaschke, 1956. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 178–195, hier 190. 253 Bericht, Präsidium der Volkspolizei, 15.8.1953. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 62 f., hier 63. Vgl. Bericht, MfS, 28.10.1954. BStU, MfS, AOP 535/56, S. 13 f.; Schlussbericht, MfS, 12.4.1955. Ebenda, S. 17–20; Bescheinigung, »Telegraf«, 18.5.1953. Ebenda, S. 21; Bericht, HA V/2, 29.6.1955. Ebenda, S. 118–121, hier 118.
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in der DDR und der Partei der Arbeiterklasse, der SED dienen und helfen kann.«254 Bei diesem Treffen mit dem MfS im Mai 1955 verpflichtete er sich zur Zusammenarbeit mit dem MfS als GM, um in die DDR zurückkehren zu können.255 Denn nach eigenen Angaben bereute er seine Flucht, und seine Erlebnisse in West-Berlin hätten ihn »wieder zum alten, ehrlichen Sozialisten zurückfinden lassen«, sodass er nun »mit größter innerlicher Begeisterung und aufrichtiger Liebe zur Politik unserer Partei, unseres Staates und der SU, die[sic!] ich eigentlich nie untreu war«, stehe.256 »Albert« hatte in West-Berlin nicht Fuß fassen können: Er hatte keinen Flüchtlingsausweis erhalten und keine Arbeitsstelle gefunden, obwohl er in beiden Angelegenheiten Unterstützung durch den SPD-Landesverband erhalten hatte.257 »All diese vielen Erfahrungen auf Grund alldes Erlebten und die vielen, vielen von der herrschenden Klasse durch die Presse usw. verdummten Menschen, ließen den ehrlichen Entschluß in mir reifen, weil man mich als Sozialisten und Antifaschisten auch trotz vieler Bewerbungen in diese und jene Dienststelle der Verwaltung hineinzukommen, um zu denen zu gehören, die einen neuen demokratischen Geist hinein bringen wollen, mich aber vor dem Kopf stießen und selbst die SPD nichts tun konnte. Da sagte ich mir, daß ich nur dort hingehöre, wo Aufbau, ehrlicher Friedenskampf und wirkliche Demokratie ist [sic!]. Dem ehrlichen Anerbieten, wieder zurückzukehren, versagte ich mich nicht und faßte nach dem nicht verdienten Angebot sofort den Entschluß, wieder in die DDR zurückzukehren, um von hieraus wieder weiter den Kampf gegen den Faschismus in Westberlin aufzunehmen und auch in der Erkenntnis, daß die SPD leider das zweite Mal wieder eine falsche Politik trägt. Wie ein verlorener Sohn wurde ich herzlich und freudig aufgenommen und werde mir [sic!] auch dankbar zeigen.«258
Die IM-Tätigkeit des GM »Albert« basierte demnach nicht allein auf seiner »politischen Überzeugung«, sondern stand in engem Zusammenhang mit dem Bedürfnis, sich durch die Zusammenarbeit mit dem MfS zu rehabilitieren und in die DDR zurückkehren zu können. Die Bewährung als GM stellte ihm eine 254 Handschriftliche Verpflichtung, Martin Damaschke, 22.5.1955. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 81; vgl. Bericht, HA V/2, 28.4.1955. Ebenda, S. 73–75; Treffbericht, HA V/2, 9.5.1955. Ebenda, S. 76 f. 255 Vgl. handschriftliche Verpflichtung, Martin Damaschke, 22.5.1955. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 81; Verpflichtungsbericht, HA V/2, 22.5.1955. Ebenda, S. 83; Bericht, HA V/2, 29.6.1955. Ebenda, S. 118–121, hier 119. 256 Handschriftlicher Lebenslauf, Martin Damaschke, 1956. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 178–195, hier 190, 193–195. 257 Vgl. Schreiben, SPD-Flüchtlingsbetreuungsstelle Ost, 14.7.1954. Ebenda, S. 32–34; Schreiben, Bezirksamt Tiergarten Abt. Sozialwesen an Martin Damaschke, 30.5.1954. Ebenda, S. 112; Schreiben, SPD-Landesverband Berlin an Martin Damaschke, 14.1.1955. Ebenda, S. 114; Bericht, GM »Stüwe«, 23.5.1955. Ebenda, S. 107. 258 Handschriftlicher Lebenslauf, Martin Damaschke, 1956. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 178–195, hier 190, 193–195.
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solche Rückkehr in Aussicht, die er nach seiner Beteiligung an der Entführung von Robert Bialek auch erreichte. Zu den primär aus politischen Motiven handelnden Entführer-IM des zweiten Typs zählt auch der aus der Bundesrepublik stammende und 1959 angeworbene GM »Heinrich«. Er war 1929 in die KPD eingetreten, in der NS-Zeit für diese illegal tätig und nach 1945 weiterhin Mitglied bis zum Verbot der KPD in der Bundesrepublik 1956.259 In einem Gespräch mit dem MfS auf der Leipziger Messe bekundete »Heinrich« im März 1959, dass er Verbindungen »zum illegalen, zentralen Parteiapparat« habe und »mit verschiedenen Aufgaben betraut« sei. Seiner Ansicht nach würden die »Mittel des Kampfes, wie sie zur Zeit in Westdeutschland angewandt werden nicht ausreichen, um die dortigen Verhältnisse zu verändern«. Aus diesem Grund müsse eine Organisation aufgebaut und mit der Aufgabe betraut werden, »revolutionäre Aktionen der Arbeiterklasse vorzubereiten«. Das war für das MfS ein idealer Ansatzpunkt: Als Major Scharf von der MfS-Abteilung IV ihm daraufhin deutlich machte, dass sie eine solche Organisation aufbauen würden, erklärte sich »Heinrich« zur Mitarbeit bereit. Aufgrund seiner Nähe zur KPD erhielt er als Kontaktperson zunächst nur den Auftrag, Arbeitsstellen und Wohnmöglichkeiten für IM in der Bundesrepublik zu schaffen, bei der Legalisierung von »Genossen« in der Bundesrepublik behilflich zu sein und Vorschläge für etwaige IM zu unterbreiten.260 In seine Verpflichtungserklärung schrieb »Heinrich«: »Die Tatsache[,] daß eine Veränderung in der politischen Entwicklung herbeigeführt werden muß, erfordern diese Massnahmen bzw. meine aktive Mitarbeit.«261 Das MfS sah seine Anwerbung »auf der Basis der gesamtdeutschen Arbeit unter konspirativen Bedingungen.«262 Da »Heinrichs« Engagement für die verbotene KPD eine Gefahr für seine konspirative Zusammenarbeit mit dem MfS darstellte, unterwies ihn das MfS, die entsprechenden Verbindungen zu lösen sowie jegliche politische Tätigkeit und Diskussion zu vermeiden. Sogar sein Haus sollte er dahingehend »säubern«, dass es keinen »direkten Hinweis auf seine fortschrittliche Einstellung« gebe, zum Beispiel durch entsprechende Literatur und Zeitungen.263 Öffentliches politisches Engagement der West-IM im linken Parteispektrum war im Staatssicherheitsapparat unerwünscht. 259 Fragebogen, Heinrich Strauch, 24.4.1960. BStU, MfS, AIM 9184/68, P-Akte, S. 21 f., hier 21. 260 Bericht, MfS, 12.3.1959. BStU, MfS, AIM 9184/68, P-Akte, S. 23 f. Vgl. Bericht, MfS, 5.2.1960. Ebenda, A-Akte, S. 6–8. 261 Handschriftliche Verpflichtung, Heinrich Strauch, 24.4.1960. BStU, MfS, AIM 9184/68, P-Akte, S. 27. 262 Auskunftsbericht, MfS, 8.1.1963. BStU, MfS, AIM 9184/68, P-Akte, S. 36–39, hier 37. Vgl. Abschlussbericht, Abt. IV, 20.5.1968. Ebenda, S. 62. 263 Bericht, MfS, 11.5.1962. BStU, MfS, AIM 9184/68, A-Akte, S. 29–31, hier 30. Vgl. Bericht, MfS, 24.4.1960. Ebenda, S. 9–12.
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Auf »Basis der gesamtdeutschen Arbeit unter konspirativen Bedingungen«264 warb die MfS-Abteilung IV auch den West-IM »Alfred Ruf«, der im September 1962 mit »Heinrich« an der Entführung des geflohenen MfS-Mitarbeiters Walter Thräne im Auftrag der HV A beteiligt war. Der westdeutsche Maschinenbauingenieur war über den Leiter des »Büros für das Gesamtdeutsche Handwerk« im Rahmen der Leipziger Herbstmesse 1961 mit dem MfS in Verbindung gebracht worden. Dieser Büroleiter, der seit 1959 als GI »Ludwig« für das MfS arbeitete, empfahl »Alfred Ruf« als »fortschrittlichen Menschen, der in seiner Haltung positiv zur DDR« stehe.265 Im Gespräch mit »Alfred Ruf« gewann MfS-Major Sparschuh denselben Eindruck und lotete bereits aus, dass er zu einer konspirativen Zusammenarbeit »im Rahmen seiner Möglichkeiten« bereit sei.266 Handschriftlich verpflichtete sich »Alfred Ruf«, sich aktiv »an dem notwendigen Friedenskampf« zu beteiligen und die dabei nötige »Disziplin und Distanzierung von allen fortschrittlichen Diskussionen und Menschen sowie Freunden« einzuhalten. Ebenso wie GI »Heinrich« musste »Alfred Ruf« seine Bibliothek entsprechend »säubern«.267 »Alfred Ruf« war zwar kein Mitglied der KPD, sympathisierte jedoch mit dieser und fühlte sich – laut MfS – »mit dem Kampf der Arbeiterklasse verbunden«. Diese Verbundenheit komme auch in seiner Bereitschaft zum Ausdruck, »unter Bedingungen der Konspiration, aktiv am Kampf für die Erhaltung des Friedens und zur Zügelung der westdeutschen Militaristen und Imperialisten teilzunehmen«.268 Für beide Entführer-IM war ihre »politische Überzeugung« anscheinend das ausschlaggebende Handlungsmotiv. Finanzielle oder materielle Anreize gab es in ihrem Fall nicht: Weder stellten sie finanzielle Forderungen, noch zahlte das MfS ihnen Geldbeträge, die über die Erstattung der entstandenen Kosten hinausgingen.269 Auch der im August 1954 angeworbene und im Februar 1956 an der Entführungsaktion Robert Bialek beteiligte GM »Fritz Vogelsdorf« erhielt keine größeren Geldbeträge vom MfS. Der in Ost-Berlin lebende Volkspolizist hatte 264 Auskunftsbericht, MfS, 8.1.1963. BStU, MfS, AIM 9183/68, P-Akte, S. 66–68, hier 67. 265 Bericht, MfS, 4.9.1961. BStU, MfS, AIM 9183/68, P-Akte, S. 38. 266 Bericht, MfS, 8.9.1961. Ebenda, S. 48 f., hier 48. Vgl. Vorläufige Einschätzung, MfS, 19.9.1961. Ebenda, S. 59. 267 Handschriftliche Verpflichtung, Werner Taube, 18.9.1961. BStU, MfS, AIM 9183/68, P-Akte, S. 58. Vgl. Bericht, MfS, 19.9.1961. Ebenda, S. 50–55, hier 50 f. 268 Vorläufige Einschätzung, MfS, 19.9.1961. BStU, MfS, AIM 9183/68, P-Akte, S. 59; vgl. Bericht, »Herbert Kühne«, 23.9.1961. Ebenda, S. 44 f. 269 Vgl. Aufstellung über ausgezahlte Geldbeträge, MfS, 9.3.1959–11.9.1962. BStU, MfS, AIM 9184/68, P-Akte Bd. 1, S. 7; Auskunftsbericht, MfS, 8.1.1963. Ebenda, S. 36–39, hier 37 f.; Auskunftsbericht, MfS, 8.1.1963. BStU, MfS, AIM 9183/68, P-Akte, S. 66–68, hier 67; Quittungen, Werner Taube, 1961–1966. Ebenda, S. 17–33. »Alfred Ruf« hatte auch in seiner Verpflichtungserklärung erklärt, dass er sich bewusst sei, dass er keinen finanziellen Nutzen aus seiner Tätigkeit ziehen könne. Vgl. handschriftliche Verpflichtung, Werner Taube, 18.9.1961. BStU, MfS, AIM 9183/68, P-Akte, S. 58. Vgl. Bericht, MfS, 19.9.1961. Ebenda, S. 50–55, hier 50 f.
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sich in der Weimarer Republik in sozialistischen Jugendverbänden und in der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) engagiert. Nach seiner Rückkehr aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft im Sommer 1946 trat er in die SED ein.270 Die MfS-Abteilung VII wurde 1954 auf ihn aufmerksam als sie sich eine Aufstellung aller ehemaligen SPD-Mitglieder in den Reihen der im Strafvollzug tätigen Volkspolizisten geben ließ. Die nachfolgenden Ermittlungen über »Fritz Vogelsdorf« bestätigten »seine positive Haltung«271, sodass die Abteilung VII ihn im Juni 1954 zur Anwerbung vorschlug: »Es ist vorgesehen, H. durch »Überzeugung« als GI zu werben, um in den Kreis der ehem. SPD-Leute, welche in der UH u. VA Berlin I stark vertreten sind, einzudringen.«272 Laut MfS-Bericht über die Werbung des »Fritz Vogelsdorf« willigte dieser ohne Bedenken in die Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsapparat ein.273 Im folgenden Jahr bewährte er sich als GI durch seine »ernste« und »gewissenhafte« Arbeitsweise, sodass die Abteilung VII im Juni 1955 befand, dass er von nun an mit größeren Aufgaben betraut werden könne.274 Eine solche ließ nicht lange auf sich warten: Die Hauptabteilung V/2 suchte einen im Strafvollzug arbeitenden Volkspolizisten, der in das SPD-Ostbüro eingeschleust werden konnte. Ihr war es bereits gelungen, ihren GM »Albert« an einen Mitarbeiter des SPD-Ostbüros heranzuschleusen, der sich für die Haftanstalten in OstBerlin interessierte und »Albert« aufgefordert hatte, ihn mit einem Volkspolizisten in Verbindung zu bringen. Zu diesem Zweck legte die Hauptabteilung V/2 ihrem GM »Albert« im Juli 1955 Fotos einiger GM der Abteilung VII aus der Haftanstalt Berlin-Rummelsburg vor. Unter ihnen erkannte »Albert« seinen ehemaligen Kollegen »Fritz Vogelsdorf«, der somit fortan im Operativen Vorgang »Waggon« gegen Robert Bialek zum Einsatz kam und ein halbes Jahr später, im Februar 1956, dessen Entführung ermöglichte.275 Als ehemaliger FDJ-Ortsgruppensekretär und aktives SED-Mitglied fühlte sich auch der im Oktober 1954 geworbene GM »Weitzel« zur Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtet. In Eigeninitiative meldete er sich im September 1954 beim MfS in Berlin, um Angaben über eine »Republikflüchtige« und eine Freimaurerloge in Dresden zu machen.276 Da er ferner »sehr gute Verbin270 Vgl. Auszüge aus Personalakte, 12.4.1954. BStU, MfS, AIM 667/58, P-Akte, S. 15–18. 271 Notiz über Bekanntwerden der Person, Abt. VII, 26.8.1954. BStU, MfS, AIM 667/59, P-Akte, S. 14. Vgl. Ermittlungsbericht, Abt. VII, 9.4.1954. Ebenda, S. 20 f. 272 Vorschlag, Abt. VII, 12.6.1954. BStU, MfS, AIM 667/59, P-Akte, S. 63. 273 Bericht, Abt. VII, 17.8.1954. Ebenda, S. 66. 274 Beurteilung, Abt. VII, 2.10.1954. Ebenda, S. 71; Beurteilung, Abt. VII/3, 1.6.1955. Ebenda, S. 78. 275 Vgl. Treffbericht, HA V/2, 13.7.1955. BStU, MfS, AIM 442/57, A-Akte Bd. 1, S. 157–159; Bericht, GM »Albert«, 9.8.1955. Ebenda, S. 214; Beschluss, Abt. VII, 19.10.1955. BStU, MfS, AIM 667/58, P-Akte, S. 80. 276 Vgl. Bericht, Abt. XII an Abt. V, 3.9.1954. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 11 f.; Bericht, Verwaltung Groß-Berlin Abt. V, 16.9.1954. Ebenda, S. 14–16.
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dung zu bürgerlichen Kreisen nach West-Berlin«277 besaß, warb ihn die Abteilung V bereits knapp zwei Monate später als GM an. Im Werbungsvorschlag vom 26. Oktober 1954 kam sie zu der Einschätzung: »Der Kandidat hat es infolge seiner bürgerlichen Herkunft schwer, in jeder Frage den Klassenstandpunkt des Proletariats zu vertreten. Seine moralischen Ansichten und Handlungen dürften dem z. B. nicht entsprechen. In den Grundfragen der Politik unserer Partei und Regierung, steht der Kandidat fest zu unserer Sache. […] Die Anwerbung soll auf der Basis der Überzeugung erfolgen […]«278
Noch am selben Tag schrieb »Weitzel« seine Verpflichtungserklärung und erklärte wenige Tage später in seinem handschriftlichen Lebenslauf: »Mein Wunsch u. Wille ist es, meine ganze Kraft für die Verwirklichung d. Beschlüsse von Partei und Regierung einzusetzen[,] um so schnell wie möglich in einem geeinten Vaterland den Sozialismus aufbauen zu können.«279 Vier Jahre später plante die Hauptabteilung V/5 den Einsatz des »unserer Sache treu ergeben[en]« GM »Weitzel« bei der Entführung des UFJ-Mitarbeiters Erwin Neumann, zu dem er seit Oktober 1957 auftragsgemäß einen engen Kontakt aufgebaut und dessen Entführung er gezielt vorbereitet hatte und schließlich im August 1958 umsetzte. Das MfS belohnte ihn mit einer Prämie von 2 500 M/DDR und dem Vaterländischen Verdienstorden in Bronze.280 Mit finanziellen Würdigungen operierte das MfS demnach auch bei Entführer-IM, die hauptsächlich aus politischen Beweggründen ihre inoffizielle Tätigkeit ausübten. Diese finanziellen Anreize nahmen im Motivationsgefüge der politisch motivierten Entführer-IM einen mal größeren, mal kleineren Stellenwert ein. Dieser variierte nicht nur je nach IM, sondern konnte auch je nach Situation und sich wandelnder Interessenlage des jeweiligen IM schwanken. Im Juni 1951 formierte das MfS eine Einsatzgruppe, die sich einverstanden erklärt hatte, für eine geldliche Entlohnung für den DDR-Staatssicherheitsapparat inoffiziell tätig zu werden. An der Spitze der dreiköpfigen Einsatzgruppe stand der 25-jährige GM »Menzel«, der ebenso wie seine beiden Komplizen erwerbslos bzw. ohne ein festes Arbeitsverhältnis war: Einer verdiente sich als Rausschmeißer in einem Ostberliner Lokal sein Geld, da er Boxer war. Bei dem anderen handelte es sich um einen wegen Diebstahls und Körperverletzung vorbestraften Westberliner.281 Neben seinen finanziellen und materiellen In277 Vorschlag, Verwaltung Groß-Berlin Abt. V, 26.10.1954. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 35–37, hier 35 (Zitat). 278 Ebenda, S. 36 f. 279 Handschriftlicher Lebenslauf, Harry Wichert, 2.11.1954. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 41–45, hier 44. 280 Vorschlag, HA V/5, 24.7.1958. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 114–126, hier 124; Bericht, HA V/5, 3.9.1958. Ebenda, S. 143–149, hier 149. 281 Vgl. Bericht, Abt. VIII, 6.6.1951. BStU, MfS, AIM 5899/57, P-Akte, S. 56.
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teressen arbeitete der GM »Menzel« aber auch aus politischer Motivation für das MfS. Der Ostberliner war im Mai 1945 in die KPD eingetreten und wurde damit 1946 SED-Mitglied, zudem war er in der FDJ und beteiligte sich – laut Ermittlungsbericht des MfS – aktiv »am politischen Leben«.282 In seiner Verpflichtungserklärung vom Oktober 1950 bekundete er: »Ich […] bin mir bewußt, dass die junge Deutsche Demokratische Republik sich in ständiger Gefahr befindet. Ich weiss, daß das angl.-amerikanische Monopolkapital versucht, den Wirtschaftlichen Aufbau auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik mit ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu sabotieren. Ich verpflichte mich, alles zu tun, um die Feinde der Deutschen Demokratischen Republik, insbesondere Spione, Saboteure und Schumacherleute zu ermitteln.«283
Bereits einen Monat nach seiner Anwerbung war er an der Verschleppung eines Westberliners beteiligt, den er nach einem Kneipenabend unter dem Vorwand, ein anderes Lokal aufzusuchen, nach Ost-Berlin brachte.284 Ein Zusammenspiel aus finanziellen und politischen Motiven zeigte sich auch bei der GI »Lisa König«. Zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung im August 1954 war sie zwar kein SED-Mitglied, gehörte aber der FDJ seit deren Gründung an sowie seit 1951 dem DFD. Im Rahmen eines operativen Vorganges war das MfS auf die 25-jährige Brandenburgerin aufgrund ihres »unmoralischen« Lebenswandels aufmerksam geworden. Im Bericht über ihre Anwerbung vermerkte die MfS-Kreisdienststelle Brandenburg, dass sie aus »Überzeugung« geworben worden sei und keinerlei Bedenken oder Forderungen geäußert habe. Ab August 1955 setzte das MfS die GI »Lisa König« verstärkt für Aufklärungsarbeiten in West-Berlin ein, wo sie im Februar 1956 mit dem ZOPEMitarbeiter Heinrich Berger in Verbindung kam. Zehn Monate hielt sie den Kontakt zu ihm und baute im Dienste des MfS ein Vertrauensverhältnis auf, das im Dezember 1956 für die Entführung des Westberliners genutzt werden konnte.285 Der in Aussicht gestellte Geldbetrag für die Einrichtung einer Einzimmerwohnung als Lohn für ihren Einsatz wird dabei als Motivation nicht unerheblich gewesen sein.286 Doch wenn das vom MfS gezeichnete Bild der GI »Lisa König« als »der Sache der DDR treu ergeben[en]« Frau der Realität 282 Vgl. handschriftlicher Lebenslauf, Heinz Lohse, 25.6.1951. BStU, MfS, AIM 5899/57, P-Akte, S. 9 f.; Ermittlungsbericht, MfS, 4.12.1950. Ebenda, S. 7. 283 Handschriftliche Verpflichtungserklärung, Heinz Lohse, 10.10.1950. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte, S. 11 f., hier 11. 284 Vgl. Denkschrift zum Menschenraub, Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, 1963. BArch, B 137/1963, S. 66. 285 Vgl. Vorschlag, KD Brandenburg, 19.7.1954. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 17 f., hier 17; Bericht, KD Brandenburg, 10.8.1954. Ebenda, S. 19 f., hier 19; Auskunftsbericht, KD Brandenburg, 12.7.1956. Ebenda, S. 28–32, hier 29–31. 286 Vgl. Prämierungsvorschlag, HA II Leitung, 13.1.1958. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 53.
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entsprach, dürfte sie auch aus »politischer Überzeugung« gehandelt haben. Ende des Jahres 1960 äußerte sie den Wunsch, Mitglied der SED zu werden – ob ihr dieser Wunsch erfüllt wurde, geht aus den IM-Akten nicht hervor.287 Eine ähnliche Ausgangsposition lässt sich auch für die GM »Sylvia« verzeichnen. Bei ihrer Anwerbung als GI im März 1952 war die 24-jährige Potsdamerin zwar kein SED-Mitglied, aber seit 1949 in der FDJ und anderen Massenorganisationen wie dem FDGB und der DSF. Und die Abteilung VI attestierte ihr im Werbungsvorschlag eine positive Einstellung zur »antifaschistischen-demokratischen Ordnung«.288 In dem Bericht über ihre Anwerbung vermerkte das MfS, dass »Sylvia« die Verpflichtung für selbstverständlich gehalten habe, nachdem man ihr erklärt habe, dass die Staatssicherheit gute Personen brauche, die über Missstände berichten würden.289 Nach zweijähriger Tätigkeit für das MfS bewarb sie sich im Mai 1954 als Kandidatin der SED und beteuerte in ihrem Lebenslauf: »Während meiner ganzen Tätigkeit für das Staatssekretariat hatte ich Gelegenheit, mit Agenten zusammenzukommen. Ich lernte diese Menschen und das Regime, von dem sie gestützt werden und das sie durch ihre gemeine Arbeit stützen, aus tiefsten Herzen hassen. Diese Arbeit, die ich jetzt ausübe, wurde mir zum Bedürfnis, wenn sie auch manchmal schwer ist. Endlich kann man mehr tun. Man kann dem Feind ins Herz treffen. Je öfter, desto besser. Mitleid mit solchen Individuen kenne ich nicht. Welchen Auftrag ich auch erhielt, ich habe versucht, ihn nach besten Kräften zu lösen. Denn ich wußte, was man mir sagt, ist richtig und notwendig. Ich bin zwar noch nicht Mitglied der Partei, aber ich fühlte trotzdem in meinem Handeln die Stärke der Partei. Für mich waren die Aufträge bindend, ich sah sie als Parteiaufträge an, sie waren wichtiger als alles andere. […] Ich habe der Partei und den Genossen der Staatssicherheit, mit denen ich bisher zusammenarbeitete, vieles zu verdanken. Sie haben mich wie ein kleines Kind an die Hand genommen und mich erzogen, wo es andere schon aufgegeben hatten, aus mir noch mal einen vernünftigen Menschen zu machen. Natürlich muß ich selbst noch viel an mir arbeiten.«290
Trotz dieses glühenden Bekenntnisses erfolgte anscheinend keine Aufnahme in die Partei. Der Grund für die Nichtaufnahme lag allerdings eventuell darin, dass sie zur selben Zeit hauptamtlich als GI für die MfS-Hauptabteilung V und die Abteilung V der Bezirksverwaltung Leipzig zu arbeiten begann und in 287 Vgl. Auskunftsbericht, HA VIII, 7.12.1960. BStU, MfS, AIM, 6183/61, P-Akte, S. 220– 225, hier 221, 224. Vgl. Auskunftsbericht, KD Brandenburg, 12.7.1956. Ebenda, S. 28–32, hier 29. 288 Vorschlag, Abt. VI, 13.11.1951. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 1, S. 6. Vgl. Ermittlungsbericht, Abt. VIII an Abt. V, 28.5.1954. Ebenda, S. 28 f. Laut diesem Ermittlungsbericht hätte »Sylvia« Kandidatin der SED werden wollen, was aber – laut Auskunft der Nachbarn – abgelehnt worden sei, weil ihre Eltern in West-Berlin lebten. 289 Bericht, MfS, März 1952. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 1, S. 19. 290 Lebenslauf, MfS, 19.5.1954. Ebenda, S. 108–115, hier 114 f.
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West-Berlin zum Einsatz kam, so auch bei der Entführung von Erwin Neumann im August 1958.291 In den MfS-internern Einschätzungen lobten ihre Führungsoffiziere immer wieder, dass sie sehr »einsatzwillig« und »von der Notwendigkeit ihrer Arbeit auch politisch überzeugt« sei. Sie müsse nur noch angeregt werden, ihre »politisch fortschrittliche« Einstellung zu intensivieren.292 Von den untersuchten Entführer-IM des dritten Typs – also diejenigen, die aufgrund ihrer bestehenden Vertrauensbeziehungen zum Entführungsopfer zum Einsatz kamen –, handelten sechs der zehn IM mehr oder minder aus »politischer Überzeugung«, die sich in den bereits erläuterten Facetten zeigte. Bei drei von ihnen waren politische Motive ein zentraler Beweggrund ihrer Zusammenarbeit, bei den anderen drei dürften sie im Motivationsgefüge eine Nebenrolle gespielt haben. Der im November 1954 geworbene GM »Herbert« hatte sich einen Monat zuvor auf dem Präsidium der Volkspolizei in OstBerlin gemeldet und um ein Gespräch mit einem MfS-Mitarbeiter gebeten, um Angaben über seine Anwerbung für den britischen und den westdeutschen Geheimdienst zu machen. Im Sommer desselben Jahres war er aus seiner polnischen Heimat nach West-Berlin geflüchtet.293 Enttäuscht über den ›goldenen Westen‹ bekundete »Herbert« gegenüber dem MfS, dass er seine Flucht bereue. Angesichts des Umgangs (vor allem der westlichen Geheimdienste) mit den Flüchtlingen in den bundesdeutschen Flüchtlingslagern habe seine »ideologische Rückkehr in die Reihen der Volksdemokratie« bereits dort angefangen: »Mir schwirrte der Kopf und mir wurde klar, was die Amis unter ›Flüchtlingshilfe‹ verstehen. Von Hilfe keine Spur, man wollte mich auspressen. […] Dieses alles trieb mich bald zur Verzweiflung, mir wurden gewaltsam die Augen geöffnet, auf welcher Seite mein Platz ist.«294
Mit seinen Kontakten zum britischen Geheimdienst und der Organisation Gehlen war »Herbert« für das MfS von großem Interesse. Bereits Anfang November 1954 schlug die Abteilung II/4 seine Anwerbung als GM vor, um Informationen über die beiden Geheimdienststellen zu gewinnen, und wenige
291 Auskunftsbericht, MfS, 30.7.1959. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 3, S. 47–52, hier 48, 50 f. 292 Einschätzung, HA V/2, 5.9.1956. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 1, S. 116; vgl. Einschätzung, HA V/2, 13.3.1956. Ebenda, S. 74; Einschätzung, BV Leipzig Abt. V/6, 10.1.1959. Ebenda, P-Akte Bd. 2, S. 387 f., hier 387. 293 Analyse der Kontaktperson, Verwaltung Groß-Berlin Abt. II/4, 28.10.1954. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 45–47, hier 45; Vorschlag, Abt. II/4, 4.11.1954. Ebenda, S. 48 f.; Auskunftsbericht, HA II/4, 19.12.1957. Ebenda, S. 135–139, hier 135 f. 294 Handschriftlicher Bericht, Klaus Blaschke, 16.10.1954. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 24–32, hier 24 f., 30, 32.
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Tage später schrieb »Herbert« seine Verpflichtungserklärung.295 Fortan betrieb »Herbert« ein doppeltes Spiel und berichtete dem MfS über seine Aufträge, die er in Polen für die westlichen Geheimdienststellen durchführte. Ins Blickfeld des MfS rückte dabei immer mehr der westliche Agent mit dem Decknamen »Braun«, zu dem »Herbert« schon vor seiner Anwerbung für das MfS Kontakt hatte. Auftragsgemäß baute »Herbert« eine Vertrauensbeziehung zu diesem auf, sodass er »Braun« im November 1955 unter Mithilfe von zwei weiteren GM gewaltsam nach Ost-Berlin entführen konnte.296 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erkannte das MfS in dem GM »einen starken Hass gegen den Imperialismus und dessen Handlanger«. »Herbert« hatte sich bewährt und erfüllte auch in politischer Hinsicht die Ansprüche des MfS: »Seine politische Arbeit begann erst nach dem Absetzen nach Westberlin als er dort erkannte, dass nicht die sogenannte freie Welt, sondern das Lager des Sozialismus den richtigen Weg geht. […] Er verfolgt täglich die Entwicklung des sozialistischen Lagers und setzt sich wie schon angeführt aktiv dafür ein. Er kann jetzt als politisch zuverlässiger Mensch in unseren Reihen betrachtet werden. […] Der GM arbeitet nicht aus finanziellen Gründen mit dem MfS zusammen, sondern tut dies seit der Rückkehr aus Westberlin aus fester politischer Überzeugung.«297
Sie fand auch ihren Ausdruck, als »Herbert« im Februar 1959 Kandidat und im August desselben Jahres Mitglied der SED wurde. Das MfS bezeichnete ihn immer wieder als »treuen Genossen«, der fest zur DDR stehe und sich »durch Selbststudium marxistischer Schriften und aktueller Probleme ein politisches Fundament« geschaffen habe. Nur im Abschlussbericht vermerkte die Hauptabteilung II/4 im Februar 1960 noch »einige politische und ideologische Schwächen«, die eine Folge des RIAS-Hörens seien.298 Der Grenzpolizist Erwin Röder war bereits seit sechs Jahren Mitglied der SED, als er im Juli 1959 vom MfS als Kontaktperson299 angeworben wurde. Innerhalb der Parteiorganisation zeige er eine aktive Beteiligung und setze sich in Parteiversammlungen »mit negativen Erscheinungen auseinander«. Seine 295 Vgl. Vorschlag, Abt. II/4, 4.11.1954. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 48 f.; Verpflichtungserklärung, Klaus Blaschke, 9.11.1954. Ebenda, S. 50. 296 Vgl. Bericht, HA II/4, 21.12.1955. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 70. 297 Auskunftsbericht, HA II/4, 19.12.1957. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 135–139; vgl. Vorschlag, HA II/4, 23.2.1956. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 73. 298 Prämierungsvorschlag, HA II/4, 30.6.1959. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 159; Abschlussbericht, HA II/4, 26.2.1960. Ebenda, S. 166–168, hier 167; vgl. Auskunftsbericht, MfS, 13.7.1959. Ebenda, S. 160; Auskunftsbericht, HA II/4, 20.9.1960. Ebenda, S. 179–182, hier 181; Bericht, HA II/4, 11.8.1960. Ebenda, S. 184 f. 299 Das MfS bezeichnete Kontakte unterschiedlicher Art als Kontaktperson (KP); vor allem in den 1950er Jahren handelte es sich um Informanten, die allerdings nicht formell als IM erfasst und registriert waren. Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Kontaktperson (KP). In: Roger Engelmann u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Berlin 2011, S. 193.
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»positive politische Haltung« habe er zudem bei seinem »aktiven Einsatz zur Festnahme des Smolka« bewiesen, resümierte die MfS-Hauptabteilung I im Februar 1961.300 Der geflohene Grenzpolizist Manfred Smolka war im August 1959 an der deutsch-deutschen Grenze in einen Hinterhalt gelockt und in die DDR verschleppt worden. Beteiligt an dieser Verschleppungsaktion war der 29-jährige Grenzpolizist Erwin Röder, den das MfS anwarb, weil er schon seit einigen Jahren mit Smolka und dessen Ehefrau bekannt war. Das MfS erteilte ihm den Auftrag, den Kontakt zu der in der DDR zurückgebliebenen Ehefrau aufrechtzuerhalten und eine enge Vertrauensbeziehung aufzubauen. Erwin Röder erfüllte die Anweisungen, bot sich ihr auftragsgemäß sogar als Fluchthelfer an und schuf damit die Falle, die das MfS im Sommer 1959 zur Verschleppung des geflohenen Grenzpolizisten Smolka nutzte.301 Vor diesem Hintergrund ist die Beteiligung des Erwin Röder nicht nur auf politische Motive und sein Pflichtgefühl als Grenzpolizist zurückzuführen, sondern vermutlich ebenso auf persönliche Beweggründe. Im Motivationsgefüge eines im August 1953 als GM »Lieber« verpflichteten Westberliners hatte die »politische Überzeugung« vermutlich eher eine nachrangige Position. Im Alter von 22 Jahren war er im März 1952 nach WestBerlin geflüchtet. Zu dieser Zeit war er seit drei Jahren Mitglied des FDJ und seit zwei Jahren Kandidat der SED, lieferte aber zusammen mit seinem Vater Informationen an einen westlichen Geheimdienst. Durch seine Flucht nach West-Berlin entging er einer Festnahme, seinem Vater gelang dies nicht. Aufgrund seiner Verbindungen nahm das MfS über seine Mutter Kontakt zu »Lieber« auf, der sich schließlich im August 1953 als GM von der Hauptabteilung V anwerben ließ und sich an zwei Entführungsaktionen im November 1953 und im September 1954 beteiligte.302 In politischer Hinsicht hatte »Lieber« anscheinend einigen Nachholbedarf, aber sein Führungsoffizier vermerkte im April 1955, dass diesbezüglich »eine ständige Weiterentwicklung zu beobachten« sei und er »fest zu den Beschlüssen unserer Partei u. Regierung« stehe.303 Im Jahre 1958 wurde »Lieber« Mitglied der SED und war »auf Basis
300 Einschätzung, HA I/DGP/4, 23.2.1961. BStU, MfS, AIM 1983/61, P-Akte, S. 187 f.; vgl. handschriftlicher Lebenslauf, Erwin Röder, 27.7.1959. Ebenda, S. 36 f., hier 37; Abschlussbericht, HA Kader und Schulung, 10.10.1977. BStU, MfS, KS 4257/90, S. 21–26, hier 23, 26. 301 Vgl. Vorschlag, Operativgruppe der DGPB Zschachenmühle, 27.7.1959. BStU, MfS, AIM 1983/61, P-Akte, S. 34 f.; Treffbericht, Operativgruppe der GPB Zschachenmühle, 4.7.1959. Ebenda, S. 45–47, hier 45; Zwischenbericht, HA I/DGP, 20.7.1959. Ebenda, S. 67–69, hier 69; Vgl. Aktenvermerk, Staatsanwaltschaft II Landgericht Berlin, 21.3.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 976/92, Bd. 3, Bl. 714–746, hier 715–718. 302 Vgl. Bericht, HA V/4, 24.12.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 32; Lebenslauf, Fritz Nitschke, 6.7.1954. Ebenda, S. 33. 303 Beurteilung, HA V/4, 14.4.1955. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 49.
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Überzeugung«304 noch bis Sommer 1980 als IM für das MfS tätig. Angesichts seines inhaftierten Vaters erfolgte seine Anwerbung aber in einer Drucksituation, die bei der Betrachtung des Motivbündels dieses GM nicht außer Acht gelassen werden darf. VII.2 Werbung unter Druck und auf Basis der »Wiedergutmachung« Viele der erfassten Entführer-IM waren zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung erwerbslos und nicht wenige befanden sich daher vermutlich in finanziellen Schwierigkeiten.305 Von derartigen Zwangslagen, die die Entscheidung für eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS begünstigt haben, soll hier jedoch nicht die Rede sein. Vielmehr muss eine Werbung »unter Druck« im Sinne einer erpressten Zusammenarbeit verstanden werden, die beispielsweise auf Grundlage von belastendem Material oder inhaftierten Familienangehörigen oder Freunden erfolgte. Besonders in den 1950er Jahren warb das MfS Personen auf diese Weise für die inoffizielle Zusammenarbeit. Im Laufe der Zeit wurden derartige Erpressungen seltener – zumal damit keine stabile Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit geschaffen werden konnte –, allerdings ist laut Jens Gieseke von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.306 Dieser Art der Werbung mussten nicht immer gezielte Erpressungen zugrunde liegen. Das MfS nutzte ebenso die Angst, die in großen Teilen der DDR-Bevölkerung gegenüber dem geheimnisvollen Staatssicherheitsapparat herrschte. Unabhängig von konkreten Drohkulissen konnten theoretisch alle IM eine Drucksituation verspüren, da sie die Konsequenzen einer Weigerung nicht kannten und fürchteten. Eine Ablehnung der Zusammenarbeit mit dem MfS blieb normalerweise ohne Konsequenzen, aber die Furcht vor möglichen negativen Folgen war groß und stets präsent. Bei den DDR-IM war diese Angst aufgrund der Einfluss- und Zugriffsmöglichkeiten des Staatssicherheitsapparates evidenter als bei den West-IM. Sie beeinflusste die mögliche Entscheidung zur Verweigerung gravierend und nicht selten negativ.307 Ein bewährtes Mittel, eine IM-Tätigkeit zu umgehen, war es, sich gegenüber Dritten zu offenbaren. Durch diese »Dekonspiration« war man für das 304 Auskunftsbericht, HA XX/7, 19.2.1979. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 3–10, hier 8 f. 305 Vgl. Ausführungen in Kapitel VI.3 sowie VI.5. 306 Druck konnte u. a. mithilfe von kompromittierendem Material (z. B. über die NSVergangenheit, persönliche Verfehlungen) oder mit Hinweis auf event. Westkontakte ausgeübt werden. Eine inoffizielle Zusammenarbeit wurde zum Teil auch von Häftlingen erpresst. Vgl. KerzRühling/Plänkers: Verräter, S. 14 f., 120 f., 129 f.; Müller-Enbergs: Verweigerung, S. 186; MüllerEnbergs: IM 1, S. 107–110, 147; ders.: Motivation, S. 105, 116 f.; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 127. 307 Trotzdem lehnte schätzungsweise jeder Dritte den Werbungsversuch des MfS ab. Vgl. Müller-Enbergs: IM 1, S. 13; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 127–131; Kerz-Rühling/Plänkers: Verräter, S. 16, 131 f., 231 f.; Müller-Enbergs: Verweigerung, S. 185–187.
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MfS wertlos und wurde nicht weiter bedrängt. Mitunter reichten auch verschiedene Ausreden, die allerdings nicht den Anschein einer SystemGegnerschaft erwecken durften, um negative Konsequenzen zu vermeiden. Die Flucht in die Bundesrepublik blieb schließlich der letzte, vermeintlich sichere Ausweg, um sich dem Zugriff des MfS zu entziehen. In den 1950er Jahren wählten viele IM-Kandidaten oder bereits verpflichtete IM diesen Weg, sodass dieses Phänomen zum bedeutsamen Problem avancierte. Zumal die Gefahr bestand, dass die geflohenen IM im Westen Auskunft über die Arbeitsmethoden und konspirativen Wohnungen des MfS geben konnten. Zwischen 1950 und 1959 flohen insgesamt rund 16 500 IM verschiedener osteuropäischer Geheimdienste, vor allem des MfS, in die Bundesrepublik. Die Versuche des MfS, diesem Phänomen entgegenzuwirken, scheiterten. Erst der Mauerbau führte zu einem Ende dieser Problematik.308 Abhängigkeiten, Druck und Einschüchterung waren stets bei der IMWerbung von Bedeutung, bilden sich in den MfS-Unterlagen aber selten eindeutig ab. Die Fälle, in denen das MfS zwar nicht gezielt Druck ausübte, die Angesprochenen aber aus Furcht vor den Folgen einer Verweigerung zustimmten, sind kaum zu ermitteln. In einer Studie über die Motivation von IM registrierte der MfS-Analytiker Manfred Hempel 1967 bei 23,4 Prozent »Druck- und Zwangserlebnisse« als Hauptmotiv und bei 22,1 Prozent als Nebenkomponente.309 Helmut Müller-Enbergs vermutet, dass die Führungsoffiziere diese Werbungsart Anfang der 1950er Jahre bevorzugten – zum Missfallen der Führungsetage im Staatssicherheitsapparat. So sei auf einer Dienstkonferenz im März 1954 gefordert worden, »nicht nur« IM »unter Druck« anzuwerben, sondern auch durch »Überzeugung« Personen zur inoffiziellen Zusammenarbeit zu gewinnen. Im Juni 1957 habe MfS-Chef Ernst Wollweber sich dann jedoch beschwert, dass die Methode der Anwerbung mithilfe von kompromittierendem Material »nicht genügend« genutzt werde.310 Bei den hier untersuchten Entführer-IM, die nahezu alle in den 1950er Jahren angeworben wurden, muss der große Anteil der West-IM von fast 50 Prozent berücksichtigt werden. Immerhin bei vier der 50 Entführer-IM weisen die MfS-Akten jedoch recht deutlich auf das Bestehen einer Zwangslage hin, die einen entsprechenden Einfluss auf ihre Bereitschaft zur inoffiziellen Zusammenarbeit gehabt haben könnte. Zwei dieser IM sind den EntführerIM des dritten Typs zuzurechnen (einer von ihnen lebte in West-Berlin) sowie 308 Vgl. Müller-Enbergs: Verweigerung, S. 166, 175–194; ders.: IM 1, S. 147–149. 309 Vgl. Manfred Hempel: Die Wirkung moralischer Faktoren im Verhalten der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit den Organen des Ministeriums für Staatssicherheit. Potsdam 1967. BStU, MfS, JHS Nr. 21775, Bd. 1, S. 83–85, 94 f. Zit. in: Müller-Enbergs: IM 3, S. 107 f. Vgl. ders.: Motivation, S. 120–123. 310 Vgl. Müller-Enbergs: IM 1, S. 108; Aktennotiz, MfS, 2.3.1954. BStU, MfS, SdM Nr. 1921, S. 191 f.; Protokoll, MfS, 21.6.1957. Ebenda, S. 231–241, hier 235.
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zwei dem zweiten Entführer-IM-Typus. Bei der gezielten Suche nach Personen, die bereits Kontakt zu einem Entführungsopfer hatten oder diesen leicht aufbauen konnten, nutzte das MfS demnach mitunter eine persönliche Zwangslage der Kandidaten, um deren Bereitschaft zu erpressen. Der Stellenwert dieser Drucksituation im Motivationsgefüge der Entführer-IM war wiederum unterschiedlich. Gravierende Bedeutung scheint sie beispielsweise bei der Tochter des geflohenen MfS-Majors Sylvester Murau gehabt zu haben, die dem MfS bei dessen Entführung im Juli 1955 als ›Lockvogel‹ diente. In den Augen des MfS verfügte die damals 21-Jährige »auf Grund der gegebenen Umstände als einzige Person über die Möglichkeiten, die Hauptrolle in dieser operativen Kombination zu übernehmen«.311 Zielgerichtet bereitete das MfS die junge Frau auf ihren Einsatz vor. Ab Ende Oktober 1954 informierte sie detailliert über den Kontakt zu ihrem Vater. Als sie ihn im Juli 1955 in der Bundesrepublik besuchte, machte sie in einem Lokal die anscheinend zufällige Bekanntschaft mit zwei Männern. Beide hatte sie aber bereits bei einer Besprechung unter der Regie des MfS in Ost-Berlin kennengelernt. Auftragsgemäß verabredeten sie sich zu einer Spritztour am nächsten Tag, die für Murau unerwartet in Ost-Berlin endete.312 Rund 23 Jahre später resümierte das MfS: »Die IM ›Honett‹ hat sich während des gesamten Einsatzes als eine klug handelnde, standhafte und politisch verantwortungsbewußte Genossin erwiesen. Ihre politische Standhaftigkeit und tiefe Überzeugung von der Richtigkeit ihres Auftrages wurde unter anderem dadurch charakterisiert, daß ihr sowohl die Gefährlichkeit ihrer Aufgabe als auch die Tatsache bewußt war, daß der mit ihrer Hilfe zur Strecke zu bringende Feind mit der Todesstrafe zu rechnen hatte.«313
In demselben Bericht wies der MfS-Mitarbeiter allerdings auch auf ihren lange Zeit sehr angegegriffenen Gesundheitszustand hin, »auf Grund der mit ihrem operativen Einsatz verbundenen starken physischen und psychischen Belastung«.314 Diese lässt sich bei der Betrachtung ihrer damaligen Situation erahnen: Nach Muraus Flucht Mitte Oktober 1954 wurde seine Ehefrau, die Mutter der IM »Honett« verhaftet. Das MfS registrierte die materielle Notlage der Tochter und ihre verzweifelten Nachforschungen über den Verbleib ihrer Mutter. Erst sieben Tage nach der Verhaftung und nach mehreren Anfragen
311 Bericht, HA VIII, 7.9.1978. BStU, MfS, AIM 10381/79, Bd. I/1, S. 9 f., hier 9. 312 Vgl. Vernehmungsprotokoll, Abt. V. 1 (S) V, 3.8.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8972, Bl. 31– 36; Vorführbericht, Abt. V.1 (S) V, 4.8.1955. Ebenda, Bl. 37 f. Vgl. Gerken: Spione, S. 300–307; Sälter: Repression, S. 102–104; Fricke: Verräter, S. 262 f.; ders./Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1207. 313 Bericht, HA VIII, 7.9.1978. BStU, MfS, AIM 10381/79, Bd. I/1, S. 9 f., hier 9. 314 Ebenda, S. 10.
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beim MfS erhielt sie eine entsprechende Auskunft.315 Wenige Tage später bot sie dem MfS ihre Unterstützung an: »Da ihr Vater schon in früheren Zeiten für die Existenz seiner Kinder nichts übrig hatte, fühlt sie sich, wie sie zum Ausdruck brachte, stark genug, entscheidend dazu beizutragen, ihren Vater hinter Schloss und Riegel zu bringen, wie sie wörtlich sagte. Aus ihren Ausführungen konnte man entnehmen, dass sie durch diese Maßnahme weiterhin erhofft, für ihre bereits inhaftierte Mutter mildernde Umstände zu schaffen.«316
»Honett« befand sich also in einer Zwangslage, in der sie zwischen dem Schicksal ihrer Mutter und ihres Vaters abwägen musste. Die Beziehung zu ihrem Vater war anscheinend gestört und wurde nun durch seine folgenreiche Flucht zusätzlich belastet. Zudem fürchtete sie negative Konsequenzen für ihren Ehemann, der als Leutnant bei der Kasernierten Volkspolizei beschäftigt war. Vor diesem Hintergrund entschied sie sich zur Mithilfe bei der Entführung ihres Vaters. Das Verfahren gegen ihre inhaftierte Mutter wurde tatsächlich eingestellt, allerdings erst im Oktober 1955. Offensichtlich wurde sie gezielt als Faustpfand für die Kooperationsbereitschaft der Tochter in Haft gehalten.317 Angesichts der Inhaftierung eines Elternteils willigte auch der GM »Lieber« im August 1953 in eine Zusammenarbeit mit dem MfS ein. Gemeinsam mit seinem Vater hatte er Informationen in den Westen geliefert, ihr dortiger Kontaktmann war Karl Reimer. Das MfS bearbeitete Vater und Sohn in dem operativen Vorgang »Textil«, der im März 1952 durch die Festnahme der beiden abgeschlossen werden sollte. Doch dem Sohn gelang rechtzeitig die Flucht nach West-Berlin. Während der Vater wegen Spionagetätigkeit zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, behielt das MfS den Sohn in West-Berlin weiter im Visier. Im Februar 1953 nahm es dann über die Mutter Kontakt zu ihm auf. »Lieber« zeigte sich sofort gesprächsbereit, zögerte jedoch anfangs, nach Ost-Berlin zu kommen. Nach einem ersten Zusammentreffen im Juni 1953 informierte »Lieber« fortan das MfS über Karl Reimer und übermittelte Unterlagen von diesem. Seit Anfang Oktober 1953 beauftragte ihn dann das MfS, Entführungspläne zu entwickeln. Nach zwei gescheiterten Versuchen gelang es ihm am 13. November, Karl Reimer nach Ost-Berlin zu entführen. Ein dreiviertel Jahr später ließ sich das MfS noch einen weiteren Westberliner von »Lieber« nach Ost-Berlin bringen, den Journalisten Herbert Eigner. »Lie315 Vgl. Ermittlungsbericht, MfS, 22.10.1954. BStU, MfS, GH 124/55, Bd. 5, S. 10 f.; Sälter: Repression, S. 96. 316 Aktennotiz, MfS, 27.10.1954. BStU, MfS, GH 124/55, Bd. 5, S. 12 f. Vgl. Sälter: Repression, S. 96 f. 317 Vgl. Bericht, MfS, 11.11.1954. BStU, MfS, GH 124/55, Bd. 5, S. 24–28; Sälter: Repression, S. 97 f.
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ber« hatte ihn im Dezember 1952 in West-Berlin kennengelernt und seit Januar 1954 dem MfS über ihn Bericht erstattet.318 Nach diesen beiden Entführungsaktionen erging MfS-intern die Weisung, ein Gnadengesuch für den Vater des GM »Lieber« bei der Präsidialkanzlei zu unterstützen.319 In dem entsprechenden Schreiben an Wilhelm Pieck als Präsidenten der DDR bekundete das MfS: »Vor ca. 2 Monaten kehrte der N. aus Westberlin in den demokratischen Sektor zurück und stellte sich freiwillig unseren Organen. Er hatte erkannt, daß er falsch gehandelt hat und ist bereit es wieder gut zu machen. Er hat es dadurch bewiesen, daß er konkretes Material über diejenigen Agentenzentralen übergab, zu denen er Verbindung hatte. Von unseren Organen konnten daraufhin 2 Residenten und die mit ihnen in Verbindung stehenden ca. 20 Agenten verhaftet werden.«320
Eineinhalb Monate später begnadigte Pieck den inhaftierten Ewald Nitschke.321 Im von finanziellen Interessen dominierten Motivbündel des GI »Schütte« war die Drucksituation, in der er bei seiner Anwerbung steckte, hingegen wohl nur eine Art Auslöser. »Aufgrund kompromitierenden Materials verpflichtet« notierte das MfS in einer Beurteilung vom Februar 1953 über den GI »Schütte«, der wenige Monate zuvor angeworben worden war.322 Der DDR-Bürger aus Stendal war im August desselben Jahres auf einer Bahnfahrt von WestBerlin nach Stendal von der Transport-Polizei festgenommen worden, da er Westzeitungen mit sich führte. In der weiteren Untersuchung stellte sich heraus, dass »Schütte« oft nach West-Berlin fuhr, um dort einen Bekannten zu treffen. Seine Verbindungen nach West-Berlin, besonders zu ehemaligen Wehrmachtsoffizieren, ließ die MfS-Kreisdienststelle Stendal seine Verpflichtung als GI erwägen. Nach einem eingehenden Gespräch über seine »feindliche Tätigkeit«, die sich »auch auf seine weitere Entwicklung nachteilig« auswirken könne, boten die MfS-Mitarbeiter ihm eine Möglichkeit, »seine verbrecherische Tätigkeit wieder gutzumachen«: die inoffizielle Zusammenarbeit mit 318 Vgl. Bericht, HA V/4, 24.12.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 32; Bericht, MfS, 4.6.1954. Ebenda, S. 144–179, hier 144–149; Auskunftsbericht, HA XX/7, 19.2.1979. Ebenda, S. 3–10, hier 7; 19 Berichte, Fritz Nitschke, und 5 Treffberichte, MfS, 23.7.–19.11.1953. Ebenda, AAkte Bd. 1, S. 39–85, 89, 92, 96, 103 f., 112–115, 120–128; 4 Berichte, GM »Lieber«, 21.1.– 29.3.1954. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 70 f., 80 f., 94, 205; zahlreiche Berichte in A-Akte Bd. 3, S. 5– 190 (darunter: Bericht, GM »Lieber«, 21.6.1954. Ebenda, A-Akte Bd. 3, S. 178–180) und in A-Akte Bd. 4, S. 6–214 (darunter: Treffbericht, HA V/4, 31.8.1954. Ebenda, A-Akte Bd. 4, S. 63 f.). 319 Vgl. Schreiben, HA V/4 an HA PS, 1.10.1954. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 39. 320 Schreiben, SfS an Präsident der DDR Wilhelm Pieck, 29.11.1954. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 43. 321 Vgl. Gnadenentscheid, Präsident der DDR Wilhelm Pieck, 13.1.1955. BStU, MfS, AU 319/52, Bd. 3, S. 21. 322 Beurteilung, MfS, 2.2.1953. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/1, S. 36. Vgl. Auskunftsbericht, HA II/4, 23.2.1961. Ebenda, S. 248 f., hier 248.
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dem MfS.323 »Schütte« nahm das Angebot an und erklärte im Oktober 1952 in seiner schriftlichen Verpflichtung: »Ich bin mir bewußt[,] daß meine Handlung, die ich ausgeführt habe, in dem ich westliche Zeitungen ins Gebiet der DDR mitnahm sich für unsere Entwicklung und Aufbau störend auswirken könnten. Aus diesem Grunde heraus muß es mir eine besondere Pflicht sein, meine schuldige Handlung wieder gut zu machen, in dem ich mit dem MfS mit arbeite, um alle Agenten und Spione mit zu entlarven.«324
Das anfängliche Misstrauen des MfS gegenüber »Schütte«, dass er ein Doppelagent sein könnte, zerschlug sich nach seiner Beteiligung an der Festnahme eines unter Spionageverdacht stehenden Mannes aus Stendal im Oktober 1953. »Schütte« entwickelte sich zu einem wertvollen IM, nicht zuletzt aufgrund seines Kontakts zu Wilhelm van Ackern von der Organisation Gehlen, von dem er sich – im Auftrag des MfS – zur Militärspionage hatte anwerben lassen. Er übernahm schließlich eine führende Rolle bei der gewaltsamen Entführung van Ackerns im März 1955.325 Seine Bewährung als IM veränderte die Wahrnehmung seiner Person im Staatssicherheitsapparat: Der unter Druck geworbene Stendaler, der seit November 1945 Mitglied der LDPD war, wurde zum »aus Überzeugung« für das MfS arbeitenden GM.326 In den Augen der Hauptabteilung II/4 sollte jedoch trotz der Fortschritte ihres IM in politischer Hinsicht noch eine »intensive Erziehungsarbeit auf politischem Gebiet« erfolgen. Zwar gebe er sich »große Mühe […], durch seine Arbeit zu beweisen, daß er auf dem Boden unseres Staates steht und die Politik der Partei durchzuführen«. Aber ihm fehle die Verbindung zur Arbeiterklasse, da er den größten Teil seines Lebens »unter den Nutznießern des kapitalistischen Systems zugebracht« habe und nun im Rahmen seiner IM-Tätigkeit ständig mit der DDR feindlich gesinnten Menschen zu tun habe.327 Mit Zufriedenheit vermerkte dieselbe Diensteinheit daher fast drei Jahre später, im Februar 1961:
323 Schlussbericht zur Anwerbung, MfS, Stendal, 20.10.1952. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/1, S. 52. Vgl. Auskunftsbericht, MfS, 1952. Ebenda, S. 42–44, hier 43 f. Gemäß des Schlussberichtes soll »Schütte« im Gespräch selbst gebeten habe, dass man ihm eine Möglichkeit der Wiedergutmachung geben solle. 324 Handschriftliche Verpflichtungserklärung, »Schütte«, 12.10.1952. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/1, S. 45 f., hier 45. 325 Vgl. Vermerk, MfS, 24.11.1953. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/1, S. 58; Beurteilung, MfS, 17.5.1954. Ebenda, S. 65; Auskunftsbericht, HA II/4, 3.6.1957. Ebenda, S. 102–108, hier 103; Auskunftsbericht, HA II/4, 1.3.1966. Ebenda, Bd. I/5, S. 12–56, hier 25–41; Festnahmeplan, Abt. II, 30.11.1954. Ebenda, Bd. II/6, S. 22–24; Treffbericht, Abt. II, 15.3.1955. Ebenda, Bd. II/7, S. 193 f. 326 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/4, 3.6.1957. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/1, S. 102–108, hier 107 f.; Auskunftsbericht, HA II/4, 5.4.1958. Ebenda, S. 136–140, hier 139 f. 327 Beurteilung, HA II/4, 7.6.1958. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/1, S. 147 f., hier 148.
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»Durch die Zusammenarbeit mit dem MfS entwickelte er sich von einem politisch undiverenten [sic!] zu einem politisch bewußten Menschen, der fest auf dem Boden der DDR steht. In regelmäßigen Abständen werden politische Schulungen mit dem GHI durchgeführt, um sein Wissen in dieser Hinsicht zu erweitern und sein Bewußtsein zu stärken.«328
Diese Schulungen führten allerdings nicht dazu, »Schütte« eine »tiefere ideologische und theoretische Einsicht in die Richtigkeit der sozialistischen Entwicklung« zu vermitteln, denn den Mangel einer solchen beklagte die Hauptabteilung II/4 im Jahre 1966. Aber immerhin zeigte er eine »positive politische Stellung«, die man auf seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und »eine allgemeine Einsicht in die Richtigkeit der Entwicklung in der DDR« zurückführte. Nur in einem späteren Auskunftsbericht wird konkret von einer Werbung »unter Druck« gesprochen, in anderen Auskunftsberichten findet sich hingegen die Formulierung, dass er auf Basis der »Überzeugung« geworben worden sei.329 Ein nachrangiges Motiv war die Drucksituation auch bei dem mehrfach vorbestraften und im November 1954 angeworbenen GI »Friedrich«, der sich angeblich aufgrund der Verfehlungen seiner Lebensgefährtin zur inoffiziellen Arbeit für die DDR verpflichtet fühlte. Bereits im Januar 1953 hatte er sich vom GM »Konsul« für einen Entführungsversuch anheuern lassen, der jedoch missglückte und ihm eineinhalb Jahre Gefängnis einbrachte. Als er nach seiner Haftentlassung im Sommer 1954 Kontakt zum MfS aufnahm, berichtete er dort über seine damalige Motivation, dass seine Lebensgefährtin Kontakt zu »westlichen Agenten« gehabt habe und im September 1952 in Ost-Berlin festgenommen worden sei. Dieser Vorfall habe ihn »aktiv gegen den Westen tätig werden« lassen, da die westlichen Geheimdienste die schwierige persönliche Lage seiner Lebensgefährtin ausgenutzt hätten. Zudem habe er das Geschehene wiedergutmachen wollen. Der GM »Konsul« habe ihm damals versprochen, sich für seine Lebensgefährtin einzusetzen, im Gegenzug habe »Friedrich« verschiedene Aufträge für ihn erledigt.330 Auffällig ist der Terminus der »Wiedergutmachung« der bei den in Drucksituationen angeworbenen Entführer-IM wiederholt auftaucht. Angesichts der Inhaftierung von Angehörigen oder der eigenen Person offerierte das MfS dem IM-Kandidaten, durch seine Zusammenarbeit mit dem MfS eine Änderung 328 Auskunftsbericht, HA II/4, 23.2.1961. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/1, S. 248 f., hier 249. 329 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/4, 20.9.1961. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/1, S. 241– 244, hier 242; Auskunftsbericht, HA II/4, 23.2.1961. Ebenda, S. 248 f., hier 248; Auskunftsbericht, HA II/4, 1.3.1966. Ebenda, Bd. I/5, S. 12–56, hier 19, 53, 55. 330 Vgl. Bericht, Verwaltung Groß-Berlin Abt. XII, 29.7.1954. BStU, MfS, AIM 2275/55, P-Akte, S. 8; Bericht, Karl Teuscher, 9.10.1954. Ebenda, S. 25–27.
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der Lage herbeiführen zu können. Zum Teil ging die Initiative aber auch vom IM-Kandidaten selbst aus, der durch die IM-Tätigkeit sein Fehlverhalten bereinigen wollte. So beispielsweise bei dem im August 1950 als GM »Bert« angeworbenen Westberliner, der gegenüber der Volkspolizei eine inoffizielle Zusammenarbeit offerierte als er in Ost-Berlin inhaftiert war. Der als Schmuggler arbeitende »Bert« hatte gerade erst eine viermonatige Haftstrafe wegen Urkundenfälschung in West-Berlin verbüßt, als er im Ostteil der Stadt festgenommen worden war. In dieser Situation bot er an, sein »Wissen über politische Dinge« preiszugeben und für die DDR zu arbeiten, wenn er im Gegenzug freigelassen und ihm beim Aufbau einer neuen Existenz in OstBerlin geholfen werde. »Bert« stellte u. a. Informationen über einen CICMitarbeiter sowie über Rainer Hildebrandt und andere Mitarbeiter der KgU in Aussicht.331 Nach ersten gelieferten Berichten ließ sich das MfS auf den Deal ein: »Berts« Haftentlassung erfolgte Anfang August 1950 und nur wenige Tage später seine Verpflichtung. In den folgenden Tagen übergab er weitere Berichte über verschiedene Personen in West-Berlin, darunter auch über die geflohene VP-Angehörige Niki Glyz.332 Die Verbindung zwischen »Bert« und dem MfS brach nach einigen Wochen ab, wurde aber im November 1953 wieder aktiviert, als »Bert« über einen anderen GM mit dem MfS in Kontakt kam. Von einem Mitarbeiter der Abteilung V wurden beide GM beauftragt, dass sie »Informationen liefern sollen und sich darauf vorbereiten sollen, Personen an die [sic!] wir interessiert sind für uns in Westberlin festzunehmen und nach den demokratischen Sektor zu bringen.«333 »Bert« entwickelte in den folgenden Wochen mehrere Entführungspläne und bot im Dezember 1953 auch die Entführung von Niki Glyz an, die er im Januar 1954 realisierte.334 Die MfSUnterlagen zum IM »Bert« offenbaren, dass sein bekundeter Wille zur Wiedergutmachung eher als Lippenbekenntnis gewertet werden muss. Er handelte hauptsächlich aus finanziellen Interessen. Unter Vorbehalt müssen dementsprechend auch die folgenden Zahlen betrachtet werden: Als Akt der »Wiedergutmachung« bezeichneten 13 der untersuchten Entführer-IM ihre Arbeit für das MfS, darunter nur vier der 26 Entführer-IM (15,4 %) des ersten Typs, vier der 14 IM des zweiten Typs (28,6 %) und fünf der zehn IM des dritten Typs (50 %). Die im März 1952 331 Vgl. Bericht, MfS, 19.7.1950. BStU, MfS, AIM 7881/61, P-Akte, S. 26–28, hier 27. 332 Vgl. sechs Berichte, GM »Bert«, 15.7.–4.9.1950. BStU, MfS, AIM 7881/61, A-Akte, S. 9– 38, besonders S. 16–19. Bei seiner schriftlichen Verpflichtung glaubte »Bert«, mit der Volkspolizei verhandelt zu haben. Vgl. handschriftliche Verpflichtungserklärung, Erwin Langer, 8.8.1950. Ebenda, S. 29. 333 Bericht, Abt. V/5, November 1953. BStU, MfS, AIM 7881/61, P-Akte, S. 33; Vgl. Aktenvermerk, Abt. IV, 3.2.1953. Ebenda, S. 30; Schlussvermerk, Abt. V/5, 23.4.1954. Ebenda, S. 40. 334 Vgl. Bericht, GM »Bert«, Dezember 1953. BStU, MfS, AIM 7881/61, A-Akte, S. 69 f.; Zusatzbericht, GM »Bert«, 19.1.1954. Ebenda, S. 73.
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als GI geworbene »Sylvia« sah ihre IM-Tätigkeit zum Beispiel als Chance, vieles wiedergutzumachen, was sie »verbockt« habe, und bezeichnete den Tag ihrer Verpflichtung als »Freudentag«.335 Die zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung 24-Jährige hatte zuvor verschiedene Arbeitsstellen wegen ihres »unmoralischen Verhaltens« verloren, darunter auch einen Posten bei der Volkspolizei wegen eines zusätzlichen Dienstvergehens. Mit dem MfS hatte sie einen Arbeitgeber, der ihre beanstandete Lebensweise gezielt ausnutzte, auch bei der Entführungsaktion des Erwin Neumann im August 1958.336 Ausgangspunkt vieler Anwerbungen unter den Entführer-IM, die u. a. auf Basis der »Wiedergutmachung« erfolgten, war der Wunsch nach einer Rückkehr in die DDR. Der im April 1953 in die Bundesrepublik geflohene Kurt Schliep bereute seine Flucht und schrieb seinen in der DDR lebenden Eltern, dass er gerne zurückkehren wolle. Das MfS erfuhr im Dezember desselben Jahres von diesem Wunsch und machte sich diesen zunutze. Über die Eltern stellte es den Kontakt zu dem 24-Jährigen her und traf sich in deren Beisein auch zu einem ersten Gespräch mit dem ehemaligen SED-Mitglied – vermutlich in der Vorahnung, dass diese Schützenhilfe leisten würden: »Der Vater sowie auch die Mutter machten ihm Vorwürfe, wobei ihm der Vater in ernsten Worten sagte, dass er der Sache der Arbeiterklasse, seiner Familie sowie seinen Eltern viel gut zu machen hat.«337 Das MfS schlug in dieselbe Kerbe und argumentierte mit Hinweis auf die »Verwerflichkeit seiner Tat« und den großen Schaden für die Partei, dass er als Wiedergutmachung verpflichtet sei, bei der »Entlarvung von Agenten und Spionen« in der Bundesrepublik zu helfen. Dem Verpflichtungsbericht des MfS zufolge sah Schliep seinen Fehler ein und schrieb daraufhin »ganz unbefangen« seine Verpflichtungserklärung: »Nachdem ich durch die Verhältnisse in Westdeutschland festgestellt habe, dass ich der Arbeiterklasse durch meine Flucht aus der DDR Schaden zugefügt habe und als Sohn der Arbeiterklasse mich verpflichtet fühle, diesen Schaden wiedergutzumachen, verpflichte ich mich, den Organen der Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik bei der Entlarvung von Spionen, Agenten und Diversanten der imperialistischen Geheimdienste mitzuhelfen.«338
Nach seiner Anwerbung im Januar 1954 musste er als GI »Steffen« noch eineinhalb Jahre in der Bundesrepublik ausharren, um dort für das MfS zu arbei335 Abschrift Lebenslauf, MfS, 19.5.1954. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 1, S. 108– 115, hier 113. 336 Vgl. Auskunftsbericht, MfS, 30.7.1959. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 3, S. 47–52, hier 49. 337 Bericht, HA V/1, 1.2.1954. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 1, S. 46 f., hier 46. Vgl. Bericht, MfS, 12.1.1954. Ebenda, S. 45. 338 Handschriftliche Verpflichtungserklärung, Kurt Schliep, 12.1.1954. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 1, S. 43; Bericht, MfS, 12.1.1954. Ebenda, S. 45. Vgl. Beurteilung, HA V/1, 28.12.1954. Ebenda, S. 48–51, hier 48.
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ten. Im Januar 1955 zog er im Auftrag des MfS nach West-Berlin, wo er in den folgenden Monaten an drei Entführungen beteiligt war. Seine ursprünglich ersehnte Heimkehr in die DDR erfolgte erst im Sommer 1955.339 Der im Mai 1953 nach West-Berlin geflohene und im Mai 1955 angeworbene GM »Albert« griff in einem für das MfS formulierten Lebenslauf auf das biblische Motiv des verlorenen Sohnes zurück: »Dem ehrlichen Anerbieten, wieder zurückzukehren, versagte ich mich nicht und faßte nach dem nicht verdienten Angebot sofort den Entschluß, wieder in die DDR zurückzukehren, um von hieraus wieder weiter den Kampf gegen den Faschismus in Westberlin aufzunehmen und auch in der Erkenntnis, daß die SPD leider das zweite Mal wieder eine falsche Politik trägt. Wie ein verlorener Sohn wurde ich herzlich und freudig aufgenommen und werde mir [sic!] auch dankbar zeigen.«340
Anfang Mai 1955 hatte das MfS über »Alberts« Schwägerin Kontakt zu ihm aufgenommen und ihm eine Zusammenarbeit angeboten, da man von seinen Kontakten zum SPD-Ostbüro wusste. Vor dem Hintergrund seiner jahrelangen KPD- und SED-Mitgliedschaft erhofften sich die MfS-Mitarbeiter, »Albert« für ein »anständiges Leben zurückzugewinnen«. Die Schwägerin übermittelte das »Angebot zur Umkehr und Wiedergutmachung« – das auch eine Rückgabe seines Dienstgrades und seines Gehaltes bei der Volkspolizei beinhaltete – unter der Bedingung, dass er zunächst »seine Handlungen wieder gutmacht und nicht mit leeren Händen zurückkommt«.341 »Albert« nahm das Angebot an und verpflichtete sich bereits am 22. Mai 1955 schriftlich: »Ich erkenne an, daß ich durch meine Handlungsweise der Partei und der Regierung der DDR Schaden zugefügt habe und bin bereit, durch meine Mitarbeit dies wieder gutzumachen. Ich verpflichte mich deshalb mit dem Staatssekretariat für Staatssicherheit ehrlich und treu zusammen zu arbeiten, gegen alle Feinde der DDR und der SED.
339 Vgl. Beurteilung, HA V/1, 28.12.1954. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 1, S. 48–51; Treffbericht, MfS, 26.1.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 130 f.; Zwischenbericht, HA V/2, 23.6.1955. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 62–64; Abschlussbericht, HA V/2, 16.1.1957. Ebenda, S. 94; 13 Berichte, GM »Steffen«, 8.5.1955–29.7.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 24–26, 31 f., 45, 67–69, 74 f., 86–89, 95–98, 120–129, 134–137, 144–146, 153–156, 162 f. 340 Handschriftlicher Lebenslauf, Martin Damaschke, 1956. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 178–195, hier 195. 341 Bericht, HA V/2, 28.4.1955. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 73–75, hier 74. Vgl. Treffbericht, HA V/2, 9.5.1955. Ebenda, S. 76 f.
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Ich werde jede mir bekannt werdende feindliche Tätigkeit im Interesse unserer Sache aufklären und alle meine Kräfte daran setzen, die Gegner unschädlich zu machen und der Bestrafung zuzuführen.«342
Diesen Worten ließ er ein dreiviertel Jahr später Taten folgen und brachte den geflohenen Volkspolizisten und Mitarbeiter des SPD-Ostbüros Robert Bialek gewaltsam nach Ost-Berlin. Aus eigener Initiative suchte ein im November 1954 als GM »Herbert« geworbener Westberliner das MfS auf, um sich als Informant anzubieten. Er war nach seiner wenige Monate zuvor erfolgten Flucht aus Polen von westlichen Geheimdiensten angeworben worden, über die er nun Auskunft geben wollte. Er brachte gegenüber dem MfS seine Enttäuschung über den ›goldenen Westen‹ und seine Reumütigkeit zum Ausdruck: »Es ist mein fester Entschluss, alles zu tun damit der Agentenring in der DDR sowie auch in Polen gesprengt wird, damit ich mir meinen Platz auf seiten der Arbeiterschaft, wo ich von Geburt und Herkunft aus hingehöre, verdiene. Ich war von einem schrecklichen Irrtum befangen und habe ihn rechtzeitig erkannt.« 343
Da seine Kontakte zum britischen Geheimdienst und der Organisation Gehlen für das MfS von großem Interesse waren, zögerte es nicht lange: Bereits Anfang November 1954 schlug die Abteilung II/4 seine Anwerbung als GM vor und ließ wenige Tage später »Herbert« seine Verpflichtungserklärung schreiben.344 »Herbert« brachte in den folgenden Monaten zahlreiche Berichte über seine Aufträge für die westlichen Geheimdienststellen und seine Kontaktperson Manfred Richter. Als das MfS sich schließlich für eine gewaltsame Entführung dieses Kontaktmannes entschloss, fungierte »Herbert« bei der Durchführung im November 1955 als Erfüllungsgehilfe. Nach diesem Auftrag kehrte er – ausgestattet mit einem Motorrad als Prämie – nach Polen zurück.345 Dass sich hinter dem »Wiedergutmachungswillen« auch andere Motive verbargen, wie zum Beispiel persönliche Beweggründe oder finanzielle Interessen, zeigen insbesondere die folgenden Beispiele. Mittels einer Spontanentführung 342 Handschriftliche Verpflichtung, Martin Damaschke, 22.5.1955. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 81. Vgl. Verpflichtungsbericht, HA V/2, 22.5.1955. Ebenda, S. 83; Bericht, HA V/2, 29.6.1955. Ebenda, S. 118–121, hier 119. 343 Handschriftlicher Bericht, Klaus Blaschke, 16.10.1954. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 24–32, hier 24 f., 30, 32 (Zitat); vgl. Bericht, Verwaltung Groß-Berlin Abt. II/4, 28.10.1954. Ebenda, S. 45–47, hier 45; Anwerbungsvorschlag, Abt. II/4, 4.11.1954. Ebenda, S. 48 f.; Auskunftsbericht, HA II/4, 19.12.1957. Ebenda, S. 135–139, hier 135 f. 344 Vgl. Anwerbungsvorschlag, Abt. II/4, 4.11.1954. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 48 f.; Verpflichtungserklärung, Klaus Blaschke, 9.11.1954. Ebenda, S. 50. 345 Vgl. Bericht, HA II/4, 14.12.1955. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 68 f.; Bericht, HA II/4, 21.12.1955. Ebenda, S. 70; Vorschlag, HA II/4, 21.12.1955. Ebenda, S. 71; Bericht, HA II/4, 23.2.1956. Ebenda, S. 73; Stellungnahme, HA II/4, 5.2.1957. Ebenda, S. 133; Abschlussbericht, HA II/4, 26.2.1960. Ebenda, S. 166–168.
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im September 1961 sicherten sich die GI »Schulz« und »Lord« eine straffreie Rückkehr nach Ost-Berlin. Wenige Wochen zuvor waren der 29-Jährige und der 20-Jährige nach West-Berlin geflohen und hatten sich im Notaufnahmelager Marienfelde kennengelernt. Da ihre Familien in der DDR geblieben waren, bereuten beide ihre Flucht und suchten gemeinsam nach einer Möglichkeit, ihre Familien nachzuholen.346 Auf ihrer Suche nach einer geeigneten Stelle kamen sie an der Grenze mit einem MfS-Hauptmann ins Gespräch, der ihnen einen straffreien Grenzübertritt versprach, wenn sie einen geflohenen VP-Angehörigen mitbringen würden.347 Die beiden DDR-Flüchtlinge mieteten sich daraufhin am 30. September 1961 ein Auto und suchten ein Lokal in der Nähe des Notaufnahmelagers auf, um ein Opfer auszuwählen. Dort trafen sie den geflohenen Bereitschaftspolizisten Gerd Sommerlatte, der seinen zweiten Einsatz an den Grenzsperren am frühen Morgen des 10. September 1961 zur Flucht genutzt hatte und am Brandenburger Tor über die Mauer gesprungen war. Drei Wochen später war er zur falschen Zeit am falschen Ort: Er verbrachte den Abend mit den beiden DDR-Flüchtlingen, von deren Rückkehrplänen er nichts ahnte, und genoss mit ihnen arglos alkoholische Getränke. In der Nacht brachten sie ihn über die Grenze nach Ost-Berlin. Zwei Tage später hätte er in die Bundesrepublik ausgeflogen werden sollen.348 Nach den anschließenden Ermittlungen über die beiden Entführer kam das MfS zu dem Urteil: »Bei Beiden handelt es sich um ›sogenannte Halbstarke‹ und solche Elemente, die zur Arbeit wenig Lust zeigen und sich auf Grund der Spaltung Berlins mehr in Westberlin als im demokratischen Berlin herumtrieben.«349 Beide seien wegen Diebstahls vorbestraft und aus Abenteuerlust nach West-Berlin geflohen. Der Grund für ihre Kontaktaufnahme zu »Staatsorganen der DDR« und für die Auslieferung des geflohenen VP-Angehörigen 346 Vgl. Anwerbungsvorschlag, HA I/Abt. Aufklärung B, 9.5.1963. BStU, MfS, AIM 9616/65, P-Akte, S. 138–143, hier 139 f.; Zusatzbericht, HA I, 2.10.1961. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 17–19. 347 Vgl. Bericht, GI »Schulz«, 1.10.1961. BStU, MfS, AIM 9616/65, P-Akte, S. 23–26, hier 23 f.; Abschlussbericht, HA I/Abt. Aufklärung B, 8.7.1965. Ebenda, S. 177–179, hier 177; Bericht, Werner Meyer, 1.10.1961. BStU, MfS, AOP 11329/62, S. 50–52, hier 51; Bericht, HA I/BP/1 an die HA I, 1.10.1961. Ebenda, S. 64–67, hier 64 f.; Bericht, Werner Meyer, 9.10.1961. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 20–23, hier 21; Auskunftsbericht, HA I, 18.10.1961. Ebenda, S. 72–77, hier 73. 348 Vgl. Anwerbungsvorschlag, HA I/Abt. Aufklärung B, 9.5.1963. BStU, MfS, AIM 9616/65, P-Akte, S. 138–143, hier 139 f.; Abschlussbericht, HA I/Abt. Aufklärung B, 8.7.1965. Ebenda, S. 177–179, hier 177; Abschlussbericht, MdI Bereitschaftspolizei 1. Mot.-Brigade VII. Abt., 15.9.1961. BStU, MfS, AOP 11329/62, S. 39–42; Bericht, Werner Meyer, 1.10.1961. Ebenda, S. 50–52, hier 52; Bericht, GI »Schulz«, 1.10.1961. Ebenda, S. 53–55, hier 54 f.; Unterlagen aus Notaufnahmeverfahren, September 1961. Ebenda, S. 56–63; Bericht, HA I/BP/1 an die HA I, 1.10.1961. Ebenda, S. 64–67, hier 67. Die HA I des MfS hatte nach Sommerlattes Flucht einen Vorgang angelegt und bereits in dem Eröffnungsbeschluss formuliert, dass eine »Zurückführung des Sommerlatte […] angestrebt« werde. Siehe Beschluss, HA I, 28.9.1961. Ebenda, S. 6. 349 Zusatzbericht, HA I, 2.10.1961. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 17–19, hier 19.
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bestehe darin, dass sie nach einer Möglichkeit gesucht hätten, ihre Familien nach West-Berlin nachzuholen. Dementsprechend wollten beide Entführer am Morgen nach der Tatnacht mit ihren Familien wieder nach West-Berlin. Sie erklärten sich bereit, weiterhin mit dem MfS zusammenzuarbeiten und weitere »fahnenflüchtige« VP-Angehörige nach Ost-Berlin zu bringen. Da in WestBerlin jedoch bereits Fahndungen angelaufen waren, zerschlug sich dieser Plan. Das MfS setzte beide in Kenntnis, dass sie vorerst nicht nach West-Berlin zurückkehren konnten.350 »Schulz« zeigte sich mit dieser Entscheidung zufrieden, da seine Ehefrau nicht nach West-Berlin wollte. So wurde ihm als Belohnung die »letztmalige Aufnahme in der DDR gewährt«. Er brachte gegenüber dem MfS zum Ausdruck, dass er sein bisheriges Verhalten bereue und nun mit seiner Familie ein neues Leben in der DDR beginnen wolle. Wenige Wochen später berichtete die Hauptabteilung I bereits, dass der »haltlos durchs Leben« gehende und mehrmals vorbestrafte »Schulz«, der »auf Kosten des Arbeiterund Bauernstaates ein Schmarotzerleben« geführt habe, seine Lehren gezogen habe und »nun auf dem Wege zu einem brauchbaren Menschen unserer Gesellschaftsordnung« sei.351 Als dieselbe Diensteinheit im Mai 1963 seine Anwerbung als GI vorschlug, verwies sie wiederum auf die positive Entwicklung ihres Kandidaten. Dieser habe sich von einem politisch desinteressierten und westlich eingestellten zu einem »politisch aufgeschlossenen« Menschen gewandelt, der »in jeder Beziehung aktiv für unseren Staat eintritt und vor allem froh ist, daß die Errichtung des antifasch. Schutzwalles auch für ihn die Fronten klärte«. Wiederholt habe er bedauert, dass er nicht zu einem viel früheren Zeitpunkt Kontakt zum MfS aufbauen konnte. Denn dann wäre ihm vieles erspart geblieben und er hätte bei den offenen Grenzen noch viel aktiver für die DDR arbeiten können.352 Bei seiner Verpflichtung zum GI zeigte er sich, so berichtete die Hauptabteilung I, »sehr erfreut, daß er das Vertrauen des MfS errungen habe und versicherte mehrmals, daß er seine ganze Kraft dafür einsetzen will, um unseren Staat zu dienen. Er brachte erneut sein Bedauern zum Ausdruck, daß er nicht mehr und aktiver für das MfS arbeiten kann, da seine Möglichkeiten eingeengt sind. Der Kandidat ist bereit, jederzeit Aufträge durchzuführen, auch in WB oder wo es die Notwendigkeit erfordert.«353
»Lord« musste hingegen vom Bleiben in der DDR erst überzeugt werden. Angesichts der Strafe, die ihn bei einer Strafverfolgung in West-Berlin erwartete, stimmte er zunächst ebenfalls zu. Doch sein Aufenthalt in der DDR dauer350 Ebenda, S. 17–19. 351 Zusammenfassung, HA I, 7.11.1961. BStU, MfS, AIM 9616/65, P-Akte, S. 55. 352 Vgl. Werbungsvorschlag, HA I/Abt. Aufklärung B, 9.5.1963. BStU, MfS, AIM 9616/65, P-Akte, S. 138–143, hier 139 f. 353 Verpflichtungsbericht, HA I/Abt. Aufklärung, 24.5.1963. BStU, MfS, AIM 9616/65, P-Akte, S. 145.
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te nicht lange: »[…] erfreut, dass endlich sein Einsatz gekommen war«, ging er Ende Oktober im Auftrag des MfS zurück nach West-Berlin.354 Immer wieder hatte er sich in Gesprächen mit dem MfS aus finanziellen Interessen angeboten, nach West-Berlin zurückzukehren und dort weitere Entführungen durchzuführen.355 VII.3 Finanzielle und materielle Interessen Bei der Mehrheit der in dieser Studie analysierten Entführer-IM (35 IM) registrierte das MfS finanzielle und materielle Interessen als ein wesentliches Motiv ihrer IM-Tätigkeit. In den MfS-Richtlinien zur IM-Arbeit tauchte dieses Motiv als Werbungsgrundlage erst 1958 auf, als es bei den EntführerIM längst eine gängige Praxis war. Von den Entführer-IM des ersten Typs arbeiteten sogar fast 85 Prozent der untersuchten IM hauptsächlich aufgrund der finanziellen und materiellen Anreize für das MfS. Es lässt sich allerdings konstatieren, dass sich wohl alle IM dieses Typs und die meisten des zweiten sowie dritten Typs (jeweils über 50 %) für eine finanzielle oder materielle Entlohnung empfänglich zeigten. Die finanziellen und materiellen Anreize des MfS müssen als gewichtige Bindungskraft gesehen werden, ihre mobilisierende Wirkung ist auch bei hauptsächlich politisch motivierten IM zu verzeichnen. Dies zeigt sich am Beispiel des 1954 angeworbenen GM »Steffen«. Der DDRStaatssicherheitsdienst sprach ihm 1955 eine monatliche Unterstützung von 550 DM/West für ihn sowie 500 M/DDR für seine in der DDR lebende Familie zu.356 Im Zeitraum von Dezember 1953 bis zum September 1955 hatte »Steffen« bereits insgesamt fast 12 000 M/DDR und rund 10 500 DM/West vom MfS für seinen Lebensunterhalt, für Auslagen und Aufträge sowie in Form von Prämien erhalten.357 Die Annahme von Prämien fiel ihm, laut eines Treffberichtes der Hauptabteilung V/2, nicht leicht. So berichtete sein Führungsoffizier im März 1955, dass »Steffen« bei der Überreichung einer Prämie von 1 000 DM/West zunächst zögerte und darauf verwies, dass er aus »Überzeugung« mit dem MfS zusammenarbeite und daher kein Geld haben wolle. Es handelte sich hierbei um eine Belohnung für die Beteiligung an der Entführung des ehemaligen SED-Funktionärs Paul Behm. Nachdem der Führungsoffizier ihm verdeutlicht hatte, »dass er diesen Betrag als Prämie auffassen müsse, wie sie alle leitenden Angestellten in Wirtschaft und 354 Bericht, HA I, 31.10.1961. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 97 f.; vgl. Zusatzbericht, HA I, 2.10.1961. Ebenda, S. 17–19. 355 Vorschlag, HA I/ Abt. Aufklärung, 8.9.1962. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 186– 190; Stellungnahme, HA I/Aufklärung B, 18.9.1963. Ebenda, S. 206–213. 356 Schreiben, HA V/2 an HA V Leitung, 5.5.1955. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 1, S. 54. 357 Aufstellung über ausgezahlte Geldbeträge, SfS, 30.12.1953–8.9.1955. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 2, S. 6–11.
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Verwaltung bei besonders guten Leistungen als Auszeichnung erhalten«, nahm »Steffen« den Betrag an.358 Damit war die Scheu anscheinend gebrochen, so quittierte er im Februar 1956: »In Anerkennung meiner Leistung bei der Unschädlichmachung eines Verräters der Arbeiterklasse wurde mir vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR eine Geldprämie in Höhe von DM 2 900 überreicht.«359 Das Zusammenspiel von politischen Motiven und finanziellen Anreizen zeigt sich oft bei den analysierten Entführer-IM des zweiten Typs. Die im März 1952 im Alter von 24 Jahren geworbene GI »Sylvia« aus Potsdam, die sich in den Augen des MfS durch eine positive politische Einstellung auszeichnete und in ihrem Lebenslauf ein glühendes Bekenntnis zur SED formulierte,360 erhielt in ihrer achtjährigen inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS u. a. insgesamt über 4 600 M/DDR für Wohnungseinrichtungen sowie knapp über 44 000 M/DDR in Form von Gehalt und Prämien, darunter auch eine Prämie von 2 000 M/DDR für ihre Mitarbeit bei der Entführung von Erwin Neumann im August 1958.361 Die politischen Motive konnten gegenüber den finanziellen Interessen auch in den Hintergrund rücken, so beispielsweise bei der GI »Lisa König«. Die aus »Überzeugung« im August 1954 geworbene Brandenburgerin wurde im Februar 1956 auf den ZOPE-Mitarbeiter Heinrich Berger angesetzt und beteiligte sich zehn Monate später an dessen Entführung. Ihre Mitgliedschaft in der FDJ seit deren Gründung und dem DFD seit 1951, ihre Bewerbung um eine SED-Mitgliedschaft sowie die Einschätzung des MfS als »der Sache der DDR treu ergeben« deuten auf einen politisch motivierten Hintergrund ihrer IMArbeit.362 Aber auch der ihr in Aussicht gestellte Geldbetrag für die Einrichtung einer Einzimmerwohnung wird als Motivation für ihren Einsatz bei der Entführungsaktion nicht unerheblich gewesen sein. Mit 7 000 M/DDR prämierte das MfS sie im Januar 1958.363 Kleinere Geldbeträge im zweistelligen, aber auch im dreistelligen Bereich erhielt »Lisa König« bereits in den Jahren 1955 bis 1957. Im Vorfeld der Entführungsaktion hatte die Leitung der 358 Treffbericht, HA V/2, 24.3.1955. BStU, MfS, AIM 439/57, A-Akte Bd. 1, S. 169. 359 Quittung, GM »Steffen«, 1.2.1956. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 2, S. 182. Aus den Akten geht nicht hervor, wer der »Verräter« war. 360 Vgl. Vorschlag, Abt. VI, 13.11.1951. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 1, S. 6. Vgl. Ermittlungsbericht, Abt. VIII an Abt. V, 28.5.1954. Ebenda, S. 28 f.; Abschrift Lebenslauf, MfS, 19.5.1954. Ebenda, S. 108–115, hier 114 f. 361 Vgl. Einschätzung, MfS, 30.7.1959. BStU, MfS, AIM 2285/60, P-Akte Bd. 3, S. 47–52, hier 51 f.; Auszeichnung, MfS, 27.8.1958. Ebenda, S. 54. 362 Vgl. Anwerbungsvorschlag, KD Brandenburg, 19.7.1954. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 17 f., hier 17; Bericht, KD Brandenburg, 10.8.1954. Ebenda, S. 19 f., hier 19; Auskunftsbericht, KD Brandenburg, 12.7.1956. Ebenda, S. 28–32, hier 29–31; Auskunftsbericht, HA VIII, 7.12.1960. Ebenda, S. 220–225, hier 221, 224. 363 Vgl. Prämierungsvorschlag, HA II Leitung, 13.1.1958. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 53.
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Hauptabteilung II ihr zudem ein monatliches Gehalt versprochen, das sie in den folgenden vier Jahren auch erhielt: 1958 in Höhe von 500 M/DDR monatlich, 1959 insgesamt fast 5 400 M/DDR an Gehalt und Zuwendungen, 1960 und 1961 300 M/DDR monatlich.364 Dennoch kam es zu Problemen; so berichtete die Hauptabteilung VIII im Dezember 1960: »Aufgrund der Zusammenarbeit mit der Leitung der HA II, sie kennt diese zum Teil mit Klar- und Decknamen, und die [sic!] ihr gemachten Zugeständnisse (Gehalt, Stellen von Pkw usw.) stellt sie öfter besondere Ansprüche. Wenn man ihr die entsprechenden Erklärungen gibt, gibt sie sich jedoch wieder zufrieden. Im Geldausgeben ist sie nicht kleinlich, meist bittet sie um Vorschuß, was auch gewährt wurde. Geld hat sie fast nie.«365
Im Zusammenhang mit ihren Geldforderungen kam es sogar zu einer kleinen Auseinandersetzung, als das MfS im September 1961 die Verbindung zu »Lisa König« aufgrund »ihrer Dekonspiration und [ihres] leichten Lebenswandels«366 abbrach: »Lisa König« willigte zwar ein, auf der letzten Gehaltsquittung zu vermerken, dass sie kein Gehalt mehr bekomme. Zugleich betonte sie aber, nicht zu unterschreiben, dass sie gar keine Ansprüche mehr an das MfS stellen könne.367 Finanzielle Motive sind auch bei Entführer-IM zu verzeichnen, die in Drucksituationen angeworben wurden, wie beispielsweise beim im August 1953 verpflichteten GM »Lieber«, dessen Vater sich zu diesem Zeitpunkt in DDR-Haft befand. »Lieber« hoffte, durch seine Bereitschaft zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS eine Haftentlassung erwirken zu können. Seine Mitgliedschaft in der FDJ und SED vor seiner Flucht und die Einschätzungen des MfS deuten zudem auf eine politische Motivation hin, wenn auch in eher geringem Maße.368 Die finanziellen Anreize zeigten aber auch bei ihm ihre mobilisierende Wirkung: »Bei ihm ist zu verzeichnen, daß er gern für Geld arbeitet.«369 Nach seiner Anwerbung durch die Hauptabteilung V war »Lieber« an zwei Entführungsaktionen im November 1953 und im September 1954 364 Vgl. Quittungen, »Lisa König«, 12.8.1955–1.9.1961. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 314–404, 441–467. Die Zahlungen in den Jahren 1955 bis 1957 bewegten sich im Bereich bis zu 500 M/DDR, mit Ausnahme einer Prämie von 2 000 M/DDR im Januar 1956. Vgl. ebenda, S. 383. 365 Auskunftsbericht, HA VIII Operativgruppe, 7.12.1960. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 220–225, hier 222, 224. Vgl. Auskunftsbericht, HA VIII Operativgruppe, 7.6.1961. Ebenda, S. 244–252, hier 249. Darin heißt es: »Sie stellt öfter solche Ansprüche und beruft sich auf die angeblichen Versprechungen von seiten des MfS.« 366 Beschluss, HA VIII Operativgruppe, 13.9.1961. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 262 f. 367 Vgl. Treffbericht, HA VIII Operativgruppe, 2.9.1961. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 259 f., hier 260. 368 Vgl. Bericht, HA V/4, 24.12.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 32; Lebenslauf, Fritz Nitschke, 6.7.1954. Ebenda, S. 33; Beurteilung, HA V/4, 14.4.1955. Ebenda, S. 49; Auskunftsbericht, HA XX/7, 19.2.1979. Ebenda, S. 3–10, hier 8 f. 369 Charakteristik, HA V/4, 15.7.1954. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 37.
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beteiligt, für die ihm das MfS Prämien in Höhe von insgesamt 800 DM/West und 1 500 M/DDR zahlte.370 Im Jahr 1954 erhielt »Lieber« laut Aufstellung des MfS insgesamt rund 4 500 DM/West und über 5 000 M/DDR, im Jahr 1955 insgesamt rund fast 10 500 M/DDR, darunter eine monatliche Zahlung von 450 M/DDR.371 Das Zusammenspiel verschiedener Motivstrukturen, in denen schließlich aber die finanziellen Interessen handlungsleitend wurden, wird am Beispiel des GM »Schütte« deutlich. »Die Zusammenarbeit des IM mit dem MfS liegt begründet in seiner ›politischen Überzeugung‹, gleichfalls jedoch in materiellen und lebenspraktischen Erwägungen. Er wurde 1952 durch Überzeugung geworben.«372 GM »Schütte«, von dem hier die Rede ist, wurde im Oktober 1952 zu einer inoffiziellen Mitarbeit ›überzeugt‹, nachdem er auf einer Bahnfahrt zwischen Stendal und West-Berlin wegen des Mitführens von Westzeitungen verhaftet worden war. Da er oft nach West-Berlin reiste und dort viele Kontakte hatte, war er für den Staatssicherheitsapparat interessant. In seiner schriftlichen Verpflichtung erklärte »Schütte«, er wolle damit eine »Wiedergutmachung« leisten. Doch entstanden auch schnell finanzielle Interessen, die vom MfS reichhaltig bedient wurden. Eine Aufstellung über die Geldbeträge, die das MfS in den Jahren 1953 bis 1956 an »Schütte« auszahlte, vermerkt rund 39 150 M/DDR und 2 750 DM/West als Treffauslagen, Prämien, Unterstützung, Gehalt oder für Aktionen.373 Im Jahre 1961 war die Summe auf ca. 100 000 M/DDR angewachsen. »Schütte« erhielt seit Mitte 1954 ein monatliches Gehalt in Höhe von 800 M/DDR, seit Mitte 1956 in Höhe von 1 000 M/DDR.374 Nach fast 14 Jahren der inoffiziellen Zusammenarbeit bilanzierte die Hauptabteilung II im März 1966, dass an »Schütte« seit seiner Anwerbung insgesamt rund 160 000 M/DDR in Form von Gehaltszahlungen, operativen Auslagen und Prämien ausgehändigt wurden. Darüber hinaus habe 370 Vgl. Bericht, HA V/4, 24.12.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 32; Lebenslauf, Fritz Nitschke, 6.7.1954. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 33; Prämierungsvorschlag, HA V/4, 2.9.1954. Ebenda, S. 38; Prämierungsvorschlag, Abt. VI/1, 26.11.1953. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 134. Als Prämie für die Entführungsaktion von Karl Reimer erhielt er 600 DM/West und für Herbert Eigner 200 DM/West sowie 1 500 M/DDR. 371 Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, HA V/1, 7.10.1955. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 2, S. 222; Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, HA V/1, 27.12.1955. Ebenda, S. 297. 372 Auskunftsbericht, HA II/4, 10.8.1967. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/5, S. 109–116, hier 112. 373 Vgl. Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, MfS, 31.3.1953–12.10.1956. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/1, S. 12–18. Laut Inhaltverzeichnis befinden sich im Band I/2 Quittungen über insgesamt 70 049 M/DDR und 4 053 DM/West. Vgl. Quittungen, »Schütte«, 1953–1958. Ebenda, Bd. I/2, S. 4–413. 374 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/4, 20.9.1961. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/1, S. 241– 244, hier 243. Laut Inhaltsverzeichnis befinden sich im Band I/3 Quittungen über 119 260 M/DDR, 3 120 Leva [bulgarische Währung] und 340 DM/West. Vgl. Quittungen, »Schütte«, 1958–1965. Ebenda, Bd. I/3, S. 3–380.
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er »in Durchführung seiner operativen Aufgaben mehrere 1 000 DM/West« erhalten. »Die Zusammenarbeit des ›Winzer‹ mit dem MfS erfolgt vorrangig auf der Basis materieller Interessiertheit«375, lautete die abschließende Einschätzung, die in einem knapp zwei Monate später erstellten Auskunftsbericht mit dem Hinweis ergänzt wurde: »Belobigungen bei guten Arbeitsergebnissen wirken auf ihn mobilisierend.«376 Bei der zum Teil kostspieligen Führung von Entführer-IM galt es zwischen Nutzen und Kosten abzuwägen. Dabei versuchte das MfS, unvermeidbare Kosten effektiv zu gestalten, indem es seinen IM Unterstützungen zuteil werden ließ, aus denen das MfS wiederum eigenen Nutzen ziehen konnte. So bekam der GM »Friedrich« finanzielle Unterstützung beim Pachten einer Gastwirtschaft. Nachdem er sich im September 1954 an einer List-Entführung beteiligt hatte, äußerte er gegenüber dem MfS den Wunsch eine Gaststätte in Ost-Berlin zu führen. Angesichts der Lage des von ihm ausgewählten Lokals in unmittelbarer Nähe der Sektorengrenze und mit einem Anteil von 90 Prozent Westberlinern unter den Gästen gewährte ihm das MfS eine Starthilfe von 2 000 MDN. Denn die Investition erschien lukrativ: »Durch die Pachtung sind wir in der Lage: 1. Informationen allgemeiner Art zu erhalten. 2. Aus den westberliner Gästen geeignete Informatoren zu werben. 3. Aktionen zu starten die sich in der Nähe der Sektorengrenze abspielen. 4. T. kann dann nach Belieben für unsere Arbeit eingesetzt werden.«377
»Friedrich« hatte im Juli 1954 mit dem MfS Kontakt aufgenommen, um dort finanzielle Unterstützung zu erhalten. Zu diesem Zeitpunkt war er mittellos, weil er gerade eine eineinhalb-jährige Haftstrafe in West-Berlin wegen versuchten Menschenraubs verbüßt hatte. Die Strafe war die Konsequenz eines missglückten Entführungsversuchs, den er 1952 im Auftrag des GM »Konsul« durchgeführt hatte.378 Diese indirekte Verbindung zum Staatssicherheitsapparat konnte er nun erfolgreich nutzen: Da er als noch brauchbar erachtet wurde, kümmerte man sich um ihn. Zwar zahlte ihm das MfS anscheinend wenig Geld379, aber sicherte jedenfalls seine berufliche Existenz.
375 Auskunftsbericht, HA II/4, 1.3.1966. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/5, S. 12–56, hier 19, 55. 376 Auskunftsbericht, HA II/4, 27.4.1966. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/5, S. 78 f., hier 78. 377 Antrag bzgl. Geldzahlung, HA II/1, 22.10.1954. BStU, MfS, AIM 2275/55, P-Akte, S. 23 f.; Beurteilung, HA II/1, 22.9.1955. Ebenda, S. 69 f., hier 69. 378 Vgl. Bericht, Verwaltung Groß-Berlin Abt. XII, 29.7.1954. BStU, MfS, AIM 2275/55, P-Akte, S. 8; Bericht, HA II/1, 11.8.1954. Ebenda, S. 21 f.; Antrag bzgl. Geldzahlung, HA II/1, 22.10.1954. Ebenda, S. 23 f. 379 Im ersten Halbjahr 1955 erhielt »Friedrich« insgesamt anscheinend nur 250 DM/West und 250 M/DDR. Vgl. Aufstellung über ausgezahlte Geldbeträge, SfS, 2.1.1955–21.6.1955. BStU, MfS, AIM 2275/55, P-Akte, S. 5; Quittungen, GI »Friedrich«, 2.1.1955–21.6.1955. Ebenda, S. 75–92.
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Eine solche Honorierung hatte für das MfS einen doppelten Nutzen: Sie verstärkte die Bindung des IM an den Staatssicherheitsdienst und konnte der »operativen Arbeit« dienlich sein. Auch im Fall des GM »Norge« unterstützte das MfS ihn in seiner beruflichen Perspektive zugunsten der »operativen« Arbeit: Der selbstständige Fotograf, der sich im Oktober 1954 zur inoffiziellen Zusammenarbeit entschieden hatte, bekam im April 1955 ein Fotolabor eingerichtet, »um den GM beruflich in Westberlin zu legalisieren […]«380 Die Kosten beliefen sich für das MfS auf rund 10 000 DM/West.381 Darüber hinaus ließ ihm das MfS eine kräftige finanzielle Unterstützung zuteil werden: Zunächst zahlte es ihm seit Juli 1955 monatlich 900 DM/West und steigerte diesen Lohn im September 1956 auf 1 000 DM/West. Vom Januar 1957 bis August 1962 erhielt »Norge« dann monatlich 1 200 DM/West, mit Ausnahme der Monate Juli bis September 1959, in denen er mit 900 DM/West auskommen musste. Zudem händigte ihm das MfS immer wieder höhere Geldbeträge aus, beispielsweise 2 500 DM/West im November 1957 für den Kauf eines Pkws, 6 000 DM/West im März 1959 für den Kauf von zwei Volkswagen und 700 DM/West im April 1959 für den Kauf einer Fotoausrüstung.382 Nach seiner Beteiligung an der Entführung des Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt, für die »Norge« eine Prämie von 3 000 M/DDR383 kassierte, wurde der Boden in West-Berlin für den GM »Norge« zu heiß. Das MfS überzeugte ihn, in die DDR überzusiedeln, und gestaltete ihm sowie seiner Komplizin den Neuanfang so angenehm wie möglich: »Die Zurückziehung ist verbunden mit der Tatsache, daß beiden GM aufgrund ihrer vorbildlichen Arbeit ein entsprechendes Heim, Einrichtung und eine gesicherte Existenz gegeben werden muß.« Für den Kauf eines Hauses und einer kompletten Einrichtung veranschlagte das MfS insgesamt 40 000 M/DDR. »Es ist angebracht darauf hinzuweisen, daß die Summe den bisherigen Erfahrungen entspricht und daß die GM keine Forderungen an uns stellen.« Letztlich gab das MfS jedoch 55 214 M/DDR für das neue Heim seines GM aus.384 Die erwähnte Komplizin des GM »Norge« war die GI »Martina Matt«. Die 32-Jährige ließ gleich bei ihrer Anwerbung im Juni 1960 erkennen, dass sie für 380 Vorschlag, HA V/5, 8.4.1957. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 1, S. 229. 381 Vgl. Quittungen, GM »Norge«, 7.5.–27.6.1955. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 2b, S. 46–49. 382 Vgl. Bericht, HA V/5, 17.10.1955. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 1, S. 186 f., hier 187; Vorschlag, HA V/5, 8.4.1957. Ebenda, S. 229; Quittungen, GM »Norge«, 8.10.1954– 3.7.1962. Ebenda, P-Akte Bd. 2b, S. 21–227. 383 Quittung, GM »Norge«, 24.11.1961. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 2b, S. 216. 384 Bericht, HA V/5, 21.9.1961. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 2a, S. 119 f.; vgl. Kostenaufstellung, MfS, Oktober 1961. Ebenda, S. 155. So erhielt GM »Norge« laut Quittungen im September 1961 zweimal 15 000 M, im Oktober 12 000 M und 10 000 M sowie im November nochmal 5 000 M für sein neues Heim. Vgl. Quittungen, GM »Norge«, 28.9.–24.11.1961. Ebenda, P-Akte Bd. 2b, S. 209 f., 214, 216.
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die IM-Arbeit persönliche Vorteile erwartete. Ohne Bedenken zu äußern oder Bedingungen zu stellen, erklärte sie sich schon bei der ersten Kontaktaufnahme zur inoffiziellen Zusammenarbeit bereit. Im weiteren Gespräch brachte sie dann allerdings auch zum Ausdruck, dass sie gerne einen Beruf erlernen wolle, und fragte, ob das MfS sie dabei unterstützen könne. Sie hatte bereits konkrete Vorstellungen: In einem zweijährigen Lehrgang an der Medizinischen Fachschule Berlin wollte sie sich zur Kosmetikerin ausbilden lassen. Das MfS versicherte ihr, sich über die Möglichkeiten zu informieren.385 »Martina Matt« hatte wegen des Zweiten Weltkriegs weder die mittlere Reife erwerben noch ihre Lehre zur Chemielaborantin abschließen können. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich mit Gelegenheitsarbeiten, beispielsweise als Telefonistin oder zuletzt als Tischdame in einer Westberliner Nachtbar.386 Diese Tätigkeit gestand sie bei der nächsten Aussprache – ohne zu ahnen, dass das MfS darüber längst informiert war und gerade aufgrund dieser Arbeitsstelle Interesse an ihr hatte. Sie schämte sich für ihren Arbeitsplatz und befürchtete offensichtlich, einen schlechten Eindruck zu erwecken. Nachdrücklich betonte sie, dass sie keine intimen Beziehungen zu den Gästen aufbauen müsse und sie den Job nur aufgrund ihrer finanziellen Schwierigkeiten ausübe. Hinsichtlich ihres Wunsches nach einer Ausbildung zur Kosmetikerin ließ sich »Martina Matt« zunächst vertrösten, kündigte aber an, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückkommen werde.387 Die Hauptabteilung V war sich der finanziellen Notlage und der dementsprechenden materiellen Motivation ihrer GIKandidatin bewusst: »Aufgrund der bisherigen Gespräche und des durchaus reibungslosen Verlaufs des Werbungsgesprächs drängt sich jedoch die Frage auf, weshalb ist diese Frau mit allen unseren Vorschlägen einverstanden und gibt uns darüber hinaus noch ihre privaten Beziehungen preis, die wir für die operative Arbeit mit ihrer eigenen Unterstützung auszunutzen versuchen, wo sie doch in politischer und auch sonstiger Hinsicht nichts an uns bindet. Ausser den vielen Möglichkeiten die es gibt, treten insbesondere 3 in den Vordergrund: 1) Erreichung finanzieller Vorteile 2) Verbindung zum Gegner 385 Vgl. Bericht, HA V/5, 11.6.1960. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte Bd. 1, S. 28–31, hier 28–30. 386 Vgl. handschriftlicher Lebenslauf, Anna Wessel, 14.6.1960. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte, Bd. 1, S. 38 f.; Anwerbungsvorschlag, HA V/5, 30.6.1960. Ebenda, S. 48–54; Bericht, GI »Eva«, 12.1.1960. Ebenda, S. 20; Vernehmungsprotokoll, ZERV 216, 7.3.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1376/92, Bd. Ia, Bl. 7–19. 387 Bericht, HA V/5, 15.6.1960. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte Bd. 1, S. 32–37, hier 32 f., 35 f.
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3) Abenteuerlust Die 3. Version ist zwar zu erkennen, da sie eine Frau ist, die gerne was erlebt, tritt aber in den Hintergrund, da sie mit 32 Jahren überlegter wie eine jüngere Frau handelt. Die 2. Version ist durchaus möglich auf Grund ihrer umfangreichen Beziehungen nach WB [West-Berlin], wobei man ihr natürlich sehr unrecht tun könnte, wenn man dies zu sehr in den Vordergrund stellt. Eine Überprüfung ihrer Person wird uns Aufklärung über ihre Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit geben. Die 1. Möglichkeit erscheint als die Ausschlaggebendste, wenn dies auch bisher noch nicht so in Erscheinung getreten ist. Es wurden ihr bisher 2mal 20,- DM West übergeben, die sie ohne Hemmung oder Frage übernahm und man kann es wohl auch so einschätzen, dass sie sich auf Grund ihrer Lage einen finanziellen Vorteil durch die Zusammenarbeit erhofft und deshalb auch bereit ist alles für uns zu tun.«388
Nach ihrer Anwerbung Ende Juni 1960 nahm »Martina Matt« ihre zwischenzeitlich aufgegebene Arbeit als Tischdame in einer Westberliner Nachtbar wieder auf, um Geld zu verdienen und Informationen und Kontaktmöglichkeiten für das MfS zu sammeln. Laut eines Treffberichts erkundigte sie sich bei ihrem Führungsoffizier, ob es Personen gebe, die »nur für Geld mit dem MfS zusammenarbeiten« würden, und lehnte eine solche direkte Bezahlung ab. Die anschließende Erklärung ihres Führungsoffiziers ist vielsagend, er hatte die Vorteilserwägungen von »Martina Matt« erkannt: Prinzipiell erfolge die Zusammenarbeit mit den IM auf der Basis der »Überzeugung«, aber es gebe außerdem »entsprechend der Mentalität der Menschen verschiedene Möglichkeiten […], um allseitig das Prinzip der Überzeugung wirksam werden zu lassen«.389 Das MfS motivierte »Martina Matt« durch berufliche Versorgungsleistungen, aber auch durch finanzielle Anreize zur Zusammenarbeit. Eine direkte Bezahlung lehnte sie bereits wenige Monate später nicht mehr ab; so erhielt sie von Januar 1961 bis Januar 1964 eine monatliche Zahlung von 600 M/DDR sowie zusätzliche Geldbeträge, beispielsweise im Rahmen der Entführungsaktion von Heinz Brandt im Juni 1961 insgesamt rund 1 500 DM/West und 2 250 M/DDR.390 Zusätzlich besorgte das MfS ihr wiederholt Arbeitsplätze. Weil ihr die Arbeit als Verkäuferin für Schreibwaren in der Konsumgenossenschaft Friedrichshain, die sie seit April 1962 ausübte, keinen Spaß mehr machte, äußerte sie den Wunsch, als Redakteurin bei einer Zeitung tätig zu sein. Am 1. Oktober 1962 konnte sie durch die Vermittlung des MfS eine Stelle als
388 Bericht, HA V/5, 29.6.1960. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte Bd. 1, S. 55–58, hier 57 f.; vgl. Anwerbungsvorschlag, HA V/5, 30.6.1960. Ebenda, S. 48–54, hier 51–53. 389 Treffbericht, HA V/5, 27.8.1960. BStU, MfS, AIM 12056/64, A-Akte, S. 24–27, hier 24–26. 390 Vgl. Quittungen, »Martina Matt«, 14.6.1960–18.1.1964. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte Bd. 1, S. 129–177, besonders S. 129, 157, 168–177.
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redaktionelle Mitarbeiterin im Lektorat des Verlages der Jungen Welt antreten.391 Das System der finanziellen und materiellen Entlohnung in der Zusammenarbeit zwischen Entführer-IM und MfS hatte eine wirkungsmächtige und stabilisierende Bindungskraft. Selbst bei Entführer-IM, die sich hauptsächlich aus anderen Motiven für ihre IM-Tätigkeit entschieden, schuf das MfS also oftmals durch die finanziellen Anreize eine Abhängigkeit. Die Annahme und Quittierung des Lohns war für das MfS zugleich ein mögliches Druckmittel, welches das Schweigen der IM zumindest temporär gewährleistete. Auf der Seite der Entführer-IM bot sich für die meisten durch ihre bezahlte Arbeit für das MfS eine Gelegenheit, ihren Lebensunterhalt aufzubessern oder gar überhaupt erst sicherzustellen, oder auch ein Weg aus finanziellen Notlagen. Vor diesem Hintergrund kam es auch zu Selbstangeboten und Preisverhandlungen: Die Kontaktperson Paul Noack nahm im Januar 1955 aus eigener Intitiative Kontakt zum MfS auf, um sich für eine Zusammenarbeit anzubieten. Mit der Aufforderung, sich wieder zu melden, wenn er Verbindung zu Agentenkreisen in West-Berlin habe, schickte das MfS den Westberliner Schmuggler weg. Im Sommer desselben Jahres meldete er sich zurück, um nun entsprechende Informationen über angebliche Westagenten zu verkaufen. Dabei betonte er wiederholt, dass seine Auskünfte nicht billig seien, da er kein »Achtgroschenjunge« sei. Die nachfolgenden Verhandlungen mit dem MfS entsprachen nicht den Vorstellungen von Paul Noack: Zwar zeigte sich das MfS bereit, ihn finanziell zu entlohnen – aber erst nach dem Überprüfen des Wahrheitsgehalts seiner Informationen. Ferner lehnte man seine Preisvorstellungen ab. Da ihm im Januar 1955 monatlich 300 DM/West versprochen worden seien, forderte er diese Zahlung rückwirkend ab Juli 1954, also insgesamt 3 600 DM/West. »Dieser Unsinn wurde ihm mit höflichen Worten ausgeredet«392, berichtete der Mitarbeiter der MfS-Kreisdienststelle Treptow, die Paul Noack an die Abteilung II der MfS-Verwaltung Groß-Berlin übergab. Obwohl das MfS vorerst größere Zahlungen ablehnte, gab Paul Noack seine Informationen schließlich preis und berichtete für 100 DM/West über seinen Freund Jakob Oschewski aus Berlin-Wilmersdorf, der ein »Nachrichtenhändler« sei und enge Verbindungen zum amerikanischen, englischen und französischen Geheimdienst habe. Jakob Oschewski war zu diesem Zeitpunkt bereits im Visier des MfS, das nun die Möglichkeit einer »operativen Festnahme« sah: »Er [Paul Noack] erklärte sich bereit und machte selbst das Angebot, den O. nach dem demokratischen Sektor zu bringen, damit die Organe der Staatssicherheit sich
391 Vgl. Aktenvermerk, HA V/5, 21.8.1962. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte Bd. 1, S. 118 f.; Aktenvermerk, HA V/5, 18.1.1963. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 120. 392 Vgl. Bericht, KD Treptow, 22.8.1955. BStU, MfS, AP 553/57, S. 5–8, hier 6.
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mit O. unterhalten können.«393 Tatsächlich lieferte Paul Noack bereits wenige Tage später seinen Freund Jakob Oschewski dem MfS aus und kassierte für die Informationen sowie die »Zuführung« eine Prämie von insgesamt 2 400 DM/West.394 Die anfangs anscheinend vorhandene Hoffnung der zuständigen MfS-Mitarbeiter, die Zusammenarbeit mit dem stark finanziell orientierten Paul Noack »auf die richtige Bahn«395 lenken zu können, schwand allerdings sehr bald. Im Ablagevermerk bilanzierte die Abteilung II im Dezember 1956: »Bei dem N. handelt es sich um einen Schieber. Über die von ihm gelieferten Berichte ließ sich nur mit Geld verhandeln. […] Auf Grund der finanziellen Einstellung des N. kann er nicht als ehrlich und zuverlässig bezeichnet werden. Er erweckte den Eindruck, daß er für jeden arbeiten würde, wenn er nur genügend bezahlt wird. […] Da N. von uns die gewünschten Gelder (450,- WM monatlich) nicht erhielt, erschien er nicht wieder zum Treff. Die Verbindung zu den N. wurde abgebrochen.«396
Ähnlich verlief die Zusammenarbeit des MfS mit der Kontaktperson »Hering«, der sich ebenfalls selbst angeboten hatte. Im März 1954 meldete sich der damals 34-jährige, erwerbslose Westberliner auf dem Präsidium der Volkspolizei in Ost-Berlin, um Angaben über einen ihm gut bekannten »KgU-Agenten« zu machen. Die VP vermittelte ihm ein Gespräch mit einem Mitarbeiter der Abteilung V der MfS-Verwaltung Groß-Berlin am folgenden Tag. »Hering« berichtete über einen Johann Feldmann in West-Berlin, der für die KgU tätig und »Haupträdelsführer« bei einem Brandanschlag auf eine »Konsumbaracke« 393 Bericht, Abt. II/1, 2.9.1955. BStU, MfS, AU 1410/58, Bd. 1, S. 64–76, hier 74; vgl. Bericht, Abt. II/1, 27.8.1955. BStU, MfS, AP 553/57, S. 15–19, hier 18 f.; Bericht, KD Treptow, 22.8.1955. Ebenda, S. 5–8, hier 5–7; Quittung über 100 DM/West, Paul Noack, 29.7.1955. Ebenda, S. 55; Treffbericht, Abt. II, 30.8.1955. Ebenda, S. 11 f. Die KD Weissensee erfasste Jakob Oschewski nach einem Hinweis im Mai 1955 und beobachtete ihn im Gruppenvorgang »Kaktus«, der von der Abt. II übernommen wird. Vgl. Beschluss, KD Weissensee, 2.5.1955. BStU, MfS, AOP 857/57, S. 13 f.; Beschluss, KD Weissensee, 21.6.1955. Ebenda, S. 18 f.; Schlussbericht, Abt. II/1, 8.4.1957. Ebenda, S. 181–189. Parallel führte die HA III seit Juli 1955 den Einzelvorgang »Zigeuner« gegen Oschewski, da sie ihn verdächtigte, für den amerikanischen Geheimdienst tätig zu sein. Vgl. Beschluss, HA III/4, 20.7.1955. BStU, MfS, AOP 629/55, S. 5 f.; Bericht, HA III/4, 21.6.1955. Ebenda, S. 16; Zwischenbericht, HA III/4, 14.9.1955. Ebenda, S. 71–73. 394 Vgl. zwei Quittungen, Paul Noack, 1./5.9.1955. BStU, MfS, AP 553/57, S. 54, 56; Protokoll Vernehmung Jakob Oschewski, Abt. I 4 KJ 1, 30.9.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 22/96, Bl. 4–16. Jakob Oschewski wurde im März 1956 zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt und im August 1964 aus der DDR-Haft entlassen. Vgl. Urteil, Bezirksgericht Frankfurt/O., 28.3.1956. BStU, MfS, AU 1410/58, Bd. 10, S. 181–193; Aktenvermerk, MfS, 4.9.1964. Ebenda, Bd. 13, S. 143; Protokoll Vernehmung Jakob Oschewski, Abt. I 4 KJ 2, 27.4.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 22/96, Bl. 17–19. 395 Treffbericht, KD Treptow, 29.8.1955. BStU, MfS, AP 553/57, S. 10. 396 Ablagevermerk, Abt. II/1, 22.12.1956. Ebenda, S. 58.
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in Berlin-Treptow 1951 sei. Da er nicht mit ansehen könne, dass »solche Leute frei rumlaufen« und von der VP eine Belohnung von 3 000 DM/West für die Ergreifung des Täters ausgesetzt worden sei, bot sich »Hering« an, Feldmann für diesen Geldbetrag nach Ost-Berlin zu bringen. Das MfS nahm das Angebot an und stattete »Hering« mit 70 DM/West aus, die dieser benötigte, um Feldmann im betrunkenen Zustand zu verschleppen. »Hering« erfüllte seinen Teil der Abmachung einige Tage später: Nach einem entsprechenden Anruf »Herings« konnte die MfS-Abteilung V Johann Feldmann nachts in der Nähe des Potsdamer Platzes festnehmen. Als »Hering« danach sofort seine Bezahlung einforderte, vertröstete ihn das MfS allerdings und versuchte, ihn mit einer ersten Zahlung von 100 DM/West zu besänftigen. Nach einigem Drängen erhielt »Hering« später eine weitere Prämie von 500 DM/West.397 In einer Stellungnahme hielt die Abteilung V fest, er habe Feldmann »dem MfS nicht ausgeliefert, weil er davon überzeugt war, einen Feind der DDR unschädlich zu machen, sondern weil er sich dafür eine Menge Geld erhoffte.«398 Mit der Aussicht auf weitere Verdienstmöglichkeiten bekundete »Hering« sein Interesse an weiteren Aufträgen, und die Abteilung V beauftragte ihn daraufhin mit der Verschleppung eines anderen Westberliners. Als »Hering« sich sofort nach der Höhe der Bezahlung erkundigte, weigerte sich der MfSMitarbeiter eine Summe zu nennen, versprach aber, dass das zu seiner Zufriedenheit geregelt werden würde.399 Bereits drei Tage später warf »Hering« die Frage nach seiner Entlohnung erneut auf, forderte 1 500 DM/West und setzte sogar eine Art Ultimatum. Die MfS-Abteilung V reagierte mit dem Hinweis, dass es nicht ihrem Prinzip entspreche, eine bestimmte Summe in Aussicht zu stellen. Zugleich wurde ihm aber nach der erfolgreichen Durchführung des Entführungsauftrags ein Monatsgehalt von 500 DM/West in Aussicht gestellt, dadurch sei er dann immer in der Lage, »gleich die neuen Sachen zu finanzieren«.400 Für die Vorbereitungen händigte das MfS in den ersten Apriltagen 1954 230 DM/West401 an »Hering« aus, der die Durchführung seines Auftrages jedoch immer wieder verschob und stattdessen weitere Aufträge forderte. Die Abteilung V wies das ab: »Ihm wurde noch gesagt, dass er von uns erst wieder Geld bekommt, wenn er die geplante Aktion durchgeführt hat, zur Vorbereitung erhält er von uns kein Geld mehr, da wir für das Geld auch
397 Vgl. Bericht, Abt. V, 25.3.1954. BStU, MfS, AP 5009/57, S. 4 f.; Bericht, Abt. V/5, 29.12.1955. Ebenda, S. 61. Laut Quittungen in der MfS-Akte zur KP »Hering« verausgabte das MfS zur Vorbereitung der Entführung Feldmanns 120 DM/West und 300 DM/West als Prämie für »Hering«. Vgl. 5 Quittungen, »Hering«, 24.3.–29.3.1954. BStU, MfS, AP 5009/57, S. 149–151, 153 f. 398 Stellungnahme, Abt. V/5, 30.1.1958. BStU, MfS, AP 5009/57, S. 161 f. 399 Bericht, Abt. V, 29.3.1954. Ebaenda, S. 8. 400 Bericht, Abt. V, 2.4.1954. Ebenda, S. 9. 401 Vgl. 3 Quittungen, »Hering«, 1.4.–8.4.1954. Ebenda, S. 146–148.
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einen Erfolg sehen wollen.«402 Im Herbst 1954 brach die Verbindung zwischen der KP »Hering« und dem MfS schließlich weitgehend ab.403 Das mal minder, mal stark ausgeprägte finanzielle und materielle Interesse der Entführer-IM führte im MfS-Apparat zu enormen Kosten für den Unterhalt dieser Einsatzkräfte. Bei den Entführern des Rechtsanwalts Walter Linse war sich das MfS bewusst, dass diese hauptsächlich aus finanziellen Interessen handeln. So heißt es im Vorschlag zur Anwerbung eines GM kurz vor der Entführung: »B. ist bereit[,] mit uns Einsätze zu fahren. Er rechnet dabei mit einem hohen Verdienst und [es] kann vorerst von einem Tun aus Überzeugung nicht gesprochen werden.«404 Zum gleichen Urteil war das MfS bei dem ebenfalls beteiligten GM »Pelz« gekommen, der bereits im Februar 1950 angeworben worden war: »Bei Kr. handelt es sich um einen Menschen, der Geld verdienen will. Von einer politischen Überzeugung kann man bei ihm nicht sprechen.«405 Tatsächlich war die IM-Tätigkeit durchaus lukrativ für »Pelz«: Rund 32 000 M/DDR bekam er in den Jahren 1953 bis 1955 ausgezahlt, darunter teilweise eine monatliche Unterstützung von 500 bis 1 000 M/DDR.406 Vergleichsweise wenig finanzielle Unterstützung erhielt ein weiterer Komplize des GM »Pelz« im ähnlichen Zeitraum: Von Oktober 1953 bis März 1955 bekam der GM »Ringer« insgesamt 8 600 M/DDR. Allerdings wurde ihm dann ab April 1955 eine monatliche Unterstützung von 600 M/DDR zuteil, die im November 1956 erst auf 400 M/DDR und im April 1957 auf 300 M/DDR sank. Im Juli 1959 – sieben Jahre nach der Entführungsaktion – stellte das MfS schließlich die monatlichen Zahlungen ein und ließ ihm bis zum Jahresende nur noch einzelne Sonderzahlungen zuteil werden. Insgesamt summieren sich die Zahlungen aber auf über 25 000 M/DDR.407 Der zum Einsatz gekommene GM »Barth« erhielt im Zeitraum Januar 1954 bis Oktober 1957 Zuwendungen von rund 41 000 M/DDR sowie eine Wohnungseinrichtung im Wert von 20 000 M/DDR und ein Auto im Wert von 16 000 M/DDR.408
402 Treffbericht, Abt. V, 23.4.1954. Ebenda, S. 13; vgl. Treffbericht, MfS, 27.8.1954. Ebenda, S. 40. 403 Vgl. Bericht, Abt. V/5, 29.12.1955. BStU, MfS, AP 5009/57, S. 61; Schlussbericht, Abt. V/5, 24.4.1957. Ebenda, S. 155 f.; Stellungnahme, Abt. V/5, 30.1.1958. Ebenda, S. 161 f. 404 Vorschlag, Abt. V, 30.6.1952. BStU, MfS, AP 8796/56, S. 5. 405 Bericht, MfS, 4.2.1950. BStU, MfS, AIM 3119/56, P-Akte, S. 16–22, hier 22. 406 Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, SfS, 1953–1955. BStU, MfS, AIM 3119/56, P-Akte, S. 9–11; Quittungen, GM »Pelz«, Februar 1953 bis Dezember 1955. Ebenda, S. 255–312. 407 Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, SfS, 19.10.1953–24.12.1959. BStU, MfS, AIM 1640/61, P-Akte, S. 5–8; Quittungen, GM »Ringer«, 21.10.1953–3.10.1956. Ebenda, S. 80–145; Quittungen, GM »Ringer«, 11.6.1956–22.1.1960. Ebenda, S. 153–269; Aktenvermerk, HA V/5, 30.4.1957. Ebenda, S. 168 f. 408 Vgl. Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, SfS, 11.1.1954–10.10.1957. BStU, MfS, AIM 1639/61, P-Akte Bd. 1, S. 9–12; Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, MfS, 13.3.1957. Ebenda, P-Akte Bd. 2, S. 59 f.; Bericht über monatliche Unterstützung des GM »Barth«, Abt. V/5, o. D. Ebenda, S. 80 f.
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Die spektakuläre Entführung Walter Linses wurde für das MfS zu einem kostspieligen Schachzug: Da sie am hellichten Tag und in aller Öffentlichkeit viel Aufsehen erregt hatte, musste das MfS alle beteiligten IM aus West-Berlin abziehen und deren Leben in der DDR finanziell unterstützen. Sogar der ursprünglich für die Entführungsaktion vorgesehene, aber letztlich nicht eingesetzte GI »Fritz« konnte sich nicht über mangelnde Finanzhilfen beklagen. So bilanzierte die Abteilung V im Dezember 1953: »Seit November 1952 bis Dezember 1953 beläuft sich die Gesamtsumme nach dem bei mir vorliegenden einzelnen Beträgen auf insges. 49 568,95 [mutmaßlich M/DDR, Anm. S. M.]. Diese Summe könnte in etwa wie folgt aufgeschlüsselt werden. 1. Urlaubsgeld und Kosten für Kleidung während der Zeit vom Nov. 52–Jan. 1953 7 000,– 2. Geld f. Anschaffungen wie Möbel und Haushaltsgegenstände und Kleidung 10 000,– 3. Einrichtung der Werkstatt und Handwerksgeräte 15 000,– 4. Verbrauch an Material, Kauf an Gegenständen für unsere Aufträge 4 000,– 5. Verbleib f. persönlichen Bedarf, beträgt nach unserer Aufschlüsselung pro Monat rund 1 130 DM 13 568,95.«409
Kostenintensiv war für das MfS auch der Unterhalt der Operativgruppe »Donner«, die mehrere Entführungen durchführte. Ihr Kopf gehörte zu den Spitzenverdienern unter den Entführer-IM und wohl unter allen IM des MfS: Im Zeitraum 1955 bis 1961 zahlte das MfS dem 1955 angeworbenen GM »Donner« 165 000 DM/West »für die Durchführung von operativen Aufträgen bzw. die Sicherstellung von Aktionen oder als Prämien« sowie 3 700 M/DDR für die Treffdurchführungen und kleinere Aufmerksamkeiten.410 Nach seiner Übersiedlung in die DDR 1961 erhielt »Donner« bis 1971 409 Bericht, Abt. V an Leiter der HA V, 23.12.1953. BStU, MfS, AP 9404/56, S. 268–277, hier 271. Die Quittungen weisen für den Zeitraum November 1952 bis März 1956 eine Summe von rund 55 000 DM [mutmaßlich M/DDR] aus, darunter im Januar 1953 5 000 DM für die Einrichtung einer Wohnung und eines Geschäfts sowie im Februar 1953 8 000 DM für Anschaffungen. Vgl. Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, MfS, 15.11.1952–12.3.1956. Ebenda, S. 6–8; Quittungen, 15.11.1952–12.3.1956. Ebenda, S. 9–36, 51 f., 66–71, 79 f.; Quittungen, 29.11.1952–4.9.1953. Ebenda, S. 321–337. 410 Auskunftsbericht, Oberstltn. Bodenthal, 15.6.1980. BStU, MfS, AIM 11599/83, Bd. I/3, S. 153–187, hier 180. Laut anderer Aufzeichnungen des MfS beliefen sich die Zahlungen im Zeitraum 1955–1960 auf rund 217 000 DM, darunter 59 900 DM »Operativ-Gelder«, 40 250 DM für »technische Zwecke«, 108 800 DM Vorschüsse und 8 000 DM »private Zuwendungen«. Vgl. Notizzettel, o. D. BStU, MfS, AIM 11599/83, Bd. I/2, S. 27; Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, MfS, November 1955 bis April 1960. Ebenda, S. 28–31.
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noch rund 74 000 DM/West für die Durchführung von Aufträgen und über 260 000 M/DDR in Form von Gehalt und Zuwendungen. In den Jahren 1975 bis 1980 kassierte er dann eine monatliche Ehrenrente in Höhe von 2 000 M/DDR und neben diesen 126 000 M/DDR noch Zuwendungen in der Gesamthöhe von 182 000 M/DDR. Zusammengerechnet verausgabte das MfS demnach 239 000 DM/West und fast 572 000 M/DDR an einen IM.411 Ähnlich imposant sind die Zahlungen an den 1956 verpflichteten GM »Blitz«, der viele Aufträge zusammen mit »Donner« durchführte: In den Jahren 1955 bis 1978 zahlte das MfS ihm rund 121 600 DM/West als Zuwendungen, darunter mehrmals vierstellige Prämien nach Einsätzen im Westen.412 Bei beiden GM war dem MfS klar, dass diese finanziellen Anreize die wesentliche Basis ihrer Einsatzbereitschaft waren: »Eine Zusammenarbeit mit dem MfS ging er [›Blitz‹] ausschließlich aus materiellen Motiven ein. Von der politischen Notwendigkeit einer solchen Zusammenarbeit ist er nicht überzeugt.«413 Auf der »Basis der Überzeugung bzw. des ›Geschäftemachens‹«414 wurde im Jahr 1951 der GM »Rosenberg« vom MfS angeworben. Einen genaueren Hinweis auf die Art der »Überzeugung« liefert ein MfS-Auskunftsbericht aus dem Jahr 1964, in dem es heißt: »Auf Grund der Verbindung des IM zur DIA wurde er im Jahre 1951 auf der Basis der materiellen Interessiertheit (›Überzeugung‹) geworben. In der ersten Zeit der Zusammenarbeit wurden ihm ›Geschäfte‹ vermittelt, wo er ständig dabei bedacht war, für sich finanzielle Vorteile zu erlangen.«415
Neben dieser Vermittlung von Geschäften, bei denen »Rosenberg« laut MfS große Gewinne erzielte, händigte es ihm Sachwerte bei besonderen Anlässen und Geldbeträge für seine IM-Arbeit aus: bis 1961 insgesamt 13 189 DM/West. Zudem ließ das MfS ihm zeitweise eine monatliche Zuwendung in Höhe von
411 Vgl. Auskunftsbericht, Oberstltn. Bodenthal, 15.6.1980. BStU, MfS, AIM 11599/83, Bd. I/3, S. 153–187, hier 180 f.; Quittungen, 1975–1980. Ebenda, S. 384–523; Aufstellung der Quittungen, Abt. XXI, 21.6.1971. Ebenda, Bd. II/10, S. 4–8. 412 Vgl. Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, MfS, 22.11.1955–31.10.1960. BStU, MfS, AIM 13912/79, P-Akte, S. 11–14; Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, MfS, 17.12.1954– 19.12.1978. Ebenda, Bd. II/4, S. 3–18; 4 Quittungen, GM »Blitz«, 22.11.1955–12.7.1958. Ebenda, Bd. II/5, S. 19, 29, 38, 208. 413 Auskunftsbericht, HA II/1, 12.1.1979. BStU, MfS, AIM 13912/79, P-Akte, S. 363–374, hier 370 f. 414 Auskunftsbericht, HA V/3, 27.9.1961. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 201– 204, hier 201. 415 Auskunftsbericht, HA XX/5, 19.8.1964. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 260– 262, hier 261. Vgl. Einschätzung, HA V/3, 13.3.1959. Ebenda, S. 195 f., hier 195; Vorschlag, HA XX/5, 27.1.1965. Ebenda, S. 275–278, hier 275.
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200 DM/West zukommen.416 Doch der GM »Rosenberg« zeigte sich mit den Zahlungen anscheinend nicht zufrieden: »Besonders in letzter Zeit tritt beim GM die negative Seite in Erscheinung, daß er jeden Auftrag, den er bekommt, hoch bezahlt haben will. Hierbei stellt er unreale Forderungen. So z. B. verlangt er 1 000,- DM DBB417 für eine Fahrt nach Westdeutschland, wo er in 10 Tagen eine Aufklärung durchführen sollte. Im Gegensatz dazu benötigte ein anderer IM mit den gleichen Voraussetzungen und Bedingungen nicht einmal die Hälfte des von GM ›Walter‹ geforderten Betrages.«418
Angesichts der finanziellen Forderungen des GM betitelte ihn ein Mitarbeiter der Hauptabteilung XX 1964 als »ein kriminelles Element«, das mit der Aussicht auf materielle Vorteile auch nicht vor Mord zurückschrecken würde.419 Vermutlich ahnte er nicht, dass genau dieser Charakterzug ein Grund für die Anwerbung dieses IM gewesen war. Die problematischen Folgen der starken Konzentration vieler Entführer-IM auf die finanziellen Anreize zeigten sich oft im späteren Verlauf ihrer IMArbeit. Die Höhe der Entlohnung sowie die geldlichen Forderungen der IM bargen ein großes Konfliktpotenzial in der Zusammenarbeit zwischen dem Staatssicherheitsapparat und dem IM. Die hauptsächlich auf einem Entlohnungssystem hergestellte Bindung zu diesen IM bröckelte oder zerbrach sogar, sobald das MfS die Zahlungen einstellte oder sich mit wachsenden finanziellen Forderungen der IM konfrontiert sah und diese zurückwies. Zudem nutzten einige Entführer-IM ihren IM-Status ohne MfS-Auftrag für kriminelle Machenschaften, die ihren materiellen Interessen dienten.420 So klagte ein Führungsoffizier im Jahr 1964 über den im Januar 1956 angeworbenen GM »Dietrich«421:
416 Vgl. Auskunftsbericht, HA V/3, 27.9.1961. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 201–204, hier 201 f. Die im IM-Vorgang archivierten Quittungen aus dem Zeitraum 1956 bis 1963 weisen einen Betrag von insgesamt fast 15 000 DM/West aus. Vgl. Quittungen, GM »Rosenberg«, 16.11.1956–2.7.1963. Ebenda, Beiakte, S. 43–234; Vorschlag, HA XX/5, 27.1.1965. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 275–278, hier 275 f. 417 Die Abkürzung DBB steht für Deutsche Bundesbank, demnach handelt sich um einen Geldbetrag in Westwährung. 418 Vorschlag, HA XX/5, 27.1.1965. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 275–278, hier 275 f. 419 Auskunftsbericht, HA XX/5, 19.8.1964. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 260– 262, hier 261 f. 420 Auf diesen Aspekt wird noch in Kapitel VIII.3 näher eingegangen. 421 GM »Dietrich« erhielt am 5. März 1956 3 400 DM vom MfS. Eventuell handelt es sich hierbei um eine Prämie für die Beteiligung an der Bialek-Entführung, er könnte der bis heute unbekannt gebliebene Fahrer des Autos gewesen sein, der Bialek nach Ost-Berlin brachte. In seiner 3-jährigen IM-Tätigkeit bekam er rund 1 900 DM/West und 8 300 M/DDR, darunter die Prämie vom März 1956 und 2 000 M/DDR im Oktober desselben Jahres »als Abfindung nach der Entlassung aus der Haft«. Vgl. Quittung, KP »Dietrich«, 5.3.1956. BStU, MfS, AP 1632/59, S. 398;
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»Da keine entsprechende Kontrolle über ihn erfolgte, nutzte er im Laufe der Zeit einige ihm übertragene Aufgaben aus, um nebenbei für sich finanzielle Vorteile zu erzielen. (Ausnutzung des unkontrollierten Grenzübertritts für Schmuggel, Benutzung operativer Hilfsmittel und Aufgaben für Diebstähle u. a.)«422
Die Anwerbung von Einsatzkräften aus dem kriminellen Milieu und das gezielte Ausnutzen ihrer Delinquenzbereitschaft prägten die Zusammenarbeit, nicht selten in negativer Weise. VII.4 Delinquenz- und Gewaltbereitschaft Im Kapitel VI.4 wurde dargelegt, dass das MfS gezielt Personen aus dem kriminellen Milieu anwarb und über die Hälfte der untersuchten Entführer-IM zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung bereits eine oder mehrere Haftstrafen verbüßt hatte. Bei den Entführer-IM des ersten Typs wiesen sogar 20 der 26 IM, also fast 77 Prozent dieses Merkmal auf. Angesichts der Verstrickungen im kriminellen Milieu, der zum Teil mehrfachen Vorstrafen und der Delikte wie Betrug, Diebstahl und Körperverletzung lässt sich ein Zusammenhang mit der Bereitschaft dieser IM zum Einsatz als Entführer konstatieren. Ihre Bereitschaft zu delinquentem Verhalten war Teil ihrer Mentalität und damit auch ihrer Motivstrukturen.423 In den Aktenvorgängen von 13 Entführer-IM des ersten Typs finden sich mehr oder minder explizite Hinweise auf diesen Beweggrund. Als Ausnahme unter ihnen erscheint Wilhelm Wittig, der im Juli 1952 bei der brutalen Entführung des Rechtsanwalts Walter Linse als »Betäuber« eingesetzt werden sollte. Der mehrfach wegen Diebstahls und Betrug vorbestrafte Ostberliner wurde vom MfS zwar aus der Haft geholt und für den Einsatz bei Entführungsaktionen vorgesehen, aber aufgrund seiner kriminellen Machenschaften nicht verpflichtet.424 Dieser Umstand war kein Hinderungsgrund für die Anwerbung des an der Linse-Entführung beteiligten GM »Barth«. Die Delinquenz- und Gewaltbereitschaft stellten im Fall dieses Ostberliners eher Qualifikationsmerkmale dar: Als »mehrfach vorbestraftes kriminelles Element mit einer undurchsichtigen Vergangenheit« und rücksichtsloser, impulsiver sowie leicht gewalttätiger »Typ
Quittung, KP »Dietrich«, 29.10.1956. Ebenda, S. 429; vgl. 35 Quittungen, KP »Dietrich«, 5.3.1956– 12.2.1959. Ebenda, S. 396–443. 422 Einschätzung, Oltn. Hoppe, 12.11.1964. BStU, MfS, AIM 6415/71, P-Akte, S. 101 f., hier 101. 423 Psychologische Überlegungen über die Hintergründe von Delinquenzbereitschaft vgl. Diana Christina Zisler: Kriminelle Energie. Entstehung, Prävention und Therapie. Frankfurt/M. 2011. 424 Vgl. handschriftlicher Lebenslauf, Wilhelm Wittig, 5.9.1952. BStU, MfS, AP 9404/56, S. 113–117; Bericht, Abt. V, 5.11.1952. Ebenda, S. 219; Bericht, Abt. V an Leiter der HA V, 23.12.1953. Ebenda, S. 268–277, hier 268.
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eines Bandenführers« erschien er dem MfS als die richtige Person für den Aufbau einer speziellen Einsatzgruppe.425 Das MfS benötigte vor allem für die gewalttätigen Entführungsaktionen Einsatzkräfte, die vor strafbaren Handlungen nicht zurückschreckten. Personen aus dem kriminellen Milieu der geteilten Stadt Berlin erfüllten diese Voraussetzungen. Im Gegenzug fanden die angeworbenen Kriminellen im MfS einen relativ zuverlässigen Arbeit- und Geldgeber. So auch der mehrfach wegen Raubs und Einbruchs vorbestrafte Westberliner »König der Unterwelt«, der in den Augen des MfS »über ausserordentlich gute Fähigkeiten [verfügte,] ›besondere Aufgaben‹ zu organisieren.«426 Nach seiner Anwerbung im April 1952 war er als GM »Konsul« im Dienste des MfS an zwei Entführungsaktionen beteiligt, aber auch immer wieder in der DDR wegen Betrugs inhaftiert, wo er seit November 1952 lebte. Die zuständigen DDR-Behörden erwogen sogar mehrmals den Entzug seiner Aufenthaltsgenehmigung aufgrund seiner strafbaren Handlungen, was das MfS aber stets zu verhindern wusste.427 Vielmehr unterstützte das MfS seinen IM sogar bei seinem illegalen Handel: »Unser Ziel in dieser Angelegenheit ist, dem GM eine finanzielle Grundlage zu schaffen, dass dieser seine Leute selbst finanzieren kann und uns, dem SfS dadurch erhebliche Beträge erspart bleiben. Da allgemein bekannt ist, dass durch eine grosse Reihe von Schiebern illegale Geschäfte getätigt werden, sollte dem GM ›Konsul‹, der immerhin längere Zeit erfolgreich für uns arbeitet, in unserem Interesse ohne besondere grössere Einschränkungen diese Möglichkeit verschafft wird [sic!].«428
Kriminelle Handlungen wurden MfS-intern aber nur toleriert oder gar gefördert, wenn sie zuvor abgesprochen waren und nützlich erschienen. Hier deutet sich ein Konfliktfeld an, das in Kapitel IX.1 noch näher thematisiert werden wird: Die oftmals nicht zu zügelnde Delinquenzbereitschaft einiger EntführerIM machte sie für den Staatssicherheitsapparat zum Sicherheitsrisiko. So brach das MfS beispielsweise auch mehrfach die Verbindung zum GM »Konsul« ab, da dieser seine Beziehungen zum MfS dazu benutzt hatte, straffrei »Verbrechen grösseren Stils« durchzuführen.429 425 Vgl. Charakteristik, Oberstltn. Knye, 11.5.1953. BStU, MfS, AIM 1639/61, P-Akte Bd. 1, S. 86–91, hier 90. Vgl. Anwerbungsvorschlag, Abt. V, 30.6.1952. Ebenda, S. 14 f., hier 14; Abschlussbericht, Oltn. Eichhorn, 24.2.1961. Ebenda, P-Akte Bd. 2, S. 163 f., hier 163. 426 Bericht, HA II/1, 17.6.1954. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 1, S. 150. Vgl. Auskunftsbericht, HA III/4, 20.6.1956. Ebenda, P-Akte Bd. 2, S. 110 f., hier 110; Beurteilung, HA III/4, 9.7.1955. Ebenda, S. 44; Bericht, SfS, 28.5.1955. Ebenda, P-Akte Bd. 3a, S. 43–46, hier 43; Abschlussbericht, HA II Leitung, 30.4.1968. Ebenda, P-Akte Bd. 4, S. 350 f. 427 Vgl. Mitteilung, HA III/4 an Abt. VII, 14.4.1955. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 1, S. 218. 428 Mitteilung, HA III/4, 14.7.1955. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 2, S. 45. 429 Bericht, SfS, 28.5.1955. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 3a, S. 43–46, hier 44. Vgl. Bericht, HA II/1, 23.5.1955. Ebenda, S. 39–42, hier 41 f.; Abschlussbericht, HA II Leitung, 30.4.1968. Ebenda, P-Akte Bd. 4, S. 350 f.
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Den Kontakt zwischen GM »Konsul« und dem MfS hatte der im Dezember 1951 verpflichtete GM »Rosenberg« hergestellt, der wiederum als »Chef einer großen Einbrecher-Organisation der Westberliner Unterwelt«430 durch einen IM dem MfS für einen geplanten Einbruch vermittelt worden war. Das MfS sah in ihm ein »kriminelles Element«, das »ständig darauf bedacht ist, finanzielle Vorteile zu erlangen. Man kann so einschätzen, daß er nicht davor zurückschrecken würde einen Menschen umzubringen, wenn er wüßte, dadurch für sich Vorteile zu haben.«431 Während eines Streits hatte »Rosenberg« im Februar 1951 einen Mann namens Max Pohl erstochen, der wenige Monate zuvor für das MfS zwei Entführungen durchgeführt hatte – an einer war auch »Rosenberg« beteiligt. »Rosenberg« entging einer strafrechtlichen Verfolgung, da er glaubhaft machen konnte, in Notwehr gehandelt zu haben.432 Der mehrfach vorbestrafte Westberliner lebte vom Warenschmuggel und von Einbrüchen, wobei er als »Bandenchef« im Hintergrund agierte. Auf Weisung des MfS nahm er nach seiner Anwerbung wohl weitgehend Abstand von seinen kriminellen Handlungen und Verbindungen auf diesem Gebiet. Seine kriminellen Fertigkeiten fanden einen anderen ›Abnehmer‹: »Bestimmte Fähigkeiten des GM konnten seinerzeit der Situation entsprechend, für unsere Arbeit genutzt werden.«433 Mehrfach setzte das MfS ihn bei geplanten Entführungsaktionen ein, zumal er sein ›Können‹ schon bei einer gewaltsamen Entführung im August 1950 in Kooperation mit Max Pohl unter Beweis gestellt hatte. Bei den »aktiven Maßnahmen« war »Rosenberg« stets mit einer Pistole bewaffnet, die das MfS für ihn verwahrte.434 Obwohl er 1960 gegenüber einem anderen GM äußerte, immer noch für die IM-Arbeit – »allerdings nur [für] schwere Sachen«435 – bereit zu sein, registrierte das MfS ein nachlassendes Engagement: »Nach einigen aktiven Maßnahmen, zeigte der GM an solchen Aufgaben weniger Interesse, ja, er zeigte eine übertriebene Vorsicht, die teilweise direkte Angst war. Vermutlich fühlte er sich durch die in der Vergangenheit durchgeführten Aufträge etwas beunruhigt, da er verschiedentlich mit der westberliner Polizei zu tun hatte.«436
430 Treffbericht, Abt. III, 3.12.1951. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 17. 431 Auskunftsbericht, HA XX/5, 19.8.1964. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 260– 262, hier 262. 432 Laut Tagesspiegel war er in »seiner Wohngegend wegen seiner Gewalttätigkeit gefürchtet«. Vgl. Menschenraub nach vier Jahren aufgeklärt. In: Tagesspiegel, 12.6.1954; Menschenraub vor vier Jahren durch zurückgekehrten Häftling aufgeklärt. In: Neue Zeitung, 12.6.1954; Unterweltler arbeiten für den SSD. In: Telegraf, 11.6.1954. 433 Vorschlag, HA XX/5, 27.1.1965. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 275–278, hier 276 f. 434 Vgl. Vermerk, HA XX/5, 22.10.1964. Ebenda, S. 274. 435 Bericht, HA V/2, 6.7.1960. BStU, MfS, AIM 1717/62, A-Akte Bd. 2, S. 149. 436 Vorschlag, HA XX/5, 27.1.1965. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 275–278, hier 275.
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»Rosenberg« war Mitte der 1950er Jahre verstärkt ins Visier der bundesdeutschen Ermittlungsbehörden geraten und wurde 1954/55 zweimal im Zusammenhang mit der 1950 verübten Entführung festgenommen, aus Mangel an Beweisen aber wieder freigelassen.437 Vor diesem Hintergrund erteilte das MfS ihm anscheinend nicht mehr »seinen Fähigkeiten entsprechend[e]« Aufträge, sodass er sich auf ein Abstellgleis geschoben fühlte – wie das MfS 1965 beim Abbruch der Verbindung vermerkte.438 Speziell für »Sonderaktionen« warb das MfS 1955 den im kriminellen Milieu West-Berlins verkehrenden Hans Wax als GM »Donner« an, denn er zeige »Kaltblütigkeit, Mut und Ausdauer, was man selten findet«.439 Zum Zeitpunkt seiner Anwerbung führte »Donner« ein Doppelleben: Einerseits leitete er einen Kfz-Betrieb in Berlin-Charlottenburg, andererseits war er schon seit Jahren an Einbrüchen, Autodiebstählen und Warenschmuggel beteiligt – dabei scheute er keine Gewalttaten.440 In den Augen seines Führungsoffiziers eignete sich »Donner« nicht als »Ermittler und Beobachter«, sondern »nur für heiße Maßnahmen«.441 Mit diesen wurde er in den folgenden Jahren beauftragt: »Donner« war bei den Vorbereitungen zahlreicher MfS-Entführungsaktionen involviert; mindestens drei gewaltsame Entführungen gehen auf sein Konto. Im September 1963 entwickelte er sogar einen Mordplan, als er auf einen geflohenen MfS-Mitarbeiter angesetzt wurde. Das MfS erwog, »Donner« mit der Durchführung zu beauftragen, da er ähnliche Aufgaben bereits erfolgreich durchgeführt habe, nahm schließlich jedoch Abstand von dem Mordanschlag.442 Seine Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen, beteuerte »Donner« noch im Februar 1979, als das MfS ihn weitgehend abgeschrieben hatte. Anlässlich des Jahrestages des MfS erklärte er sich bereit, »zu jeder Zeit und Stunde den Verräter Stiller zu liquidieren«.443 Dabei betonte er, dass er keinerlei 437 Vgl. Bericht, SfS, 6.4.1955. Ebenda, S. 118 f. 438 Vorschlag, HA XX/5, 27.1.1965. Ebenda, S. 275–278, hier 278. 439 Vgl. Auskunftsbericht, Oltn. Poppe, 25.11.1955. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/4, S. 19 f., hier 20. 440 Vgl. Auskunftsbericht, Oltn. Poppe, 25.11.1955. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/4, S. 19 f., hier 19; Auskunftsbericht, Major Pustiovsky, 11.6.1958. Ebenda, Bd. I/2, S. 20–23, hier 21; Bericht, Abt. XXI, 8.1.1970. Ebenda, Bd. II/8, S. 138 f., hier 138; Auskunftsbericht, AG beim 1. Stellv. d. Min., 11.6.1980. Ebenda, Bd. I/3, S. 153–187, hier 161; Schlussbericht, HA III/T/6, 9.7.1985. Ebenda, Bd. I/1, S. 480–485, hier 480. 441 Bericht, MfS, 9.10.1956. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/1, S. 125. 442 Vgl. Auftrag, MfS, 3.9.1963. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/8, S. 95–97, hier 96; »Vorschlag zur Liquidierung des Verräters«, MfS, o. D. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. I, Bl. 21–24; Bericht, GM »Donner«, o. D. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/8, S. 114 f., hier 115. Vgl. Christiane Kohl: Donner, Blitz und Teddy. In: Der Spiegel, Nr. 10/1996, S. 52–68. 443 Verpflichtungserklärung, Hans Wax, 1.2.1979. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/13, S. 244. Werner Stiller war MfS-Oberleutnant in der HV A, unterhielt aber seit 1978 Kontakt zum BND. Im Januar 1979 floh er nach West-Berlin und sorgte mit seinen Erkenntnissen für zahlreiche Festnahmen und Ermittlungsverfahren. Vgl. Roewer/Schäfer/Uhl: Lexikon der Geheimdienste, S. 446; Werner Stiller: Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten. Berlin 22010; Werner Stiller:
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finanzielle Entlohnung verlange. Zwei Jahre später wiederholte der mittlerweile 54-Jährige sein Angebot gegenüber dem MfS. Er fühle sich noch in der Lage, »den Verräter Stiller aufzuspüren und ihn zurückzuholen, wenn man ihm dazu den Auftrag erteile«.444 Dieser Auftrag blieb aber aus. Die zur Einsatzgruppe des GM »Donner« gehörenden GM »Blitz« und »Teddy« zeigten ebenfalls keine Scheu vor strafbaren, gewalttätigen Handlungen. So resümierte der Führungsoffizier des GM »Blitz«: »Er bevorzugt seit jeher eine asoziale Lebensweise. Seine persönlichen Interessen liegen im Bestreben nach persönlicher Bereicherung durch Diebstähle und andere kriminelle Handlungen. Der IMV neigt stark zur Gewalttätigkeit […]«445 Noch im Juni 1978 berichtete der IM »Blitz« seinem Führungsoffizier stolz, dass er seit kurzem Besitzer einer russischen »Nagaika« sei, einer 3,50 Meter langen Peitsche mit einer Stahlkugel am Ende. Er übe nun verstärkt die Handhabung dieser Peitsche, mit der man »bei guten Schlägen […] den Gegner sofort kampfunfähig machen« könne.446 Für eine konkrete »aktive Maßnahme« gegen einen Fluchthelfer in West-Berlin hatte er sich im Dezember 1975 angeboten. Er wollte die Silvesternacht nutzen, wenn der Fluchthelfer auf seinem Balkon Feuerwerk zündet. Das Buschwerk vor dem Balkon würde ihm die Möglichkeit bieten, »unerkannt und völlig gefahrlos den Auftrag realisieren zu können«.447 »Teddy« wurde dem MfS durch einen anderen GM für eine Zusammenarbeit empfohlen, da er es verstehe, »kräftig zuzuschlagen«, wenn es darauf ankomme.448 Im Rahmen seiner Überprüfung berichtete ein MfS-Mitarbeiter der Hauptabteilung II: »L. ist ein aggressiver Mensch, der seine strafbaren Handlungen bis zuletzt zu leugnen versuchte, der völlig unzugänglich und skrupellos über seine Handlungen hinweggeht und nicht mehr zugibt als ihm bewiesen werden kann.«449 Als »sehr kaltblütig und mutig« charakterisierte die Hauptabteilung II/1 den Westberliner Erich Fischer, der im Jahr 1956 an zwei Entführungsaktionen beteiligt war. Mit dem Hinweis auf sein »besonderes Talent für Aufgaben, bei denen evtl. Gewaltanwendung notwendig ist«450, erfolgte im Juli 1957 seine Im Zentrum der Spionage. Mainz 51986. Letzteres Buch enthält laut Stiller einige falsche Darstellungen, die der BND zum Zweck der Irreführung des MfS und Verschleierung initiierte. 444 Abschrift Tonbandaufzeichnung von einem Treffen mit GM »Donner«, MfS, 14.10.1981. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/21, S. 161–168, hier 166. 445 Auskunftsbericht, HA II/1, 5.7.1974. BStU, MfS, AIM 13912/79, P-Akte, S. 239–247, hier 241. 446 Bericht, IMV »Damaskus« [ehem. »Blitz«], 27.6.1978. BStU, MfS, AIM 13912/79, Bd. II/4, S. 96. 447 Bericht, Abt. XXI, 22.12.1975. BStU, MfS, AIM 13912/79, Bd. II/2, S. 178–180, hier 179. 448 Charakteristik, GM »Fred Thornau«, 26.3.1955. BStU, MfS, AIM 13639/85, P-Akte, S. 89. 449 Bericht, HA II/SR 1, 25.7.1955. Ebenda, S. 90. 450 Anwerbungsvorschlag, HA II/1b, 12.7.1957. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 183–185, hier 185.
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Anwerbung als GI »Neuhaus«. Zu dieser Zeit war der gelernte Bäckermeister in West-Berlin erwerbslos und lebte vom Warenschmuggel. Das MfS bescheinigte ihm »auf dem Gebiet der aktiven Massnahmen besondere Fähigkeiten«, da er die nötige Entschlossenheit und Mut besitze.451 Die große Bereitschaft zu delinquentem und gewalttätigem Handeln, wie ihn viele Entführer-IM des ersten Typs aufweisen, ist bei den Entführer-IM des zweiten und dritten Typs nicht zu beobachten. Unter den 14 EntführerIM des zweiten Typs findet sich mit GM »Fritz« nur einer mit mehreren Vorstrafen wegen Diebstahls, Amtsmissbrauchs und illegalen Waffenbesitzes. Seine Zusammenarbeit mit dem MfS scheint aber weniger kriminell als politisch motiviert gewesen zu sein.452 Im dritten Typus der Entführer-IM ist der Anteil der Vorbestraften zwar höher, aber hier weisen die IM-Akten nicht so zahlreiche Hinweise auf ein außerordentliches Maß an Delinquenz- und Gewaltbereitschaft auf. Fünf der zehn Entführer-IM dieses Typs hatten zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung bereits eine oder mehrere Haftstrafen verbüßt. An exponierter Stelle steht dabei die Kontaktperson »Hering«, die sich im März 1954 dem MfS anbot, gegen entsprechende Entlohnung einen Westberliner zu entführen. »Hering« hatte in den Jahren 1949 bis 1953 insgesamt acht Vorstrafen erhalten, größtenteils wegen Betrugs und Diebstahls. Meistens wurde er zu kürzeren Haftstrafen (einige Wochen oder Monate) verurteilt, im Januar 1953 jedoch zu einem Jahr und vier Monaten. Nachdem »Hering« im Januar 1956 vor seiner strafrechtlichen Verfolgung nach Ost-Berlin geflohen war, machte er sich dort erneut strafbar und wurde im Dezember 1956 wegen Warenschmuggel zu fünf Jahren und vier Monaten verurteilt. Das MfS schritt nicht ein und ließ ihn die Strafe bis zum Oktober 1960 verbüßen, als ihm die Reststrafe durch Gnadenerweis des Staatsrates erlassen wurde.453 Es ist also davon auszugehen, dass »Hering« vor kriminellen Taten zur persönlichen Bereicherung nicht zurückschreckte, ganz im Gegenteil. Einen Hinweis auf diese Haltung liefert auch das Selbstangebot der KP »Hering«. Aus eigener Initiative entführte auch der GI »Lord« im September 1961 einen geflohenen Volkspolizisten in einer spontanen Aktion in die DDR. Eigentlich suchte er eine Möglichkeit, straffrei zu seiner Famlilie in die DDR zurückzukehren, aus der er kurz zuvor aus Abenteuerlust geflohen war.454 Seine 451 Einschätzung, MfS, o. D. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 13. Vgl. Beurteilung, HA II/4a, 2.3.1960. Ebenda, S. 205; Auskunftsbericht, HA II/4, 19.8.1961. Ebenda, S. 26–28, hier 27. 452 Vgl. Bericht, HA V/6, 7.4.1956. BStU, MfS, KS II 549/89, Bd. 1, S. 99–102; Aktenvermerk, MfS, 26.1.1957. Ebenda, S. 4 f.; Auskunftsbericht, HA Kader und Schulung, 22.10.1987. Ebenda, S. 72–75; Auskunftsbericht, HA XX/3, 16.2.1977. BStU, MfS, AIM 19946/80, S. 59–66. 453 Vgl. Auszug aus Strafregister, Oberste Staatsanwaltschaft der DDR, 23.8.1961. BStU, MfS, AP 5009/57, S. 203 f. 454 Vgl. Bericht, HA I, 2.10.1961. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 17–19.
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Abenteuerlust und finanziellen Interessen dürften ihn danach bewogen haben, sich dem MfS für weitere ähnliche Aufträge anzubieten. Zudem hielt die ihn führende Hauptabteilung nach zweijähriger Zusammenarbeit fest: »Zu erwähnen ist weiterhin, daß M. bereits früher schon im demokratischen Berlin mehrmals kriminell anfiel und sich in der Zusammenarbeit bzw. bei der Auftragsdurchführung nicht scheute bzw. gescheut hat, sich ohne unsere Weisung krimineller Methoden und Mittel zu bedienen.«455
Der geringere Grad an Delinquenz- und Gewaltbereitschaft bei den EntführerIM des zweiten und dritten Typs gegenüber denen des ersten Typs korrespondiert mit den Funktionen bei den Entführungsaktionen. Während die IM des ersten Typs bei oftmals brutalen Entführungen direkt als Entführer agierten und handgreiflich wurden, dienten viele IM des zweiten und dritten Typs auch oder ›nur‹ als eine Art ›Lockvogel‹ (57 % und 50 %).456 Bei letzteren IM ist also vielmehr eine Bereitschaft zum Verrat als zur Gewaltanwendung zu beobachten. Der Mechanismus, der diese Bereitschaft forcierte, war jedoch oftmals derselbe: das System der Belohnung – materiell oder ideell – durch das MfS als staatliches Organ.457 VII.5 Abenteuerlust, Geltungsbedürfnis und Machtgefühl Aus Abenteuerlust waren die GI »Lord« und »Schulz« nach Einschätzung des MfS im Sommer 1961 aus der DDR geflohen. Scheuten die »Halbstarken«458 vielleicht aus demselben Grund nicht die Entführung eines anderen DDRFlüchtlings, als sie nach einer Rückkehrmöglichkeit suchten? Seit jeher umweht Geheimdienste der Ruch des Abenteuers und ihre geheime Macht verstärkt ihre Anziehungskraft. Eine Zusammenarbeit konnte das Gefühl wecken, Geltung zu besitzen und an dieser Macht teilzuhaben. Diesem Mechanismus widmet sich die Denunziationsforschung: »Indem er [der Denunziant] sich mit der sanktionierenden Instanz identifiziert, gewinnt er an Macht und Einfluß. Dem privaten Denunzianten, der ohne die Anzeige ein unbemerkter, machtloser Zeitgenosse geblieben wäre, und dem professionellen Spitzel, der dieser Tätigkeit seine Karriere verdankt, wird von der sanktionierenden Autorität die Illusion omnipotenter Handlungskapazitäten vorgespielt […] Häufig ist 455 Stellungnahme, HA I/Aufklärung B, 18.9.1963. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 206– 213, hier 209. 456 4 der 5 Entführer-IM der dritten Kategorie, die unmittelbar als Entführer agierten, waren vorbestraft. 457 Vgl. Heinz Hennig: Ohnmacht, Macht und Rivalität. Zur Psychodynamik der Denunziation. In: Günter Jerouschek, Inge Marßolek, Hedwig Röckelein (Hg.): Denunziation. Historische, juristische und psychologische Aspekte. Tübingen 1997, S. 224–240, hier 238; Müller-Enbergs: Motivation zur nachrichtendienstlichen Arbeit, S. 156. 458 Zusatzbericht, HA I, 2.10.1961. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 17–19, hier 19.
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ihnen diese psychische und soziale Aufwertung ihres Selbstgefühls wichtiger als eine finanzielle Gratifikation.«459
Derartige Empfindungen gehörten bei einigen Entführer-IM, besonders des ersten Typs, sicherlich zum individuellen Motivbündel, sind aber anhand der Unterlagen kaum herauszufiltern. Hier wäre eine psychoanalytische Untersuchung notwendig. Eine genaue Zahl zu benennen ist daher nicht möglich, denn nur in einigen IM-Akten finden sich in diesem Kontext explizite Hinweise. Bei sechs Entführer-IM der ersten Kategorie lassen die MfS-Unterlagen den Rückschluss zu, dass ein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis sie zur IM-Arbeit motivierte: »Donner«, »Fred Thornau«, »Konsul«, »Neuhaus«, »Norge« und »Wenig«. So vermerkte die Hauptabteilung II/4 zum Beispiel über ihren Ende 1955 angeworbenen GM »Neuhaus«, dass dieser »ein gewisses Geltungsbedürfnis« besitze und seine Person ständig in den Vordergrund stelle.460 Vonseiten des MfS wurden die Abenteuerlust oder das Geltungsbedürfnis der IM zumeist nur dann thematisiert, wenn sie besonders ausgeprägt waren und sich gegebenenfalls sogar negativ auswirkten. In anderen Fällen lassen sich diese Motive anhand der Art der Berichterstattung und dem in den Akten dokumentierten Verhalten des IM erkennen, so beispielsweise beim 1955 verpflichteten GM »Donner«. Voller Stolz, Überheblichkeit und mit zunehmenden Zynismus informierte dieser das MfS über die Durchführung seiner Aktionen. Regelrecht genussvoll berichtete er wie er mit einem Entführungsopfer »zum Abschied« nochmal durch München gefahren sei: »Warum nicht Genossen, die Staatssicherheit kennt doch Menschenwürde!«461 »Donners« Berichte lassen erkennen, dass er sein Doppelleben und seine Arbeit als Geheimagent sowie die Anerkennung, die er dabei erntete, genoss. Seine Geltungssucht äußerte sich dabei auch in seinem Hang zur übertriebenen Selbstdarstellung, der im Laufe seiner IM-Tätigkeit immer stärker wurde. Nicht nur auf einem Tonband, das er kurz vor seinem Tod besprach, stilisierte er sich zum überragenden Mitarbeiter des MfS, der Aktionen unter allen Umständen erfolgreich beendete, wenn andere längst versagt oder aufgegeben hatten. So beispielsweise bei der Entführungsaktion des geflohenen MfSMitarbeiters Alfred Glaser im Mai 1962, bei der nach dem Auftreten von Schwierigkeiten alle für ein Abbrechen der Aktion gewesen seien. Nur er habe schließlich den verantwortlichen Oberst Kiefel von der Durchführbarkeit 459 Günter Jerouschek, Inge Marßolek, Hedwig Röckelein: Denunziation – ein interdisziplinäres Forschungsfeld. In: dies. (Hg.): Denunziation. Historische, juristische und psychologische Aspekte. Tübingen 1997, S. 9–25, hier 23. Vgl. Hans-Joachim Maaz: Das verhängnisvolle Zusammenspiel intrapsychischer, interpersoneller und gesellschaftlicher Dynamik – am Beispiel der Denunziation in der DDR. In: ebenda, S. 241–257, hier 244 f., 247 f.; Sälter: Denunziation, S. 160 f. 460 Einschätzung, MfS, o. D. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 13. Vgl. Auskunftsbericht, HA II/4, 19.8.1961. Ebenda, S. 26–28; Beurteilung, HA II/4a, 2.3.1960. Ebenda, S. 205. 461 Schreiben, Hans Wax an MfS, 15.7.1973. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 4, S. 149–182, S. 177.
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überzeugt.462 Nach »Donners« Angaben wollte sich ein anderer GM, der als ›Lockvogel‹ dienen sollte, aus Angst vor den strafrechtlichen Folgen nicht mehr beteiligen. Ihm will »Donner« in dieser Situation entgegnet haben: »Ach, Du Scheißkerl sprichst von Menschenraub und wolltest mir als Mitarbeiter der Staatssicherheit gestern […] Befehle erteilen von Berlin. Pass auf mein Lieber! Wir fahren mit Deinem Freund […] morgen nach Berlin. Machst Du Zicken, dann frisst Du keine Krume Brot in der DDR mehr, denn ich beerdige Dich im Westen. Ich werde Dir zeigen, was Menschenraub ist, Du Lump. [...] Ich lass Dich nicht aus den Augen. Läufst Du nicht wie auf dem Drahtseil, dann pumpe ich Dich im Krankenhaus voll Blei!«463
Offensichtlich sah »Donner« sich als eine Art Westernheld im Dienste der DDR-Staatssicherheit, der furchtlos unter allen Umständen seinen Auftrag erfüllte – notfalls auch gegen die eigenen Komplizen. Das MfS bediente das Geltungsbedürfnis der IM mit Belobigungen und Prämien, denn bis zu einem gewissen Grad war es nützlich. Da die IM-Arbeit unter strengster Geheimhaltung zu erfolgen hatte, war der Raum, wo dem IM ein Gefühl der Geltung und Macht zuteil wurde, prinzipiell auf die Begegnung mit seinem Führungsoffizier und Zusammenarbeit mit anderen IM begrenzt. In dem Moment, wenn der IM Bewunderung in MfS-externen Kreisen suchte, wurde das Geltungsbedürfnis zum massiven Kritikpunkt und Problem, da dieses Verhalten die Konspiration gefährdete. Dies war beim bereits erwähnten GM »Donner« der Fall, aber auch bei seinem Bekannten, der bereits seit Juli 1954 für das MfS als GM »Fred Thornau« tätig war und dort die Anwerbung von »Donner« empfohlen hatte. Immer wieder vermerkte das MfS sein »großspuriges und überhebliches« Auftreten sowie sein »große[s] Geltungsbedürfnis« als negativen Charakterzug, der den Erfolg seiner IM-Tätigkeit schmälern würde: »Trotz seiner guten Fähigkeiten verloren diese an Wert, da er sich auf Grund negativer Charaktereigenschaften – wie Schwatzhaftigkeit und Prahlsucht – im Kreise seiner nächsten Bekannten und zum Teil auch fremden Personen gegenüber dekonspirierte, indem er sich zu den ihm durch das MfS übertragenen Aufgaben äußerte.«464
462 Vgl. Abschrift einer von Hans Wax besprochenen Tonbandkassette, MfS, 16.8.1984. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/24, S. 116–121, hier 118 f.; Abschrift einer von Hans Wax besprochenen Tonbandkassette, MfS, o. D. Ebenda, S. 152–156, hier 154; Schreiben, Hans Wax an MfS, 15.7.1973. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 4, S. 174 f. 463 Schreiben, Hans Wax an MfS, 15.7.1973. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 4, S. 149–182, hier 175 f. 464 Auskunftsbericht, HA II/1, 2.11.1984. BStU, MfS, HA II Nr. 1438, S. 309–315, hier 311 (Zitat), 313. Vgl. Bericht, Abt. XXI, 4.2.1965. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM 2041/78, S. 47–55, hier 51; Bericht, HA II/1, 5.6.1989. Ebenda, S. 352–355, hier 353.
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Auch im Fall des im Oktober 1954 nach Selbstangebot angeworbenen GM »Norge« bot seine »Schwatzhaftigkeit« und sein »übersteigertes Geltungsbedürfnis« – neben seiner »oberflächliche[n] marxistisch-leninistische[n] Bildung« und dem »Anhaften kleinbürgerlicher Eigenschaften« – Anlass zur Kritik, da sie ihn in den Augen des MfS zu »unüberlegten, der politischoperativen Arbeit unzweckmäßigen Handlungen« führten.465 Aus dem Übermaß an Geltungsbedürfnis erwuchsen bei vielen EntführerIM Eigenmächtigkeiten in der operativen Arbeit, die im Staatssicherheitsapparat ungern gesehen wurden. Zwar hatten die als Entführer agierenden IM durchaus Handlungsspielräume, deren Ausmaß jedoch wollte das MfS bestimmen und kontrollieren.
VIII. Verhaltens- und Handlungsspielräume Die Zusammenarbeit mit den IM war im MfS-Apparat durch Richtlinien und Verordnungen strikt normiert mit dem Ziel, die Arbeit der IM zu optimieren. Den Führungsoffizieren466 oblag es nicht nur, die Arbeit des IM durch Auftragserteilungen, Instruktionen und Kontrollen anzuleiten, sondern den IM auch zu »erziehen«. Die regelmäßigen Treffen zwischen IM und Führungsoffizier hatten somit verschiedene Funktionen. Zum einen dienten sie dem Informationsaustausch: Der IM erstattete Bericht und nahm neue Aufträge sowie Anweisungen entgegen. Zum anderen nutzte das MfS diese Treffen zur Überprüfung, Erziehung und Steuerung des IM. In Form eines Treffberichts wertete der Führungsoffizier nicht nur die Berichte des IM aus, sondern informierte das MfS auch über den (physischen und psychischen) Zustand des IM.467 Eine regelmäßige Überprüfung der IM gehörte zur Norm des MfS. Auf diesem Wege sollte die Qualität der IM-Arbeit und die Zuverlässigkeit des IM gesichert werden.468 Idealerweise sollten die Führungsoffiziere gegenüber dem IM 465 Bericht, HA VII/3, 19.12.1968. BStU, MfS, AIM 15351/69, P-Akte Bd. 2, S. 195–200, hier 196; vgl. Auskunftsbericht, HA VII/3, 7.12.1965. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 183–186, hier 184 f. Hier heißt es: »Er neigt dazu, seine Fähigkeiten und Kenntnisse überzubewerten und seine Person dabei ins rechte Licht zu rücken.« 466 MfS-intern war der Begriff eher ungebräuchlich, stattdessen sprach man vom »operativen Mitarbeiter« (1950er/1960er Jahre) oder »IM-führenden Mitarbeiter« (seit den 1970er Jahren). Vgl. Müller-Enbergs: IM 1, S. 17. 467 Vgl. Müller-Enbergs: Verhältnis, S. 62; ders.: IM 1, S. 117–119; Gabriele Altendorf: Denunziation im Hochschulbereich der ehemaligen DDR. In: Günter Jerouschek, Inge Marßolek, Hedwig Röckelein (Hg.): Denunziation. Historische, juristische und psychologische Aspekte. Tübingen 1997, S. 183–206, hier 192–194. 468 Zu diesem Zweck entwickelte das MfS ein Kontrollsystem mit unterschiedlichsten Maßnahmen, das im Laufe der Jahre immer engmaschiger wurde. Vgl. Müller-Enbergs: Verhältnis, S. 74 f.; ders.: IM 1, S. 131–145.
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eine Vorbildfunktion hinsichtlich politischer Standhaftigkeit, Charakterstärke und Moralität einnehmen sowie ein besonderes Vertrauensverhältnis zum IM aufbauen. Dieses Idealbild wurde jedoch in der Realität nur selten erfüllt, vor allem nicht in den 1950er Jahren.469 Im Rahmen dieser Erziehung sollte der IM mit einem eingängigen Feindbild ausgestattet und seine Einsatzbereitschaft gefördert werden. Als zentrale Aufgabe der Führungsoffiziere taucht dieser Erziehungsgedanke in allen IM-Richtlinien seit 1952 auf und veranschaulicht die dominante Rolle des Führungsoffiziers in der Beziehung zum IM. Helmut Müller-Enbergs sieht somit die Behauptungen ehemaliger MfS-Mitarbeiter widerlegt, bei den IM habe es sich um »Subjekt[e] des nachrichtendienstlichen Agierens«, »nicht selbst um ein Objekt« des MfS gehandelt, und die Beziehung zwischen Führungsoffizier und IM sei von einer »Gleichheit der Partner« geprägt gewesen. Zutreffender müsse es heißen, so Müller-Enbergs, dass dieses Gefühl einer ebenbürtigen Partnerschaft den IM nur zu vermitteln, aber nicht tatsächlich umzusetzen war.470 Dennoch dürfen die Entführer-IM – in Anlehnung an die neuere Täterforschung – nicht nur als willenlose, verlängerte Arme des Staatssicherheitsapparates und damit der SED-Führungsspitze gesehen werden. Vielmehr sind sie auch eigenständige Akteure, die Dynamik in die geheimdienstliche und -polizeiliche Tätigkeit des MfS brachten.471 Jenseits der Normen und strikten Regeln für die Zusammenarbeit mit IM gab es in der Alltagspraxis auch Verhaltens- und Handlungsspielräume – vom MfS zum Teil absichtlich zugewiesen, zum Teil nur widerwillig geduldet oder rigide eingegrenzt. Am Beispiel der Entführer-IM lassen sich diese Mechanismen in allen Facetten beobachten. VIII.1 Einsatzabläufe zwischen Norm und Praxis Ein wesentliches Merkmal des MfS war seine Bürokratisierung, auch im Umgang mit den IM. In zentralen, verbindlichen Dienstbestimmungen, sogenannten Richtlinien472, war die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern streng 469 Eine hohe Fluktuation, Konkurrenz zwischen älteren und jüngeren Führungsoffizieren, mangelnde allgemeine und Führungsqualifikationen provozierten vor allem in den Anfangsjahren schwerwiegende Probleme. Vgl. Müller-Enbergs: IM 1, S. 13–16, 118, 145–151. 470 Vgl. Müller-Enbergs: IM 1, S. 117, 123–125; Diewald-Kerkmann: Vertrauensleute, S. 290. 471 Vgl. Mallmann, Paul: Sozialisation, S. 4. Alf Lüdtke schreibt: »Von den Inoffiziellen, den IM, bis zu den Hauptamtlichen – hier wie dort gab es in unterschiedlicher Weise sehr wohl Eigensinn und Eigeninteressen.« Siehe Lüdtke: Alltag, S. 900. 472 Im Laufe der MfS-Geschichte gab es 5 Richtlinien (Erfassungsrichtlinie 1950, Richtlinie 21 von 1952, Richtlinie 1/58, Richtlinie 1/68 und 1/79), welche die Arbeit mit IM des Abwehrbereiches steuern sollten. Diese Richtlinien dienten ausschließlich dem internen Gebrauch und waren als »Geheime Verschlusssache« streng geheim zu halten und im Panzerschrank aufzubewahren. Die oft allgemein gehaltenen Richtlinien wurden z. T. mit Durchführungsbestimmungen ergänzt. Vgl. Müller-Enbergs: IM 1, S. 152; ders.: IM 2, S. 18 f.
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normiert. Sie regelten bis ins Detail alle Grundelemente und Verfahrensweisen in der IM-Arbeit: von der Rekrutierung über die Durchführung der Treffen, Erziehung, Auftragsvergabe, Überprüfung und Auswertung der erlangten Informationen bis hin zum Abbruch der Zusammenarbeit. Diese Richtlinien wurden mehrfach neu verfasst: Erfahrungen aus der Praxis, gesellschaftliche oder ideologische Veränderungen und die mit dem Ausbau des MfS-Apparates wachsenden bürokratischen Anforderungen führten zu diversen Ausdifferenzierungen. Ein immer dichter werdendes Netz von Vorschriften sollte das Niveau der »operativen« Arbeit steigern. Gleichzeitig erhöhten sich damit aber auch der Formalisierungsgrad und der Aufwand innerhalb des Apparates.473 Gerade in den 1950er Jahre war der operative Arbeitsalltag im MfS allerdings noch in hohem Grad von Improvisation und Missachtung der Dienstvorschriften geprägt. Das zeigt der Umgang mit den Entführer-IM. Mit verschiedenen Maßnahmen versuchte das MfS, der Zusammenarbeit mit seinen IM Verbindlichkeit und Stabilität zu verleihen. Sie basierte auf einem System finanzieller und beruflicher Unterstützungsleistungen sowie Prämien und Auszeichnungen, aber auch auf Möglichkeiten der Druckausübung und Erpressung. Lag zu diesem Zweck nicht bereits bei der Anwerbung »belastendes Material« vor, lieferte spätestens die MfS-Tätigkeit solches. Der erste Schritt in der Laufbahn eines IM war oftmals die Verpflichtungserklärung, die in der Regel handschriftlich erfolgen sollte, aber auch in mündlicher Form geleistet werden konnte. Unter bestimmten Umständen durfte darauf verzichten werden. So stufte der stellvertretende Minister für Staatssicherheit Erich Mielke in einer Dienstbesprechung 1955 die Verpflichtung eines IM gegenüber der Qualität der von ihm erbrachten Informationen als zweitrangig ein.474 Von den 50 untersuchten Entführer-IM sind 28 handschriftliche Verpflichtungserklärungen überliefert.475 Die Angeworbenen erklärten sich darin bereit, alle Aufträge des MfS gewissenhaft zu erfüllen und über die Verbindung mit dem MfS unbedingtes Stillschweigen zu wahren. Zudem war in der Verpflichtungserklärung auch der Deckname vermerkt, den sich der Angeworbene selbst aussuchen durfte. Die in der Auswahl der Entführer-IM auftauchenden Decknamen wie »Blitz«, »Boxer«, »Donner« und »Ringer« sprechen in diesem Zusammenhang Bände.476
473 Vgl. Müller-Enbergs: IM 1, S. 14, 18, 153; ders.: Verhältnis, S. 57 f., 62–71. 474 Vgl. Protokoll einer Dienstbesprechung, MfS, 5.8.1955. BStU, MfS, SdM 1921, S. 36–40, hier 40. Zit. in: Müller-Enbergs: IM 1, S. 105. Vgl. ders.: IM 2, S. 133. 475 Z. B. handschriftliche Verpflichtungserklärung, Otto Lehmann, 5.5.1955. BStU, MfS, AIM 3370/61, P-Akte, S. 17. 476 In seiner Analyse zum Sprachgebrauch des MfS schreibt Bergmann: »Die Motivation ihres Decknamens sahen einige der inoffiziellen Mitarbeiter in unmittelbarer Beziehung zu der Tätigkeit, die sie ausübten […]« Siehe Bergmann: Sprache der Stasi, S. 82 f.
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In den Augen des MfS waren die Verpflichtungserklärungen ein »Faustpfand«, mit dem Druck auf den jeweiligen IM ausgeübt werden konnte. Darüber waren sich mitunter auch die IM im Klaren, wie das Beispiel des im Dezember 1951 angeworbenen GM »Rosenberg« zeigt, der sich zunächst weigerte, eine Verpflichtungserklärung zu schreiben. Als der MfS-Mitarbeiter daraufhin bekundete, dass er unter diesen Umständen kein Interesse an einer Zusammenarbeit habe, lenkte »Rosenberg« jedoch ein. Unter Auslassung seines richtigen Namens schrieb er die Verpflichtungserklärung, stellte danach allerdings fest: »Nun haben Sie mich doch in den Händen, denn Sie haben ja meine Handschrift.«477 Wenn die Anwerbung erst nach der Beteiligung an einer Entführung stattfand, bildete diese einen zusätzlichen »Faustpfand« für das MfS. So hielt die MfS-Abteilung III eineinhalb Jahre nach der Anwerbung des GM »Rosenberg« fest: »Das an uns von ihm bereits übergebene Material ist derartig umfangreich, daß es stets als Faustpfand benutzt werden kann.«478 Zu dem an drei Entführungen beteiligten GM »Bär« konstatierte das MfS 1962: »Durch erfolgreichen Einsatz in WB und WD ist der IM stark an das MfS gebunden, wodurch ein Faustpfand vorhanden ist.«479 Grundlegend für den effektiven Einsatz der IM war ferner ein enges Netz aus Kontroll- und Überprüfungsmechanismen, das auch bei den untersuchten Entführer-IM sichtbar wird. Laufend überprüfte das MfS die Ehrlichkeit ihrer IM, indem es sie beispielsweise beschatten ließ, fingierte Aufträge erteilte oder zwei IM mit demselben Auftrag betraute, um die Berichte dann vergleichen zu können.480 Im Vorfeld einer misslungenen Entführungsaktion im Februar 1958, die sich gegen einen KgU-Mitarbeiter richten sollte, war der GM »Norge« nicht nur auf den zu Entführenden angesetzt, sondern auch auf die beteiligte GM »Sybille«. Zu diesem Zweck baute »Norge« nach einer entsprechenden Schulung eine Abhöranlage in seinem Westberliner Fotolabor ein, in dem sich die GM »Sybille« mit dem KgU-Mitarbeiter treffen wollte. Auf diesem Wege konnten die zuständigen MfS-Mitarbeiter kontrollieren, ob das Verhältnis zwischen den beiden tatsächlich ihren Anweisungen entsprach. Die Überprüfung verlief positiv, allerdings vom GM »Sybille« nicht unbemerkt, da sich 477 Treffbericht, Abt. III, 15.12.1951. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 21 f., hier 21. 478 Bericht, Abt. III, 8.5.1953. BStU, MfS, AIM 6957/63, P-Akte Bd. 1, S. 75. 479 Auskunftsbericht, BV Potsdam Abt. II, 6.3.1962. BStU, MfS, AIM 3112/83, Bd. I/1, S. 202–205, hier 205. Vgl. Auskunftsbericht, HA II/4, 25.1.1957. BStU, MfS, AIM 6805/61, P-Akte, S. 110 f., hier 110. Darin heißt es: »Durch die bisherige Arbeit wurden Faustpfänder geschaffen (Festnahme eines Agenten).« 480 Vgl. beispielsweise Auskunftsbericht, HA II/1, 23.3.1956. BStU, MfS, AIM 3112/83, Bd. I/1, S. 51–55, hier 55; Bericht, HA II/1, 14.7.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 154; Auskunftsbericht, KD Brandenburg, 12.7.1956. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 28–32, hier 30.
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der GM »Norge« in der Nähe des Labors aufgehalten hatte und dort von »Sybille« gesehen wurde.481 Nach dem positiven Ergebnis der Überprüfung des GM »Sybille« kam es zur Durchführung der geplanten Entführungsaktion. Diese misslang jedoch, da das Betäubungsmittel, das »Sybille« dem KgUMitarbeiter bei einem weiteren Treffen im Fotolabor verabreichte, zu spät seine Wirkung zeigte.482 Ähnlich gestaltete sich der Einsatz des GM »Norge« 1960 bei den Vorbereitungen der Entführung von Heinz Brandt. Wiederum übernahm er die Kontrolle einer weiblichen GM, die an dieser Aktion beteiligt sein sollte. Zu diesem Zwecke ließ das MfS die unwissende GM »Martina Matt« ein Zimmer zur Untermiete bei dem GM »Norge« beziehen und erteilte ihm den Auftrag, sie »auf Herz und Nieren zu überprüfen« und ihre Eignung einzuschätzen. In das untervermietete Zimmer baute »Norge« auf Anweisung des MfS wiederum eine Abhöranlage ein.483 Ab Dezember 1960 berichtete »Norge« sodann dem MfS über seine Untermieterin »Martina Matt« und bezeichnete sie als »den bisher besten GM […], den wir für eine Sache gewinnen konnten«. Sie sei »sehr berechnend und kalt« und habe eine »hervorragende Gabe […], mit Menschen umzugehen, sich auf Menschen einzustellen usw.«.484 Neben der Überprüfung der Zuverlässigkeit des GM »Martina Matt« erteilte das MfS seinem GM »Norge« ab Januar 1961 dann weitere Aufträge zur Vorbereitung der Entführungsaktion. Befragt nach dem besten Fluchtweg schlug »Norge« die Strecke »Kleeblatt« vor, die er schon einige Male bei früheren Aktionen benutzt habe. Er erhielt daraufhin die Aufgabe, sich mit den Eigenschaften dieser Strecke vertraut zu machen, vor allem mit der Ampelschaltung. Ferner sollte er den Rhythmus der Polizeistreifen am vorgesehenen Tatort beobachten. Auftragsgemäß testete »Norge« schließlich noch kurz vor der Entführung ausführlich einen anderen Fluchtweg und beriet mit dem MfS, wie der »Abtransport« aus seiner Wohnung zum Wagen am besten erfolgen könne.485 Bei 481 Treffbericht, HA V, 22.2.1958. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 2, S. 234 f., hier 234. 482 Vgl. Finn: Nichtstun, S. 90 f. 483 Treffbericht, HA V/5, 19.11.1960. BStU, MfS, AIM 6039/57, A-Akte Bd. 4, S. 229–232, hier 232; vgl. Treffbericht, HA V/5, 31.10.1960. Ebenda, S. 213 f.; Treffbericht, HA V/5, 14.12.1960. Ebenda, S. 233–236. 484 Treffbericht, HA V/5, 22.12.1960. BStU, MfS, AIM 6039/57, A-Akte Bd. 4, S. 237–239, hier 238. Die GM »Martina Matt« wurde sogar noch durch einen zweiten GM überprüft. Vgl. Treffbericht, HA V/5, 2.2.1961. BStU, MfS, AIM 6039/57, A-Akte Bd. 5, S. 9–13; Bericht, GM »Stein«, 9.2.1961. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte, S. 89–95. 485 Vgl. Bericht, GM »Norge«, 6.1.1961. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte, S. 85–88, hier 87 f.; Bericht, GM »Norge«, 28.2.1961. Ebenda, S. 100–104; Treffbericht, HA V/5, 5.1.1961. BStU, MfS, AIM 6039/57, A-Akte Bd. 4, S. 240–242; Treffbericht, HA V/5, 10.1.1961. Ebenda, S. 243; Treffbericht, HA V/5, 2.2.1961. Ebenda, A-Akte Bd. 5a, S. 4–7; Treffbericht, HA V/5, 10.2.1961. Ebenda, S. 14 f.; Treffbericht, HA V/5, 18.2.1961. Ebenda, S. 18 f.; Treffbericht, HA V/5, 1.3.1961. Ebenda, S. 23–25; Bericht, GM »Norge«, 29.2.1961. Ebenda, S. 29–31; Treffbe-
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der Entführungsaktion Mitte Juni 1961 lockte die GM »Martina Matt« den zu entführenden Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt in die Wohnung des GM »Norge«, der nach Verabreichung eines Betäubungsmittels half, Brandt nach Ost-Berlin zu bringen.486 Das Beispiel des GM »Norge« verweist auf die unterschiedlichen Einsatzfelder der IM bei den Entführungsaktionen des MfS. Gezielt auf das spätere Entführungsopfer angesetzt, sammelten IM – sozusagen der klassischen IMArbeit entsprechend – alle erdenklichen Informationen über die jeweilige Person. Zum Teil erwuchsen die Entführungsabsichten erst aus den durch IM gewonnenen Informationen über die »feindliche Tätigkeit« einer Person in West-Berlin oder der damaligen Bundesrepublik. Zur konkreten Vorbereitung der Verschleppung oder Entführung waren sodann Auskünfte über die Wohnverhältnisse, den Arbeitsplatz und die Lebensgewohnheiten unabdingbar. Ein Operativplan zur Aktion »Schlange« im Dezember 1955 veranschaulicht dies exemplarisch. Im Rahmen der Aktion sollte ein Mitarbeiter der Organisation Gehlen durch die Gruppe des GM »Donner« aufgeklärt und festgenommen werden. Als Maßnahmen sah der Operativplan vor, »Donner« nach München zu schicken, um sich mit der Situation vor Ort zu verschiedenen Tageszeiten vertraut zu machen. In einer genauen Skizze sollte er das Haus, die Umgebung und Straßenlage festhalten sowie ein Foto von der fraglichen Person mit einem Spezialfotoapparat machen. Darüber hinaus sollte er beobachten, wann die Zielperson das Haus verlässt, wohin sie gegebenenfalls fährt und ob sie Besuch erhält. Dabei sollte er auch feststellen, ob günstige Voraussetzungen für eine Festnahme im Haus vorhanden sind. Für die Planung des Fluchtweges sollte er zudem die Straßenverhältnisse überprüfen mit besonderem Augenmerk auf die Kontrollen am Grenzübergang.487 Derartige Aufklärungsarbeiten zu möglichen Tatorten und Fluchtwegen ließ das MfS auch personenunbezogen von Entführer-IM anfertigen. Besonders effektiv und unauffällig waren die personenbezogenen Aufklärungsarbeiten verständlicherweise durch IM, die in das Umfeld des Entführungsopfers eingeschleust werden konnten oder sich in selbigem schon bewegten. Die Entführungsaktion Robert Bialek verdeutlicht dies: Auf den geflohenen SED-Funktionär und VP-Offizier waren mit den GM »Albert« und »Fritz richt, HA V/5, 17.3.1961. Ebenda, S. 32–34; 5 Berichte, GM »Norge«, 1.–12.3.1961. Ebenda, S. 36– 40; 3 Treffberichte, HA V/5, 23.3.–6.4.1961. Ebenda, S. 41–43; 3 Berichte, GM »Norge«, 11.4– 16.5.1961. Ebenda, S. 50, 53 f.; Treffbericht, HA V/5, 17.5.1961. Ebenda, S. 58–60; Treffbericht, HA V/5, 25.5.1961. Ebenda, S. 61–63; Treffbericht, HA V/5, 1.6.1961. Ebenda, S. 64 f. Ab März 1961 wurde bei »Norge« die GI »Mode« als Untermieterin untergebracht, die »Norge« schnell möglichst vielen Bekannten vorstellen sollte und über die »Norge« fortan berichtete. 486 Vgl. Bericht zum Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts, 14.7.1965. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1376/92, Bd. III, Bl. 301–324, hier 304 f.; Andresen: Widerspruch, S. 250 f. 487 Vgl. Operativplan, HA II, 19.12.1955. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/1, S. 22–24.
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Vogelsdorf« zwei Volkspolizisten angesetzt. Der 1953 in den Westen geflohene »Albert« hatte Kontakt zum SPD-Ostbüro, verpflichtete sich jedoch im Mai 1955 zur Zusammenarbeit mit dem MfS und brachte im Herbst 1955 den GM »Fritz Vogelsdorf« mit Robert Bialek vom Ostbüro der SPD in Verbindung. Die beiden GM waren ehemalige Kollegen, sie hatten zusammen in der Haftanstalt Berlin-Rummelsburg gearbeitet. Aber »Fritz Vogelsdorf« wusste zunächst nicht, dass sein in den Westen geflohener Kollege inzwischen für das MfS aktiv war. So berichtete er dienstbeflissen im Juli 1955 dem MfS, dass dieser Kollege zu ihm Kontakt aufgenommen und ihn nach West-Berlin eingeladen habe. Im Hintergrund zogen die MfS-Mitarbeiter die Fäden: So wie sie auf der einen Seite ihren GM »Albert« mit der Kontaktaufnahme beauftragt hatten, instruierten sie nun auf der anderen Seite den GM »Fritz Vogelsdorf« die Verbindung aufzunehmen. Das entsprach den konspirativen Arbeitsmethoden und eröffnete zugleich auch Kontrollmöglichkeiten. Denn fortan berichteten die beiden GM sowohl über den jeweils anderen als auch über den Verbindungsaufbau zu Robert Bialek – das eigentliche Ziel.488 Nachdem die beiden GM ausgiebig über die Verhaltensweisen Bialeks bei den Zusammenkünften berichtet hatten, begannen die unmittelbaren Vorbereitungen der Entführungsaktion. Da Bialek ein in Alkohol aufgelöstes Betäubungsmittel verabreicht werden sollte, mussten die IM sein Trinkverhalten auskundschaften. So galt es herauszufinden, ob Bialek nur den selbst mitgebrachten Wein trank oder auch einen vom GM »Albert« angebotenen Schnaps annahm. Dabei sollte auch Bialeks Trinkweise beobachtet werden. Wenn er den Schnaps ablehnte, sollte »Albert« ihm ein mit Wasser ausgespültes Weinglas reichen und kontrollieren, ob Bialek vor dem Eingießen das Wasser im Glas beseitigte.489 Die beiden GM lieferten nicht nur diese grundlegenden Informationen für die spätere Entführungsaktion und beabsichtigte Verurteilung des Entführungsopfers, sondern beteiligten sich schließlich auch direkt mit der Verabreichung des Betäubungsmittel an einem Februarabend 1956. An dieser Stelle reichte ihre Tätigkeit über die »normale« IM-Arbeit hinaus. Dasselbe Handlungsmuster zeigt sich bei dem GM »Weitzel«, der im Herbst 1957 als angeblicher Informant aus der DDR an den UFJ-Mitarbeiter Erwin Neumann angeschleust wurde. Auch hier setzte sich der für den zweiten Typ der Entführer-IM charakteristische Mechanismus in Bewegung: »Weitzel« baute den Kontakt zu Neumann auf, gewann sein Vertrauen und erstattete 488 Vgl. Treffnotiz, Abt. VII/3, 22.7.1955. BStU, MfS, AIM 667/59, A-Akte Bd. 1, S. 35–37; Berichte, GM »Fritz Vogelsdorf«, 4.8.1955–9.12.1955. Ebenda, S. 39–121; Treffbericht, HA V/2, 13.7.1955. BStU, MfS, AIM 442/57, A-Akte Bd. 1, S. 157–159; Treffbericht, HA V/2, 9.5.1955. Ebenda, P-Akte, S. 76 f.; Berichte, GM »Albert«, 26.7.1955–29.9.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 216 f., 227–229, 299 f., 350 f.; Berichte, GM »Albert«, 8.10.1955–24.1.1956. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 11–13, 35–37, 44–46, 51 f., 102–106, 146–150, 158–160, 173–181, 237–242. 489 Vgl. Treffbericht, Abt. VII/3, 9.1.1956. BStU, MfS, AIM 667/58, A-Akte Bd. 1, S. 123 f.
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dem MfS regelmäßig Bericht.490 Im Rahmen der taktischen Überlegungen im MfS-Apparat, wie man die Position des GM »Weitzel« am besten nutzen könnte, plädierte Hauptmann Volpert von der Hauptabteilung V bereits im November 1957 für eine »aktive Maßnahme«. Die Alternative, »Weitzel« aus der DDR flüchten zu lassen, um ihn dann mit Neumanns Unterstützung als Mitarbeiter in den UFJ zu bringen, erschien ihm zu unsicher. Eine Gelegenheit für eine »aktive Maßnahme« sah Volpert hingegen schon gegeben: »Die von dem GM und Dr. Berger eingenommenen Getränke werden ständig im dunkeln getrunken, da man ja Filme vorführt und noch der glückliche Umstand hinzu kommt, daß Berger sehr emsig an seiner Apparatur beschäftigt ist, sodaß es keine Mühe von Seiten des GM kostet[,] ein entsprechendes Präparat in das Getränk des Berger zu tun. Ich halte diesen Weg für den einzig besten, da er uns politisch und operativ sehr viel bringt.«491
Der Einsatz des GM »Weitzel« konzentrierte sich in der folgenden Zeit auf die Vorbereitung der Entführungsaktion: Unter Aufsicht Volperts unternahm er Probefahrten mit einem Opel Kapitän, der als Fluchtwagen zum Einsatz kommen sollte. Aufmerksam registrierte er die Trinkgewohnheiten Neumanns bei gemeinsamen Abenden und die Möglichkeiten, ihm dabei ein Betäubungsmittel zu verabreichen. Im Januar 1958 sollte »Weitzel« sodann testen, ob es ihm bei einem Zusammentreffen gelingt, vier bis fünf Minuten vor seinem Aufbruch mit Neumann ein Getränk in einem Schluck zu trinken. »Sollte dieses möglich sein«, so die Überlegung im MfS, »würde dieser Umstand eine Erleichterung der durchzuführenden Arbeiten bedeuten, indem der kritische Zustand vor der Gartentür eintreten könnte.«492 »Weitzel« konnte die Vertrauensbeziehung zu Neumann immer weiter ausbauen, vor allem mittels der gemeinsamen Begeisterung für Bootstouren und Fotografien.493 Von dem ursprünglichen Plan, die Entführung in Neumanns Wohnung durchzuführen, rückten die MfS-Mitarbeiter vor diesem Hintergrund ab. Denn die gemeinsamen Bootstouren des GM »Weitzel« und Neumanns auf dem Wannsee lieferten die Grundlage für einen neuen Entführungsplan: »Die Möglichkeiten der Durchführung dieser Aktion bestehen darin, daß man Neumann unter der Legende von Akt-Aufnahmen dazu gewinnt mit dem GM sich allein auf das 490 Vgl. ca. 16 Berichte, GM »Weitzel«, 21.10.1957–30.1.1958. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd. 1, S. 120–128, 131–136, 142 f., 149–157, 174–177, 182–203, 214–217; Treffbericht, HA V/5, 15.11.1957. Ebenda, S. 138–141. 491 Treffbericht, HA V/5, 28.11.1957. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd. 1, S. 158–163, hier 162. 492 Treffbericht, HA V/5, 29.1.1958. Ebenda, S. 204–209, hier 208; vgl. Treffbericht, HA V/5, 13.12.1957. Ebenda, S. 178–181; Treffbericht, HA V/5, 17.1.1958. Ebenda, S. 210–213. 493 Vgl. ca. 18 Berichte, GM »Weitzel«, 11.2.1958–5.7.1958. BStU, MfS, AOP 549/59, Bd. 2, S. 8–13, 21–32, 40–50, 58–62, 68–76; Treffbericht, HA V/5, 27.2.1958. Ebenda, S. 17 f.; Treffbericht, HA V/5, 2.6.1958. Ebenda, S. 66 f.
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Wasser zu begeben, um ihm dann eine entsprechende gefüllte Flasche Bier oder ein anderes Getränk zu reichen, um den Abtransport vorzunehmen.«494 In der letzten Phase vor der Entführungsaktion widmete sich der »Weitzel« intensiv den nötigen Vorbereitungen. Im fast zweitägigen Rhythmus traf er sich mit Neumann und ließ laut MfS-Vermerk »mit großer Aufopferung […] nichts unversucht entsprechend dem Maßnahmeplan alles termingemäß zu realisieren«.495 Mitte August 1958 wurde der Entführungsplan schließlich in die Tat umgesetzt.496 Der detailliert ausgearbeitete Entführungsplan und der erwähnte Maßnahmeplan vermitteln einen Eindruck von den genauen Instruktionen, welche die Entführer-IM erhielten. Generell sahen die Normen des MfS eine strikte Anleitung der IM vor: Bei regelmäßigen Treffen sollten die Führungsoffiziere schriftliche oder mündliche Berichte ihrer IM über die Erfüllung der erteilten Aufträge entgegennehmen und neue Instruktionen sowie Aufträge erteilen. Letztere sollten so detailliert durchgesprochen werden, damit keinerlei Missverständnisse entstehen konnten. So heißt es in der IM-Richtlinie von 1958: »Der Auftrag ist dem inoffiziellen Mitarbeiter zu erläutern, so daß keine Unklarheiten über die Notwendigkeit und das ›Wie‹ der Durchführung bestehen. Deshalb ist dem inoffiziellen Mitarbeiter eine konkrete, bis in Einzelheiten gehende Instruktion zum Auftrag und eine Verhaltenslinie für die erfolgreiche Durchführung des Auftrages zu geben.«497
Die vom MfS vorgebenen Verhaltenslinien stießen bei den IM nicht immer auf Zustimmung, sodass zum Teil auch Überzeugungsarbeit geleistet werden musste. Die GI »Lisa König«, die seit Februar 1956 auf einen Mitarbeiter der ZOPE angesetzt war, bekam den Auftrag, eine intime Beziehung zu diesem Mann aufzubauen. Sie weigerte sich zunächst, da dieser ihr zutiefst unsympathisch sei und »von ihr als Frau was verlange, dafür gibt sie sich aber nicht her«.498 Nach eingehenden Gesprächen mit ihrem Führungsoffizier erklärte sie sich schließlich doch bereit: »Es wurde andeutungsweise die neue Aufgabe durchgesprochen. Der GI erklärte sich damit einverstanden und war sich selbst im Klaren darüber, daß auch eigene Opfer evtl. dabei gebracht werden müssen.« Gleichzeitig äußerte sie aber auch den Wunsch, nach Erledigung des Auftrags die Zusammenarbeit mit dem MfS zu lösen. Anscheinend hegte sie Ehepläne und der zukünftige Ehemann sollte von ihrer Tätigkeit für das MfS 494 »Vorschlag zur Ziehung des Hauptagenten des UFJ«, HA V/5, 24.7.1958. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 114–126, hier 119–122. 495 Bericht, HA V/5, 3.9.1958. BStU, MfS, AIM 6041/57, S. 143–149, hier 143. 496 Bericht, GM »Weitzel« und »Sylvia«, 21.8.1958. BStU, MfS, AIM 6041/57, A-Akte Bd. 6, S. 21–26. 497 Richtlinie 1/58 für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik, MfS, 1.10.1958. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 1, S. 195–239, hier 226. 498 Treffbericht, KD Brandenburg, 7.5.1956. BStU, MfS, AIM 6183/61, A-Akte Bd. 1, S. 74.
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nichts erfahren.499 Bei der »neuen Aufgabe« dürfte es sich um ihre Beteiligung bei der Entführungsaktion des ZOPE-Mitarbeiters gehandelt haben. So ist in einem Treffbericht vermerkt, dass im Zusammenhang mit der »Ziehung des Hauptagenten« noch weitere Fragen mit der GI »Lisa König« zu besprechen seien.500 Im Herbst 1956 erhielt sie dann im Hinblick auf ein Treffen mit dem ZOPE-Mitarbeiter den Auftrag: »Für die Durchführung des Treffs gilt insbesondere, daß V. sich verstärkt Hoffnungen macht mit ihr intim zu verkehren, aber zu einem Geschlechtsverkehr darf es nicht kommen. Das schließt aber natürlich nicht aus, daß Sie sämtliche fraulichen Reize spielen um ihn persönlich zu reizen und dadurch V. fester an sich zu ziehen. Bei einer Frage der Übernachtung gehen Sie auf seinen Wunsch ein, versuchen aber dabei V. zu überzeugen, daß Sie gerne in der Pension Charly übernachten wollen. [...] Unter allen Umständen gilt es[,] den V. in diese Pension zu ziehen[,] um eventuell bei einer Aktion diese Pension mit verwenden zu können.« 501
Außerdem sollte sie bei dem Zusammentreffen sein Benehmen genauestens registrieren und überprüfen, welche Möglichkeiten bestehen, ihm ein Betäubungsmittel zu verabreichen.502 Die GI »Lisa König« folgte ihren Instruktionen und ermöglichte schließlich die Entführung des ZOPE-Mitarbeiters.503 Mit dem »Transport« beauftragte das MfS im Dezember 1956 den GM »Donner«. Mit einem als Taxi getarnten Wagen sollte er beide Personen nach Ost-Berlin bringen. Dabei erteilte das MfS wiederum genaueste Instruktionen zum Ablauf: »Am … 12.1956 halten Sie pünktlich ... Uhr mit den dafür vorbereiteten Wagen vor der Gaststätte ›Zum Igel‹ in Berlin-Wilmersdorf. Die Zeit ist unbedingt genauestens einzuhalten. Die Zeit haben Sie nach der telefonischen Auskunft der westberliner Post zu nehmen. Nach dem Halten Ihres Wagens wird sich … in langsamer und umständlicher Art mit dem Aussteigen und Bezahlen beschäftigen. Sobald die Ihnen bekannten Personen kommen, ist das Bezahlen zu beenden und Ihre Taxe mit ›Frei‹ zu kennzeichnen. Sobald die Ihnen bekannten Personen sich um Ihre Taxe bemühen, so sagen Sie, daß sie frei ist, und fragen nach dem Bestimmungsort. Sie öffnen den beiden Personen die Tür und lassen sie einsteigen. Danach begeben Sie sich auf den Fahrersitz, lassen den Motor anlaufen und bevor sie anfahren, lassen Sie noch einmal den Motor richtig aufheulen. Dies ist das Zeichen für …, die hintere Wagentür aufzureißen, in den Wagen zu springen und gegen den Mann das Mittel in Anwendung zu bringen. Gleichzeitig muß Ihr Wagen abfahren. 499 Auskunftsbericht, KD Brandenburg, 12.7.1956. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 28– 32, hier 31 f. 500 Treffbericht, KD Brandenburg, 6.7.1956. BStU, MfS, AIM 6183/61, A-Akte Bd. 1, S. 86. 501 Auftrag, KD Brandenburg, 29.9.1956. Ebenda, S. 115 f., hier 115. 502 Vgl. Auftrag, KD Brandenburg, 29.9.1956. Ebenda, S. 115 f. 503 Vgl. Bericht, GI »Lisa König«, 23.11.1956. Ebenda, S. 135–137.
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Sie fahren die festgelegte Strecke und fahren an dem festgelegten Punkt in den demokratischen Sektor.«504
Die Entführungsaktion am Abend des 15. Dezember 1956 verlief in etwa planmäßig: Als der ZOPE-Mitarbeiter nach dem Lokalbesuch mit seiner Begleiterin am Nollendorfplatz die Tür des vermeintlichen Taxi öffnete, wurde er von hinten niedergeschlagen und verlor nach mehreren weiteren Schläge das Bewusstsein. Ein Schwall kaltes Wasser ließ ihn in der MfSUntersuchungshaftanstalt in der Ostberliner Magdalenenstraße wieder wach werden.505 Die genaue Anleitung der Entführer-IM und die Entscheidungshoheit seitens des Staatssicherheitsapparates wird auch am Einsatz des 1955 angeworbenen GM »Neuhaus« deutlich. »Neuhaus« hatte bereits zwei Entführungen für das MfS im Jahr 1956 durchgeführt und wurde 1958 Leiter einer dreiköpfigen Einsatzgruppe mit dem Decknamen »Blitz«. Im Frühjahr 1958 erteilte ihm das MfS den Auftrag, die Entführung eines geflohenen MfS-Mitarbeiters aus der Nähe von Heilbronn vorzubereiten. »Neuhaus« erkundete auftragsgemäß die Umgebung und Lebensgewohnheiten des Alfred Glaser und erarbeitete anschließend einen detaillierten Entführungs- und Fluchtplan. Als »technische Hilfsmittel« forderte er eine Pistole sowie Hand- und Fußfesseln und mahnte zur Eile, da er die morgendliche Dunkelheit im Februar ausnutzen wollte. Doch der Entführungsversuch im März 1958 misslang, da Alfred Glaser nicht angetroffen wurde. Auf dem Rückweg wurde zudem ein GM des Einsatzkommandos »Blitz« im Zug verhaftet.506 Nur wenige Monate später erhielt der GM »Neuhaus« den nächsten Entführungsauftrag: Aus West-Berlin sollte er einen fast 50-jährigen Mann entführen. Anfang Juli 1958 bekam »Neuhaus« an drei aufeinanderfolgenden Tagen genaue Instruktionen zur Vorbereitung der Entführungsaktion und berichtete über die Ausführung seiner Aufträge: die Besichtigung des Tatortes sowie der Schleusungsstelle an der Grenze und die Probefahrt mit einem VW-Bus, der zum Einsatz kommen sollte. Wieder504 Entführungsauftrag, MfS, 15.12.1956. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/1, S. 150 f., hier 150. 505 Protokoll Vernehmung, Bayerische Landespolizei Herzogenaurach, 19.11.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. I, Bl. 54 f. 506 Vgl. Entführungsplan, HA II/SR 3, 24.2.1958. BStU, MfS, AOP 10926/65, Bd. 1, S. 186– 190; Auftrag, Oltn. Schulz, 12.2.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 16 f.; Bericht, GM »Neuhaus«, 21.2.1958. Ebenda, S. 23–28; Zusatzplan, HA II/SR 3, 3.3.1958. Ebenda, S. 53; Bericht, HA II/SR 3, 12.3.1958. Ebenda, S. 57; Bericht, GM »Neuhaus«, 8.3.1958. Ebenda, S. 344– 348. Im Winter 1958/59 wurde »Neuhaus« erneut auf Alfred Glaser angesetzt und traf wiederum Vorbereitungen für eine Entführung, wurde aber schließlich abgezogen. Vgl. Auftrag, Obltn. Schulz, 17.11.1958. Ebenda, S. 139–141; Treffbericht, HA II/SR 3, 26.11.1958. Ebenda, S. 150–152; Vorschlag, HA II/SR 3, 24.2.1958. Ebenda, S. 277–279; Bericht, GM »Neuhaus«, 21.2.1959. Ebenda, S. 340–344; Bericht, HA II/SR 3, 11.12.1958. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 201–204; Entführungsplan, HA II/SR 3, 24.11.1958. BStU, MfS, HA II Nr. 4606, S. 88–92; Mitteilung, BV Suhl KD Sonneberg an HA II/SR 3, 24.11.1958. BStU, MfS, AOP 10926/65, Bd. 1, 206 f.
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um entwickelte er einen Entführungsplan mit verschiedenen Varianten, der vorsah, den zu Entführenden in einem Wald, in dem er mit seinem Hund spazieren zu gehen pflegte, in einen Hinterhalt zu locken. »Neuhaus« plante, Wild auf einen Waldweg zu legen oder das Auto des Mannes auf dem schmalen Zufahrtsweg zu rammen, um somit eine Situation zu schaffen, in der man ihn überwältigen könnte. Mit den verschiedenen Varianten wollte »Neuhaus« in der Lage sein, spontan reagieren zu können. Beim dritten Treffen eröffnete ihm ein Hauptamtlicher der Hauptabteilung II jedoch, dass die Entführung nicht wie geplant stattfinden könne, da die fragliche Person bereits in den Urlaub gefahren sei. Der GM »Neuhaus« zeigte sich enttäuscht, schließlich habe er sich schon auf die Aktion gefreut und hätte »endlich mal wieder etwas richtiges machen wollen«.507 Doch erst Anfang Oktober 1958 bot sich für »Neuhaus« die Gelegenheit, sich in dieser Sache unter Beweis zu stellen. Wie von ihm geplant, führte er gemeinsam mit drei anderen IM die gewaltsame Entführung in einem Westberliner Waldgebiet aus. Mithilfe eines toten Frischlings lockte »Neuhaus« seinen ahnungslosen Bekannten in einen Hinterhalt, wo dieser sich zwar verzweifelt zur Wehr setzte, aber angesichts der Übermacht und Brutalität der Entführer chancenlos war – zumal er eine Schussverletzung davontrug. GM »Neuhaus« beteuerte gegenüber dem MfS, dass sich bei der körperlichen Auseinandersetzung versehentlich ein Schuss aus seiner Pistole gelöst habe, als er mit dieser auf den Mann eingeschlagen habe.508 Der ebenfalls beteiligte GM »Alfons Dietrich« bekundete gegenüber dem MfS allerdings, dass »Neuhaus« aus einer Entfernung von einem bis eineinhalb Metern in voller Absicht auf das Entführungsopfer geschossen habe. Im MfSApparat richtete man in diesem Zusammenhang ein größeres Augenmerk auf den Verdacht, dass der GM »Neuhaus« die Unwahrheit gesagt hatte, als auf den ungeplanten Einsatz der Pistole.509 In der Zusammenarbeit mit den IM war die ehrliche Berichterstattung von elementarer Bedeutung für das MfS – in diesem Fall war sie sogar wichtiger als die Gefährdung eines Menschenlebens. Das Beispiel des GM »Neuhaus« zeigt, dass die Entführungspläne im nicht unerheblichen Umfang von den Entführer-IM selbst erarbeitet werden konnten. Zwar lag die Entscheidungshoheit bei den verantwortlichen hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern, aber die Beteiligung der IM in diesem Prozess ist nicht zu unterschätzen. Diese Vorgehensweise entsprach der MfS-internen Strategie zur Führung der IM, so erfolgte bereits in der IM-Richtlinie 21 aus 507 Treffbericht, HA II/SR 3, 3.7.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 96 f., hier 97; vgl. Bericht, GM »Neuhaus«, 1.7.1958. Ebenda, S. 98–100. 508 Vgl. 2 Berichte, GM »Neuhaus«, 2.–3.10.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 118–123. 509 Vgl. Treffbericht, HA II/SR 3, 31.10.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 52; Bericht, HA II/SR 3, 11.12.1958. Ebenda, S. 201–204.
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dem Jahr 1952 die Anweisung, dass die IM möglichst selbst Ideen über die zweckmäßigste Durchführung eines Auftrags entwickeln sollten. Und die Führungsoffiziere sollten die Vorschläge der IM dann bei der Auftragserteilung berücksichtigen, um das Interesse der IM an der Ausführung des Auftrages zu forcieren.510 Auf diese Weise wurde beim IM das Gefühl des subjektiven nachrichtendienstlichen Handelns bestärkt. Auffällig ist, dass besonders die Entführer-IM des ersten Typs, die als eine Art Spezialkräfte zum Teil mehrfach für Entführungen eingesetzt wurden, aufgefordert wurden, selbst Entführungspläne zu entwickeln. Aber auch bei Entführer-IM des zweiten Typs lassen sich diese Arbeits- bzw. Führungsmethoden beobachten, beispielsweise beim 1952 angeworbenen GM »Schütte«. Dieser war auf den Mitarbeiter der Organisation Gehlen Wilhelm van Ackern angesetzt und informierte das MfS über dessen Besuche von Nachtlokalen in West-Berlin und seine »Schwäche für Frauen«. Auf Grundlage dieser Kenntnisse entstand der Entführungsplan, van Ackern nach einem Abend mit dem GM »Schütte« und übermäßigem Alkoholkonsum mit einem als Taxi getarnten Wagen in den Ostsektor der Stadt zu entführen. Dabei wollten sich die MfS-Mitarbeiter nicht allein auf die betäubende Wirkung des Alkohols verlassen, sondern sahen vor, dass der GM van Ackern zusätzlich ein in einem Kaffee mit Kognak gelöstes Schlafmittel verabreicht. Die Wirkung des Schlafmittels hatte der GM laut Festnahmeplan bereits bei einer anderen Aktion getestet. Die Fahrtstrecke und der Grenzübergang waren von zwei anderen GM ausgekundschaftet und als geeignet befunden worden.511 Am geplanten Tatabend verlief zunächst alles dem Plan entsprechend: GM »Schütte« animierte van Ackern zum Alkoholkonsum und servierte ihm zu späterer Stunde eine Tasse Kaffee, in der er zwei Schlaftabletten gelöst hatte. Doch sie verließen zu spät das Haus, sodass ein weiterer, als Taxifahrer getarnter GM nicht mehr wie geplant in der Nähe des Hauses wartete und die Entführungsaktion scheiterte.512 Zwei Monate später sollte ein zweiter Versuch unternommen werden und der GM »Schütte« erhielt den Auftrag, einen neuen Festnahmeplan auszuarbeiten. Mit dem Ergebnis war der MfS-Führungsoffzier allerdings nicht zufrieden und instruierte den GM nochmals entsprechend dem bereits zur Anwendung gekommenen Festnahmeplan des MfS.513 Doch wiederum 510 Richtlinie 21: Über die Suche, Anwerbung und Arbeit mit Informatoren, geheimen Mitarbeitern und Personen, die konspirative Wohnungen unterhalten, MfS, 20.11.1952. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 1, S. 164–191, hier 182. Ähnliche Anweisungen tauchen auch im 4. Kommentar zur Richtlinie 2/79 im Januar 1982 auf. Vgl. 4. Kommentar zur Richtlinie 2/79, MfS, Januar 1982. Gedruckt in: Müller-Enbergs: IM 2, S. 633–686, hier 658. 511 Vgl. Festnahmeplan, Abt. II, 30.11.1954. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. II/6, S. 22–24, hier 23 f.; Festnahmeplan, Hptm. Mähnert, 9.12.1954. Ebenda, S. 25–30, hier 26–28. 512 Vgl. Bericht, GM »Schütte«, 10.12.1954. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. II/6, S. 4–13. 513 Vgl. Treffbericht, Hptm. Mähnert, 9.2.1955. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. II/7, S. 51–53.
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misslang die Entführungsaktion, da van Ackern sich nicht in die Tatwohnung locken ließ. Daraufhin erhielt der GM »Schütte« den Auftrag, neue Ideen zu entwickeln, wie er van Ackern an den vorgesehenen Tatort bringen könnte.514 Mitte März 1955 unterbreitete der GM sodann den Vorschlag, van Ackern unter dem Vorwand, ihm eine sowjetische Meldetasche aushändigen zu wollen, in die Westberliner Wohnung zu locken, um ihm dort das in Kaffee gelöste Betäubungsmittel zu verabreichen und mit einem vermeintlichen Taxi nach Ost-Berlin bringen zu lassen.515 Dieses Mal ging »Schüttes« Plan auf: Am Abend des 24. März 1955 übergab er den bewusstlosen van Ackern dem vom MfS geschickten Fahrer, verwischte anschließend die Spuren am Tatort und verschwand dann ebenfalls aus West-Berlin.516 An den Planungen von Entführungsaktionen waren auch weibliche Entführer-IM beteiligt, wie die 1952 angeworbene GI »Sylvia«. Seit Frühjahr 1954 berichtete sie über den Mitarbeiter des DGB-Ostbüros Helmut Linde aus West-Berlin, zu dem sie auftragsgemäß eine sexuelle Beziehung aufbaute. Mehrmals informierte sie das MfS, dass er sein Glas unbeaufsichtigt lasse, und schlug schließlich vor, dass sie ihm auf diesem Wege ein Schlafmittel verabreichen könnte.517 Im Mai 1954 sprachen Mitarbeiter der Hauptabteilung V dann mit ihr über einen Entführungsplan. Demnach sollte sie Helmut Linde in die Wohnung einer angeblichen (vom MfS geschickten) Freundin locken und ihn dort »mit dem bekannten Hilfsmittel […] präparieren«, um ihn dann mit einem Pkw nach Ost-Berlin bringen lassen zu können.518 Einige Wochen später entwickelte sie jedoch auch kurz und knapp einen eigenen Entführungsvorschlag, wobei sie einen Badeausflug an den Wannsee ausnutzen wollte: »Vorschlag: In der Nähe der Pfaueninsel kentert uns ein vorbeikommendes Motorboot, rettet uns u. bringt uns zum demokratischen Ufer. VP kontrolliert u. nimmt uns beide in Haft. Das Paddelboot treibt weg u. Linde ist für den Westen ›ertrunken‹.«519 Da für die erste Entführungsvariante »noch nicht genügend Garantien für ›Sylvia‹ vorhanden waren«, entschlossen sich die MfSMitarbeiter für »Sylvias« Entführungsvorschlag und feilten diesen weiter aus: Bei einer Paddeltour auf dem Wannsee sollte »Sylvia« den Helmut Linde zum gemeinsamen Schwimmen animieren. Im Wasser sollte sodann der GI »Eule«, 514 Vgl. Bericht, GM »Schütte«, 19.2.1955. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. II/7, S. 104–108; Treffbericht, Hptm. Mähnert, 8.3.1955. Ebenda, S. 163–166, hier 165 f. 515 Bericht, GM »Schütte«, 10.3.1955. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. II/7, S. 167–170, hier 170; Treffbericht, Hptm. Mähnert, 15.3.1955. Ebenda, S. 193 f. 516 Vgl. Bericht, GM »Schütte«, 24.3.1955. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. II/8, S. 80–83. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1184 f. 517 Vgl. 10 Berichte, GM »Sylvia«, und 10 Treffberichte, MfS, 7.4.–14.6.1954. BStU, MfS, AIM 2285/60, A-Akte Bd. 1, S. 91–168. 518 Vgl. Aktenvermerk, HA V/1/B, 20.5.1954. BStU, MfS, AIM 2285/60, A-Akte Bd. 1, S. 132–134; Bericht, HA V/2, 2.9.1955. BStU, MfS, HA XX Nr. 1662, Bd. 1, S. 65–73, hier 65. 519 Bericht, GI »Sylvia«, 10.6.1954. BStU, MfS, AIM 2285/60, A-Akte Bd. 1, S. 164–168, hier 168.
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laut MfS ein langjähriger Bademeister und Rettungsschwimmer, an Linde herantauchen und ihn unter Wasser ziehen, bis dieser das Bewusstsein verliert. Ein weiterer GI mit dem Decknamen »Müller« sollte sich schließlich per Motorboot nähern und alle drei Personen über die im Wannsee verlaufende Sektorengrenze bringen. Doch der Entführungsversuch missglückte: Die GI »Eule« und »Müller« entdeckten »Sylvia« und Linde erst, als diese auf dem Rückweg von ihrer Paddeltour waren. Die drei eingesetzten GI »Eule«, »Müller« und »Mutz« entschlossen sich spontan zu einer Planänderung, näherten sich dem Paddelboot und nahmen Kontakt auf. Der anschließende Versuch des GI »Mutz«, Linde mit einer Bierflasche bewusstlos zu schlagen, misslang. Zwar fiel Linde nach dem Schlag ins Wasser, verlor aber nicht das Bewusstsein und begann laut um Hilfe zu schreien. Die GI »Eule« und »Müller« griffen nicht ein, sodass auch der GI »Mutz« erschrocken von Linde abließ und alle GI die Flucht gen Ostsektor ergriffen. Unzufrieden bilanzierte die Hauptabteilung V, dass die Aktion durch das eigenmächtige, unüberlegte und unentschlossene Handeln der GI gescheitert sei. Eine ähnliche Aktion könne aber mit drei entschlossenen und disziplinierten GI durchaus erfolgreich durchgeführt werden.520 Tatsächlich kam »Sylvia« im August 1958 nochmals bei einer weiteren Entführungsaktion am Wannsee zum Einsatz, welcher der UFJ-Mitarbeiter Erwin Neumann zum Opfer fiel. Das Zusammenwirken von Anleitung durch den Staatssicherheitsapparat und Eigeninitiative der Entführer-IM lässt sich auch bei Entführer-IM des dritten Typs beobachten, beispielsweise bei dem GM »Bert«. Im Winter 1953 war er beauftragt, gleich drei Entführungsaktionen vorzubereiten. Ende November erschien »Bert« zu einem Treff und berichtete, dass er seit morgens mit einem der zu Entführenden in einer Kneipe zeche und dieser schon vollkommen betrunken sei. »Bert« unterbreitete den Vorschlag, den betrunkenen Westberliner in die U-Bahn zu schleppen und in den Ostsektor zu bringen. Sein Führungsoffizier stimmte zu und schickte ihn zurück in die Westberliner Kneipe, die der zu Entführende allerdings inzwischen verlassen hatte.521 Wenige Tage später tauchte »Bert« wiederum zum Treffen mit seinem Führungsoffizier auf und verkündete, dass er nun mit seinem Komplizen die Festnahme des ebenfalls zu entführenden Westberliners Werner Götte durchführen wolle – und zwar in dessen Wohnung, da er es auf der Straße schon zweimal erfolglos versucht habe. Aber der Führungsoffizier untersagte ihm die Entführungsaktion mit dem Hinweis, dass sie zu wenig durchdacht und zum Scheitern verurteilt sei. Zudem betonte er, dass es »Berts« Auftrag sei, die drei Festnah-
520 Vgl. Bericht, HA V/2, 2.9.1955. BStU, MfS, HA XX Nr. 1662, Bd. 1, S. 65–73, hier 65–67. 521 Vgl. Treffbericht, Abt. V, 13.11.1953. BStU, MfS, AIM 7881/61, A-Akte, S. 46 f.; Treffbericht, Abt. V, 26.11.1953. Ebenda, S. 55 f.
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men so gut vorzubereiten, dass ein Erfolg wahrscheinlich ist.522 »Bert« befolgte diese Anweisung und führte weitere Beobachtungen durch, entwarf sogar einen Entführungsplan, dem das MfS dieses Mal zustimmte. »Bert« wollte Götte unter einem Vorwand in seinen Wagen locken, wo dieser von einem Komplizen überwältigt werden sollte. Der Entführungsversuch Anfang Dezember 1953 scheiterte jedoch, da Götte auf seinem Weg vom Arbeitsplatz nach Hause nicht alleine angetroffen wurde und daher nicht angesprochen werden konnte.523 Zur gleichen Zeit entwickelte »Bert« mit seinem Komplizen auch einen Entführungsplan für die dritte Person, mit deren Entführung er beauftragt war. Ein erster Entführungsversuch scheiterte allerdings, da der zu entführende Mitarbeiter der Zeitung Telegraf namens Werner Nike nicht alleine zu einer Zusammenkunft in einer Westberliner Kneipe erschien. Unter dem Vorwand, ihn zu einer Informantin zu bringen, sollte Nike von einer Fahrt in seinem Auto mit »Bert« und dessen Komplizen überzeugt werden. Das weitere Vorgehen mutete abenteuerlich an: »In der Provinzstr., die sehr dunkel und wenig belebt ist, wollten wir N. im Wagen überwältigen, indem wir ihm von hinten eine Schlinge um [den] Hals ziehen wollten. N. hat einen Volkswagen, wo man die Sitze mit einem Griff nach hinten klappen kann. So wäre es ein Leichtes gewesen, ihn nach hinten herüberzuziehen. Tietz wäre dann sofort ans Steuer gesprungen und wäre gleich durch den naheliegenden Grenzübergang am S-Bhf. Schönholz gefahren. Dieser Übergang ist uns durch die Aktion Werner Götte sehr gut bekannt […]«524
Dieser Entführungsplan, beteuerte »Bert« nach dem ersten missglückten Versuch, sei immer noch durchführbar und könnte mit kleinen Abweichungen sogar realisiert werden, wenn Nike wiederum in Begleitung auftauchen würde. Die Abteilung V der MfS-Verwaltung Groß-Berlin war anscheinend anderer Ansicht. Ein anderes Entführungsangebot des »Bert« nahm sie jedoch an: Bereits im Sommer 1950 hatte »Bert« über die nach West-Berlin geflohene VP-Kommissarin Niki Glyz berichtet, die er im Februar desselben Jahres kennengelernt hatte. Schon zu dieser Zeit hatte er sich Gedanken über eine Entführung der Glyz gemacht. Nach einem Entführungsversuch durch einen anderen GM hatte sie jedoch unter Polizeischutz gestanden, und auch »Bert« war in diesem Zusammenhang mehrmals polizeilich vernommen worden. Daraufhin hatte er den Kontakt zu ihr abgebrochen, nahm ihn nun aber wieder auf und unterbreitete dem MfS den Vorschlag, die als Kellnerin in Berlin-
522 Vgl. Treffbericht, Abt. V, 4.12.1953. BStU, MfS, AIM 7881/61, A-Akte, S. 57. 523 Vgl. Operativplan, GM »Bert«, 2.12.1953. Ebenda, S. 58–62; Treffbericht, Abt. V, 10.12.1953. Ebenda, S. 63. 524 Bericht, GM »Bert«, Dezember 1953. BStU, MfS, AIM 7881/61, A-Akte, S. 66–68, hier 67 f.
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Schöneberg arbeitende junge Frau nach Ost-Berlin zu bringen.525 Am 19. Januar 1954 erläuterte er dem MfS, wie er sich die Verschleppung vorstellte: Da Glyz aus Sicherheitsgründen nicht mit der U- und S-Bahn fahre, sondern nur mit dem Taxi oder im Privatauto von sehr guten Bekannten, wollte er ihr anbieten, sie nach einem gemeinsamen Kinobesuch mit seinem Wagen zu ihrer Arbeitsstelle zu bringen. Die Fahrt sollte dann allerdings im »demokratischen Sektor« enden, nachdem sie am Grenzübergang Moritzplatz »mit voller Fahrt durch den Westberliner Zoll« gefahren seien.526 Die Entführung der jungen Frau verlief am nächsten Tag wie geplant. Damit sie sich auf dem Vordersitz im Auto nicht wehren konnte, legte »Bert« ihr von hinten einen Gürtel um den Hals. Am Steuer des Wagens saß »Berts« Komplize.527 Der ebenfalls zum dritten Entführer-IM-Typ zählende GM »Lieber«, der seine bestehenden Kontakte für zwei Entführungen ausnutzte, zeigte eine ähnliche Initiative und beteiligte sich auch sehr engagiert an den Planungen der jeweiligen Aktionen. Gezielt hatte das MfS den Kontakt zum 1952 aus der DDR geflohenen »Lieber« gesucht und ihn im Sommer 1953 angeworben, um Zugriff auf dessen Verbindung zu einem westlichen Geheimdienst zu haben. Diese hatte »Lieber« über einen Westberliner Journalisten namens Karl Reimer, den das MfS im Visier hatte. »Lieber« informierte das MfS, dass der stets mit einer sechsschüssigen Tränengaspistole bewaffnete Karl Reimer zwar nicht im nüchternen, aber durchaus im betrunkenen Zustand zu bewegen sei, Ostberliner Gebiet zu betreten. Nach einer entsprechenden Auftragserteilung durch das MfS unterbreitete »Lieber« sodann einen schriftlichen Entführungsplan: Während einer Kneipentour wollte er Reimer nicht nur zum reichlichen Alkoholgenuss ermuntern, sondern ihm auch Schlaftabletten verabreichen, wenn er betrunken genug ist. Eine anschließende U-Bahn-Fahrt – vorgeblich zu weiteren Lokalen am Schlesischen Tor – wollte »Lieber« dann nutzen, um Karl Reimer nach Ost-Berlin zu bringen.528 Das MfS akzeptierte diesen von »Lieber« vorgeschlagenen Plan und beauftragte ihn nach einer genauen Absprache der Vorgehensweise und aller Eventualitäten mit der Durchführung, bei der er größte Vorsicht walten lassen sollte. Am Abend des 22. Oktober 1953 lief zunächst alles wie geplant, aber das verabreichte Betäubungsmittel zeigte nicht die erwünschte Wirkung. Auf dem Weg zum Schlesischen Tor 525 Vgl. Bericht, Erwin Langer, 11.8.1950. BStU, MfS, AIM 7881/61, A-Akte, S. 16–19; Bericht, GM »Bert«, o. D. [ca. Dezember 1953 bis Januar 1954]. Ebenda, S. 69 f.; Bericht, GM »Bert«, 23.8.1950. BStU, MfS, AOP 24/54, S. 17–19; Bericht, GM »Bert«, 4.9.1950. Ebenda, S. 22 f.; Bericht, »Henry Peters«, 23.5.1951. Ebenda, S. 70 f.; Sachstandsbericht, HA II/3, 5.2.1954. Ebenda, S. 82 f. 526 Zusatzbericht, GM »Bert«, 19.1.1954. BStU, MfS, AIM 7881/61, A-Akte, S. 73. 527 Vgl. Interview mit Niki Glyz in der Fernsehdokumentation »Entführt – Menschenraub im Kalten Krieg« von Erika Fehse, 2004; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1201. 528 Vgl. Treffbericht, Abt. VI/1, 22.9.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, A-Akte Bd. 1, S. 85; Treffbericht, Abt. VI/1, 2.10.1953. Ebenda, S. 89; Bericht, GM »Lieber«, 11.10.1953. Ebenda, S. 96.
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schlief Karl Reimer nicht ein und stieg – trotz Ablenkungsmanöver des »Lieber« – am letzten Bahnhof im Westsektor aus.529 Schon am nächsten Tag unterbreitete »Lieber« dem MfS einen neuen Vorschlag zur Durchführung der Entführung, indem er den alten Plan etwas variierte. Dieses Mal wollte er sich mit Reimer in dessen Wohnung treffen und ihn nicht nur zum Alkoholkonsum animieren, sondern ihm auch eine starke Dosis Schlafmittel verabreichen. Unter dem Vorwand zu »Liebers« Wohnung am Schlesischen Tor fahren zu wollen, wollte er dann Karl Reimer wieder in die U-Bahn locken. Nach dem misslungenen ersten Versuch wies »Lieber« darauf hin, dass die Aktion aber nur Erfolg haben könne, wenn es ein wirkungsstarkes Schlafmittel sei, sodass Reimer schon zu Hause müde werde und nach einer Station schon fest schlafe.530 Der zweite Entführungsversuch scheiterte jedoch ebenfalls, da es »Lieber« nicht gelang, Reimer das Schlafmittel zu verabreichen.531 Zwei Wochen später begaben sich »Lieber« und Karl Reimer aber wieder auf eine gemeinsame Kneipentour, bei der »Lieber« den stark betrunkenen Reimer mit der S-Bahn nach Ost-Berlin bringen konnte und dort verhaften ließ.532 Auf ähnliche Weise lieferte »Lieber« nur neun Monate später den ihm bekannten Westberliner Journalisten Herbert Eigner in Ost-Berlin ab. Wiederum plante »Lieber«, eine gemeinsame Kneipentour als Gelegenheit zu nutzen; dieses Mal sollte aber nicht die U-Bahn, sondern ein Auto zum Einsatz kommen. Zu diesem Zweck testete »Lieber« im Sommer 1954 die Überfahrt in den Ostsektor an verschiedenen Grenzübergangsstellen. Ein erster Entführungsversuch Anfang August 1954 scheiterte, da »Lieber« und Herbert Eigner am fraglichen Abend nicht alleine unterwegs waren.533 Drei Wochen später bekam »Lieber« dann bei einem Treffen mit seinem Führungsoffizier genaue Instruktionen für einen zweiten Entführungsversuch. Auf einer neuerlichen Kneipentour sollte die Bekanntschaft mit zwei Frauen die Möglichkeit schaffen, Herbert Eigner nach Ost-Berlin zu locken. Am Tattag erfolgten bei einem Treff die letzten Unterweisungen und »Lieber« lernte den weiblichen GI »Sonja« kennen, die als ›Lockvogel‹ zum Einsatz kommen sollte und kam. »Sonja« 529 Vgl. Treffbericht, Abt. VI/I, 15.10.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, A-Akte Bd. 1, S. 98; Treffbericht, Abt. VI/I, 20.10.1953. Ebenda, S. 103; Bericht, GM »Lieber«, 23.10.1953. Ebenda, S. 114 f.; Bericht, Abt. VI/1, 3.12.1953. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 31. 530 Vgl. Entführungsvorschlag, GM »Lieber«, 23.10.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, A-Akte Bd. 1, S. 112. 531 Vgl. Bericht, GM »Lieber«, 1.11.1953. Ebenda, S. 120–124. 532 Vgl. Bericht, GM »Lieber«, 19.11.1953. Ebenda, S. 125–128; Bericht, Abt. VI/1, 3.12.1953. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 31; Protokoll Vernehmung, Polizei, 7.10.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1031/93, Bd. 2, S. 3–11, hier 4 f. 533 Vgl. Treffbericht, HA V/4, 15.7.1954. BStU, MfS, AIM 4861/65, A-Akte Bd. 4, S. 20; Bericht, GM »Lieber«, 14.7.1954. Ebenda, S. 27 f.; Treffbericht, HA V/4, 20.7.1954. Ebenda, S. 31; Bericht, GM »Lieber«, 23.7.1954. Ebenda, S. 37–39; Treffbericht, HA V/4, 2.8.1954. Ebenda, S. 43; Treffbericht, HA V/4, 10.8.1954. Ebenda, S. 44; Bericht, GM »Lieber«, 4.8.1954. Ebenda, S. 49 f.
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fungierte als angebliche Freundin des »Liebers«, die am Tatabend mit einer weiteren Freundin (ebenfalls eine GI) in einer Westberliner Kneipe mit »Lieber« und Herbert Eigner zusammentraf. Der Vorschlag der beiden Frauen, ein Tanzlokal in Ost-Berlin aufzusuchen, führte sie schließlich in den Ostsektor, wo Herbert Eigner festgenommen wurde.534 Die geschilderten Entführungsaktionen machen deutlich, dass die Entführer-IM zum einen zwar oft unter strikter Anleitung ihrer Führungsoffiziere handelten, zum anderen sich aber auch selbst aktiv an der Erarbeitung von Entführungsplänen zu beteiligen hatten. Zudem erforderte das Auftreten unvorhergesehener Entwicklungen auch immer wieder ein spontanes Reagieren und Eigeninitiative. VIII.2 Gewollte Eigeninitiative und ungewollte Eigenmächtigkeiten Im Vorfeld der Verschleppungs- und Entführungsaktionen sprachen die Führungsoffiziere mit den Entführer-IM zumeist alle naheliegenden Eventualitäten durch und formulierten eine Verhaltenslinie, an der sich der IM bei spontanen Entscheidungen orientieren sollte. Die Tätigkeit der Entführer-IM verlief auf einem schmalen Grad: Zwar forderte das MfS von den Entführer-IM eine aktive Beteiligung und Eigeninitiative bei der Planung und Durchführung von Verschleppungs- und Entführungsaktionen, die sich aber nur in bestimmten, streng kontrollierten Grenzen halten und nicht zu operativen Eigenmächtigkeiten ausarten durften. Denn diese waren in den Augen der Tschekisten ein großer Gefahrenpunkt – vor allem angesichts des westlichen Einsatzgebietes dieser IM. Besonders bei den erfassten Entführer-IM des ersten Typs ist zu beobachten, dass das MfS den Arbeitseifer dieser IM oft zügeln musste. Der im Januar 1953 angeworbene GM »Kleist« begann bereits kurze Zeit später im Auftrag des MfS mit der Beobachtung eines Mannes in Berlin-Zehlendorf und wies im März mit Nachdruck auf die Möglichkeit hin, diesen Mann unter Verwendung eines Betäubungsmittels mit der U-Bahn nach Ost-Berlin bringen zu können. Zu diesem Zweck hatte er sich sogar schon mit einer ihm bekannten Ärztin über die Möglichkeiten unterhalten, ein Betäubungsmittel zu beschaffen – allerdings ohne entsprechende Anweisung des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Anfang April zog das MfS den GM ab und untersagte ihm ausdrücklich, »in dieser Sache etwa selbstständig weiterzuarbeiten«.535 Fünf Monate später hakte 534 Vgl. Festnahmeplan, HA V/4, 25.6.1954. BStU, MfS, AOP 10/55, Bd. 1, S. 83–85; Treffbericht, HA V/4, 31.8.1954. BStU, MfS, AIM 4861/65, A-Akte Bd. 4, S. 63 f.; Bericht, GM »Lieber«, 6.9.1954. Ebenda, S. 76 f. 535 Treffbericht, HA III, 9.4.1953. BStU, MfS, AIM 1717/62, A-Akte Bd. 1, S. 63; vgl. 13 Berichte, GM »Kleist«, und Treffberichte, HA III, 27.1.–7.4.1953. Ebenda, S. 11–18, 30–40, 47, 51– 62; Charakteristik, HA III/2, 6.7.1954. Ebenda, P-Akte, S. 61 f.
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GM »Kleist« bei seinem Führungsoffizier noch einmal nach, warum sein Entführungsplan nicht angenommen worden sei. Dieser ließ ihn wissen, dass der richtige Moment für eine solche Aktion abgewartet werden müsse, und betonte, dass die Entscheidungen des MfS generell ihre Richtigkeit hätten.536 Bei einer weiteren geplanten Entführungsaktion im Frühjahr 1955 bremste das MfS seinen GM erneut. Zwar erhielt er nach den entsprechenden Beobachtungs- und Ermittlungsarbeiten den Entführungsauftrag. Seinen Vorschlag, den betreffenden Westberliner von drei mit Pistolen und einer Maschinenpistole bewaffneten GM überfallen zu lassen, ignorierte der Führungsoffizier jedoch.537 Nachdem zwei Entführungsversuche gescheitert waren und »Kleist« beim zweiten Versuch fast von der Westberliner Polizei verhaftet worden war, wurde er auf einen anderen zu entführenden Westberliner angesetzt. Dieses Mal mit Erfolg: Bereits wenige Wochen später entführte er mit einem Komplizen einen geflohenen MfS-Mitarbeiter nach einem gemeinsamen Kneipenabend.538 Auch das Engagement des im Oktober 1954 angeworbenen GM »Norge« musste das MfS zum Teil bremsen. Nach der Beteiligung an zwei gegen KgUMitarbeiter gerichteten Entführungsversuchen 1957 und 1958 observierte GM »Norge« im Herbst 1958 und im Frühjahr 1959 Fahrzeuge der KgU und des UFJ in West-Berlin.539 Als er die morgendliche Abholung von drei führenden UFJ-Mitarbeitern durch einen Pkw und dessen Fahrtweg ausgekundschaftet hatte, erteilte ihm das MfS den Auftrag, sich Maßnahmen zur Einschüchterung dieser Personen zu überlegen.540 Es ist nicht ersichtlich, ob sich sein Vorschlag eines »sehr radikal[en]« Vorgehens gegen einen Pkw im Januar 1959 auf diesen Wagen des UFJ bezieht. »Norge« plädierte jedenfalls für den Einbau einer Granate in ein Fahrzeug, damit der Besitzer »die nötige Angst« bekomme. Aber »Norges« Führungsoffizier verwarf diesen Vorschlag angesichts der
536 Vgl. Treffbericht, Abt. III, 14.9.1953. BStU, MfS, AIM 1717/62, A-Akte Bd. 1, S. 86. 537 Vgl. Bericht, HA III/3, 19.11.1954. BStU, MfS, AIM 1717/62, A-Akte Bd. 1, S. 146 f.; 15 Berichte, GM »Kleist«, und Treffberichte, HA III, 25.11.1954–9.2.1955. Ebenda, S. 148 f., 152 f., 156 f., 162 f., 167 f., 173–198. 538 Vgl. Treffbericht, HA III/2, 28.12.1954. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 81–86; Charakteristik, HA III/5, 22.3.1955. Ebenda, S. 112–114; Bericht, HA III/2, 22.12.1954. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 193; Treffbericht, HA III/2, 10.2.1955. Ebenda, S. 200 f.; Bericht, GM »Kleist«, 14.3.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 12 f.; Bericht, HA III/1, 29.3.1955. Ebenda, S. 16; Treffbericht, HA III, 31.3.1955. Ebenda, S. 17 f.; Treffbericht, HA III, 14.4.1955. Ebenda, S. 22. Der entführte MfS-Mitarbeiter wurde zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt und im Juni 1961 vorzeitig aus der Haft entlassen. Vgl. Urteil, Bezirksgericht Gera, 2.9.1955. BStU, MfS, GH 123/55, Bd. 3, S. 126–133; Beschluss, Bezirksgericht Gera, 20.6.1961. Ebenda, S. 152; Plan, KD Haldensleben, 18.9.1972. BStU, MfS, KS 430/60, S. 18–20; Maßnahmeplan, KD Haldensleben, 30.10.1972. Ebenda, S. 21–23. 539 Vgl. 11 Berichte, GM »Norge«, und Treffberichte, HA V/5, 22.–7.11.1958 und 13.1.– 22.5.1959. BStU, MfS, AIM 6039/57, A-Akte Bd. 3, S. 27–30, 33, 73–80, 127, 130, 135 f., 159 f., 166. 540 Treffbericht, HA V/5, 23.10.1958. Ebenda, S. 25 f.
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Gefahr, dass der Fahrer des Wagens verletzt werden könnte.541 Bei einem weiteren Treffen zwei Wochen später wurde mit »Norge« dann noch einmal über die Fahrtroute des UFJ-Leiters Walter Rosenthal gesprochen. »Norge« ließ dabei seinen Führungsoffizier wissen, dass er mit dem Leiter der MfSHauptabteilung V Heinz Volpert schon darüber gesprochen habe, »was in dieser Richtung getan werden« könne. Und er betonte, dass man »unbedingt etwas Sinnvolles durchführen soll, was auch die Wirkung nicht verfehlt«. Die Andeutungen seines Führungsoffiziers, eventuell Reifentöter auszulegen, lehnte »Norge« gleich ab, da diese bei Tageslicht sichtbar seien. Effektiver erschien dem GM der Einsatz von Sprengstoff, der durch Funk gezündet werden sollte. Doch dieser Vorschlag fand beim Führungsoffizier wiederum keine Zustimmung – zum Missfallen des GM »Norge«.542 Kaum zu zügeln waren für das MfS ebenso die GM »Bär« und »Neuhaus«, die bereits bei einem ersten Treffen im Dezember 1955 mehrmals betonten, dass sie »Agenten gewaltsam in den demokratischen Sektor Berlins« bringen könnten. Doch sie sollten erst ihre Bereitwilligkeit durch Informationsbeschaffung unter Beweis stellen.543 Dabei handelte es sich um Ermittlungsaufträge, in dessen Rahmen die Hauptabteilung II/1b die Ehrlichkeit ihrer beiden Informanten prüfen wollte. Wiederholt baten diese in den folgenden Wochen um »größere Aufträge«, da es nicht ihren Voraussetzungen entspreche, »immer nur Ermittlungen zu führen«.544 In Eigenregie scheinen die beiden GM ihre Ermittlungsaufträge entsprechend ausgeweitet zu haben, indem sie schon Vorbereitungen für Entführungen trafen. Denn Ende Februar 1956 bemängelte ihr Führungsoffizier, dass ihre Art der Ermittlungsarbeit zu einem Mann namens Ernst Steffen aus einem Westberliner Flüchtlingslager nicht der Auftragserteilung entspreche und bei früheren Treffen bereits untersagt worden sei. Doch »Bär« und »Neuhaus« baten wiederum um den Auftrag, den Westberliner gewaltsam nach Ost-Berlin zu bringen. Ihr Führungsoffizier erteilte ihnen zu ihrer Enttäuschung jedoch ein ausdrückliches Verbot und beauftragte sie, Steffen weiter aufzuklären und den Kontakt zu vertiefen. Bereits vier Wochen später unterbreitete »Neuhaus« einen neuen Entführungsvorschlag, den die zuständigen Mitarbeiter der Hauptabteilung II/1 wiederum ablehnten, da der Entführungsplan in ihren Augen mangelhaft war. Zudem registrierten sie negativ, dass finanzielle Interessen das Engagement ihres GM stark bestimmten. So vertrösteten sie ihre GM »Bär« und »Neuhaus« erneut, als diese schon zwei Tage später mit einem neuen Entführungsplan aufwarteten: Erst müsse 541 Treffbericht, HA V/5, 15.1.1959. Ebenda, S. 62 f., hier 62. 542 Treffbericht, HA V/5, 31.1.1959. Ebenda, S. 70–72, hier 71 f. 543 Treffbericht, HA II/1, 10.12.1955. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 13–15. 544 Treffbericht, HA II/1, 19.2.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 29; vgl. Treffbericht, HA II/1b, 23.1.1956. BStU, MfS, AIM 3122/83, Teil II/1 FK 2, S. 6 f.; Treffbericht, HA II/1b, 4.2.1956. Ebenda, S. 19 f.
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der Vorschlag überprüft und dann würden ihnen entsprechende Verhaltensregeln unterbreitet werden.545 Die beiden GM beschwerten sich daraufhin bei einem Treffen Anfang April 1956 bei einem Mitarbeiter der Hauptabteilung II/1, den sie irrtümlich für einen leitenden Mitarbeiter hielten, dass wiederholt auf ihre Vorschläge nicht eingegangen und eine erfolgreiche Arbeit dadurch behindert worden sei. Doch wiederum wurden sie nur ermahnt, keine Maßnahme ohne Auftrag durchzuführen.546 Die Notwendigkeit, ihre GM in diesem Sinne nachdrücklich zu ermahnen, war den MfS-Mitarbeitern Anfang März sehr deutlich geworden. Denn am 3. März 1956 hatten »Bär« und »Neuhaus« in Eigenregie einen Westberliner nach einem gemeinsamen Kneipenabend nach Ost-Berlin entführt, um ihre »aufrichtige Mitarbeit unter Beweis zu stellen«.547 Auch dieses Entführungsangebot hatte die Hauptabteilung II/1b vorab abgelehnt, als die beiden Informanten es am 1. März als »Kleinigkeit« unterbreiteten.548 Das hielt die beiden GM jedoch nicht auf, und das Engagement zahlte sich aus. Sie erhielten eine Prämie von je 200 DM/West, aber auch die Ermahnung, dass »in Zukunft derartige undisziplinierte selbstständige Handlungen zu unterbleiben haben« und derartige Maßnahmen nur mit ausdrücklicher Genehmigung durchgeführt werden dürften.549 Immer wieder musste das MfS zügelnd auf den GM »Neuhaus« einwirken, der in seinem Arbeitseifer kaum zu bändigen war. Im Vorfeld einer Entführung, die sich laufend verzögerte, notierte sein Führungsoffizier in einem Treffbericht: »Man konnte bei diesem Treff mit ›Neuhaus‹ feststellen, daß er in die Schleusung W. regelrecht versessen ist, sich in die Sache hineingearbeitet hat und demzufolge verärgert über die Absage ist. Sollte eine Schleusung des W. überhaupt nicht infrage kommen, könnte ›N.‹ sehr leicht die Lust an der 545 Vgl. Treffbericht, HA II/1, 28.2.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 40; Treffbericht, HA II/1, 29.3.1956. Ebenda, S. 78; Bericht, GM »Neuhaus«, 28.3.1956. Ebenda, S. 87– 94; Treffbericht, HA II/1, 31.3.1956. Ebenda, S. 95; Bericht, GM »Neuhaus«, 29.3.1956. Ebenda, S. 100 f. 546 Vgl. Treffbericht, HA II/1, 9.4.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 103 f. Mitte April wurden die beiden GM schließlich ganz von der Angelegenheit Steffen abgezogen. 547 Bericht, GM »Neuhaus«, 3.3.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 42 f. Vgl. Aktenvermerk, HA II/1, 6.3.1956. Ebenda, S. 41; Auskunftsbericht, HA II/1, 24.3.1956. Ebenda, S. 67–71, hier 71; Auskunftsbericht, HA II/1, 23.3.1956. BStU, MfS, AIM 3112/83, Bd. I/1, S. 51– 55, hier 54. Vgl. Auskunftsbericht, HA II/SR 3, 14.7.1958. Ebenda, S. 71–75, hier 73; Bericht, HA II/1b, 16.3.1956. Ebenda, Teil II/1 FK 2, S. 38 f. Der Entführte war ein ehemaliger GM der HA V, zu dem seit Monaten kein Kontakt mehr bestand, da er nicht mehr zu den Treffen erschien. Vgl. »Vorplan zur Schleusung des Residenten«, HA II/1, 21.3.1956. BStU, MfS, AOP 786/57, Bd. 4, S. 14–21, hier 18. 548 Treffbericht, HA II/1b, 1.3.1956. BStU, MfS, AIM 3112/83, Teil II/1 FK 2, S. 32 f. 549 Treffbericht, HA II/1, 8.3.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 44; vgl. Prämierungsvorschlag, HA II/1, 5.3.1956. Ebenda, S. 45 f.; Treffbericht, HA II/1, 12.3.1956. Ebenda, S. 47 f.
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Mitarbeit überhaupt verlieren.«550 Sieben Tage später erhielt »Neuhaus« den ersehnten Entführungsauftrag und entführte am 25. August 1956 den Westberliner Siegfried Wenzel, den das MfS einer Tätigkeit für den amerikanischen Geheimdienst verdächtigte.551 Im März 1958 forderte »Neuhaus« für seine speziellen Aufträge eine Ausbildung, die einen Lehrgang in Judo, Waffenlehre und Schießübungen sowie Belehrungen zur Anwendung von Betäubungsmitteln und Sprengstoffen, zur Beschattung und Festnahme von Personen sowie zum Verhalten bei Verhören beinhalten sollte. Eine solche Ausbildung würde in seinen Augen nicht nur seine eigene Sicherheit erhöhen, sondern auch die Erfolgschancen bei den Aktionen, sodass er eine bessere Arbeit leisten könne. Zudem bat er um die Ausrüstung mit einer Pistole.552 Seine Ideen fanden offenbar keinen Anklang im Staatssicherheitsapparat, denn im Sommer desselben Jahres kritisierte er, dass seine »Vorschläge in technischer und personeller Hinsicht« nicht berücksichtigt worden seien. Bei der Gefahr seiner Arbeit sei es wohl nicht zuviel verlangt, dass er außer seiner Pflichten auch gewisse Rechte in Anspruch nehmen dürfte. Und dazu gehöre seines Erachtens die Ausstattung mit einer Pistole – zur eigenen Sicherheit.553 Das MfS lehnte eine solche Ausrüstung des GM ab. Gegenüber einem anderen GM äußerte »Neuhaus« Ende Oktober 1958, dass er nach einer Aussprache mit führenden MfSMitarbeitern nun einsehe, dass seine Forderung nach einer Pistole nicht angebracht sei.554 Wenige Tage zuvor hatte »Neuhaus« bei der Entführung des Friedrich Böhm gezeigt, dass er vor dem Einsatz von Waffengewalt nicht zurückschreckte. Die Entführergruppe um den GM »Neuhaus« hatte den Westberliner Friedrich Böhm in einem Waldgebiet, in dem dieser spazieren zu gehen pflegte, in einen Hinterhalt gelockt. Bei dem brutalen Überfall schoss »Neuhaus« aus nächster Nähe auf den 50-Jährigen, der eine Schussverletzung davontrug. Bei einem zweiten Schuss versagte die Pistole. Der Einsatz von Waffengewalt war in den Entführungsplänen des MfS nicht vorgesehen, auch die Ausstattung des GM »Neuhaus« mit einer Pistole für diese Aktion ist nicht überliefert. Es handelte sich hierbei also allem Anschein nach wieder um eine 550 Treffbericht, HA II/1, 16.8.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 180–182, hier 181. »Neuhaus« drohte, die Entführung eigenmächtig durchzuführen. Vgl. Treffbericht, HA II/1, 15.8.1956. Ebenda, S. 183; Treffbericht, HA II/1, 17.8.1956. Ebenda, S. 184; 15 Treffberichte, HA II/1, 16.4.–14.8.1956. Ebenda, S. 115 f., 118, 121 f., 127, 130, 132, 145, 154–157, 160 f., 168 f.; Entführungsplan, HA II/1, 1.8.1956. Ebenda, S. 175 f.; Entführungsplan, HA II/1, 3.8.1956. BStU, MfS, AOP 786/57, Bd. 4, S. 33–37. 551 Vgl. 2 Treffberichte, HA II/1, 31.8.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 186, 188; Festnahmebericht, Abt. VIII, 28.8.1956. BStU, MfS, AU 244/57, Bd. 1, S. 21. 552 Schreiben, GM »Neuhaus« an das MfS, 23.3.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 102–107. 553 Vgl. Schreiben, GM »Neuhaus« an das MfS, 27.8.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 114 f.; Bericht, GM »Neuhaus«, 9.7.1958. Ebenda, S. 108–111, hier 111. 554 Vgl. Treffbericht, HA II/SR 3, 31.10.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 52.
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Eigenmächtigkeit des GM »Neuhaus«. Er beteuerte später gegenüber dem MfS, dass sich der Schuss versehentlich aus der Pistole gelöst habe, als er mit dieser auf Friedrich Böhm eingeschlagen habe. Der unabgesprochene Einsatz der Pistole lag aber offenbar im Toleranzbereich des MfS, zumal die Entführung geglückt war. Dieses eigenmächtige Handeln wurde zumindest MfSintern nicht weiter thematisiert, sondern nur die unehrliche Berichterstattung des GM »Neuhaus«, die durch den ebenfalls beteiligten GM »Alfons Dietrich« aufgedeckt worden war.555 Dem MfS gelang es also nicht immer, die Eigenmächtigkeiten seiner Entführer-IM zu zügeln, wie auch das folgende Beispiel zeigt. Nachdem der GM »Lord« im Dezember 1964 vor dem Westberliner Landgericht zu sechs Jahren Zuchthaus wegen Verschleppung verurteilt worden war, vermerkte die Hauptabteilung I: »Die Gründe der Inhaftierung lagen in der Schwatzhaftigkeit und des eigenmächtigen Handelns ohne Auftrag.«556 »Lord« hatte durch eine spontane Entführungsaktion im September 1961 einen geflohenen Grenzpolizisten nach Ost-Berlin gebracht und war daraufhin vom MfS angeworben worden. Das MfS schickte ihn nach West-Berlin zurück, um weitere Deserteure zu entführen.557 Im März 1962 wurde er auf zwei Brüder angesetzt, die als Fluchthelfer in West-Berlin tätig waren. Er sollte Kontakt zu ihnen aufnehmen und schließlich ihre Entführung ermöglichen. Die beiden Fluchthelfer schöpften Verdacht und verständigten die Polizei, die »Lord« festnahm. Die nachfolgenden Ermittlungen gegen ihn griffen auch seine Verstrickung am Verschwinden des geflohenen Grenzpolizisten im September 1961 auf. Doch den bundesdeutschen Ermittlungsbehörden mangelte es an Beweisen, sodass sie »Lord« laufen lassen mussten. Das MfS sah die Ursache für seine Verhaftung in seinem Verstoß gegen die ihm gegebene Verhaltenslinie und seinem nicht auftragsgemäßen Handeln. Denn entgegen seiner Weisungen hatte er versucht, den Kontakt zu den Fluchthelfern so schnell wie möglich aufzubauen, und dadurch Verdacht erregt. In West-Berlin war »Lord« nun nicht mehr einsetzbar, sodass ihn das MfS in die Bundesrepublik übersiedelte, wo er im Raum Düsseldorf die »Aufklärung« von zwei geflohenen NVA-Soldaten übernehmen sollte. Nach dieser sollten im vierten Quartal des Jahres 1962 die »aktiven operativen Maßnahmen« durch die GM-Gruppe »Otto« durchgeführt werden und »Lord« in die DDR zurückgezogen werden.558 In einer handschriftlichen 555 Vgl. 2 Berichte, GM »Neuhaus«, 2.–3.10.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 118–123; Treffbericht, HA II/SR 3, 31.10.1958. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 52; Bericht, HA II/SR 3, 11.12.1958. Ebenda, S. 201–204, hier 202. 556 Vermerk, HA I Abt. Koordinierung, 30.6.1966. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte Bd. 1, S. 297. 557 Vgl. Auskunftsbericht, HA I, 18.10.1961. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte Bd. 1, S. 72–77, hier 76; Plan, HA I, 18.10.1961. Ebenda, S. 78–83; Auftrag, HA I, 26.10.1961. Ebenda, S. 84–92. 558 Vgl. Vorschlag, HA I Abt. Aufklärung, 8.9.1962. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 186–190; Maßnahmeplan, HA I/7, 13.3.1962. Ebenda, A-Akte, S. 67–72; Auftrag, HA I,
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Erklärung musste »Lord« vor seinem Einsatz in der Bundesrepublik bestätigen, dass er eingehend belehrt wurde, keine seinen Anweisungen widersprechenden Maßnahmen oder Handlungen ohne expliziten Auftrag durchzuführen. Bei einem Bruch dieser Vereinbarung behielt sich das MfS vor, mit sofortiger Wirkung die Versorgung seiner in der DDR lebenden Familie einzustellen.559 Seine Aufträge in der Bundesrepublik erfüllte »Lord« nicht zur Zufriedenheit der Hauptabteilung I/Abteilung Aufklärung, die ihn im März 1963 nach West-Berlin zurückbeorderte und ihn im Sommer 1963 »aufgrund seiner Perspektivlosigkeit« in die DDR übersiedeln lassen wollte. Doch »Lord« zeigte sich von dieser Idee alles andere als begeistert und gab an, nur ungern in die DDR zurückzukommen, da er seine Aufträge nicht erledigt habe. Eindringlich warnten ihn die zuständigen MfS-Mitarbeiter vor eigenmächtigen Handlungen und Alleingängen, vor allem als er das Angebot unterbreitete, einen ihm bekannten geflohenen Grenzpolizisten mit seinem Wagen nach Ost-Berlin zu entführen. Angesichts der Weisung des Leiters der Hauptabteilung I, »Lord« unter keinen Umständen mit einem derartigen Auftrag zu betrauen, stellten sie ihm auch ohne eine weitere Entführung eine gesicherte Existenz in der DDR in Aussicht.560 Ende September 1963 sollte er nach Ost-Berlin zurückkommen, doch in der Nacht zum 15. September wurde »Lord« festgenommen, nachdem er einen Bekannten aufgefordert hatte, mit ihm einen geflohenen Volkspolizisten zu entführen.561 Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Dynamisierungsfaktoren in der Tätigkeit der Entführer-IM auf beiden Seiten zu suchen sind: sowohl im Staatssicherheitsapparat als Auftraggeber als auch bei den IM als Auftragempfänger. Das MfS erteilte nicht nur Entführungsaufträge und genaue Anweisungen zur Vorgehensweise, sondern reagierte dabei auch auf Vorschläge der EntführerIM und musste gelegentlich die Einsatz- und Gewaltbereitschaft des eingesetzten IM bremsen. Bei den Entführungsaktionen als besonderer Form der IMArbeit zeigt sich ein Zusammenwirken institutionell angeordneter Gewalt und eigenständiger, individueller Gewalt. Beide Formen der Gewalt bedingten sich und entfalteten dadurch ihre Dynamik.562
17.3.1962. Ebenda, S. 73 f.; 3 Treffberichte, HA I, 21.3.–3.4.1962. Ebenda, S. 75–80, 97–110; Abschrift eines Tonbandes, MfS, 21.6.1962. Ebenda, S. 137–144; 2 Berichte, GI »Lord«, 30.12.1962 und o. D. Ebenda, S. 200–212; Abschrift eines Tonbandes, MfS, 13.6.1963. Ebenda, S. 241–252. 559 Vgl. handschriftliche Erklärung, GI »Lord«, 29.9.1962. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 192. 560 Vgl. Stellungnahme, HA I/Aufklärung, 18.9.1963. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 206–213. 561 Vgl. Wegen Verdacht des Menschenraubs verhaftet. In: Die Welt, 18.9.1963; Ein Flüchtling als Menschenräuber? In: BZ, 18.9.1963; Faule Ausrede für geplanten Menschenraub. In: Bild, 18.9.1963. 562 Vgl. Mallmann/Paul: Sozialisation, S. 5.
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Anfang der 1960er Jahre ergaben sich daraus weitere Probleme, nachdem das MfS zunehmend Abstand von seiner Entführungspraxis genommen hatte. Eine Aussprache zwischen dem GM »Neuhaus« und dem MfS im Frühjahr 1965 verdeutlicht dies. Wiederholt hatte sich der an drei Entführungen beteiligte und als Kopf der Einsatzgruppe »Blitz« eingesetzte GM zuvor beschwert, dass ihn seine Aufträge wie das Schreiben von kleineren Berichten nicht auslasten und nicht befriedigen würden.563 In einer Aussprache mit dem Leiter der Abteilung XXI Oberst Kiefel verwies »Neuhaus« auf seine Mitarbeit bei vielen Festnahmen und bekundete seine immer noch bestehende Bereitschaft, jeden Auftrag durchzuführen. Doch Kiefel führte ihm vor Augen, dass sich die Arbeitsmethoden des MfS geändert hätten: »Früher arbeiteten wir bei offenen Grenzen, die feindlichen Geheimdienststellen nutzten das in mehr als reichem Maße aus und natürlich waren auch unsere Aufgaben und Methoden dem angepaßt. […] Wir können heute keine solchen Arbeitsmethoden mehr anwenden, wie wir sie vor 10 Jahren, 8 Jahren zum Teil noch vor 6 Jahren anwenden mußten, weil sie uns teils vom Gegner aufgezwungen wurden.«564
Ähnliche Beschwerden formulierten manche Entführer-IM auch schon in den 1950er Jahren, wenn das MfS sie aus unterschiedlichen Gründen außer Dienst gestellt hatte. So drohte der GM »Schubert« im Sommer 1957 verärgert, dass er sich vom MfS trennen werde, wenn er nicht bald wieder größere Aufträge bekomme. In seinen Augen sei es Quatsch, dass das MfS ihn nicht mehr in West-Berlin einsetze, schließlich müsse er das selbst verantworten.565 Doch das MfS hatte seine Gründe: Zwei Jahre zuvor war »Schubert« an der Entführung des Westberliners Otto Schneider beteiligt, in deren Folge zwei andere beteiligte GM in West-Berlin festgenommen und wegen Verstoßes gegen das Freiheitsschutzgesetz verurteilt worden waren.566 Seine Beschwerde zeigte offenbar Wirkung, denn das MfS schickte ihn kurze Zeit später mit Beobachtungsaufträgen nach West-Berlin und ließ ihn dort Ausschau nach geeigneten Plätzen für »aktive Maßnahmen« halten.567 Im Frühjahr 1958 folgte dann sogar wieder ein Einsatz bei einem Entführungsversuch in der Bundesrepublik, der jedoch 563 Vgl. Bericht, Abt. XXI, 18.2.1965. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 336–349, hier 336. 564 Stellungnahme, MfS, Februar/März 1965. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 353–361, hier 353 (Zitat), 355. Vgl. Bericht, Oberst Kiefel, 16.3.1965. Ebenda, S. 363–365; Abschrift Tonbandaufnahme von Treffen, MfS, Februar/März 1965. Ebenda, S. 366–394, hier 368– 370. Noch heute rechtfertigen ehemalige MfS-Obristen die nicht zu leugnenden Entführungen als erzwungene Maßnahme, um die Rechtsansprüche der DDR durchzusetzen. Das wahre Ausmaß der Entführungspraxis verleugnen sie. Siehe Großmann/Schwanitz: Fragen, S. 295. 565 Treffbericht, HA II/5, 14.6.1957. BStU, MfS, AIM 3370/61, A-Akte, S. 195. 566 Vgl. Schlussbericht, Abt. I 4–J 1, 10.11.1955. LAB, B Rep. 020, Nr. 8163, o. Pag.; Bericht, Abt. I 1 KJ 2, 26.5.1965. BArch, B 209/1070, o. Pag. 567 Vgl. 2 Berichte, GM »Schubert«, 4.7. und 6.9.1957. BStU, MfS, AIM 3370/61, A-Akte, S. 196–204; 2 Treffberichte, 6.9. und 10.9.1957. Ebenda, S. 205–208.
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scheiterte. Die anschließende Verhaftung des GM »Schubert« durch die bundesdeutsche Polizei auf dem Rückweg in die DDR bedeutete das endgültige Ende seines Westeinsatzes, auch wenn er nach eineinhalbjähriger Untersuchungshaft aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde.568 Der GM »Konsul«, ein Komplize des GM »Schubert« bei der Entführung von Otto Schneider im Mai 1955, zeigte sich mit der nachfolgenden AußerDienstnahme ebenfalls unzufrieden. So klagte er bereits im Sommer 1956, dass er keine interessanten Aufträge mehr erhalte, seine extra aufgebaute Gruppe aber schwer zu zügeln sei und Geld koste.569 Dieser Hinweis deutet auf einen weiteren Dynamisierungsfaktor: Hintergrund des ungebremsten Engagements einiger Entführer-IM waren oftmals ihre finanziellen Interessen, denn die Verschleppungen und Entführungen waren für einige von ihnen zu einer lukrativen Einkommensquelle geworden. Doch da ihre Einsatzmöglichkeiten immer mehr eingeschränkt wurden, sank im Staatssicherheitsapparat die Bereitschaft, ihre materiellen Ansprüche zu erfüllen. VIII.3 Forderungen und kriminelle Aktivitäten Unter den Entführer-IM befinden sich die wohl am besten bezahlten inoffiziellen Einsatzkräfte des MfS. Die Höhe und Häufigkeit der finanziellen Entlohnung unterscheidet diese Ausnahmeagenten oftmals von der Masse der ›normalen‹ IM. Der große Stellenwert der finanziellen Interessen im Motivationsgefüge der Entführer-IM war den Verantwortlichen im DDRStaatssicherheitsapparat bewusst und sie nutzten ihn, um die IM an sich zu binden. Zugleich erwuchsen aus diesen geldlichen Interessen nicht selten permanente Forderungen, die ein gravierendes Konfliktpotenzial bargen. Im Kapitel VII.3 über die finanziellen und materiellen Interessen der Entführer-IM wurde bereits ein ausführlicher Einblick in das System der finanziellen Belohnung und Unterstützung gegeben und auf dessen Bindungskraft hingewiesen. An dieser Stelle wird daher nur noch die spezielle Entlohnung für den Einsatz als Entführer näher betrachtet, um ihre dynamisierende Wirkung und ihr Konfliktpotenzial zu veranschaulichen. Für die Beteiligung an einer Entführungsaktion zahlte das MfS den eingesetzten IM nicht selten Prämien von mehreren 100 oder sogar 1 000 Mark. So erhielt die an der Verschleppung des geflohenen Grenzpolizisten Manfred Smolka beteiligte KP Erwin Röder im September 1959 500 M/DDR.570 Auch die KP »Hering« kassierte diesen 568 Vgl. Treffbericht, HA II/SR 3, 2.9.1959. BStU, MfS, AIM 3370/61, A-Akte, S. 243 f.; Bericht, GM »Neuhaus«, 8.3.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 344–348; Bericht, Abt. I 1 KJ 2, 26.5.1965. BArch, B 209/1070, o. Pag. 569 Treffbericht, MfS, 7.7.1956. BStU, MfS, AIM 271/68, A-Akte Bd. 4, S. 227–229, hier 228 f. 570 Vgl. Schreiben, HA I/DGP/4 an HA I/DGP, 4.9.1959. BStU, MfS, AIM 1983/61, P-Akte, S. 84.
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Betrag, nachdem er im März 1954 die Entführung eines KgU-Mitgliedes angeboten und realisiert hatte.571 Mit 1 500 M/DDR wurde der GM »Lieber« für die Entführung des Westberliner Journalisten Herbert Eigner belohnt, für die neun Monate zuvor erfolgte Entführung des Westberliner Journalisten Karl Reimer hatte er 600 DM/West bekommen.572 Die Prämie für den bei der Entführung des geflohenen Volkspolizisten Robert Bialek eingesetzten GM »Albert« lag bei 3 000 M/DDR573, ebenso wie bei dem GM »Schütte« für seine Beteiligung an der Entführung des Mitarbeiters der Organisation Gehlen Wilhelm van Ackern im März 1955. Zudem bezuschusste das MfS seinen Urlaub mit 1 200 M/DDR.574 Dem GM »Norge« ließ das MfS für die Entführung des Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt im Juni 1961 nicht nur eine Prämie von 3 000 DM zukommen, sondern finanzierte ihm mit rund 57 000 M/DDR auch noch den Erwerb und die Einrichtung eines Wohnhauses.575 Der GI »Lisa König« war für ihre Beteiligung an der Entführung des Westberliners Heinrich Berger eine Summe von 7 000 DM versprochen worden, die sie im Januar 1958 für die Einrichtung einer neuen Wohnung ausgezahlt bekam.576 Die ebenfalls an dieser Entführung mitwirkenden GM »Blitz« und GM »Donner« bekamen 3 000 DM/West und 7 000 DM/West.577 Als Kopf einer speziellen Einsatzgruppe erhielt »Donner« bei derartigen Entführungen stets höhere Beträge. So auch als ihn das MfS im November 1955 mit 7 000 DM/West für die Entführung eines dänischen Geheimdienstmitarbeiters aus der Bundesrepublik prämierte und ihm im Mai 1962 für die Entführung eines geflohenen MfS-Mitarbeiters 10 000 M/DDR zahlte. Der bei letzterer Aktion miteingesetzte GM »Teddy« erhielt hingegen nur 5 000 M/DDR.578 Diese Staffelung der Prämien lässt sich auch bei der Einsatzgruppe »Blitz« beobachten: Die Entführungsaktion Friedrich Böhm im Oktober 1958 belohnte das
571 Vgl. Bericht, Abt. V/5, 29.12.1955. BStU, MfS, AIM 5009/57, Bd. 1, S. 61. 572 Vgl. Vermerk, HA V/4, 2.9.1954. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 38; Schreiben, HA VI/1 an Leitung, 26.11.1953. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 134. 573 Vgl. Quittung, GM »Albert«, 7.2.1956. BStU, MfS, AIM 442/57, P-Akte, S. 147 . 574 Vgl. 2 Quittungen, GM »Schütte«, 26.3./9.4.1955. BStU, MfS, AIM 15564/84, Bd. I/2, S. 19 f. 575 Vgl. 5 Quittungen, GM »Norge«, 14.9.–24.11.1961. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 2b, S. 208–210, 214, 216. 576 Vgl. Prämierungsvorschlag, Leitung der HA II, 13.1.1958. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 53. 577 Vgl. Quittung, GM »Donner«, 18.12.1956. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/4, S. 210; Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, MfS, o. D. Ebenda, S. 9–13, hier 12; Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, MfS, o. D. Ebenda, Bd. I/2, S. 28–31, hier 28; Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, MfS, o. D. BStU, MfS, AIM 13912/79, Bd. I/1, S. 11. 578 Vgl. Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, MfS, o. D. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/2, S. 28–31, hier 28; Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, MfS, o. D. Ebenda, Bd. I/4, S. 177; Prämierungsvorschlag, Abt. XXI, 14.5.1962. Ebenda, Bd. II/2, S. 220.
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MfS mit 7 500 M/DDR für den führenden GM »Neuhaus« und mit 2 500 DM/West für den ebenfalls beteiligten GM »Bär«.579 Mitunter gab es zwischen Entführer-IM und Staatssicherheitsapparat regelrechte Preisverhandlungen. Im Dezember 1954 plante die Hauptabteilung III, den operativen Vorgang »Span« mit der Entführung des darin registrierten »Hauptagenten Völker« abzuschliessen. Zum Einsatz sollten die GM »Kleist« und »Rosenberg« kommen, Letzterer forderte für die Durchführung allerdings die sofortige Auszahlung von 5 000 DM/West als Sicherheit. MfS-intern erfolgte daraufhin der Vorschlag, »Rosenberg« zunächst 1 000 DM/West als Anzahlung und nach Durchführung der Aktion weitere 1 000 DM/West zu geben. »Der Ausgang der Untersuchung wird dann von weiteren Zuwendungen an GM ›Rosenberg‹ abhängig gemacht, sodass die Zahlung einer derart hohen Summe auch gerechtfertigt wird.«580 Der GM »Rosenberg« stimmte dem Vorschlag zu, kam aber letztendlich beim Entführungsversuch in der Nacht vom 21. zum 22. Dezember nicht zum Einsatz und erhielt daher auch nicht die zugesagte Anzahlung.581 Obwohl diese Entführungsaktion und ein weiterer Versuch im Februar 1955 scheiterten,582 erhielt GM »Kleist« im März 1955 nochmals einen entsprechenden Auftrag in Sachen Völker, den er nun mit dem GM »Kraft« ausführen sollte. Zwei Wochen zuvor hatten die beiden GM einen anderen Westberliner auftragsgemäß entführt und dafür jeweils 1 000 DM/West kassiert. Außerdem hatte der Führungsoffizier dem GM »Kleist« ein neues BMWMotorrad versprochen. Da die Hauptabteilung III dieses Versprechen nicht einlösen konnte, hatte sie dem GM »Kleist« zusätzlich 2 000 DM/West ausgezahlt.583 Hinsichtlich des neuen Entführungsauftrags wurde nun MfS-intern der Preis kalkuliert: Da die ursprünglich versprochene Prämie von 5 000 DM/West als zu hoch angesehen wurde, stellte man den beiden GM 579 Vgl. Prämierungsvorschlag, HA II/SR 3, 17.10.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 138; Prämierungsvorschlag, HA II/SR 3, 17.10.1958. BStU, MfS, AIM 3112/83, Bd. I/3, S. 90; Treffbericht, HA II/SR 3, 11.10.1958. Ebenda, Teil II/2 FK 1, S. 34 f. 580 Schreiben, HA III/2 an Leitung der HA III, 17.12.1954. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 73. Laut handschriftlicher Notiz am Rand des Dokuments stimmte die Leitung mit der Formulierung »Bei Sicherheit bis 2000« zu. 581 Vgl. Schreiben, HA III/2, 20.12.1954. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 75; Treffbericht, HA III/2, 28.12.1954. Ebenda, S. 81–86; Bericht, HA III/2, 22.12.1954. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 193. 582 Vgl. Bericht, HA III/2, 22.12.1954. BStU, MfS, AIM 1717/62, A-Akte Bd. 1, S. 193; Treffbericht, HA III/2, 10.2.1955. Ebenda, S. 200 f. Der Entführungsversuch scheiterte, da es den beiden GM »Kleist« und »Muffe« nicht gelang, in die Wohnung des zu Entführenden einzusteigen, wo sie ihm auflauern wollten. Beim 2. Versuch im Februar 1955 wurde »Kleist« beim Versuch, in die Wohnung einzusteigen, sogar von der Polizei ertappt, konnte aber fliehen. 583 Vgl. 2 Quittungen, GM »Kleist«, 14. und 29.3.1955. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 108, 132; Charakteristik, HA III/5, 22.3.1955. Ebenda, S. 112–114, hier 114; Aktennotiz, HA III, 28.3.1955. Ebenda, S. 133 f.
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nun 2 000 DM/West in Aussicht mit der Begründung, dass sich durch die zeitliche Verzögerung der »Wert« des zu Entführenden sehr verringert habe.584 Die zuständigen Mitarbeiter der Hauptabteilung III waren sich über die starken finanziellen Interessen und Forderungen ihres GM »Kleist« bewusst und suchten offensichtlich nach einer Handhabe, um seinen Ansprüchen entgegenzutreten.585 So erhielten der GM »Kleist« und sein Komplize GM »Kraft« monatlich eine feste Summe von 150 DM/West als Entlohnung für kleinere Aufträge, »um eine Bindung zwischen dem SfS und der Operativgruppe herzustellen«. Bei umfangreicheren Aktionen, wie dem »Herüberholen von Personen« sollte ihnen dann »ein größerer Betrag nach Vereinbarung und je nach Wert des Objektes ausgezahlt« werden.586 Mit dieser Regelung war »Kleist« offenbar nicht einverstanden und äußerte seinen Unmut beim Treffen mit seinem Führungsoffizier, der sich jedoch auf keine Änderungen einließ: »Bei der Aussprache war klar zu erkennen, daß Kleist der Meinung ist, daß er dem SfS irgendetwas opfert oder schenkt. Der Unterzeichnete hat in Gegenwart des Gen. Oberst Hofmann dem GM Kleist klargemacht, daß eine solche Verhandlungsbasis im Moment nicht in Frage kommen kann. Es bleibt bei den Abmachungen, die bereits schon besprochen sind; und zwar werden größere Beträge nur dann gezahlt, wenn das von uns verlangte Objekt eingetroffen ist.«587
Der GM »Kleist« konnte diese Bedingung nicht erfüllen, die geplante Entführung des »Hauptagenten Völkel« fand nicht statt. Als auch die geplante Entführung eines weiteren Westberliners von »Kleist« und seinem Komplizen »Kraft« nicht realisiert werden konnte, wurden beide im Juli 1955 von diesem Aufgabenbereich abgezogen und die monatlichen Geldzahlungen eingestellt.588 Bei der Übergabe des GM »Kleist« an eine andere Diensteinheit wies sein Führungsoffizier in einer Beurteilung im Sommer 1955 nochmals explizit auf die stark materielle Einstellung des GM hin: »Kleist ist sehr materiell eingestellt und man muß ihn auf diesem Gebiet des öfteren kurz halten, damit die Leistung uns gegenüber, im Vergleich zu den materiellen Ausgaben von unserer Seite, nicht zu klein sind. Im allgemeinen versucht er auch unwich-
584 Vgl. Schreiben, HA III/1 an stellv. Leiter der HA III, 29.3.1955. BStU, MfS, AIM 1717/62, A-Akte Bd. 2, S. 16; Treffbericht, HA III, 31.3.1955. Ebenda, S. 17 f. 585 Vgl. Charakteristik, HA III/5, 22.3.1955. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 112 f.; Charakteristik, HA III/2, 6.7.1954. Ebenda, S. 61 f., hier 62. 586 Aktennotiz, HA III, 28.3.1955. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 133 f., hier 133. 587 Treffbericht, HA III, 27.4.1955. BStU, MfS, AIM 1717/62, A-Akte Bd. 2, S. 23. Vgl. Treffbericht, HA III, 14.4.1955. Ebenda, S. 22; Aktennotiz, HA III, 28.3.1955. Ebenda, P-Akte, S. 133 f. 588 Vgl. Treffbericht, HA III, 30.4.1955. BStU, MfS, AIM 1717/62, A-Akte Bd. 2, S. 24 f.; Entführungsplan, HA III/3, 17.5.1955. Ebenda, S. 30 f.; Treffbericht, HA III/3, 18.5.1955. Ebenda, S. 32; Treffbericht, HA III, 1.6.1955. Ebenda, S. 34; Operativplan, HA III, 22.6.1955. Ebenda, S. 35–38; Treffbericht, HA III, 29.6.1955. Ebenda, S. 40; Treffbericht, HA III, 15.7.1955. Ebenda, S. 41 f.
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tige Dinge als wichtig herauszustellen und nimmt dies als Anlaß einer, wenn auch indirekten, Forderung nach Geld.«589
Trotz aller Querelen zahlte das MfS in den Jahren 1952 bis 1956 fast 23 000 DM/West an ihn, darunter die bereits erwähnte Prämie von 2 000 DM/West für die Entführung eines geflohenen MfS-Mitarbeiters im März 1955. In den Jahren 1955 bis 1961 erhielt er teilweise monatliche Gehälter von 550 bis 800 M/DDR und wiederholt Westgeld für Aufträge in West-Berlin und der Bundesrepublik.590 Das Beispiel des GM »Kleist« zeigt das zweifache Konfliktpotenzial, das im Entlohnungssystem des MfS steckte und sich bei mehreren Entführer-IM offenbarte. Zum einen traten Auseinandersetzungen zwischen dem MfSApparat und einzelnen IM auf, zum anderen aber auch unter den EntführerIM. So stellte sein Führungsoffizier mit Blick auf die erfolgreiche Entführungsaktion im März 1955 fest, dass der ebenfalls beteiligte GM »Kraft« nur ein Drittel des Lohnes von »Kleist« erhalten hätte, obwohl Ersterer sich als treibende und verlässlichere Einsatzkraft erwiesen hätte.591 Wenn der Lohn für gemeinsam durchgeführte Verschleppungen oder Entführungen nicht getrennt gezahlt wurde, konnte dies durchaus zu Streitigkeiten zwischen den EntführerIM führen. Die Zusammenarbeit des GM »Bert« mit seinem Freund und Komplizen »Seero« zerbrach nach zwei Entführungsaktionen aufgrund von Streitigkeiten bezüglich ihres Agentenlohns. So bekundete »Bert« im März 1954, dass »Seero« ihn und die Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes »in gemeinster Weise betrogen« und immer nur die materiellen Vorteile im Auge gehabt habe. Er habe sogar geplant, Informationen über Mitarbeiter des MfS zu sammeln, um diese an den amerikanischen Geheimdienst zu verkaufen. Bei dem Versuch, sich mit »Seero« über eine »ordentliche Abrechnung« zu einigen, habe dieser ihm gedroht, ihn mit hineinzuziehen, wenn er ihm beim MfS Schwierigkeiten machen würde.592 Die beiden GM belasteten sich in ihren Berichten gegenseitig. Das MfS verzichtete auf eine weitere Zusammenarbeit.593 Bereits im Frühjahr 1953 hatten die starken finanziellen Interessen des 1950 in Haft angeworbenen GM »Bert« zu einem vorläufigen Abbruch seiner Verbindung zum MfS geführt: »Da jedoch in der weiteren Zusammenarbeit festgestellt werden mußte, daß er hauptsächlich darauf ausging, hierbei viel Geld zu verdienen, entsprach das Arbeitsverhältnis zu uns nicht mehr den 589 Beurteilung, HA III, 23.8.1955. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 156. 590 Vgl. Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, SfS, 15.12.1952–1.8.1956. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 11–16; rund 90 Quittungen, GM »Kleist«, 12.11.1955–2.11.1961. Ebenda, S. 211–303; Treffbericht, HA III, 31.3.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 17 f. 591 Vgl. Treffbericht, HA III, 14.4.1955. BStU, MfS, AIM 1717/62, A-Akte Bd. 2, S. 22. 592 Bericht, GM »Bert«, 3.3.1954. BStU, MfS, AIM 7881/61, A-Akte, S. 90–96, hier 90, 94; vgl. Zusatzbericht, GM »Bert«, 5.3.1954. Ebenda, S. 97 f. 593 Vgl. Stellungnahme, Abt. V/2, 10.11.1958. BStU, MfS, AIM 7881/61, P-Akte, S. 42 f., hier 42.
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Perspektiven.«594 Im Oktober 1953 hatte er jedoch wieder Kontakt zum MfS aufgenommen und gemeinsam mit einem Freund angeboten, Angaben über die angebliche Agententätigkeit bestimmter Leute zu machen. Das MfS zeigte Interesse und beide erklärten sich zur erneuten Zusammenarbeit bereit – wiederum mit Blick auf den finanziellen Nutzen: »[…] in der Hauptsache sind sie daran interessiert Geld zu verdienen.«595 Zum Streit um die Aufteilung der Entlohnung kam es auch zwischen den GM »Bär« und »Neuhaus«. Kurz nach einer gemeinsamen Entführungsaktion beschwerte sich »Bär«, dass »Neumann« die ganze Prämie verbraucht habe. »Neuhaus« stritt alles ab und behauptete das Gegenteil.596 Der Streit eskalierte als »Neuhaus« im betrunkenen Zustand »Bär« ein Messer in den Bauch stach. Auf Wunsch der beiden GM kam es im Frühjahr 1958 zu einer Aussprache unter der Regie des MfS. Die beiden GM, die sich ursprünglich gemeinsam dem MfS für die Arbeit als Entführer angeboten hatten, vertrugen sich wieder. Auch wenn »Neuhaus'« Drohung gegenüber »Bär«, dass dieser im Falle eines Verrats sterben würde, nochmals die Gemüter erregte. Aber die beiden erklärten sich bereit, wieder gemeinsam »aktive Maßnahmen« für das MfS durchzuführen.597 Bereits wenige Monate später traten sie tatsächlich dementsprechend in Aktion. Dieses Mal erhielten sie einzeln ihre Prämie, die beim GM »Bär« 2 500 DM/West und beim GM »Neuhaus« 7 500 M/DDR betrug.598 Schwieriger gestalteten sich oftmals die Auseinandersetzungen zwischen dem MfS-Apparat und seinen Entführer-IM. Der Fall des GM »Neuhaus« veranschaulicht, wie die starke Fixierung auf eine Entlohnung und teilweise offensive Forderungen zur Belastungsprobe für die Zusammenarbeit werden konnten. In der Hauptabteilung II war man sich bewusst, dass der Ende des Jahres 1955 geworbene GM »auf rein materieller Basis«599 arbeitete und zahlte ihm bis 1961 ca. 50 000 M/DDR.600 Seit Oktober 1957 zahlte das MfS ihm ein monatliches Gehalt von 1 000 M/DDR, seit Oktober 1958 sogar von 594 Aktenvermerk, Abt. IV, 3.2.1953. Ebenda, S. 30. 595 Vgl. Bericht, MfS, 1953. BStU, MfS, AIM 7881/61, P-Akte, S. 33. Vgl. Aktenvermerk, Abt. IV, 3.2.1953. Ebenda, S. 30; Beschluss, Abt. IV, 10.9.1953. Ebenda, S. 31. 596 Vgl. Treffbericht, HA II/1, 24.10.1956. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 1, S. 210. 597 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/SR 3, 14.7.1958. BStU, MfS, AIM 3112/83, Bd. I/1, S. 71– 75, hier 74 f.; Treffbericht, HA II/SR 3, 14.5.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, A-Akte Bd. 2, S. 75 f. 598 Vgl. Prämierungsvorschlag, HA II/SR 3, 17.10.1958. BStU, MfS, AIM 3112/83, Bd. I/3, S. 90; Treffbericht, HA II/SR 3, 11.10.1958. Ebenda, Teil II/2 FK 1, S. 34 f.; Prämierungsvorschlag, HA II/SR 3, 17.10.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 138; Beurteilung, HA II/SR 3, 28.11.1958. Ebenda, S. 199 f., hier 200; Mitteilung, Abt. XXI an die HA Kader und Schulung, 18.6.1971. Ebenda, P-Akte Bd. 3, S. 36. 599 Einschätzung, MfS, o. D. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 13. Vgl. Auskunftsbericht, HA II/4, 19.8.1961. Ebenda, S. 26–28, hier 27; Beurteilung, HA II/SR 3, 28.11.1958. Ebenda, S. 199 f., hier 200. 600 Auskunftsbericht, HA II/4, 19.8.1961. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 26–28, hier 27.
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1 500 M/DDR. Zusätzlich erhielt er Zuwendungen und Prämien »für durchgeführte Schleusungen von Residenten, Materialien sowie eines PKW«601, so zum Beispiel die bereits erwähnten 7 500 M/DDR für die Entführung von Friedrich Böhm im Oktober 1958. Doch das war ihm nicht genug: Im November desselben Jahres klagte sein Führungsoffizier, dass »Neuhaus« nie zufriedenzustellen sei, obwohl er von allen GM den »größten materiellen Vorteil« habe. Besonders seit der Entführungsaktion versuche er, »jeden materiellen Vorteil für sich herauszuschlagen« und größere Zuwendungen zu erhalten. So habe er in Verbindung mit der Frage, wann er endlich den ihm versprochenen Wagen bekomme, in aggressiver Weise zum Ausdruck gebracht: »Wenn ich die Sache (Schleusung des B.) für eine Stelle von Drüben gemacht hätte, so wäre alles mit einmal dagewesen (Privat-PKW und hohe Geldprämie).«602 Die materiellen Forderungen des GM »Neuhaus« würden immer stärker und er gehe sogar soweit, das MfS durch schriftliche Entpflichtungserklärungen unter Druck setzen zu wollen.603 In einem Bericht des GM »Dietrich«, der ebenfalls an dieser Entführungsaktion beteiligt war, fand die Hauptabteilung II ihre Beurteilung bestätigt. Er äußerte den Verdacht, dass die GM »Neuhaus« und »Bär« einen weiteren Entführungsauftrag gar nicht durchführen wollten, sondern »lediglich auf das Geld erpicht« seien. »Neuhaus« sei ein »gerissener Geschäftsmann«, der das MfS nur erpressen wolle und keinesfalls aus »Überzeugung« handele.604 Zum Bruch mit dem GM »Neuhaus« kam es trotzdem nicht, obwohl seine materiellen Forderungen auch in den folgenden Jahren nicht nachließen. So berichtete der Führungsoffizier in einem Treffbericht im Februar 1965: »Ich bin der Meinung, wie bereits schon angeführt, dass Neuhaus bisher jegliche materielle Unterstützung vom MfS erhielt, wie vielleicht kein 2. inoffizieller Mitarbeiter. Deshalb darf man, wenn Neuhaus mit finanziellen und anderen Forderungen kommt, ihm diese auf keinen Fall gewähren.«605
Trotz aller Schwierigkeiten und Drohungen des IM »Neuhaus« endete die Zusammenarbeit zwischen ihm und dem MfS erst im Frühjahr 1985 und zwar aufgrund seines Gesundheitszustandes und seines Alters.606 Die problematischen Folgen der starken Konzentration vieler Entführer-IM auf die finanziellen Anreize wurden oftmals im Verlauf ihrer IM-Arbeit immer 601 Vgl. Bericht, HA II/SR 3, 12.3.1959. Ebenda, S. 135. Laut diesem Bericht waren es bis 1959 Zuwendungen in Höhe von 1 740 DM. 602 Beurteilung, HA II/SR 3, 28.11.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 199 f.; vgl. Bericht, HA II/SR 3, 11.12.1958. Ebenda, S. 201–204, hier 203. 603 Vgl. Bericht, HA II/SR 3, 11.12.1958. BStU, MfS, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 1, S. 201– 204, hier 201. 604 Treffbericht, HA II/SR 3, 10.12.1958. Ebenda, S. 77 f., hier 77. 605 Treffbericht, HA II/4, 16.2.1965. Ebenda, 285 f., hier 286. 606 Abschlussbericht, HA II/1, 15.12.1986. BStU, AIM 13009/86, P-Akte Bd. 4, S. 147–149.
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signifikanter. Die Höhe der Entlohnung sowie die geldlichen Forderungen der IM belasteten die Zusammenarbeit zwischen dem Staatssicherheitsapparat und dem IM und erzeugten auf beiden Seiten Unmut. Die Reglementierungen, zu denen das MfS griff, um die Forderungen des GM zu bremsen, werden auch am Beispiel des GM »Konsul« deutlich, der im September 1952 angeworben worden war und im Frühjahr 1954 nach einer Inhaftierung wieder für die Hauptabteilung II tätig werden sollte. Doch die gewünschte Zusammenarbeit erwies sich als schwierig, da »Konsul« sich »trotz aller Bemühungen« ständig sträubte, Aufträge durchzuführen, und in den Augen des MfS »nicht zu erfüllende Geldsummen«607 verlangte. Als Einsatzkraft scheint er für das MfS allerdings unentbehrlich gewesen zu sein: Die Hauptabteilung III sorgte im Frühjahr 1955 für seine vorzeitige Entlassung aus der Haft, in der er sich seit Juni 1954 wegen Betrugs befand, und zahlte ihm in den folgenden zwei Jahren (April 1955 bis Juni 1957) über 15 000 M/DDR und knapp 6 000 DM/West. So erhielt er auch im Mai 1955, kurz nach der Entführung von Otto Schneider, eine Prämie von 2 000 DM/West »für geleistete Arbeit«.608 Es gab hinsichtlich der Geldzahlungen jedoch eine ähnliche Reglementierung wie im Fall des GM »Kleist«: Der GM erhielt nur nach erfolgreich abgeschlossenen Aufträgen eine Entlohnung.609 Die Ansprüche von Entführer-IM, die als »operativ wertvoll« galten, wurden im Staatssicherheitsapparat durchaus ernst genommen. Zwar bediente man nicht arglos alle geäußerten Forderungen, sondern suchte nach Kompromissen oder Strategien zur Einschränkung der gestellten Ansprüche. Die Schwelle der Akzeptanz scheint jedoch recht hoch gewesen zu sein. Und auch in einer weiteren Hinsicht zeigte sich das MfS tolerant: Kriminelle Tätigkeiten außerhalb der IM-Arbeit waren zwar oft ein Ärgernis, wurden aber bis zu einem gewissen Grad toleriert oder sogar gedeckt. Bei dem GM »Konsul« dauerte es fast 16 Jahre, in denen er mehrfach inhaftiert war, bis das MfS die Verbindung zu ihm aufgrund seiner zahlreichen kriminellen Delikte und laufenden Dekonspiration abbrach – obwohl man MfS-intern bereits im Mai 1955 monierte, dass der GM »Konsul« seine Beziehungen zum SfS dazu benutze, um straffrei Verbrechen größeren Stils durchzuführen. Betrug, illegaler Handel mit optischen Geräten und gestohlenen Autos waren sein Geschäft. Dabei war es ihm gelungen, zwei Kriminalangestellte der Volkspolizei durch Bestechung als Komplizen zu gewinnen. Als er im Juni 1954 schließlich doch verhaftet wurde, unternahm die ihn führende Hauptabteilung II angesichts des Umfangs seiner Verbrechen keinen Versuch, ihn aus der Haft zu holen. Ein 607 Bericht, 28.5.1955. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 3a, S. 43–46, hier 44. 608 Vgl. Aufstellung ausgezahlter Geldbeträge, HA III/4, 23.4.1955–29.6.1957. BStU, AIM 271/58, P-Akte Bd. 2, S. 11–13; Quittung, HA III/4, 13.5.1955. Ebenda, S. 25. 609 Vgl. Aktenvermerk, HA III/4, 1.9.1955. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 2, S. 79.
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knappes Jahr später erledigte dies die Hauptabteilung III, die ihn als Entführer-IM benötigte.610 Seine Verbindungen zum MfS nutzte der GM »Konsul« in den folgenden Jahren immer wieder zur Deckung von kriminellen Machenschaften. Bis 1961 ermittelten Polizeiorgane und Staatssicherheitsdienst in der DDR laufend gegen ihn wegen Betrugs, Hehlerei und illegalem Handel. Im Jahre 1961 wurde er schließlich zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt wegen Betrugs in Verbindung mit Anstiftung zur »Republikflucht«, aufgrund guter Führung aber vorzeitig entlassen. Die nächste Verurteilung mit einem Strafmaß von einem Jahr und vier Monaten Gefängnis erfolgte schon 1965 wegen Betrugs und Spekulation. Im Dezember 1966 wurde er aus der Haft entlassen. Die Leitung der Hauptabteilung II resümierte 1968 in ihrem Abschlussbericht: »Zur Zeit liegen bei der VP bereits wieder Hinweise auf kriminelle Handlungen des IM vor, in deren Ergebnis er bearbeitet wird. Seitens des MfS besteht zum GM auf Grund seines Verhaltens und seiner kriminellen Handlungen seit Jahren kein persönlicher Kontakt mehr. Die Verbindungen zu ihm wurden abgebrochen.«611 So wie der GM »Konsul« wurden viele der Entführer-IM für den Staatssicherheitsapparat zum Sicherheitsrisiko. Aufgrund ihrer Kenntnisse über die speziellen Methoden des MfS zögerte es allerdings oftmals, sich von diesen IM zu trennen, wie im folgenden Kapitel dargelegt wird.
IX.
Nach dem Einsatz – Laufbahnen der Entführer-IM im MfS
Die Beteiligung an den Entführungsaktionen des MfS veränderte auch das Leben der Entführer-IM. Nicht selten mussten sie nach einer Entführungsaktion den Wohnort wechseln. Besonders bei den Entführer-IM des zweiten und dritten Typs war dieser Schritt oft unumgänglich, denn aufgrund ihrer engen Beziehung zum Entführungsopfer standen sie schnell im Visier der bundesdeutschen Ermittlungsbehörden. West-IM mussten ihr Lebensumfeld in West-Berlin oder der Bundesrepublik verlassen und wurden mithilfe des MfS in die DDR umgesiedelt. DDR-IM, die für ihren Einsatz Monate oder gar Jahre in West-Berlin oder in der Bundesrepublik gelebt hatten, wurden in die DDR zurückgeholt. Mitunter mussten sie auch innerhalb der DDR ihren Wohnort wechseln, wenn ihre Arbeit für das MfS im alten Wohnort durch eigenes und fremdes Verschulden bekannt geworden war. So kehrte der im Bezirk Magdeburg lebende GM »Deckert« nach seiner Beteiligung an der Entführung eines Mitarbeiters des bundesdeutschen Verfassungsschutzes im 610 Vgl. Bericht, MfS, 28.5.1955. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 3a, S. 43–46, hier 45 f. 611 Abschlussbericht, HA II Leitung, 30.4.1968. BStU, MfS, AIM 271/58, P-Akte Bd. 4, S. 350 f., hier 351. Vgl. Bericht, MfS, 28.5.1955. Ebenda, P-Akte Bd. 3a, S. 43–46.
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Juli 1954 zunächst in seinen Heimatort zurück. Doch aufgrund der »unsachgemässe[n] Handlungsweise der Bezirksverwaltung Magdeburg« – so das Urteil der Hauptabteilung II612 – musste er umziehen. Was war passiert? In seinem Heimatort hatte sich das Gerücht verbreitet, er sei ein Verbrecher und Westagent. Der Urheber war der Nachbar des GM, der mit »Deckert« zerstritten war und ihn öfter mit einer verdächtigen Person gesehen hatte. Das MfS hatte »Deckert« auf diese Person angesetzt und zudem das Gerücht genährt, indem es den GM häufig mit Pkw aufsuchte. Die Anschuldigungen des Nachbarn führten zu Ermittlungen der Kriminalpolizei gegen den GM »Deckert«, die vonseiten der MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg nicht verhindert werden konnten. Darüber hinaus fühlte sich der Nachbar zu eigenen Maßnahmen berechtigt und schlug die Tür und Fensterscheiben der Wohnung des GM mit Steinen ein. Der GM »Deckert« trug sogar Kopfverletzungen davon. Die Strafanzeigen des GM bearbeitete die Kriminalpolizei jedoch nicht, da es sich bei dem Nachbarn wiederum um eine Vertrauensperson der Kriminalpolizei handelte. Abgesehen von diesen Schikanen konnte »Deckert« seine Gaststätte unter diesen Umständen nicht mehr weiterführen. Die Hauptabteilung II holte den GM daraufhin im November 1955 mit seiner Frau nach Ost-Berlin und unterstützte ihn beim Kauf einer Gaststätte, die als Trefflokal genutzt werden sollte.613 Die Tätigkeit als Gastwirt diente zugleich der Tarnung, da »Deckert« weiterhin Aufträge für das MfS in der Bundesrepublik erledigte, allerdings nur noch in kleinerem Umfang. Seine Einsätze im Westen stoppte das MfS schließlich, als er bei einer Kurierfahrt im April 1957 verhaftet und nach acht Wochen aus Mangel an Beweisen entlassen wurde. Nach seiner Rückkehr nach Ost-Berlin erteilte ihm das MfS ein Verbot, westdeutschen Boden zu betreten.614 Das Leben nach der Beteiligung an einer Entführung konnte zum Versteckspiel werden, wie das Beispiel des GM »Ringer« zeigt, der zu den Entführern von Walter Linse gehörte. Nach der aufsehenerregenden Aktion im Juli 1952 konnte »Ringer« mit seiner Familie nicht mehr in Ost-Berlin wohnen bleiben. Unter falschen Namen lebten sie in Erfurt, Mühlhausen und seit 1955 schließlich in Leipzig. Das MfS unterstützte ihn in der ersten Zeit mit 1 000 M/DDR monatlich. In den Jahren 1953 bis 1956 schwankte die monatliche Untersützung zwischen 500 und 600 M/DDR und sank im November 1956 zunächst 612 Bericht, HA II/4, 22.10.1956. BStU, MfS, AIM 6805/61, A-Akte Bd. 3, S. 196–198. 613 Vgl. Bericht, HA II/4, 22.10.1956. Ebenda, S. 196–198; Schreiben, GM »Deckert« an Leitung des MfS, 22.10.1956. Ebenda, S. 154–156, hier 155 f.; Vorschlag, HA II/4, 2.12.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 2b, S. 241 f.; Antrag, HA II/4, 10.1.1956. Ebenda, S. 253. Die HA II begründete die Umsiedlung des GM im April 1956 damit, dass eine Person entlassen werden sollte, zu deren Verhaftung »Deckert« beigetragen habe. Vgl. Perspektivplan, HA II/4, 2.4.1956. Ebenda, P-Akte, S. 60. 614 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/4, 25.1.1957. BStU, MfS, AIM 6805/61, P-Akte, S. 110 f.; Beurteilung, HA II/4, 29.12.1958. Ebenda, S. 152.
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auf 400 M/DDR, im April 1957 auf 300 M/DDR.615 Der GM »Ringer« ließ sich mit diesem Geld ruhigstellen. Als das MfS allerdings bei einem Treffen im Mai 1957 ankündigte, die monatlichen Zahlungen einzustellen, erklärte er wütend, dass er auf alles Geld verzichten würde, wenn er wieder unter seinem richtigen Namen leben und nach Berlin zurückgehen könne. In einem Brief an seinen früheren Führungsoffizier in Berlin verlieh »Ringer« dieser Forderung im Oktober 1958 nochmals Nachdruck. Sein Wunsch wurde erfüllt. Die dortige Hauptabteilung V traf alle nötigen Vorbereitungen – sie besorgte beispielsweise eine Wohnung und sorgte für die Umschreibung des Namens –, sodass die Familie im Juli 1959 nach Ost-Berlin zurückkehren konnte.616 Da knapp die Hälfte der 50 erfassten Entführer-IM in West-Berlin oder in der Bundesrepublik lebte, bedeutete ein Wohnortwechsel die Übersiedlung in die DDR. 13 dieser West-IM zogen von West nach Ost, bei zwei Weiteren sah das MfS einen solchen Wohnortwechsel vor, aber diese IM weigerten sich. Einer von ihnen war der GM »Rosenberg«, der bereits 1950 an zwei Entführungen beteiligt war und seit 1951 als GM für das MfS weitere Entführungsaktionen vorbereitete sowie oft als Ermittler im Westen tätig war. Im März 1960 plante das MfS die Übersiedlung des in Berlin-Charlottenburg lebenden GM nach Ost-Berlin, da ein befreundeter GM in West-Berlin festgenommen worden war. Gemeinsam sollten sie im November 1955 den ehemaligen Leiter des DP-Ostbüros im betrunkenen Zustand in einem Koffer aus West-Berlin entführen. Und da »Rosenberg« schon mehrmals von der bundesdeutschen Polizei vernommen worden war, befürchtete das MfS nun eine erneute Festnahme. »Rosenberg« sah jedoch keine Gefahr: Zum einen war er sich sicher, dass der festgenommene GM »Adam« ihn nicht verraten würde, zum anderen könne man ihm gegebenenfalls nichts nachweisen. Auf das Angebot der Übersiedlung ging er nicht ein. Tatsächlich arbeitete er unbehelligt noch bis 1964 615 Vgl. Charakteristik, HA V, 1.5.1953. BStU, MfS, AIM 1640/61, P-Akte, S. 40–43, hier 42; Aktenvermerk, HA V/5, 30.4.1957. Ebenda, S. 168 f. 616 Vgl. Bericht, BV Leipzig Abt. V, 20.5.1957. BStU, MfS, AIM 1640/61, P-Akte, S. 173; Schreiben, GM »Ringer« an »Otto«, Oktober 1958. Ebenda, S. 227; Schreiben, HA V an BV Leipzig Abt. V, 18.4.1959. Ebenda, S. 245 f.; Abschlussbericht, HA V/5, 24.2.1961. Ebenda, S. 358 f. Als »Ringer« 1979 in einem anderen Zusammenhang Kontakt zu einem MfS-Mitarbeiter bekam, beschwerte er sich verbittert, dass das MfS sich seit 20 Jahren nicht mehr um ihn gekümmert habe, ihn für seine Leistungen schlecht entlohnt und diverse Versprechungen nicht eingehalten habe. Zugleich bot er an, erneut als IM tätig zu werden, und bekundete seine Bereitschaft, dabei auch sein Leben zu riskieren. Das MfS besorgte ihm umgehend einen neuen Arbeitsplatz als Hausmeister im Ministerium für Außenhandel, um seine finanzielle Lage aufzubessern. »Ringer« gab die Arbeitsstelle nach einem Jahr auf, das MfS brach 1981 den Kontakt zu ihm wieder ab. Er starb 1985. Vgl. Bericht, HA XVIII/7, 15.11.1979. BStU, MfS, AKK 11442/86, S. 34–36; Bericht, HA XVIII/7, 28.11.1979. Ebenda, S. 39 f.; Bericht, HA XVIII/7, 6.12.1979. Ebenda, S. 58 f.; Bericht, HA XVIII/7, 8.12.1979. Ebenda, S. 53; Treffbericht, HA XVIII/7, 23.12.1980. Ebenda, S. 147 f.; Treffbericht, HA XVIII/7, 9.1.1981. Ebenda, S. 137 f.; Information, HA XVIII/7, 11.1.1984. Ebenda, S. 163–165; Abschlussbericht, HA XVIII/7, 23.7.1986. Ebenda, S. 170.
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für das MfS in West-Berlin, bis es die Zusammenarbeit aus anderen Gründen abbrach.617 Auch der an mehreren Entführungsversuchen und an der Entführung von Heinz Brandt beteiligte GM »Norge« zeigte sich nach letzterer Aktion im Juni 1961 über seinen geplanten Abzug aus West-Berlin nicht gerade begeistert. Diese Vorsichtsmaßnahme sollte zunächst nur vorläufig sein. Nach zehntägigem Aufenthalt in Ost-Berlin sollte »Norge« mit seiner Ehefrau, die ebenfalls als GM für das MfS registriert war, einen längeren Urlaub in Italien verbringen.618 Diesen traten sie auch tatsächlich an, siedelten danach aber auf Weisung der Leitung des MfS doch in die DDR über. Denn »Norge« stand bereits durch die Entführungsversuche im Visier der bundesdeutschen Polizei, und das MfS wollte nun seine mögliche Enttarnung im Rahmen der Ermittlungen im Fall Brandt nicht riskieren, da damit der »Wert der Aktion […] ungültig« werden würden. Mit dem Kauf eines Hauses für 25 000 M/DDR und einer Einrichtung im Wert von 15 000 M/DDR versuchte das MfS, ihren beiden West-IM den Neustart in der DDR so angenehm wie möglich zu gestalten: »Insgesamt dürften 40 000 DM ausreichen, um die beiden GM zufrieden zu stellen. Es ist angebracht darauf hinzuweisen, daß die Summe den bisherigen Erfahrungen entspricht und daß die GM keine Forderungen an uns stellen.«619 Die Kosten für den Kauf und die Einrichtung des Hauses sollten sich letztlich jedoch auf rund 55 000 M/DDR belaufen.620 Die Aussicht auf ein eigenes, komplett eingerichtetes Haus war notwendig, denn es kostete das MfS einige Überzeugungskraft, den GM »Norge« zum Umzug in die DDR zu bewegen. In dem Glauben, nach zwei bis drei Jahren im Interesse des MfS nach West-Berlin zurückkehren zu können, stimmte »Norge« schließlich zu. Vor diesem Hintergrund musste das Verschwinden des GM »Norge« und seiner Ehefrau aus West-Berlin mit einer entsprechenden Legende versehen werden – mit großem Aufwand: Auf dem Rückweg von Italien inszenierten die beiden GM vor den Augen des Schwiegervaters einen heftigen Ehekrach mit dem Ergebnis, dass »Vera« in München blieb, um sich dort angeblich eine neue Existenz aufzubauen. Letzteres ließ »Norge« nach seiner Rückkehr auch Verwandte, Bekannte und Nachbarn wissen, als er in 617 Vgl. Bericht, HA V/3, 2.3.1960. BStU, MfS, AIM 6957/63, A-Akte Bd. 3, S. 16 f.; Treffbericht, HA V/3, 3.3.1960. Ebenda, S. 18 f.; Treffberichte, HA V/3, 21.10.1959–16.7.1963. Ebenda, A-Akte Bd. 3; Treffberichte, HA V/5, 29.7.1963–8.4.1964. Ebenda, A-Akte Bd. 4; Bericht, HA V/3, 1.11.1955. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 125 f.; Bericht, HA V/2, 18.11.1955. BStU, MfS, HA XX Nr. 1662, S. 1–21, hier 8–10. 618 Vgl. Aktenvermerk, HA V/5, 22.6.1961. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 2a, S. 100. Detailliert plante das MfS die kurze Rückkehr nach West-Berlin Anfang Juli 1961 und den sofortigen Aufbruch nach Italien. Vgl. Bericht, HA V/5, 6.7.1961. Ebenda, S. 114–118. 619 Bericht, HA V/5, 26.8.1961. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 2a, S. 119 f. Vgl. Bericht, HA V/5, 21.9.1961. Ebenda, S. 124–128. 620 Vgl. Aktenvermerk, HA V/5, 9.10.1961. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 2a, S. 136.
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West-Berlin begann, die Wohnung aufzulösen. Zudem bekundete er gegenüber seinem Schwiegervater, dass er in illegale Geschäfte verstrickt sei und die Gefahr bestehe, beim Durchfahren der DDR festgenommen zu werden. Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Vorkehrungen nahm allerdings der Schwiegervater das spurlose Verschwinden seiner Tochter und seines Schwiegersohnes im September 1961 nicht hin und erstattete sogar eine Vermisstenanzeige. Das MfS ließ ihm daraufhin einen Brief des GM »Norge« über Österreich zukommen, indem dieser über eine bevorstehende Auswanderung nach Übersee berichtete.621 »Norges« Hoffnung, nach West-Berlin zurückkehren zu können, erfüllte sich nicht. Er starb 1969 in der DDR. Bei Entführer-IM des ersten Typs wie »Norge« zögerte das MfS zumeist mit dem Abzug aus dem Westen. Denn oftmals handelte es sich für den DDRStaatssicherheitsapparat um wertvolle Einsatzkräfte, die nur bei einer unmittelbar drohenden Enttarnung abgezogen werden sollten. Entführer-IM des zweiten und dritten Typs, deren Bekanntschaft mit dem Opfer und mitunter sogar das Zusammensein zur Tatzeit bei Personen im Westen bekannt war, verschwanden hingegen zumeist zeitgleich mit ihrem Opfer aus West-Berlin oder der Bundesrepublik. Zum Teil wurden diese Entführer-IM sodann noch in die propagandistische Aufbereitung einer Entführung einbezogen, wie der Fall des GM »Herbert« veranschaulicht. Mit seiner Hilfe konnte das Einsatzkommando des GM »Donner« im November 1955 auf einer Autobahn in der Nähe von Kassel einen Mitarbeiter des dänischen Geheimdienstes überfallen und nach Ost-Berlin entführen. Schnell war im Westen bekannt, dass der verschwundene Geheimdienstmitarbeiter mit »Herbert« unterwegs gewesen war, und die Boulevardzeitung BZ verkündete, dass dieser ein »Menschenräuber« sei, der ein »meisterhaft getarntes Doppelleben« führe.622 Das MfS ließ hingegen über den ADN erklären, dass der dänische Geheimdienstmitarbeiter und »Herbert« auf dem Weg von der Bundesrepublik nach West-Berlin von der Verkehrspolizei kontrolliert und wegen Waffenbesitzes festgenommen worden seien. »Herbert«, der seine Taten bereue, wolle nun über alle »Umtriebe der imperialistischen Geheimdienste« Auskunft geben.623 Da »Herbert« aus Polen stammte und seine Familie noch dort lebte, kehrte er auf Weisung des MfS im Dezember 1955 dorthin zurück. Das Ansinnen des MfS, dass der GM 621 Als GM »Vera« Anfang August in einem Zug von München nach Berlin von einem Bekannten gesehen wurde, der daraufhin »Norge« ansprach, musste das MfS die Legende noch mit der Existenz eines angeblichen Liebhabers ergänzen. Vgl. Bericht, HA V/5, 21.9.1961. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 2a, S. 124–128; Bericht, GM »Norge«, 6.9.1961. Ebenda, S. 129–135; Bericht, GM »Norge«, 21.10.1961. Ebenda, S. 138 f.; Treffbericht, HA V/5, 9.8.1961. Ebenda, A-Akte Bd. 5a, S. 68–70; Treffbericht, HA V/5, 18.8.1961. Ebenda, A-Akte Bd. 5a, S. 71–74; Aktenvermerk, HA V/5, 2.1.1962. Ebenda, S. 96–99; Aktenvermerk, HA V/5, 16.2.1961. Ebenda, S. 94 f. 622 Es ist Menschenraub. In: BZ, 26.11.1955; vgl. Neues zum Fall R. In: BZ, 28.11.1955. 623 Aktenvermerk, MfS, o. D. BStU, MfS, AOP 1195/57, Bd. V/4, S. 66 f.
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auch »von den polnischen Genossen zu propagandistischen Zwecken ausgenutzt werden«624 könne, erfüllte sich jedoch nicht. Ganz im Gegenteil. Kurz nach seiner Ankunft in Polen beschwerte sich »Herbert« per Brief beim MfS: »Meine Ankunft schlug hier wie eine Bombe ein, eines muß ich Ihnen einleitend gleich sagen, der Artikel aus der BZ war hier bereits bekannt. […] Ich war noch nicht da und die Nachricht war schon im ganzen Ort rum. Nach meiner Ankunft sind aus dem Entführten 3 Ermordete und einige Dutzend Verschickte nach Sibirien geworden. Sie können sich also unschwer meine Lage vorstellen. Da ich schweigen muß, sind mir die Hände gebunden.«625
Er habe dieses Szenario ja schon vor seiner Abreise vorausgesagt und sei daher nicht überrascht. Aber er sei überzeugt, dass man in West-Berlin bereits wüsste, dass er wieder in seinem Heimatort sei und diese Rückkehr daher sinnlos sei. Seiner Meinung nach müsse die polnische Bevölkerung am besten die Wahrheit erfahren. Irgendetwas müsse jedenfalls geschehen, denn seine Lage sei äußerst schwierig.626 Erst Ende des Jahres 1957 durfte der GM »Herbert« mit seiner Familie in die DDR übersiedeln.627 Die Übersiedlungen gingen nicht immer auf die Initiative des Staatssicherheitsapparates zurück. Zum Teil wandten sich auch die Entführer-IM mit der Bitte um einen Umzug an das MfS, wie der GM »Lieber«, der in den Jahren 1953 und 1954 an zwei Entführungsaktionen beteiligt war. Kurz nach der zweiten Entführung tauchte »Lieber« in sehr nervösem Zustand beim Treffen mit seinem Führungsoffizier auf und berichtete diesem, dass er von der bundesdeutschen Kriminalpolizei eingehend vernommen worden sei. Da es dieser nicht gelungen sei, das von ihm angegebene Alibi zu widerlegen, habe man ihn laufen lassen. Der Führungsoffizier konnte »Lieber« beruhigen. Bereits am nächsten Tag meldete sich dieser jedoch erneut und teilte mit, dass er in der Nacht West-Berlin verlassen habe, nachdem er nochmal von der Kriminalpolizei aufgesucht worden sei. Das MfS akzeptierte diese eigenmächtige Flucht und kümmerte sich um eine Wohnung, eine Zuzugsgenehmigung für »Liebers« Verlobte und das finanzielle Kapital für den Neubeginn.628 In der DDR 624 Bericht, HA II/4, 14.12.1955. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 68 f., hier 68. 625 Brief, GM »Herbert« an »Gen. Hoffmann«, 11.1.1955. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 100–103, hier 101. 626 Vgl. ebenda. 627 Abschlussbericht, HA II/4, 26.2.1960. BStU, MfS, AIM 8734/63, P-Akte, S. 166–168, hier 166 f. Im April 1958 beschwerte er sich per Eingabe beim MfS über Probleme nach seiner Rückkehr in die DDR (Wohnungsverhältnisse, Arbeitsplatz etc.). Vgl. Eingabe, GM »Herbert« an MfS, 21.4.1958. Ebenda, S. 144–146. Nach Polen wurde ebenfalls einer der Entführer von Walter Linse ausgesiedelt: Lothar Borowski lebte seit 1953 in Polen, bis er im November 1956 wieder in die DDR zurückkehrte. Vgl. Mitteilung, HA V, 25.3.1957. BStU, MfS, AP 3567/80, S. 3 f. 628 Vgl. Treffbericht, HA V/4, 9.9.1954. BStU, MfS, AIM 4861/65, A-Akte Bd. 4, S. 73; Vorschlag, HA V/4, 19.11.1954. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 42; Antrag, GM »Lieber«, 6.12.1954. Ebenda, S. 44; Stellungnahme, HA V/4, 14.12.1954. Ebenda, S. 46; Schreiben, HA V/4 an HA V, 7.12.1954.
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arbeitete »Lieber« weiterhin als IM für das MfS, erst im Juli 1980 brach das MfS die Verbindung ab. Mit seiner 27-jährigen Dienstzeit ist der IM »Lieber« unter den erfassten Entführer-IM keine Seltenheit. Fünf weitere Entführer-IM waren ebenfalls über 25 Jahre für das MfS tätig. Dieser lange Zeitraum der Kooperation ist aber durchaus bemerkenswert, denn durchschnittlich währte die inoffizielle Zusammenarbeit der DDR- und West-IM mit dem MfS etwa 15,5 Jahre.629 IX.1 »Auf Kontakt« – Inoffizielle Zusammenarbeit nach Entführungsaktionen Die Kooperation von IM und MfS dauerte nach Berechnungen von Helmut Müller-Enbergs in der Regel sechs bis zehn Jahre – sowohl bei den DDR-IM als auch bei den West-IM. Bei ungefähr 20 Prozent der DDR-IM sei die Zusammenarbeit nach ein bis drei Jahren beendet worden, bei circa 13 Prozent nach vier bis fünf Jahren. Rund 67 Prozent der DDR-IM seien jedoch mehr als sechs Jahre inoffiziell tätig gewesen. Bei den West-IM liege der Anteil derjenigen, die nur ein bis drei Jahre bei der HV A registriert waren, zwar bei rund 30 Prozent. Fast 37 Prozent hätten aber über zehn Jahre für die HV A gearbeitet, darunter rund 24 Prozent 11 bis 20 Jahre, rund 10 Prozent 21 bis 30 Jahre und rund 3 Prozent 31 bis 40 Jahre.630 Georg Herbstritt errechnete für die rund 1 500 West-IM Ende 1988 eine durchschnittliche Dienstdauer von gut 13 Jahren bzw. 15 ½ Jahren, wenn man nur die herausgehobenen IMKategorien A- und O-Quellen, Residenten und IM für besondere Aufgaben (IMA) betrachte. Im Hinblick auf die von ihm untersuchten fast 500 West-IM dokumentiert er folgende Verteilung: bei 15 Prozent dauerte die inoffizielle Tätigkeit ein bis fünf Jahre, bei fast 16 Prozent sechs bis zehn Jahre, bei fast 21 Prozent elf bis 15 Jahre, bei rund 23 Prozent 16 bis 20 Jahre, bei fast zwölf Prozent 21 bis 25 Jahre, bei rund neun Prozent 26 bis 30 Jahre und bei fünf Prozent über 31 Jahre.631 In der Auswahl der 50 Entführer-IM632, die knapp zur Hälfte aus West-IM besteht, waren 17 IM bis zu fünf Jahre lang als IM registriert, davon jeweils fünf unter zwei Jahre und zwei bis drei Jahre sowie sieben IM vier bis fünf Ebenda, S. 45; Schreiben, HA V an HA II, 4.1.1955. Ebenda, S. 47; Schreiben, HA V/1 an HA Verwaltung und Wirtschaft, 29.1.1955. Ebenda, S. 48. 629 Vgl. Müller-Enbergs: IM 3, S. 105; Herbstritt: Bundesbürger, S. 125. 630 Vgl. Müller-Enbergs: IM 3, S. 104 f.; ders.: IM 2, S. 152. Die Berechnungen zu den WestIM beruhen auf Statistikbögen der HV A von 1988, in denen rund 1 500 West-IM erfasst sind. 631 Vgl. Herbstritt: Bundesbürger, S. 125 f. 632 Die folgenden Prozentzahlen errechnen sich aus einer Gesamtmenge von 46, da sich bei 4 der untersuchten 50 IM der Zeitpunkt des Abbruchs der Verbindung zum MfS nicht genau feststellen lässt.
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Jahre. Eine sechs- bis zehnjährige Zusammenarbeit weisen 14 der analysierten Entführer-IM auf, von denen acht IM zwischen acht und zehn Jahren Kontakt zum MfS hielten. Etwas größer ist der Anteil der Entführer-IM, die länger als elf Jahre mit dem MfS in Verbindung standen: Vier von ihnen wurden elf bis 15 Jahre, drei 16 bis 20 Jahre, zwei 21 bis 25 Jahre, fünf 26 bis 30 Jahre und einer sogar 31 Jahre als IM geführt. Im Mittel wiesen die Entführer-IM eine Dienstdauer von gut zehn Jahren auf, dabei liegt der Mittelwert unter den Entführer-IM des ersten Typs bei zwölfeinhalb Jahren, unter den EntführerIM des zweiten und dritten Typs bei sieben und acht Jahren. Bei einem Großteil der erfassten Entführer-IM hielt das MfS noch mehrere Jahre nach der jeweiligen letzten Entführungsaktion Kontakt und ließ sie auch weiterhin als IM arbeiten – in unterschiedlicher Intensität. Schließlich hatten diese IM gezeigt, dass sie bereit waren, auch außergewöhnliche Aufträge für das MfS zu erledigen. Das qualifizierte sie zweifelsohne für eine weitere IMTätigkeit – wenn möglich in der Bundesrepublik, aber größtenteils in der DDR. Zumal diese speziellen Einsatzkräfte durch die Beteiligung an den Entführungsaktionen zumeist eng an das MfS gebunden waren und die DDRStaatssicherheit ein besonderes »Faustpfand« gegen sie in Händen hatte. Die Aufrechterhaltung der Verbindung zu den Entführer-IM diente jedoch nicht nur der operativen Arbeit, die in vielen Fällen in den folgenden Jahren eher abnahm, sondern zum großen Teil auch der Kontrolle und Überwachung. Denn durch ihr spezielles Einsatzgebiet verfügten diese IM über sensible Informationen. Eine stete Überwachung war zudem oftmals angesichts des kriminellen Hintergrunds vieler Entführer-IM erforderlich. Fast die Hälfte der erfassten Entführer-IM633 standen nach der letzten Entführungsaktion noch bis zu fünf Jahre mit dem MfS in Verbindung, davon sieben unter zwei Jahre, elf zwischen zwei und drei Jahre und fünf zwischen vier und fünf Jahre lang. Nach fünf bis zehn Jahren brach das MfS bei zwölf IM die Verbindung ab, bei 13 Entführer-IM erst nach (weit) mehr als zehn Jahren. Acht dieser 13 IM waren noch 20 bis 30 Jahre nach ihrer letzten Entführungsaktion als IM registriert.634 Einer von ihnen war der GM »Lieber«, der im September 1954 nach seiner zweiten Entführungsaktion vor den Ermittlungen der bundesdeutschen Kriminalpolizei nach Ost-Berlin geflohen war. Das MfS plante zunächst, ihn in der DDR hauptamtlich als Ermittler einzusetzen und registrierte ihn im Dezember 1955 als GHI. Zur Tarnung seiner MfS-Tätigkeit erhielt er einen Ausweis des »Verbandes der deutschen Presse«,
633 Die folgenden Angaben basieren auf einer Grundmenge von 48 IM, da bei 2 der untersuchten 50 Entführer-IM die nötigen Angaben fehlen. 634 5 IM-Vorgänge wurden zwischen 21 bis 25 Jahre nach der jeweils letzten Entführungsaktion archiviert, 3 IM-Vorgänge nach 26 bis 30 Jahre.
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der ihn als freien Mitarbeiter der »Zentralen Bildstelle« auswies.635 Die ihn führende Hauptabteilung V/4 zeigte sich anfangs zufrieden mit »Liebers« Arbeit als hauptamtlicher IM, die in erster Linie Ermittlungen und Beobachtungen gegen Personen in Ost-Berlin beinhaltete. Immerhin lieferte er dem MfS von Januar 1955 bis März 1956 rund 220 Berichte. Als GHI erhielt er zudem die Aufgabe, eine Gruppe von IM zu schaffen, die für Beobachtungen und Ermittlungen eingesetzt werden sollte. Doch im April 1956 erfolgte eine erneute Umregistrierung, eine Art Zurückstufung zum GI. Hierbei handelte es sich um eine Erziehungsmaßnahme, denn der »durch sein lockeres Leben in Westberlin verwöhnt[e]« IM hatte gegen die tschekistische Disziplin verstoßen, indem er sich verschuldet und (für den Geschmack des MfS) zu viele Kontakte zu Frauen gepflegt hatte. Ferner hatte er in seinem Wohngebiet erzählt, dass er für das MfS arbeite und von diesem seine Wohnung erhalte. In der folgenden Zeit arbeitete »Lieber« als Anstreicher im TransformatorenWerk »Karl Liebknecht« und berichtete dem MfS über das Werk und über Bekannte.636 Aber in weit geringerem Umfang als zuvor: Seine IM-Akte enthält aus dem Zeitraum Februar 1956 bis Mai 1958 nur rund 40 Berichte. Besondere Ermittlungsaufträge erhielt er nicht mehr, da er diese in den Augen der MfS-Diensteinheit »nicht zur Genüge ausführen konnte«. Die Treffs, die in größeren Abständen durchgeführt wurden, trugen für das MfS nur noch »informatorischen Charakter, da der GI keine Perspektive mehr für uns hat«.637 Das Interesse des MfS an seinem GI wuchs jedoch wieder, als dieser 1958 Archivleiter im DEFA-Studio für die Wochenschau und Dokumentarfilme wurde und sich damit neue Perspektiven eröffneten. Zur Sicherung des Archivs sollte »Lieber« nun die dortigen Mitarbeiter überwachen und ihre Zuverlässigkeit einschätzen sowie über die Arbeit in der Kampfgruppe und die Stimmung im Betrieb informieren. Darüber hinaus wurde er fortan auch wieder zur Beobachtung und Bearbeitung von »feindlich tätigen Personen« in der DDR sowie zur Aufklärung von Personen eingesetzt, die angeworben werden sollten. Bei den ›Zielpersonen‹ handelte es sich hauptsächlich um Frauen. Der GI »Lieber« bewährte sich, erfüllte die Aufträge zur Zufriedenheit der Hauptabteilung V bzw. Hauptabteilung XX und zeigte im gewünschten 635 Vgl. Charakteristik, HA V/4, 9.11.1954. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 40; Vorschlag, HA V/4, 19.11.1954. Ebenda, S. 42. 636 Beurteilung, HA V/1, 14.5.1958. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 139. Vgl. Beurteilung, HA V/4, 14.4.1955. Ebenda, S. 49; Einschätzung, HA V/1, 12.10.1961. Ebenda, S. 183– 186, hier 184; ca. 50 Berichte, GM »Lieber«, und ca. 30 Treffberichte, HA V/1, 21.1.–25.4.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 5, S. 4–185; ca. 70 Berichte, GM »Lieber«, und ca. 13 Treffberichte, HA V/1, 29.4.–22.9.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 6, S. 5–181; ca. 100 Berichte, GM »Lieber«, und 8 Treffberichte, HA V/1, 23.8.1955–16.3.1956. Ebenda, A-Akte Bd. 7, S. 6–198. 637 Beurteilung, HA V/1, 1.8.1956. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 77; vgl. etwa 40 Berichte, GHI bzw. GI »Lieber«, und 10 Treffberichte, HA V/1, 21.2.1956–14.5.1958. Ebenda, A-Akte Bd. 8, S. 5–156.
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Maße Eigeninitiative, indem er auch ohne Auftrag Berichte verfasste und sich freiwillig zu Sondereinsätzen meldete. Als einziges Manko galt sein starkes finanzielles Interesse: »Seine Schwäche besteht darin, daß er besonders gut arbeitet, wenn er Geld bekommt.«638 Im Laufe der 1970er Jahre nahmen die Probleme jedoch zu: hohe Schulden, schwere Verfehlungen am Arbeitsplatz und Alkoholsucht. Seine Berichtstätigkeit hatte schon seit Mitte der 1960er Jahre abgenommen: Während er in den Jahren 1958 bis 1966 etwa 200 Berichte abgegeben hatte, waren es in den darauffolgenden acht Jahren nur noch rund 60. Im Juli 1980 entschied sich die Hauptabteilung XX schließlich zum Abbruch der Verbindung, nachdem der letzte Bericht bereits im Februar 1974 entstanden war.639 Der aus Halle stammende GM »Wenig«, der sich 1950/51 bei einer Entführungsaktion bewährt hatte, wurde nach einer Spezialausbildung für Residenten im Sommer 1954 in die Bundesrepublik geschickt, um dort für das MfS tätig zu werden. Im Gespräch mit seinem Führungsoffizier hatte er bereits bekundet, dass er sich nicht als »Stubenhocker« eigne, sondern »einmal als Partisan eingesetzt werden [möchte], um den Amerikanern zu zeigen, dass die Arbeiterklasse fähig ist ihre Interessen zu vertreten«.640 Das MfS trug diesem Wunsch Rechnung. Seine ersten Probeaufträge in München umfassten Ermittlungen und Beobachtungen gegen militärische Einrichtungen und die Emigrantenorganisation NTS. Der GM bewährte sich bei diesen Aufträgen, die der Überprüfung seiner Fertigkeiten und Loyalität dienen sollten und zu denen auch die Aktion »Saarbrücken« gehörte – ein Scheinattentat auf den saarländischen Ministerpräsidenten.641 Gemäß Auftrag vom 1. Februar 1955 sollte »Wenig« eine Postsendung an die Privatadresse des Ministerpräsidenten 638 Einschätzung, HA V/1, 12.10.1961. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 183–186, hier 184; vgl. Perspektivplan, HA V/1, 31.12.1959. Ebenda, S. 181; Einschätzung, GHI »Werner«, 2.3.1962. Ebenda, S. 193; Perspektivplan, HA V/1, 25.2.1963. Ebenda, S. 197 f.; Perspektivplan, HA XX/1, 28.8.1964. Ebenda, S. 200–203; Einschätzung, HA XX/1, 9.1.1968. Ebenda, S. 240; Einschätzung, HA XX/1, 16.12.1968. Ebenda, S. 242 f.; etwa 47 Berichte, GI »Lieber«, und 37 Treffberichte, HA V/1, 28.5.1958–10.12.1959. Ebenda, A-Akte Bd. 9, S. 6–172; etwa 83 Berichte, GI »Lieber«, und 45 Treffberichte, HA V/1, 20.12.1959–11.5.1962. Ebenda, A-Akte Bd. 10, S. 7– 270; etwa 40 Berichte, GI »Lieber«, und 30 Treffberichte, HA V/1, 28.3.1962–11.6.1963. Ebenda, A-Akte Bd. 11, S. 6–218; etwa 27 Berichte, GI »Lieber«, und 42 Treffberichte, HA V/1 bzw. HA XX/1, 15.6.1963–15.10.1966. Ebenda, A-Akte Bd. 12, S. 5–249; etwa 60 Berichte, GI »Lieber«, und 25 Treffberichte, HA XX/1 bzw. HA XX/7, 5.11.1966–7.2.1974. Ebenda, A-Akte Bd. 13, S. 2–199. 639 Vgl. Aktenvermerk, HA XX/7, 2.3.1972. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 273– 275; Beschluss, HA XX/7, 11.7.1980. Ebenda, S. 286. 640 Bericht, Major Schmeing, 25.5.1953. BStU, MfS, AIM 1844/70, P-Akte Bd. 1, S. 49; vgl. Beurteilung, Oberleutnant Nitschke, 8.4.1953. Ebenda, S. 69; Bericht, Oberltn. Klose, 2.1.1956. Ebenda, S. 109–111; Stellungnahme, Hptm. Klose, 16.8.1956. Ebenda, S. 112 f. 641 Vgl. Auftrag, MfS, 24.8.1954. BStU, MfS, AIM 1844/70, A-Akte Bd. 1, S. 28; Treffbericht, Hptm. Willomitzer, 5.11.1954. Ebenda, S. 33; Bericht, Hptm. Willomitzer, 30.10.1954. Ebenda, S. 34 f.; Bericht, MfS, 31.8.1954. Ebenda, S. 25–27; Schreiben, Abteilung III an Generalmajor Wolf, 28.9.1955. Ebenda, S. 49.
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Johannes Hoffmann aufgeben, die eine Sprengladung aus »Chlorsaueren Kali 60 % und Zucker 40 %« enthalten sollte. Die durch das Öffnen der Schachtel ausgelöste Explosion sei so berechnet, dass sie einen Menschen zwar verletze, aber nicht töte.642 Das geplante Scheinattentat scheiterte – nach Ansicht seines Führungsoffizieres aufgrund eines »nicht genügend datalisierten [sic!] Vorbereitungsplan[s], aber in der Hauptsache durch das eigenwillige Handeln des ›Wenig‹«643: Durch eine Beschädigung des Päckchens auf dem Postweg wurde ein Postbeamter auf den Inhalt aufmerksam und misstrauisch. Er alamierte die Polizei.644 »Wenig« war nach dem Einwerfen der Postsendung sofort in die DDR zurückgekehrt, wo er längere Zeit im »Ausbildungsobjekt D« blieb und kleinere Aufträge erledigte. Im September 1955 wurde er dann nach Hamburg entsandt, wo er militärische Einrichtungen und »strategische Verbindungen« erkunden und »zum Angriff« vorbereiten sollte. Die Herstellung und der Einsatz von Sprengstoffen und Brandsätzen ohne entsprechenden Befehl wurde ihm ausdrücklich untersagt. Im Kriegsfall würden diese Bestimmungen jedoch entfallen und dem Gegner seien »alle möglichen Schläge zu versetzen«. Zudem sollte er nach möglichen Kandidaten für eine Anwerbung als GM Ausschau halten.645 In den Jahren 1956/1957 war »Wenig« zunächst als »Werber« in der Bundesrepublik für das MfS tätig, ab Sommer 1957 dann als Instrukteur. In dieser Funktion baute er ein Netz von GM und Informanten auf, das sich über Bremen, Bremerhaven und Hamburg erstreckte und mit dessen Hilfe er Informationen über die dortigen Häfen und Werften an das MfS weitergeben konnte. In einem Bericht listete die Abteilung IV im März 1964 schließlich 22 Personen, darunter 20 Bundesbürger, die von GM »Wenig« in der Bundesrepublik angeleitet wurden. Zu diesem Zeitpunkt saß »Wenig« in bundesdeutscher Haft: Im Dezember 1962 war er beim Fotografieren eines Hafengeländes in Nordenham aufgrund seines ungeschickten Verhaltens festgenommen worden.646 Im Oktober 1964 verurteilte ihn der Bundesgerichtshof in Karlsruhe 642 Handschriftlicher Auftrag, MfS, 1.2.1955. BStU, MfS, AIM 1844/70, A-Akte Bd. 1, S. 38. 643 Bericht, Oberltn. Klose, 2.1.1956. BStU, MfS, AIM 1844/70, P-Akte Bd. 1, S. 109–111, hier 110. 644 Vgl. Telegraf, 11.2.1955. 645 Vermerk, Hptm. Klose, 2.8.1956. BStU, MfS, AIM 1844/70, A-Akte Bd. 1, S. 52–54, hier 52; vgl. Bericht, Oberltn. Klose, 2.1.1956. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 109–111; Stellungnahme, Hptm. Klose, 16.8.1956. Ebenda, S. 112 f.; Einschätzung, Abt. III, 11.1.1957. Ebenda, S. 120 f.; Schreiben, Abteilung III an Generalmajor Wolf, 28.9.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 49; Vorschlag, Referat Nord an Abt. III, 6.8.1956. Ebenda, S. 82; rund 30 Berichte, GM »Wenig«, 15 Aufträge und 40 Treffberichte, Abt. III, 3.9.1956–15.7.1957. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 3–226. 646 Vgl. Einschätzung, Abt. IV, 28.12.1959. BStU, MfS, AIM 1844/70, P-Akte Bd. 1, S. 357; Einschätzung, Abt. IV, 27.12.1961. Ebenda, S. 443; rund 25 Berichte, GM »Wenig«, 15 Aufträge und 30 Treffberichte, Abt. III, 17.7.1957–30.12.1958. Ebenda, A-Akte Bd. 3, S. 5–229; Perspektivplan, Abt. III, 3.12.1957. Ebenda, S. 68–72; ca. 25 Berichte, GM »Wenig«, 25 Aufträge und 50 Treffberichte, Abt. III, 3.1.1959–2.12.1960. Ebenda, A-Akte Bd. 4, S. 9–245; ca. 15 Berichte, GM »Wenig«, 20 Aufträge und 55 Treffberichte, Abt. IV, 29.11.1960–29.11.1962. Ebenda, A-Akte
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wegen staatsgefährdenden Nachrichtendienstes und landesverräterischer Beziehungen zu viereinhalb Jahren Gefängnis unter Anrechnung der 22-monatigen Untersuchungshaft.647 Bereits im Juli 1965 wurde »Wenig« aus der Haft entlassen und kehrte in die DDR zurück, wo er noch einige Zeit für das MfS tätig war. Im Bezirk Magdeburg observierte und nahm er Kontakt zu Personen auf, die Verbindungen in die Bundesrepublik hatten. Im Dezember 1968 schickte das MfS den GM »Wenig«, der aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes keine Perspektive mehr hatte, in den Ruhestand mit einer monatlichen Rentenzahlung von 1 000 M/DDR.648 Die ›normale‹ IM-Tätigkeit nach dem Einsatz als Entführer-IM weckte bei vielen der untersuchten IM ein Gefühl der Unzufriedenheit. Sie beschwerten sich bei ihren Führungsoffizieren über die ungewollte Außer-Dienstnahme und forderten andere Aufträge. Die 1954 angeworbene GI »Lisa König«, die in Kooperation mit der Einsatzgruppe »Donner« an einer Entführungsaktion im Dezember 1956 und einem weiteren Entführungsversuch im Oktober 1957 beteiligt war, gehört zu diesen IM. Bis September 1960 arbeitete sie als GI für die Hauptabteilung II, wo sie auf bestimmte Personen in Rostock sowie OstBerlin angesetzt und als Arbeitskraft in eine Gaststätte im Ostberliner Sperrgebiet eingeschleust wurde.649 In der Hauptabteilung VIII sollte sie dann vor allem Ermittlungen und Beobachtungen zu bestimmten Personen in Karlshorst leisten. Doch diese Aufträge führte sie in den Augen der Hauptabteilung VIII zu oberflächlich durch. Auf die entsprechende Kritik reagierte »Lisa König« stets mit dem Hinweis, dass ihr diese Aufträge zu einfach seien und sie dazu keine Lust habe, sondern lieber wieder »aktive Maßnahmen« durchführen wolle. Zudem habe ihr die Leitung der Hauptabteilung II versprochen, dass sie als GHI eingesetzt werden und ein laufendes Gehalt bekommen würde, dies aber nie erfüllt worden sei. Vergeblich belehrte ihr Führungsoffizier sie, dass sie nicht mehr in West-Berlin eingesetzt werden könne und ihre aktuellen Aufträge ebenso wichtig seien.650 Da auch die VerwarnunBd. 5, S. 8–205; Bericht, Abt. IV, 26.3.1964. Ebenda, Sonderband, S. 24–52; Bericht, Abt. IV, 18.10.1963. Ebenda, S. 53–65; Bericht, Abt. IV, 3.8.1965. Ebenda, S. 685–706. 647 Vgl. Ergänzung zum Bericht, Abt. IV, 17.11.1964. BStU, MfS, AIM 1844/70, Sonderband, S. 82–87; Beschluss, Bundesgerichtshof 3. Strafsenat, 21.8.1964. Ebenda, S. 150–153; Viereinhalb Jahre Gefängnis für Zonenagent, DPA, 15.10.1964. Ebenda, S. 278. 648 Vgl. Abschlussbericht, Abt. IV, 18.12.1968. BStU, MfS, AIM 1844/70, P-Akte Bd. 1, S. 536 f.; Beschluss, Abt. IV, 19.12.1968. Ebenda, S. 534 f.; Vermerk, Abt. IV, 28.4.1969. Ebenda, P-Akte Bd. 2, S. 99 f.; rund 80 Berichte, GM »Wenig«, und 40 Treffberichte, Abt. IV, 20.10.1966– 28.9.1967. Ebenda, A-Akte Bd. 6, S. 4–290. 649 Vgl. Bericht, HA II/SR 4, 7.3.1959. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 54; Aktenvermerk, HA II/SR 4, 4.5.1959. Ebenda, S. 196; Schlussbericht, HA VIII Operativgruppe, 13.9.1961. Ebenda, S. 261. 650 Vgl. Auskunftsbericht, HA VIII Operativgruppe, 7.12.1960. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 220–225; Einschätzung, HA VIII Operativgruppe, 4.5.1961. Ebenda, S. 241 f.; Auskunftsbericht, HA VIII Operativgruppe, 7.6.1961. Ebenda, S. 244–252, hier 248 f.; rund 45 Berichte,
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gen im Hinblick auf ihren »leichten Lebenswandel«, ihren Alkoholkonsum und ihre mehrmalige Dekonspiration gegenüber Männerbekanntschaften nicht die vom MfS erhoffte Wirkung zeigten, trennte man sich im September 1961 von der GI. Denn durch ihr Verhalten bestehe für sie die »Gefahr einer Verschleppung und für das MfS eine Dekonspiration operativer Aufgaben«.651 Auch die IM-Laufbahn des 1954 angeworbenen GM »Norge« war durch Unzufriedenheit und Beschwerden geprägt. Nachdem er nach seiner Beteiligung an der Entführung des Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt im Juni 1961 aus West-Berlin abgezogen worden war, arbeitete er noch acht Jahre mit dem MfS zusammen. Zunächst war er im Juli 1962 von der Hauptabteilung V an die Abteilung Agitation übergeben worden, wo er als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) mit der Ausarbeitung von Analysen und mit Fotoarbeiten beauftragt wurde. Da sich »Norge« mit dieser Tätigkeit unzufrieden zeigte, bekam er Sonderaufträge, »die mehr seinen Erfahrungen und Neigungen entsprachen«. Einen besonderen Auftrieb gab ihm, laut MfS-Bericht, sein Einsatz im Rahmen der Betreuung und Überwachung ehemaliger NATO-ArmeeAngehöriger in der DDR. Da diese Aufgabe in den Zuständigkeitsbereich der Hauptabteilung VII fiel, wechselte »Norge« im Mai 1965 in diese Diensteinheit.652 Diese Zusammenarbeit gestaltete sich jedoch alles andere als problemlos. Wiederholt vermerkte die Hauptabteilung VII die Überheblichkeit und »Schwatzhaftigkeit« ihres IM, die laufend zu seiner Dekonspiration führten.653 Im November 1965 drohte »Norge« zudem, die Beziehung zum MfS abzubrechen. Den Anlass seiner Klage sah er in den Versprechungen, die ihm vor seinem Abzug aus West-Berlin gemacht, aber nicht gehalten worden seien. Unter anderem habe man ihm in Aussicht gestellt, ein »ordentlicher Mitarbeiter des MfS« zu werden und ihm eine »anständige Nachrichten-, Funk- und Spezialausbildung« mit dem Ziel eines entsprechenden Westeinsatzes zu er-
GI »Lisa König«, und 35 Treffberichte, KD Brandenburg bzw. HA II, 21.8.1954–22.8.1960. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 8–231; rund 20 Berichte, GI »Lisa König«, und 17 Treffberichte, HA VIII Operativgruppe, 6.9.1960–10.8.1961. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 6–103. 651 Schlussbericht, HA VIII Operativgruppe, 13.9.1961. BStU, MfS, AIM 6183/61, P-Akte, S. 261. Vgl. Beschluss, HA VIII Operativgruppe, 13.9.1961. Ebenda, S. 262 f. 652 Beurteilung, Abt. Agitation Referat Sonderfragen, 1.5.1965. BStU, MfS, AIM 15351/69, P-Akte Bd. 1, S. 13–15, hier 14. Vgl. Bericht, Abt. Agitation Referat Sonderfragen, 1.5.1965. Ebenda, S. 11 f.; Beschluss, HA VII/3, 25.8.1965. Ebenda, S. 8 f.; Beurteilung, Abt. Agitation Referat Sonderfragen, 15.4.1963. Ebenda, S. 92 f.; Vorschlag, Abt. Agitation an Leiter der HA VII, 28.10.1964. Ebenda, S. 102; Bericht, HA VII, 5.11.1964. Ebenda, S. 103 f. Bei Übergabe des GM »Norge« an die Abteilung Agitation 1962 hielt sein Führungsoffizier Major Volpert fest, dass er versuchen werde, den Kontakt zum GM »aus alter Freundschaft« aufrechtzuerhalten. Vgl. Schlussbericht, HA V/5, 21.8.1962. BStU, MfS, AIM 6039/57, P-Akte Bd. 2a, S. 168. 653 Vgl. Vermerk, HA VII/3, 23.9.1965. BStU, MfS, AIM 15351/69, P-Akte Bd. 1, S. 144– 147; Bericht, GI »Franz Stefan«, 17.9.1965. Ebenda, S. 148–150; Maßnahmenplan, HA VII/3, 28.9.1965. Ebenda, S. 151–153.
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möglichen.654 Sein Führungsoffizier konnte ihn beruhigen, aber schon knapp zwei Jahre später flammte der Konflikt erneut auf. »Norge« hatte den Eindruck, dass man seine Arbeit weniger Bedeutung beimesse und ihn nach seinen letzten »Disziplinwidrigkeiten […] systematisch kaltstelle«. Seinem Führungsoffizier blieb nicht verborgen, dass der GM »Norge« nach Lob und Anerkennung lechzte. Zugleich nutzte dieser die Gelegenheit, »Norge« hinsichtlich seiner Schwatzhaftigkeit und Überheblichkeit, seines Egoismus und seines nicht der »tschekistischen Moral« entsprechenden Verhaltens zurechtzuweisen.655 Seine IM-Tätigkeit für die Hauptabteilung VII durchlief immer wieder diese Höhen und Tiefen. In sogenannten Erziehungsgesprächen versuchte man permanent, auf den störischen IM einzuwirken. Die mit seinem Geltungsbedürfnis verbundenen Dekonspirationen bekam man zwar nicht ganz in den Griff, aber »Norge« leistete in den Augen des MfS gute Arbeit und wurde im November 1966 sogar zum GHI umregistriert, um andere GI zu führen. In der Jahreseinschätzung für 1967 vermerkte die Hauptabteilung VII, dass »Norge« 82 Berichte übergeben, als GHI vier GI gesteuert und seine Aufträge mit Gewissenhaftigkeit und Eigeninitiave ausgeführt habe. Doch die Dekonspirationen durch seine Prahlsucht blieben ein schwerwiegendes Problem und führten schließlich im November 1969 zu seiner »Entpflichtung«.656 Noch 15 Jahre nach seiner Außer-Dienstnahme bot »Norge« in einem Schreiben an Oberst Heinz Volpert – sein Führungsoffizier in den 1950er Jahren, der inzwischen im Sekretariat des Ministers tätig war – seine Dienste an. Denn ein Einsatz für die DDR sei auch in bescheidenster Form bedeutend wichtiger als das »nutzlose, nur den Staat belastende Herumsitzen als Rentner«. Zu diesem Zweck habe er bereits Vorarbeiten geleistet, indem er mehrmals in die Bundesrepublik gereist sei. Beim zweiten Besuch 1982 sei er zwar festgenommen und wegen der Entführung von Heinz Brandt vernommen worden, aber nach zwei Tagen freigelassen und aus der Fahndungsliste gestrichen worden. Im März 1984 habe er dann bei einer weiteren Besuchsreise einen Einbürgerungsantrag im Notaufnahmelager Gießen gestellt, der nach Durchlaufen diverser Kontrollstellen gewährt worden sei. »Norge« sah darin seine Theorie bestätigt, dass eine erneute »konspirative Tätigkeit unter Berück654 Vgl. Aktenvermerk, HA VII/3, 11.11.1965. BStU, MfS, AIM 15351/69, P-Akte Bd. 1, S. 165–169. 655 Vgl. Treffbericht, HA VII/3, 8.12.1967. BStU, MfS, AIM 15351/69, A-Akte Bd. 3, S. 249– 252; Treffbericht, HA VII/3, 7.7.1967. Ebenda, S. 144–146. 656 Vgl. Auskunftsbericht, HA VII/3, 7.12.1965. BStU, MfS, AIM 15351/69, P-Akte Bd. 1, S. 183–186; Plan, HA VII/3, 24.2.1966. Ebenda, P-Akte Bd. 2, S. 8–17; Vorschlag, HA VII/3, 26.11.1966. Ebenda, S. 48–50; Beschluss, HA VII/3, 29.11.1966. Ebenda, S. 60; Jahreseinschätzung, HA VII/3, 4.1.1968. Ebenda, S. 92–94; Bericht, HA VII/3, 19.12.1968. Ebenda, S. 195–200; Jahreseinschätzung, HA VII/3, 11.12.1968. Ebenda, S. 247–252; Treffbericht, HA VII/3, 18.3.1969. Ebenda, S. 282 f.; Abschlussbericht, HA VII/3, 11.11.1969. Ebenda, S. 312–314; Beschluss, HA VII/3, 12.11.1969. Ebenda, S. 315 f.
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sichtigung von Vorsichtsmaßnahmen ohne weiteres möglich sei«. Auch die Übersiedlung seiner Ehefrau hatte er bereits durchdacht: Da ein Ausreiseantrag im Juni 1984 »selbstverständlich« abgelehnt worden sei, sollte das MfS sie zum Schein verhaften und aus der DDR ausweisen. Mit diesem Vorschlag spekuliere er nicht auf finanzielle Vorteile, beteuerte er: Gegen die Erstattung von Auslagen und Prämien nach erfolgreichen Aktionen habe er zwar nichts einzuwenden, aber er würde keine finanziellen Zuwendungen verlangen. Damit habe die DDR »einen belastenden Rentner und eine wenig wirksame Hausfrau weniger, aber dafür im gegnerischen Lager zwei zuverlässige Kämpfer für die DDR mehr«.657 In einer Aussprache mit dem ehemaligen IM »Norge« lehnte das MfS dessen Pläne mit der Begründung ab, dass ein solches Unterfangen zu riskant sei – zumal der bei der Entführungsaktion Brandt eingesetzte Kraftfahrer »Kurt« von einer Touristenreise im Sommer 1984 nicht zurückgekehrt sei und angenommen werden müsse, dass er sich in der Bundesrepublik aufhalte. »Norge« ließ sich nur schwer von seinem Plan abbringen. Einige Zugeständnisse seitens des MfS dürften jedoch positiv gewirkt haben: »Norge« erhielt die Zusage, dass das MfS ihn beim Wohnungstausch, um einen Umzug von Hildburghausen nach Ost-Berlin zu ermöglichen, und bei der Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle für seine Ehefrau unterstütze. Zugleich ließ das MfS allerdings seinen Reisepass einziehen und leitete über die Hauptabteilung VI für den ehemaligen IM eine zentrale Reisesperre nach West-Berlin und in die Bundesrepublik ein.658 Fraglich bleibt, ob dieses Manöver des ehemaligen IM wirklich aus der Motivation erfolgte, wieder geheimdienstlich tätig zu werden, oder doch nur ein Versuch war, dem aufgezwungenen Leben in der DDR zu entkommen. Versorgen musste das MfS ebenfalls »Norges« Komplizin bei der Entführungsaktion Heinz Brandt, die GI »Martina Matt«. Nach diesem Einsatz lebte sie wieder in Ost-Berlin, wo das MfS sie in beruflicher Hinsicht unterstützte. So verschaffte man ihr zunächst einen Arbeitsplatz als Verkäuferin in der Kon657 Brief, Franz Arlt an Oberst Volpert, 16.8.1984. BStU, MfS, AIM 6039/57, A-Akte Bd. 6, S. 7–11, hier 8. Bei einem Gespräch beim Rat des Kreises Hildburghausen anläßlich des Ausreiseantrags seiner Ehefrau berichtete »Norge« in der Absicht, seinen großen Einsatz für die DDR herauszustellen, dass er für das MfS »Menschenentführungen, Sprengstoffanschläge und Giftbeschaffungen« durchgeführt habe. Den Antrag auf Ausreise bekräftigte er damit, dass sich seine politische Einstellung geändert habe, da es in der DDR viele Missstände und Probleme gebe. Auf die Androhung von strafrechtlichen Konsequenzen erwiderte »Norge«, dass er den weitaus längeren Arm habe und notfalls im Westen »auspacken« würde. Vgl. Niederschrift über Gespräch, Rat des Kreises Hildburghausen Abt. Innere Angelegenheiten, 6.8.1984. Ebenda, S. 102–104. 658 Vgl. Bericht, Zentraler Operativstab, 23.10.1984. BStU, MfS, AIM 6039/57, A-Akte Bd. 6, S. 18–22. »Norge« erhielt nach Genehmigung durch Oberst Volpert im Rahmen des Wohnungstausches sogar noch eine finanzielle Unterstützung von 4 000 M/DDR. Vgl. Vermerk, Zentraler Operativstab, 16.11.1984. Ebenda, S. 27 f.; Vermerk, Zentraler Operativstab, 17.12.1984. Ebenda, S. 38; Vermerk, Zentraler Operativstab, 12.3.1985. Ebenda, S. 39; Vermerk, Zentraler Operativstab, 18.3.1985. Ebenda, S. 42 f.; Vermerk, Zentraler Operativstab, 10.4.1985. Ebenda, S. 47–49.
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sumgenossenschaft Friedrichshain und nur wenige Monate später auf ihren Wunsch eine Stelle im Lektorat des Verlages der Jungen Welt. Die Treffen mit ihrem Führungsoffizier fanden nur noch in größeren Zeitabständen statt und dienten der Kontrolle, aber auch Betreuung der GM. Als Heinz Brandt im Mai 1964 nach seiner Haftentlassung in die Bundesrepublik zurückkehrte und in der westlichen Presse der Ablauf seiner Entführung und die Tatbeteiligten publik gemacht wurden, begann das MfS sämtliche Spuren zu »Martina Matts« wahrer Identität zu verwischen und schickte sie – ausgestattet mit einem neuen Namen – für einen längeren Urlaub nach Ungarn.659 Zugleich bat »Martina Matt« nach vierjähriger Zusammenarbeit mit dem MfS um einen Abbruch der Verbindung aus gesundheitlichen Gründen.660 Trotzdem hielt das MfS den Kontakt aufrecht und sorgte weiterhin für die ehemalige GM – zumal die Enthüllungen in der Westpresse ihr Leben erschwerten: Im Frühjahr 1966 brachte die Hauptabteilung XX sie im DFF unter, als der dortige Chefredakteur der »Aktuellen Kamera« einen Kader für die Westredaktion suchte. Nach ihrer Einstellung sorgte »Martina Matts« Vergangenheit allerdings in der Redaktion für Diskussionen, in die sich wiederum das MfS einschaltete. Der dortige Kaderleiter, der sich gegen eine Einstellung »Martina Matts« ausgesprochen hatte, berichtete schon bald, dass sie mit der Arbeit überfordert sei. Das MfS sah diese Beschwerde als Indikator für die erschwerten Arbeitsbedingungen, die bei »Martina Matt« immer größere Unzufriedenheit wachsen ließen. Als sie im Januar 1967 in Absprache mit dem MfS beim DFF kündigte, kümmerte sich das MfS um die Sicherstellung ihres Lebensunterhalts und eine neue Stelle bei der Zentralen Leitung des SV Dynamo.661 Die Bemühungen des MfS, ausgediente Entführer-IM in geregelte Arbeitsverhältnisse zu bringen, waren vor allem dann zum Scheitern verurteilt, wenn diese gar nicht daran interessiert waren. Die KP »Hering«, die sich im Frühjahr 1954 mit einem Entführungsangebot an das MfS gerichtet und dieses nach entsprechender Auftragserteilung realisiert hatte, zählt zu diesen Fällen. Das MfS hatte trotz der erfolgreichen Entführungsaktion von einer Anwerbung abgesehen, da die gelieferten Informationen nur als mäßig eingestuft wurden 659 Vgl. Aktenvermerk, HA V/5, 21.8.1962. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte, S. 118 f.; Aktenvermerk, HA V/5, 18.1.1963. Ebenda, S. 120; Bericht, HA XX/5, 5.6.1964. BStU, MfS, AP 7720/68, Bd. 1, S. 91 f.; Schreiben, HA XX an HA VII, 8.6.1964. Ebenda, S. 102; Bericht, HA XX/5, 3.7.1964. Ebenda, Bd. 2, S. 157; Bericht, MfS, 25.8.1964. Ebenda, S. 161 f. 660 Vgl. Beschluss, HA XX/5, 1.8.1964. BStU, MfS, AIM 12056/64, P-Akte, S. 121 f. 661 Vgl. Bericht, HA XX/6, 29.6.1964. BStU, MfS, AP 7720/68, Bd. 2, S. 154; Aktenvermerk, HA XX/1, 12.7.1966. Ebenda, S. 237–239; Bericht, HA XX/1, 1.7.1966. Ebenda, S. 240 f.; Bericht, HA XX/1, 12.7.1966. Ebenda, S. 244–246; Bericht, HA XX/1, 23.11.1966. Ebenda, S. 278; Kündigungsschreiben, Anna Wessel an Chefredaktion der »Aktuellen Kamera«, 15.1.1967. Ebenda, S. 263; Aktenvermerk, HA XX/5, 1.3.1967. Ebenda, S. 279–281; Quittungen über monatliche Zahlungen von 600 M/DDR, »Martina Matt«, 25.1.1967–15.12.1967. Ebenda, S. 329–341; Aktenvermerk, HA XX, 6.9.1967. Ebenda, S. 343.
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und man an der Ehrlichkeit der KP zweifelte. Nur in größeren Abständen fanden Treffen statt und die Verbindung zur KP brach fast ab, als »Hering« nicht mehr zu den vereinbarten Treffen erschien. Im Frühjahr 1956 ersuchte er das MfS jedoch um eine Übersiedlungsmöglichkeit, um einer Strafverfolgung in West-Berlin wegen Betrugs und Verstoßes gegen das »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit« zu entgehen. Das MfS verwehrte ihm zunächst sein Begehren, besorgte ihm aber nach Überprüfung des Westberliner Fahndungsbuches doch eine Aufenthaltsgenehmigung und hielt losen Kontakt. Man plante, ihn als IM auf der Linie der Abteilung III einzusetzen, wenn er einen Arbeitsplatz gefunden hat. »Hering« zeigte allerdings trotz entsprechender Aufforderungen »kein großes Interesse an einer geregelten Arbeit«, wie das MfS im Schlussbericht im Frühjahr 1957 feststellen musste, sondern engagierte sich im illegalen Handel.662 Als im Mai 1956 die Volkspolizei auf »Herings« Beteiligung an den illegalen Geschäften aufmerksam wurde, setzte sich das MfS zwar intern für ihn ein – vor allem um eine eventuelle Auslieferung nach West-Berlin zu verhindern. Zugleich warnte es »Hering« aber, dass das MfS seine Schmugglertätigkeit nicht decken werde, und nahm ihm das Versprechen ab, derartige Geschäfte mit Schmuggelware zu unterlassen. Seine Zusicherung erwies sich als bloßes Lippenbekenntnis: Im Herbst 1956 erfolgte seine Festnahme und seine Verurteilung zu fünf Jahren Zuchthaus wegen Warenschmuggels und illegalem Handel, da man sich im Staatssicherheitsapparat dieses Mal gegen eine Inschutznahme entschieden hatte.663 Allerdings informierte die Abteilung VII nach einer Beschwerde der KP »Hering« den zuständigen Staatsanwalt über die Hintergründe seiner Übersiedlung, die Letzterer in der Anklageschrift nur mit der Schmugglertätigkeit in Verbindung gebracht hatte. Der zuständige Mitarbeiter der Abteilung VII rechtfertigte diesen Einsatz intern wie folgt: »Unterzeichneter läßt sich davon leiten, daß ehemalige Vertrauenspersonen der Staatssicherheit, wenn sie auch ein kriminelles Delikt begangen haben, nicht fallen gelassen werden dürfen und ihre Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit vor der Öffentlichkeit erklären, da sich kein Mitarbeiter der Staatssicherheit um sie mehr kümmert und einfach abschreibt. Durch solche Machenschaften entsteht unter den Vertrauenspersonen eine gefährliche Unsicherheit und macht die Anwerbung von solchen Personen schwierig.«664
662 Vgl. Schlussbericht, Abt. V/5, 24.4.1957. BStU, MfS, AP 5009/57, S. 155 f.; Stellungnahme, Abt. V/5, 30.1.1958. Ebenda, S. 161 f.; Bericht, Abt. V/5, 19.1.1956. Ebenda, S. 62–64. 663 Vgl. Mitteilung, Abt. V/5 an Abt. XII, 24.5.1956. BStU, MfS, AP 5009/57, S. 88; Bericht, Abt. V/5, 23.5.1956. Ebenda, S. 84, 86; Schlussbericht, Abt. V/5, 24.4.1957. Ebenda, S. 155 f.; Stellungnahme, Abt. V/5, 30.1.1958. Ebenda, S. 161 f.; Schlussbericht, Präsidium der Volkspolizei VPI Mitte, 27.6.1956. Ebenda, S. 116–122. 664 Bericht, Abt. VII, 9.9.1956. BStU, MfS, AP 5009/57, S. 123 f., hier 124.
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Dieser Aspekt dürfte angesichts der nicht wenigen kriminell aktiven EntführerIM immer wieder zu Diskussionen im Staatssicherheitsapparat geführt haben: Wie lange duldet man die Verstöße gegen Gesetze? Wann ist die Toleranzgrenze überschritten? Die Entführer-IM verfügten über hochsensible Kenntnisse und mussten daher bei Laune, aber auch unter Kontrolle gehalten werden. Eine Strafverfolgung barg in mehrfacher Hinsicht eine Gefahr für die Geheimhaltung. Dennoch war das MfS nicht bereit, eine solche um jeden Preis zu verhindern. Im Abschlussbericht zum GM »Teddy«, der als Mitglied der Einsatzgruppe »Donner« an mehreren Entführungsaktionen beteiligt war, hielt die Hauptabteilung II 1985 fest, dass der Kontakt zu ihm in der letzten Zeit nur noch aus Sicherheitsgründen aufrechterhalten worden sei, da er einige IM aus dem »Operationsgebiet« und Arbeitsmethoden des MfS kenne.665 Schon seit Anfang der 1960er Jahre wurde der in Ost-Berlin wohnhafte »Teddy« nicht mehr in der Bundesrepublik und in West-Berlin eingesetzt, sondern nur noch zur Informationsbeschaffung in der DDR. Die Arbeitsakten seines IM-Vorganges enthalten allerdings nur knapp 100 Berichte aus den Jahren 1964 bis 1980, die deutlich machen, dass »Teddy« größtenteils eher abgeschöpft als mit umfangreichen Aufträgen betraut wurde. So lieferte er in seinen Berichten oft Informationen über sich selbst und Bekannte, die ebenfalls als IM registriert waren.666 Ein weiterer Grund für die Aufrechterhaltung der Verbindung aus »Sicherheitsgründen« war der Umstand, dass »Teddy« mehrmals durch Betrugshandlungen mit Gesetzen in Konflikt gekommen war. Im Interesse der Tarnung des GM hatte das MfS mehrmals in die Strafverfolgung zu »Teddys« Gunsten eingegriffen. Als im November 1980 allerdings Unregelmäßigkeiten bei einer Steuerüberprüfung auftauchten und »Teddy« wiederum um Unterstützung bat, teilte ihm das MfS mit, dass es dieses Mal nicht eingreifen werde. Denn bereits beim letzten Gesetzesverstoß habe man ihm gesagt, dass man keine weiteren Gesetzesüberschreitungen billigen werde, und »Teddy« habe versprochen, nicht mehr straffällig zu werden.667 665 Vgl. Abschlussbericht, HA II/1, 23.9.1985. BStU, MfS, AIM 13639/85, P-Akte, S. 373. 666 Vgl. Vorlage, HA II/1, 27.5.1980. BStU, MfS, AIM 13639/85, P-Akte, S. 361 f.; Abschlussbericht, HA II/1, 23.9.1985. Ebenda, S. 373; ca. 48 Berichte, GM »Teddy«, und zehn Treffberichte, Abt. XXI, 21.2.1964–1.11.1974. Ebenda, Bd. II/2, S. 27–283; ca. 48 Berichte, IM »Teddy«, und sechs Treffberichte, Abt. XXI, 23.9.1972–4.2.1980. Ebenda, Bd. II/3, S. 7–195. 667 Vgl. Bericht, Abt. XXI, 8.2.1964. BStU, MfS, AIM 13639/85, P-Akte, S. 170 f.; Aktenvermerk, Abt. XXI, 20.2.1964. Ebenda, S. 183 f.; Bericht, Dezernat Operativ, 7.1.1965. Ebenda, S. 224; Bericht, Präsidium der VP Berlin Abt. K, 23.4.1965. Ebenda, S. 244–246; Bericht, Abt. XII, 18.11.1971. Ebenda, S. 293–295; Sachstandsbericht, MfS, 2.12.1971. Ebenda, S. 297 f.; Bericht, Abt. XXI, 2.3.1972. Ebenda, S. 318 f.; Bericht, Abt. XXI, 27.3.1972. Ebenda, S. 320–322; Bericht, GM »Teddy«, 23.11.1980. Ebenda, S. 367 f.; Notiz, MfS, 23.11.1980. Ebenda, S. 368; Abschlussbericht, HA II/1, 23.9.1985. Ebenda, S. 373; Aktenvermerk, Abt. XXI, 4.4.1972. Ebenda, Bd. II/2, S. 107; Aktenvermerk, Abt. XXI, 17.4.1974. Ebenda, S. 219.
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Wie seine einstigen Komplizen »Blitz« und »Donner« war auch »Teddy« durch seine Betrügereien aus MfS-Sicht zum Sicherheitsrisiko geworden. Die Verbindung zu ihm diente mehr der Kontrolle als der operativen Arbeit. Die GM »Blitz« und »Donner« hielten in dieser Hinsicht das MfS jedoch noch mehr auf Trab. Nach 25-jähriger Zusammenarbeit mit dem IM »Donner« resümierte ein MfS-Mitarbeiter im Sommer 1980: »Die Unterbindung von kriminellen Handlungen (Schiebung und Schmuggel von PKW und Ersatzteilen u. a. mit Goldschmidt […] und dem ehem. GM ›Teddy‹ oder das Strafverfahren 1973), die teilweise zur Dekonspiration führende Prahlerei gegenüber staatlichen Einrichtungen und Bekannten, die schon dargestellte Unordnung in seinen familiären Beziehungen, die ständigen Auseinandersetzungen mit den Steuerorganen, volkseigenen Betrieben und privaten Personen und die schon erörterte Selbstüberschätzung in seiner praktischen Arbeit erforderten die vollste Aufmerksamkeit der Genossen des MfS, die mit seiner Betreuung beauftragt waren.«668
Der 1955 angeworbene Ausnahmeagent hatte im Auftrag des MfS drei Menschen entführt und weitere Entführungsaktionen vorbereitet. Aber er verstand es auch, seine MfS-Verbindung für kriminelle Machenschaften im eigenen Interesse zu nutzen. In diesem Wissen verstärkte das MfS seine Überwachung, als sich sein Einsatz als Entführer-IM verringerte. Nachdem er Anfang der 1960er Jahre nach Ost-Berlin übergesiedelt war, verschärfte das MfS die Kontrolle – mit zweierlei Ziel: Einerseits sollte ihm beim Aufbau einer Existenz geholfen werden, andererseits sollte er an kriminellen Handlungen gehindert werden. Wiederholt erhielt er die Anweisung, keine »unreellen Handlungen« zu begehen und die Verbindung zu »Elementen« wie die IM »Teddy« und »Fred Thornau« zu meiden. Doch die Überwachung zeigte schnell, dass »Donner« diese Verhaltensrichtlinien ignorierte. So schmuggelte er unter dem Deckmantel seiner IM-Tätigkeit gemeinsam mit den anderen Entführer-IM »Blitz«, »Fred Thornau« und »Teddy« Westautos und andere Westwaren nach Ost-Berlin, um sie dort zu verkaufen. Ihre Angaben gegenüber staatlichen Stellen in der DDR, dass es sich hierbei um MfS-Aufträge handele, waren dabei anscheinend zum Teil nicht ganz unwahr: Zu ihrem Kundenkreis in Ost-Berlin gehörten hauptamtliche Mitarbeiter des MfS.669 Wohl auch aus 668 Auskunftsbericht, Oberstltn. Bodenthal, 15.6.1980. BStU, MfS, AIM 11599/83, Bd. I/3, S. 153–187, hier 177. Bei dem genannten »Goldschmidt« handelt es sich um den IM »Fred Thornau«. 669 Bericht, Abt. XXI, 26.1.1962. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/2, S. 35–39; vgl. Aktenvermerk, Abt. XXI, 2.12.1965. Ebenda, Bd. II/8, S. 82 f.; Aktenvermerk, Abt. XXI, 16.8.1967. Ebenda, S. 86; Informationsbericht, AG beim 1. Stellv. d. Min., 22.9.1976. Ebenda, Bd. II/11, S. 205–215; Tonbandaufzeichnung von einem Treffen, Oberst Bodenthal, 2.3.1981. Ebenda, Bd. II/21, S. 13–18; Treffbericht, AG beim Stellv. d. Min. / OGSP, 12.3.1981. Ebenda, S. 19–45, hier 37–44; Vernehmungsprotokoll, MfS, 20.12.1973. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 3, S. 309–322; Bericht, HA IX/5, 12.6.1973. Ebenda, S. 266–283, hier 267, 271; Treffbericht, Abt. XXI, 4.11.1964. BStU, MfS, AIM 13912/79, Bd. II/1, S. 48; Treffbericht, Abt. XXI, 3.2.1966. Ebenda, S. 62; Bericht, Abt. XXI, 9.12.1966. Ebenda, Bd. I/1, S. 93–95; Bericht, GM »Teddy«, September 1972. Ebenda,
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diesem Grund registrierte man im Staatssicherheitsapparat zwar diese kriminellen Machenschaften, beließ es aber zunächst bei Ermahnungen. Als »Donner« und »Blitz« Anfang der 1970er Jahre jedoch versuchten, das MfS zu betrügen, ergriff das MfS Gegenmaßnahmen. Im Herbst 1972 hatten die beiden IM dem MfS angeboten, einen Computer der israelischen Streitkräfte zu besorgen. Als Lohn forderten sie 500 000 DM/West und zwei Millionen M/DDR für den Betrieb des IM »Donner«, der sich zum wiederholten Mal in Finanznöten befand. Ohne eine Entscheidung des MfS abzuwarten, stahl »Blitz« den Computer und brachte ihn mit »Donners« Hilfe dem MfS. Die dortigen Experten stellten allerdings schnell fest, dass der Computer nur Schrottwert besaß. Trotzdem versuchten die beiden IM das MfS zu einer Geldzahlung zu bewegen, denn auch der IM »Blitz« war hoch verschuldet. So gaben sie an, dass ein Bekanntwerden der Aktion drohe, wenn sie nicht im Westen die entstandenen Kosten von 75 000 DM/West begleichen würden.670 Das MfS leitete jedoch stattdessen ein Ermittlungsverfahren wegen »Betrugs zum Nachteil von sozialistischen Eigentums« ein und stieß bei den Untersuchungen auch auf den illegalen Kfz-Handel und große Unregelmäßigkeiten in dem Betrieb, in dem »Donner« als technischer Direktor beschäftigt war. Da im Rahmen der Ermittlungen in der Wohnung des IM »Donner« auch noch geheimzuhaltende Unterlagen aus seiner Arbeit für das MfS gefunden wurden, umfasste die Anklage gegen ihn außerdem Geheimnisverrat. In beiden Anklagepunkten wurde »Donner« schuldig gesprochen und zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Etwas geringer fiel die Haftstrafe für den IM »Blitz« aus, der mit einem Jahr und neun Monaten Freiheitsentzug bestraft wurde.671 Nach seiner Haftentlassung kehrte »Blitz« nach West-Berlin zurück und führte dem MfS in den folgenden Jahren vor Augen, dass die Erziehungsmaßnahme nicht die erwünschten Früchte trug. Er selbst informierte das MfS über seine kriminellen Aktionen und die wiederholten Ermittlungen der Westberli-
S. 113–115; Bericht, Abt. XXI, 3.1.1973. Ebenda, S. 145–147; Bericht, Abt. XXI, 10.1.1973. Ebenda, S. 149–152; Auskunftsbericht, HA II/1, 12.1.1979. Ebenda, S. 363–370. Gegen »Fred Thornau« ermittelte die Kriminalpolizei bereits 1957 wegen Autohehlerei, das MfS sorgte aber für die Einstellung des Verfahrens. Vgl. Bericht, HA II Leitung an den Stellvertreter des Ministers Oberst Beater, 20.9.1957. BStU, MfS, GH 2/58, S. 121–123. 670 Vgl. Stellungnahme, Oberst Knye, 4.6.1973. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 1, S. 73 f. 671 »Donner« wurde nach 2 Jahren auf Bewährung entlassen, »Blitz« nach einem Jahr und 5 Monaten. Vgl. Auskunftsbericht, AG beim 1. Stellv. d. Min., 11.6.1980. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. 1/3, S. 153–187, hier 164; Auskunftsbericht, HA II/1, 5.7.1974. BStU, MfS, AIM 13912/79, Bd. I/1, S. 239–247; Bericht, Abt. XXI, 7.8.1978. Ebenda, S. 328–333; Aktenvermerk, HA II/1, 12.12.1978. Ebenda, S. 342 f.; Auskunftsbericht, HA II/1, 12.1.1979. Ebenda, S. 363–370; Gutachten, Oberst Knye, 4.6.1973. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 1, S. 80 f. »Blitz« und »Donner« verbrachten ihre Haftzeit in den MfS-Haftanstalten Hohenschönhausen und Bautzen II, wo Jahre zuvor auch ihre Entführungsopfer inhaftiert waren. Vgl. Vollzugs- und Erziehungsakte. BStU, MfS, GH 6/74; Bericht, HA IX/5, 12.6.1973. Ebenda, Bd. 3, S. 266–283, hier 282.
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ner Polizei gegen ihn.672 Resignierend vermerkte die Abteilung XXI im Sommer 1978: »Weiterhin nutzt er in Westberlin jede Chance, zur persönlichen Erreicherung [sic!], d. h. wenn er durch einen Diebstahl zu Geld kommen kann, nutzt er die sich bietende Gelegenheit. Es hat keinen Zweck[,] ihm dies zu verbieten, da er hier keine Einsicht zeigt.«673 Angesichts ihrer Einflusslosigkeit ließ sich die Diensteinheit schriftlich vom IM »Blitz« bestätigen, dass seine Einbrüche weder im Auftrag des MfS erfolgen noch von diesem befürwortet werden.674 Einige Monate später, im Januar 1979, verstarb »Blitz« plötzlich. Mit dem Unterschied, dass er durch seinen Wohnsitz in Ost-Berlin dem direkteren Zugriff des MfS unterlag, ist der IM »Donner« ebenfalls ein Paradebeispiel für die Mutation eines Ausnahmeagentens zum Sicherheitsrisiko. Schon die angestrebte Integration des IM in das »sozialistische Wirtschaftsgefüge« nach seiner Übersiedlung in die DDR im Juli 1961 verursachte massenhaft Probleme. Im Laufe der Zeit baute »Donner« mit Unterstützung des MfS mehrere Privatbetriebe im Bereich der Plasteverarbeitung auf – das MfS beteiligte sich nicht nur maßgeblich an der Finanzierung, sondern verschaffte ihm auch steuer- und preisrechtliche Sonderkonditionen. Doch seine wirtschaftlichen Eigenmächtigkeiten, Verstöße gegen staatliche Normen und Steuerschulden führten immer wieder zu zwangsweisen Schließungen bzw. Verstaatlichungen dieser Betriebe.675 Zudem verstieß der IM in den Augen des MfS nicht nur mit seinen kriminellen Machenschaften immer wieder gegen die tschekistische Disziplin. Wiederholt dekonspirierte er sich, indem er gegenüber Bekannten und auch gegenüber staatlichen Einrichtungen mit seiner Arbeit für das MfS prahlte. Ferner registrierte das MfS mit Sorge die wachsende Unzufriedenheit und den Unmut beim IM »Donner«, vor allem nach seiner Haftzeit. Er verhehlte nicht, dass er sich vom MfS verraten und als Sündenbock für Missstände im Staatssicherheitsapprat (vor allem Korruptionen) missbraucht fühlte. Vor diesem Hintergrund wurde der einstige Ausnahmeagent immer 672 Im Oktober 1976 berichtete »Blitz« zum Beispiel über einen Einbruch in einen SpirituosenGroßhandel in Charlottenburg; mit 2 Komplizen erbeutete er 3 000 DM und 60 Flaschen Whiskey. Vgl. Bericht, IMV »Damaskus« [ehem. »Blitz«], 28.10.1976. BStU, MfS, AIM 13912/79, Bd. II/3, S. 196. 2 Monate später folgte ein schwerer Einbruch bei einer Rundfunk- und Fernsehgroßhandelsfirma. Vgl. Bericht, IM »Damaskus«, 21.12.1976. Ebenda, S. 210–213; Treffbericht, Abt. XXI, 3.1.1977. Ebenda, S. 219–223. 673 Bericht, Abt. XXI, 7.8.1978. BStU, MfS, AIM 13912/79, P-Akte, S. 328–333, hier 329 f., 332 (Zitat). 674 Vgl. Erklärung, IM »Damaskus« [ehem. »Blitz«], 3.1.1977. BStU, MfS, AIM 13912/79, Bd. I/1, S. 216 f.; Bericht, Abt. XXI, 7.8.1978. Ebenda, S. 328–333; Auskunftsbericht, HA II/1, 12.1.1979. Ebenda, S. 363–374. 675 Vgl. Auskunftsbericht, Oberstltn. Schliep, 19.4.1971. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. II/3, S. 102–139, hier 109; Auskunftsbericht, AG beim 1. Stellv. d. Min., 11.6.1980. Ebenda, Bd. I/3, S. 153–187, hier 162–164; Schlussbericht, HA III/T/6, 9.7.1985. Ebenda, Bd. I/1, S. 480–485; Bericht, Abt. XXI, 26.1.1962. Ebenda, Bd. I/2, S. 35–39; Auskunftsbericht, Ständiger Operativ-Stab beim 1. Stellvertreter des Ministers, 17.4.1971. Ebenda, S. 103–120.
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mehr zum Kontrollobjekt des MfS: Neben den regelmäßigen Treffen mit seinem Führungsoffizier, die zunehmend den Charakter von Kontrollgesprächen bekamen, setzte das MfS andere IM auf ihn an, kontrollierte seine Post und hörte ihn ab.676 Der für »Donner« zuständige Oberstleutnant Bodenthal vermerkte im März 1980, von Generaloberst Beater den Auftrag erhalten zu haben, ihn »in operative Bearbeitung zu nehmen. Das Ziel besteht darin, W. wieder zu inhaftieren.«677 Zu einer erneuten Inhaftierung des ehemaligen Ausnahmeagenten kam es nicht mehr, aber bis zu seinem Tod 1984 blieb er unter ständiger Überwachung durch das MfS. In vielerlei Hinsicht muss der IM »Donner« als Ausnahmefall gesehen werden. Die erläuterten Beispiele veranschaulichen aber, mit welchem großen Aufwand sich das MfS oft seinen ehemaligen Einsatzkräften widmete, und dass viele Entführer-IM aufgrund ihrer starken finanziellen Interessen, ihres Geltungsbedürfnisses und ihrer Delinquenzbereitschaft zur Last wurden. Angesichts ihrer sensiblen Kenntnisse und der Fahndung bundesdeutscher Ermittlungsbehörden galt es, diese speziellen Einsatzkräfte nach ihrer AußerDienstnahme durch Unterstützungs-, aber auch durch Kontrollmaßnahmen still zu halten. Diesem Zweck diente sowohl die Aufrechterhaltung der Verbindung zum IM, auch wenn diese keinen großen operativen Nutzen mehr hatte, als auch die Einbindung in den Apparat der Hauptamtlichen. IX.2 Hauptamtliche Karrieren Fünf der 50 erfassten Entführer-IM wurden nach ihrem inoffiziellen Einsatz als hauptamtliche Mitarbeiter in den Staatssicherheitsapparat übernommen und waren als solche noch zwischen 15 und 29 Jahre aktiv. Im Gegensatz zur Anwerbung als Entführer-IM spielte hier die »politisch-ideologische Überzeugung« eine tragende Rolle. Diese war bei vier dieser fünf Entführer-IM bereits ein grundlegendes Motiv für ihre IM-Tätigkeit, und die Vorschläge zur Übernahme der IM in den hauptamtlichen Mitarbeiterstab betonten ihre politische Gesinnungstreue. Ein weiterer Aspekt, der in einem Einstellungsvorschlag explizit benannt ist, dürfte in allen fünf Fällen von grundlegender Bedeutung gewesen sein: »Der Kandidat ist praktisch durch eine Aktion an uns gebunden, 676 Vgl. Auskunftsbericht, AG beim 1. Stellv. d. Min., 11.6.1980. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/3, S. 153–187, hier 177; Operativplan, AG beim 1. Stellv. d. Min., 18.6.1980. Ebenda, S. 187– 196; Operativplan, AG beim 1. Stellv. d. Min., 9.11.1981. Ebenda, Bd. I/1, S. 245–251; Schreiben, IM »Donner« an MfS, 31.5.1975. Ebenda, Bd. II/13, S. 36 f.; Treffbericht, HA III/T/6, 28.4.1984. Ebenda, Bd. II/24, S. 4 f.; Treffvermerk, HA III/T/6, 21.7.1984. Ebenda, S. 51–55; Treffvermerk, HA III/T/6, 11.8.1984. Ebenda, S. 97–100. Noch im Juli 1984 – kurz vor »Donners« Tod – leitete das MfS gegen ihn eine Ausreisesperre, Abhörmaßnahmen seiner Wohnung sowie seines Telefons und eine Postkontrolle ein. Vgl. Aktennotiz, HA III/T/6, 26.7.1984. Ebenda, Bd. II/24, S. 78. 677 Aktenvermerk, AG beim 1. Stellv. d. Min., 17.3.1980. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/1, S. 7.
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was ihm auch völlig bewußt ist.«678 Auffällig ist zudem, dass bei vier dieser fünf Entführer-IM der Gedanke der Wiedergutmachung in ihren Motivstrukturen auftaucht. Mit ihrem Einsatz als Entführer-IM hatten sie sich nicht nur die Rückkehr in die DDR oder in die Partei erkauft, sondern sich auch für eine hauptamtliche Stelle ›qualifiziert‹. Vor allem bei zwei der untersuchten Entführer-IM wird dieser Mechanismus sehr deutlich. Kurt Schliep war im Alter von 23 Jahren im April 1953 in die Bundesrepublik geflohen, schrieb aber schon bald seinen Eltern in der DDR, dass er diesen Schritt bereue und gerne zurückkehren wolle. In dem Wissen um diesen Wunsch trat das MfS an ihn heran und stellte ihm eine straffreie Rückkehr in Aussicht, wenn er sich als IM im Operationsgebiet bewährt habe. Nach seiner Anwerbung als GI mit dem Decknamen »Steffen« im Januar 1954 war Schliep eineinhalb Jahre für das MfS in der Bundesrepublik und seit Januar 1955 in West-Berlin aktiv. In dieser Zeit beteiligte er sich an drei Entführungsaktionen und durfte danach in die DDR zurückkehren, zumal das MfS ihn durch die Ermittlungen der bundesdeutschen Polizei gefährdet sah. Nach seiner Rückkehr arbeitete er zunächst in einem Pressebüro, das für Publikationen des MfS zuständig war.679 Im Januar 1957 erfolgte dann die offizielle Einstellung als hauptamtlicher Mitarbeiter im MfS. Als Hauptsachbearbeiter kehrte er in die Diensteinheit zurück, für die er schon als IM tätig gewesen war: die Hauptabteilung V/2. Seit Juli 1957 war er dort als kommissarischer, seit März 1959 für zweieinhalb Jahre als ordentlicher Leiter des Referats 2 eingesetzt. Trotz großem Engagements erfüllte er seine Aufgabe aber anscheinend nicht ganz zufriedenstellend: Seine Vorgesetzten bemängelten eine fehlende objektive Einschätzung der von ihm geschaffenen Kontakte, Sprunghaftigkeit in der operativen Arbeit und Unehrlichkeit, da er ihm bekanntgewordene Verfehlungen seiner Mitarbeiter nicht seinem Dienstvorgesetzten mitgeteilt habe. Der Staatssicherheitsapparat reagierte mit einer Verwarnung wegen »Verletzung der Wachsamkeit und Aufsichtspflicht« und einer Versetzung: Nach einjährigem Besuch der Bezirksparteischule fungierte er ab August 1962 vier Jahre lang als Leiter des Referats Sonderfragen in der Abteilung Agitation, wo er u. a. mit dem Entführer-IM »Norge« zusammenarbeitete. In 678 Vorschlag, HA V/5, 2.10.1958. BStU, MfS, KS 5453/90, Bd. 1, S. 18–22, hier 22. 679 Vgl. Bericht, HA V/1, 1.2.1954. BStU, MfS, AIM 439/57, P-Akte Bd. 1, S. 46 f.; Bericht, MfS, 12.1.1954. Ebenda, S. 45; Beurteilung, HA V/1, 28.12.1954. Ebenda, S. 48–51; Treffbericht, Unterltn. Maschke, 26.1.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 130 f.; Zwischenbericht, HA V/2, 23.6.1955. Ebenda, P-Akte Bd. 1, S. 62–64. Im Zwischenbericht vom Juni 1955 ist als Wohnort des GM »Steffen« Berlin-Schöneberg angegeben. Laut Abschlussbericht der HA V/2 soll »Steffen« aber schon im April 1955 in die DDR »zurückgezogen« worden sein. Vgl. Abschlussbericht, HA V/2, 16.1.1957. Ebenda, S. 94. In der Arbeitsakte des GM befinden sich allerdings noch bis Juli 1955 regelmäßige Berichte über seine Aufträge in der Bundesrepublik. Vgl. 13 Berichte, GM »Steffen«, 8.5.1955–29.7.1955. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 24–26, 31 f., 45, 67–69, 74 f., 86–89, 95–98, 120– 129, 134–137, 144–146, 153–156, 162 f.
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den Jahren 1967 bis 1973 gehörte er dann als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) zum Operativ-Stab beim 1. Stellvertreter des Ministers, wo er zwischen 1967 und 1970 Abteilungsleiter war. In den letzten vier Jahren vor seiner Pensionierung im April 1977 war er als Offizier für Sonderfragen zunächst in der Abteilung III »Funkaufklärung und -abwehr«, dann auf Weisung des Generalleutnants Beater ab Oktober 1975 in der Abteilung XXII »Terrorabwehr« aktiv. Sein monatlicher Verdienst stieg von den anfänglichen 640 M/DDR im Februar 1959 auf 950 M/DDR, im April 1967 auf 1 500 M/DDR und schließlich im Oktober 1973 auf 1 700 M/DDR.680 Kontinuierlich kletterte er in seiner Laufbahn als Hauptamtlicher auch die Leiter der Dienstgrade nach oben: Bereits im Februar 1957 wurde er zum Oberleutnant ernannt, da er »in der Vergangenheit, oft unter Einsatz seines Lebens, unter Beweis gestellt [hat], dass er dem MfS und der Partei treu ergeben ist«.681 Drei Jahre später wurde er zum Hauptmann befördert, im Februar 1964 folgte die Beförderung zum Major und im Februar 1970 schließlich zum Oberstleutnant.682 Neben einigen Sachprämien wurden ihm insgesamt 15 Auszeichnungen in Form von Medaillen und Ehrennadeln verliehen, darunter die Verdienstmedaille der NVA in Bronze (Februar 1958) und Silber (Februar 1965), die »Medaille für vorbildlichen Grenzdienst« im Oktober 1968, die Verdienstmedaille des MdI in Gold im Juli 1970 sowie die »Medaille der Waffenbrüderschaft« in Bronze im Juli 1976.683
680 Vgl. Vorschlag, HA Kader und Schulung Abt. Kader, 10.3.1977. BStU, MfS, KS II 10/78, Bd. 1, S. 218–221, hier 219; Kaderkarteikarte, MfS, 3.3.1972. Ebenda, S. 237–240, hier 238 f.; handschriftliche »Eidesstaatliche Verpflichtungserklärung«, Kurt Schliep, 28.1.1957. Ebenda, S. 125 f.; handschriftliche »Eidesstaatliche Verpflichtungserklärung«, Kurt Schliep, 7.9.1959. Ebenda, S. 128–134; Aktenvermerk, HA Kader und Schulung, 22.1.1959. Ebenda, S. 26–28; Vorschlag, HA V an die HA Kader und Schulung, 9.1.1959. Ebenda, S. 45 f.; Beurteilung, HA V/2, 21.7.1962. Ebenda, S. 55–57; Vorschlag, HA V/2 an HA Kader und Schulung, 21.7.1962. Ebenda, S. 182; Befehl, MfS Leitung, 1.8.1962. Ebenda, S. 86; Vorschlag, HA Kader und Schulung, 22.9.1975. Ebenda, S. 192; Protokoll, Abt. Agitation Referat Sonderfragen, 1.5.1965. BStU, MfS, AIM 15351/69, P-Akte Bd. 1, S. 11 f.; Beurteilung, Abt. Agitation Referat Sonderfragen, 15.4.1963. Ebenda, S. 92 f. 681 Attestation zum Oberleutnant, Leiter der Kaderabteilung, 18.2.1957. BStU, MfS, KS II 10/78, Bd. 1, S. 35. 682 Vgl. Vorschlag, HA Kader und Schulung Abt. Kader, 10.3.1977. BStU, MfS, KS II 10/78, Bd. 1, S. 218–221; Kaderkarteikarte, MfS, 3.3.1972. Ebenda, S. 237–240, hier 239; Vorschlag, MfS, 27.12.1963. Ebenda, S. 60 f.; Vorschlag, Op.-Stab beim 1. Stellv. d. Min., 13.10.1969. Ebenda, S. 71 f. 683 Vgl. Vorschlag, HA Kader und Schulung Abt. Kader, 10.3.1977. BStU, MfS, KS II 10/78, Bd. 1, S. 218–221; Kaderkarteikarte, MfS, 3.3.1972. Ebenda, S. 237–240, hier 237; Prämierungsvorschlag, Stellv. d. Min. (Oberst Beater) an HA Kader und Schulung, 31.1.1957. Ebenda, S. 33; Prämierungsvorschlag, MfS, 23.1.1958. Ebenda, S. 40 f.; Prämierungsvorschlag, MfS, 17.1.1959. Ebenda, S. 43 f.; Prämierungsvorschlag, HA V/2 an HA Kader und Schulung, 8.8.1959. Ebenda, S. 47 f.; Prämierungsvorschlag, Abt. Agitation, 10.11.1964. Ebenda, S. 63 f.; Prämierungsvorschlag, Oberstltn. Kehl, 11.12.1964. Ebenda, S. 64 f.; Vermerk, Politische Verwaltung Abt. AK, 2.3.1970. Ebenda, S. 73; Prämierungsvorschlag, Op.-Stab beim 1. Stellv. d. Min., 30.6.1972. Ebenda, S. 75 f.
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Entführer im Auftrag des MfS
Die Kaderakte von Kurt Schliep zeichnet das Bild einer glatten hauptamtlichen Laufbahn, das erst durch den Blick in Ermittlungsakten gegen zwei andere Entführer-IM in einem anderen Licht erscheint. Als im Herbst 1972 die beiden Entführer-IM »Blitz« und »Donner« mit einem gegen das MfS gerichteten Betrugsversuch aufflogen, geriet auch der an dieser Aktion beteiligte Kurt Schliep ins Visier des Apparates. Schliep und »Donner« kannten sich von ihrer Arbeitsstelle, dem See-Hydrographischen Institut (SHI) in Berlin-Grünau. Als »Offizier im besonderen Einsatz« leitete Schliep diese MfS-Einrichtung, in der »Donner« als technischer Direktor untergebracht wurde.684 Dass Schliep diese Position im großen Stil zur persönlichen Bereicherung nutzte, brachten nun die Ermittlungen des MfS zutage. Die Abteilung Finanzen und die Abteilung III bilanzierten den Gesamtschaden auf 3,4 Millionen M/DDR. Allein im Jahre 1972 seien rund 1,1 Millionen M/DDR, die von dem Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, der NVA, dem Rettungsamt Berlin und dem Ministerium des Innern als Vorfinanzierung für Forschungs- und Entwicklungsaufträge gezahlt wurden, zweckentfremdet verbraucht worden. So ließ Schliep beispielsweise von »Donner« Motorboote und Bootsmotoren anfertigen bzw. kaufen, um diese dann mit Gewinn an Privatpersonen weiterzuverkaufen. Da er auf eine Buchhaltung weitgehend verzichtete und zum Beispiel bei Preisangeboten einen persönlichen Gewinn einkalkulieren ließ, ermöglichte er sich und seinem Mitarbeiter eine persönliche Bereicherung. Zudem betrieb Schliep einen schwunghaften Handel mit (zum Teil im Westen gestohlenen) Autos, an dem wiederum auch »Donner« beteiligt war.685 Im Rahmen der Untersuchungen gegen Kurt Schliep kam es auch hinsichtlich seiner MfS-Arbeit zu einer kritischen Einschätzung, die in seiner Kaderakte keine Erwähnung fand. Aus persönlichen Gründen wurde er 1967 als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) zum Operativ-Stab beim 1. Stellvertreter des Ministers versetzt. Dort sei es ihm zwar aufgrund seines Organisationstalents und seiner umfangreichen operativen Kenntnisse gelungen, eine große, relativ selbstständige Diensteinheit aufzubauen und erste Erfolge zu erzielen. Dabei seien jedoch auch seine negativen Charakterzüge wie sein Karrierismus und Geltungsbedürfnis, sein fahrlässiges Verhalten in der konspirativen Arbeit und seine kriminellen Handlungen vollends hervorgetreten. Er habe in dieser Zeit mittels Täuschung und Schönfärberei die Leitung des Staatssicherheitsapparates bewusst betrogen.686
684 Vgl. Schreiben, Ständiger Operativstab beim 1. Stellv. d. Min. an den Leiter der HA VII, 21.6.1971. BStU, MfS, AIM 11599/85, Bd. I/2, S. 256 f. 685 Vgl. Bericht, HA IX/5, 11.9.1974. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 4, S. 423–440; Bericht, MfS, o. D. Ebenda, S. 451–473, hier 468 f.; Vernehmungsprotokoll, MfS, 20.12.1973. Ebenda, Bd. 3, S. 309–322. 686 Vgl. Bericht, MfS, o. D. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 4, S. 451–473, hier 453 f., 465.
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Entführer im Auftrag des MfS
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Die strafrechtliche Verfolgung der Vorgänge in dem MfS-Betrieb stellte den Staatssicherheitsapparat vor eine schwierige Entscheidung. Das MfSUntersuchungsorgan plädierte im Sommer 1973: »Wäre es notwendig, Probleme des SIH vor Gericht oder anderen öffentlichen Organen zur Sprache zu bringen, würde das Ansehen der Organe des Ministeriums für Staatssicherheit im hohen Maße gefährdet. Es ist zweckmäßig, diese Probleme betriebsintern zu klären [...]«687 Auf der Grundlage ihrer Ermittlungen hielt die Hauptabteilung IX/5 im September 1974 die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit Haft gegen Kurt Schliep nicht nur wegen Vertrauensmissbrauchs, sondern auch wegen Missbrauchs der Dienstbefugnisse, Verrats militärischer Geheimnisse und Nichtausführung eines Befehls allerdings für gerechtfertigt. Im Falle eines Strafverfahrens sei sodann mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren zu rechnen.688 Doch der stellvertretende Minister für Staatssicherheit Bruno Beater hielt seine schützende Hand über Schliep. Das Gerichtsverfahren richtete sich nur gegen die IM »Donner« und »Blitz«, aus deren Vernehmungsprotokollen der Name Kurt Schliep getilgt wurde.689 Im Januar 1975 plante die Hauptabteilung IX/5 eine eingehende Befragung Schlieps zu den »mit Wax begangenen Finanzmanipulationen« im SIH mit dem Ziel, »ein gewisses Schuldgefühl hervorzurufen und vorbeugend künftige Kontakte« zu Hans Wax zu verhindern.690 Weitreichendere Konsequenzen gab es für Kurt Schliep nicht. Zwar musste er in seinen letzten fünf Dienstjahren auf eine Beförderung verzichten, aber eine Disziplinarstrafe oder gar Entlassung blieb aus. Im Alter von 47 Jahren wurde er im März 1977 wegen dauernder Dienstuntauglichkeit pensioniert. Am Tag seiner Verabschiedung erhielt er die »Urkunde für ehrenvolle und treue Pflichterfüllung im MfS, das Reservistenabzeichen der NVA in Gold und das Ehrentuch«.691 Die Laufbahnen der vier anderen Entführer-IM, die in die Reihen der Hauptamtlichen aufgenommen wurden, verliefen weniger spektakulär. Wie Kurt Schliep hatte sich auch Kurt Rittwagen mit der Beteiligung an einer Entführungsaktion die erwünschte Rückkehr in die DDR und die Partei erkauft. Unmittelbar nach der Entführung des Journalisten Karl Wilhelm Fricke im April 1955 tauchte Rittwagen unter falschem Namen in Ost-Berlin unter. Im Februar 1956 wurde der Parteiausschluss des 1951 in Ungnade gefallenen Kommunisten per ZPKK-Beschluss aufgehoben und seine Parteimitgliedschaft
687 Bericht, HA IX/5, 12.6.1973. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 3, S. 266–283, hier 273. 688 Vgl. Bericht, HA IX/5, 11.9.1974. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 4, S. 423–436, hier 423, 436. 689 Vgl. Bästlein: Fall Mielke, S. 282. 690 Plan zur Befragung, HA IX/5, 2.1.1975. BStU, MfS, GH 6/74, Bd. 4, S. 447 f. 691 Vorschlag, HA Kader und Schulung Abt. Kader 2, 10.3.1977. BStU, MfS, KS II 10/78, Bd. 1, S. 218–221, hier 221; vgl. Kaderkarteikarte, MfS. Ebenda, S. 237–240.
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Entführer im Auftrag des MfS
als ununterbrochen festgestellt.692 Damit war ein wesentlicher Makel seiner (politischen) Biografie getilgt und der Weg in die Reihen der hauptamtlichen Mitarbeiter frei. Zum 1. Dezember 1956 trat er seinen Dienst als Sachbearbeiter in der MfS-Hauptabteilung V/2 im Rang eines Unterleutnants an. Zum 10. Jahrestag der DDR-Gründung am 7. Oktober 1959 erfolgte dann seine Beförderung zum Leutnant und zum 20. Jahrestag des MfS am 1. Februar 1970 die Ernennung zum Oberleutnant. Nach einer nur neunmonatigen Dienstzeit als Hauptmann schickte man ihn schließlich Ende Oktober 1974 im Rang eines Majors in den Ruhestand. Mit zwölf Medaillen und Ehrennadeln war er zu diesem Zeitpunkt dekoriert, vier weitere Auszeichnungen sollten noch folgen. Darunter finden sich der Vaterländische Verdienstorden in Bronze 1955, Silber 1974 und Gold 1984, die Medaille für treue Dienste der NVA in Bronze 1957, Silber 1962 und Gold 1972 sowie die Verdienstmedaille der NVA in Silber 1964 und Gold 1976. In den knapp 18 Jahren seiner hauptamtlichen Laufbahn war er zunächst als Sachbearbeiter tätig, erst in der Hauptabteilung V/2 in Ost-Berlin, dann von 1960 bis 1962 in der Abteilung V der MfS-Bezirksverwaltung Rostock. Aus gesundheitlichen Gründen arbeitete er anschließend dort im MfS-Auftrag als Leiter eines Ferienheims bis zu seiner gewünschten Rückkehr nach Ost-Berlin 1967. Als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) platzierte ihn das MfS bei der Sportvereinigung Dynamo Berlin, dem MfS-Sportclub. Nach dreijähriger Tätigkeit als Internatsleiter wechselte er 1970 in die Leitung des SV Dynamo. In der dortigen Kaderabteilung war er für die Überprüfungen der Reisekader zuständig, insbesondere für die Olympiateilnehmer 1972. Als Zivilangestellter arbeitete Rittwagen noch bis Sommer 1989 als Sportwart für den SV Dynamo.693 In dieser
692 Vgl. Auskunftsbericht, HA Kader und Schulung, 22.10.1987. BStU, MfS, KS II 549/89, Bd. 1, S. 72–75; Beschluss, ZK Zentrale Parteikontrollkommission an die KPKK Potsdam, 29.8.1951. Ebenda, Bd. 2, S. 157. Bitte um Aufhebung des Parteiausschlusses, Kurt Rittwagen an Sekretariat des ZK der SED, 7.12.1955. Ebenda, S. 28 f.; Vorlage, Abt. Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen an das Sekretariat des ZK, 28.12.1955. Ebenda, S. 14–16; Beschluss, ZPKK, 7.3.1956. Ebenda, S. 13. 693 Vgl. Kaderkarteikarte, MfS. BStU, MfS, KS II 549/89, Bd. 1, S. 326–327a; Prämierungsvorschlag, HA V, 27.4.1955. Ebenda, S. 21; handschriftliche Verpflichtungserklärung, Kurt Rittwagen, 1.12.1956. Ebenda, S. 106 f.; eidesstattliche Verpflichtungserklärung, Kurt Rittwagen, 14.9.1959. Ebenda, S. 111–116; Attestation zum Unterleutnant, HA V/2, 14.1.1957. Ebenda, S. 15 f.; Prämierungsvorschlag, HA V/2, 13.8.1957. Ebenda, S. 18; Beförderungsvorschlag, HA V, 8.8.1959. Ebenda, S. 24; Beurteilung, BV Rostock Abt. V, 10.10.1961. Ebenda, S. 26 f.; Prämierungsvorschlag, BV Rostock, 19.8.1964. Ebenda, S. 30 f.; Bitte um Versetzung, Kurt Rittwagen an BV Rostock, 26.11.1966. Ebenda, S. 170; Beförderungsvorschlag, Abt. Kader, 16.10.1969. Ebenda, S. 35; Beförderungsvorschlag, Abt. Kader, 5.11.1973. Ebenda, S. 39 f.; Prämierungsvorschlag, Abt. Kader, 9.4.1974. Ebenda, S. 45–47; Vorschlag zur Entlassung, SV Dynamo Zentrale Leitung, 6.8.1974. Ebenda, S. 228–231; Prämierungsvorschlag, HA XX, 29.1.1976. Ebenda, S. 242 f.; Prämierungsvorschlag, SV Dynamo an HA Kader und Schulung, 15.5.1984. Ebenda, S. 54; Kurzbiographie, HA Kader und Schulung, 20.10.1987. Ebenda, S. 66–70; Bitte um Aufhebung des Dienstverhältnis-
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Position war er für den Staatssicherheitsapparat weiterhin eine nützliche Quelle. So übernahm die MfS-Hauptabteilung XX im Frühjahr 1975 den 61jährigen, ehemaligen Hauptamtlichen wieder als IM und setzte ihn zur Überwachung der Reisekader ein. Rittwagen hatte zuvor großes Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit mit dieser Diensteinheit bekundet. Und das MfS reagierte mit Sorgfalt auf seine Befindlichkeit: »Im Interesse der Mentalität des Gen. Rittwagen und seiner langjährigen Zugehörigkeit zu unserem Organ ist es erforderlich, daß bei ihm der Eindruck entsteht, daß er nicht als IM geführt wird[,] sondern weiterhin ›Mitarbeiter‹ der HA XX ist.«694 Zwei Jahre arbeitete er noch mit großem Engagement als IM – ohne zu wissen, dass er als solcher registriert wurde –, dann spielte seine Gesundheit nicht mehr mit. Im Sommer 1980 legte das MfS seinen IM-Vorgang endgültig zu den Akten.695 Rittwagens Versetzung nach Rostock im Sommer 1959 glich einer Flucht. Der von ihm entführte Karl Wilhelm Fricke war Ende März 1959 aus der Haft entlassen worden und nach West-Berlin zurückgekehrt, wo er in diversen Zeitungsartikeln detaillierte Angaben zu seiner Entführung und seinen Entführern veröffentlichte. Vor diesem Hintergrund sah die MfS-Hauptabteilung V die Sicherheit ihres ehemaligen IM in Ost-Berlin nicht mehr gewährleistet und schlug seine Versetzung nach Rostock vor. Der stellvertretende Minister für Staatssicherheit Bruno Beater stimmte dieser Maßnahme zu, die Rittwagen für sieben Jahre in die Provinz verschlug.696 Diese Auswirkung der früheren IM-Tätigkeit auf den Aufenthaltsort zeigt sich auch bei dem Entführer-IM »Fritz Vogelsdorf«. Nach seiner Beteiligung an der Entführung von Robert Bialek im Februar 1956 arbeitete er als VPWachtmeister in der Strafvollzugsanstalt Hoheneck und führte dort als GHI zwei GI aus dem Wachpersonal. Seine zeitweilige Versetzung nach Hoheneck hatte das MfS zu seiner »persönlichen Sicherheit« veranlasst und die Anweisung herausgegeben: »Es muß nun unsererseits alles getan werden[,] um den GI sowie seine Familie zu sichern und vor jeder evtl. Provokation oder gar Entführung nach Westberlin zu schützen.«697 Nach Ablauf eines Jahres sollte seine Rückversetzung nach Berlin erfolgen, auf die »Fritz Vogelsdorf« sehr ses, Kurt Rittwagen, 30.3.1989. Ebenda, S. 294; Vermerk, Büro der Leitung Abt. 7 an HA Kader und Schulung, 6.4.1989. Ebenda, S. 294. 694 Bericht, HA XX/3, 7.4.1975. BStU, MfS, AIM 19946/80, Bd. 1, S. 18–22, hier 21; vgl. Mitteilung, HA XX an HA Kader und Schulung, 14.4.1975. Ebenda, S. 11; Vorschlag, HA XX/3, 22.5.1975. Ebenda, S. 13–15; Einschätzung, HA XX/3, 19.12.1975. Ebenda, S. 27–29; Auskunftsbericht, HA XX/3, 16.2.1977. Ebenda, S.59–66. 695 Vgl. Abschlusseinschätzung, HA XX/3, 23.6.1980: BStU, MfS, AIM 19946/80, Bd. 1, S. 56; Beschluss, HA XX/3, 23.6.1980. Ebenda, S. 57. 696 Vgl. Vorschlag, HA V/2 an HA Kader und Schulung, 19.8.1959. BStU, MfS, KS II 549/89, Bd. 1, S. 150 f.; vgl. Fricke: Akten-Einsicht, S. 173 f. 697 Schreiben, Abt. VII an BV Karl-Marx-Stadt Abt. VII, 12.4.1956. BStU, MfS, AIM 667/58, P-Akte, S. 84.
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Entführer im Auftrag des MfS
drängte, die sich jedoch noch bis in den Sommer 1958 verzögerte.698 Nach seiner Rückkehr wurde er im November 1958 »auf Grund seiner Verdienste« als hauptamtlicher Mitarbeiter von seiner Diensteinheit, der Hauptabteilung V/2, übernommen. Dort war er im Rang eines Unterleutnants als Sachbearbeiter tätig bis er im April 1964 zur Arbeitsgruppe Auswertung beim Stellvertreter des Ministers wechselte. Im Oktober desselben Jahres wurde er zum Leutnant befördert und vier Jahre später, im Oktober 1968, zum Oberleutnant. Zu dieser Zeit arbeitete er bereits einige Monate in der Hauptabteilung XX/AIG. Seine letzte Beförderung erfolgte im Februar 1975; im Rang des Hauptmanns wurde der 65-Jährige im Oktober 1978 pensioniert. Bis dahin hatte er neben einigen Prämien elf Auszeichnungen erhalten wie die Verdienstmedaille der NVA in Bronze 1960, Silber 1970 und Gold 1977, die Medaille für treue Dienste der NVA in Silber 1961 und Gold 1966 sowie den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze 1972.699 Aus dem Blickfeld der westlichen Presse und Ermittlungsbehörden musste das MfS auch den Entführer-IM »Weitzel« nehmen, als diese ihm nach dem Verschwinden des UFJ-Mitarbeiters Erwin Neumann bei einer Segeltour auf dem Wannsee schnell auf der Fährte waren. Das MfS versuchte zunächst ein Ablenkungsmanöver, indem es verbreiten ließ, dass »Weitzel« ebenfalls festgenommen worden sei. Zu diesem Zweck inhaftierte es ihn sogar tatsächlich für einige Wochen, um im Kreis der Häftlinge Zeugen zu schaffen, und ließ ihn pro forma im Dezember 1958 zu einer Zuchthausstrafe von dreieinhalb Jahren wegen Spionage verurteilen. Ausgestattet mit einer neuen Identität tauchte er kurze Zeit in Ost-Berlin unter, wurde dann jedoch Anfang des Jahres 1959 außer Landes gebracht und lebte bis Mai 1960 in einer tschechischen Kleinstadt. Die Legende des verurteilten Spions hielt das MfS jedoch aufrecht und bereitete seine Rückkehr nach Ost-Berlin dementsprechend mit einer offiziel698 Abschlussbeurteilung, BV Karl-Marx-Stadt Abt. VII, 15.5.1958. Ebenda, S. 87; vgl. Schreiben, BV Karl-Marx-Stadt Abt. VII an MfS Abt. VII/4, 13.2.1958. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 143; 2 Treffberichte, BV Karl-Marx-Stadt Abt. VII, 27.2.1958 u. 25.3.1958. Ebenda, S. 119, 124 f.; Aktenvermerk, Abt. VII/3, 18.6.1959. Ebenda, S. 148. 699 Abschlussbericht, HA Kader und Schulung, 16.10.1958. BStU, MfS, KS II 51/79, S. 16–20, hier 20; vgl. Auskunftsbogen, Ltn. Schramm, 20.1.1976. Ebenda, S. 2–10, hier 3, 6; Kaderkarteikarte, MfS, 22.4.1976. Ebenda, S. 190–193, hier 191, 193; eidesstattliche Verpflichtungserklärung, Eduard Hinze, 19.10.1959. Ebenda, S. 115–119; Prämierungsvorschlag, Major Schröder, 12.8.1960. Ebenda, S. 39 f.; Beurteilung, HA V/2, 16.6.1961. Ebenda, S. 41 f.; Beurteilung, AG Information, 11.4.1963. Ebenda, S. 45–47; Prämierungsvorschlag, Oberst Schröder, 6.7.1963. Ebenda, S. 50; Beförderungsvorschlag, AG Auswertung, 7.8.1964. Ebenda, S. 53 f.; Beurteilung, AG Auswertung, 26.6.1967. Ebenda, S. 56–59; Stellungnahme, HA Kader und Schulung, 29.6.1967. Ebenda, S. 164; Beförderungsvorschlag, HA XX, 16.8.1968. Ebenda, S. 61 f.; Prämierungsvorschlag, HA XX/AIG, 19.6.1973. Ebenda, S. 76 f.; Beförderungsvorschlag, HA XX/AIG, 1.11.1974. Ebenda, S. 81 f.; Prämierungsvorschlag, HA XX/AIG, 13.6.1977. Ebenda, S. 84 f.; Vorschlag zur Entlassung, HA XX, 21.6.1978. Ebenda, S. 230–232; Vermerk, HA Kader und Schulung, 13.11.1978. Ebenda, S. 205; Beschluss, HA V/2, 6.1.1959. BStU, MfS, AIM 667/58, P-Akte, S. 93.
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Entführer im Auftrag des MfS
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len Begnadigung und Haftentlassung auf Bewährung vor.700 Im Juli 1960 übernahm das MfS den im Oktober 1954 (nach seinem Selbstangebot) angeworbenen IM als hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter. Vom Dienstgrad des Leutnants wurde er im Herbst 1966 zum Oberleutnant befördert, im Frühjahr 1979 folgte die nächste Stufe des Hauptmanns und schließlich im Herbst 1984 des Majors. Die Liste seiner Auszeichnungen und Belobigungen umfasst neben diversen Prämien auch 13 Medaillen, darunter der Vaterländische Verdienstorden in Bronze im August 1958, den er im Zusammenhang mit der Entführungsaktion verliehen bekam. Darüber hinaus erhielt er die Medaille für treue Dienste der NVA in Silber 1966 und Gold 1969, die Verdienstmedaille der NVA in Bronze 1971, Silber 1978 und Gold 1979 sowie die Medaille für vorbildlichen Grenzdienst 1987. Als hauptamtlicher Mitarbeiter der Hauptabteilung V/5 bzw. Hauptabteilung XX/5 war er weiterhin für die Diensteinheit tätig, der er auch schon als IM gedient hatte. Seine dortige Aufgabe war u. a. die Anleitung von in West-Berlin eingesetzten IM und die Suche nach Kandidaten für eben diese inoffizielle Tätigkeit. Er gehörte als Hauptamtlicher zu den »Offizieren im besonderen Einsatz« (OibE), die im Auftrag des MfS konspirativ in Schlüsselpositionen des Staatsapparates, der Wirtschaft oder gesellschaftlichen Einrichtungen untergebracht wurden. So war er seit Mai 1974 als Stellvertreter des Beauftragten für Sicherheit und Ordnung beim Staatlichen Komitee für Rundfunk eingesetzt. Das Ende des Ministeriums für Staatssicherheit 1989/90 erlebte er in den Reihen der Hauptamtlichen.701 Auch seine Komplizin bei der Entführungsaktion Neumann, die 1952 angeworbene GM »Sylvia«, wurde in den Kreis der hauptamtlichen Mitarbeiter übernommen. Zunächst arbeitete sie seit Dezember 1958 im Rang eines Unterleutnants als Schreibkraft in der Abteilung Kriminalpolizei des MdI. Seit November 1965 war sie in der MfS-Hauptabteilung VIII/3 mit der Auswertung von Polizei- und Justizunterlagen aus der Bundesrepublik beschäftigt.
700 Vgl. Bericht, HA V/5, 3.9.1958. BStU, MfS, AIM 6041/57, P-Akte, S. 143–149, hier 145– 147; Bericht, GM »Weitzel«, 5.9.1958. Ebenda, A-Akte Bd. 6, S. 80 f.; Bericht, GM »Weitzel«, 23.9.1958. Ebenda, S. 99–105; Bericht, HA V/5, 28.1.1959. Ebenda, S. 152–156. 701 Vgl. Auskunftsbogen, MfS, o. D. BStU, MfS, KS 5453/90, Bd. 1, S. 3–13; Prämierungsvorschlag, HA V/5, 23.8.1958. Ebenda, S. 29; Vorschlag zur Einstellung als OibE, HA V/5, 2.10.1958. Ebenda, S. 18–22; handschriftliche Verpflichtungserklärung, Harry Wichert, 18.7.1960. Ebenda, S. 101–106; Prämierungsvorschlag, HA XX/5, 11.1.1966. Ebenda, S. 34; Einschätzung, HA XX/5, 4.5.1966. Ebenda, S. 35–40; Beförderungsvorschlag, HA XX/5, 8.8.1966. Ebenda, S. 41 f.; Prämierungsvorschlag, HA XX/5, 2.7.1971. Ebenda, S. 53 f.; Bericht, HA XX an HA Kader und Schulung, 24.5.1974. Ebenda, S. 249; Prämierungsvorschlag, HA XX/7, 15.11.1977. Ebenda, S. 60 f.; Prämierungsvorschlag, HA XX/7, 23.5.1979. Ebenda, S. 64 f.; Beförderungsvorschlag, HA XX/7, 17.5.1984. Ebenda, S. 79 f. Bereits im Februar 1973 hätte er zum Hauptmann befördert werden sollen, wurde jedoch aufgrund von undiszipliniertem Verhalten von der Beförderungsliste gestrichen. Vgl. Vermerk, HA XX Leiter, 1.2.1973. Ebenda, S. 48.
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Entführer im Auftrag des MfS
Aber anscheinend wurde sie erst im Oktober 1969 offiziell als hauptamtliche Mitarbeiterin vom MfS übernommen und verpflichtet, und zwar als Leutnant im Operativen Stab beim 1. Stellvertreter des Ministers. Im Jahre 1973 wechselte sie dann als »operativ-technische Mitarbeiterin« in die für Spionageabwehr zuständige Hauptabteilung II/10, wo sie bis zu ihrer Invalidisierung 1984 tätig war. Dort war sie u. a. mit Aufgaben im Rahmen der Überprüfungen von Bewerbern für eine Tätigkeit im Dienstleistungsamt für Ausländische Vertretungen befasst. Ihre Beförderung zum Oberleutnant erfolgte 1974, fünf Jahre später wurde sie zum Hauptmann befördert. In ihrer hauptamtlichen Dienstzeit bekam sie elf Medaillen und Orden verliehen: So bereits 1958 – im Zusammenhang mit der Entführung Neumanns – die Verdienstmedaille der NVA in Silber, 1962 die Treuemedaille des MdI in Silber, 1967 die Medaille für treue Dienste des MdI in Gold und 1976 den Vaterländischen Verdienstorden in Silber.702 Einen interessanten Einblick in die Fürsorge des Apparates für die ehemalige IM liefert ein in ihrer Kaderakte enthaltener interner Brief: Im April 1982 wandte sich ein MfS-Mitarbeiter an den Leiter der Hauptabteilung II, weil es Probleme hinsichtlich eines bevorstehenden Kur-Aufenthaltes von »Sylvia« gab. Der Mitarbeiter verwies in dem Schreiben darauf, dass ihm der kurz zuvor verstorbene 1. Stellvertreter des Ministers Bruno Beater dringlichst ans Herz gelegt habe, »ja nicht unsere alten Genossen zu vergessen, welche in den harten ersten Jahren ihre ganze Kraft unserem Ministerium für die Erfüllung unserer Aufgaben gegeben haben« und ihn besonders gebeten habe, sich um »Sylvia« zu kümmern.703 Die Fürsorge des MfS für seine Entführer-IM richtete sich aber in erster Linie nach den eigenen Interessen. In erster Linie galt es, eine Enttarnung zu verhindern, die nicht nur den IM unbrauchbar werden ließ, sondern auch das MfS als Auftraggeber entlarven konnte. Wenn einem IM nach einer Entführungsaktion keine Enttarnung drohte, kam er oft weiterhin zum Einsatz, solange er nützlich war. Anderenfalls traf das MfS entsprechende Versorgungsmaßnahmen: Es zog ihn aus West-Berlin oder der Bundesrepublik ab, organisierte den Neubeginn in der DDR und verschaffte ihm mitunter sogar eine neue Identität. Auf diesem Weg entzog das MfS seine Entführer-IM oftmals einer strafrechtlichen Verfolgung im Westen.
702 Vgl. Auskunftsbogen, Ultn. Breuer, 14.10.1969. BStU, MfS, KS II 487/84, Bd. 1, S. 11–17, hier 12, 15; handschriftliche Verpflichtungserklärung, Monika Hoffmann, 15.10.1969. Ebenda, S. 122–125; Beurteilung, HA VIII/3, 17.1.1968. Ebenda, S. 51 f.; Beurteilung, HA VIII, 17.2.1969. Ebenda, S. 55–57; Beförderungsvorschlag, HA II/10, 13.6.1974. Ebenda, S. 66 f.; Beurteilung, HA II/10, 27.4.1976. Ebenda, S. 70–72; Prämierungsvorschlag, HA II/10, 3.12.1975. Ebenda, S. 74 f. ; Beförderungsvorschlag, HA II, 3.7.1979. Ebenda, S. 82 f.; Beurteilung, HA II/10, 17.4.1984. Ebenda, S. 5 f.; Vorschlag zur Entlassung, HA Kader und Schulung, 25.4.1984. Ebenda, S. 3 f. 703 Brief, Werner Franke an Günther Kratsch, 22.4.1982. BStU, MfS, KS II 487/84, Bd. 1, S. 266.
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Entführer im Auftrag des MfS
X.
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Strafrechtliche Verfolgung in der Bundesrepublik X.1
Strafrechtliche Verfolgung vor 1990
Mit dem »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit« vom 15. Juli 1951 war in der Bundesrepublik die rechtliche Grundlage für die Strafverfolgung der Entführer-IM gelegt. Das Gesetz regelte eine Erweiterung des Strafgesetzbuches um die Paragrafen 234a und 241a. Demzufolge wurde mit Zuchthaus bestraft, »wer einen anderen durch List, Drohung oder Gewalt in ein Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes verbringt oder veranlaßt, sich dorthin zu begeben […]« Der Versuch einer solchen Verschleppung sollte mit einer Gefängnisstrafe geahndet werden. Diese drohte auch demjenigen, der eine andere Person durch Anzeige oder Verdächtigung der Gefahr einer politischen Verfolgung aussetzte.704 Als Vorlage für dieses bundesweit geltende Freiheitsschutzgesetz dienten zwei Gesetze aus der geteilten Stadt Berlin, dem Hauptschauplatz des Menschenraubs: Bereits im September 1949 hatten die Stadtverordnetenversammlung und der Magistrat das »Gesetz über die Verschleppung von Personen aus den Berliner Westsektoren« verabschiedet. Diese Verordnung sah eine Zuchthausstrafe vor, die im Falle einer schweren Körperverletzung oder einer Handlung gegen Entgelt nicht unter drei Jahren liegen sollte.705 Sie wurde im Juni 1951 per Erlass des Abgeordnetenhauses vom »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit« abgelöst, dessen Wortlaut und Strafbestimmungen das Freiheitsschutzgesetz auf Bundesebene einen Monat später weitgehend aufgriff. Allerdings hatte das Landesgesetz einen höheren Strafrahmen.706 Über die Zahl der Verurteilungen auf dieser rechtlichen Grundlage gibt eine im April 1959 erschienene Denkschrift mit dem Titel »Östliche Untergrundarbeit gegen Westberlin« vom Senator für Inneres in West-Berlin Aufschluss. Demnach wurden im Zeitraum September 1951 bis Dezember 1958 in West-Berlin 501 Personen »wegen Landesverrats, landesverräterischer Beziehungen, Verstoßes gegen das Freiheitsschutzgesetz und anderer einschlägiger Delikte rechtskräftig verurteilt«.707 Diese Zahl erhöhte sich laut eines
704 Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit, Bundesgesetzblatt, 15.7.1951. PA-DBT 4000, Ges-Dok I/179, Dok 15. 705 Vgl. Vorlage zur Beschlussfassung, Magistrat von Groß-Berlin an die Stadtverordnetenversammlung, 25.7.1949. LAB, B Rep. 002, Nr. 502, o. Pag.; Gesetz über die Verschleppung von Personen aus den Berliner Westsektoren, 20.9.1949. In: Magistrat von Groß-Berlin Abt. Rechtswesen (Hg.): Verordnungsblatt für Groß-Berlin Nr. 62, 5. Jahrgang. LAB, Zs 416, S. 329–332. 706 Vgl. Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit, 14.6.1951. In: Senator für Justiz (Hg.): Gesetz- und Verordnungsblatt Nr. 33, 7. Jahrgang. LAB, Zs 416, S. 417–428. 707 Denkschrift »Östliche Untergrundarbeit gegen Westberlin«, Senator für Inneres, 15.4.1959. LAB, Soz 1623, S. 28.
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Entführer im Auftrag des MfS
Nachtrags bis Februar 1960 auf 590 Personen.708 Eine nach Tatbeständen differenzierende Aufstellung macht deutlich, dass bundesdeutsche Gerichte in den Jahren 1951 bis 1957 64 Personen nach dem Freiheitsschutzgesetz und weitere zwölf Personen in den Jahren 1956 bis 1958 nach dem Freiheitsschutzgesetz in Verbindung mit dem Paragrafen 100e (Verdacht der Unterhaltung landesverräterischer Beziehungen) schuldig sprachen. Dabei wurde in 67 Fällen das MfS, in acht Fällen der sowjetische und in einem Fall der tschechoslowakische Nachrichtendienst als Auftraggeber identifiziert. Die verhängten Zuchthausstrafen gegen diese 76 Verurteilten belaufen sich insgesamt auf 99 Jahre und fünf Monate, die Gefängnisstrafen auf insgesamt 28 Jahre und neun Monate sowie die Jugendstrafen auf insgesamt acht Jahre und zehn Monate. Die Jahre 1955 und 1956 weisen die meisten Verurteilungen auf: Während die Zahl der Verurteilungen in den Jahren davor und danach höchstens auf acht stieg, waren es 1955 18 und 1956 sogar 29. Mit Blick auf die Gesamthöhe der ausgesprochenen Strafen scheinen unter den 18 Verurteilungen des Jahres 1955 schwerwiegendere Fälle gewesen zu sein. Denn sie bringen es auf insgesamt 42 Jahre und drei Monate Zuchthaus, drei Jahre und 8 Monate Gefängnis sowie einen Monat Jugendstrafe, während sich die Bilanz der 29 Verurteilungen 1956 auf insgesamt 33 Jahre und einen Monat Zuchthaus, acht Jahre und acht Monate Gefängnis sowie fünf Jahre und zehn Monate Jugendstrafe beläuft.709 Einen genaueren Eindruck von der Verteilung der Haftstrafen wegen Verstoßes gegen das Freiheitsschutzgesetz vermittelt eine Statistik aus dem Bundesjustizministerium. Ausgehend von 82 Verurteilungen im Zeitraum 1952 bis 1957 wurden hier 36 Zuchthaus-, 38 Gefängnis- und acht Geldstrafen registriert. Dabei betrug die Höhe der Zuchthausstrafe in neun Fällen jeweils weniger als zwei Jahre, in 17 Fällen zwei bis fünf Jahre und in zehn Fällen fünf bis 15 Jahre. Bei den Gefängnisstrafen wurden 13-mal eine Strafe von drei bis zwölf Monaten ausgesprochen und 25-mal eine Strafe von einem bis fünf Jahren.710 Zu diesen Verurteilten gehörten zwei der Entführer des geflohenen MfSMitarbeiters Sylvester Murau, der im Mai 1956 in der DDR hingerichtet wurde. Zehn Monate zuvor war er aus Kronach in der Bundesrepublik mit Gewalt entführt worden, und zwar von den Westberlinern Kurt Teppler und 708 Vgl. Nachtrag zur Denkschrift »Östliche Untergrundarbeit gegen Westberlin«, Senator für Inneres, 20.2.1960. LAB, Soz 1623 Nachtr., S. 25. 709 Die 64 Verurteilten, die nur nach dem Freiheitsschutzgesetz verurteilt wurden, erhielten Zuchthausstrafen von insgesamt 94 Jahren und 5 Monaten, Gefängnisstrafen von 21 Jahren und 10 Monaten sowie Jugendsstrafen von insgesamt 2½ Jahren. Vgl. Denkschrift »Östliche Untergrundarbeit gegen Westberlin«, Senator für Inneres, 15.4.1959. LAB, Soz 1623, S. 30. 710 In der Statistik aus dem Bundesjustizministerium fehlen die Angaben aus dem Bundesgebiet für 1957. Vgl. Vermerk, Große Strafrechtskommission, 16.12.1958. BArch, B 141/90208, S. 70–90, hier 89.
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Gerhard Handrick. Ersteren nahm die Westberliner Polizei Anfang August 1955, wenige Tage nach der Entführung wegen illegalen Waffenbesitzes sowie Verdachts des Diebstahls und Rauschgifthandels fest. Er hatte einen Bekannten Ende Juli gebeten, ihm einen Leihwagen zu besorgen, für den er einen Abnehmer hätte. Der Bekannte meldete dies der Polizei, nachdem er eine Pistole in dem Wagen von Kurt Teppler gesehen hatte. Als die Westberliner Polizei Kurt Teppler festnahm, fand sie neben dieser Pistole (im geladenen Zustand) einen falschen Ausweis, Rauschgift und eine größere Bargeldsumme bei ihm. Kurt Teppler gab an, die Waffe sowie den Ausweis ohne besonderen Zweck in einem Westberliner Lokal gekauft und den Leihwagen nur für eine Spazierfahrt genutzt zu haben.711 Nach längerer Vernehmung machte er aber ein Geständnis ganz anderer Art: Zusammen mit einem Mann namens Heinz Wagner habe er am 24. Juli mit einem Leihwagen in der Nähe von Darmstadt einen »Menschenraub begangen«, für den sie insgesamt 10 000 DM/West erhalten hätten. Über den entführten Mann wisse er, dass der Vorname des etwa 50-Jährigen Sylvester lautet. Mithilfe der Polizei in Darmstadt konnte die Identität des Opfers schnell geklärt werden.712 Genauere Angaben zur Tat machte er sodann gegenüber der Abteilung V der Westberliner Polizei, welche die Ermittlungen übernommen hatte. Er berichtete, Wagner alias Gerhard Handrick 1952 kennengelernt und im Mai 1955 erfahren zu haben, dass er für den DDR-Staatssicherheitsdienst tätig war. Mit der Aussicht auf eine finanzielle Entlohnung habe er Gerhard Handrick bei dieser Arbeit unterstützt und u. a. zur Vorbereitung von Entführungen verschiedene Personen in WestBerlin beobachtet.713 Auf diese Weise sei er selbst mit dem MfS in Verbindung gekommen und habe Anfang Juli an mehreren Besprechungen in Ost-Berlin teilgenommen, bei denen die fragliche Entführung geplant worden sei. Detail711 Vgl. Strafanzeige, Polizeipräsident Berlin RKB 213, 3.8.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8972, S. 1; Vernehmungsprotokoll, KKF 2, 3.8.1955. Ebenda, S. 4; Vermerk, KKF 2, 3.8.1955. Ebenda, S. 9; Vernehmungsprotokoll, Kriminalpolizei Abt. E II 1, 3.8.1955. Ebenda, S. 13; Strafanzeige, Polizeipräsident Berlin Polizeisektor-Assistent für den amerikanischen Sektor Sachgebiet Kripo, 3.8.1955. Ebenda, S. 15; Vernehmungsprotokoll, Polizeipräsident Berlin Polizeisektor-Assistent für den amerikanischen Sektor Sachgebiet Kripo, 3.8.1955. Ebenda, S. 17; Schlussbericht, PolizeisektorAssistent GCIS, 3.8.1955. Ebenda, S. 20. 712 Vgl. Geständnis, Kriminalpolizei Abt. E II 1, 3.8.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8972, S. 22; Vorführbericht, Kriminalpolizei Abt. E II 1, 3.8.1955. Ebenda, S. 23; Funkspruch, Polizeipräsident Berlin an Kriminalpolizei Darmstadt, 4.8.1955. Ebenda, S. 53; Antwort per Funkspruch, Kriminalpolizei Darmstadt, 4.8.1955. Ebenda, S. 54. 713 Neben dem stellvertretenden Leiter des SPD-Ostbüros gehörte auch die Publizistin Erika Assmuss zu diesen Personen. Sie war 1951 von Ost- nach West-Berlin geflohen und dort unter dem Pseudonym Carola Stern u. a. für bundesdeutsche Zeitungen und das BMG tätig. Nach dem Geständnis von Kurt Teppler warnte die Westberliner Polizei sie und 2 weitere Personen vor den mutmaßlichen Entführungsabsichten des MfS. Vgl. Aussage Erika Assmuss, Abt. V.1 (S) V, 5.8.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8972, S. 50; Bericht über Warnhinweise, Abt. V.1 (S) V, 5.8.1955. Ebenda, S. 52. Vgl. Gerken: Spione, S. 298 f.
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liert schilderte Kurt Teppler sodann die Durchführung der Aktion: Das Leihen eines Autos in West-Berlin; die Fahrt in die Bundesrepublik; das Zusammentreffen mit der Tochter Muraus, die als eine Art ›Lockvogel‹ agierte; die Kontaktaufnahme zu Murau, die für diesen zufällig wirken musste; das Besorgen eines neuen Leihwagens, nachdem der andere bei einem Unfall beschädigt worden war; der Ausflug mit Murau und seiner Tochter, bei dem Murau viel Alkohol und vermutlich auch ein Schlafmittel verabreicht wurde sowie die anschließende Flucht mit dem Bewusstlosen in die DDR an einer besonderen Stelle der Zonengrenze.714 Die Fahndung nach dem Mittäter Heinz Wagner führte zunächst zur Festnahme einer falschen Person. Bereits in der Nacht vom 5. zum 6. August gelang es der Abteilung V jedoch mithilfe von V-Personen, Gerhard Handrick zu verhaften. Dieser war bereits seit Mitte Juli untergetaucht, da er sich der Verbüßung einer zehnmonatigen Haftstrafe wegen schwerer Körperverletzung entzogen hatte und aus diesem Grund ein Haftbefehl gegen ihn vorlag. Er bestritt alle Vorwürfe – auch als er Kurt Teppler gegenübergestellt wurde.715 In den Augen der Westberliner Polizei, die bereits mehrfach gegen ihn wegen schweren Diebstahls und Körperverletzung ermittelt hatte, handelte es sich bei Gerhard Handrick jedoch um einen »brutalen und gewalttätigen Rechtsbrecher«. Seine Angaben wurden daher als äußerst unglaubwürdig eingestuft, zumal er bei seiner Festnahme neben einer größeren Geldsumme eine geladene Gaspistole bei sich führte.716 Schließlich gestand auch er, Aufträge für den DDR-Staatssicherheitsdienst übernommen zu haben: die Vorbereitung von zwei Einbrüchen sowie von vier Entführungen in West-Berlin und die Durchführung der Entführung von Sylvester Murau, die er ausführlich schilderte.717 Mithilfe dieser Geständnisse sowie der Aussagen von Zeugen aus dem Raum Darmstadt und der bayerischen Grenzpolizei konnte Muraus Entführung innerhalb eines Monats weitgehend aufgeklärt werden.718 Im September 1955 714 Vgl. Vernehmungsprotokoll, Abt. V.1 (S) V, 3.8.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8972, S. 31– 36; Vorführbericht, Abt. V.1 (S) V, 4.8.1955. Ebenda, S. 37 f.; Vorführbericht, Amtsgericht Tiergarten, 4.8.1955. Ebenda, S. 40–42. Vgl. Gerken: Spione, S. 300–307. 715 Bei der Gegenüberstellung leugnete auch Kurt Teppler plötzlich seine Tatbeteiligung, nahm die entsprechenden Aussagen aber nach kurzer Zeit wieder zurück. Er gab an, aus Angst vor dem MfS von seinem Geständnis abgerückt zu sein. Vgl. zwei Berichte, Abt. V.1 (S) V, 3.8.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8972, S. 30; Festnahmebericht, Abt. V.1 (S) V, 6.8.1955. Ebenda, S. 57; Vernehmungsprotokoll, Abt. V.1 (S) V, 6.8.1955. Ebenda, S. 58 f.; Vorführbericht, Amtsgericht Tiergarten, 7.8.1955. Ebenda, S. 67 f.; Protokoll Gegenüberstellung, Abt. V.1 (S) V, 10.8.1955. Ebenda, S. 90 f. Vgl. Gerken: Spione, S. 297 f. 716 Vgl. Vorführbericht, Abt. V.1 (S) V, 6.8.1955. Ebenda, S. 63. 717 Vgl. Geständnis Gerhard Handrick, Abt. V.1 (S) V, 10.8.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8972, S. 92–99; Vorführbericht, Amtsgericht Tiergarten, 12.8.1955. Ebenda, S. 106–108. 718 Vgl. Zeugenaussagen, Abt. V.1 (S) V, 16.–22.8.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8972, S. 147– 156; Zeugenaussage, Kriminal-Inspektion Darmstadt, 6.8.1955. Ebenda, S. 167; Bericht, Abt. V.1 (S) V, 25.8.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8975, o. Pag. Die Polizei informierte die Presse über die Ermitt-
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wurde gegen den 24-jährigen Gerhard Handrick und den gleichaltrigen Kurt Teppler vor dem Landgericht Berlin Anklage erhoben und das Hauptverfahren eröffnet.719 »Vom menschlichen Standpunkt gesehen, war unsere Tat richtig.«, bekundete der angeklagte Kurt Teppler in der Gerichtsverhandlung. Mit der Auslieferung des geflohenen MfS-Mitarbeiters Murau habe er seinen in einem NKWD-Lager umgekommenen Vater rächen wollen, da auf diese Weise ein »SSD-Verbrecher« nun die ehemals selbst angewandten Methoden am eigenen Leib erfahren würde.720 Diese Einlassung überzeugte die Zweite Große Strafkammer beim Landgericht Berlin jedoch nicht, sie sah – in Übereinstimmung mit psychiatrischen Gutachten – vielmehr kriminelle Neigung, Geldgier, Abenteuerlust und Geltungsdrang als Motive für das hemmungslose Verhalten der Angeklagten. Ihr Urteil lautete: zwölf Jahre Zuchthaus für Gerhard Handrick und zehn Jahre für Kurt Teppler wegen vollendeter Verschleppung in Tateinheit mit schwerer Freiheitsberaubung. Mit diesem Urteil blieb sie drei bzw. zwei Jahre unter dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft und begründete diese Entscheidung mit den Geständnissen und dem relativ jungen Alter der Angeklagten. Die höhere Haftstrafe für Gerhard Handrick resultierte aus seinen erheblichen Vorstrafen und dem Umstand, dass er den Kontakt zum DDRStaatssicherheitsdienst hergestellt hatte. Mit dem hohen Strafmaß sollte ein Exempel statuiert werden: »Im Vordergrund stand bei der Strafbemessung aber der Gedanke der Abschreckung. Der Dreistigkeit, mit der die Angeklagten ihr Opfer über hunderte von Kilometern mitten aus der Bundesrepublik herausholten, konnte nur mit einer exemplarischen Strafe entgegengetreten werden. Kriminelle Elemente müssen wissen, dass sie bei dem Gewaltverbrechen einer Verschleppung mit dem Ziel, das Opfer dem SSD auszuliefern, mit den härtesten Strafen zu rechnen haben.«721
lungsergebnisse. Vgl. Menschenraub für 10 000 DM. Berufsverbrecher als SSD-Agent – Tochter lockte Vater in die Falle. In: Berliner Morgenpost, 7.8.1955; Berliner Polizei deckt neuen Menschenraub auf. In: Tagesspiegel, 7.8.1955; Menschenraub für 10 000 DM. In: Telegraf, 7.8.1955; Menschenraub von Darmstadt in die Sowjetzone – Tochter half dem SSD. In: Welt am Sonntag, 7.8.1955; Wieder ein Fall von Menschenraub. SSD-Agenten entführen früheren Volkspolizei-Major aus Darmstadt. In: Frankfurter Rundschau, 8.8.1955; Wurde die Tochter des entführten VopoMajors erpresst? In: Frankfurter Rundschau, 11.8.1955; Menschenräuber geständig. In: Tagesspiegel, 12.8.1955; Geständnis des Menschenräubers. In: Die Welt, 12.8.1955. In der MfS-Hauptabteilung V/2 rekapitulierte man den Entführungsablauf und begab sich auf Fehlersuche. Vgl. Bericht, HA V/2, 2.9.1955. BStU, MfS, HA XX Nr.1662, S. 65–73, hier 68–73. 719 Vgl. Anklageschrift, Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin, 5.9.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8973, S. 55–71; Beschluss, Landgericht Berlin, 22.9.1955. Ebenda, S. 89 f.; Anklage gegen Murau-Entführer. In: Tagesspiegel, 7.9.1955. 720 Urteil, Landgericht Berlin, 7.10.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8973, S. 192–215, hier 208; vgl. Protokoll der Hauptverhandlung, Landgericht Berlin, 3.10.1955. Ebenda, S. 183–191, hier 190. 721 Urteil, Landgericht Berlin, 7.10.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8973, S. 192–215, hier 208, 213 f. (Zitat); vgl. Protokoll der Hauptverhandlung, Landgericht Berlin, 3.10.1955. Ebenda, S. 183– 191; Geldgier trieb sie zum Menschenraub. In: Die Welt, 8.10.1955; Zuchthaus für Menschenraub.
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Die Anträge auf Revision der beiden Rechtsanwälte wurden im Mai 1956 vom Bundesgerichtshof als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.722 Kurt Teppler kämpfte noch in der Folgezeit erfolglos um eine Wiederaufnahme seines Verfahrens mit dem Ziel seiner Rehabilitierung. Dabei drohte er sogar mit einer Propagandakampagne in der DDR, die anhand seines Beispiels zeigen könne, dass alle Behauptungen in Sachen Menschenraub vom Westen erfunden seien.723 Ebenso scheiterten die Anträge beider Verurteilten beim Landgericht Berlin auf eine vorzeitige Haftentlassung. Kurt Teppler konnte jedoch Anfang Juni 1964 seinen Antrag vor dem Kammergericht Berlin durchfechten, sodass er wenige Tage später mit einer vierjährigen Bewährungsfrist aus der Haft entlassen wurde. Gerhard Handrick musste seine Strafhaft hingegen bis November 1967 vollständig verbüßen.724 Eine derart erfolgreiche strafrechtliche Verfolgung von Tatbeteiligten war eher selten. Im Zusammenhang mit den Entführungen von West nach Ost stellte sich für die bundesdeutschen Ermittler oft die Frage, ob es sich überhaupt um eine solche handelte.725 Sofern nicht eindeutige Beweise vorlagen oder Zeugen vorhanden waren, gestaltete sich die Aufklärung des Geschehens In: Telegraf, 8.10.1955; Zuchthaus für Murau-Entführer. In: Tagesspiegel, 8.10.1955; Zwei junge Menschenräuber ohne Gewissen. In: Süddeutsche Zeitung, 10.10.1955. 722 Beide Rechtsanwälte bemängelten u. a. die Anwendung des § 234 StGB, da es sich bei Murau um einen ehemaligen Vernehmer des MfS handelte, der selbst von den Justizbehörden zur Rechenschaft gezogen werden müsste. Zudem verwies der Rechtsanwalt von Kurt Teppler auf ein Urteil des Schwurgerichts Bochum, das einen hohen SS-Führer wegen Beihilfe am Mord von über 50 Personen nur zu einer Zuchthausstrafe von 5 Jahren verurteilt habe. Vgl. Antrag auf Revision, Rechtsanwalt an Landgericht Berlin, 11.10.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8973, S. 225; Revisionsbegründung, Rechtsanwalt an Landgericht Berlin, 27.12.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 8974, S. 7–9; Revisionsbegründung, Rechtsanwalt an Landgericht Berlin, 2.1.1956. Ebenda, S. 16 f.; Gegenerklärung, Staatsanwaltschaft Landgericht Berlin, 23.1.1956. Ebenda, S. 21 f.; Urteil, Bundesgerichtshof, 4.5.1956. Ebenda, S. 37. 723 Kurt Teppler ließ sich von dem Ostberliner Rechtsanwalt Kaul vertreten, nachdem alle angefragten Westberliner Anwälte seine Verteidigung abgelehnt hatten. Vgl. Brief, Kurt Teppler an Oberstaatsanwalt Landgericht Berlin, 20.12.1956. LAB, B Rep. 058, Nr. 8974, S. 85; ablehnender Bescheid, Staatsanwaltschaft Landgericht Berlin an Kurt Teppler, 15.1.1957. Ebenda, S. 86; Brief, Kurt Teppler an Generalstaatsanwaltschaft Kammergericht, 24.3.1957. LAB, B Rep. 058, Nr. 8975, S. 129–131; ablehnender Bescheid, Staatsanwaltschaft Kammergericht an Kurt Teppler, 16.5.1957. Ebenda, S. 132. In der Haft verfasste er ein Manuskript über seinen Fall mit dem Titel »Der Irrtum«. Vgl. Erklärung, Abt. I 4 KJ 1, 10.11.1967. LAB, B Rep. 058, Nr. 8979, S. 16. 724 Vgl. Gnadengesuch, Margot Teppler, 12.12.1960. LAB, B Rep. 058, Nr. 8981, Bl. 1 f.; Stellungnahme zum Gnadengesuch, Vorstand der Strafanstalt Tegel, 17.1.1961. Ebenda, Bl. 4; Antrag auf vorzeitige Haftentlassung, Kurt Teppler an Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin, 15.6.1962. LAB, B Rep. 058, Nr. 8978, S. 19–22; Beschluss, Landgericht Berlin, 2.7.1962. Ebenda, S. 23–25; Beschluss, Kammergericht Berlin, 24.8.1962. Ebenda, S. 31; Antrag auf vorzeitige Haftentlassung, Kurt Teppler an Landgericht Berlin, 2.3.1964. Ebenda, S. 35; Beschluss, Landgericht Berlin, 3.4.1964. Ebenda, S. 37–39; Beschluss, Kammergericht Berlin, 1.6.1964. Ebenda, S. 44 f.; Antrag auf vorzeitige Haftentlassung, Gerhard Handrick an Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin, 7.4.1966. LAB, B Rep. 058, Nr. 8977, S. 30; Beschluss, Landgericht Berlin, 3.5.1966. Ebenda, S. 31–34. 725 Vgl. Ausführungen über die polizeilichen Ermittlungen in Kapitel X.1.
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Entführer im Auftrag des MfS
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äußerst schwierig. Galt eine Entführung oder Verschleppung als erwiesen, stand die strafrechtliche Verfolgung von Tatbeteiligten vor weiteren Hürden: Nicht wenige waren nach der erfolgten Verschleppung oder Entführung in die DDR übergesiedelt und damit für die bundesdeutsche Justiz unerreichbar. So hatte die Westberliner Polizei beispielsweise die beiden Entführer des im November 1956 verschwundenen Heinz Kramer ermitteln können. Denn es gab einen Zeugen, der sich im Entführungsfahrzeug befunden hatte, mit dem die Entführer Heinz Kramer nach einem gemeinsam verbrachten Abend (und mutmaßlich nach Verabreichung eines Betäubungsmittels) nach Ost-Berlin gebracht hatten. Da der Zeuge nur kurze Zeit in Ost-Berlin festgehalten worden war, konnte er nach seiner Rückkehr nach West-Berlin umfangreiche Angaben machen. Die von ihm beschuldigten Personen konnten aber nur ins Fahndungsbuch aufgenommen werden, da sie in Ost-Berlin verschwunden waren.726 Von den Tatbeteiligten, die im Westen blieben, konnten zwar einige als Tatverdächtige aufgespürt werden, doch fehlten dann mitunter die rechtskräftigen Beweise. Der Fall des im August 1954 entführten Rudolf Graf macht dies deutlich. Während seiner Haft in der Strafvollzugsanstalt Bautzen war es Rudolf Graf gelungen, mehrere Mitgefangene detailliert über seine gewaltsame Entführung unter Einsatz eines Betäubungsmittels zu informieren. Nach ihrer Rückkehr aus der DDR-Haft konnten sie der bundesdeutschen Polizei entscheidende Hinweise zur Aufklärung des Verschwinden Grafs geben.727 Da Graf auch die Namen seiner Entführer nennen konnte, führten die Angaben der Rückkehrer zur Erhärtung eines bereits bestehenden Tatverdachts. Dieser richtete sich gegen den Westberliner Hartmut Koch, mit dem Rudolf Graf in West-Berlin geschäftliche Beziehungen unterhielt, und dessen Freundin Jutta Kleine. Mit beiden hatte Graf am Tag seines Verschwindens einen Ausflug zur 726 Vgl. Schlussbericht, Abt. I 4 KJ 1, 5.12.1956. LAB, B Rep. 020, Nr. 8162, o. Pag.; Entführung nach Ost-Berlin. Wieder Menschenraub – Im Auto über die Sektorengrenze. In: Telegraf, 20.11.1956; Menschenraub in Neukölln. In: Tagesspiegel, 20.11.1956. Der von der Westberliner Polizei rekonstruierte Tatablauf entsprach den Entführungsplänen des MfS, die jedoch nicht den Einsatz eines Betäubungsmittels vorsahen. Vgl. Operativplan, KD Köpenick, 28.9.1956. BStU, MfS, AOP 906/57, Bd. 1, S. 210 f.; Plan, HA II/1, 2.10.1956. Ebenda, S. 214–216; Vorschlag, MfS, 27.10.1956. Ebenda, S. 220; Festnahmebericht, Abt. II/1, 17.11.1956. Ebenda, S. 221. 727 Mindestens 6 ehemalige Mithäftlinge Grafs machten entsprechende Aussagen. Vgl. protokollierte Aussage eines Mithäftlings, Polizei, 18.1.1956. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 131/95, Bd. 2, S. 4 f; Bericht über Aussage eines Mithäftlings, Abt. I 4 KJ 1, 6.2.1956. Ebenda, S. 14 f.; Bericht über Aussage eines Mithäftlings, Abt. I 4 KJ 1, 9.8.1956. Ebenda, S. 31–33; Bericht eines Mithäftlings, 9.8.1956. Ebenda, S. 46–52; Bericht eines Mithäftlings, 12.10.1956. Ebenda, S. 64 f.; Vermerk, Abt. I 4 KJ 1, 18.12.1956. Ebenda, S. 67; Aussage eines Mithäftlings, Kriminalpolizei Osterode, 30.3.1957. Ebenda, S. 69; Vermerk, Abt. I 4 KJ 1, 25.6.1958. Ebenda, S. 127 f.; Aussage eines Mithäftlings, Kriminalpolizei Hildesheim, 1.7.1958. Ebenda, S. 147; Aussage eines Mithäftlings, Polizei Frankfurt/M., 7.7.1958. Ebenda, S. 153; Aussage eines Mithäftlings, Abt. I 4 KJ 1, 17.7.1958. Ebenda, S. 160; Aussage eines Mithäftlings, LKA NRW, 22.7.1958. Ebenda, S. 163–168.
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Entführer im Auftrag des MfS
(auf Westberliner Gebiet liegenden) Pfaueninsel gemacht, von dem er nicht zurückkehrte. Nach seiner Darstellung hatte ihm Jutta Kleine auf der Fahrt eine Kognakbohne verabreicht, nach deren Verzehr er das Bewusstsein verloren habe und erst beim MfS in Dresden wieder zu sich gekommen sei.728 Da Hartmut Koch sich im Dezember 1954 das Leben genommen hatte, als er sich wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft befand, richteten sich die Ermittlungen nur gegen Jutta Kleine. Diese bestritt nach ihrer Festnahme im Mai 1958 Grafs Schilderung der Ereignisse. Zwar hätten sie den besagten Ausflug unternommen, seien aber ohne besonderen Zwischenfall am Abend zum Kurfürstendamm zurückgekehrt, wo sie das Auto verlassen habe. Erst vier Wochen später habe sie durch Hartmut Koch von einer angeblichen Entführung Grafs erfahren, die er aber als eine Festnahme in der DDR dargestellt habe.729 Diese Aussage konnte nach Ansicht der Westberliner Polizei – wenn überhaupt – erst nach Grafs Rückkehr durch eine Erklärung seinerseits widerlegt werden, da die Angaben seiner Mithäftlinge zum Tatgeschehen zu große Abweichungen aufwiesen. Das Verfahren wurde daher wegen Mangels an Beweisen eingestellt und der Haftbefehl aufgehoben.730 Zu einer Neuaufnahme des Verfahrens kam es vor 1990 nicht, denn Rudolf Graf kehrte nicht zurück. Er starb 1960 in DDR-Haft.731 728 Vgl. Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 25.1.1956. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 131/95, Bd. 2, S. 7 f.; Schlussbericht, Abt. I 4 KJ 1, 30.7.1958. Ebenda, S. 169–171; Vermerk, ZERV 213, 3.7.1996. Ebenda, Bd. 1, S. 73. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1201. 729 Jutta Kleine hatte 1956/57 ein Jahr in der Schweiz gelebt, sodass sie erst nach ihrer Rückkehr nach München festgenommen werden konnte. Vgl. Haftbefehl, Amtsgericht Tiergarten, 20.8.1956. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 131/95, Bd. 2, S. 30; Vorführungsnote, Polizeipräsidium München, 12.5.1958. Ebenda, S. 80; Vernehmungsprotokoll, Abt. I 4 KJ 1, 24.6.1958. Ebenda, S. 123–127; Vermerk, Abt. I 4 KJ 1, 26.6.1958. Ebenda, S. 133; Schlussbericht, Abt. I 4 KJ 1, 30.7.1958. Ebenda, S. 169–171. 730 Vgl. Schlussbericht, Abt. I 4 KJ 1, 30.7.1958. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 131/95, Bd. 2, Bl. 169–171, hier 171 (Rückseite); Vermerk, Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin, 15.8.1958. Ebenda, S. 173. Nach Einstellung des Verfahrens meldeten sich noch weitere entlassene DDR-Häftlinge, die über Grafs Entführung berichteten, aber keine weiterführenden Angaben machen konnten. Vgl. Aussage eines Mithäftlings, Kriminalpolizei Münster, 29.8.1958. Ebenda, S. 191; Aussage eines Mithäftlings, Polizei Hannover, 2.9.1958. Ebenda, S. 187; Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 24.6.1959. Ebenda, S. 194; Aussage eines Mithäftlings, Abt. I 4 KJ 1, 17.5.1965. Ebenda, S. 197. 731 Die Ermittlungen nach 1990 ergaben, dass Hartmut Koch als GM »Andrä« vom MfS mit der Entführung Grafs beauftragt war. Bei der Durchführung hatte er Graf mit in Getränken aufgelösten Tabletten und mit Äther betäubt. Laut Hartmut Koch war Jutta Kleine bei der gesamten Entführungsaktion anwesend und hatte erst kurz vor der Übergabe Grafs an das MfS den Wagen verlassen. Bei einer erneuten Vernehmung 1997 bestritt sie weiterhin, wissentlich an der Entführung teilgenommen zu haben. Erneut musste das Verfahren gegen sie aus Mangel an Beweisen eingestellt werden. Vgl. Vermerk, ZERV 213, 31.1.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 131/95, Bd. 1, S. 63 f.; Vermerk, ZERV 213, 3.7.1996. Ebenda, S. 74–77; Zwischenbericht, ZERV 213, 8.7.1996. Ebenda, S. 90–95; Vermerk, ZERV 213, 21.10.1997. Ebenda, S. 140–143; Vernehmungsprotokoll, Polizeipräsidium München, 28.11.1997. Ebenda, S. 157–160; Vermerk, Staatsanwaltschaft Landgericht Berlin, 2.12.1997. Ebenda, S. 161 f.; Vermerk, Staatsanwaltschaft II, 23.4.1999. Ebenda, S. 210–212.
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Entführer im Auftrag des MfS
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Die lückenhafte Quellenlage erschwert die Aussage über die Anzahl der Ermittlungsverfahren gegen die erfassten Entführer-IM. Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Entführer-IM spätestens nach der Haftentlassung der Entführungsopfer in den Kreis der Tatverdächtigen rückten. In MfS-Akten finden sich in diesem Zusammenhang interne Vermerke, dass der jeweilige IM im westdeutschen Fahndungsbuch erfasst sei. So informierte die HV A beispielsweise im Januar 1965 die Hauptabteilung XX, dass der aus DDR-Haft entlassene Karl Reimer im Westen ausgesagt habe, von einem Fritz Nitschke 1953 betäubt und entführt worden zu sein, und gegen diesen Anzeige erstattet habe. Der im August 1953 als GM »Lieber« angeworbene Fritz Nitschke, der nunmehr für die Hauptabteilung XX/1 registriert war, hatte 1953/54 zwei Entführungen für das MfS vorgenommen. Im Januar 1969 erreichte diese MfS-Diensteinheit eine weitere Meldung, dieses Mal von der Abteilung XII, dass Fritz Nitschke im westdeutschen Fahndungsbuch wegen Verstoßes gegen das »Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit« zur Festnahme ausgeschrieben stehe.732 Diese Mitteilungen dürften nicht überraschend gewesen sein: Bereits kurz nach dem Verschwinden der beiden Personen hatte die Westberliner Polizei »Lieber« in ihre Ermittlungen einbezogen, da er jeweils zuletzt mit den Verschwundenen gesehen worden war. Im ersten Entführungsfall im November 1953 vernahm die Westberliner Polizei »Lieber« als Zeugen. Verdachtsmomente, dass er an der Entführung beteiligt gewesen sein könnte, sahen die bundesdeutschen Ermittler noch nicht, zumal sie seinem falschen Alibi für die Tatzeit Glauben schenkten. Als er jedoch im August 1954 wieder mit dem Verschwinden eines Westberliners in Verbindung stand, rückte er in den Kreis der Tatverdächtigen. Anfang September nahm ihn die Westberliner Polizei vorläufig fest und konfrontierte ihn in der Vernehmung mit dem Vorwurf des Menschenraubs. Doch »Lieber« stritt alle Vorwürfe ab und führte wiederum ein Alibi für die Tatzeit an. Da ihn die Westberliner Polizei aus Mangel an Beweisen freiließ, nutzte er die Gelegenheit, um sich nach OstBerlin abzusetzen. Im weiteren Verlauf der Ermittlungen wurde »Lieber« zweifelsfrei als Tatbeteiligter (auch im ersten Entführungsfall) identifiziert, man erließ Haftbefehl und schrieb ihn im Fahndungsbuch aus.733 732 Die HV A hatte ein Fernschreiben der Kriminalpolizei Düsseldorf abgefangen. Vgl. Fernschreiben, Kriminalpolizei Düsseldorf an LfV und LKA NRW, BKA, Polizeipräsident von Berlin u. a., 19.11.1964. BStU, MfS, AP 8993/82, Bd. 23, S. 86 f.; Mitteilung, HV A an Leiter der HA XX, 19.1.1965. Ebenda, S. 94; Mitteilung, Abt. XII an HA XX/1, 21.1.1969. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 1, S. 244. 733 Die Unterlagen der bundesdeutschen Ermittlungen finden sich in den MfS-Unterlagen. Vgl. Anzeige über vermißte Person, Polizeipräsident Berlin Abt. K, 18.11.1953. BStU, MfS, AIM 4861/65, P-Akte Bd. 3, S. 9–13; Protokoll Vernehmung, Abt. K, 5.12.1953. Ebenda, S. 19–21; Vermerk, Abt. V.1, 21.12.1953. Ebenda, S. 22 f.; Ermittlungsbericht, Abt. V.1, 26.3.1954. Ebenda, S. 26 f.; Vermerk, Abt. I 4 KJ 1, 23.11.1957. Ebenda, S. 33 f.; Einlieferungsanzeige, Abt. V.1 (S) V, 3.9.1954. Ebenda, S. 55 f.; Protokoll Vernehmung, Abt. V.1 (S) V, 3.9.1954. Ebenda, S. 51–54;
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Entführer im Auftrag des MfS
In die Hände der bundesdeutschen Polizei gelangte auch der IM »Norge« alias Franz Arlt, der im Juni 1961 an der gewaltsamen Entführung (unter Einsatz eines Betäubungsmittels) des Gewerksschaftsjournalisten Heinz Brandt beteiligt gewesen war – allerdings mehr als 20 Jahre nach der Tat. Nach seiner Rückkehr aus der DDR-Haft im Mai 1964 hatte Brandt im Westen ausführliche Angaben zu dem Tatgeschehen und einigen Tatbeteiligten gemacht, sodass gegen Franz Arlt und Anna Wessel (IM »Martina Matt«) ermittelt werden konnte.734 Im Rahmen dieser Ermittlungen erhärtete sich auch der bestehende Verdacht, dass Franz Arlt in die versuchte Entführung eines KgU-Mitarbeiters mittels Betäubungsmittel im Jahre 1958 verwickelt war.735 Das Ermittlungsverfahren übernahm der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe, der es wegen Abwesenheit der Angeschuldigten vorläufig einstellen musste. Allerdings blieben die Haftbefehle bestehen.736 Im September 1982 wurde Franz Arlt, der mittlerweile Rentner war, bei einem Besuch in der Bundesrepublik festgenommen. In seinen Vernehmungen gab der 65-Jährige zwar an, am Tattag merkwürdige Beobachtungen in seiner Wohnung gemacht zu haben, wie das verwüstete Zimmer seiner Untermieterin Anna Wessel, das auf einen stattgefundenen Kampf schließen ließ. An der Entführung Brandts sei er weder beteiligt gewesen, noch habe er Kenntnis davon gehabt. Erst im Nachhinein sei er von seiner Ehefrau, die Kontakt zum MfS gehabt habe, informiert Ermittlungsbericht, Abt. V.1 (S) V, 8.9.1954. Ebenda, S. 58–61; Ermittlungsbericht, Abt. V.1 (S) V, 13.9.1954. Ebenda, S. 63 f.; Zwischenbericht, Abt. V.1 (S) V, 21.9.1954. Ebenda, S. 95–100; Schlussbericht, Abt. V.1 (S) V, 12.4.1955. Ebenda, P-Akte Bd. 4, S. 75–87; Haftbefehl, Amtsgericht Tiergarten, 4.5.1955. Ebenda, S. 92; Ermittlungsbericht, Amtsgericht Tiergarten, 2.6.1955. Ebenda, S. 101. »Lieber« berichtete dem MfS stets über die Vernehmungen durch die Westberliner Polizei und den Stand der Ermittlungen. Vgl. Bericht, GM »Lieber«, 9.12.1953. Ebenda, A-Akte Bd. 1, S. 140 f.; Bericht, GM »Lieber«, 21.12.1953. Ebenda, S. 160; 6 Berichte, GM »Lieber«, 15.1.–29.3.1954. Ebenda, A-Akte Bd. 2, S. 27, 91, 118 f., 128–130, 175 f., 196 f. 734 Vgl. Aktenvermerk, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt/M., 29.5.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1376/92, Bd. 1, S. 35–40; Schreiben, Generalbundesanwalt Bundesgerichtshof an Generalstaatsanwalt Oberlandesgericht Frankfurt/M., 15.6.1964. Ebenda, S. 91; Protokoll Aussage von Heinz Brandt, Generalbundesanwalt, 23.6.1964. Ebenda, Bd. 3, S. 27–38; Bericht zum Ermittlungsverfahren, 14.7.1965. Ebenda, S. 301–324; Politische Polizei ermittelt erneut im Fall Brandt. In: Tagesspiegel, 6.6.1964; Die Politische Polizei sucht vier Personen. In: Berliner Morgenpost, 6.6.1964; Neue Spuren. In: Telegraf, 7.6.1964; In Berlin vernommen. Heinz Brandt sagte über Einzelheiten seiner Entführung aus. In: Telegraf, 9.6.1964. Das Ermittlungsverfahren unmittelbar nach der Entführung musste 1961 eingestellt werden, da die Täter nicht ermittelt werden konnten. Vgl. Vermerk, Generalbundesanwalt Bundesgerichtshof, o. D. Ebenda, Bd. 3, S. 395–407, hier 395. 735 Vgl. Vermerk, Generalbundesanwalt Bundesgerichtshof, o. D. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1376/92, Bd. 3, S. 395–407. 736 Vgl. Schreiben, Generalbundesanwalt Bundesgerichtshof an Generalstaatsanwalt Oberlandesgericht Frankfurt/M., 15.6.1964. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1376/92, Bd. 1, S. 91; Bericht zum Ermittlungsverfahren, 14.7.1965. Ebenda, S. 301–324; Vermerk, Generalbundesanwalt Bundesgerichtshof, o. D. Ebenda, Bd. 3, S. 395–407; Haftbefehl, Ermittlungsrichter Bundesgerichtshof, 18.8.1967. Ebenda, S. 415 f.; Haftbefehl, Ermittlungsrichter Bundesgerichtshof, 18.8.1967. Ebenda, S. 417 f.
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worden.737 Die Unrichtigkeit dieser Aussage konnte erst nach 1990 mithilfe der MfS-Unterlagen nachgewiesen werden. Im Jahr 1982 sah der Generalbundesanwalt hingegen keinen dringenden Tatverdacht mehr, sodass der Bundesgerichtshof den Haftbefehl gegen Franz Arlt aufhob und ihn in die DDR zurückkehren ließ.738 Das Verfahren gegen Anna Wessel wurde fünf Jahre später, im August 1987, wegen Abwesenheit endgültig eingestellt.739 Die bundesdeutschen Ermittler hatten also oft schon die richtigen Tatverdächtigen im Visier, mussten diese aber entweder aus Mangel an Beweisen laufen lassen oder konnten ihrer erst gar nicht habhaft werden. Bei 20 der untersuchten Entführer-IM ist eine Verhaftung in West-Berlin oder der Bundesrepublik überliefert, die jedoch nur in elf Fällen zu einer Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Freiheitsschutzgesetz führte. Wesentlich größer, aber nicht exakt rekonstruierbar ist die Zahl der Ermittlungsverfahren, die eingestellt wurden, da die angeschuldigten Personen nach Ost-Berlin oder in die DDR flohen. Ein Beispiel sind die Ermittlungen im Entführungsfall des NTS-Leiters Alexander Truschnowitsch. Am späten Abend des 13. April 1954 meldete die Ehefrau von Peter Gormann der Westberliner Polizei, dass sie nach einem Kinobesuch ihre Wohnung in einem stark verwüsteten Zustand vorgefunden habe. Gormann war Vorsitzender des Heimkehrerverbandes in einem Westberliner Bezirk, aber seit März 1951 auch IM »Hegl« des MfS, in dessen Auftrag er 1953 Kontakt zu Truschnowitsch aufgenommen hatte.740 Am Tatort entdeckte die Polizei im Flur der Wohnung blutverschmierte Wände, die auf einen brutalen Kampf hindeuteten, in dem das Opfer sich gewehrt und versucht hatte, zu fliehen. Außerdem erfuhr sie von Nachbarn, dass am Abend ein bewusstloser Mann von zwei weiteren Männern die Treppe hinuntergetragen und mit einer vor der Tür parkenden Limousine weggebracht worden sei. Eine Frau, die die Männer begleitete, habe bekundet, dass sie den bewusstlosen Mann zur Unfallstelle bringen würden. Entsprechende Anfragen bei Rettungs-
737 Vgl. Vernehmungsprotokoll, Bundeskriminalamt, 16.9.1982. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1376/92, Bd. III, S. 26–38; Vernehmungsprotokoll, Bundeskriminalamt, 17.9.1982. Ebenda, S. 39–47. 738 Vgl. Beschluss, Bundesgerichtshof, 30.9.1982. Staatsanwaltschaft Berlin, Ab 29/2 Js 1376/92, Bd. III, S. 57; Vermerk, Generalbundesanwalt Bundesgerichtshof, 14.10.1982. Ebenda, S. 71 f. Zwischenbericht, ZERV 213, 28.6.1995. Ebenda, Bd. VII, S. 18–37, hier 28. Nach 1990 musste Franz Arlt sich nicht mehr verantworten, da er im Mai 1992 verstarb. 739 Vgl. Vermerk, Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, 19.8.1987. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1376/92, Bd. III, S. 94 f.; Beschluss, Bundesgerichtshof, 17.8.1982. Ebenda, S. 99. Nach 1990 wurde gegen Anna Wessel erneut ein Ermittlungsverfahren eröffnet, aber nach der Anklage wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Vgl. Kapitel X.2. 740 Vgl. Strafanzeige, Kriminalinspektion Wilmersdorf, 13.4.1954. LAB, B Rep. 058, Nr. 6013, S. 1 f.; Verpflichtungserklärung, Peter Gormann, 14.3.1951. BStU, MfS, AIM 3585/68, P-Akte Bd. 1, S. 13; Charakteristik, HA II/2, 4.12.1953. Ebenda, S. 19–22.
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stellen und Krankenhäuser blieben aber ergebnislos. Die Zeugen identifizierten zudem Peter Gormann, der den Personen in einigem Abstand mit einem zusammengerollten Teppich unter dem Arm gefolgt sei. Der bewusstlose Mann konnte hingegen nicht erkannt werden, da sein Gesicht durch Kleidungsstücke verdeckt war. Dem NTS war allerdings bekannt, dass sich Truschnowitsch am Tatabend in Gormanns Wohnung aufhielt. So schlussfolgerten die bundesdeutschen Ermittler, dass es sich bei der bewusstlosen Person um ihn handelte.741 Zwar gingen sie auch den Verdachtsmomenten einer vorgetäuschten Entführung nach, schnell festigte sich aber die Annahme, dass Truschnowitsch gewaltsam entführt wurde. So brachten sie den sowjetischen Geheimdienst und DDR-Staatssicherheitsdienst mit dem Tatgeschehen in Verbindung und verdächtigten Peter Gormann, in dessen Auftrag als Entführer agiert zu haben. Die erlangten Informationen, dass Gormann Mitglied der deutschsowjetischen Freundschaft sowie der SED gewesen sein soll, sowie das Verschwinden seiner Ehefrau Anfang Mai in Richtung Ost-Berlin erhärteten den Verdacht.742 Vonseiten der DDR wurde versucht, Truschnowitsch' Entführung als freiwillige Übersiedlung darzustellen, bei der er Gormann als »GehlenAgenten« ausgeliefert habe.743 Über Angehörige ließ Gormann aus MfS-Haft mitteilen, dass er von Truschnowitsch angegriffen worden sei und diesen in Notwehr niedergeschlagen habe. Später hätten zwei Unbekannte an seiner Wohnungstür geklingelt, sich als Westberliner Kriminalpolizisten ausgegeben und ihn sowie den bewusstlosen Truschnowitsch mitgenommen. Tatsächlich befand sich Gormann wenige Wochen in der MfS-Haftanstalt in der Ostberliner Magdalenenstraße, doch die Westberliner Polizei deutete diesen Aufenthalt 741 Vgl. Strafanzeige, Kriminalinspektion Wilmersdorf, 13.4.1954. LAB, B Rep. 058, Nr. 6013, S. 1 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 14.4.1954. Ebenda, S. 3 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 14.4.1954. Ebenda, S. 5; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 14.4.1954. Ebenda, S. 7; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 14.4.1954. Ebenda, S. 10 f.; Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 20.4.1954. Ebenda, S. 46; Untersuchungsbericht, Abt. KTU, 15.4.1954. Ebenda, S. 62. Das MfS wurde durch einen GM über diese ersten Ermittlungsergebnisse informiert. Vgl. Bericht, GM »Greif«, 20.4.1954. BStU, MfS, AIM 3585/68, Teilband 2, S. 7 f. 742 Vgl. Bericht, Abt. V.1 (S) V, 17.4.1954. LAB, B Rep. 058, Nr. 6013, S. 25; Zwischenbericht, Abt. V.1 (S) V, 22.4.1954. Ebenda, S. 72–75; Bericht, Abt. V.1 (S) V, 26.4.1954. Ebenda, S. 101; Zwischenbericht, Abt. V.1 (S) V, 15.5.1954. Ebenda, S. 189–195. Gromanns Ehefrau bestritt die Vorwürfe gegen ihren Mann und räumte lediglich ein, dass ihr Mann höchstens unter Zwang gehandelt haben könnte. Vgl. Zeugenaussage, Abt. V.1 (S) V, 17.4.1954. Ebenda, S. 28. Peter Gormann war im Oktober 1951 auf Anweisung des MfS aus der SED und der Gesellschaft für DeutschSowjetische Freundschaft ausgetreten. Vgl. Bericht, MfS, 16.10.1951. BStU, MfS, AIM 3585/68, P-Akte Bd. 1, S. 14. 743 Vgl. ADN-Meldung über Stellungnahme des MdI zur Angelegenheit Truschnowitsch, o. D. BStU, MfS, AIM 3585/68, Teilband 1, S. 50–52; fingierte Erklärung »Warum ich mit der Vergangenheit gebrochen habe« von Truschnowitsch, MfS, o. D. Ebenda, S. 31–33. In den IM-Akten des Peter Gormann findet sich auch ein Manuskript für eine Presseerklärung, in der Gormann die freiwillige Übersiedlung Truschnowitsch' in die DDR bestätigt und sich als reumütigen Gehlen-Agenten präsentiert. Vgl. Manuskript für Pressemitteilung, MfS, o. D. Ebenda, S. 14–21.
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richtigerweise als eine Art Schutzhaft. Schon bald berichteten V-Personen, dass Peter Gormann sich frei in Ost-Berlin bewegte und wieder als Architekt arbeitete.744 Die gewaltsame Entführung von Truschnowitsch konnte weitgehend aufgeklärt und neben Gormann noch weitere Tatbeteiligte ermittelt werden. Doch das Verfahren musste im August 1955 wegen Abwesenheit der Tatverdächtigen eingestellt werden.745 Der Westberliner Senat hatte für die Aufklärung der gewaltsamen Entführung des NTS-Leiters Alexander Truschnowitsch eine Belohnung von insgesamt 100 000 DM/West ausgesetzt. Aus diesem Fonds sollten auch Personen aus Ost-Berlin und der DDR für sachdienliche Hinweise belohnt werden.746 Eine Prämie, wenn auch nur von 10 000 DM/West, war auch in dem spektakulären Entführungsfall des UFJ-Mitarbeiters Walter Linse im Juli 1952 ausgelobt, wo die Ermittlungen ebenfalls zunächst ins Leere liefen. Zwar konnte der Ablauf der brutalen Entführung dank der zahlreichen Zeugen aufgeklärt und der Kreis der Tatverdächtigen eingegrenzt werden.747 Letztere waren allerdings aus West-Berlin verschwunden, sodass das Ermittlungsverfahren gegen 13 Beschuldigte im Frühjahr 1953 wegen Abwesenheit vorläufig eingestellt werden musste.748 Zur gleichen Zeit konnte jedoch die strafrechtliche Verfol744 Vgl. Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 24.5.1954. LAB, B Rep. 058, Nr. 6014, S. 241; Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 25.5.1954. Ebenda, S. 259; Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 29.5.1954. Ebenda, S. 265; Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 25.6.1954. Ebenda, S. 277; Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 3.8.1954. Ebenda, S. 297; Bericht, Abt. V.1 (S) V, 12.1.1955. Ebenda, S. 330; Bericht, Abt. V.1 (S) V, 21.3.1955. Ebenda, S. 352; Bericht, Abt. V.1 (S) V, 13.4.1955. Ebenda, S. 355; Bericht, Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin an Senator für Justiz, 29.8.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 6016, S. 23–25. 745 Vgl. Bericht, Abt. V.1 (S) V, 13.4.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 6014, S. 355; Vermerk, 27.8.1955. Ebenda, S. 361; Verfügung, Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin, 29.8.1955. Ebenda, S. 360; Bericht, Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin an Senator für Justiz, 29.8.1955. LAB, B Rep. 058,, Nr. 6016, S. 23–25. Zu den Tatverdächtigen gehörte auch Oskar Nehring alias IM »Fred Thornau«. Vgl. Bericht, Abt. V.1 (S) V, 25.11.1954. LAB, B Rep. 058, Nr. 6014, S. 320–322; Bericht, Abt. V.1 (S) V, 20.12.1954. Ebenda, S. 325 f.; Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 22.12.1954. Ebenda, S. 328. 746 Vgl. Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 3.8.1953. LAB, B Rep. 058, Nr. 2906, S. 132; 100 000 DM Belohnung für die Aufklärung des Falles Truchnowitsch. In: Tagesspiegel, 23.4.1954. 747 Ein Bericht der Westberliner Polizei im November 1952 benennt 17 Tatverdächtige, darunter auch die tatsächlichen Tatbeteiligten Paul Keyser und Heinrich Baum. Vgl. Bericht »Die Einzelheiten der Entführung Dr. Linses«, Polizeipräsident Berlin, 13.11.1952. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 2a, S. 3–12, Zwischenbericht, Abt. V.1, 18.2.1953. Ebenda, S. 13–22; Schlussbericht, Abt. V.1, 7.4.1953. Ebenda, S. 23–30; Senat von Berlin (Hg.): Berlin – Chronik der Jahre 1951–1954. Berlin 1968, S. 560 f. 748 Vgl. Verfügung, Staatsanwaltschaft Landgericht, 18.4.1953. LAB, B Rep. 058, Nr. 2906, S. 30. Beim UFJ gingen Hinweise auf Tatverdächtige ein, die dieser an die Polizei weiterleitete, und sogar anbot, mutmaßliche Tatbeteiligte nach West-Berlin zu locken. Die Westberliner Polizei distanzierte sich von derartigen Ansinnen. Vgl. Vermerk über anonymen Anruf, UFJ, 17.10.1952. BArch, B 209/1200, o. Pag.; Vermerk, UFJ, 15.11.1952. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 16.11.1952. Ebenda, o. Pag.; Vermerk, UFJ, 16.11.1952. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 21.11.1952. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 21.11.1952. Ebenda, o. Pag.; Anfrage, UFJ an Polizeipräsident Berlin Abt. V, 29.11.1952. Ebenda, o. Pag.; Antwortschreiben, Abt. V an UFJ,
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gung eines weiteren Tatbeteiligten aufgenommen werden. Die Bereitschaft zu delinquentem Handeln trieb den beteiligten GM »Boxer« im März 1953 nach West-Berlin zurück, wo er auf Initiative eines Komplizen einen Einbruch verüben wollte. Von diesem Komplizen verraten und auf frischer Tat ertappt, wurde er am 9. März 1953 von der Westberliner Polizei festgenommen.749 Bei seiner zweiten Vernehmung legte »Boxer« ein umfassendes Geständnis ab, in dem er genaue Angaben über den Tatablauf, seine Komplizen und das MfS als Drahtzieher machte. Am Ende der Vernehmung bat er schließlich um Milde bei der Strafzumessung, da er aufgrund eines fehlenden Halts im Elternhaus auf die schiefe Bahn geraten sei, und das MfS seine Zusammenarbeit erpresst habe. Der Vertreter des MfS habe ihn vor die Wahl gestellt, sich an der Entführungsaktion zu beteiligen oder eine mindestens zweijährige Haftstrafe für einen 1947 verübten Einbruchdiebstahl zu verbüßen.750 Die Staatsanwaltschaft am Landgericht Berlin erhob Anklage gegen »Boxer« wegen Vergehens gegen das »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit« zum Nachteil von Walter Linse.751 Im Juni 1953 eröffnete die Zweite Große Strafkammer des Landgerichts Berlin die Hauptverhandlung, in deren Rahmen die zahlreichen Tatzeugen angehört wurden, die aber zwecks weiterer Beweisführung vertagt werden musste. Als Belastungszeuge war bei dieser Verhandlung, die vom NWDR und RIAS mitgeschnitten wurde, auch ein Mann namens Walter Brock aufgetreten. Er hatte von »Boxers« Beteiligung an der Entführung Kenntnis und im März des Jahres »Boxers« geplanten Einbruch bei der Polizei verraten.752 Einige 3.12.1952. Ebenda, o. Pag.; Brief eines geflohenen Ost-Berliners, 12.12.1952. Ebenda, o. Pag.; Besuchervermerk, UFJ, 11.9.1953. BArch, B 209/1201, o. Pag. 749 Vgl. Aktennotiz, Oberstltn. Knye, 21.5.1953. BStU, MfS, AIM 2559/63, P-Akte, S. 222; Abschlussbericht, Obltn. Eichhorn, 31.1.1963. Ebenda, S. 223; Einlieferungsanzeige, Abt. V.1 (S) V, 9.3.1953. LAB, B Rep. 058, Nr. 2906, S. 10 f.; Schlussbericht, Abt. V.1 (S) V, 7.4.1953. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 2a, S. 17–21, hier 17; Entführer Dr. Linses gefaßt. In: Tagesspiegel, 12.3.1953; Wie der Entführer Dr. Linses gefaßt wurde. In: Tagesspiegel, 13.3.1953; Kirsch: Walter Linse, S. 96 f.; Mampel: Entführungsfall, S. 28 f. 750 Vgl. Vernehmungsprotokoll, Abt. V.1 (S) V, 9.–10.3.1953. LAB, B Rep. 058, Nr. 2906, S. 2–5; Bericht, Generalstaatsanwalt Landgericht an Senator für Justiz, 20.3.1953. LAB, B Rep. 58, Nr. 2905, S. 3 f.; Schlussbericht, Abt. V.1 (S) V, 7.4.1953. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 431/91, Bd. 2a, S. 17–21; Linse-Entführer legte Geständnis ab. In: Telegraf, 13.3.1953; Unglaubliche Brutalität bei Entführung Linses. In: Neue Zeitung, 13.3.1953; Entführer Dr. Linses gefaßt. In: Berliner Morgenpost, 13.3.1953. 751 Vgl. Anklageschrift, Staatsanwaltschaft Landgericht Berlin, 18.4.1953. LAB, B Rep. 058, Nr. 2906, S. 32–35; Anklage gegen Linse-Entführer. In: Tagesspiegel, 24.4.1953; Linse-Entführer angeklagt. In: Telegraf, 24.4.1953; Prozess gegen Linse-Entführer. In: Tagesspiegel, 31.5.1953. 752 Vgl. Beschluss, Landgericht Berlin, 6.5.1953. LAB, B Rep. 058, Nr. 2906, S. 60; Protokoll der Hauptverhandlung, Landgericht Berlin, 22.6.1953. Ebenda, S. 102–105; Niederschrift Tonbandaufzeichnung von Hauptverhandlung, NWDR, Juni 1953. LAB, B Rep. 058, Nr. 2905, S. 61–108; Niederschrift Tonbandaufzeichnung von Hauptverhandlung, RIAS, Juni 1953. Ebenda, S. 113–147; Prozeß vertagt. In: Tagesspiegel, 23.6.1953; Prozeß auf unbestimmte Zeit vertagt. In: Telegraf, 23.6.1953; Prozeß um Dr. Linses Entführung vertagt. In: Neue Zeitung, 23.6.1953.
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Monate nach Verhandlungsbeginn drohte Brock nun, seine Aussage zurückzuziehen. Da seine Hoffnung, mit seiner Aussage seine Freilassung bewirken zu können, enttäuscht worden sei, habe er keinen Grund mehr, »Boxer« zu belasten. Seine Drohung machte er bei der Fortsetzung der Hauptverhandlung am 27. November 1953 nicht wahr, zumal er sich dann wegen Meineids hätte verantworten müssen. Doch forderte er weiterhin einen Strafaufschub als Gegenleistung für seine Aussagebereitschaft, die er auch in der letzten Hauptverhandlung gegen »Boxer« am 4. Juni 1954 unter Beweis stellte.753 In dieser Hauptverhandlung zog der Angeklagte unterdessen sein Geständnis zurück und behauptete, dass es sich nur um einen mit Walter Brock geplanten Betrug gehandelt habe, um die ausgesetzte Belohnung von 10 000 DM/West zu kassieren. Theatralisch bekundete »Boxer« nach den Plädoyers des Staatsanwalts und seines Rechtsanwalts: »Wenn Sie es vor Ihrem Gewissen verantworten können, mich zu verurteilen, so sprechen Sie mich schuldig!«754 Die Zweite Große Strafkammer am Berliner Landgericht stufte seine Einlassung als unglaubwürdig ein und sah sie durch das umfassende Geständnis und die Beweisaufnahme widerlegt. Mit ihrer Verurteilung des Angeklagten wegen versuchter und vollendeter Verschleppung zu einer Zuchthausstrafe von zehn Jahren unter Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft blieb die Strafkammer fünf Jahre unter dem geforderten Strafmaß der Staatsanwaltschaft. Denn sie sah die vom Ankläger konstatierte Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung als nicht hinreichend bewiesen und berücksichtigte, dass der Angeklagte zur Tatzeit erst 21 Jahre alt war.755 Der verurteilte »Boxer« beharrte auf seiner Version eines Betrugversuches und legte Revision ein, die jedoch im Januar 1955 als »offensichtlich unbegründet« vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes abgewiesen wurde.756 Die ihm auferlegte Haftstrafe verbüßte »Bo753 Vgl. Bericht, Abt. V.1 (S) V, 25.11.1953. LAB, B Rep. 058, Nr. 2907, S. 46; Protokoll der Hauptverhandlung, Landgericht Berlin, 27.11.1953. Ebenda, S. 48–55; Bericht, Abt. V.1 (S) V, 23.2.1954. Ebenda, S. 123; Protokoll der Hauptverhandlung, Landgericht Berlin, 4.6.1954. Ebenda, S. 195–212. 754 Protokoll der Hauptverhandlung, Landgericht Berlin, 4.6.1954. LAB, B Rep. 058, Nr. 2907, S. 195–212, hier 212; Niederschrift Tonbandaufzeichnung von Hauptverhandlung, RIAS, o. D. Ebenda, Nr. 1505, o. Pag.; Niederschrift Tonbandaufzeichnung von Hauptverhandlung, NWDR, o. D. Ebenda, Nr. 1506, o. Pag.; »Mein Geständnis war falsch.« Linse-Entführer wollte angeblich nur Belohnung erschleichen. In: Berliner Morgenpost, 28.11.1953; Prozeß erneut vertagt. In: Tagesspiegel, 28.11.1953; Menschenräuber erzählt Romane. In: Telegraf, 28.11.1953. 755 Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung, Landgericht Berlin, 4.6.1954. LAB, B Rep. 058, Nr. 2907, S. 195–212; Urteil, Landgericht Berlin, 4.6.1954. Ebenda, S. 213–227; Abschlussbericht, Obltn. Eichhorn, 31.1.1963. BStU, MfS, AIM 2559/63, P-Akte, S. 223; Zehn Jahre für LinseEntführer. In: Telegraf, 5.6.1954; Zehn Jahre Zuchthaus für Menschenraub. In: Tagesspiegel, 5.6.1954; Zuchthaus für Linse-Entführer. In: Berliner Morgenpost, 5.6.1954. 756 Vgl. Begründung Revisionantrag, Rechtsanwalt an Landgericht Berlin, 14.9.1954. LAB, B Rep. 058, Nr. 2902, S. 3–9; Gegenerklärung, Generalstaatsanwalt an Landgericht Berlin, 1.10.1954. Ebenda, S. 13–20; Stellungnahme, Paul Keyser, 5.1.1955. Ebenda, S. 27–31; Beschluss, Bundesgerichtshof, 21.1.1955. Ebenda, S. 32; Er bleibt im Zuchthaus. In: Telegraf, 27.1.1955;
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xer« in der Strafanstalt Tegel, wo man 1960 in einer Einschätzung anläßlich eines Gnadengesuchs festhielt, dass die Höhe der Haftstrafe zwar eine schockartige Wirkung gehabt habe, »Boxer« aber keine Tateinsicht und Reue zeige.757 Vor diesem Hintergrund lehnte das Landgericht Berlin seine mehrmaligen Gnadengesuche ab, in denen er stets seine Unschuld beteuerte. Erst nach Verbüßung der kompletten Haftstrafe wurde er im Juni 1963 entlassen.758 Wenige Tage vor der Verhaftung des Entführer-IM »Boxer« in West-Berlin erging in der MfS-Abteilung V ein Haftbeschluss gegen Heinrich Baum, der ebenfalls an der Entführung von Walter Linse beteiligt gewesen war.759 Auch er hatte sich der zwangsweisen Unterbringung in der DDR entzogen und war nach West-Berlin zurückgekehrt, wo er im November 1952 bei einer Ausweiskontrolle in einem Lokal festgenommen worden war. In den anschließenden Vernehmungen gab Heinrich Baum zwar zu, den verdächtigen MfSAngehörigen »Paul« zu kennen, allerdings nur als Mitarbeiter des Ostberliner Magistrats, mit dem er Kaffeegeschäfte tätige. Eine Kenntnis oder gar Beteiligung an der Entführungsaktion bestritt er vehement. Die Westberliner Polizei musste den Haftbefehl fallen lassen, machte jedoch die Auflage, dass er sich zweimal wöchentlich melden musste. Anfang März 1953 fuhr Heinrich Baum zu einem Treffen mit dem MfS nach Ost-Berlin und wurde dort wegen Wirtschaftsverbrechen verhaftet. Er sollte 1 200 kg gebrannten Bohnenkaffee und 150 000 Zigaretten illegal nach West-Berlin verschoben haben. Die Vernehmungen drehten sich allerdings auch um seine Inhaftierung und Aussage in West-Berlin. Die Anschuldigungen gegen ihn bezüglich Warenschmuggel und illegalem Handel waren nicht aus der Luft gegriffen, dienten aber wohl eher als Instrument, um den renitenten Entführer-IM zu beseitigen.760 Als Heinrich Revision verworfen. In: Berliner Morgenpost, 27.1.1955; Urteil rechtskräftig. In: Tagesspiegel, 27.1.1955. 757 Vgl. Aufnahme-Ersuchen, Staatsanwaltschaft Landgericht Berlin an Strafanstalt Tegel, 12.5.1955. LAB, B Rep. 058, Nr. 2903, S. 3; Bericht, Vorstand der Strafanstalt Tegel an Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin, 17.2.1960. Ebenda, S. 10. 758 Vgl. Beschluss, Landgericht Berlin, 30.3.1960. LAB, B Rep. 058, Nr. 2903, S. 15 f.; Gnadengesuch, Paul Keyser, 20.2.1961. Ebenda, S. 25; Beschluss, Landgericht Berlin, 15.3.1961. Ebenda, S. 28 f.; Gnadengesuch, Paul Keyser, 25.5.1961. Ebenda, S. 38–42; Beschluss, Landgericht Berlin, 7.7.1961. Ebenda, S. 50–53; Gnadengesuch, Paul Keyser, 2.10.1962. Ebenda, S. 62 f.; Beschluss, Landgericht Berlin, 22.10.1962. Ebenda, S. 66 f. 759 Vgl. Haftbeschluss, MfS Abt. V, 4.3.1953. BStU, MfS, AP 8796/56, S. 134. 760 Vgl. Einlieferungsanzeige, 4.3.1953. BStU, MfS, AP 8796/56, S. 136–139; Vernehmungsprotokoll, MfS, 4.3.1953. Ebenda, S. 142–149; Vorführbericht, 5.3.1953. Ebenda, S. 153; Vernehmungsprotokoll, MfS, 6.3.1953. Ebenda, S. 159 f.; Vernehmungsprotokoll, MfS, 16.3.1953. Ebenda, S. 163 f. Das MfS hatte Angehörige und Bekannte Baums im Januar 1953 in einer Art Schutzhaft in einem Haus im Sperrgebiet Hohenschönhausen untergebracht. Auch sie wurden des Wirtschaftsverbrechens beschuldigt, zugleich aber über Baums Verhaftung in West-Berlin vernommen. Im April desselben Jahres gelang ihnen die Flucht nach West-Berlin. Vgl. Bericht, MfS, 1.2.1953. Ebenda, S. 91–93; Vernehmungsplan, MfS, 10.2.1953. Ebenda, S. 98–104; Vorschlag, MfS, 10.2.1953. Ebenda, S. 108–112; Bericht, MfS, 7.4.1953. Ebenda, S. 167; Bericht, GI »Marianne«, 10.4.1953.
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Baum im April 1955 in Ost-Berlin aus der Haft entlassen wurde, verbrachte er nur zwei Tage in Freiheit: Nach seiner Rückkehr nach West-Berlin wurde er erneut von der dortigen Polizei festgenommen, die mittlerweile durch den Prozess gegen »Boxer« mehr Kenntnisse über die Tatbeteiligung von Heinrich Baum besaß.761 Vor dem Landgericht Berlin wurde er im April 1956 zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe wegen Beihilfe zur versuchten gemeinschaftlichen Verschleppung verurteilt. In einer ersten Verhandlung vor dem Landgericht Berlin im Juni 1955 hatte die Zweite Große Strafkammer eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren unter dem Tatbestand der Vorbereitung einer Verschleppung ausgesprochen. Heinrich Baum legte gegen dieses Urteil Revision ein, die Erfolg hatte. Der Bundesgerichtshof ordnete daraufhin eine neue Verhandlung vor dem Landgericht Berlin an, die mit der milderen Strafe von drei Jahren Gefängnis wegen Beihilfe endete.762 Im Entführungsfall Otto Schneider vom Mai 1955 gelang es der bundesdeutschen Justiz, drei Tatbeteiligte vor Gericht zu stellen, allerdings konnten nur zwei mit einer Freiheitsstrafe belegt werden. Über eine V-Person hatte die Abteilung V.1 der Westberliner Polizei im Juni 1955 erfahren, dass ein in OstBerlin lebender Walter Böhm nach eigenen Angaben Otto Schneider entführt habe. Im Auftrag eines Konstantin Halem habe er diese Entführung mit drei Komplizen, darunter die zwei Ostberliner Karl Teuscher und Otto Lehmann, durchgeführt.763 Mit dieser Information war die Westberliner Polizei in Besitz fast aller Namen und Anschriften der Tatverdächtigen. Damit war das eingetreten, was sowohl die Komplizen von Walter Böhm als auch das MfS befürchtet hatten. Wiederholt hatte Walter Böhm sich nach der Entführungsaktion dekonspiriert, indem er sich in Kneipen als »Spezialfänger« des DDRStaatssicherheitsdienstes ausgab und sowohl am Arbeitsplatz als auch bei staatlichen Stellen von seiner inoffiziellen Zusammenarbeit erzählte. Das MfS hatte daraufhin den Aufenthalt des Westberliners in der DDR nur unter der Bedingung befürwortet, dass er Ost-Berlin verlässt. Walter Böhm war dieser Aufforderung nachgekommen und nach Guben gezogen, das er aber bereits Mitte
Ebenda, S. 169–171. Zum Warenschmuggel und illegalen Handel im geteilten Berlin vgl. Lemke: Vor der Mauer, S. 389–393. 761 Vgl. Bericht, GI »Sonja Ballentin«, 20.4.1955. BStU, MfS, AP 8796/56, S. 265; Bericht, GI »Hugo«, 18.4.1955. Ebenda, S. 266; Bericht, GI »Marianne«, 20.4.1955. Ebenda, S. 267 f. 762 Vgl. Urteil, Landgericht Berlin, 24.4.1956. BArch, B 137/1063, o. Pag.; Urteil, Landgericht Berlin, 21.6.1955. Ebenda, o. Pag.; Urteil, Bundesgerichtshof, 18.10.1955. Ebenda, o. Pag. Heinrich Baum war an den Vorbereitungen und einem abgebrochenen Versuch der Entführung Linses beteiligt, kam aber bei der vollendeten Entführungsaktion nicht zum Einsatz. Vgl. Fallbeispiel 4 in Kapitel II.2. 763 Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 9.6.1955. BStU, MfS, AP 21893/80, Bd. 1, S. 142 f. Vgl. Vernehmung der V-Person, Abt. V.1 (S) V, 1.7.1955. Ebenda, Bd. 2, S. 120–122. Konstantin Halem und Karl Teuscher konnten einer strafrechtlichen Verfolgung im Westen entgehen, da sie sich in OstBerlin aufhielten. Vgl. Bericht, Abt. I 1 KJ 2, 26.5.1965. BArch, B 209/1070, o. Pag.
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August 1955 wieder verließ und nach West-Berlin flüchtete.764 Dort stellte er sich der Polizei und legte ein umfassendes Geständnis ab.765 Auf Grundlage der so gewonnenen Informationen konnte die Westberliner Polizei schon am nächsten Tag den in Berlin-Wilmersdorf lebenden und tatverdächtigen Gerhard Ebers festnehmen. Bereits im Juni des Jahres hatte sie Gerhard Ebers verhaftet, der als KP »Gustav« in den vorangegangenen Monaten drei Entführungen für das MfS vollzogen hatte. Die Westberliner Ermittler hatten ihn zu diesem Zeitpunkt mit der Entführung von Otto Schneider und Hans Bader in Verbindung gebracht. In letzterem Fall hatte die Ehefrau des Entführten den Gerhard Ebers direkt angezeigt. Doch Ebers hatte in den Vernehmungen, über die er rückblickend 1962 dem MfS berichtete, alles abgestritten: »Natürlich wurde plötzlich bei zwei ›Entführungen‹ der Vernehmungston etwas rauh.«766 Obwohl er noch in den Verdacht der Beteiligung an einem dritten Entführungsfall geriet, fehlten die Beweise, sodass Gerhard Ebers Ende Juli 1955 freigelassen werden musste. Doch schon wenige Tage später lieferte das Geständnis des Komplizen Walter Böhm neue Indizien, die zur erneuten Festnahme von Gerhard Ebers führten. Dieser leugnete weiterhin seine Tatbeteiligung, auch als er Walter Böhm gegenübergestellt wurde. Erst als sich die Beweislage gegen ihn verdichtete, gab er eine Erklärung ab. In dieser räumte er allerdings nur ein, lediglich Zeuge der Festnahme von Otto Schneider gewesen zu sein, die er auf dessen illegalen Handel zurückgeführt habe. Sein langes Schweigen führte er darauf zurück, dass ihm diese Verbindung zu Otto Schneider peinlich sei und die amerikanische Dienststelle, für die er und Otto Schneider tätig gewesen seien, ihn zum absoluten Stillschweigen verpflichtet hätte.767 764 Vgl. Bericht, MfS, 26.5.1955. BStU, MfS, AP 243/57, S. 14; Auskunftsbericht, HA III/4 an BV Cottbus Abt. III, 10.8.1955. Ebenda, S. 17; Bericht, BV Cottbus Abt. III an HA III/4, 19.8.1955. Ebenda, S. 16. 765 Vgl. Schlussbericht, Abt. I 4 J 1, 10.11.1955. LAB, B Rep. 020, Nr. 8163, o. Pag.; Einlieferungsanzeige, Kriminalkommissariat F 2, 11.8.1955. BStU, MfS, AP 21893/80, Bd. 3, Bd. 1, S. 2–4, hier 4; Vorführbericht, Amtsgericht Tiergarten an die Generalstaatsanwaltschaft Landgericht Berlin, 13.8.1955. Ebenda, S. 8 f.; Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 27.8.1955. Ebenda, S. 22; Vorführbericht, Abt. V.1 (S) V, 13.8.1955. Ebenda, Bd. 2, S. 185–188. 766 Bericht, KP »Gustav«, 19.5.1962. BStU, MfS, AP 7351/66, S. 9–18, hier 11. Vgl. Strafanzeige, Polizeipräsident Berlin, Abt. V.1 (S) V, 17.5.1955. BStU, MfS, AP 21893/80, Bd. 1, S. 119 f.; Vermerk, Abt. V.1 (S) V, 21.6.1955. Ebenda, S. 94; Einlieferungsanzeige, Polizeipräsident Berlin Abt. V, 22.6.1955. Ebenda, S. 161–163; Vorführbericht, Abt. V.1 (S) V, 22.6.1955. Ebenda, S. 156–158; Strafanzeige, Abt. V.1 (S) V, 22.6.1955. Ebenda, S. 91 f.; Protokoll Vernehmung, Abt. V.1 (S) V, 22.6.1955. Ebenda, S. 95–98, hier 97; Protokoll Vernehmung, Abt. V.1 (S) V, 22.6.1955. Ebenda, S. 101–108; Vorführbericht, Amtsgericht Tiergarten, 23.6.1955. Ebenda, S. 164–167. 767 Vgl. Bericht, KP »Gustav«, 19.5.1962. BStU, MfS, AP 7351/66, S. 9–18; Protokoll Vernehmung, Abt. V.1 (S) V, 12.8.1955. BStU, MfS, AP 21893/80, Bd. 2, S. 183 f.; Einlieferungsanzeige, Abt. V.1 (S) V, 12.8.1955. Ebenda, S. 189–192; Vorführbericht, Abt. V.1 (S) V, 13.8.1955. Ebenda, S. 185–188; Vorführbericht, Amtsgericht Tiergarten an Generalstaatsanwaltschaft Landgericht Berlin, 13.8.1955. Ebenda, Bd. 1, S. 6 f.; Protokoll Gegenüberstellung, Abt. I 4 J 1, 2.11.1955.
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Entführer im Auftrag des MfS
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Im Juni 1956 mussten sich Walter Böhm und Gerhard Ebers schließlich vor dem Landgericht Berlin verantworten. Der Staatsanwalt plädierte in der Strafsache gegen Gerhard Ebers für eine Gesamtstrafe von zehn Jahren Zuchthaus wegen »gemeinschaftlicher Verschleppung in Tateinheit mit schwerer Freiheitsberaubung« im Fall Otto Schneider und wegen »Beihilfe zur gemeinschaftlichen Verschleppung in Tateinheit mit schwerer Freiheitsberaubung« im Fall Hans Bader. Im Hinblick auf den Anklagten Walter Böhm beantragte er eine sechsjährige Zuchthausstrafe. Die Rechtsanwälte der beiden Angeklagten forderten hingegen einen Freispruch, den Gerhard Ebers im Fall Hans Bader trotz erheblichen Tatverdachts aus Mangel an Beweisen tatsächlich erhielt. Im Fall Otto Schneider sah das Landgericht die Tatbeteiligung beider Angeklagter hingegen als hinreichend bewiesen und sprach eine vierjährige Freiheitsstrafe für Walter Böhm und eine sechsjährige Zuchthausstrafe für Gerhard Ebers aus. Angesichts seines umfassenden Geständnisses und seines jugendlichen Alters griff der Richter bei Walter Böhm zu einer geringeren Strafe, obwohl er bei der Entführung aktiver mitgewirkt hatte als Gerhard Ebers, der lediglich der Beihilfe schuldig gesprochen wurde.768 Bis März 1962 verbüßte Gerhard Ebers seine Haftstrafe in den Strafvollzugsanstalten Moabit und Tegel.769 Gut zwei Jahre später wurden die Ermittlungen gegen ihn in den Entführungsfällen Hans Bader und Alexander Frey wieder aufgenommen, nachdem diese aus der DDR-Haft nach West-Berlin zurückgekehrt und Anzeige erstattet hatten.770 Das MfS bot Gerhard Ebers daraufhin an, in die DDR überzusiedeln, um einer nochmaligen Inhaftierung zu entgehen. Schon kurz nach seiner Haftentlassung hatte man diesen Schritt erwogen, aber davon zugunsten seiner Einsatzmöglichkeiten in West-Berlin und der Bundesrepublik wieder Abstand genommen. Nun lehnte der ehemalige Ausnahmeagent trotz eindringlicher Aufforderung das Angebot einer Übersiedlung ab. Das MfS brach daraufhin die Zusammenarbeit ab, versicherte ihm aber jederzeit »politisches Asyl«.771 Ebenda, Bd. 3, S. 163–165; Protokoll Vernehmung, Abt. I 4 J 1, 9.11.1955. Ebenda, S. 175–183; Urteil, Landgericht Berlin, 26.6.1956. Ebenda, Bd. 2, S. 55–86, hier 63 f. 768 Vgl. Verhandlungsprotokoll, Landgericht Berlin, 19.–26.6.1956. BStU, MfS, AP 21893/80, Bd. 2, S. 31–54, hier 49 f., 53; Urteil, Landgericht Berlin, 26.6.1956. Ebenda, S. 55–86; Bericht, Abt. I 1 KJ 2, 26.5.1965. BArch, B 209/1070, o. Pag. 769 Vgl. Bericht, KP »Gustav«, 19.5.1962. BStU, MfS, AP 7351/66, S. 9–18. 770 Alexander Frey wurde im April 1955 aus West-Berlin verschleppt und im November 1955 wegen Spionage zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. Er wurde im August 1964 freigekauft. Vgl. Bericht, Abt. I 1 KJ 2, 21.4.1965. BArch, B 209/1070, o. Pag.; Festnahmeplan, HA III/4/K, 16.4.1955. BStU, MfS, AOP 572/55, Bd. 1, Bl. 232–234; Bericht, HA III/4/K, 23.4.1955. Ebenda, S. 242 f. Hans Bader wurde im Juni 1955 verschleppt und ebenfalls zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch er kehrte im August 1964 zurück. Vgl. Besuchsvermerk, UFJ, 21.9.1964. BArch, B 209/069, o. Pag.; Schlussbericht, Abt. I 4 J 1, 10.11.1955. LAB, B Rep. 020, Nr. 8163, o. Pag. 771 Vgl. Vorschlag, HA III/2, 20.6.1962. BStU, MfS, AP 7351/66, S. 26–28, hier 28; Vermerk, HA III Leitung, 30.6.1962. Ebenda, S. 29; Meldung, HA III/2 an MfS-Verwaltung Groß-Berlin
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Wie schwierig der rechtskräftige Nachweis einer Tatbeteiligung und die Verurteilung der Tatverdächtigen für die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden in den Entführungsfällen war, zeigt das Verfahren gegen einen weiteren Komplizen von Walter Böhm und Gerhard Ebers. Der ebenfalls beteiligte Otto Lehmann alias GI »Schubert« lebte in Ost-Berlin und konnte daher 1956 nicht mitangeklagt werden. Seine mutmaßliche Mitwirkung bei der Entführungsaktion Otto Schneider war seither jedoch sowohl den bundesdeutschen Ermittlern als auch der bundesdeutschen Öffentlichkeit bekannt. Dennoch führte ihn das MfS im Dezember 1957 mit dem GM »Neuhaus« zusammen, mit dem er sich ausschließlich »Schleusungen von Agenten« aus West-Berlin und der Bundesrepublik in die DDR widmen sollte. Bei einem solchen Westeinsatz wurde Lehmann im März 1958 im Interzonenzug zwischen München und Berlin festgenommen, da den bundesdeutschen Grenzbeamten sein falscher Personalausweis aufgefallen war. Gegenüber der bundesdeutschen Polizei gab er an, in Ost-Berlin einen Einbruch begangen zu haben und in die Bundesrepublik gefahren zu sein, um einer Verhaftung zu entgehen. Mittels Briefe an seine Ehefrau und mithilfe eines Mithäftlings informierte er das MfS, das für seine Auslieferung sorgen sollte, über seine Legende. Das MfS versuchte diese zu unterfüttern, konnte das angeblich betroffene HO-Kaufhaus aber nicht mehr rechtzeitig instruieren, sodass man dort die Anfrage der bundesdeutschen Ermittler wahrheitsgemäß beantwortete und Lehmanns Angaben nicht bestätigte. Fortan versuchte das MfS erfolglos, seine Auslieferung mit der Begründung zu erwirken, er habe mehrere Kioskeinbrüche begangen.772 Das Amtsgericht Kronach verurteilte Otto Lehmann im Oktober 1958 wegen Urkundenfälschung zu sechs Monaten Gefängnis, die durch die Untersuchungshaft als verbüßt galten. Ende desselben Monats wurde er ins Untersuchungsgefängnis Moabit nach West-Berlin überstellt, wo im September 1958 vom Amtsgericht Tiergarten Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war und man seine bereits inhaftierten Komplizen nochmals vernommen hatte. Walter Böhm belastete
Abt. III Aufnahmeheim Blankenfelde, 1.11.1962. Ebenda, S. 35; Treffbericht, HA III/2, 5.11.1962. Ebenda, S. 36 f.; Treffbericht, HA III/2, 19.11.1962. Ebenda, S. 40 f.; Treffbericht, HA XVIII/7, 22.10.1964. Ebenda, S. 202–207; Abschlussvermerk, HA XVIII/7, 30.6.1966. Ebenda, S. 212; Bericht, Abt. I 1 KJ 2, 21.4.1965. BArch, B 209/1070, o. Pag. In den gesichteten Unterlagen findet sich kein Hinweis auf eine zweite Verurteilung von Gerhard Ebers. 772 »Schubert« sollte mit den GM »Neuhaus« und »Dietrich« einen geflohenen MfS-Mitarbeiter aus der Bundesrepublik entführen, doch sie konnten den Auftrag nicht durchführen. Auf dem Rückweg wurde »Schubert« verhaftet. Vgl. Antrag, HA II/1, 26.6.1957. BStU, MfS, AIM 3370/61, P-Akte, S. 31; Aktenvermerk, HA II/SR 3, 28.7.1958. Ebenda, S. 33; Treffbericht, HA II/SR 3, 12.3.1958. Ebenda, S. 34 f.; fünf Vermerke, HA II/SR 3, 28.3.–16.6.1958. Ebenda, S. 37, 40, 42–49; Bericht, HA II/SR 3, 17.6.1958. Ebenda, S. 50 f.; Aktenvermerk, HA II/SR 3, 4.7.1958. Ebenda, S. 57; Bericht, HA II/SR 3, 10.7.1958. Ebenda, S. 59 f.; Einschätzung, HA II/SR 3, 15.7.1959. Ebenda, S. 83 f.; Aktenvermerk, HA II/SR 3, 24.7.1958. Ebenda, S. 63; Bericht, GM »Schubert«, 3.9.1959. Ebenda, A-Akte, S. 250–254.
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dabei Otto Lehmann stark, während Gerhard Ebers angab, nicht gesehen zu haben, inwieweit sich Lehmann bei der brutalen Überwältigung von Otto Schneider beteiligt habe.773 Lehmann selbst gab zwar zu, bei der Entführung anwesend gewesen zu sein, aber von dieser nichts gewusst zu haben. An dem fraglichen Abend sei er zum Zweck eines Geschäftsabschlusses mit Otto Schneider zusammengetroffen, die anschließende Entführung sei für ihn völlig überraschend gewesen. Auf der nächtlichen Autofahrt sei er zwar der Fahrer gewesen, aber Karl Teuscher habe die Fahrtrichtung vorgegeben. Als er dann festgestellt habe, dass sie in den Ostsektor gefahren waren, habe er wenden wollen. In dem Moment sei der Wagen aber schon von Konstantin Halem und seinen Männern umringt gewesen, die anschließend Otto Schneider aus seinem Wagen gerissen hätten. Halem habe ihm diesen Überfall später damit erklärt, dass Otto Schneider ihn betrogen habe und er ihn nun der Polizei ausgeliefert habe. Dass es sich um eine Entführungsaktion gehandelt habe, habe er erst durch seinen Haftbefehl erfahren. Er sei niemals wissentlich mit dem DDR-Staatssicherheitsdienst in Berührung gekommen oder habe gar für diesen gearbeitet.774 Diese Einlassungen erachteten die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden als wenig glaubhaft und sahen Otto Lehmann dank diverser Zeugenaussagen einer Tatbeteiligung überführt. Nach der Anklageerhebung im März 1959 eröffnete die Zweite Strafkammer am Landgericht Berlin einen Monat später das Hauptverfahren. Dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die wegen Beihilfe zur gemeinschaftlichen Verschleppung in Tateinheit mit Beihilfe zur gemeinschaftlich schweren Freiheitsberaubung eine Zuchthausstrafe von vier Jahren beantragte, entsprach das Gericht am zweiten Verhandlungstag allerdings nicht. Da die Einlassungen des Angeklagten in den Augen des Gerichts nicht zu widerlegen waren, folgte es dem Antrag der Verteidigung und sprach Otto Lehmann trotz der drückenden Beweislast frei. Den Anspruch auf eine Haftentschädigung erkannte es dem Angeklagten jedoch ab, da weder seine Schuld noch seine Unschuld bewiesen worden sei.775 Das MfS, das
773 Vgl. Mitteilung, Staatsanwaltschaft Landgericht Coburg an Staatsanwaltschaft Landgericht Berlin, 12.8.1958. LAB, B Rep. 058, Nr. 8319, S. 1; Haftbefehl, Amtsgericht Tiergarten, 17.9.1958. Ebenda, S. 4; Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 26.9.1958. Ebenda, S. 7–9; Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 27.9.1958. Ebenda, S. 11 f.; Verschubungsersuchen, Amtsgerichtsrat Coburg, 7.10.1958. Ebenda, S. 18; Vermerk, Abt. I 4 KJ 1, 1.11.1958. Ebenda, S. 31; Zeugenaussage, Abt. I 4 KJ 1, 12.1.1959. Ebenda, S. 61. 774 Vgl. Protokoll Vernehmung, Amtsgericht Coburg, 26.9.1958. LAB, B Rep. 058, Nr. 8319, S. 22; Protokoll Vernehmung, Abt. I 4 KJ 1, 4.11.1958. Ebenda, S. 32–35; Protokoll Vernehmung, Abt. I 4 KJ 1, 7.11.1958. Ebenda, S. 36 f. 775 Vgl. Bericht, Abt. I 4 KJ 1, 10.11.1958. LAB, B Rep. 058, Nr. 8319, S. 40 f.; Schlussbericht, Abt. I 4 KJ 1, 20.1.1959. Ebenda, S. 63–66; Anklageschrift, Generalstaatsanwalt Landgericht, 6.3.1959. Ebenda, S. 76–80; Beschluss, Landgericht Berlin, 4.4.1959. Ebenda, S. 85–87; Protokoll Hauptverhandlung, Landgericht Berlin, 14.8.1959. Ebenda, S. 113–122; Urteil, Landgericht Berlin, 24.8.1959. Ebenda, S. 124–144; Bericht, Abt. I 1 KJ 2, 26.5.1965. BArch, B 209/1070, o. Pag.; Menschenraub nicht nachzuweisen. In: Tagesspiegel, 25.8.1959.
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laufend durch Lehmanns Ehefrau über den Stand des Ermittlungsverfahrens informiert worden war, schickte einen GI zu der Verhandlung, der detailliert Bericht erstattete – ebenso wie der freigesprochene GM selbst nach seiner Rückkehr in die DDR. Dabei betonte er, dass Gerhard Ebers sehr gut für ihn ausgesagt, während Walter Böhm ihn zwar nicht in der Verhandlung, aber im Vorfeld stark belastet habe. Da Gerhard Ebers und er sich über einen Mittelsmann und seinen Anwalt über ihre Aussagen informieren konnten, habe Ebers in der Gerichtsverhandlung seine Aussage bekräftigt.776 Als Entführer-IM war »Schubert« fortan endgültig nicht mehr einsetzbar. Das MfS betraute ihn kaum noch mit operativen Aufgaben, an denen »Schubert« auch kein Interesse mehr zeigte. Nachdem er seit Herbst 1960 auch den Treffen mit seinem Führungsoffizier fernblieb, brach das MfS den Kontakt im April 1961 ab.777 Dass Entführer-IM zwar von den bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden verhaftet und verurteilt wurden, ihre Beteiligung an einer Entführung aber unentdeckt blieb, zeigt der Fall des GM »Kleist«. Der im Januar 1953 angeworbene GM hatte an den Vorbereitungen zur Realisierung mehrerer Entführungspläne des MfS mitgewirkt und war im März 1955 schließlich an der Entführung eines geflohenen MfS-Mitarbeiters aus West-Berlin beteiligt. Danach hatte das MfS ihn zur Observierung des SPD-Ostbüros in WestBerlin eingesetzt, die »Kleist« mittels eines speziell umgebauten Kastenwagens ausführte. Doch im August 1956 wurde er verhaftet, nachdem ein Flüchtling aus der DDR die bundesdeutsche Kriminalpolizei über den Umbau dieses Kastenwagens informiert hatte. Für seine Zusammenarbeit mit dem MfS erhielt »Kleist« eine Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren, seine Beteiligung an der Entführungsaktion blieb bei den Ermittlungen unentdeckt. Nach seiner Haftentlassung im Sommer 1958 kümmerte sich das MfS umgehend um seine Übersiedlung in die DDR. Seine ebenfalls als GM registrierte Ehefrau hatte das MfS bereits sofort nach seiner Inhaftierung aus West-Berlin abgezogen und in Ost-Berlin mit einer komplett eingerichteten Wohnung sowie monatlichen Geldzahlungen versorgt.778
776 Vgl. Bericht, HA II/SR 3, 7.11.1958. BStU, MfS, AIM 3370/61, P-Akte, S. 67–69; Bericht, HA II/SR 3, 6.10.1958. Ebenda, A-Akte, S. 221–223; 4 Treffberichte und Aktenvermerke, HA II/SR 3, 10.1.–19.8.1959. Ebenda, S. 237–242; Abschrift Bericht vom GI »Dudo«, HA II/SR 3, 2.9.1959. Ebenda, A-Akte, S. 245–249; Bericht, GM »Schubert«, 3.9.1959. Ebenda, S. 250–254; Bericht, GM »Schubert«, 8.9.1959. Ebenda, S. 270–273, Treffbericht, HA II/SR 3, 2.9.1959. Ebenda, S. 243 f.; Bericht, KP »Gustav«, 19.5.1962. BStU, MfS, AP 7351/66, S. 9–18. 777 Vgl. Schlussbericht, HA II/4, 24.4.1961. BStU, MfS, AIM 3370/61, P-Akte, S. 109 f.; Beschluss, HA II/4, 24.4.1961. Ebenda, S. 111 f. 778 Vgl. Bericht, MfS, 20.9.1956. BStU, MfS, AIM 1717/62, P-Akte, S. 191 f.; Auskunftsbericht, HA V/2, 1.9.1956. Ebenda, S. 199–201; Antrag, HA V/2 an HA V, 6.8.1958. Ebenda, S. 182; Schreiben, HA V, 23.9.1958. Ebenda, S. 184; Bericht, HA V/2, 19.4.1960. Ebenda, S. 203 f.; Abschlussbericht, HA V/2, 2.1.1962. Ebenda, S. 206 f., hier 207.
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Ein erneuter Einsatz in der Bundesrepublik wäre fast auch dem EntführerIM »Deckert« zum Verhängnis geworden, der auf einer Kurierfahrt nach Lübeck im April 1957 bei einer Kontrolle festgenommen wurde. Doch auch sein Mitwirken an einer Entführungsaktion blieb den dortigen Ermittlungsbehörden verborgen. Nach Bekanntwerden seiner Festnahme engagierte das MfS umgehend einen Rechtsanwalt, der ebenfalls GI war, und kümmerte sich um eine Aushilfe für »Deckerts« Gaststätte. Die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden verdächtigten ihn der Spionagearbeit für den DDR-Staatssicherheitsdienst, aber sie ahnten nicht, dass sie den Entführer des im Sommer 1954 verschleppten Verfassungsschutzmitarbeiters Gustav Buchner in Händen hatten. Nach achtwöchiger Untersuchungshaft mussten sie ihn aus Mangel an Beweisen freilassen.779 Ein weiterer Einsatz des GM im »Operationsgebiet« war nach dieser Inhaftierung endgültig ausgeschlossen, zumal das MfS Misstrauen gegen den Zurückgekehrten hegte.780 Vor einem weiteren Einsatz eines Entführer-IM im Westen versuchte das MfS in Erfahrung zu bringen, ob derselbe dort in Fahndung stand. Fehlinformationen konnten dabei zu gefährlichen Pannen führen. So schleuste das MfS die KP »Lord« im Oktober 1961 – einen Monat nach seiner Beteiligung an der Entführung eines geflohenen Grenzpolizisten – nach West-Berlin zurück in der falschen Annahme, die Westberliner Polizei würde nicht nach ihm fahnden. Doch in West-Berlin bestand ein Haftbefehl gegen ihn wegen Verstoßes gegen das »Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit«, sodass er nach seiner dortigen Ankunft umgehend verhaftet wurde.781 Da »Lord« den Tatwagen bei einem Westberliner Autoverleih unter seinem richtigen Namen geliehen hatte und mehrere Zeugen ihn belasteten, stand er schnell im Mittelpunkt der westlichen Ermittlungen. Bereits wenige Tage nach der Entführung des geflohenen 779 Vgl. Auskunftsbericht, HA II/4, 25.1.1957. BStU, MfS, AIM 6805/61, P-Akte, S. 110 f.; Auskunftsbericht, HA II/4, 28.5.1957. Ebenda, S. 122–126, hier 126; Treffbericht, HA II/4, 3.6.1957. Ebenda, S. 129–132; 2 Quittungen für Anwaltskosten, GM »Deckert«, 1. und 3.6.1957. Ebenda, S. 312, 320; Vorschlag, HA II/4, 14.8.1957. Ebenda, S. 135–137; Auskunftsbericht, HA II/4, 19.12.1957. Ebenda, S. 146–149, hier 149; Abschrift Bericht des GM »Deckert«, HA II/4, 25.6.1957. Ebenda, A-Akte Bd. 4, S. 44–62. Nach seiner Haftentlassung ließ das MfS ihm 1 000 M/DDR Urlaubsgeld zukommen, damit er sich von den »Haftstrapazen« erholen könne. Vgl. Vorschlag, HA II/4, 8.7.1957. Ebenda, P-Akte, S. 323. 780 So erging laut Einsatzplan vom Februar 1958 die interne Weisung, »alle Aufträge so zu halten, daß der GI bei evtl. Doppelspiel dem MfS keinen Schaden zufügen kann.« Siehe Einsatzplan, HA II/4, 17.2.1958. BStU, MfS, AIM 6805/61, A-Akte Bd. 4, S. 87 f. Vgl. Beschluss, HA II/4, 26.9.1957. Ebenda, P-Akte, S. 139; Auskunftsbericht, HA II/4, 19.12.1957. Ebenda, S. 146 –149; Beurteilung, HA II/4, 29.12.1958. Ebenda, S. 152; Treffbericht, HA II/4, 4.11.1958. Ebenda, S. 154 f.; Treffbericht, HA II/4, 7.11.1958. Ebenda, S. 156 f.; Beschluss, HA II/4, 13.10.1961. Ebenda, P-Akte, S. 427 f. 781 Vgl. Auskunftsbericht, HA I, 18.10.1961. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte Bd. 1, S. 72– 77; Bericht, HA I, 31.10.1961. Ebenda, S. 97 f.; Haftbefehl, Amtsgericht Tiergarten, 20.10.1961. Ebenda, S. 125.
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Entführer im Auftrag des MfS
Grenzpolizisten konnte die Westberliner Polizei den Tatablauf rekonstruieren.782 Es fehlten jedoch rechtskräftige Beweise. In seinen Vernehmungen gab »Lord« an, in der fraglichen Nacht zwar mit dem Mietwagen in den Ostsektor gefahren zu sein, aber nur in Begleitung eines Freundes. Den verschwundenen ehemaligen Grenzpolizisten hätte er zuvor an einer Station der Hochbahn in Berlin-Kreuzberg abgesetzt. Sie hätten die Absicht gehabt, ihre Familien nach West-Berlin zu holen, seien aber von der Volkspolizei verhaftet worden. Da sie in Ost-Berlin glaubhaft hätten versichern können, dass sie aus Enttäuschung über den Westen zurückkehren wollen, habe man sie vorerst freigelassen. Aus Angst vor einer strafrechtlichen Verfolgung sei er dann wieder nach WestBerlin geflohen. Da seine Version nicht zu widerlegen war, musste das Ermittlungsverfahren gegen ihn trotz des dringenden Tatverdachts im November 1961 eingestellt werden.783 Aber bereits wenige Monate später nahm die Westberliner Polizei die Ermittlungen gegen »Lord« wieder auf, dieses Mal wegen Verdachts der Unterhaltung landesverräterischer Beziehungen. Ein Fluchthelfer erstattete im April 1962 Anzeige, da er den Verdacht hegte, »Lord« sei vom MfS auf ihn angesetzt worden. Dieser habe nicht nur den geplanten Bau eines Fluchttunnels verraten, infolgedessen sein Bruder und seine Schwägerin in Ost-Berlin verhaftet wurden, sondern auch seine Entführung anvisiert. Der erneut festgenommene »Lord« bestritt die Vorwürfe und beteuerte wahrheitswidrig, nur aus dem Grund Kontakt zu dem Fluchthelfer aufgenommen zu haben, um seine Familie nach West-Berlin zu holen. Wieder fehlten trotz dringenden Tatverdachts rechtskräftige Beweise: Der Bundesgerichtshof beschied bereits Mitte April die Einstellung des Ermittlungsverfahrens, das Amtsgericht Tiergarten hob im Juni 1962 den Haftbefehl auf.784
782 Vgl. Vermerk, Abt. I 4, 1.10.1961. LAB, B Rep. 058, Nr. 8074, S. 4; Bericht, Abt. I 4 KJ 2, 4.10.1961. Ebenda, S.12 f.; Zeugenaussage, Abt. I 4 KJ 2, 4.10.1961. Ebenda, S. 14 f.; Zeugenaussage, Abt. I 4 KJ 2, 4.10.1961. Ebenda, S. 18 f.; Ermittlungsbericht, Abt. I 4 KJ 2, 6.10.1961. Ebenda, S. 22–26. 783 Vgl. Protokoll Vernehmung, Abt. I 4, 28.10.1961. LAB, B Rep. 058, Nr. 8074, S. 29–34; Protokoll Vernehmung, Abt. I 4, 29.10.1961. Ebenda, S. 35–37; Vorführbericht, Abt. I 4 KJ 2, 29.10.1961. Ebenda, S. 38 f.; Vorführbericht, Amtsgericht Tiergarten, 29.10.1961. Ebenda, S. 40– 42; Protokoll Vernehmung, Abt. I 4 KJ 2, 6.11.1961. Ebenda, S. 45–53; Schlussbericht, Abt. I 4 KJ 2, 14.12.1961. Ebenda, S. 65–72; Aktenvermerk, Staatsanwaltschaft, o. D. Ebenda, S. 73. 784 Vgl. Strafanzeige, Abt. I 4 KJ 2, 4.4.1962. LAB, B Rep. 058, Nr. 8073, S. 3; Aussage des Anzeigenden, Abt. I 4 KJ 2, 2.4.1962. Ebenda, S. 4–7: Protokoll Vernehmung, Abt. I 4 KJ 2, 5.4.1962. Ebenda, S. 11–20; Vorführbericht, Abt. I 4 KJ 2, 5.4.1962. Ebenda, S. 27–30; Vorführbericht, Amtsgericht Tiergarten, 5.4.1962. Ebenda, S. 38–44; Haftbefehl, Amtsgericht Tiergarten, 5.4.1962. Ebenda, S. 45; Bericht, Abt. I 4 KJ 2, 22.5.1962. Ebenda, S. 109–112; Schlussbericht, Abt. I 4 KJ 2, 29.5.1962. Ebenda, S. 117–120; Mitteilung, Generalstaatsanwalt Bundesgerichtshof an Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin, 17.4.1962. Ebenda, S. 1; Beschluss, Amtsgericht Tiergarten, 1.6.1962. Ebenda, S. 123; Vermerk, Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin, 7.6.1962. Ebenda, S. 125 f.
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Entführer im Auftrag des MfS
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Zur Verurteilung war ein dritter Anlauf nötig, der sich im Herbst 1963 bot. Ein DDR-Flüchtling aus dem Notaufnahmelager in Berlin-Marienfelde zeigte »Lord« an, dass dieser ihn aufgefordert habe, bei einer Entführung mitzuwirken. Er sei zum Schein auf das Angebot eingegangen, um »Lord« zu überführen, und habe sogar den geplanten Tatablauf mit ihm geprobt.785 In seinen Vernehmungen nahm »Lord« jedoch dieselbe Argumentation für sich in Anspruch: »Ich wollte auf diese Weise einen Beweis dafür bringen, daß Müller sich zu einem Menschenraub bereitgefunden hat und mich selbst von dem Verdacht reinigen, politische Beziehungen in Form einer Spitzeltätigkeit oder Ähnliches zum SSD oder MfS zu haben.«786 Angesichts der neuerlichen Vorwürfe nahm die Westberliner Polizei auch im Fall des 1961 verschwundenen Grenzpolizisten die Ermittlungen wieder auf, in deren Rahmen sich die Indizien gegen »Lord« verhärteten. So erfuhren die Ermittler, dass »Lord« mehrfach unbehelligt seine Familie in der DDR besucht hatte, ohne einen Personalausweis der Bundesrepublik zu besitzen. Einige Tage nach seiner erneuten Verhaftung legte »Lord« schließlich ein Teilgeständnis ab – wohl darauf bedacht, möglichst wenig Schuld auf die eigenen Schultern zu nehmen: Die Initiative sei von seinem Komplizen ausgegangen, der ihm versichert habe, dass der DDR-Flüchtling mit einer Rückkehr in die DDR einverstanden sei. Zum damaligen Zeitpunkt habe er nicht gewusst, dass es sich hierbei um einen geflohenen Grenzpolizisten handelte. Im Hinblick auf die Anschuldigungen, die Entführung des Fluchthelfers 1962 vorbereitet und 1963 eine weitere Entführung angestiftet zu haben, blieb »Lord« bei seinen Versionen.787 Aus Mangel an Beweisen musste die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin das Ermittlungsverfahren im Fall des Fluchthelfers wiederum einstellen, erhob aber im März 1964 Anklage gegen »Lord« wegen Verstoßes gegen das Freiheitsschutzgesetz in zwei Fällen. Nach drei Verhandlungstagen erging vor der Zweiten Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin am 1. Dezember 1964 das Urteil: sechs Jahre Zuchthaus und lebenslanger Entzug der Fahrerlaubnis 785 Vgl. Strafanzeige, Abt. I 1 KJ 2, 15.9.1963. LAB, B Rep. 058, Nr. 8075, S. 1 f.; Aussage des Anzeigenden, Abt. I 1, 15.9.1963. Ebenda, S. 3–5; Flüchtling sollte bei Menschenraub helfen. In: Berliner Morgenpost, 18.9.1963; Menschenräuber gefasst. In: Telegraf, 18.9.1964; Zum drittenmal unter dem Verdacht des Menschenraubes. In: Tagesspiegel, 18.9.1964. 786 Vorführbericht, Amtsgericht Tiergarten, 16.9.1963. LAB, B Rep. 058, Nr. 8075, S. 20 f.; vgl. Protokoll Vernehmung, Abt. I 1 KJ 2, 16.9.1963. Ebenda, S. 11–15; Vorführbericht, Abt. I 1 KJ 2, 16.9.1963. Ebenda, S. 16. 787 Vgl. Vermerk, Abt. I 1 KJ 2, 19.9.1963. LAB, B Rep. 058, Nr. 8075, S. 34; Vermerk, Abt. I 1 KJ 2, 23.9.1963. Ebenda, S. 37–39; Vermerk, Abt. I 1 KJ 2, 24.9.1963. Ebenda, S. 41; Protokoll Vernehmung, Abt. I 1 KJ 2, 24.9.1963. Ebenda, S. 42–47; Protokoll Vernehmung, Abt. I 1 KJ 2, 26.9.1963. Ebenda, S. 51; Zwischenbericht, Abt. I 1 KJ 2, 16.10.1963. Ebenda, S. 95– 98; Bericht , Abt. I 1 KJ 2, 30.12.1963. Ebenda, S. 106; Protokoll Vernehmung, Abt. I 1 KJ 2, 8.1.1964. Ebenda, S. 107–110; Menschenräuber gab Entführung im Auto zu. In: Berliner Morgenpost, 26.9.1963; Entführung eines geflüchteten Zonen-Grenzpostens gestanden. In: Tagesspiegel, 26.9.1963; Kraftfahrer gesteht Menschenraub in Westberlin. In: Die Welt, 26.9.1963.
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Entführer im Auftrag des MfS
wegen gemeinschaftlicher Verschleppung zum Nachteil des geflohenen Grenzpolizisten. Die Einlassungen des Angeklagten sah die Strafkammer durch Zeugenaussagen widerlegt und deutete sie als Schutzbehauptungen. Als strafmildernden Aspekt wertete die Strafkammer nur das jugendliche Alter des zur Tatzeit 19-jährigen Angeklagten. Seine egoistischen Motive, Kaltblütigkeit und die gravierenden Folgen für den Verschleppten wirkten hingegen strafverschärfend, zumal »Lord« weder Reue noch Einsicht zeigte. Nach einem Antrag auf Revision durch seinen Rechtsanwalt gelangte das Strafverfahren vor den Bundesgerichtshof, der die Revision im März 1965 verwarf.788 Fünf Monate vor dem regulären Haftende wurde »Lord« im Mai 1969 mit einer vierjährigen Bewährungsfrist aus der Haft entlassen, nachdem das Landgericht Berlin zwei vorherige Gnadengesuche abgelehnt hatte.789 Zu diesem Zeitpunkt lag der IMVorgang »Lord« bereits fast zwei Jahre im Archiv des MfS, das seinen GI vor seiner dritten Festnahme mehrfach vergeblich aufgefordert hatte, in die DDR zurückzukehren. Der interne Abschlussbericht vermerkte hinsichtlich der zukünftigen Verhaltenslinie gegenüber dem ehemaligen GI, dass eventuelle Vorhaltungen von seiner Seite zurückzuweisen seien. Denn seine Inhaftierung sei allein auf sein eigenmächtiges, unüberlegtes Verhalten zurückzuführen.790 Auch im Fall der an der Entführung des geflohenen MfS-Mitarbeiters Walter Thräne beteiligten GM »Alfred Ruf« und »Heinrich« legte die MfSAbteilung IV die entsprechenden IM-Vorgänge aufgrund ihrer Inhaftierung in die Sperrablage des Archivs. Allerdings waren beide GM nach der Entführungsaktion sowieso kaum noch einsetzbar gewesen. Zwar lebten sie weiterhin 788 Vgl. Bericht, Staatsanwalt Landgericht Berlin an Bundesminister für Justiz, 11.3.1964. LAB, B Rep. 058, Nr. 8076, S. 38 a–b; Anklageschrift, Staatsanwalt Landgericht Berlin, 11.3.1964. Ebenda, S. 87–110; Urteil, Landgericht Berlin, 1.12.1964. Ebenda, S. 132–143; Antrag auf Revision, Rechtsanwalt, 4.12.1964. Ebenda, S. 144; Urteil, Bundesgerichtshof, 16.3.1965. Ebenda, S. 160–166; Protokoll, Landgericht Berlin, 24.11.1964. LAB, B Rep. 058, Nr. 8079, S. 1–12; Protokoll, Landgericht Berlin, 27.11.1964. Ebenda, S. 15–22; Protokoll, Landgericht Berlin, 1.12.1964. Ebenda, S. 23; Unter Verdacht des Menschenraubes. In: Tagesspiegel, 25.11.1964; Sechs Jahre Zuchthaus für Menschenräuber. In: Die Welt, 2.12.1964; Sechs Jahre Zuchthaus für Menschenräuber. In: Berliner Morgenpost, 2.12.1964. 789 Vgl. Beschluss, Landgericht Berlin, 20.12.1967. LAB, B Rep. 058, Nr. 8076, S. 171–174; Gnadengesuch, Rechtsanwalt an Staatsanwaltschaft Landgericht Berlin, 3.11.1967. LAB, B Rep. 058, Nr. 8077, S. 25 f.; Gnadengesuch, Werner Meyer, 6.1.1969. Ebenda, S. 48; Beschluss, Landgericht Berlin, 14.2.1969. Ebenda, S. 56–58; Mitteilung, Senator für Justiz an Werner Meyer, 8.5.1969. Ebenda, S. 64; Schreiben, Senator für Justiz an Werner Meyer, 9.5.1973. Ebenda, S. 64. Im Sommer 2011 stritt er gegenüber einer Journalistin die Beteiligung an der Entführung ab. Vgl. Waltraud Messmann: Stasi fressen Seele auf. Viele Opfer bis heute traumatisiert – Bentheimer 20 Tage nach der Flucht wieder in die DDR verschleppt. In: Neue Osnabrücker Zeitung, 13.8.2011. 790 Die geplante Entführungsaktion im Herbst 1963, die seine 3. Festnahme nach sich zog, hatte »Lord« anscheinend in Eigenregie und ohne Absprache mit dem MfS anvisiert. Vgl. Abschlussbericht, HA I Abt. Koordinierung, 31.7.1967. BStU, MfS, AIM 8087/67, P-Akte, S. 464; Vorschlag, HA I/ Abt. Aufklärung, 8.9.1962. Ebenda, S. 186–190; Aktenvermerk, HA I/Abt. Koordinierung, 30.6.1966. Ebenda, S. 297; Stellungnahme, HA I/Aufklärung B, 18.9.1963. Ebenda, S. 206–213.
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Entführer im Auftrag des MfS
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in der Bundesrepublik, standen dort jedoch anscheinend im Visier des Landeskriminalamtes in Stuttgart und des Verfassungsschutzes. Jedenfalls berichtete »Alfred Ruf«, dass er mehrmals von Beamten dieser Institutionen befragt worden sei und vermutlich beobachtet werde. Grund genug für das MfS, im Umgang mit den GM äußerste Vorsicht walten zu lassen. Die GM wurden weitgehend außer Dienst gestellt: Die Abteilung IV, für die sie militärische Objekte in der Bundesrepublik aufklären und einen »Stützpunkt« einrichten sollten, erteilte ihnen keine Aufträge mehr. Bis Ende 1964 besorgte »Alfred Ruf« nur noch Muster von Produkten bundesdeutscher Hersteller für die HV A, Abt. V/WTA. Im Herbst 1966 nahm die Abteilung IV unter Major Scharf wieder Kontakt zu beiden GM auf, entschloss sich aber im Januar 1967 die Verbindung weiterhin ruhen zu lassen.791 Denn die Hauptabteilung II hatte inzwischen die Information erhalten, dass sie »durch die feindlichen Organe unter operative Kontrolle genommen wurden«.792 Im März 1967 informierte zudem die HV A auf Grundlage eines abgefangenen Fernschreibens des Bundeskriminalamtes, dass gegen »Alfred Ruf« ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der landesverräterischen Beziehungen anhängig sei.793 Die weitere Mitteilung der HV A im Mai 1967, dass »westdeutsche Abwehrorgane für den 11.4.1967 exekutive Maßnahmen«794 gegen die beiden GM planen, kam jedoch zu spät: Die Verhaftung der Entführer-IM im April 1967 konnte das MfS nicht mehr verhindern. Die Abteilung IV, für die beide GM registriert waren, erfuhr erst im September 1967 durch eigene Quellen von der Inhaftierung und erhob den Vorwurf: »Bei Kenntnis der schwerwiegenden belastenden Umstände hätte rechtzeitig durch die HV A, Abt. V (WTA) eine Prüfung erfolgen müssen, inwieweit ein Abzug der Familien T. und S. als Schlüsselpersonen aus dem Operationsgebiet erforderlich ist, um voraussehba-
791 Vgl. Bericht, GM »Alfred Ruf«, 26.10.1962. BStU, MfS, AIM 9183/68, P-Akte, S. 108– 111; Treffbericht, Oltn. Hesse, 4.1.1963. Ebenda, S. 130–133; Auskunftsbericht, Major Scharf, 8.1.1963. Ebenda, S. 66–68; Bericht, GM »Alfred Ruf«, 25.7.1963. Ebenda, S. 124–126; Treffbericht, Major Bilke, 30.7.1963. Ebenda, S. 127–129; Auskunftsbericht, Abt. IV, 21.12.1964. Ebenda, S. 70; Abschlussnotiz, Oltn. Hesse, 23.9.1965. Ebenda, S. 143; Auskunftsbericht, Major Scharf, 10.9.1966. Ebenda, S. 155–157; Aktenvermerk, Abt. IV, 9.1.1967. Ebenda, S. 164; Abschlussbericht, Abt. IV, 20.5.1968. Ebenda, S. 199; Beschluss, Abt. IV, 20.5.1968. Ebenda, S. 200 f.; Treffbericht, Abt. IV, 7.12.1966. Ebenda, A-Akte, S. 40–45; Bericht, GM »Alfred Ruf«, 11.10.1966. Ebenda, S. 46–62; Aktenvermerk, Abt. IV, 10.9.1962. BStU, MfS, AIM 9184/68, P-Akte, S. 31; Aktenvermerk, Abt. IV, 17.8.1964. Ebenda, S. 35; Auskunftsbericht, Abt. IV, 21.12.1964. Ebenda, S. 40; Auskunftsbericht, Abt. IV, 10.9.1966. Ebenda, S. 41–44; Abschlussbericht, Abt. IV, 20.5.1968. Ebenda, S. 62; Beschluss, Abt. IV, 20.5.1968. Ebenda, S. 63 f. 792 Sachstandsbericht, Abt. IV, 23.9.1967. BStU, MfS, AIM 9183/68, P-Akte, S. 171–190, hier 181. 793 Vgl. Mitteilung, HV A an HA II, 8.3.1967. BStU, MfS, AP 8993/82, Bd. 35, S. 206 f.; Sachstandsbericht, Abt. IV, 23.9.1967. BStU, MfS, AIM 9184/68, P-Akte, S. 46–61, hier 56. 794 Mitteilung, HV A an HA II, 10.5.1967. BStU, MfS, AP 8993/82, Bd. 35, S. 208.
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re Folgen zu vermeiden.«795 Bis zur Anklageerhebung vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe dauerte es noch über ein Jahr. Nach sieben Verhandlungstagen sprach der dritte Strafsenat des Bundesgerichtshofes am 14. Oktober 1968 »Alfred Ruf« und »Heinrich« der Verschleppung von Walter Thräne schuldig und verurteilte sie zu je vier Jahren Gefängnis.796 Die dargestellten Beispiele vermitteln einen Eindruck davon, mit welchen Problemen die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden bei der strafrechtlichen Verfolgung im Zusammenhang mit den Entführungsaktionen zu kämpfen hatten. Zum Teil liefen die Ermittlungen vollends ins Leere, da noch nicht einmal mit Sicherheit festgestellt werden konnte, ob überhaupt eine Verschleppung oder Entführung vorlag. Zum Teil gab es zwar Tatverdächtige, die jedoch aus Mangel an Beweisen nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnten oder in der DDR untergetaucht waren. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Großteil der als Entführer im Dienste des MfS agierenden IM strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen wurde. Erst der Zugang zu den Unterlagen des MfS ermöglichte in vielen Entführungsfällen die detaillierte Aufklärung der Tatabläufe sowie Tatbeteiligten und lieferte die bis dato fehlenden Beweise.797 Zu diesem Zeitpunkt erschwerten dann jedoch andere Begebenheiten eine strafrechtliche Verfolgung.
795 Sachstandsbericht, Abt. IV, 23.9.1967. BStU, MfS, AIM 9183/68, P-Akte, S. 171–190, hier 181. 796 Die Ehefrau des GM »Alfred Ruf« erhielt wegen Beihilfe eine Gefängnisstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten. Vgl. Urteil, Bundesgerichtshof, 14.10.1968. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 1, S. 26–82; Geheimdienstoffizier verschleppt. In: Berliner Morgenpost, 21.12.1967; Verschleppungsaffäre vor Gericht. In: Frankfurter Rundschau, 3.7.1968; Warum wurde Gebhard entführt? In: Welt am Sonntag, 22.9.1968; Das Entführerquartett lauerte im Steinbruch. In: Münchner Abendzeitung, 23.9.1968; Das Leben des Angeklagten ist bedroht. Menschenraub-Prozess begann in Karlsruhe. In: Die Welt, 24.9.1968; Dann kam ein Mann namens Boxer. In: Die Welt, 26.9.1968; Angst beherrscht die Agenten. In: Berliner Morgenpost, 28.9.1968; Zuchthaus für Verschleppung beantragt. In: Süddeutsche Zeitung, 8.10.1968; Zuchthaus für zwei Angeklagte gefordert. In: Die Welt, 8.10.1968; Verteidiger für Freispruch im Menschenraubprozeß. In: Süddeutsche Zeitung, 9.10.1968; Ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. In: Süddeutsche Zeitung, 15.10.1968; Vier Jahre für Verschleppung. In: Telegraf, 15.10.1968; Gefängnis im Verschleppungs-Prozeß. In: Die Welt, 15.10.1968. Das MfS verfolgte den Prozess und das Urteil über die westliche Presse. Vgl. Aktenvermerk, Abt. IV, 22.10.1968. BStU, MfS, AIM 9183/68, P-Akte, S. 56. Zahlreiche westliche Zeitungsartikel befinden sich in: BStU, MfS, HA II Nr. 1408. Auf einem Ausschnitt befindet sich der Vermerk für den Leiter der Abt. XXI Josef Kiefel, dass MfS-Chef Mielke ihn zu einer Rücksprache wegen des Zeitungsartikels bitten werde. Vgl. ebenda, Bd. 2, S. 2. 797 Zur Bedeutung der MfS-Unterlagen für die strafrechtliche Aufarbeitung vgl. Joachim Lampe: Die Bedeutung der Stasi-Unterlagen bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der operativen Westarbeit des MfS. In: Deutschland-Archiv 40(2007)6, S. 1067–1071.
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X.2
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Strafrechtliche Verfolgung nach 1990
Die strafrechtliche Verfolgung der Systemkriminalität der DDR nach ihrem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland stellte den Rechtsstaat vor große Herausforderungen. Für die bundesweite Ermittlungsarbeit auf polizeilicher Ebene wurde zum 1. September 1991 als kriminalpolizeiliche Dienststelle beim Berliner Polizeipräsidenten die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungsund Vereinigungskriminalität (ZERV) gegründet. Rund 200 Ermittler der Berliner Polizei waren bei der ZERV tätig, auf Bundes- und Länderebene arbeiteten zudem 500 Beamte mit. Bis zu ihrer Auflösung im Dezember 2000 bearbeitete sie über 20 300 Ermittlungsverfahren, von denen rund 16 300 im Bereich der Regierungskriminalität und rund 4 000 im Bereich der vereinigungsbedingten Wirtschaftskriminalität lagen. Der Ermittlungsbereich Regierungskriminalität, für den das Referat 2 der ZERV zuständig war, umfasste u. a. Ermittlungskomplexe wie Grenzdelikte, Freiheitsberaubungen und Verschleppungen, Mordtaten und Rechtsbeugungen. Für die intensiven Ermittlungen im Kontext der Verschleppungen wurde zeitweilig eine gesonderte Arbeitsgruppe eingerichtet. Nach Angaben des langjährigen Leiters Manfred Kittlaus liefen in der ZERV 417 Ermittlungsverfahren wegen Freiheitsberaubung und 276 wegen Verschleppung sowie 50 im Zusammenhang mit MfSAuftragsmorden.798 Auf der justiziellen Ebene gab es keine zentral geschaffene Institution, sondern die Strafverfolgung wurde nach dem Tatort- und Wohnsitzprinzip auf Länderebene geregelt. Dort wurden zu diesem Zwecke entsprechende Schwerpunktstaatsanwaltschaften oder staatsanwaltschaftliche Schwerpunktabteilungen gegründet. Da in Berlin sowohl das Systemunrecht auf zentraler Ebene als auch auf Bezirksebene verfolgt werden musste, gab es dort zunächst für den ersten Zuständigkeitsbereich die »Arbeitsgruppe Regierungskriminalität« der Staatsanwaltschaft beim Kammergericht und für den zweiten Zuständigkeitsbereich ein Dezernat der Staatsanwaltschaft beim Landgericht. Eine Zusammenlegung dieser beiden Zuständigkeitsbereiche erfolgte im Oktober 1994, als die »Arbeitsgruppe Regierungskriminalität« zur eigenständigen Behörde mit der Bezeichnung Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin umgewandelt wurde und auch die strafrechtliche Verfolgung des SED-Unrechts auf der 798 Vgl. Polizeipräsident in Berlin (Hg.): Jahresbericht der ZERV 1994. Berlin 1994, S. 29–31; Polizeipräsident in Berlin (Hg.): Jahresbericht der ZERV 1996. Berlin 1996, S. 17–19, 24; Kittlaus: Stasi entführte über 800 Menschen aus dem Westen in die DDR. In: Berliner Morgenpost, 31.10.1997; ZERV wird aufgelöst: Ermittlungen für die Einheit. In: Tagesspiegel, 28.12.2000; Mauertote, Doping und Rubelgeschäfte. Die Ermittlungsstelle gegen DDR-Unrecht wird aufgelöst. In: Berliner Zeitung, 29.12.2000; Der Ermittler ist tot. In: Tagesspiegel, 5.9.2004; Schißau: Strafverfahren, S. 25 f.; Roman Grafe: Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen: »Wenig aufbauend ist die zahlenmäßige Bilanz unserer Arbeit«. Die Strafverfolgung von SED-Unrecht 1990–1998. In: Deutschland-Archiv 32(1999)1, S. 6–8, hier 7.
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Bezirksebene übernahm. Diese Einrichtung verfügte Mitte der 1990er Jahre über einen Personalstamm von rund 60 Richtern und Staatsanwälten, von denen 45 aus den alten Bundesländern für einen begrenzten Zeitraum abgeordnet waren. Nach der Auflösung der Staatsanwaltschaft II nach fünfjähriger Tätigkeit führte eine Abteilung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin die noch offenen Verfahren weiter.799 In diesen Einrichtungen liefen in Berlin in der Zeit von Oktober 1990 bis August 1999 insgesamt 21 553 Ermittlungsverfahren wegen SED-Unrechts. Zur Anklage kam es jedoch nur ungefähr bei knapp 2 Prozent. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass die Staatsanwaltschaft II weitere Verfahren bis zur Anklagereife vorbereitete, die Anklagen jedoch nach Abgabe des Verfahrens von anderen Staatsanwaltschaften erhoben wurden. Auf dem Gesamtgebiet der ehemaligen DDR waren es insgesamt fast 75 000 Ermittlungsverfahren gegen ungefähr 100 000 Beschuldigte, die in etwas mehr als 1 000 Fällen (ca. 1,4 %) zur Anklage gegen 1 737 Personen führten.800 Die Ermittlungsschwerpunkte lagen dabei in drei Bereichen: erstens das Justizunrecht, also Rechtsbeugung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung oder Totschlag, zweitens vollendete oder versuchte Tötungshandlungen an der innerdeutschen Grenze und drittens kriminelle Handlungen des MfS wie Mord und Freiheitsberaubung.801 Die Strafverfahren im Zusammenhang mit Spionage fielen hingegen in die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts.802 799 Vgl. Marxen/Werle/Schäfter: Strafverfolgung, S. 14; Schißau: Strafverfahren, S. 23–26. Der Generalstaatsanwalt Schaefgen, der in Berlin die Strafverfolgung von SED-Unrecht leitete, bemängelte Mitte der 1990er Jahre das Fehlen einer zentralen Verfolgungsbehörde. Zudem berichtete er von einem eklatanten Personalmangel und einer zu hohen Personalfluktuation. Vgl. Christoph Schaefgen: Die Strafverfolgung von Regierungskriminalität der DDR. In: Jürgen Weber, Michael Piazolo (Hg.): Eine Diktatur vor Gericht. München 1995, S. 49–65, hier 60 f. 800 Da es keine zentrale Registrierung der Ermittlungsverfahren gab, sind die Zahlen aufgrund der wechselnden Zuständigkeiten, verschiedenen Registrierungsarten und Erfassungszeiträume schwer ermittelbar. Im Vergleich zur sonstigen Anklagequote, die beispielsweise im Jahr 1996 bei den Amtsanwaltschaften und den Staatsanwaltschaften beim Landgericht Berlin bei 12,3 % lag, wird die äußerst niedrige Anklagequote bei den Verfahren zum SED-Unrecht deutlich. Vgl. Marxen/Werle/Schäfter: Strafverfolgung, S. 7, 14–16, 24 f., 32, 54; Klaus Marxen, Gerhard Werle: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz. Berlin/New York 1999, S. 141–143, 157–159; Petra Schäfter: Die Strafverfolgung von DDR-Unrecht. In: Humboldt-Spektrum 7(2000)4, S. 36–41, hier 37 f.; Schaefgen: Aufarbeitung, S. 1. 801 Vgl. Schaefgen: Strafverfolgung, S. 50–53. 802 Zum Straftatbestand der Spionage gegen die Bundesrepublik gab es über 4 000 Ermittlungsverfahren, die in nur 23 Fällen mit einer Verurteilung endeten, die wiederum in nur 2 Fällen nicht zur Bewährung ausgesetzt wurden. Rund 3 000 Ermittlungsverfahren wurden zudem gegen Personen mit Wohnsitz in der alten Bundesrepublik angestrengt. Insgesamt wurden ca. 365 Personen verurteilt, darunter 64 zu einer Haftstrafe, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Vgl. Herbstritt: Bundesbürger, S. 29 f., 38–40. Zu den Schwierigkeiten bei der strafrechtlichen Verfolgung der Spionage für die DDR vgl. ebenda, S. 14–43. Vgl. Herbstritt: Westarbeit, S. 334–341; Fricke: Markus Wolf, S. 308. Ivo Thiemrodt: Strafjustiz und DDR-Spionage. Berlin 2000; Joachim Lampe: Juristische Aufarbeitung der Westspionage des MfS. Berlin 32002.
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Dank der Ergebnisse des Forschungsprojektes »Strafjustiz und DDRUnrecht«803 an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin können genaue Aussagen über die Verteilung der Strafverfahren nach Deliktgruppen und Bundesländern gemacht werden: Bis zum 3. Oktober 2000, dem Stichtag für das Eintreten der absoluten Verjährung für sämtliche Delikte außer Mord, wurden fast 40 Prozent der über 1 000 Anklagen in Berlin erhoben. Die meisten der 405 Anklagen in Berlin (156, also 38,5 %) fielen in die Deliktsgruppe Justizunrecht, gefolgt von 109 Anklagen (26,9 %) im Zusammenhang mit Gewalttaten an der Grenze. Unter dem Vorwurf des Amtsmissbrauchs und der Korruption wurden in Berlin 23 Anklagen (5,7 %) angestrengt und 20 (4,9 %) wegen Dopings. In der Deliktsgruppe der MfSStraftaten, welche u. a. die Entführungs- und Mordaktionen des MfS umfasst, kam es zu 70 Anklagen (17,2 %). Fast dieselbe Anzahl an Strafverfahren in dieser Deliktsgruppe lief in den »neuen« Bundesländern. Mit insgesamt 142 Strafverfahren (13,9 %) bilden die MfS-Straftaten somit auch bundesweit den dritthäufigsten Verfahrensgrund nach den Delikten Rechtsbeugung (36,6 %) und Gewalttaten an der Grenze (23,9 %).804 Die Verfahren im Zusammenhang mit MfS-Straftaten richteten sich insgesamt gegen 211 Angeschuldigte, darunter 100 in Berlin. Doch oftmals kam es aus verschiedenen Gründen wie beispielsweise Verhandlungsunfähigkeit gar nicht zur Eröffnung einer Hauptverhandlung. Gerichtliche Urteile ergingen nur gegen 131 Angeklagte, von denen ein überdurchschnittlich hoher Anteil, nämlich fast die Hälfte freigesprochen wurde. In der Deliktsgruppe der MfS-Straftaten gab es also bundesweit nur 69 Angeklagte, die schuldig gesprochen wurden. Knapp über die Hälfte dieser Verurteilten bekam eine Freiheitsstrafe, die allerdings in 36 von 38 Fällen zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Höhe der Freiheitsstrafe lag größtenteils unter zwei Jahren, nur in jeweils einem Fall betrug sie zwischen drei und fünf sowie zwischen fünf und zehn Jahren. Zu einer Geldstrafe wurden 31, also rund 45 Prozent verurteilt.805 803 Die Forschungsgruppe unter Leitung von Klaus Marxen und Gerhard Werle hat in den Jahren 2000 bis 2009 eine zehnbändige Dokumentation der wesentlichen Strafverfahren und Urteile in den unterschiedlichen Deliktgruppen herausgegeben. Vgl. Jens Gieseke: Rezension zu Klaus Marxen, Gerhard Werle: Strafjustiz und DDR-Unrecht – Dokumentation. In: Sehepunkte 10(2010)10, Onlineversion, URL: http://www.sehepunkte.de/2010/10/16350.html (Stand: 3.6.2012). 804 Die Zahlen beruhen auf Auszählungen des Forschungsprojektes an der HU Berlin, da es keine gemeinsame statistische Erfassung der Verfahren in den Ländern gab. Zudem herrschten in den Ländern zum Teil unterschiedliche Registrierungen und Differenzierungen nach Deliktgruppen. Die detaillierteren Ergebnisse der Forschungsgruppe weichen zum Teil leicht von den offiziellen Justizangaben ab, so verzeichnen Letztere beispielsweise für Berlin 430 Anklagen, davon 72 Anklagen zu MfSStraftaten. Vgl. Marxen/Werle/Schäfter: Strafverfolgung, S. 14–16, 24, 27 f.; Marxen/Werle: Aufarbeitung, S. 144 f.; Schaefgen: Aufarbeitung, S. 3 f. 805 Bei der Erhebung der Angeschuldigtenzahlen wurden mehrfach angeklagte Personen nur einmal gezählt, anderenfalls sind es 235 Angeschuldigte (darunter 115 in Berlin). In anderen Deliktgruppen zeigt sich nicht so ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Geld- und Freiheitsstrafen: Im
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Die Deliktsgruppe MfS-Straftaten umfasste neben den Tatbeständen Entführung und Mord(-versuche) auch solche wie Repressalien gegenüber Ausreisewilligen, heimliches Betreten von fremden Räumlichkeiten, Öffnen von Postsendungen und Entnahme von Geld aus diesen sowie das Abhören von Telefonen.806 Explizit zum Tatkomplex Verschleppungen bzw. Entführungen aus der Bundesrepublik in die DDR ermittelten die Staatsanwälte in über 500 Fällen. Aber es konnten insgesamt nur 20 Anklagen gegen 29 Personen erhoben werden, von denen 13 hauptamtliche Mitarbeiter, 13 IM und drei Kontaktpersonen des MfS waren. Mit einer Ausnahme wurden diese Anklagen alle in Berlin eingereicht.807 In zehn Fällen erfolgte eine Einstellung des Verfahrens, da kein hinreichender Tatnachweis bestand oder die Angeklagten als verhandlungsunfähig eingestuft wurden.808 Gegen drei Angeklagte sprach das Landgericht eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aus.809 Die rechtskräftigen Urteile gegen 16 Angeklagte beinhalteten drei Freisprüche und 16 Freiheitsstrafen, die größtenteils zwischen sechs und zehn Monaten lagen und alle zur Bewährung ausgesetzt wurden.810 Bei einer Betrachtung der gegen die 13 IM Zusammenhang mit Gewalttaten an der Grenze wurde nur eine Person zu einer Geldstrafe verurteilt, während 266 eine Freiheitsstrafe bekamen, die in 236 Fällen zur Bewährung ausgesetzt wurde. Vgl. Marxen/Werle/Schäfter: Strafverfolgung, S. 32, 41, 43, 46, 56; Marxen/Werle: MfS-Straftaten, S. XXVIX, XLVIII; Schaefgen: Aufarbeitung, S. 3. 806 Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung, S. 76–93, 228 f.; dies.: MfS-Straftaten, S. XXXVIII– XLVIII; Schaefgen: Aufarbeitung, S. 2 f. 807 Unberücksichtigt bleiben hier die Richter und Staatsanwälte, die im Zusammenhang mit Entführungsfällen wegen Rechtsbeugung angeklagt wurden. Bei der Angabe zu den Angeklagten wurden mehrfach angeklagte Personen nur einmal gezählt, anderenfalls sind es 32, von denen Schißau irrtümlich 21 als hauptamtliche und 10 als IM einstuft. Zudem hat Schißau die Anklage gegen die KP Erwin Röder im Entführungsfall Manfred Smolka nicht berücksichtigt. Vgl. Schißau: Strafverfahren, S. 173, 259. Marxen und Werle sprechen von 22 Verfahren gegen 39 Personen, die mit der rechtskräftigen Verurteilung von 26 Angeklagten endeten, von denen 8 einen Freispruch erhielten. Vgl. Marxen/Werle: MfS-Straftaten, S. XLIII f.; Schaefgen: Aufarbeitung, S. 2. 808 Vgl. Beschluss, Landgericht Berlin, 5.9.2000. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1376/92, Bd. 9, S. 17a–c; Beschluss, Landgericht Berlin, 5.9.2000. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 170/94; Beschluss über Einstellung des Verfahrens gegen Erich Mielke gemäß § 206a StPO, Landgericht Berlin, 23.12.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1241/92, Bd. 7, S. 499–504; Beschluss über Einstellung des Verfahrens gemäß § 153 Abs. 2 StPO, Landgericht Berlin, 10.2.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95; Beschluss über Einstellung des Verfahrens gemäß § 153 Abs. 2 StPO, Landgericht Berlin, 11.6.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 17/94; Beschluss über Einstellung des Verfahrens gemäß § 153 Abs. 2 StPO, Landgericht Berlin, 13.4.2000. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 141/95, Bd. 3, S. 151a; Beschluss über Einstellung des Verfahrens gemäß § 206a StPO, Landgericht Berlin, 2.1.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 980/92; Beschluss über Einstellung des Verfahrens gemäß § 153 Abs. 2 StPO, Landgericht Berlin, 3.3.2000. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 348/95. Vgl. Schißau: Strafverfahren, S. 263. 809 Vgl. Urteil, Landgericht Berlin, 11.6.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 17/94; Strafbefehl, Amtsgericht Tiergarten, 21.7.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 274 Cs 640/98; Urteil, Landgericht Berlin, 27.1.2000. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 348/95. 810 Da manche Beschuldigte in mehreren Verfahren angeklagt waren, ergibt sich die Divergenz zwischen Anzahl der Angeklagten und der Verurteilungen. Vgl. Schißau: Strafverfahren, S. 263. Die
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und drei Kontaktpersonen des MfS gerichteten Verfahren ergibt sich die Bilanz von sechs eingestellten Verfahren, drei Verwarnungen und sieben Verurteilungen.811 Die ausgesprochenen Freiheitsstrafen beliefen sich in zwei Fällen auf sechs Monate und in jeweils einem Fall auf sieben Monate, auf zehn Monate, auf ein Jahr, auf 20 Monate sowie auf zwei Jahre. Aber alle Freiheitsstrafen wurden zur Bewährung ausgesetzt.812 Die geringe Zahl an Anklageerhebungen und Urteilen hatte verschiedene Ursachen, die jedoch alle mit dem Tatzeitraum in Zusammenhang stehen: Da die Entführungen und Verschleppungen hauptsächlich bereits in den 1950er Jahren stattfanden, waren viele Tatbeteiligte bereits verstorben oder durch ihr Alter und/oder Krankheit verhandlungsunfähig und konnten dadurch nicht vor einem Gericht zur Verantwortung gezogen werden. Mindestens 18 der untersuchten Entführer-IM waren zum Zeitpunkt der Ermittlungen in den 1990er Jahren bereits tot oder verstarben Anfang der 1990er Jahre. Bei anderen führte ihre Verhandlungsunfähigkeit zur Einstellung der Verfahren, zum Beispiel bei dem 1929 geborenen Harry Wichert alias GM »Weitzel«, der im Sommer 1958 den UFJ-Mitarbeiter Erwin Neumann auf dem Berliner Wannsee entführt hatte. Die Ermittlungsergebnisse der Westberliner Polizei unmittelbar nach der Tat belasteten »Weitzel« schwer. Aber das damalige Ermittlungsverfahren gegen ihn musste das Amtsgericht Tiergarten im November
beiden Freisprüche vgl. Urteil, Landgericht Berlin, 10.2.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Bd. 3, S. 93a–c; Urteil, Landgericht Berlin, 22.7.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 4, S. 104–126. Die Haftstrafen vgl. Urteil, Landgericht Bamberg, 6.12.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 976/93, Bd. 3, S. 1052–1076; Urteil, Landgericht Berlin, 16.12.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 4, o. Pag.; Urteil, Landgericht Berlin, 13.6.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 4, o. Pag.; Urteil, Landgericht Berlin, 24.2.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Bd. 3, o. Pag.; Urteil, Landgericht Berlin, 11.6.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 17/94; Urteil, Landgericht Berlin, 30.7.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 2, S. 108–123; Urteil, Landgericht Berlin, 7.8.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 424/95; Urteil, Landgericht Berlin, 29.9.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 69/93, Bd. 4, S. 21–42; Urteil, Landgericht Berlin, 7.5.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 288/95; Urteil, Landgericht Berlin, 7.7.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 1, S. 159–175; Urteil, Landgericht Berlin, 24.9.1997. Ebenda, Bd. 2, S. 180– 187; Urteil, Landgericht Berlin, 31.7.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 290/95. 811 Von den untersuchten 50 Entführer-IM sind 4 nach 1990 zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, gegen einen wurde eine Verwarnung ausgesprochen und gegen 3 das Verfahren nach der Anklageerhebung eingestellt. 812 Vgl. Urteil, Landgericht Berlin, 30.7.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 2, S. 108–123; Urteil, Landgericht Bamberg, 6.12.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 976/93, Bd. 3, S. 1052–1076; Urteil, Landgericht Berlin, 29.9.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 69/93, Bd. 4, S. 21–42; Urteil, Landgericht Berlin, 11.6.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 17/94; Urteil, Landgericht Berlin, 7.5.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 288/95; Urteil, Landgericht Berlin, 7.7.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 1, S. 159–175; Urteil, Landgericht Berlin, 24.9.1997. Ebenda, Bd. 2, S. 180–187.
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1958 aufgrund seiner Abwesenheit einstellen.813 Im November 1990 erstattete nun der ehemalige stellvertretende Leiter des UFJ Siegfried Mampel Strafanzeige gegen Harry Wichert wegen Entführung mit Todesfolge, denn Neumann war im Juli 1967 in Isolationshaft gestorben. Nach Erlass des Haftbefehls durch das Amtsgericht Berlin-Tiergarten wurde Harry Wichert im März 1992 festgenommen. Eine Aussage verweigerte er und ließ 1995 – mit Verweis auf seine angegriffene Gesundheit – über seinen Rechtsanwalt erklären, dass er zu einer solchen nur bereit sei, wenn von einer Strafverfolgung gegen ihn abgesehen werde. Doch die umfangreichen MfS-Dokumente wie Entführungspläne und sogar ein Bericht des GM »Weitzel« über die Durchführung gaben zahlreiche Informationen über den Tathergang und seine Beteiligung. Ein Strafverfahren konnte dennoch nicht eingeleitet werden, da Harry Wichert durch ein gerichtsmedizinisches Gutachten als nicht verhandlungs- und vernehmungsfähig eingestuft wurde. Die Staatsanwaltschaft II stellte das Verfahren gegen Harry Wichert im September 1996 zunächst vorläufig, im Juni 1999 dann endgültig ein. Ebenso konnten die anderen Tatbeteiligten nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden: Die beteiligte GM »Sylvia« war im März 1991 verstorben. Die Organisatoren der Entführung, der Leiter der Hauptabteilung V/5 Heinz Volpert und der Stellvertreter des Ministers Bruno Beater waren ebenfalls verstorben und der Leiter der Hauptabteilung V Fritz Schröder war nicht vernehmungs- und verhandlungsfähig. Die Ermittlungen gegen den damaligen Minister für Staatssicherheit Erich Mielke wurden im Hinblick auf seine Verurteilung zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe im Bülowplatz-Prozess814 eingestellt. Ein weiterer Tatverdächtiger war ein Mitarbeiter der Hauptabteilung V/5, dem anhand der MfS-Akten jedoch keine direkte Tatbeteiligung, sondern nur seine Kenntnis von der geplanten Entführung nachgewiesen werden konnte. Da in dieser Hinsicht nur die Aussage von 813 Vgl. Strafanzeige, Abt. I 4 KJ 2, 22.8.1958. BStU, MfS, AP 21882/80, S. 123; Zwischenbericht, Abt. I 4 KJ 2, 29.10.1958. Ebenda, S. 254–267; Haftbefehl, Amtsgericht Tiergarten, 10.11.1958. Ebenda, S. 281; Verfügung, Staatsanwaltschaft Amtsgericht Tiergarten, 16.11.1958. Ebenda, S. 283; Zwischenbericht, Polizeipräsident Berlin Abt. 1, 11.9.1958. BStU, MfS, AP 21814/80, S. 63–75. 814 Gegen Mielke lief von Februar 1992 bis Oktober 1993 ein Prozess vor dem Berliner Landgericht wegen Mordes an 2 Polizisten im Jahre 1931. Dieses Verfahren hatte aufgrund der Anklage wegen Mordes Aussicht auf die höchste Strafe und war überhaupt bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens gelangt. Andere Verfahren wegen Amtsmissbrauchs, Hochverrats, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Rechtsbeugung u. a. waren bis dato eingestellt worden, da Mielke als verhandlungsunfähig galt. Im Vorfeld des Bülowplatz-Prozesses wurde Mielke eine eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit bescheinigt. Nach 86 Verhandlungstagen wurde er zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes in 2 Fällen und des versuchten Mordes in einem Fall verurteilt. Nach gut 5-jähriger Haft wurde Mielke im August 1995 vorzeitig aus der Justizvollzugsanstalt BerlinMoabit auf Bewährung entlassen. Er verstarb im Mai 2000 in einem Altenpflegeheim in BerlinHohenschönhausen im Alter von 92 Jahren. Vgl. Peter Jochen Winters: Der Mielke-Prozess. In: Jürgen Weber, Michael Piazolo: Eine Diktatur vor Gericht. München 1995, S. 101–113; Bästlein: Fall Mielke, S. 20 f., 96–98; Gieseke: Erich Mielke, S. 261–263.
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Harry Wichert Klärung bringen konnte, musste auch dieses Verfahren eingestellt werden.815 Zum Teil erfolgten die Einstellungen der Verfahren auch noch nach der Anklageerhebung wie zum Beispiel im Fall der ehemaligen GI »Martina Matt«. In ihrer Vernehmung hatte sie in einem umfangreichen Geständnis zugegeben, dem Gewerkschaftsjournalisten Heinz Brandt am Tatabend ein in Whisky gelöstes Schlafmittel verabreicht zu haben. Im Juli 1996 erhob die Staatsanwaltschaft zwar noch Anklage gegen sie wegen Freiheitsberaubung strafbar gemäß Paragraf 131 StGB-DDR. Doch das Verfahren wurde im Oktober 1998 zunächst vorläufig und im Sommer 2000 ganz eingestellt, da mit einem Wiedereintreten der Verhandlungsfähigkeit vor Eintritt der absoluten Verjährung im Oktober 2000 nicht mehr zu rechnen war.816 Ein weiteres Problem bei der strafrechtlichen Verfolgung des mitunter 40 Jahre zurückliegenden Tatbestandes war die durch den Einigungsvertrag geschaffene Rechtssituation. So musste bei der strafrechtlichen Verfolgung der an MfS-Entführungsaktionen beteiligten Personen zunächst geprüft werden, ob das bundesrepublikanische Recht zur Anwendung kommen konnte oder die Bestimmungen des DDR-Strafgesetzbuches geltend zu machen waren. Dieses Nebeneinander von zwei Strafansprüchen bei den Verfahren wegen Verschleppungen und Entführungen war eine Besonderheit bei der strafrechtlichen Verfolgung des SED-Unrechts. Im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik, dem ein Anwendungsvorrang eingeräumt worden war, waren die Paragrafen 234a Verschleppung, 239 Freiheitsberaubung und 241a Politische Verdächtigung ausschlaggebend. Für die schwerwiegendste dieser Strafvorschriften, den Paragrafen 234a StGB, war eine reguläre Verjährungsfrist von 20 Jahren anberaumt. Für alle Entführungsaktionen, die bis zum Oktober 1956 begangen wurden, war somit aufgrund des Ablaufs der doppelten regulären Verjährungs815 Vgl. Strafanzeige, Siegfried Mampel an den Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin, November 1990. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 198/92, Bd. 1, S. 1–5; Haftbefehl, Amtsgericht Tiergarten, 13.3.1992. Ebenda, S. 105–107; Festnahmebericht und Einlieferungsanzeige, 26.3.1992. Ebenda, S. 119–121; Protokoll Beschuldigtenvernehmung, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 26.5.1992. Ebenda, Bd. 2, S. 205–207; Schlussbericht, ZERV 213, 19.1.1995. Ebenda, S. 359–364; Verfügung, Staatsanwaltschaft II, 23.9.1996. Ebenda, Bd. 3, S. 86–99; Verfügung, Staatsanwaltschaft II, Juni 1999. Ebenda, S. 163–167. Vgl. Kühn: Entführung, S. 919. 816 Vgl. Protokoll Vernehmung, ZERV 216, 7.3.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1376/92, Bd. 1a, S. 7–19; Anklageschrift, Staatsanwaltschaft II an Landgericht Berlin, 12.7.1996. Ebenda, Bd. 7, S. 101–198; Beschluss, Landgericht Berlin, 29.10.1998. Ebenda, Bd. 8, S. 237 f.; Beschluss, Landgericht Berlin, 5.9.2000. Ebenda, Bd. 9, S. 17a–c. Ihre Tatteilnahme war bereits in den 1960er Jahren bekannt. Erst im August 1987 wurde das gegen sie beim Bundesgerichtshof anhängige Verfahren eingestellt. Vgl. Bericht, 14.7.1965. Ebenda, Bd. 3, S. 301–324; Aktenvermerk, Generalbundesanwalt Bundesgerichtshof, 17.8.1987. Ebenda, S. 94 f. Eingestellt nach einer Anklageerhebung wurden ebenso die Verfahren gegen die ehemalige GM »Dita Schönberg« wegen eines Entführungsversuchs und gegen den GM »Bert« wegen der Verschleppung von Niki Glyz. Vgl. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 141/95; Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 170/94.
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frist bereits die absolute Strafverfolgungsverjährung eingetreten. Ebenso waren Verschleppungen und Entführungen verjährt, die zwar nach diesem Zeitpunkt begangen wurden, aber bei denen verjährungsunterbrechende Untersuchungshandlungen fehlten. In diesen Verjährungsfällen konnte die Ahndung nur noch nach dem übergeleiteten Strafanspruch der ehemaligen DDR erfolgen. Im Strafgesetzbuch der DDR konnte zu diesem Zweck allerdings nur auf den Paragrafen 131 Freiheitsberaubung zurückgegriffen werden, der gegenüber dem zur Tatzeit in der DDR noch geltenden Paragrafen 239 des Reichsstrafgesetzbuches milder war.817 Infolge dieser Rechtslage entstand die paradoxe Situation, dass überprüft werden musste, inwieweit die jeweilige Entführung ein Verstoß gegen das geltende Recht in einem Staat war, dessen diktatorisches Regime der Auftraggeber war. Die strafrechtliche Verfolgung der Verschleppungen war unmöglich, da sich die Geschädigten gewissermaßen ›freiwillig‹ (wenn auch oft arglistig getäuscht) in das Gebiet der DDR begeben hatten und ihre anschließenden Festnahmen nach der in der DDR geltenden Rechtslage formell als rechtmäßige Maßnahmen darstellten.818 Denn die Volkspolizei und das MfS waren gesetzlich berechtigt, mutmaßliche »Diversanten« und »feindliche Agenten« festzunehmen, wenn der begründete Verdacht einer Feindtätigkeit vorlag. Die Pervertierung dieses Rechts, das zur Verfolgung jeglicher Form abweichenden Verhaltens missbraucht wurde, blieb bei der strafrechtlichen Verfolgung nach 1990 ebenso ungeachtet wie die angewandten Täuschungen, welche die Festnahmen erst ermöglichten. Vor diesem Hintergrund wurden die Fälle der Verschleppungen eingestellt, bei denen die bundesrepublikanischen Strafbestimmungen aufgrund der Verjährungsfrist nicht mehr zur Anwendung kommen konnten. Eine Strafverfolgung nach Paragraf 131 StGB-DDR war nur in den Fällen von gewaltsamen Entführungen möglich. Die für diesen Paragrafen geltende Verjährungsfrist von fünf Jahren wäre eigentlich ebenso abgelaufen gewesen. Aber in dem Umstand, dass Straftaten (im Auftrag) des MfS in der DDR generell nicht geahndet wurden und die Strafverfolgung daher in diesen Fällen ruhte, sah der Bundesgerichtshof ein gesetzliches Verfolgungshindernis, das eine Verjährung verhinderte. Durch diese Ruhensregelung blieb der Ost-Strafanspruch weiter verfolgbar, auch wenn der WestStrafanspruch durch die Verjährung nicht mehr bestand. Der Tatbestand der Freiheitsberaubung umfasste allerdings nur den Zeitraum der Tat auf bundesdeutschem Boden. Denn nach dem Überschreiten der Grenze galt das Festhalten zumeist dadurch als gerechtfertigt, dass ein Haftbefehl vorlag und voll817 Vgl. Marxen/Werle: MfS-Straftaten, S. XVIII f., XXIX–XXXIII; dies.: Aufarbeitung, S. 3–7; Schäfter: Strafverfolgung, S. 38; Schißau: Strafverfahren, S. 28–30; Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1192–1194; Eser/Arnold: Strafrecht, S. 225–230. 818 Vgl. Chris Mögelin: Recht im Unrechtsstaat? In: Helga Schultz, Hans-Jürgen Wagener (Hg.): Die DDR im Rückblick. Berlin 2007, S. 92–111.
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streckt wurde. Das Strafrecht ermöglichte also auch in dieser Hinsicht nur die strafrechtliche Verfolgung eines kleinen Teils des Gesamtgeschehens.819 Als einer der ersten unter den Entführer-IM wurde Erwin Röder nach dem Untergang der DDR von seiner Vergangenheit eingeholt. Der ehemalige Grenzpolizist hatte im August 1959 den nach Westen geflohenen Grenzpolizisten Manfred Smolka in einen Hinterhalt an die deutsch-deutsche Grenze gelockt. Dort wurde Smolka von Grenzpolizisten auf westlichem Gebiet festgenommen, nachdem er eine Schussverletzung erlitten hatte. Im Mai 1960 wurde er wegen Spionage und Sabotage zum Tode verurteilt und im Juli desselben Jahres hingerichtet. Die Rolle von Erwin Röder bei dieser Verschleppung blieb im Westen nicht verborgen, doch die Ermittlungen gegen den DDR-Bürger mussten im April 1974 vorläufig eingestellt werden.820 Im Jahre 1990 konnten sie nunmehr wieder aufgenommen werden. Und da die Strafverfolgungsverjährung in seinem Fall durch eine Zeugenvernehmung im Jahr 1974 unterbrochen war, konnte weiterhin wegen Verstoßes gegen das Freiheitsschutzgesetz Paragraf 234a StGB ermittelt werden. Das Landgericht Berlin erließ im Januar 1991 Haftbefehl gegen ihn, der umgehend vollstreckt wurde. Nach einer Beschwerde des Beschuldigten setzte das Oberlandesgericht Bamberg diesen Haftbefehl im Februar 1991 gegen die Auflagen einer Kaution von 10 000 DM, einer Abgabe der Ausweispapiere und einer zweimal wöchentlichen Meldepflicht aus. Im Mai 1992 erhob die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bamberg Anklage gegen Erwin Röder. Das dortige Urteil erging im Dezember 1994: Erwin Röder wurde wegen Verschleppung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, die auf Bewährung ausgesetzt wurde.821 819 Vgl. Erklärung »Zur Strafbarkeit von durch Mitarbeiter des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit begangenen Verschleppungen/Freiheitsberaubungen von West-Deutschland (WestBerlin) nach Ost-Deutschland (Ost-Berlin)«, Staatsanwaltschaft II Landgericht Berlin, 24.10.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 976/92, Bd. 3, S. 710–713. Vgl. Marxen/Werle: Aufarbeitung, S. 92; dies.: MfS-Straftaten, S. XLIII f.; dies.: Erfolge, Defizite und Möglichkeiten der strafrechtlichen Aufarbeitung des SED-Unrechts in vorwiegend empirischer Hinsicht. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«. Bd. II.1: Opfer, Elitenwechsel, justitielle Aufarbeitung. Frankfurt/M. 1999, S. 1064–1303, hier 1154; Schißau: Strafverfahren, S. 31–56, 159 f., 174–182, 269; Schaefgen: Strafverfolgung, S. 49 f. 820 Das MfS war über die Ermittlungen gegen Erwin Röder informiert. Im März 1980 vermerkte die HA I, dass das Landgericht Bamberg und das LKA Bayern Abt. Staatsschutz ihre Ermittlungen gegen Erwin Röder wieder verstärken. Vgl. Mitteilung, HA I, 25.3.1980. BStU, MfS, HA II Nr. 4030, S. 407. 821 Vgl. Schreiben, Staatsanwaltschaft Oberlandesgericht Bamberg an Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 15.1.1991. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 976/92, Bd. 1, S. 3–6; Haftbeschluss, Landgericht Bamberg, 3.1.1991. Ebenda, S. 38 f.; Beschluss, Oberlandesgericht Bamberg, 18.2.1991. Ebenda, S. 47 f.; Anklageschrift, Staatsanwaltschaft Landgericht Bamberg, 18.5.1992. Ebenda, Bd. 2, S. 404–443; Urteil, Landgericht Bamberg, 6.12.1994. Ebenda, Anlagenband Staatsanwaltschaft Bamberg Bd. 3, S. 1052–1076. Im Zusammenhang mit der Entführung Smolkas war
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In anderen Fällen konnte aufgrund der Verjährung nur auf die Strafvorschrift der Freiheitsberaubung nach dem Strafgesetzbuch der DDR zurückgegriffen werden, wie beispielsweise das Landgericht Berlin im Sommer 1997 in seinem Urteil gegen Eduard Hinze wegen Freiheitsberaubung zum Nachteil von Robert Bialek. Der Generalinspekteur der VP und hohe SED- sowie FDJFunktionär Robert Bialek war im September 1953 nach West-Berlin geflüchtet, wo er für das SPD-Ostbüro arbeitete – bis zu seiner Entführung Anfang Februar 1956. Bereits unmittelbar nach seinem Verschwinden waren in WestBerlin die Details seiner Entführung und auch seine Entführer namentlich bekannt. Denn der Westberliner Polizei gelang mithilfe der Zeugenbefragungen und Ermittlungen eine sehr genaue Rekonstruktion der Tat.822 Doch da die beiden GM des MfS und VP-Angehörigen Martin Damaschke und Eduard Hinze nach der Tat in die DDR geflüchtet waren, konnten sie im Westen nicht strafrechtlich belangt werden. Die gesamtdeutschen Ermittlungsbehörden konnten in den 1990er Jahren also auf einen bereits relativ breiten Kenntnisstand zurückgreifen, den es nun durch die zugänglichen MfS-Unterlagen zu vertiefen galt.823 Der 1902 geborene Martin Damaschke, der zwei Jahre als GM dem MfS gedient hatte, war allerdings inzwischen verstorben. Die Ermittlungen konzentrierten sich daher auf den mittlerweile 80-jährigen Eduard Hinze, der die Aussage verweigerte als ihn die ZERV im Januar 1994 mit dem Tatvorwurf konfrontierte. Als wichtiger Zeuge galt der ehemalige MfS-Chef Erich Mielke, der Bialek in der DDR-Haft mehrfach vernommen haben soll auch der Leiter der beteiligten Grenzpolizei-Diensteinheit angeklagt, der mit seiner Kalaschnikow auf Smolka geschossen und ihn verletzt hatte. Doch das Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen versuchten Totschlags u. a. wurde im März 1996 eingestellt, da ihm ein Tötungsvorsatz nicht nachzuweisen war und er auf Befehl gehandelt hatte. Vgl. Verfügung, Staatsanwaltschaft Erfurt, 6.3.1996. Ebenda, Bd. 3, S. 638–644. Weitere Verfahren richteten sich gegen den Leiter der HA IX/6 Willy Neumann, der den Schauprozess mit Todesstrafe »aus erzieherischen Gründen« vorgeschlagen hatte, gegen Erich Mielke, der diesen Vorschlag genehmigt hatte, und gegen Klaus Sorgenicht als Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen des ZK der SED. Alle 3 Verfahren wurden im März 1997 wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Verurteilt wurde nur der ehemalige Staatsanwalt Paul Wieseler, der die Anklage gegen Smolka verfasst hatte, zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten auf Bewährung wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Beihilfe zum Totschlag. Vgl. Aktenvermerk, Staatsanwaltschaft II, 21.3.1997. Ebenda, Bd. 3, S. 714–746; Bästlein: Fall Mielke, S. 186 f. 822 Vgl. Protokoll Zeugenvernehmung, 5.2.1956. BArch, B 137/31817, S. 9–11; Protokoll Zeugenvernehmung, Abt. I 4 KJ 1, 5.2.1956. Ebenda, S. 11–15; Schlussbericht, Abt. I 4 KJ 1, 14.9.1956. Ebenda, S. 17–29; Jahresbericht, Berliner Polizei, 1956. LAB, Zs 505, S. 5; Schlussbericht, ZERV 213, 30.5.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 1, S. 158–160; zahlreiche Zeitungsartikel wie z. B. Entführungsaktion in Wilmersdorf. In: Tagesspiegel, 7.2.1956; Menschenraub in Westberlin. In: Der Tag, 7.2.1956; Robert Bialek – vergiftet und entführt. In: BZ, 7.2.1956; Raffinierter Menschenraub in Westberlin. In: Münchner Merkur, 7.2.1956; Ulbricht holte seinen Erzfeind aus Westberlin. In: Bild, 7.2.1956; Kidnapping in Berlin. In: Manchester Guardian, 7.2.1956. 823 Vgl. Informationsbericht »Deutsche Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft – Die Toten«, Bundesministerium für Familie und Senioren Dienstbereich Berlin, Mai 1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 1, S. 32–42; Schlussbericht, ZERV 213, 30.5.1995. Ebenda, S. 158–160.
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und in der Lage gewesen sein dürfte, das bis dato ungeklärte Schicksal Bialeks endlich aufzudecken. Doch in den gegen ihn gerichteten Verfahren zeigte er wiederholt erstaunlich große Erinnerungslücken.824 Die Ermittlungen der ZERV gegen die beiden Entführer waren im Mai 1995 abgeschlossen, die Staatsanwaltschaft II bemühte sich jedoch noch um die Fahndung nach den zuständigen hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern.825 Im September 1996 erhob sie dann gegen Eduard Hinze Anklage, »gemeinschaftlich mit einem anderen einen Menschen auf die Menschenwürde besonders verletzende Art und Weise rechtswidrig der persönlichen Freiheit beraubt zu haben«.826 Der Rechtsanwalt von Eduard Hinze versuchte auf zwei Wegen die Anklage abzuwenden: Zum einen sei sein Mandant am Tatabend zwar mit Robert Bialek und Martin Damaschke zusammen gewesen, aber zeitweilig aus dem Haus geschickt worden. Bei seiner Rückkehr habe er dann den bewusstlosen Bialek vorgefunden und diesen Zustand auf übermäßigen Alkoholkonsum zurückgeführt. Dass Damaschke Bialek nach Ost-Berlin und nicht – wie ihm gegenüber vorgegeben – ins Krankenhaus brachte, habe Hinze nicht gewusst. Zum anderen wies der Rechtsanwalt die vorgeschlagene Anwendung des Paragrafen 131 StGB-DDR zurück, da das MfS zur Festnahme rechtlich verpflichtet gewesen sei, »als der Spion Bialek auf das DDR-Territorium gelangte«.827 Das Landgericht Berlin überzeugten diese Argumente des Rechtsanwalts nicht und es eröffnete am 14. Juli 1997 die Hauptverhandlung in der Strafsache gegen Eduard Hinze. Dieser verlas eine schriftliche Erklärung, in der er eingestand, für das MfS tätig gewesen zu sein – »zum Schutz der DDR-Bevölkerung vor den Verbrechen dieser Einrichtungen«828 wie dem SPD-Ostbüro. Mit dem Ziel, Robert Bialek für das MfS anzuwerben, habe er im Auftrag des MfS Kontakt zu diesem aufgebaut. Hinsichtlich des Tatabends beharrte Eduard Hinze aber auf seiner Version, die allerdings durch aktuelle Zeugenaussagen und Ermittlungsberichte aus dem Jahr 1956 widerlegt werden konnte. Den824 Vgl. Vermerk, ZERV 213, 13.1.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 1, S. 89; Vermerk, ZERV 213, 21.2.1994. Ebenda, S. 90; Zwischenbericht, ZERV 213, 18.5.1994. Ebenda, S. 92–95; Vermerk, ZERV 213, 24.8.1994. Ebenda, S. 98; Schlussbericht, ZERV 213, 30.5.1995. Ebenda, S. 158–160. Alle Bemühungen um die Aufklärung des Schicksals von Bialek wie die Einschaltung der Interpol Moskau u. a. verliefen erfolglos. Vgl. Fernschreiben, ZERV 213 an LKA und BKA Wiesbaden, 12.9.1954. Ebenda, S. 108; Antwortschreiben, BKA Wiesbaden an ZERV 213, 11.11.1954. Ebenda, S. 130; Sachstandsmitteilung, ZERV 213, 10.4.1995. Ebenda, S. 154 f. 825 Vgl. Schlussbericht, ZERV 213, 30.5.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 1, S. 158–160; Verfügung, Staatsanwaltschaft II, 25.1.1996. Ebenda, S. 190–194. 826 Anklageschrift, Staatsanwaltschaft II an Landgericht Berlin, 3.9.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 2, S. 6–34, hier 6. 827 Stellungnahme, Rechtsanwalt an Landgericht Berlin, 10.3.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 2, S. 48–51; vgl. Stellungnahme, Staatsanwaltschaft II, 20.3.1997. Ebenda, S. 54–57. 828 Stellungnahme, Eduard Hinze, 14.7.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 2, S. 76–79, hier 78.
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noch plädierte die Verteidigung am vierten Verhandlungstag für einen Freispurch, während die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten beantragte, die mit einer Bewährungsfrist von zwei Jahren ausgesetzt werden sollte.829 Die 11. Große Strafkammer folgte schließlich in ihrem Urteil am 30. Juli 1997 dem von der Staatsanwaltschaft vorgeschlagenen Strafmaß. Da der originäre Strafanspruch der Bundesrepublik verjährt war, musste sie die Anwendbarkeit des Paragrafen 131 des StGB-DDR prüfen, dessen Straftatbestand sie als erfüllt ansah: »Das Handeln des Angeklagten war auch nach dem Recht der DDR als Freiheitsberaubung zu werten.« Die Orientierung am DDR-Recht hatte allerdings die Konsequenz, dass der Schuldumfang in zeitlicher Hinsicht auf den Freiheitsentzug bis zur offiziellen Festnahme in OstBerlin beschränkt war. Zugunsten des Angeklagten berücksichtigte die Strafkammer zudem, dass er weder Urheber noch Befehlsgeber der Entführungsaktion war sowie sein hohes Alter von 83 Jahren und die zeitliche Distanz zur Tat vor 41 Jahren. Dass Eduard Hinze keinerlei Einsicht zeigte, wertete sie nicht zu seinen Lasten.830 Im Rahmen der Untersuchungen in der Entführungssache Bialek verdächtigten die Ermittler kurzzeitig auch den ehemaligen IM »Teddy«, gegen den sie schon in einem anderen Entführungsfall ermittelten.831 Im Sommer 1992 hatte sich die Ehefrau des 1955 entführten Manfred Richter bei der Polizei gemeldet und über die gewaltsame Entführung ihres 1984 verstorbenen Ehemannes berichtet. Das Tatgeschehen und ein Tatbeteiligter waren bereits durch die Ermittlungen in den 1950er und 1960er Jahren bekannt. Manfred Richter hatte nach seiner Rückkehr aus der DDR-Haft 1964 eine umfangreiche Aussage gemacht und den dringenden Tatverdacht gegen seinen Mitarbeiter Klaus Blaschke bestätigt. Doch das bereits eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen Klaus Blaschke konnte nicht zu Ende geführt werden, da dieser in die DDR geflohen war. Unerkannt blieben zudem seine drei Komplizen, die Manfred Richter auf einer Autobahn in der Nähe von Kassel brutal überwäl-
829 Vgl. Stellungnahme, Eduard Hinze, 14.7.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 2, S. 76–79; Protokoll Hauptverhandlung, Landgericht Berlin, 21.7.1997. Ebenda, S. 80 f.; 2 Beweisanträge, Staatsanwaltschaft II, 21.7.1997. Ebenda, S. 82 f., 97 f.; Protokoll Hauptverhandlung, Landgericht Berlin, 28.7.1997. Ebenda, S. 104 f. Vgl. Presseberichterstattung: Prozeß um Entführung. In: Tagesspiegel, 15.7.1997; Ex-Stasi-Mitarbeiter soll geflüchteten VopoGeneral entführt haben. In: Berliner Morgenpost, 15.7.1997; Der Fall Bialek: Entführt und im Osten verschwunden. In: Berliner Zeitung, 15.7.1997; Spionage-Prozeß: Entführte er den schönen VopoGeneral? In: BZ, 15.7.1997; Menschenfänger-Prozeß: »Der Westen war voller Spione.« In: Bild, 15.7.1997; MfS-Agent vor Gericht. In: Neues Deutschland, 15.7.1997; 41 Jahre lang schwieg die Frau des entführten Bialek. In: Berliner Zeitung, 22.7.1997. 830 Urteil, Landgericht Berlin, 30.7.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 2, S. 108–123, Zitat siehe S. 118. 831 Vgl. Sachstandsmitteilung, ZERV 213, 10.4.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1057/92, Bd. 1, S. 154 f.; Vermerk, ZERV 213, 10.5.1995. Ebenda, S. 157.
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tigt und in die DDR gebracht hatten.832 Erst mithilfe der MfS-Unterlagen konnten nach und nach alle Tatbeteiligten identifiziert und die Hintergründe der Entführungsaktion vollends geklärt werden. So stellte die ZERV zunächst im August 1993 Strafanzeige gegen Klaus Blaschke, den ehemaligen GM »Herbert«. In seiner Vernehmung bemerkte er resignierend: Ich »habe gewußt, daß die Sache noch auf mich zukommen wird. Daß der Wolf so dämlich ist und alle Akten aufbewahrt, das hatte ich nicht gedacht, und dann noch mit Klarnamen und unverschlüsselt.«833 Vor diesem Hintergrund gestand er seine Beteiligung an der Entführungsaktion, betonte jedoch, nicht direkt mitgewirkt zu haben. Er habe lediglich das MfS über die Reise von Manfred Richter in die Bundesrepublik informiert und Kenntnis gehabt, dass Richter auf dieser Reise entführt werden sollte. Zwar sei die Entführung ohne seinen Beitrag nicht möglich gewesen, aber er habe weder von den genauen Entführungsplänen gewusst noch die eingesetzten IM gekannt.834 Mit dem Geständnis von Klaus Blaschke war das seit den 1950er Jahren laufende Ermittlungsverfahren gegen ihn nunmehr im September 1993 abschlussreif. Im Juli 1994 erging gegen ihn vor der Zweiten Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin das Urteil wegen Beihilfe zur Verschleppung. Auf Grundlage der Strafvorschrift Paragraf 234a StGB erhielt er eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, die aufgrund seines fortgeschrittenen Alters von 72 Jahren und seiner angegriffenen Gesundheit zur Bewährung ausgesetzt wurde.835 Dank der MfS-Unterlagen konnten auch die drei anderen Tatbeteiligten zeitnah identifiziert werden. Im Oktober 1993 lenkte ein Hinweis der Behörde des BStU die Ermittler auf die Spur der Einsatzgruppe »Donner«, die mehrere Entführungsaktionen ausgeführt hatte, darunter auch die von Manfred Richter. Zwei der IM dieser Gruppe, die IM »Donner« und »Blitz«, waren bereits verstorben. Der dritte IM, Paul Lindner alias IM »Teddy«, lebte allerdings 832 Die Bundesanwaltschaft ermittelte bereits ab Dezember 1955 gegen Klaus Blaschke wegen Verdachts der landesverräterischen Agententätigkeit. Nachdem sie das Verfahren 1963 wegen Verjährung einstellen musste, ermittelte die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Berlin gegen ihn wegen Verschleppung. Vgl. Bericht über Zeugenaussage, Dir VB S I IV, 8.7.1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 1, S. 1 f.; Protokoll Zeugenvernehmung, ZERV 212, 16.9.1992. Ebenda, S. 8–11; Schreiben, Generalstaatsanwalt Landgericht Berlin an Generalbundesanwalt Bundesgerichtshof Karlsruhe, 16.8.1963. Ebenda, S. 29; Protokoll Vernehmung, BKA Sicherungsgruppe, 6.5.1965. Ebenda, S. 36–65; Verfügung, Generalbundesanwalt Bundesgerichtshof, Juli 1965. Ebenda, S. 26 f. Vgl. Schißau: Strafverfahren, S. 165 f. 833 Protokoll Vernehmung, ZERV 212, 16.8.1993. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 1, S. 108–123, hier 109; vgl. Schreiben, BStU Abt. II.2 an ZERV 212, 8.3.1993. Ebenda, S. 81 f.; Strafanzeige, ZERV 212, 31.8.1993. Ebenda, S. 107. 834 Vgl. Protokoll Vernehmung, ZERV 212, 16.8.1993. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 1, S. 108–123. 835 Vgl. Verfügung, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht, 21.9.1993. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 1, S. 131–133; Urteil, Landgericht Berlin, 7.7.1994. Ebenda, S. 159– 175. Klaus Blaschke verstarb im Januar 1996. Vgl. Schißau: Strafverfahren, S. 166.
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noch im ehemaligen Ostteil Berlins. Doch der 65-Jährige verweigerte die Aussage.836 Aber auf Grundlage der umfangreichen MfS-Unterlagen sowie der protokollierten Aussagen von Manfred Richter und Klaus Blaschke, die beide inzwischen verstorben waren, erhob die Staatsanwaltschaft II beim Landgericht im August 1996 Anklage gegen Paul Lindner wegen gemeinschaftlich begangener Freiheitsberaubung (§ 131 StGB-DDR) und vorsätzlicher Körperverletzung (§ 115 StGB-DDR) zum Nachteil von Manfred Richter. In der Stellungnahme zur Anklageschrift ließ Paul Lindner über seinen Rechtsanwalt die Vorwürfe abstreiten. Zudem seien die angeführten Beweismittel zur Schuldfeststellung nicht geeignet, da die als Mittäter genannten Personen verstorben und die MfS-Unterlagen nicht auf rechtsstaatlicher Basis entstanden seien. Lindner sei das Opfer »ungerechtfertigter Verdächtigungen«.837 Die Ausführungen des Rechtsanwalts genügten in den Augen des Landgerichts Berlin nicht, um den hinreichenden Tatverdacht gegen Paul Lindner zu entkräften. Am 5. September 1997 eröffnete es die Hauptverhandlung, die nach vier Verhandlungstagen mit einer Verurteilung wegen Freiheitsberaubung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung endete. Zulasten des Angeklagten registrierte die 22. Große Strafkammer die brutale Durchführung der Tat, berücksichtigte aber strafmildernd die auszuschließende Wiederholungsgefahr und den langen zeitlichen Abstand von 42 Jahren. Zudem sei Paul Lindner »eher ein kleines, wenn auch in der vorliegenden Sache entscheidendes Rädchen im Gesamtgetriebe des MfS«.838 Diese Metaphorik taucht in Urteilen gegen Beteiligte an den MfS-Entführungsaktionen immer wieder auf – sogar im Urteil gegen beteiligte hauptamtliche MfS-Mitarbeiter839 –, ist aber nicht unproblematisch. Denn das evozierte Bild vernachlässigt einen wichtigen Aspekt: Im Gegensatz zum Rädchen im mechanischen Getriebe verfügten die Tatbeteiligten über Handlungsspielräume. Die Urteile gegen Klaus Blaschke und Paul Lindner im Entführungsfall Manfred Richter blieben die einzigen gegen IM im Umfeld der Einsatzgruppe 836 Vgl. Schlußvermerk, ZERV 212, 28.9.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 1, S. 146; Protokoll Vernehmung, ZERV 212, 4.1.1995. Ebenda, S. 212–214; Schreiben, Rechtsanwalt Schulz an das Amtsgericht Berlin Arbeitsgruppe Regierungskriminalität, 6.1.1995. Ebenda, S. 218; Schlussvermerk, ZERV 212, 16.2.1995. Ebenda, S. 220–223; Schlussbericht, ZERV 212, 21.5.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 2, S. 53–59, hier 53–55. 837 Stellungnahme, Rechtsanwalt Schulz an Landgericht Berlin, 10.10.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 2, S. 42 f.; vgl. Anklageschrift, Staatsanwaltschaft II, 29.8.1996. Ebenda, S. 1–36. 838 Urteil, Landgericht Berlin, 24.9.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 2, S. 180–187, hier 185. Da der Strafrahmen des § 131 StGB-DDR wegen einer höheren Mindeststrafe für den Angeklagten ungünstiger war, griff die Strafkammer auf den § 239 StGB zurück. Vgl. Beschluss, Landgericht Berlin, 1.11.1996. Ebenda, S. 47; Protokoll Hauptverhandlung, Landgericht Berlin, 24.9.1997. Ebenda, S. 167–172. 839 Vgl. Urteil gegen Helmut Träger und Gerhard Mähnert, Landgericht Berlin, 13.6.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 4, o. Pag.
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»Donner«, die die ZERV mit zehn Straftaten in Verbrindung brachte: zwei Entführungen, vier geplante Entführungen, zwei geplante Mordanschläge, einen Sprengstoffanschlag und einen Einbruchsdiebstahl. Die geplanten Entführungen, an denen zum Teil auch Lindner beteiligt war, konnten strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden. Die Verjährungsfrist für die entsprechenden Paragrafen 234a und 239 StGB war abgelaufen, und ein vergleichbarer Strafanspruch der ehemaligen DDR existierte nicht. Die zweite erfolgreiche Entführung der Gruppe »Donner«, deren Opfer im Winter 1956 ein ZOPEMitarbeiter wurde, fand ohne Mitwirkung von Paul Lindner statt.840 In diesem Zusammenhang leitete die Staatsanwaltschaft zwar nach einer Strafanzeige im April 1994 ein Ermittlungsverfahren gegen Ursula Rothe alias IM »Lisa König« ein, das allerdings im August 1997 eingestellt werden musste. Die MfSUnterlagen und die 1964 protokollierte Aussage des zurückgekehrten Entführungsopfers ließen keinen Zweifel an ihrer Anwesenheit beim Tatgeschehen. Diese räumte sie auch – ebenso wie ihre IM-Tätigkeit – in ihrer Vernehmung ein, bekundete aber, von der geplanten Entführung an besagtem Abend nichts gewusst zu haben. Eine Kenntnis des genauen Entführungsplans und der vorgesehenen Gewaltanwendung der anderen Tatbeteiligten waren ihr nicht nachzuweisen.841 Alle weiteren bekanntgewordenen Straftaten der Einsatzgruppe »Donner« konnten nicht verfolgt werden, da die Taten bereits verjährt waren, sie keinem Beschuldigten eindeutig zugeordnet werden konnten oder die Tatverdächtigen bereits verstorben waren.842 Dabei hätte Paul Lindner noch in Bezug auf eine weitere Entführungsaktion zur Rechenschaft gezogen werden müssen, die in den Ermittlungsakten jedoch gar nicht auftaucht: Im Mai 1962 entführte er zusammen mit dem GM »Donner« einen geflohenen MfS-Mitarbeiter aus einem Krankenhaus in Neckarsulm. Die Hinweise auf diese Entführung hatten die Ermittler anscheinend übersehen oder nicht weiter verfolgt. Die Untersuchungen im Zusammenhang mit den Straftaten der Einsatzgruppe »Donner« richteten sich insgesamt gegen mehr als zwei Dutzend Personen, darunter auch MfS-Chef Erich Mielke. Aber auch die Ermittlungen gegen die hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter mündeten nur selten in Strafverfahren. Auf der Seite der Hauptamtlichen waren ebenfalls die meisten Be840 Vgl. Schlussbericht, ZERV 212, 21.5.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 2, S. 53–59; Verfügung, Staatsanwaltschaft II, 8.7.1996. Ebenda, S. 82–105; Verfügung, Staatsanwaltschaft II, 29.7.1997. Ebenda, Bd. 3, S. 68–84. 841 Vgl. Strafanzeige, ZERV 226, 27.4.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 1, S. 51; Protokoll Vernehmung Heinrich Berger, Bayerische Landespolizei Herzogenaurach, 19.11.1964. Ebenda, S. 54 f.; Verfügung, Staatsanwaltschaft II, 7.8.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 278/96, Bd. 2, S. 26–37. 842 Vgl. Verfügung, Staatsanwaltschaft II, 29.7.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 3, S. 68–84; Vermerk zur Einstellung der Ermittlungen, Staatsanwaltschaft II, 17.2.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 23/96, Bd. II, S. 142–145.
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schuldigten bereits verstorben, wie zum Beispiel Josef Kiefel, der Leiter der Hauptabteilung II (1952–1960) sowie der Abteilung XXI (1960–1970) war und jahrelang die GM »Donner«, »Blitz« und »Teddy« sowie zahlreiche andere Entführer-IM anleitete. Oder Bruno Beater, der als Leiter der Abteilung V der MfS-Verwaltung Groß-Berlin (1950–1955) und vor allem als Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit (seit 1955) für unzählige Entführungsaktionen verantwortlich war.843 Die Ermittlungsverfahren gegen die wenigen noch lebenden Hauptamtlichen, die mit den Strafttaten der Gruppe »Donner« in Verbindung gebracht wurden, mussten mangels hinreichenden Tatnachweises eingestellt werden – mit Ausnahme des Verfahrens gegen Erich Mielke, das wegen seiner Verurteilung im Bülowplatz-Prozess nach Paragraf 154 StPO eingestellt wurde.844 Vor Gericht zu verantworten hatte sich nur der Hauptamtliche Helmut Träger845, der damalige Leiter der Abteilung 4 in der Hauptabteilung II. Als die polizeilichen Ermittlungen einen dringenden Tatverdacht gegen Helmut Träger im Entführungsfall Manfred Richter ergaben, war dieser bereits in einem anderen Verfahren wegen Freiheitsberaubung angeklagt. Im Februar 1994 hatte die Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin Anklage gegen ihn erhoben wegen Verdachts der Freiheitsberaubung zum Nachteil von Wilhelm van Ackern. In seiner Stellung als stellvertretender Leiter der Hauptabteilung II/4 hatte Träger mehrere Festnahmepläne zu Wilhelm van Ackern selbst ausgearbeitet und den zur Durchführung gekommenen Plan unterschrieben – angeblich möglicherweise ohne ihn gelesen zu haben, wie er in seiner Vernehmung 1993 bekundete. Er könne sich nicht erinnern, auch nicht an den Namen van Ackern. Angesichts der Bedeutung der Entführung des Mitarbeiters der Organisation Gehlen war diese Einlassung nicht glaubwürdig. Im April 1994 ließ die 22. Strafkammer beim Landgericht Berlin die Anklage zur Hauptverhandlung zu. Doch die ab dem 21. Oktober 1994 terminierte Hauptverhandlung wurde ausgesetzt, um sie mit einem anderen Verfahren verbinden zu können, das gegen einen Zeugen geführt wurde. Auf diese Weise konnte nun auch das Verfahren zum Fall Manfred Richter einge843 Anläßlich Beaters Tod vgl. SSD-Menschenräuber Beater in Ost-Berlin gestorben. In: Berliner Morgenpost, 11.4.1982. Angaben zu den Kurzbiografien von Kiefel und Beater vgl. Gieseke: Bruno Beater, S. 78 f.; ders.: Josef Kiefel, S. 647 f. 844 Vgl. Vermerk, Staatsanwaltschft II, 31.7.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 1, S. 228 f.; Verfügung, Staatsanwaltschaft II, 29.7.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 1014/93, Bd. 3, S. 68–84. Vgl. Bästlein: Fall Mielke, S. 284. 845 Helmut Träger wurde 1919 geboren, nahm als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil und arbeitete nach dem Krieg bei der Polizei in der sowjetisch besetzten Zone. Kurz nach der Gründung des Ministeriums für Staatssicherheit wurde er dort zunächst als Unterwachtmeister eingestellt. Nach 34jähriger Dienstzeit ging er 1984 im Rang eines Oberstleutnants in Rente. Vgl. Anklageschrift gegen Erich Mielke und Helmut Träger, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 16.2.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 3, S. 80–136, hier 91.
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bunden werden.846 Zur Zeit dieser Entführungsaktion hatte Träger die Leitung der Hauptabteilung II/4 übernommen, in der im November 1955 die Entführung des dänischen Nachrichtendienstlers geplant wurde. Doch auch in diesem Fall konnte Träger sich an seine Unterschriften unter den Maßnahmeund Entführungsplänen nicht mehr erinnern. Dennoch wurde Träger nach fünf Verhandlungstagen am 13. Juni 1995 vor dem Landgericht Berlin der »Anstiftung zu tateinheitlich mit vorsätzlicher Körperverletzung verübter Freiheitsberaubung« schuldig gesprochen und mit einer Freiheitsstrafe von acht Monaten bestraft, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Diese Verurteilung bezog sich aber nur auf die Entführungsaktion Wilhelm van Ackern, im Fall Manfred Richter wurde er freigesprochen. Da Trägers Unterschrift auf dem letzten, zur Durchführung gekommenen Entführungsplan fehlte, war ihm eine Beteiligung in diesem entscheidenden Stadium der Entführungsaktion nicht nachzuweisen.847 Im Fall Wilhelm van Ackern waren neben Helmut Träger auch Erich Mielke und Gerhard Mähnert848 angeklagt. Im August 1992 hatte van Ackern selbst Strafanzeige gegen Erich Mielke gestellt. Als 1. Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit hatte Erich Mielke den letztlich realisierten Entführungsplan mit »einverstanden« und seiner Unterschrift abgezeichnet. Doch er konnte strafrechtlich nicht zu Verantwortung gezogen werden: Aufgrund seiner Verhandlungsunfähigkeit stellte das Landgericht Berlin das Verfahren im April 1996 zunächst vorläufig, im Dezember 1998 endgültig ein.849 846 Vgl. Verfügung, Staatsanwaltschaft II, 25.10.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1309/92, Bd. 1, S. 193–196; Protokoll Vernehmung Helmut Träger, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 21.10.1993. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 1, S. 96–107; Anklageschrift gegen Erich Mielke und Helmut Träger, Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin, 16.2.1994. Ebenda, Bd. 3, S. 80–136; Anklageschrift gegen Helmut Träger, Staatsanwaltschaft II Landgericht Berlin, 30.12.1994. Ebenda, Bd. 13, S. 16–59; Sachstandsmitteilung, ZERV 213, 9.5.1955. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 79/94, Bd. IV, S. 138–143. 847 Vgl. Urteil gegen Helmut Träger und Gerhard Mähnert, Landgericht Berlin, 13.6.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 4, o. Pag. Da gegen das Urteil vonseiten der Staatsanwaltschaft Revision eingelegt wurde, war es nicht rechtskräftig. Träger verstarb vor dem Revisionsbeschluss des Bundesgerichtshofes. Vgl. Revisionsbegründung, Staatsanwaltschaft II, 6.9.1995. Ebenda, Bd. 14, S. 176–211. 848 Gerhard Mähnert, geboren 1928, arbeitete seit 1948 bei der Schutz- und später bei der Kriminalpolizei. Bereits im Juni 1950 wurde er vom Ministerium für Staatssicherheit angeworben und leitete ab August 1952 die Abteilung II in der MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg. Nachdem er im Juni 1960 wegen Geheimnisverrats zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, wurde er aus dem MfS ausgeschlossen. Die Haftstrafe verbüßte er bis März 1963 in der Strafanstalt Bautzen II. Nach seiner Haftentlassung war er als Maurer und Güterkontrolleur tätig. Vgl. Anklageschrift, Staatsanwaltschaft II, 17.7.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Bd. 2, S. 33–81, hier 42 f. 849 Vgl. Schreiben, Wilhelm van Ackern an Generalstaatsanwalt von Berlin, 31.8.1992. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 1, S. 3 f.; Anklageschrift, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 16.2.1994. Ebenda, Bd. 3, S. 80–136; Beschluss, Landgericht Berlin, 24.4.1996. Ebenda, Bd. 7, S. 437; Beschluss, Landgericht Berlin, 23.12.1998. Ebenda, Bd. 7, S. 499–504.
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Gerhard Mähnert war zur Tatzeit Leiter der Abteilung II in der MfSBezirksverwaltung Magdeburg und Führungsoffizier des Entführer-IM »Schütte«, den er bei den Vorbereitungen der Entführungsaktion anwies. Für selbige erarbeitete Mähnert mehrere Festnahmepläne. Mähnert gestand – nach Vorlage der zahlreichen belastenden Dokumente aus den MfS-Akten – seine Beteiligung an dem Vorgang gegen Wilhelm van Ackern, allerdings nur bis März 1955. In diesem Monat habe er auf Weisung des Leiters der Hauptabteilung II die Führung des GM »Schütte« vorübergehend an Helmut Träger von der Hauptabteilung II/4 abgeben müssen. Daher habe er bei der Vorbereitung und Durchführung der Entführung im letzten Stadium nicht mehr mitgewirkt. Angesichts seiner großen Aussagebereitschaft und seines umfangreichen Geständnisses sah die Strafkammer beim Landgericht Berlin diese Darstellung als glaubhaft an, und sie war nicht zu widerlegen. Die Strafkammer sprach ihn daraufhin in der Hauptverhandlung im Juni 1995 frei.850 Die eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft hatte Erfolg: Im Dezember 1996 hob der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts auf und wies das Verfahren zur erneuten Verhandlung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück.851 In der neuen Hauptverhandlung, die sich im November und Dezember 1997 über sechs Verhandlungstage erstreckte, wurde Mähnert schließlich von der 15. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Den Tatbestand der Anstiftung zur Freiheitsberaubung sah auch die 15. Strafkammer als nicht ausreichend nachgewiesen an, wertete aber Mähnerts Mitwirkung im Vorfeld der Entführung als Beihilfe.852 Beide hauptamtlichen Mitarbeiter, Helmut Träger und Gerhard Mähnert, wurden im Sommer 1996 zusammen mit drei anderen Hauptamtlichen in einem weiteren Entführungsfall angeklagt. Die Entführung des Verfassungsschutzmitarbeiters Gustav Buchner im Juli 1954 fiel ebenfalls in die Zeit, als Träger stellvertretender Leiter der Hauptabteilung II/4 und Mähnert die Abteilung II in der MfS-Bezirksverwaltung Magdeburg leitete. In diesen Funk850 Vgl. Protokoll Vernehmung Gerhard Mähnert, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 4.8.1994. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 10, S. 149–161; Anklageschrift, Staatsanwaltschaft II, 19.10.1994. Ebenda, Bd. 11, S. 4–68; Stellungnahme, Gerhard Mähnert, 21.11.1994. Ebenda, S. 72–74; Urteil gegen Helmut Träger und Gerhard Mähnert, Landgericht Berlin, 13.6.1995. Ebenda, Bd. 4, o. Pag.; Revisionsbegründung, Staatsanwaltschaft II, 6.9.1995. Ebenda, Bd. 14, S. 176–211. 851 Vgl. Urteil, Bundesgerichtshof, 3.12.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 4, o. Pag. 852 Vgl. Urteil, Landgericht Berlin, 16.12.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 1241/92, Bd. 4, o. Pag. Weitere Tatbeteiligte an der Entführung von Wilhelm van Ackern konnten nicht strafrechtlich verfolgt werden, da sie bereits verstorben waren oder ihre Tatbeteiligung nicht rechtskräftig zu beweisen war. Vgl. Verfügung, Staatsanwaltschaft II, 15.3.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 79/94, Bd. V, S. 92–101.
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tionen waren beide für die Aktion »Freiheit« verantwortlich, in deren Rahmen Gustav Buchner gewaltsam entführt wurde.853 Bereits in den 1960er Jahren war am Bundesgerichtshof ein Ermittlungsverfahren gegen Mähnert in diesem Zusammenhang anhängig. Denn Gustav Buchner hatte nach seinem Freikauf 1965 Anzeige gegen seine Entführer erstattet. Das damalige Verfahren gegen Mähnert wurde aber aufgrund seiner Abwesenheit im Dezember 1967 eingestellt. Der an der Entführung beteiligte GM »Zwiebel« konnte allerdings im Juli 1967 vom Bundesgerichtshof zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt werden.854 In seiner Vernehmung als Zeuge 1995 leugnete er jedoch, zur Tatzeit von der geplanten Entführung gewusst zu haben oder gar bei dieser mitgewirkt zu haben. Noch angesichts ihn stark belastender MfS-Dokumente bekundete er, weder seinen Decknamen »Zwiebel« noch die darin aufgeführten MfS-Mitarbeiter zu kennen: »Das sind Grimms Märchen. Solch einen Vorgang und die beteiligten Personen kenne ich nicht.«855 Mähnert bestätigte hingegen in seiner Vernehmung den in den MfS-Akten wiedergegebenen Ablauf der Entführung über die deutsch-deutsche Grenze zwischen Bad Harzburg und Ilsenburg.856 Im Juli 1996 erhob die Staatsanwaltschaft II Anklage gegen insgesamt fünf ehemalige Hauptamtliche, die an der Entführungsaktion Buchners beteiligt waren. Das Hauptverfahren konnte allerdings nur noch gegen vier Angeklagte eröffnet werden, da Helmut Träger inzwischen verstorben war.857 Das Strafverfahren vor der 3. Großen Strafkammer beim Landge-
853 Vgl. Anklageschrift gegen Gerhard Mähnert, Helmut Träger u. a., Staatsanwaltschaft II, 17.7.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Bd. 2, S. 33–81. 854 Vgl. Vermerk, ZERV 213, 28.1.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Bd. 1, S. 74–76; Vermerk, Generalbundesanwalt Bundesgerichtshof, 4.12.1967. Ebenda, S. 229; Urteil, Bundesgerichtshof, 20.7.1967. Ebenda, Beiakte, S. 74–106; Haftbefehl, Bundesgerichtshof, 17.11.1966. Ebenda, Beiakte Bd. II, S. 59 f.; Dem SSD in die Hände gespielt. In: Telegraf, 27.5.1967; Agent des Menschenraubes angeklagt. In: Die Welt, 27.5.1967; Aus dem Alltag des Spionage-Geschäftes. Bundesgericht vor einer grundsätzlichen Entscheidung. In: Berliner Morgenpost, 1.7.1967; Die Zonengrenze wurde zur Falle. In: Süddeutsche Zeitung, 4.7.1967; Der Verschleppung angeklagt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.7.1967; Doppelagent als Lockvogel. In: Telegraf, 4.7.1967; »Wir wollen fröhlich Geburtstag feiern!« Agent vor Gericht. In: Die Welt, 4.7.1967; Zwei Agenten an den SSD verraten? In: Süddeutsche Zeitung, 11.7.1967; Doppel-Agent erhält sieben Jahre Zuchthaus. In: Die Welt, 21.7.1967; Sieben Jahre Zuchthaus für Menschenräuber. In: Berliner Morgenpost, 21.7.1967. Vgl. Horchem: Spione, S. 58 f. Das MfS war durch die HV A über den Prozess gegen seinen IM informiert. Vgl. Mitteilung, HV A an HA II, 14.3.1967. BStU, MfS, AP 8993/82, Bd. 30, S. 13 f. 855 Vgl. Protokoll Vernehmung, ZERV 213, 4.4.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Bd. 1, S. 80–87. 856 Vgl. Protokoll Vernehmung, ZERV 213, 6.4.1995. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Bd. 1, S. 89–97. Auch ein weiterer beteiligter Hauptamtlicher und damit Beschuldigter gab dieselben Angaben zum Tatgeschehen. Vgl. Vernehmung Günter Amelung, ZERV 213, 16.8.1995. Ebenda, S. 158–166. 857 Vgl. Anklageschrift, Staatsanwaltschaft II, 17.7.1996. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Bd. 2, S. 33–81; Beschluss, Landgericht Berlin, 1.9.1997. Ebenda, S. 137 f. Auch der
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richt Berlin im Januar 1998 endete mit einer Einstellung des Verfahrens, einem Freispruch aus Mangel an Beweisen und zwei Freiheitsstrafen wegen »mittäterschaftlich begangener Freiheitsberaubung« gemäß Paragraf 131 StGBDDR. Mähnert erhielt eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten, die mit der aus dem anderen Strafverfahren resultierenden Strafe von sechs Monaten zu einer Gesamtstrafe von einem Jahr zusammengefügt wurde. Die zweite ausgesprochene Freiheitsstrafe von acht Monaten richtete sich gegen den ehemaligen Führungsoffizier des Entführer-IM »Zwiebel«. Beide Freiheitsstrafen wurden zur Bewährung ausgesetzt.858 Der ranghöchste hauptamtliche MfS-Mitarbeiter, der im Tatkomplex Entführungen verurteilt wurde, war der ehemalige HV A-Chef Markus Wolf. In einem Interview hatte er 1990 noch behauptet: »Aber da Sie nun diese Entführungen und andere finstere Dinge andeuten, will ich noch mal sagen, ich kann für mich mit gutem Gewissen sagen, dass ich weder direkt noch indirekt mit irgendwelchen Tötungsdelikten, Verschleppungen, Freiheitsberaubungen und auch nicht mit der Unterstützung der RAF-Leute zu tun hatte oder habe.«859
Das Gegenteil rechtskräftig zu beweisen, dauerte sieben Jahre. Im Mai 1997 verurteilte das Oberlandesgericht Düsseldorf den Generaloberst a. D. wegen Freiheitsberaubung in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, die auf Bewährung ausgesetzt wurde. In zwei Fällen erkannte das Gericht eine Tateinheit mit Nötigung, in den beiden anderen Fällen eine Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung. In drei dieser vier Fälle handelte es sich um Entführungen: Als Leiter der Hauptabteilung XV war Wolf für die Entführung einer Dolmetscherin aus der Ostabteilung des US-amerikanischen HighCommissioner for Germany (HICOG) in Berlin im Juni 1955 verantwortlich. Das Ziel dieser Entführung war, die junge Frau notfalls unter Druck für eine MfS-Tätigkeit anzuwerben. Unter dem Vorwand einer Einladung zum Abendessen stieg Edith Thiel gemeinsam mit ihrer Mutter an einem JuniAbend in den Wagen eines Bekannten, der jedoch als GM »Stein« für das MfS arbeitete und sie gegen ihren Willen in den Ostsektor Berlins brachte. Den Anwerbungsversuchen des MfS widersetzte sie sich zunächst hartnäckig und lenkte erst unter massiven Drohungen ein. Nach dem Unterschreiben der Verpflichtungserklärung durfte Edith Thiel mit ihrer Mutter in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages nach West-Berlin zurückkehren. Dort ehemalige GM »Zwiebel« war inzwischen verstorben und konnte im Prozess nicht mehr als Zeuge gehört werden. 858 Vgl. Urteil gegen Günter Völker, Landgericht Berlin, 10.2.1998. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29 Js 318/95, Bd. 3, S. 93 a–c; Urteil gegen Gerhard Mähnert und Günter Amelung, Landgericht Berlin, 24.2.1998. Ebenda, o. Pag. 859 Irene Runge, Uwe Stelbrink: Markus Wolf: »Ich bin kein Spion.« Gespräche mit Markus Wolf. Berlin 1990, S. 48. Vgl. Fricke: Markus Wolf, S. 292.
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offenbarte sie den Vorfall ihrem Arbeitgeber, der ihn durch bundesdeutsche und amerikanische Zeitungen publik machen ließ. Der Erfüllung ihrer Verpflichtungserklärung konnte Edith Thiel mit diesem Manöver entgehen, doch die Angst vor einer erneuten Entführung vertrieb sie aus ihrer Heimat. Ein Jahr später wanderte sie mit ihrer Mutter in die USA aus.860 Im September 1962 ließ Wolf einen geflohenen MfS-Mitarbeiter in einer spektakulären Aktion aus Österreich entführen. Walter Thräne war wenige Wochen zuvor unter Ausnutzung seines Dienstausweises mit seiner Freundin aus Ost-Berlin geflohen. Bereits zwei Tage später wurde in einer Krisensitzung auf höchster Ebene im MfS über die Möglichkeiten der »Zurückholung« des »fahnenflüchtigen Verräters« beraten, der bis kurz vor seiner Flucht immerhin stellvertretender Leiter der Arbeitsgruppe Wissenschaftlich-Technische Auswertung (AG WTA)861 war. Mithilfe mehrerer IM lockte das MfS Thräne schließlich nach Österreich, wo er sich – der Gefahr einer Entführung bewusst – sicherer wähnte. Dort endete eine abendliche Autofahrt mit einem vermeintlichen Verbündeten in einem Steinbruch und dem dortigen Hinterhalt einer HV AEinsatzgruppe. Mit Waffengewalt wurden Thräne und seine Freundin aus dem Auto gezerrt, niedergeschlagen und über die ČSSR nach Ost-Berlin gebracht. Zum Tatablauf erklärte Markus Wolf 1997 vor Gericht, dass die beiden den Wagen der MfS-Mitarbeiter in einem österreichischen Ort freiwillig bestiegen hätten, nachdem diese sich als Beamte eines westdeutschen Dienstes ausgegeben hätten. Der Zwischenfall im Steinbruch habe sich ereignet, als Thräne dort einen Fluchtversuch unternommen habe.862 Der entführte Walter Thräne wurde im Januar 1963 in einer etwa einstündigen geheimen Gerichtsverhandlung zu 15 Jahren Zuchthaus und seine Freundin zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Im Januar 1973 wurde er nach jahrelanger Einzelhaft vorzeitig entlassen und lebte fortan unter Aufsicht des MfS in Eisenhüttenstadt. Nach dem Untergang der DDR konnte er 1991 bei der Staatsanwaltschaft am Kammergericht Berlin noch eine ausführliche Zeugenaussage machen. Die Kammer für Kassationsverfahren des Landgerichts Neubrandenburg kassierte das Urteil des Bezirksgerichts Neubrandenburg im August 1992 aufgrund der »völkerrechtswidrige[n] Entführung in die DDR«.863 Die Verurteilung des HV A-Chefs 860 Vgl. Urteil, Oberlandesgericht Düsseldorf, 27.5.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 3, S. 101–161. Gedruckt in: Marxen/Werle: Spionage, S. 165–197, hier 166– 168. Vgl. Fricke/Ehlert: Entführungsaktionen, S. 1182 f. 861 Die AG WTA war für die Auswertung der nachrichtendienstlich (vor allem durch Agenten der HV A) beschafften Informationen über westliche Produkte und technische Verfahren zuständig. 862 Vgl. Erklärung, Markus Wolf, 7.1.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 3, S. 76–83. 863 Beschluss, Kammer für Kassationsverfahren des Landgerichts Neubrandenburg, 25.8.1992. BStU, MfS, AU 229/90, Bd. 1, o. Pag. Vgl. Zeugenaussage Walter Thräne, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 4.9.1991. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 1, S. 7–13; Zeugenaussage Walter Thräne, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 4.9.1991. Ebenda, S. 14–19.
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Wolf durfte Thräne jedoch nicht mehr erleben. Er verstarb im November 1993.864 Zwei an der Entführungsaktion Thräne beteiligte IM waren bereits im Oktober 1968 vor dem Bundesgerichtshof wegen Verschleppung zu je vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Sie sind Mitte der 1980er Jahre verstorben.865 Von den Tatbeteiligten im MfS waren neben Markus Wolf nur noch der ehemalige MfS-Chef Erich Mielke und der damalige Abteilungsleiter der WTA Paul Bilke am Leben, gegen die ZERV und Staatsanwaltschaft entsprechend ermittelten. In seinen Vernehmungen bestritt Bilke, dem GM »Alfred Ruf« einen Auftrag zur Vorbereitung einer Entführung erteilt zu haben. Er habe diesen lediglich instruiert, ihn über Thränes Aufenthaltsort auf dem Laufenden zu halten und ihn nach Österreich zu bringen. An der Ausarbeitung des Entführungsplans und dessen Durchführung sei er nicht beteiligt gewesen, dieses müsse unter der Leitung des Oberst Folk, dem Leiter der HV A-Abteilung I geschehen sein. Er habe damals vielmehr angenommen, dass Thräne zu einer freiwilligen Rückkehr bewegt werden sollte. Im Strafverfahren gegen Bilke ließ sich seine direkte Beteiligung nicht nachweisen, obwohl die beteiligten GM »Alfred Ruf« und »Heinrich« ihn in ihren Aussagen 1968 stark belastet hatten. Zwar wurde Bilke im Januar 1998 angeklagt, einer Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Körperverletzung Hilfe geleistet zu haben. Aber in der Hauptverhandlung im Juli 1998 wurde er trotz Tatverdachts freigesprochen. Bilke dürfte von einer Anweisung seines Vorgesetzten Markus Wolf profitiert haben, der im November 1962 die Vernichtung aller Unterlagen zur Aktion Thräne anwies. So fand sich in den entsprechenden MfS-Unterlagen nur noch eine Notiz von Bilke, in der er die Durchführung dieser Anweisung vermerkte. Nach Abschluss der sogenannten Aktion B seien diese Unterlagen (Treffberichte, Notizen und Belege) ohne Bedeutung gewesen und konnten daher vernichtet werden, bekundete Bilke in seiner Vernehmung 1995.866 Die Verhandlungsunfähigkeit von Erich Mielke führte im Februar 1999 auch zur Einstellung des Verfahrens gegen ihn im Zusammenhang mit dem 864 Vgl. Urteil, Oberlandesgericht Düsseldorf, 27.5.1997. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 3, S. 101–161. Das Urteil ist auch gedruckt in Marxen, Werle: Spionage, S. 165– 197, hier 174–179. 865 Außerdem erhielt die Ehefrau des GM »Alfred Ruf« wegen Beihilfe eine Gefängnisstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten. Vgl. Urteil, Bundesgerichtshof, 14.10.1968. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 1, S. 26–82; Bericht, ZERV 215, 23.11.1992. Ebenda, S. 175–179, hier 176. 866 Vgl. Vernehmungsprotokoll Paul Bilke, Staatsanwaltschaft Kammergericht Berlin, 2.2.1993. Staatsanwaltschaft Berlin, Az 29/2 Js 257/91, Bd. 1, S. 190–194, hier 192; Vernehmungsprotokoll Paul Bilke, ZERV 213, 18.9.1995. Ebenda, Bd. 2, S. 99–105, hier 103 f.; Zeugenvernehmung Paul Bilke, Generalbundesanwalt Bundesgerichtshof, 11.7.1996. Ebenda, Bd. 3, S. 2–12; Anklageschrift, Staatsanwaltschaft II, 20.01.1998. Ebenda, Bd. 3, S. 166–209; Stellungnahme, Paul Bilke, 17.7.1998. Ebenda, Bd. 4, S. 38–46; Urteil, Landgericht Berlin, 22.7.1998. Ebenda, S. 104–126.
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Entführungsfall Walter Thräne. Obwohl der ehemalige MfS-Chef in zahlreichen Verfahren im Kontext der Entführungsaktionen des MfS angeklagt war, konnte er in keinem Fall strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden.867 Der ehemalige HV A-Chef Markus Wolf blieb der einzige aus der Führungsspitze des MfS, der im Zusammenhang mit diesen Straftaten verurteilt werden konnte. Gerade er, der seine Verstrickung in Entführungsaktionen so oft in Abrede gestellt hatte.868 »Wenig aufbauend ist die zahlenmäßige Bilanz unserer Arbeit«, bilanzierte der Generalsstaatsanwalt Christoph Schaefgen nach zehn Jahren die strafjustizielle Aufarbeitung von SED-Unrecht, die er in Berlin seit Oktober 1990 geleitet hatte.869 »Das Unternehmen, die Taten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR mit den Mitteln des Strafrechts umfassend zu ahnden, hat sich trotz umfangreicher Strafverfolgungsaktivitäten der Ermittlungsbehörden als nicht durchführbar erwiesen.«, attestiert auch der Jurist Roland Schißau.870 Die Strafverfolgung im Kontext der MfS-Entführungsaktionen sieht er als zahlenmäßig nennenswerte Ausnahme, da hier mehr als die Hälfte der Verfahren mit einer Verurteilung endeten. Zwar seien die in einem Drittel der Verfahren ausgesprochenen Strafen fast nur von symbolischer Bedeutung, aber zumindest in diesen Fällen seien die Straftaten des MfS einwandfrei nachgewiesen geworden.871 Im Gegensatz zu anderen Straftaten des MfS (wie Repressalien gegen Ausreiseantragsteller, Abhören von Telefongesprächen und Entnahme von Geld aus Postsendungen) gab es hinsichtlich der Entführungsaktionen in den Rechtsordnungen der DDR und der Bundesrepublik Strafnormen zur Ahndung dieser Straftaten. Auf der Basis des bundesdeutschen Freiheitsschutzgesetzes waren in der Bundesrepublik bereits vor 1990 Verfahren wegen Verschleppung eingeleitet worden. Urteile ergingen jedoch nur in geringem Umfang, da viele Tatverdächtige durch eine Flucht in die DDR unerreichbar waren oder rechtskräftige Beweise fehlten. Als diese durch die Öffnung der MfS-Archive 1990 endlich vorlagen, erschwerten die Verjährungsfristen und die im Einigungsvertrag geschaffene Rechtssituation die 867 Die Einstellungen der Verfahren gegen ihn erfolgten entweder aufgrund seiner Verurteilung im Bülowplatz-Prozess nach § 154 StPO (im Fall Walter Linse, Erich Neumann, Karl Wilhelm Fricke, Manfred Smolka, Manfred Richter) oder wegen Verhandlungsunfähigkeit nach § 170 Abs. 2 StPO (im Fall Wilhelm van Ackern, Walter Thräne). Vgl. Bästlein: Fall Mielke, S. 152, 157, 164, 172, 187, 192, 284. 868 Vgl. Herbstritt: Bundesbürger, S. 337 f. Wolf war zudem im Dezember 1993 wegen Landesverrats und geheimdienstlicher Agententätigkeit zu 6 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Dieses Urteil wurde jedoch durch das Bundesverfassungsgericht im Mai 1995 aufgehoben, das Spionage für die ehemalige DDR nur als strafbar erachtete, wenn diese auf dem Territorium der alten Bundesrepublik erfolgt war. Vgl. Fricke: Markus Wolf, S. 306–308. 869 Grafe: Strafverfolgung, S. 7. 870 Schißau: Strafverfahren, S. 264. 871 Vgl. ebenda.
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strafrechtliche Verfolgung. Ferner war eine Vielzahl der Tatbeteiligten bereits verstorben oder aufgrund von Alter und Krankheit nicht mehr verhandlungsfähig. Nur wenige Ermittlungsverfahren führten daher überhaupt zu Gerichtsverfahren, die wiederum nur selten mit einer Verurteilung endeten. Die wenigen ausgesprochenen Freiheitsstrafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Selbstverständlich müssen bei einer Bilanzierung der strafrechtlichen Aufarbeitung die enormen Herausforderungen beachtet werden, die sich der Strafjustiz mit dem im Einigungsvertrag verankerten Auftrag stellten: das rechtliche Neuland im Hinblick auf die Verfolgung von MfS-Straftaten, die Vielzahl an umfangreichen Ermittlungen und erforderliche Erarbeitung von Grundkenntnissen sowie die Auswertung von MfS-Akten, die erst nach und nach von den Mitarbeitern des BStU erschlossen wurden. Diesen großen Aufgaben stand ein nur mangelhaft ausgestatteter Personalbestand sowohl bei der ZERV als auch bei der Staatsanwaltschaft II gegenüber.872 Die Verfahren im Kontext der Entführungsaktionen des MfS verdeutlichen jedoch die grundsätzlichen Schwierigkeiten eines Rechtsstaates, staatlich begangenes Unrecht zu ahnden. Die positiven Charakteristika eines Rechtsstaats – wie das Rückwirkungsverbot (»nulla poena sine lege«) und die Unschuldsvermutung bis zum gegenteiligen Beweis (»in dubio pro reo«) – führten zum Teil (vor allem aus Opfersicht) zu unangemessen wirkenden Entscheidungen.873 Profitiert haben davon ehemalige MfS-Mitarbeiter und hohe DDR-Funktionäre, die die Vorzüge des Rechtsstaates gewissermaßen für sich entdecken: Ihnen dient die hohe Einstellungsquote in den Verfahren gegen ihre Straftaten als Beleg für die »Anklagewut der Strafverfolgungsbehörden« und »außerordentlich niedrige Schwelle der Auslösung staatsanwaltschaftlicher und polizeilicher Repressivmaßnahmen im Verdachtsfall in politischen Verfahren gegen Linke.« Sie sprechen von »Siegerjustiz«, die das Grundgesetz verletze, und einer ungerechtfertigen Kriminalisierung des MfS.874 »Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.« Mit diesem Satz brachte die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley ihren Unmut über die zögerliche und unzureichende juristische Aufarbeitung des SED-Unrechts zum Ausdruck. Die in diesem Kapitel veranschaulichte Bilanz der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Regierungskriminalität und die dargestellten Verfahrensabläufe im Zusammenhang mit den MfS-Entführungsaktionen scheinen diese resignative Feststellung zu bestätigen. Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer warnt in einem Essay über die strafrechtliche 872 Vgl. Schißau: Strafverfahren, S. 272–275; Schaefgen: Strafverfolgung, S. 57–61; Eser/ Arnold: Strafrecht, S. 230 f.; Polizeipräsident in Berlin (Hg.): ZERV Jahresbericht 1996, S. 3, 8 f.; Grafe: Strafverfolgung, S. 6 f. 873 Vgl. Grafe: Strafverfolgung, S. 7 f.; Hubertus Knabe: Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur. Berlin 2007, S. 109–112. 874 Bischoff/Coburger: Strafverfolgung, S. 151, 211.
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Aufarbeitung von Diktaturvergangenheit allerdings davor, Rechtsstaat und Gerechtigkeit gegeneinander auszuspielen, ersteren als Umweg und letztere als einfach greifbar zu betrachten. »Politisch belegt eine Behandlung nach den Regeln des Rechtsstaats […] die Souveränität und moralische Überlegenheit der neuen Rechtsordnung gegenüber Scheußlichkeiten der Vergangenheit. Außerdem ist der Rechtsstaat imstande, diesen Scheußlichkeiten in den Grenzen, die er für gerechtfertigt hält, auch gerecht zu werden.«875
Im Hinblick auf die strafrechtliche Verfolgung der Tatbeteiligten und Verantwortlichen der Entführungsaktionen bleiben Zweifel, ob diese Grenzen nicht zu eng gezogen waren. Ein Verdienst ist jedoch unübersehbar: Sie hat in zahlreichen Fällen die kriminellen Methoden des MfS und das Systemunrecht in der DDR nachgewiesen, auch wenn das Ergebnis nur selten rechtskräftige Verurteilungen waren. Der Rechtsstaat hat Unrecht als solches gekennzeichnet und nach seinen Möglichkeiten geahndet. Die Erforschung, Kontextualisierung und Analyse der im Rahmen dieser Strafverfolgung gewonnenen Erkenntnisse ist nun Aufgabe der Historiker und Voraussetzung für eine historisch-politische Aufarbeitung.
875 Winfried Hassemer: Strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturvergangenheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 61(2011)35–36, S. 48–54, hier 52. Vgl. ebenda, S. 51–53.
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Epilog Entführungen und Entführer des Ministeriums für Staatssicherheit Eine Schlussbetrachtung Etwa 400 Menschen wurden nach der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 aus der Bundesrepublik und vor allem aus West-Berlin in die DDR verschleppt oder entführt: An der Sektoren- und Zonengrenze wurden sie als Zivilisten oder in Ausübung ihres Dienstes als Zollbeamte oder Polizisten zum Übertritt auf den Boden der DDR genötigt oder gegen ihren Willen dorthin gezerrt. Telegramme, Anrufe oder Besucher lockten sie unter Vorwänden auf DDR-Gebiet, wo sie festgenommen und unter rechtswidrigen Umständen festgehalten wurden. Von der sowjetischen oder DDR-Geheimpolizei beauftragte und instruierte Entführer brachten sie unter Anwendung von körperlicher Gewalt und/oder Betäubungsmitteln in die Hände des SED-Regimes. 400 Biografien mit vielfältigen Unterschieden, aber auch Gemeinsamkeiten: Die Opfer der gezielten Entführungsaktionen waren oftmals DDRFlüchtlinge, die bereits vor oder nach ihrer Flucht Verbindung zu westlichen Nachrichtendiensten und/oder antikommunistischen Organisationen hatten, welche sich in der Bundesrepublik formierten und vor allem in der geteilten Stadt Berlin agierten. Ein solcher Kontakt war für DDR-Flüchtlinge als fester Bestandteil des Notaufnahmeverfahrens in der Bundesrepublik zwangsläufig. Einige engagierten sich darüber hinaus auch aktiv in den Kreisen westlicher Geheimdienste oder in antikommunistischen Organisationen. Viele von ihnen wollten auf diesem Wege Widerstand gegen das kommunistische Regime im Osten ihres Landes leisten – die Grenze zwischen politischem und geheimdienstlichem Handeln war dabei fließend. Zum einen veranlasste das System der Repression, das die Machthaber in der SBZ/DDR zum Aufbau und zur Stabilisierung ihrer Diktatur installierten, politische Gegner zum Rückgriff auf geheimdienstliche Methoden. Zum anderen machten sich westliche Geheimdienste diese politische Gegnerschaft und diesen Willen zum Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft für ihre Zwecke zunutze. Im Zeichen der amerikanischen Befreiungspolitik entstand in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die von einem antikommunistischen Konsens geprägt war, ein Netzwerk aus westlichen Geheimdiensten und nicht staatlichen Vereini-
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gungen, die auch vonseiten des bundesdeutschen Staates Unterstützung erfuhren. Vor diesem Hintergrund erscheint die Entführungspraxis des MfS als übliche geheimdienstliche Methode, wie sie auch in anderen Geheimdiensten zum Einsatz kommt. Als solche stellen sie auch ehemals Verantwortliche aus dem MfS-Apparat dar und rechtfertigen die Entführungen als Mittel der Notwehr und Verteidigung in der Auseinandersetzung mit westlichen Geheimdiensten im Kalten Krieg. Sie bleiben verhaftet im Argumentationsmuster des MfS, in dem antikommunistische Organisationen ebenso als »feindliche Agentenzentralen« galten wie westliche Geheimdienste. Die fehlende Loyalität in der eigenen Bevölkerung passte nicht in das sozialistische Weltbild. Eine politische Gegnerschaft konnte nur von ›außen‹ initiiert sein und wurde somit auf die globale Ebene des internationalen Klassenkampfes gehoben. Alle Regimekritiker und Opponenten – ungeachtet, ob sie tatsächlich in Verbindung mit westlichen Nachrichtendiensten standen und wie sich diese gestaltete – wurden zu »Agenten« im Dienste des »Klassenfeindes« stilisiert. Unter dem Deckmantel der Spionagebekämpfung richteten sich die Entführungen also auch gegen politische Gegner. Bei ihrer grenzüberschreitenden Verfolgung spielte es kaum eine Rolle, welche Position sie in den fraglichen Geheimdiensten oder Organisationen einnahmen und über welchen Wirkungskreis sie verfügten: Die Entführungsaktionen richteten sich gegen führende Köpfe, aber ebenso gegen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in untergeordneten Positionen oder Kontaktpersonen, die gar nicht zum hauptamtlichen Personal gehörten. Jeder Entführung wurde das Potenzial zugesprochen, die jeweilige Organisation zu schwächen – durch den Verlust der Einsatzkraft, aber auch des Wissens und der Informanten der entführten Person. Die MfS-Entführungspraxis zielte aber nicht nur auf die Bestrafung der Entführten und die Enttarnung ihrer Verbindungen, sondern auch auf Abschreckung und Diskreditierung. Das Resultat war der schizophren anmutende Effekt, dass das MfS einerseits Entführungsaktionen unter größter Geheimhaltung organisierte und bei Bekanntwerden vehement leugnete, andererseits aber durchaus als Urheber wahrgenommen werden wollte. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die augenscheinliche Widersinnigkeit der Entführungspraxis: Zwar konnten auf diesem Wege politische Gegner für eine gewisse Zeit zum Schweigen und Unruhe in gegnerische Organisationen gebracht werden, aber nach ihrer Freilassung und Rückkehr in den Westen konnten sie ihre Erfahrungen öffentlich machen und erneut aktiv werden. Karl Wilhelm Fricke – selbst 1955 vom MfS entführt – diagnostizierte bereits Anfang der 1960er Jahre richtig, dass die »Kommunisten die anklagenden Enthüllungen von in die Freiheit zurückgekehrten Menschenraubopfern durchaus nicht fürchten. Der Gedanke liegt nahe, dass ihre
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Enthüllungen nicht einmal unerwünscht sind, denn sie nähren den Nimbus der ›Allgegenwärtigkeit‹ und der ›Allmöglichkeit‹ des Staatssicherheitsdienstes, sind also geeignet, auch in Berlin (West) und der Bundesrepublik Deutschland Furcht zu verbreiten.«1
Die Verschleppungen und – in erster Linie die gewaltsamen – Entführungen waren eine Machtdemonstration, die mit der Missachtung der staatlichen Grenze und des Sonderstatus von West-Berlin begann. Die Verantwortlichen im SED-Regime waren sich der territorialen Grenzen ihres Handlungsbereiches bewusst, auch wenn sie sie hinsichtlich West-Berlin nicht anerkannten: Sie konnten keine offiziellen Festnahmen in West-Berlin oder in der Bundesrepublik vornehmen, zumal es sich bei den Festzunehmenden um Bundesbürger handelte. Sie griffen daher zum konspirativen Mittel der Verschleppung und Entführung und engagierten aus diesem Grund Handlanger. Dieses Vorgehen gab ihnen die Möglichkeit, Entführungen zu leugnen, als Festnahmen auf DDR-Gebiet zu deklarieren oder Entführte als Überläufer zu präsentieren. In den betroffenen Organisationen, aber auch in der bundesdeutschen Gesellschaft stifteten die Verschleppungen und Entführungen Empörung, aber auch Verunsicherung und Angst. Darauf zielte diese Machtdemonstration des SEDRegimes: Westlichen Geheimdiensten und antikommunistischen Organisationen sollte im doppelten Sinne die Basis entzogen werden. Mitarbeiter und Zuträger sollten sich angesichts der offenkundigen Gefahr ihres Tuns abwenden. Der Öffentlichkeit sollte die mangelnde Sorgfalt und das fehlende Verantwortungsgefühl dieser Institutionen und Vereinigungen vor Augen geführt werden. Noch ausgeprägter war diese Funktion der Abschreckung bei entführten DDR-Flüchtlingen, die vor ihrer Flucht der SED, der Volkspolizei, NVA oder dem MfS angehörten. Es gebe »keine Nachsicht mit Verrätern an der Sache des Friedens und des Sozialismus«, verkündete MfS-Chef Erich Mielke in einem Befehl im Juli 1960, nachdem der geflohene Grenzpolizist Manfred Smolka verschleppt und hingerichtet worden war. »Jeder Verräter – ganz gleich, wo er sich auch befinden möge – wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen.«2 Dieses Bewusstsein galt es den MfS-Mitarbeitern und Angehörigen der »bewaffneten Organe« einzuschärfen. Denn auch in diesen Kreisen zeigte die enorme Fluchtbewegung in den 1950er Jahren ihre Auswirkungen. Das »Zurückholen« – wie das MfS euphemistisch die Verschleppungen und Entführungen bezeichnete – dieser DDR-Flüchtlinge sollte verhindern, dass westliche Stellen sich die ehemaligen Funktionsträger und ihre Kenntnisse zu 1 BMG (Hg.): Staatssicherheitsdienst, S. 39. 2 Befehl Nr. 357/60, Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, 18.7.1960. BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 579, S. 2–4, hier 4. Zur Bekanntgabe der vollstreckten Todesstrafe in den Truppenteilen vgl. Befehl Nr. 45/60, Ministerium für Nationale Verteidigung, 1.8.1960. BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 15643, S. 1–4.
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Eigen machen konnten. Zudem spielten bei dieser Opfergruppe auch verletzte Eitelkeiten und persönliche Rachegelüste im MfS-Apparat eine größere Rolle. In erster Linie – das veranschaulichen interne Verlautbarungen wie der zitierte Befehl von Erich Mielke – dienten ihre Verschleppungen und Entführungen aber der Machtdemonstration und Abschreckung, also der internen Repression. In der krisengeschüttelten Konsolidierungsphase des SED-Regimes in den 1950er Jahren waren die Entführungsaktionen des MfS ein Bestandteil des Repressionssystems, das die Machtposition der SED nach innen und außen festigen und sichern sollte. Diese grenzüberschreitende Einsatzpraxis speiste sich aus dem Ost-West-Konflikt (mit seinen geheimdienstlichen Auseinandersetzungen) und der Systemkonkurrenz auf deutschem Boden, die zur Instabilität der SED-Herrschaft beitrug. Darüber hinaus war sie aber auch Ausdruck eines stalinistisch geprägten Herrschaftssystems, in dem der Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung gerechtfertigt wurde. Die MfS-Entführungspraxis beruhte auf einem radikalen Freund-Feind-Denken und stalinistisch geprägten Feindbild sowie dem Verständnis, das »revolutionäre Recht« auf eine Durchsetzung und Verteidigung der »Diktatur des Proletariats« mit allen Mitteln zu haben. Dieses Denken überdauerte im MfS-Apparat, nicht zuletzt durch die personelle Kontinuität in führenden Positionen (allen voran Erich Mielke als Minister für Staatssicherheit), die auch für das Festhalten an Praktiken wie das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen ausschlaggebend ist. Am Beispiel der Entführungspraxis lässt sich dieser Mechanismus in begrenztem Umfang beobachten: ihre Genese in der Phase des Hochstalinismus und der zaghaften Entstalinisierung mit ihren Auswirkungen im MfS-Apparat, die praktische Abkehr Anfang der 1960er Jahre, aber das theoretische Festhalten an dieser Methode sowie ihre Steigerung in Mordabsichten. Weitere Aufschlüsse sind hier im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts »Physical Violence and State Legitimacy in Late Socialism« zu erwarten, das sich dem Umgang mit physischer Gewalt in post-stalinistischen Staaten widmet und an dem Jens Gieseke mit einem Projekt über »Late Chekism and the Concepts of Violence« beteiligt ist.3 Die Verankerung in den Mechanismen der Herrschaftssicherung des SED-Regimes, die stalinistisch geprägt waren und in engem Zusammenhang mit der Systemkonkurrenz standen, ist die Spezifik der MfSEntführungspraxis. Eine vergleichbare Entführungspraxis westlicher Geheimdienste im Rahmen des Ost-West-Konfliktes ist in diesem Ausmaß aus dem zugänglichen Aktenmaterial nicht ersichtlich. Im Gegensatz zum SED-Regime 3 Vgl. URL: http://www.physicalviolence.eu/project/physical-violence-and-state-legitimacylate-socialism-%E2%80%93-international-research-network und http://www.geschichte.hu-berlin. de/bereiche-und-lehrstuehle/gesuedosteu/forschung/laufendes-forschungsnetzwerk (letzter Zugriff: 28.7.2013).
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sahen anscheinend weder die Bundesrepublik noch die westlichen Alliierten eine Notwendigkeit für grenzüberschreitende Übergriffe im geteilten Deutschland zur Sicherung der eigenen Herrschaft. Diese Frage können aber nur die verschlossenen Unterlagen der westlichen Geheimdienste klären. Der Stellenwert der Entführungsaktionen im SED-Herrschaftssytem wird schließlich sichtbar, als das MfS nach dem Mauerbau als Schlusspunkt der »inneren Staatsgründung«4 der DDR in der Praxis weitgehend Abstand von Entführungsaktionen nahm. Der ›Abstimmung mit den Füßen‹ war ein Ende gesetzt. Das Einsperren der eigenen Bevölkerung verschaffte dem SED-Regime Stabilität und sorgte für Entspannung in der Systemkonkurrenz. Die hermetische Abriegelung und Zementierung der Teilung entzog den Nachrichtendiensten und (bereits geschwächten) antikommunistischen Organisationen im Westen den Zulauf und erschwerte ihre Arbeit. Handlungsbedarf im Sinne grenzüberschreitender, gewaltsamer Methoden wie Entführungen oder Mord sah das MfS nur noch in sehr wenigen Fällen, beispielsweise bei geflüchteten MfS-Angehörigen, Sportlern oder Fluchthelfern. Beim Abwägen zwischen Schaden und Nutzen derartiger Aktionen überwog nun die Sorge um die potenziellen negativen (außen-)politischen Folgen der aufsehen- und protesterregenden Aktionen. Die politischen Akteure in der Bundesrepublik und in Staaten des westalliierten Machtblockes erkannten die Entführungspraxis als Ausdruck der Repression und des Unrechtscharakters des SED-Regimes und verurteilten diese öffentlichkeitswirksam. Das Bekanntwerden von Entführungen lieferte Anlässe und Munition für Anklagen gegen das Herrschaftssystem in der DDR, das sich um internationale Anerkennung bemühte. Wie desaströs die Konsequenzen einer Entführungsaktion sein konnten, hatten das MfS und die SEDFührung spätestens mit der Entführung des UFJ-Mitarbeiters Walter Linse im Sommer 1952 erfahren. Der brutale Überfall am helllichten Tag und auf offener Straße – und somit in Gegenwart vieler Tatzeugen – hatte nicht nur in der bundesdeutschen Öffentlichkeit für Aufsehen und Empörung gesorgt, sondern auch international Wellen geschlagen und die Westmächte zu öffentlichen Protesten gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht veranlasst. Der Schaden für das SED-Regime und den kommunistischen Machtblock war immens. Bei den gewaltsamen Entführungen achtete das MfS fortan mit größerer Sorgfalt auf die Möglichkeiten, die Tat zu verschleiern. Als Tatorte wurden möglichst abgelegene, verborgene oder nicht-öffentliche Plätze gesucht, mit großem Aufwand wurden Hinterhalte konstruiert, Betäubungsmittel kamen zum Einsatz. Zwar konnten Entführungen kaum komplett verborgen werden – und sollten es zumeist auch gar nicht. Spätestens der Aufenthalt von spurlos Ver4
Kowalczuk: Innere Staatsgründung, S. 364–369.
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schwundenen in DDR-Haftanstalten ließ sich auf Dauer nicht geheim halten. Die Verschleierungstaktiken zeigten jedoch ihre Wirkung und verursachten in zweifacher Hinsicht Verunsicherung: Ein Gefühl der Unsicherheit evozierten die Entführungen, da sie die Skrupellosigkeit, augenscheinliche Allgegenwart und grenzüberschreitende Gefährlichkeit des kommunistischen Machtblocks und seiner Geheimdienste auf der einen Seite und die Machtlosigkeit der bundesdeutschen und west-alliierten Regierungen und ihrer Behörden auf der anderen Seite demonstrierten. Verunsicherung entstand in betroffenen Organisationen und in der bundesrepublikanischen Gesellschaft aber auch hinsichtlich der Entführten: War die Person tatsächlich entführt worden? Oder ist sie freiwillig gegangen? War sie gar ein Agent des DDR-Staatssicherheitsdienstes, der zu seinem Auftraggeber zurückgekehrt ist? Gezielt forcierte das SEDRegime derartige Erwägungen mit entsprechenden Falschmeldungen. Diese Unsicherheiten prägten die Reaktionen auf die Entführungsfälle. Als treibende Kraft erwiesen sich in erster Linie die Angehörigen, die das Verschwinden einer betroffenen Person zumeist als Erste bemerkten, aber wochenoder gar monatelang ohne Nachricht über ihr Schicksal blieben. Dass westliche Nachrichtendienste aktiv wurden, ist nicht zu bezweifeln. Der Umfang ihrer Tätigkeit und ihre Vorgehensweisen können jedoch ohne Zugriff auf die Unterlagen dieser Geheimdienste nicht ergründet werden. Die bundesdeutsche Polizei ermittelte wie generell bei vermissten Personen, stieß aber bei den Aufklärungsversuchen schnell an Grenzen – im wortwörtlichen Sinne. Die Spuren von Opfern und Tatbeteiligten endeten an der Sektoren- oder Zonengrenze und ließen sich nicht weiterverfolgen. Vonseiten der DDR-Behörden war keine Amtshilfe zu erwarten, im Gegenteil. Sofern es keine Augenzeugen gab, konnten sich die bundesdeutschen Ermittler teilweise nicht sicher sein, ob überhaupt eine Entführung vorlag. Der Verdacht einer Entführung, den die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden zu klären hatten, stand dementsprechend oft in enger Verbindung mit dem Verdacht des Landesverrats. Das SED-Regime forcierte die Unsicherheit mit entsprechenden Zeitungsmeldungen, wobei bei Weitem nicht alle Entführungsfälle in der Presse aufgegriffen wurden – weder in Ost noch in West. Eine offizielle Bekanntgabe oder ein Bekenntnis zu einer Entführung in der DDR-Presse tauchte bei den umfangreichen Recherchen für die vorliegende Studie nicht auf. Wenn zu einem (im Westen angeprangerten) Entführungsfall überhaupt Stellung genommen wurde, wurde dieser entweder komplett negiert oder als Festnahme auf DDRGebiet dargestellt. In wenigen Fällen präsentierte man ein Entführungsopfer als reumütigen Rückkehrer oder Überläufer – mitunter ohne dass der Entführte selbst in Erscheinung trat. In der westlichen Presse sorgten derartige Meldungen zwar für Irritationen, letztendlich überwog jedoch die Skepsis über deren Wahrheitsgehalt. Zwischen Ost- und West-Presse kam es zum Teil zu
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einem regelrechten Schlagabtausch, in dessen Rahmen die Berichterstattung des jeweils anderen diskreditiert wurde. Die Initiativen auf der politischen Ebene in West-Berlin und in der Bundesrepublik waren von den Erwägungen bestimmt, ob tatsächlich eine Entführung vorlag. Der Blamage, sich für eine augenscheinlich entführte Person zu engagieren, die sich dann als Überläufer oder gar zurückgekehrter Agent entpuppte, wollte man entgehen. Generell waren die westlichen Initiativen für die Freilassung von Entführungsopfern zum größten Teil nicht von Erfolg gekrönt. Anfragen und Proteste – auch vonseiten der Westmächte – verliefen zumeist im Sande. Die zuständigen Behörden in der DDR verleugneten jegliche Kenntnisse über den Verbleib der verschwundenen Person oder verwiesen auf eine rechtmäßige Festnahme auf dem Boden der DDR. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, dass zwischen der Bundesrepublik und der DDR zu dieser Zeit noch keine zwischenstaatlichen Beziehungen aufgebaut waren. Die bundesrepublikanische Regierung ließ die inhaftierten Entführungsopfer von einer Rechtsschutzstelle betreuen. Diese konnte zwar keinerlei Rechtsbeistand bei den Gerichtsverfahren leisten, da die DDR-Gerichte dies unterbanden, beobachtete aber – soweit möglich – die Lage des Inhaftierten und bemühte sich um eine vorzeitige Haftentlassung. Der Häftlingsfreikauf, den die Bundesregierung seit 1963/64 betrieb, erhöhte das Aktionspotenzial, die Freilassung einiger Entführungsopfer zu erwirken. Gleichwohl waren die Verschleppten und Entführten dem drakonischen Strafmaß des SED-Regimes relativ schutzlos ausgesetzt: Ein großer Teil der Verschleppungsund Entführungsopfer – mindestens ein Drittel – musste drei und mehr Jahre in DDR-Haft verbringen. Fast ein Fünftel von ihnen kehrte sogar erst nach mehr als sechs Jahren in die Freiheit zurück. Dabei handelte es sich oftmals um vorzeitige Haftentlassungen, die Gerichtsurteile sahen also noch bedeutend höhere Haftstrafen vor. Politische Initiativen der Bundesrepublik und der Westmächte waren nicht nur hinsichtlich der Entführungsopfer gefragt. In der bundesdeutschen Öffentlichkeit und in den betroffenen Organisationen traten immer wieder Forderungen nach Schutzmaßnahmen auf. Im Hinblick auf die geteilte Stadt Berlin als Hauptschauplatz der Entführungen waren dem Westberliner Senat und der Bundesregierung Grenzen durch den Vier-Mächte-Status der Stadt gesetzt. Etwaige Forderungen, wie zum Beispiel eine bessere Bewaffnung von Polizei- und Zollangehörigen an der Zonen- und Sektorengrenze, bedurften der Zustimmung der Westmächte. Die Überwachung der Grenze von westlicher Seite und der dortige Dienst von west-alliierten Militärs und bundesdeutschen Polizei- und Zollangehörigen sind bisher kaum erforscht, sodass die entsprechenden Diskussionen im Zusammenhang mit den Entführungsfällen nicht eingeordnet werden können. Festzuhalten ist, dass die Verschleppungen und Entführungen bereits Anfang der 1950er Jahre zu verschiedenen Sicher-
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heitsmaßnahmen führten wie eine forcierte Streifentätigkeit der Westberliner Polizei und des west-alliierten Militärs an der Zonen- und Sektorengrenze sowie bewegliche und feste Sperren an den Straßenübergänge zwischen Westund Ost-Berlin. Als Streitpunkt erwies sich in den folgenden Jahren immer wieder die Frage nach der Bewaffnung der Westberliner Polizei an der Grenze, die vom Westberliner Senat wiederholt als unzulänglich kritisiert, von den Westmächten aber restriktiv gehandhabt wurde. Neben den Sicherungsmaßnahmen an der Zonen- und Sektorengrenze sollten gesetzliche Regelungen zum Schutz der Westberliner und bundesdeutschen Bevölkerung beitragen. Mit dem »Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit«, welches das Berliner Abgeordnetenhaus im Juni 1951 verabschiedete und im Juli 1951 als Paragraf 234a des Strafgesetzbuches auf Bundesebene in Kraft trat, war die rechtliche Grundlage für eine strafrechtliche Verfolgung der Tatbeteiligten gelegt, die sich allerdings durchaus schwierig gestaltete. Schon die Identifizierung der Tatbeteiligten konnte je nach Ablauf der Verschleppung oder Entführung große Probleme bereiten. Wenn es Verdachtsmomente gab, fehlten oft die letztendlichen Beweise – zumal die leidtragende Person und damit der Hauptbelastungszeuge verschwunden war – oder die tatverdächtige Person war unerreichbar, da sie sich in die DDR abgesetzt hatte. Dennoch verzeichneten die Westberliner und bundesdeutschen Ermittler einige Fahndungserfolge und entdeckten ein auffälliges Charakteristikum der Entführer im Dienste des SED-Regimes: Viele der Tatbeteiligten waren keine DDR-Bürger, sondern lebten in West-Berlin und verkehrten dort im kriminellen Milieu. Der hohe Anteil an Bundesbürgern unter den als Entführer eingesetzten IM ist ein Spezifikum dieser IM, die im Heer der zwischen 1950 und 1989 rund 624 000 registrierten IM des MfS (ohne HV A) eine Sonderrolle einnehmen. Sie lieferten dem MfS nicht nur Informationen, die zur politischen Verfolgung von Menschen führen konnten, sondern brachten einen Menschen unmittelbar in die Gewalt des MfS. Eine verlässliche Angabe, wie viele der über 14 000 IM im Jahr 1952, der fast 41 000 IM 1956 oder der über 95 000 IM 1960 an Entführungsaktionen beteiligt waren, ist nicht möglich.5 Ihr Anteil war aber gering und ist vor allem im Laufe der 1950er Jahre – analog zu den sinkenden Entführungszahlen – kleiner geworden. Unter Vorbehalt kann die Gesamtzahl der an Entführungen beteiligten IM auf etwa 500 geschätzt werden. In der vorliegenden Studie wurden 50 Entführer-IM – darunter fünf Frauen – näher betrachtet, ihre biografischen und sozialen Hintergründe sowie ihre Motivstrukturen untersucht. Dabei zeigte sich die Anbindung vieler Ent5 Die Zahlen basieren auf Hochrechnungen von Helmut Müller-Enbergs. Vgl. MüllerEnbergs: IM 3, S. 35, 40. Der Anteil von Bundesbürgern und Ausländern unter den IM des MfS lag unter 2 %. Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizieller Mitarbeiter, S. 160.
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führer-IM an das kriminelle Milieu als hervorstechendstes Merkmal, das allerdings mit dem Schwerpunkt der Studie auf gewaltsame Entführungsaktionen in Verbindung gebracht werden muss. Für ihre Rekrutierung als Entführer waren weniger ihre generationelle Prägung, politische Orientierung und soziale Herkunft als vielmehr das Handlungsmilieu, in dem sie sich bewegten, ausschlaggebend. Sie gehörten zum großen Teil zu Alterskohorten, die die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs als Jugendliche und Erwachsene erlebt hatten und dadurch geprägt wurden. Entsprechend hoch ist der Anteil an ehemaligen Wehrmachtsoldaten unter ihnen. Ein Hinweis, dass das MfS für die Entführungen nach erfahrenem Personal aus Kreisen der NSTerrororganisationen wie etwa der Gestapo suchte, findet sich aber nicht. Ebenso wenig wie ein gezielter Rückgriff auf Akteure des kommunistischen Untergrundkampfes in der NS-Zeit. Gewisse Erfahrungswerte suchte das MfS gleichwohl und fand sie bei Personen im kriminellen Milieu der geteilten Stadt Berlin. Dort rekrutierte es nach einer Art Schneeballsystem seine Handlanger, die die ›Schmutzarbeit‹ erledigten, ohne moralische Bedenken zu äußern. Knapp über die Hälfte der 50 untersuchten IM waren zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung mindestens einmal, zum überwiegenden Teil mehrfach vorbestraft. Besonders den ersten Typus der Entführer-IM – die Spezialisten, die speziell für diesen Einsatzbereich angeworben und teilweise mehrfach bei Entführungen eingesetzt wurden – kennzeichnet ein hoher Anteil von Vorbestraften. Auch von den erfassten Entführer-IM des dritten Typs – also jenen, die Entführungsaufträge erhielten, weil sie über eine Vertrauensbeziehung zum Opfer verfügten – waren viele vorbestraft. Sie boten dem MfS zum Teil aus eigener Initiative ihre Mitarbeit oder auch ganz konkret eine Entführung an. Das Handeln dieser EntführerIM aus dem kriminellen Milieu war in erster Linie von finanziellen Interessen bestimmt, zumal die Hälfte von ihnen zum Zeitpunkt ihrer Anwerbung erwerbslos war. Das MfS konnte ein lukrativer Auftraggeber sein und zudem einige Sicherheiten bieten, nicht nur im Hinblick auf den Schutz vor einer strafrechtlichen Verfolgung. Nicht zuletzt scheint der Einsatz als Agent und Entführer des MfS das Geltungsbedürfnis und die Abenteuerlust einiger dieser IM befriedigt zu haben. Lohnenswert war der Rückgriff auf Personen aus dem kriminellen Milieu auch für das MfS – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad: Sie konnten sich problemlos in der geteilten Stadt bewegen und wussten, dies unauffällig zu tun. Sie verfügten über ein gewisses ›Know-how‹ und die nötige Delinquenz- sowie Gewaltbereitschaft. Ihr Einsatz bot ferner sehr gute Vertuschungsmöglichkeiten für den Fall, dass eine Entführungsaktion ungewollt publik wurde: Das MfS konnte jeden Verdacht mit einem Hinweis auf den kriminellen Hintergrund der Tatbeteiligten von sich weisen. Das Zusammenwirken von geheimdienstlichem und kriminellem Milieu kommt bei den Entführungsaktionen deutlich zum Ausdruck.
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Doch längst nicht alle Entführer-IM können mit kriminellen Handlungsmotiven in Verbindung gebracht werden. Der zweite Typus der Entführer-IM veranschaulicht dies – also diejenigen, die das MfS anwarb, da sie Anknüpfungspunkte für den Aufbau einer Beziehung zu einem anvisierten Entführungsopfer besaßen. Vor diesem Hintergrund war für ihre Anwerbung auch das Handlungsmilieu ausschlaggebend: bewegten sie sich in ähnlichen Kreisen wie die zu entführende Person, hatten sie denselben Beruf oder ähnliche Hobbys, engagierten sie sich in denselben politischen Initiativen. Politische Überzeugung und ideelle Motive als Grundlage ihrer IM-Tätigkeit lassen sich noch am ehesten bei diesen Entführer-IM konstatieren. Aber auch bei ihnen waren finanzielle Interessen oft ausschlaggebend. Bei einigen zählte außerdem eine Art Wiedergutmachungswille oder das Empfinden von Druck zu ihren Motivstrukturen – ebenso bei Entführer-IM des dritten Typs. Sie hatten sich etwas zuschulden kommen lassen und/oder waren in das Visier staatlicher Stellen der DDR geraten – beispielsweise durch den Verdacht der Spionagetätigkeit, des illegalen Handels oder gar durch eine Flucht aus der DDR – und suchten nach einem Weg, ihr Leben straffrei in der DDR fortsetzen zu können. In derartigen Drucksituationen bot ihnen das MfS die Zusammenarbeit als Form der »Wiedergutmachung« an. In wenigen Fällen stellte es sogar bei Angehörigen von Inhaftierten eine Freilassung aus der Haft in Aussicht. Der Lohn für die Beteiligung an Entführungsaktionen orientierte sich an den Motivstrukturen der eingesetzten IM: Die Entführer-IM des ersten Typs, die als »Spezialisten« mitunter mehrfach bei Entführungsaktionen eingesetzt wurden, erhielten oft hohe Geldsummen – nicht selten mehrere tausend DM/West oder M/DDR. Eine geringere Entlohnung zahlte das MfS den IM mit weniger ausgeprägten finanziellen Interessen, stattdessen unterstützte es sie beispielsweise in beruflicher Hinsicht, half beim Aufbau einer Existenzgrundlage oder sicherte diese. In den Fällen, wo die Beteiligung an einer Entführung als Wiedergutmachungsleistung dienen sollte, sorgte das MfS tatsächlich für eine Straffreihheit, Rückkehr in die DDR oder die Haftentlassung eines Angehörigen. Das MfS registrierte die Motive seiner Entführer-IM eingehend, denn diese hatten einen maßgeblichen Einfluss auf die Tragfähigkeit der Zusammenarbeit. Generell entschieden sich Menschen oft aus persönlichen Beweggründen, wie das Hoffen auf Anerkennung, die Perspektive auf Vorteile und Privilegien, materielle Interessen und/oder der Reiz an einer augenscheinlichen Machtteilhabe zur Verpflichtung als IM. Die IM-Arbeit bot zudem die Möglichkeit, Rache zu üben, Konkurrenzen auszuhebeln, die eigene Position abzusichern oder seine Loyalität zu beweisen. Das MfS versuchte aber, allzu persönliche Motive zu zügeln. Die zentrale Norm des MfS war die bewusste Bereitschaft des IM zur konspirativen Zusammenarbeit, vorzugsweise auf Basis der politi-
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schen Überzeugung und ideeller Motive.6 Diese galten im MfS-Apparat als tragfähigster Beweggrund, waren bei den Entführer-IM jedoch nur in wenigen Fällen hauptsächlich handlungsleitend. Immerhin waren sie etwa bei der Hälfte der 50 untersuchten Entführer-IM Bestandteil der Motivstrukturen, zum Teil dürfte es sich dabei aber um bloße Lippenbekenntnisse gehandelt haben. Vielmehr schuf das MfS vor allem durch die (oft ausgeprägten) finanziellen Interessen der Entführer-IM ein Abhängigkeitsverhältnis, das es mit einer handschriftlichen Verpflichtung und vor allem mit der Beteiligung an Entführungen zu untermauern suchte. Denn beides konnte als Druckmittel genutzt werden. Doch auch die Entführer-IM verfügten über Mittel und Wege, ihre Interessen durchzusetzen. Dieser Blickwinkel deutet auf einen Aspekt, den die detaillierte Betrachtung der Einsätze der Entführer-IM offenbart: Für die Entführer-IM gab es trotz aller Anleitung und Kontrolle durchaus Handlungsspielräume. Das MfS bemühte sich, diese Handlungsspielräume zu begrenzen, zu überwachen und die IM entsprechend zu instruieren – es gelang ihm aber nicht immer. Ein gewisses Maß an eigenständigem Handeln erforderte das besondere Einsatzgebiet dieser IM in West-Berlin und der Bundesrepublik sogar. Gerade bei der Durchführung von Entführungsaktionen gab es immer wieder unvorhergesehene Ereignisse und Entwicklungen, auf die spontan reagiert werden musste. Zwar sollten umfangreiche Aufklärungsarbeiten und detaillierte Planungen im Vorfeld einer Entführungsaktion die Unwägbarkeiten erheblich reduzieren. Ihr Auftreten konnte aber selbst durch intensivste Vorbereitungen nicht vollständig verhindert werden. Die Entführer-IM sollten sich in derartigen Situationen an einem Handlungsleitfaden orientieren, waren aber während ihres Einsatzes weitgehend auf sich gestellt. Diese Handlungsspielräume suchten einige Entführer-IM durchaus für sich zu nutzen: So bot beispielsweise die Verzögerung von vorgesehenen Entführungen die Gelegenheit, die finanziellen Forderungen zu erhöhen. Die Entführer-IM mussten ihren Führungsoffizieren nur glaubhaft die Widrigkeiten darlegen, welche die Durchführung einer Aktion bis dato verhindert hatten, aber im Rahmen eines weiteren Einsatzes beseitigt werden konnten. Die Kontrollmechanismen des MfS (wie zum Beispiel der Einsatz weiterer IM) enttarnten derartige Vorhaben, versagten aber auch. Ein solches Aufschieben konnte auch mit aufkeimenden Bedenken des IM hinsichtlich seiner Beteiligung an einer Entführung im Zusammenhang stehen. In den gesichteten Unterlagen zu den Entführer-IM finden sich kaum Hinweise auf Verzögerungen, die durch moralische Bedenken und Skrupel bedingt waren – eher durch die Sorge um ein zu großes Risiko für die eigene Person. Eine Analyse von nicht realisierten Entführungsvorhaben und geschei6 Vgl. Müller-Enbergs: Motivation, S. 105, 111–120; Gieseke: Mielke-Konzern, S. 125 f.; Kerz-Rühling/Plänkers: Verräter, S. 13, 15, 119–123, 128–132.
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terten Entführungsversuchen dürfte aber Fälle offenbaren, in denen Gewissenskonflikte der vorgesehenen Entführer-IM zu beobachten sind und zum Scheitern der Entführungsabsichten führten. Beim Hinweis auf die Handlungsspielräume darf dieser Aspekt nicht vergessen werden: Entführer-IM hatten durch ihr Einsatzgebiet in der Bundesrepublik und West-Berlin die relativ leichte Möglichkeit, sich dem Entführungsauftrag zu verweigern respektive zu entziehen. In der Kombination mit den starken finanziellen Interessen bargen die Handlungsspielräume ein großes Konfliktpotenzial – in erster Linie bei den Entführer-IM des ersten Typs, die zum Teil an mehreren Entführungsaktionen beteiligt waren. Das MfS wollte und forderte von diesen IM Eigeninitiative, aber in kontrolliertem Ausmaß. Nicht selten überschritten diese EntführerIM den von ihren Führungsoffizieren vorgegebenen Handlungsrahmen, sodass aus der gewollten Eigeninitiative ungewollte Eigenmächtigkeiten erwuchsen. Es wurden nicht nur Mahnungen, größte Rücksicht auf die Konspiration zu nehmen, und Weisungen missachtet, sondern es kam sogar zu Entführungen ohne Auftrag des MfS. Die Führungsoffiziere reagierten mit Kontroll- und Disziplinierungsmaßnahmen: In Aussprachen wiesen sie die IM eindringlich auf ihr Fehlverhalten und die möglichen Konsequenzen hin. Schmerzhafter dürfte für viele der zu eigenmächtigen Entführer-IM indes die Reduzierung oder gar Einbehaltung ihres Lohns gewesen sein. Das MfS erkannte darin eine wirksame Waffe zur Disziplinierung seiner Entführer-IM, vor allem wenn diese außerhalb seines unmittelbaren Einflussbereiches in West-Berlin oder der Bundesrepublik lebten. Mit schwierigen IM wurden bisweilen feststehende Prämien für ein Entführungsopfer ausgehandelt, um ständige Nachforderungen finanzieller Art zu unterbinden. Insgesamt war der Einsatz von Entführer-IM für das MfS ein kostspieliges Unterfangen, zumal die Entführungsaktionen auch im Nachklang den Einsatz großer Geldsummen erforderlich machen konnten. IM, die leicht mit einer Entführung in Verbindung gebracht werden konnten oder deren Beteiligung gar bekannt geworden war, wurden vorsorglich oder aber gezielt aus WestBerlin respektive der Bundesrepublik abgezogen, wenn ihnen bundesdeutsche Ermittler auf der Spur waren. In der DDR unterstützte das MfS sie sodann beim Neubeginn, den es so angenehm wie möglich zu gestalten suchte – zumal so mancher dieser IM mit dem zwangsweisen Umzug nicht glücklich war. Die Versorgung mit einem Arbeitsplatz und einer Wohnung sowie Annehmlichkeiten materieller Art, aber auch direkte Geldzahlungen sollten den IM ›bei Laune halten‹. Bei einigen Entführer-IM war diese Fürsorge im besonderen Ausmaß erforderlich, nämlich bei denjenigen, die das MfS gegen ihren Willen ›stilllegte‹. Dieser Schritt konnte in der Gefährdung oder Eigenmächtigkeit des IM begründet sein, erfolgte aber auch durch das weitgehende Abrücken von der Entführungspraxis Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre. Offene
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Gewalt gehörte in der poststalinistischen Phase nicht mehr in gleichem Maße zur Praxis des MfS, gewaltsame Methoden wurden allerdings nicht völlig aufgegeben. Zwar verzichtete das MfS seit Anfang der 1960er Jahre weitgehend auf Entführungen und Mordanschläge, in Einzelfällen scheute es jedoch auch später keineswegs brutale Einsätze im Westen. Physische, aber vor allem psychische Gewalt gehörten weiterhin zum Repertoire des MfS und richteten sich in erster Linie gegen sogenannte »Verräter«, Fluchthelfer sowie herausragende Aktivisten des Widerstands gegen das SED-Regime im Westen. Derartige Aktionen mussten aus außenpolitischen Gründen umfangreich getarnt werden, damit das MfS nicht als Urheber erkennbar wurde. Einige Entführer-IM kamen hier noch in den 1960er Jahren zum Einsatz, die Aufträge wurden aber bedeutend seltener. Bei einigen Entführer-IM, vor allem des ersten Typs, sorgte eine solche Außer-Dienstnahme für Unmut, dem das MfS mit finanzieller bzw. materieller Fürsorge, starker Kontrolle und Druck begegnete. In diesem Zusammenhang ist auch die Aufrechterhaltung der Verbindung des MfS zu den IM nach deren Einsatz bei einer Entführung zu verstehen. Aus der Perspektive des MfS diente diese zum einen der weiteren Verwendung des IM, zum anderen – und mitunter in erster Linie – seiner Kontrolle. Fast die Hälfte der untersuchten Entführer-IM stand nach ihrer letzten Entführungsaktion noch bis zu fünf Jahre mit dem MfS in Verbindung, etwa ein Viertel bis zu zehn Jahre. Bei den übrigen 25 Prozent der analysierten Entführer-IM hielt der Kontakt zum MfS noch mehr als zehn Jahre, bei nicht wenigen sogar zwischen 20 und 30 Jahre. Diese sehr langjährigen Beziehungen lassen sich vor allem bei den Entführer-IM des ersten Typs beobachten. Bei den EntführerIM des zweiten und dritten Typs brach die Verbindung hingegen in der Regel größtenteils nach bis zu fünf Jahren und spätestens nach zehn Jahren ab. Dieser Unterschied basiert zum einen auf der weiteren Verwendung der IM, zum anderen aber auch auf der stärkeren Kontrolle, die das MfS bei den EntführerIM des ersten Typs für erforderlich hielt. Sie waren bei Entführungen oft unmittelbar beteiligt gewesen, hatten vielleicht sogar mehrere Sondereinsätze im Westen hinter sich und monierten zumeist stärker ihre AußerDienstnahme. Die Unzufriedenheit, die finanziellen Forderungen und kriminellen Machenschaften, in die einige von ihnen – bis zu einem gewissen Grad mit Billigung des MfS – verstrickt waren, in Kombination mit ihren sensiblen Kenntnissen ließen die Ausnahmeagenten zu Sicherheitsrisiken werden. Das MfS nahm dieses Gefährdungspotenzial offenbar sehr ernst. Diese Problemfälle dürfen trotz ihrer nicht unerheblichen Anzahl aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Umgang des MfS mit ehemaligen Entführer-IM nach ihrer aktiven Zeit größtenteils problem- und reibungsloser verlief. Inwieweit ihre Beteiligung an einer Entführung ihr Leben prägte, lässt sich anhand der überlieferten Akten kaum bis gar nicht eruieren. Das MfS sah vor allem zwei Gefahrenmomente, die auch bei den Entführer-IM Unbehagen
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hervorgerufen haben dürften: die Haftentlassung der entführten Person und die bundesdeutschen Ermittlungen. Größtenteils gelang es den bundesdeutschen Ermittlern, nach den Entführungen die Tatabläufe zu rekonstruieren, wenn auch teilweise mit Lücken. Mit größeren Schwierigkeiten war die Fahndung nach den Tatbeteiligten behaftet, die bei Erfolg vor zwei weiteren Problemen stand: Reichten die Beweise für eine Verurteilung und war der Tatverdächtige überhaupt greifbar? Spätestens wenn die entführten Personen und damit die Hauptbelastungszeugen aus den DDR-Gefängnissen in den Westen zurückkehrten, waren ihre Entführer zumeist in der DDR untergetaucht und damit für die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden unerreichbar. Nur wenige konnten verhaftet und verurteilt werden, gegen viele mussten Verfahren wegen Abwesenheit oder aus Mangel an Beweisen eingestellt werden. Erst die Öffnung der MfS-Archive nach dem Zusammenbruch der DDR ermöglichte eine Neuaufnahme der Ermittlungen. Inzwischen waren jedoch viele Tatverdächtige bereits verstorben oder nicht mehr verhandlungsfähig. Zudem erschwerte die Rechtslage nunmehr die Strafverfolgung der Entführer-IM: Die Strafansprüche nach bundesdeutschem Recht waren größtenteils verjährt, und die Ahndung nach dem übergeleiteten Strafanspruch der ehemaligen DDR war durch die im Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten getroffenen Regelungen erheblich eingeschränkt. Demnach galten nur Taten als strafrechtlich relevant, die gegen geltendes DDR-Recht verstoßen hatten. Diese Entscheidung entsprach den rechtsstaatlichen Grundsätzen, hinterlässt angesichts der systematischen Rechtsbeugungen im SED-Regime aber einen faden Beigeschmack. So auch im Fall der strafrechtlichen Verfolgung der MfS-Entführungen: Lediglich 13 ehemalige IM und drei Kontaktpersonen mussten sich in den 1990er Jahren vor Gericht verantworten, nur sieben konnten verurteilt werden. Ihre Freiheitsstrafen wurden ausschließlich zur Bewährung ausgesetzt. Immerhin trugen die umfangreichen Ermittlungen im Rahmen der rechtlichen Aufarbeitung aber zur weitgehenden Aufklärung der Entführungspraxis des MfS bei. Zusammen mit den Hinterlassenschaften des MfS und zeitgenössischen Überlieferungen anderer Provenienzen bilden diese Ermittlungsakten eine wertvolle Grundlage für die Zeitgeschichtsforschung, wie die vorliegende Studie gezeigt hat. Mithilfe dieser Überlieferungen können nicht nur die Entführungsaktionen und das Schicksal der Opfer rekonstruiert werden. Darüber hinaus gewähren sie einen Einblick in eine geheimdienstliche respektive geheimpolizeiliche Praxis und veranschaulichen deren spezifischen Charakter als Mechanismus im SED-Herrschaftssystem. Angesichts der Instabilität der SEDHerrschaft in den 1950er Jahren vollzog das MfS als »Schild und Schwert der Partei« seine Repressionsmaßnahmen zur Sicherung der Machtposition nicht nur innerhalb, sondern auch jenseits der territorialen Grenzen des SEDHerrschaftsgebiets. Die Entführungspraxis des MfS war Ausdruck der illegiti-
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men staatlichen Gewalt im SED-Regime und einer stalinistisch geprägten politischen Kultur. Der einzelne Tatbeteiligte konnte sein (gewaltsames) Handeln im Einklang mit staatlichen Normen sehen, er partizipierte an einer staatlichen Gewalt, die sein delinquentes Handeln ›legitimierte‹. In der Frage nach der Verantwortung und Schuld des einzelnen Tatbeteiligten wirkt dies auf den ersten Blick entlastend. Die Analyse von 50 Entführer-IM hat aber gezeigt, dass diese oftmals nicht nur einfache Rädchen im Getriebe waren. Sie verfügten über Handlungsspielräume, die ihnen erlaubten, Entführungen zu manipulieren und zu verhindern, ließen sie aber ungenutzt. Ganz im Gegenteil versuchten nicht wenige Entführer-IM, diese Handlungsspielräume zum eigenen Vorteil zu nutzen; manche übertrafen in ihrer Eigeninitiative sogar die geplanten Maßnahmen das MfS.
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Danksagung
Es war ein hoher (Akten-)Berg, dessen Besteigung ich ohne vielfältige Unterstützung nicht geschafft hätte: Ich danke Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer für die Betreuung meiner Doktorarbeit an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Prof. Dr. Thomas Großbölting, der sie als Zweitgutachter engagiert begleitete, sowie Prof. Dr. Ruth-E. Mohrmann als Prüferin im Nebenfach. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sicherte meine Bergbesteigung mit einem Promotionsstipendium und ermöglichte mir den wertvollen Austausch mit »Weggefährten«. Mein großer Dank geht stellvertretend an Dr. Anna Kaminsky und Dr. Ulrich Mählert, auch für seine inhaltlichen Anregungen. Undenkbar wäre meine Expedition ohne die Unterstützung der Behörde des BStU gewesen, insbesondere der Abteilung Bildung und Forschung, deren ehemaligen und derzeitigen Leitern Dr. Siegfried Suckut, Prof. Dr. Thomas Großbölting und Dr. Helge Heidemeyer ich stellvertretend danken möchte. Besonders dankbar bin ich Dr. Helmut Müller-Enbergs, der mir die Tür in die Forschungsabteilung öffnete, den Zündfunken für mein Forschungsvorhaben und wichtige inhaltliche Impulse gab. Mein Dankeschön richtet sich auch an Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk und Dr. Jens Gieseke (mittlerweile im ZZF) für ihre fundierten Anregungen und große Unterstützung sowie an Dr. Christian Adam, Dr. Roger Engelmann, Prof. Dr. Daniela Münkel, Beate Prinz und Gudrun Weber. Für die umfangreiche Versorgung mit (Quellen-)Material danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedenen Archive und Institutionen. Sehr wichtige Wegbegleiter waren Dr. Karl Wilhelm Fricke und Johannes Müther. Für die vielen anregenden Gespräche, ihre Ermutigungen und nicht zuletzt auch für ihr Lektorat bin ich ihnen in tiefer Dankbarkeit verbunden. Mein Dank gebührt ebenso Dr. Enrico Heitzer und Dr. Gerhard Sälter für ihre Denkanstöße. Mein Basislager waren meine Familie und Freunde, die für die nötige Ablenkung sorgten, mich immer wieder ermutigten und auch als Korrekturleser halfen. Ich danke Euch herzlich, Dr. Sarah Bornhorst, Steffen Buhle, Dr. Nina Buthe, Dr. Nina Florack, Stefan Querl, Friederike von Reden und Cornelia Thiele. Das wohl größte Dankeschön richte ich an meine Familie, insbesondere an Dr. Eva-Maria Muhle und Doris Funcke für ihren unermüdlichen Zuspruch und an meine Eltern Bernd und Marlene Muhle für ihr Vertrauen und ihre kompromisslose Unterstützung. Nur mit euch habe ich den Berg bezwungen.
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Anhang
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Anhang
Abkürzungsverzeichnis ADN AG AGM AGM/S AIM AKG Anm. AOP AP APN AS AU BArch Bd.(e). BDJ BdL BDM BfV BIOS Bl. BKA BMG BMJ BND BOB BStU BUNAST BV BVN CDU CIA CIC CIG ČSSR DDR DGB DIA DNB DPA DRK
Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst (DDR) Arbeitsgruppe Arbeitsgruppe des Ministers Arbeitsgruppe des Ministers/Sonderfragen Archivierter IM-Vorgang Auswertungs- und Kontrollgruppe Anmerkung Archivierter Operativer Vorgang Allgemeine Personenablage Außenpolitischer Nachrichtendienst Allgemeine Sachablage Archivierter Untersuchungsvorgang Bundesarchiv Band, Bände Bund Deutscher Jugend Bank deutscher Länder Bund Deutscher Mädel Bundesamt für Verfassungsschutz Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen Blatt Bundeskriminalamt Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen Bundesministerium für Justiz Bundesnachrichtendienst Berlin Operation Base Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Bundesnachrichtendienststelle, Außenstelle des Bundesamts für Verfassungsschutz in Hannover Bezirksverwaltung Bund der Verfolgten des Naziregimes Christlich-Demokratische Union Central Intelligence Agency Central Intelligence Corps Central Intelligence Group Tschechoslowakische Sozialistische Republik Deutsche Demokratische Republik Deutscher Gewerkschaftsbund Defence Intelligence Agency Deutsche Mark der Deutschen Notenbank (Währung in der DDR) Deutsche Presseagentur Deutsches Rotes Kreuz
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Anhang DSF DVdI FDGB FDJ FDP FIM Gestapo GH GHI GI GM GME GMS GRU GULag HA HHG HICOG HFIM HIM HJ HO Hg. HV A HVDVP IBFG IM IMB IME IMF IMK IMS IMV IWE IWF JHS k. A. K5 KAPD KAU KD KGB KgU
615
Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft Deutsche Verwaltung des Innern Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei IM zur Führung anderer IM und GMS Geheime Staatspolizei Archivierter Vorgang mit besonderer Geheimhaltungsstufe Geheimer Hauptinformator Geheimer Informator Geheimer Mitarbeiter Geheimer Mitarbeiter im besonderen Einsatz Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (dt.: Hauptverwaltung für Aufklärung) Glawnoje Uprawlenije Lagerey (dt.: Hauptverwaltung für Straflager) Hauptabteilung Häftlingshilfegesetz High Commissioner for Germany Hauptamtlicher Führungs-IM Hauptamtlicher Inoffizieller Mitarbeiter Hitler-Jugend Handelsorganisation Herausgeber Hauptverwaltung A Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei Internationaler Bund Freier Gewerkschaften Inoffizieller Mitarbeiter Inoffizieller Mitarbeiter mit Feindverbindung Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter mit Feindverbindungen zum »Operationsgebiet« Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung des Verantwortungsbereichs Inoffizieller Mitarbeiter zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen Informationsbüro West Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung Juristische Hochschule des MfS keine Angabe Kriminalpolizei (Zweig) 5, politische Polizei Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands Kommunistische Arbeiterunion Kreisdienststelle Komitet Gossudarstwennoi Besopasnosti (dt.: Komitee für Staatssicherheit) Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit
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616 KJVD KP KPD KPdSU KPKK KS KVP KW KZ LAB LDP(D) LKA LStU MAD MdI MF MfNV MfS MGB MI 5 MI 6 MID MWD NATO ND ND NDPD NKFD NKGB NKWD NS NSDAP NSKK NTS NVA NWDR OD OGPU OibE OPC OPK
Anhang Kommunistischer Jugendverband Deutschlands Kontaktperson Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kreisparteikontrollkommission Kader und Schulung Kasernierte Volkspolizei Konspirative Wohnung Konzentrationslager Landesarchiv Berlin Liberal-Demokratische Partei (Deutschlands) Landeskriminalamt Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen Militärischer Abschirmdienst Ministerium des Innern Mikrofilm Ministerium für Nationale Verteidigung Ministerium für Staatssicherheit Ministerstwo Gossudarstwennoi Besopasnosti (dt.: Ministerium für Staatssicherheit) Military Intelligence No. 5 Military Intelligence No. 6 Military Intelligence Division Ministerstwo Wnutrennych Del (dt.: Ministerium für innere Angelegenheiten) North Atlantic Treaty Organization Nachrichtendienst Neues Deutschland Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nationalkomitee Freies Deutschland Narodny Komissariat Gossudarstwennoi Besopasnosti (dt.: Volkskommissariat für Staatssicherheit) Narodnyi Kommissariat Wnutrennich del (dt.: Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) Nationalsozialismus, nationalsozialistisch Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps Narodno Trudowoj Sojus (dt.: Völkischer Arbeitsbund) Nationale Volksarmee Nordwestdeutscher Rundfunk Objektdienststelle Objedinjonnoje Gossudarstwennoje Polititscheskoje Uprawlenije (dt.: Vereinheitlichte Staatliche Kontrolle, sowjetische Geheimpolizei) Offizier im besonderen Einsatz Office of Policy Coordination Operative Personenkontrolle
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Anhang OSO OSS OV PID RIAS SA SAP SBZ SD SDECE SdM SED SEW SFB SfS SIS SKK SMAD SMT SN SPD SR SR SS SSB SSD StGB StPO StVA Tscheka UdSSR UFJ UN UNO US USA VEB VFF VOS VP VPO WP WTA ZAIG ZERV ZI
Office of Special Operations Office of Strategic Services Operativer Vorgang Politisch-ideologische Diversion Rundfunk im amerikanischen Sektor (Berlin) Sturmabteilungen Sozialistische Arbeiterpartei Sowjetische Besatzungszone Sicherheitsdienst Service de Documentation Extérieure et de Contre-Espionage Sekretariat des Ministers Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialistische Einheitspartei Westberlins Sender Freies Berlin Staatssekretariat für Staatssicherheit Secret Intelligence Service Sowjetische Kontrollkommission Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sowjetische Militärtribunale Sûreté Nationale Sozialdemokratische Partei Deutschlands Service des Renseignements Militaires Sonderreferat Schutzstaffel Sozialistischer Schülerbund Staatssicherheitsdienst Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Strafvollzugsanstalt Tschreswjtschainaja Komissija (erste sowjetrussische Geheimpolizei) Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen United Nations United Nations Organization United States United States of America Volkseigener Betrieb Volksbund für Frieden und Freiheit e. V. Vereinigung der Opfer des Stalinismus Volkspolizei Vereinigung Politischer Ostflüchtlinge Wahlperiode wissenschaftlich-technische Auswertung Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität Zelleninformator
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617
618 ZK ZKSK ZOPE ZPKK ZRS
Anhang Zentralkomitee Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle Zentralnoje Objedinjenije Poslewoennych Emigrantow (Emigrantenorganisation) Zentrale Parteikontrollkommission Zentrale Rechtsschutzstelle
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Anhang
Verzeichnis der untersuchten IM und Kontaktpersonen AnDeckname bzw. IM- Geburts1. Ent- Abbruch anonymisierter Typ jahr werbung führung VerKlarname1 bindung
Todesjahr
»Albert«
2
1902
1955
1956
1957
k.A.
»Alfred Ruf«
2
1910
1961
1962
1968
1983
»Bär«
1
1924
1955
1956
1983
k.A.
»Barth«
1
1921
1952
1952
1958
1958
Baum, Heinrich
1
1927
1952
1952
1955
k.A.
»Bert«
3
1923
1950
1953
1961
k.A.
»Blitz«
1
1931
1956
1955
1979
1979
Böhm, Walter
1
1927
1955
1955
1956
k.A.
»Boxer«
1
1930
1952
1952
1963
1992
»Deckert«
1
1906
1953
1954
1961
1961
»Dietrich«
1
1921
1956
1956
1971
k.A.
»Dita Schönberg«
2
1933
1953
1957
1958
k.A.
»Donner«
1
1927
1955
1955
1984
1984
»Fred Thornau«
1
1919
1954
1954
1975
k.A.
»Friedrich«
1
1898
1954
1953
1955
k.A.
»Fritz«
2
1914
1952
1955
1956
1993
»Fritz Vogelsdorf«
2
1913
1954
1956
1958
k.A.
»Gustav«
1
1899
1954
1955
1964
k.A.
»Hegl«
2
1913
1951
1954
1970
k.A.
1 In der Auswahl befinden sich auch IM, die das MfS zur Zeit ihrer Beteiligung an einer Entführung noch nicht offiziell als IM führte und daher keinen Decknamen hatten. Zum Teil wurden diese kurze Zeit später als IM angeworben, zum Teil belegen die MfS-Unterlagen zwar ihre inoffizielle Zusammenarbeit, lassen aber keine genauen Rückschlüsse auf ihre Registrierung zu.
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620
Anhang
AnDeckname bzw. IM- Geburts1. Ent- Abbruch anonymisierter Typ jahr werbung führung VerKlarname1 bindung
Todesjahr
»Heinrich«
2
1909
1959
1962
1968
1985
»Herbert«
3
1922
1954
1955
1962
1996
»Hering«
3
1920
1954
1954
1957
k.A.
»Honett«
3
1934
1978
1955
1979
k.A.
»Kleist«
1
1910
1953
1953
1961
k.A.
»Konsul«
1
1910
1952
1952
1968
k.A.
»Lieber«
3
1930
1953
1953
1980
1986
»Lisa König«
2
1929
1954
1956
1961
k.A.
»Lord«
3
1941
1962
1961
1967
k.A.
»Ludwig«
3
1896
1959
1962
1971
k.A.
»Martina Matt«
2
1928
1960
1961
1964
k.A.
»Menzel«
2
1926
1950
1950
1952
k.A.
»Neuhaus«
1
1918
1955
1956
1985
k.A.
Noack, Paul
3
1925
k.A.
1955
1956
k.A.
»Norge«
1
1917
1954
1957
1969
1992
Pohl, Max
1
1907
k.A.
1950
k.A.
1951
»Pelz«
1
1920
1950
1952
1956
1985
»Ringer«
1
1925
1952
1952
1961
1984
Röder, Erwin
3
1930
1959
1959
1963
k.A.
»Rosenberg«
1
1906
1951
1950
1965
k.A.
»Schubert«
1
1915
1955
1955
1961
k.A.
»Schulz«
3
1932
1963
1961
1965
k.A.
»Schütte«
2
1913
1952
1955
1983
1983
»Simon«
1
1914
k.A.
1951
k.A.
k.A.
»Steffen«
1
1929
1954
1955
1957
1988
»Sylvia«
2
1928
1952
1954
1960
1991
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621
Anhang
AnDeckname bzw. IM- Geburts1. Ent- Abbruch anonymisierter Typ jahr werbung führung VerKlarname1 bindung
Todesjahr
»Teddy«
1
1929
1957
1955
1985
k.A.
»Weitzel«
2
1929
1954
1958
1960
k.A.
»Wenig«
1
1912
1949
1950/51
1968
k.A.
Wittig, Wilhelm
1
1905
k.A.
1952
1955
k.A.
»Zwiebel«
2
1915
1952
1954
1956
1995
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Anhang
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Entführungen und Verschleppungen (mit und ohne Festnahmen im Grenzgebiet) 1950 bis 1964 ................................. 77 Tabelle 2: Kenntnisstand der Westberliner Polizei in den Jahren 1956 bis 1967 über die Anzahl vollendeter Entführungen und Verschleppungen in den Jahren 1950 bis 1962 .................... 278 Tabelle 3: Anzahl der Anzeigen bei der Kriminalpolizei und Verfahren bei der Staatsanwaltschaft in Zusammenhang mit verschwundenen Personen in West-Berlin 1949 bis 1961 (in Klammern: Zahl der aufgeklärten Fälle) .................................. 281
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623
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Anhang
625
Quellen- und Literaturverzeichnis Archivalische Quellen Bundesarchiv (BArch) Bundeskanzleramt, Bestand B 136 Nr. 6480, 6539 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bestand B 137 Nr. 1063, 1064, 1065, 1066, 1741, 31758, 31817, 31844, 31872, 31923, 31949, 31970, 32151, 32326, 32640 Bundesministerium der Justiz, Bestand B 141 Nr. 4067, 12194, 12195, 12196, 90208, 90209 Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen, Bestand B 209 Nr. 29, 253, 480, 959, 1069, 1070, 1071, 1200, 1201, 1204 Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben, Bestand B 285 Einzelfallakten
Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) Archivierte IM-Vorgänge (AIM) MfS, AIM 2275/55, 3119/56, 439/57, 442/57, 715/57, 5707/57, 5899/57, 6039/57, 6041/57, 271/58, 4283/58, 667/59, 2285/60, 1639/61, 1640/61, 1983/61, 3370/61, 4225/61, 6183/61, 6805/61, 7881/61, 1717/62, 2559/63, 6957/63, 8734/63, 12056/64, 4861/65, 9616/65, 8087/67, 3585/68, 9183/68, 9184/68, 15351/69, 1844/70, 6415/71, 1371/72, 10381/79, 13912/79, 19946/80, 3112/83, 15564/84, 11599/85, 13639/85, 13009/86, 4902/88
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626
Anhang
Archiviertes Material zu KK-erfassten Personen (AKK) MfS, AKK 11442/86
Archivierte operative Vorgänge (AOP) MfS, AOP 131/53, 151/53, 24/54, 199/54, 381/54, 10/55, 115/55, 241/55, 572/55, 249/56, 535/56, 572/55, 629/55, 600/56, 812/56, 482/57, 679/57, 786/57, 857/57, 906/57, 1011/57, 1195/57, 1201/57, 660/58, 518/59, 549/59, 116/60, 228/60, 753/60, 234/61, 11329/62, 20495/62, 4617/63, 1594/64, 1539/65, 10926/65, 22/67, 4220/71, 10926/75, 4392/86
Allgemeine Personenablage (AP) MfS, AP 1911/55, 3444/55, 4011/55, 4904/56, 8796/56, 9404/56, 243/57, 553/57, 5009/57, 7398/57, 1632/59, 7351/66, 7720/68, 2115/68, 532/72, 1442/73, 21758/80, 21774/80, 21783/80, 21814/80, 21815/80, 21822/80, 21826/80, 21835/80, 21859/80, 21878/80, 21879/80, 21882/80, 21886/80, 21891/80, 21892/80, 21893/80, 3567/80, 8993/82, 7015/83
Allgemeine Sachablage (AS) MfS, AS 171/56, 183/56, 376/64, 275/66, 1007/67, 3/73, 155/79, 172/89
Ablage der Generalstaatsanwaltschaft der DDR (ASt) MfS, ASt I 35/60
Archivierte Untersuchungsvorgänge (AU) MfS, AU 230/51, 134/52, 258/52, 319/52, 15/54, 81/54, 110/54, 402/54, 67/55, 102/55, 162/55, 278/55, 399/55, 86/56, 95/56, 261/56, 13/57, 17/57, 244/57, 250/57, 251/57, 312/57, 5/58, 397/58, 522/58, 766/58, 1410/58, 1751/58, 618/59, 381/60, 5917/62, 5219/64, 5040/65, 217/90, 228/90, 229/90
Archivierte Vorgänge mit besonderer Geheimhaltungsstufe (GH) MfS, GH 108/55, 123/55, 124/55, 105/57, 2/58, 19/63, 6/74, 73/80, 89/85, 317/85, 9/89
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Anhang
Archivmaterial der Hauptabteilung Kader und Schulung (KS) MfS, KS 430/60, 4257/90, 5453/90, 7892/92 MfS, KS II 10/78, 51/79, 487/84, 549/89 MfS, Disz. 6978/92
Unterlagen aus den Ablagen verschiedener Diensteinheiten MfS, BdL/Dok Nr. 579, 15643 MfS, Abt. XIV 11730, 13572 MfS, HA I Nr. 100 MfS, HA II Nr. 1408, 1438, 4030, 4606, 4607, 4608, 36091 MfS, HA IX Nr. 1426, 3436, 3560, 18870 MfS, HA XX Nr. 1615, 1662 MfS, HA XX/AKG Nr. 1064 MfS, ZAIG 18533
Unterlagen aus ehemaligen Bezirksverwaltungen MfS, BV Frankfurt/O., AOP 14/59, AU 52/59 MfS, BV Leipzig, AIM 2041/78 MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AIM 452/66, AOP 70/57, AOP 1957/67 MfS, BV Magdeburg, AIM 434/56, AIM 148/84 MfS, BV Neubrandenburg, AOP 18/60, AU 20/60 MfS, BV Potsdam, AIM 351/52, AOP 329/55, AOP 2687/62, AU 268/53, AU 177/55, AU 541/62
Landesarchiv Berlin (LAB) Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin, Bestand B Rep. 001 Nr. 42, 52, 53 Regierender Bürgermeister von Berlin – Senatskanzlei, Bestand B Rep. 002 Nr. 33, 502, 4885, 8811, 8969, 13063, 13356, 13363
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627
628
Anhang
Polizeipräsident von Berlin, Bestand B Rep. 020 Nr. 8161, 8162, 8163 Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin, Bestand B Rep. 058 Nr. 1505, 1506, 2902, 2903, 2904, 2905, 2906, 2907, 6013, 6014, 6015, 6016, 8073, 8074, 8075, 8076, 8077, 8078, 8079, 8319, 8320, 8972, 8973, 8974, 8975, 8976, 8977, 8978, 8979, 8980, 8981, 8982, 8983 Abgeordnetenhaus von Berlin, Bestand B Rep. 228 Nr. 997, 998, 999, 1000, 1001, 1004, 1007, 1010 Drucksachen Soz 1623 Zs 416 Zs 505
Parlamentarisches Archiv des Deutschen Bundestags (PA-DBT) Protokolle des Deutschen Bundestags PA-DBT 3001 1. WP, 2. WP, 3. WP, 4. WP Protokolle des Ausschusses für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen PA-DBT 3105 1. WP, 2. WP, 3. WP, 4. WP, 5. WP Untersuchungsausschuss Fall Otto John PA-DBT 3310 2. WP Gesetzesdokumentation PA-DBT 4000 Ges-Dok I/179
Staatsanwaltschaft Berlin Az 29 Js 1014/93, 1031/93, 79/94, 68/95, 122/95, 131/95, 141/95, 318/95, 22/96, 23/96, 278/96 Az 29/2 Js 251/91, 257/91, 431/91, 198/92, 283/92, 976/92, 1057/92, 1241/92, 1309/92, 1376/92, 69/93, 283/93
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Anhang
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Veröffentlichte Quellen Editionen und Dokumentationen Engelmann, Roger/Joestel, Frank (Hg.): Grundsatzdokumente des MfS. Hg. BStU. MfS-Handbuch, Teil V/5. Berlin 2004. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard: Strafjustiz und DDR-Unrecht. Bd. 6 (unter Mitarbeit von Roland Schißau und Petra Schäfter): MfS-Straftaten. Berlin 2006. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard: Strafjustiz und DDR-Unrecht. Bd. 4/1 (unter Mitarbeit von Petra Schäfter und Ivo Thiemrodt): Spionage. Berlin 2004. Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 2: Anleitungen für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 21998. Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. Berlin 32001. Suckut, Siegfried (Hg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur »politisch-operativen Arbeit«. Berlin 32001.
Quellen im Internet http://www.17juni53.de/chronik/530619/doc_3.html (Stand: 3.6.2012) http://www.17juni53.de/karte/berlin_2.html (Stand: 3.6.2011) http://www.17juni53.de/audio/track18.mp3 (Stand: 3.6.2012) http://www.documentarchiv.de/brd/1949/grundgesetz.html (Stand: 3.6.2012) http://www.documentArchiv.de/ddr/verfddr1949.html (Stand: 3.6.2012) http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/hhg/gesamt.pdf (Stand: 3.6.2012) http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/stgb/gesamt.pdf (Stand: 3.6.2012) http://www.verfassungen.de/de/ddr/staatsanwaltschaftsgesetz52.htm (Stand: 3.6.2012) http://www.verfassungen.de/de/ddr/strafrechtsergaenzungsgesetz57.htm (Stand: 3.6.2012) http://www.verfassungen.de/de/de45-49/kr-direktive38.htm (Stand: 3.6.2012)
Zeitgenössisches Schriftgut, Chroniken und institutionelle Selbstdarstellungen Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): SBZ von A–Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands. Bonn 1953. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): SBZ von A–Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands. Bonn 51959.
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630
Anhang
Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Unrecht als System. Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet. Bde. I–IV, Bonn/Berlin 1952–1962. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Der Staatssicherheitsdienst. Ein Instrument der politischen Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Bonn/Berlin 1962. »Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen«, Sonderdruck aus dem Tätigkeitsbericht der Bundesregierung »Deutsche Politik 1960«. Bonn 1960. Senat von Berlin (Hg.): Berlin – Chronik der Jahre 1951–1954. Berlin 1968. Senat von Berlin (Hg.): Berlin – Chronik der Jahre 1955–1956. Berlin 1971. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hg.): Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1980. Ost-Berlin 1980. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Berlin in Zahlen. West-Berlin 1951. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch Berlin, West-Berlin 1952. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch Berlin, West-Berlin 1953. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch Berlin, West-Berlin 1954. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch Berlin, West-Berlin 1955. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch Berlin, West-Berlin 1956. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch Berlin, West-Berlin 1957. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch Berlin, West-Berlin 1958. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch Berlin, West-Berlin 1959. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch Berlin, West-Berlin 1960. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch Berlin, West-Berlin 1961. Statistisches Landesamt von Berlin (Hg.): Statistisches Jahrbuch Berlin, West-Berlin 1962. Polizeipräsident in Berlin (Hg.): Jahresbericht der Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) 1994. Berlin 1994. Polizeipräsident in Berlin (Hg.): Jahresbericht der Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) 1996. Berlin 1996. Polizeipräsident von Berlin (Hg.): Polizei Berlin 1945 bis 1989. Berlin 1989. Senator für Inneres (Hg.): Östliche Untergrundarbeit gegen Westberlin. West-Berlin 1959.
Zeitungen und Zeitschriften BZ Berliner Montagsecho Berliner Morgenpost Berliner Zeitung Bild Bonner Rundschau Der Abend Der Kurier Der Morgen
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Anhang Der Spiegel Der Tag Die Welt Die Zeit Frankenpost Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Rundschau IBZ – Die Illustrierte Westberlins Illustrierte Woche Kölnische Rundschau Leipziger Volkszeitung Märkische Volksstimme Manchester Guardian Münchner Abendzeitung Münchner Merkur Nachtdepesche National-Zeitung Neue Osnabrücker Zeitung Neue Zeitung Neue Zürcher Zeitung Neues Deutschland Quick Spandauer Volksblatt Stern Stuttgarter Zeitung Süddeutsche Zeitung Tägliche Rundschau Tagesspiegel Telegraf The New York Times The Times Thüringische Landeszeitung Welt am Sonntag
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Anhang
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Fricke, Karl Wilhelm: »Und das Geschwafel, von wegen nicht hinrichten – alles Käse, Genossen«. Mindestens elf abtrünnige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR wurden zwischen 1950 und 1980 hingerichtet. In: Das Parlament, Februar 1996, S. 20 f. Fricke, Karl Wilhelm: Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung. Berlin 41997. Fricke, Karl Wilhelm: Staatssicherheit, Ministerium für (MfS). In: Eppelmann, Rainer u. a. (Hg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik. Paderborn u. a. 21997, S. 806–816. Fricke, Karl Wilhelm: Organisation und Tätigkeit der DDR-Nachrichtendienste. In: Krieger, Wolfgang/Weber, Jürgen (Hg.): Spionage für den Frieden? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Krieges. München 1997, S. 213–224. Fricke, Karl Wilhelm: Ordinäre Abwehr – elitäre Aufklärung? Zur Rolle der Hauptverwaltung A im Ministerium für Staatssicherheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 47(1997)50, S. 17–26. Fricke, Karl Wilhelm: Das MfS als Instrument der SED am Beispiel politischer Strafprozesse. In: Suckut, Siegfried/Süß, Walter (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 199–212. Fricke, Karl Wilhelm/Engelmann, Roger: »Konzentrierte Schläge«. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956. Berlin 1998. Fricke, Karl Wilhelm/Ehlert, Gerhard: Entführungsaktionen der DDR-Staatssicherheit und die Folgen für die Betroffenen. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Deutschland im geteilten Europa. Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«. Bd. VIII.2, Berlin 1999, S. 1169–1208. Fricke, Karl Wilhelm: Spionage. In: Veen, Hans-Joachim u. a. (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. München 2000, S. 342 f. Fricke, Karl Wilhelm: Dimensionen von Opposition und Widerstand in der DDR. In: Fricke, Karl Wilhelm/Kowalczuk, Ilko-Sascha: Der Wahrheit verpflichtet. Berlin 22000, S. 413–433. Fricke, Karl Wilhelm/Kowalczuk, Ilko-Sascha: Der Wahrheit verpflichtet. Texte aus fünf Jahrzehnten zur Geschichte der DDR. Berlin 22000. Fricke, Karl Wilhelm: Memoiren aus dem Stasi-Milieu. Eingeständnisse, Legenden, Selbstverklärung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 51(2001)30–31, S. 6–13. Fricke, Karl Wilhelm/Klewin, Silke: Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle 1956 bis 1989. Leipzig 2001. Fricke, Karl Wilhelm: Spionage als antikommunistischer Widerstand. In: DeutschlandArchiv 35(2002)4, S. 565–578. Fricke, Karl Wilhelm/Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes (Hg.): Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder. München 2002. Fricke, Karl Wilhelm: Markus Wolf. Drei Jahrzehnte Spionagechef des SED-Staates. In: Krüger, Dieter/Wagner, Armin (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 284–309. Fricke, Karl Wilhelm: Widerstand und Opposition in den vierziger und fünfziger Jahren. In: Eppelmann, Rainer/Faulenbach, Bernd/Mählert, Ulrich (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn u. a. 2003, S. 153–159.
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Fricke, Karl Wilhelm: Geschichtsrevisionismus aus MfS-Perspektive. Ehemalige Stasi-Kader wollen ihre Geschichte umdeuten. In: Deutschland-Archiv 39(2006)3, S. 490–496. Fricke, Karl Wilhelm: Walter Linse. In: Kowalczuk, Ilko-Sascha/Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Berlin 2006, S. 109–111. Fricke, Karl Wilhelm: Entführung. In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 72–74. Friedel, Mathias: Der Volksbund für Frieden und Freiheit. Eine Teiluntersuchung über westdeutsche antikommunistische Propaganda im Kalten Krieg und deren Wurzeln im Nationalsozialismus. Sankt Augustin 2001. Gallus, Alexander: Biographik und Zeitgeschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 55(2005)1–2, S. 40–46. Galtung, Johan: Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen 1998. Ganser, Daniele: NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegführung. Zürich 32009. Geiger, Hansjörg: Die Verwaltung der Stasi-Akten. Aufgaben und Probleme. In: Krieger, Wolfgang/Weber, Jürgen (Hg.): Spionage für den Frieden? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Krieges. München 1997, S. 163–179. Geiger, Hansjörg: Wie viel Kontrolle ist möglich und nötig? Rechtliche Grundlagen und politische Praxis in Deutschland. In: Smidt, Wolbert u. a. (Hg.): Geheimhaltung und Transparenz. Demokratische Kontrolle der Geheimdienste im internationalen Vergleich. Münster 2007, S. 33–45. Gerlach, Christian: Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert. München 2011. Gieseke, Jens: Erst braun, dann rot? Zur Frage der Beschäftigung ehemaliger Nationalsozialisten als hauptamtliche Mitarbeiter des MfS. In: Suckut, Siegfried/Süß, Walter (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 129–149. Gieseke, Jens: Das Ministerium für Staatssicherheit (1950–1990). In: Diedrich, Torsten/Ehlert, Hans/Wenzke, Rüdiger (Hg.): Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR. Berlin 21998, S. 371–422. Gieseke, Jens: Abweichendes Verhalten in der totalen Institution. Delinquenz und Disziplinierung der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter in der Ära Honecker. In: Engelmann, Roger/Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1999, S. 531–553. Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90. Berlin 2000. Gieseke, Jens: Die DDR-Staatssicherheit. Schild und Schwert der Partei. Bonn 2000. Gieseke, Jens: Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945–1990. Stuttgart/München 22001. Gieseke, Jens: Erich Mielke (1907–2000). Revolverheld und oberster DDR-Tschekist. In: Krüger, Dieter/Wagner, Armin (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 237–263. Gieseke, Jens: Volkspolizei und Staatssicherheit. Zum inneren Sicherheitsapparat der DDR. In: Lange, Jürgen (Hg.): Die Polizei der Gesellschaft. Zur Soziologie der Inneren Sicherheit. Opladen 2003, S. 93–120.
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Gieseke, Jens: Zeitgeschichtsschreibung und Stasi-Forschung. Der besondere deutsche Weg der Aufarbeitung. In: Suckut, Siegfried/Weber, Jürgen (Hg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz. München 2003, S. 218–239. Gieseke, Jens: Die Geschichte der Staatssicherheit. In: Eppelmann, Rainer/Mählert, Ulrich (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn 2003, S. 117–125. Gieseke, Jens: Die dritte Generation der Tschekisten. Der Nachwuchs des Ministeriums für Staatssicherheit in den »langen« siebziger Jahren. In: Schüle, Annegret/Ahbe, Thomas/Gries, Rainer (Hg.): Die DDR auf generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2006, S. 229–246. Gieseke, Jens (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen 2007. Gieseke, Jens: Staatssicherheit und Gesellschaft – Plädoyer für einen Brückenschlag. In: ders. (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen 2007, S. 7–20. Gieseke, Jens/Kaminski, Lukasz/Persak, Krzysztof (Hg.): Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944–1991. Göttingen 2009. Gieseke, Jens: »Different Shades of Gray«. Denunziations- und Informantenberichte als Quellen der Alltagsgeschichte des Kommunismus. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7(2010)2, Online-Ausgabe, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Gieseke-2-2010 (Stand: 3.6.2012). Gieseke, Jens: Kiefel, Josef. In: Müller-Enbergs, Helmut u. a. (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien. Bd. 1: A–L, Berlin 52010, S. 647 f. Gieseke, Jens: Beater, Bruno. In: Müller-Enbergs, Helmut u. a. (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien. Bd. 1: A–L, Berlin 52010, S. 78 f. Gieseke, Jens: Ideologie, tschekistische. In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfSLexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 152–155. Gieseke, Jens: Hauptamtlicher Mitarbeiter. In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfSLexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 138–141. Gieseke, Jens: Mielke, Erich. In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 207–209. Gieseking, Erik: Der Fall Otto John. Entführung oder freiwilliger Übertritt in die DDR? Lauf 2005. Gill, David/Schröter, Ulrich: Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums. Berlin 1991. Görtemaker, Manfred: Deutschland im Ost-West-Konflikt. In: Herbstritt, Georg/Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu ... DDRSpionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 14–33. Görtemaker, Manfred: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 2004. Grafe, Roman: Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen: »Wenig aufbauend ist die zahlenmäßige Bilanz unserer Arbeit«. Die Strafverfolgung von SED-Unrecht 1990– 1998. In: Deutschland-Archiv 32(1999)1, S. 6–8.
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Greiner, Bettina: Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland. Bonn 2010. Gries, Sabine: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR: Täter oder Opfer? Eine Analyse von Diplomarbeiten und Dissertationen der Juristischen Hochschule Potsdam. In: Mertens, Lothar/Voigt, Dieter (Hg.): Opfer und Täter im SED-Staat. Berlin 1998, S. 169–198. Gries, Sabine/Voigt, Dieter: Verbrechen des Ministeriums für Staatssicherheit im Spiegel seines Schrifttums. In: Eckart, Karl/Hacker, Jens/Mampel, Siegfried (Hg.): Wiedervereinigung Deutschlands. Festschrift zum 20-jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Berlin 1998, S. 121–163. Grimm, Peter: »Was reinmischen, erfrieren lassen, Bremsleitungen manipulieren«. Mordpläne gegen Oppositionelle in den achtziger Jahren. In: Horch und Guck 17(2008)1, S. 42 f. Grimm, Peter: »Lebenslänglich Überlebender. Willy Schreiber hat 1987 einen Mordanschlag überlebt, doch aufklären kann er ihn nicht.« In: Horch und Guck 17(2008)1, S. 46–49. Großbölting, Thomas/Thamer, Hans-Ulrich (Hg.): Die Errichtung der Diktatur. Transformationsprozesse in der Sowjetischen Besatzungszone und in der frühen DDR. Münster 2003. Großbölting, Thomas: Zwischen »Sonnenallee«, »Schurkenstaat« und Desinteresse – Aporien im Umgang mit der DDR-Vergangenheit im wiedervereinigten Deutschland. In: ders./Hofmann, Dirk (Hg.): Vergangenheit in der Gegenwart. Vom Umgang mit Diktaturerfahrungen in Ost- und Westeuropa. Göttingen 2008, S. 109–122. Großbölting, Thomas/Hofmann, Dirk (Hg.): Vergangenheit in der Gegenwart. Vom Umgang mit Diktaturerfahrungen in Ost- und Westeuropa. Göttingen 2008. Großbölting, Thomas: Eine zwiespältige Bilanz. Zwanzig Jahre Aufarbeitung der DDRVergangenheit im wiedervereinigten Deutschland. In: Großbölting, Thomas/ Kollmorgen, Raj/Möbius, Sascha/Schmidt, Rüdiger (Hg.): Das Ende des Kommunismus. Die Überwindung der Diktaturen in Europa und ihre Folgen. Essen 2010, S. 61–74. Großbölting, Thomas (Hg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand. Bonn 2010, S. 50–73. Großbölting, Thomas: Die DDR als »Stasi-Staat«? Das Ministerium für Staatssicherheit als Erinnerungsmoment im wiedervereinigten Deutschland und als Strukturelement der SED-Diktatur. In: ders. (Hg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDRLegenden auf dem Prüfstand. Bonn 2010, S. 50–73. Großbölting, Thomas/Kollmorgen, Raj/Möbius, Sascha/Schmidt, Rüdiger (Hg.): Das Ende des Kommunismus. Die Überwindung der Diktaturen in Europa und ihre Folgen. Essen 2010. Großbölting, Thomas/Schmidt, Rüdiger (Hg.): Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert. Göttingen 2011. Große, Christina: Der Eichmann-Prozess zwischen Recht und Politik. Frankfurt/M. 1995. Haase, Norbert/Sack, Birgit (Hg.): Münchner Platz, Dresden. Die Strafjustiz der Diktaturen und der historische Ort. Leipzig 2001. Haendcke-Hoppe-Arndt, Marie: Die Hauptabteilung XVIII: Volkswirtschaft. Hg. BStU. MfS-Handbuch, Teil III/10. Berlin 1997.
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Hagemann, Frank: Der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen 1949–1969. Frankfurt/M. 1994. Hagemann, Frank: »Die Drohung des Rechts«. Der Kampf des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen gegen die DDR. In: Henke, Klaus-Dieter/Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand und Opposition in der DDR. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 193–205. Hanak, Gerhard/Pilgram, Arno: Das Phänomen Strafanzeige. Baden-Baden 2003. Hassemer, Winfried: Strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturvergangenheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 61(2011)35–36, S. 48–54. Haupts, Leo: »Die CDU ist die Partei, in der am stärksten der Feind arbeitet«. Die OstCDU im Krisenjahr 1953. In: Kowalczuk, Ilko-Sascha/Mitter, Armin/Wolle, Stefan (Hg.): Der Tag X – 17. Juni 1953. Die »Innere Staatsgründung« der DDR als Folge der Krise 1952/54. Berlin 21996, S. 278–310. Haus der Geschichte (Hg.): Duell im Dunkeln. Spionage im geteilten Deutschland. Köln 2002. Hecht, Jochen: Die Stasi-Unterlagen als Quelle zur DDR-Geschichte. In: Suckut, Siegfried/Weber, Jürgen (Hg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz. München 2003, S. 198–217. Heinen, Heinz (Hg.): Menschenraub, Menschenhandel und Sklaverei in antiker und moderner Perspektive. Stuttgart 2008. Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002. Heitzer, Enrico: »Einige greifen der Geschichte in die Speichen.« Jugendlicher Widerstand in Altenburg/Thüringen 1948 bis 1950. Berlin 2007. Heitzer, Enrico: SMT-Verfahren im Zusammenhang mit der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). In: Bohse, Daniel/Miehe, Lutz (Hg.): Sowjetische Militärjustiz in der SBZ und frühen DDR 1945–1955. Halle 2007, S. 50–73. Heitzer, Enrico: »Affäre Walter«. Die vergessene Verhaftungswelle. Berlin 2008. Henke, Klaus-Dietmar: Zu Nutzung und Auswertung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41(1993)4, S. 575–587. Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Wann bricht schon mal ein Staat zusammen! Die Debatte über die Stasi-Akten auf dem 39. Historikertag 1992. München 1993. Henke, Klaus-Dietmar/Engelmann, Roger (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung. Berlin 1995. Henkel, Rüdiger: Was treibt den Spion? Spektakuläre Fälle von der »Schönen Sphinx« bis zum »Bonner Dreigestirn«. Berlin 2001. Hennig, Heinz: Ohnmacht, Macht und Rivalität. Zur Psychodynamik der Denunziation. In: Jerouschek, Günter/Marßolek, Inge/Röckelein, Hedwig (Hg.): Denunziation. Historische, juristische und psychologische Aspekte. Tübingen 1997, S. 224–240. Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989. Bonn 31996. Herbstritt, Georg: Die Westarbeit des MfS im Lichte bundesdeutscher Justizakten. In: Herbstritt, Georg/Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu ... DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 333–358.
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Herbstritt, Georg/Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu ... DDRSpionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003. Herbstritt, Georg: Markus Wolfs »Ho-Chi-Minh-Pfad«: Agenten-Stau am Bahnhof Friedrichstraße. In: Horch und Guck 15(2006)55, S. 6–9. Herbstritt, Georg: Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage. Eine analytische Studie. Göttingen 2007. Herbstritt, Georg: Menschenraub in Berlin. Die gemeinsamen Aktionen von Securitate und Stasi gegen die rumänische Emigration in den fünfziger Jahren, eine siebenbürgisch-sächsische Agentin als Schlüsselfigur und die unscharfen Erinnerungen des Securitate-Überläufers Ion Mihai Pacepa. In: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 22(2010)1–2, S. 7–32. Herbstritt, Georg: Hauptabteilung II (Spionageabwehr/HA II). In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 121–123. Herbstritt, Georg: Operationsgebiet. In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfSLexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 227 f. Herbstritt, Georg: Spionageabwehr. In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfSLexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 280–282. Herman, Michael: Democratic Oversight of Intelligence Services. The British Experience. In: Smidt, Wolbert u. a. (Hg.): Geheimhaltung und Transparenz. Demokratische Kontrolle der Geheimdienste im internationalen Vergleich. Münster 2007, S. 93–105. Herms, Michael/Noack, Gert: Der steile Aufstieg und tiefe Fall des Robert Bialek. Vom hohen SED-Funktionär zum Opfer des MfS. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 47(1997)50, S. 35–42. Hertle, Hans-Hermann/Nooke, Maria (Hg.): Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989. Ein biographisches Handbuch. Berlin 2009. Hilger, Andreas/Schmeitzer, Mike/Schmidt, Ute (Hg.): Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsicherung 1945–1955. Dresden 2001. Hilger, Andreas/Petrow, Nikita: »Erledigung der Schmutzarbeit?« Die sowjetischen Justiz- und Sicherheitsapparate in Deutschland. In: Hilger, Andreas/Schmeitzner, Mike/Schmidt, Ute (Hg.): Sowjetische Militärtribunale. Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln u. a. 2003, S. 59–152. Hilger, Andreas/Petrow, Nikita: »Im Namen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.« Sowjetische Militärjustiz in der SBZ/DDR von 1945 bis 1955. In: Roginskij, Arsenij u. a. (Hg.): »Erschossen in Moskau …« Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950–1953. Berlin 22006, S. 19–35. Hoffmann, Dierk/Schmidt, Karl-Heinz/Skyba, Peter (Hg.): Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949–1961. München 1993. Hoffmann, Dierk/Schwartz, Michael/Wentker, Hermann (Hg.): Vor dem Mauerbau. Politik und Gesellschaft in der DDR der fünfziger Jahre. München 2003.
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Knabe, Hubertus: Frontstadt Berlin. In: Die politische Meinung 46(2001)381, S. 33–36. Knabe, Hubertus: Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen. München 2001. Knabe, Hubertus: Opposition in einem halben Land. Zur Interdependenz politischen Widerspruchs in beiden deutschen Staaten. In: Neubert, Ehrhart/Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR. Bremen 2001, S. 143–168. Knabe, Hubertus: Die deutsche Lubjanka. Das zentrale Untersuchungsgefängnis des DDR-Staatssicherheitsdienstes in Berlin-Hohenschönhausen. In: Deutschland-Archiv 35(2002)1, S. 74–81. Knabe, Hubertus: Der Kanzleramtsspion. In: Krieger, Wolfgang (Hg.): Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spionage und verdeckte Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart. München 2003, S. 216–229. Knabe, Hubertus: Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur. Berlin 2007. Knoch, Hanno: Editorial. In: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus. Bremen 2003, S. 7–15. Koch, Ferdinand: Die feindlichen Brüder: DDR contra BRD. Eine Bilanz nach 50 Jahren Bruderkrieg. Bern 1994. Kocka, Jürgen: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. In: Deutschland-Archiv 36(2003)5, S. 764–769. Körner, Klaus: »Die rote Gefahr«. Antikommunistische Propaganda in der Bundesrepublik 1950–2000. Hamburg 2002. Kössler, Till: Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1968. Bonn 2005. Kostka, Bernd von: Die Berliner Luftbrücke 1948/49. Krisenmanagement am Beginn des Kalten Kriegs. In: Bienert, Michael/Schaper, Uwe/Theissen, Andrea: Die Vier Mächte in Berlin. Beiträge zur Politik der Alliierten in der besetzten Stadt. Berlin 2007, S. 81–92. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Das bewegte Jahrzehnt. Geschichte der DDR von 1949 bis 1961. Bonn 2003. Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen. Bremen 2003. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die innere Staatsgründung. Von der gescheiterten Revolution 1953 zur verhinderten Revolution 1961. In: Diedrich, Torsten/Kowalczuk, IlkoSascha (Hg.): Staatsgründung auf Raten? Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR. Berlin 2005, S. 341–378. Kowalczuk, Ilko-Sascha: »Energisches Handeln erfordert die besondere Lage«. Politische Strafverfolgung vor und nach dem 17. Juni 1953. In: Engelmann, Roger/Kowalczuk, Ilko-Sascha: Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953. Göttingen 2005, S. 205–234. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Werner Mangelsdorf. In: ders./Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Berlin 2006, S. 66–71. Kowalczuk, Ilko-Sascha/Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Berlin 2006.
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Kowalczuk, Ilko-Sascha: Schlussbilanz des »Kalten Kriegs«. In Deutschland-Archiv 43(2010)6, S. 1101 f. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR. München 2013. Krause, Peter: Der Eichmann-Prozess in der deutschen Presse. Frankfurt/M./New York 2002. Krieger, Wolfgang/Weber, Jürgen (Hg.): Spionage für den Frieden? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Krieges. München 1997. Krieger, Wolfgang: Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spionage und verdeckte Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart. München 2003. Krieger, Wolfgang: »Dr. Schneider« und der BND. In: Krieger, Wolfgang: Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spionage und verdeckte Aktionen von der Antike bis zur Gegenwart. München 2003, S. 230–247. Krieger, Wolfgang: Die historische Entwicklung der Kontrolle von Geheimdiensten. In: Smidt, Wolbert u. a. (Hg.): Geheimhaltung und Transparenz. Demokratische Kontrolle der Geheimdienste im internationalen Vergleich. Münster 2007, S. 15–29. Krüger, Dieter: Reinhard Gehlen (1902–1979). Der BND-Chef als Schattenmann der Ära Adenauer. In: ders./Wagner, Armin (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 207–236. Krüger, Dieter/Wagner, Armin (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003. Krüger, Dieter/Wagner, Armin: Im Spannungsfeld von Demokratie und Diktatur. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. In: dies. (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 7–31. Kubina, Michael: »Was in dem einen Teil verwirklicht werden kann mit Hilfe der Roten Armee, wird im anderen Teil Kampffrage sein.« Zum Aufbau des zentralen Westapparates der KPD/SED. In: Wilke, Manfred (Hg.): Die Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht. Berlin 1998, S. 413–500. Kubina, Michael: Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg. Das unzeitgemäße Leben des Berliner Rätekommunisten Alfred Weiland (1906–1978). Hamburg 2001. Kubina, Michael: Alfred Weiland und die »Gruppe Internationaler Sozialisten« im Visier der sowjetischen Staatssicherheit und SED. Ein Fallbeispiel. In: Hilger, Andreas/Schmeitzer, Mike/Schmidt, Ute (Hg.): Diktaturdurchsetzung. Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsicherung 1945–1955. Dresden 2001, S. 65–76. Kühn, Detlef: »Ein eingefleischter Feind der DDR«. Die Entführung des UFJ- Mitarbeiters Erwin Neumann durch Angehörige des MfS 1958. In: Deutschland-Archiv 33(2000)6, S. 914–922. KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus. Bremen 2003. Labrenz-Weiß, Hanna: Die Hauptabteilung II – Spionageabwehr. Hg. BStU. MfSHandbuch, Teil III/7, Berlin 1998. Labrenz-Weiß, Hanna: Bearbeitung von Geheimdiensten, Korrespondenten und anderen »feindlichen Zentren« – Die Hauptabteilung II. In: Knabe, Hubertus: WestArbeit des MfS. Zusammenspiel von »Aufklärung« und »Abwehr«. Berlin 21999, S. 183–204.
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Lampe, Joachim: Juristische Aufarbeitung der Westspionage des MfS. Eine vorläufige Bilanz. Berlin 32002. Lampe, Joachim: Die strafrechtliche Aufarbeitung der MfS-Westarbeit: Fortdauernde Lehren aus einem abgeschlossenen Kapitel deutscher Justiz- und Zeitgeschichte. In: Herbstritt, Georg/Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu ... DDR-Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 359–366. Lampe, Joachim: Die Bedeutung der Stasi-Unterlagen bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der operativen Westarbeit des MfS. In: Deutschland-Archiv 40(2007)6, S. 1067–1071. Lemke, Michael: Kampagnen gegen Bonn. Die Systemkrise der DDR und die WestPropaganda der SED 1960–1963. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41(1993), S. 153–174. Lemke, Michael: Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt. Berlin 1995. Lemke, Michael (Hg.): Sowjetisierung und Eigenständigkeit in der SBZ/DDR (1945– 1953). Köln/Weimar/Wien 1999. Lemke, Michael: Die fünfziger Jahre – Aufbau und Krisen in der DDR. In: Eppelmann, Rainer/Faulenbach, Bernd/Mählert, Ulrich (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDRForschung. Paderborn u. a. 2003, S. 53–59. Lemke, Michael: Vor der Mauer. Berlin in der Ost-West-Konkurrenz 1948 bis 1961. Köln/Weimar/Wien 2011. Lindenberger, Thomas/Lüdtke, Alf (Hg.): Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit. Frankfurt/M. 1995. Lindenberger, Thomas (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln/Weimar/Wien 1999. Lindenberger, Thomas: Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Das Alltagsleben der DDR und sein Platz in der Erinnerungskultur des vereinten Deutschlands. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 50(2000)48, S. 5–12. Lindenberger, Thomas: Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968. Köln/Weimar/Wien 2003. Lindenberger, Thomas/Sabrow, Martin: Zwischen Verinselung und Europäisierung: Die Zukunft der DDR-Geschichte. In: Deutschland-Archiv 37(2004)1, S. 123–127. Lindenberger, Thomas (Hg.): Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen. Köln/Weimar/Wien 2006. Lindenberger, Thomas: SED-Herrschaft als soziale Praxis, Herrschaft und »Eigen-Sinn«: Problemstellung und Begriffe. In: Gieseke, Jens (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen 2007, S. 23–47. Lorenz, Chris: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln 1997. Lüdtke, Alf: Eigensinn: In: Jordan Stefan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2002, S. 64–67. Lüdtke, Alf: Alltag: Der blinde Fleck? In: Deutschland-Archiv 39(2006)5, S. 894–901. Lüdtke, Alf: 17. Juni 1953 in Erfurt. Ausnahmezustand und staatliche Gewaltrituale. In: ders./Wildt, Michael (Hg.): Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Göttingen 2008, S. 241–273.
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Lüdtke, Alf/Reinke, Herbert/Sturm, Michael (Hg.): Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert. Wiesbaden 2011. Maaz, Hans-Joachim: Das verhängnisvolle Zusammenspiel intrapsychischer, interpersoneller und gesellschaftlicher Dynamik – am Beispiel der Denunziation in der DDR. In: Jerouschek, Günter/Marßolek, Inge/Röckelein, Hedwig (Hg.): Denunziation. Historische, juristische und psychologische Aspekte. Tübingen 1997, S. 241–257. Madrell, Paul: Einfallstor in die Sowjetunion. Die Besatzung Deutschlands und die Ausspähung der UdSSR durch den britischen Nachrichtendienst. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51(2003), S. 183–227. Maennel, Annette: Frauen zwischen Alltag und Konspiration. In: Horch und Guck 4(1995)14, S. 24–32. Mählert, Ulrich/Weber, Hermann: Verbrechen im Namen der Idee. Terror im Kommunismus 1936–1938. Berlin 2007. Mählert, Ulrich/Wilke, Manfred: Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur seit 1989. In: Möller, Frank/Mählert, Ulrich (Hg.): Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte. Berlin 2008, S. 123–142. Mallmann, Klaus-Michael/Paul, Gerhard: Sozialisation, Milieu und Gewalt. Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung. In: dies. (Hg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Darmstadt 2004, S. 1–32. Malycha, Andreas: Die SED unter Ulbricht: Durchsetzung und Grenzen des Machtsanspruchs der Führungskader um Ulbricht in den Jahren von 1945 bis 1971. In: Diedrich, Torsten/Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Staatsgründung auf Raten? Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR. Berlin 2005, S. 87–118. Mampel, Siegfried: Organisierte Kriminalität der Stasi in Berlin (West). Die Machenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit gegen den Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen. In: Deutschland-Archiv 27(1994)9, S. 907–925. Mampel, Siegfried: Der Untergrundkampf des Ministeriums für Staatssicherheit gegen den Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen in Berlin (West). Berlin 41999. Mampel, Siegfried: Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen. In: Veen, HansJoachim u. a. (Hg.): Lexikon Widerstand und Opposition in der SED-Diktatur. München 2000, S. 360 f. Mampel, Siegfried: Entführungsfall Dr. Walter Linse. Menschenraub und Justizmord als Mittel des Staatsterrors. Berlin 32006. Mannheim, Karl: Wissenssoziologie. Hg. Von Kurt H. Wolff. Berlin 1970. Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. In: ders.: Wissenssoziologie. Hg. Von Kurt H. Wolff. Berlin 1970, S. 509–565. Marquardt, Bernhard: Die Zusammenarbeit zwischen MfS und KGB. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur«. Bd. VIII: Das Ministerium für Staatssicherheit, Baden-Baden 1995, S. 297–361. Marquardt, Bernhard: Zur geheimdienstlichen Zusammenarbeit von MfS und KGB. In: Mertens, Lothar/Voigt, Dieter (Hg.): Opfer und Täter im SED-Staat. Berlin 1998, S. 115–134. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard: Erfolge, Defizite und Möglichkeiten der strafrechtlichen Aufarbeitung des SED-Unrechts in vorwiegend empirischer Hinsicht. In: Deutscher
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Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«. Bd. II.1: Opfer, Elitenwechsel, justitielle Aufarbeitung Frankfurt/M. 1999, S. 1064–1303. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz. Berlin/New York 1999. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard: Strafjustiz und DDR-Unrecht. Bd. 4/1 (unter Mitarbeit von Petra Schäfter und Ivo Thiemrodt): Spionage, Berlin 2004. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard: Strafjustiz und DDR-Unrecht. Bd. 6 (unter Mitarbeit von Roland Schißau und Petra Schäfter): MfS-Straftaten, Berlin 2006. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard/Schäfter, Petra: Die Strafverfolgung von DDR-Unrecht. Fakten und Zahlen. Berlin 2007. Medick, Hans: Mikrohistorie. In: Jordan, Stefan: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2003, S. 215–218. Meinl, Susanne: Im Mahlstrom des Kalten Kriegs. Friedrich Wilhelm Heinz und die Anfänge der westdeutschen Nachrichtendienste 1945–1955. In: Krieger, Wolfgang/Weber, Jürgen (Hg.): Spionage für den Frieden? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Krieges. München 1997, S. 247–266. Meinl, Susanne: Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz. Berlin 2000. Meinl, Susanne: Friedrich Wilhelm Heinz (1899–1968). Verschwörer gegen Hitler und Spionagechef im Dienste Bonns. In: Krüger, Dieter/Wagner, Armin (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 61–83. Mertens, Lothar/Voigt, Dieter (Hg.): Opfer und Täter im SED-Staat. Berlin 1998. Merz, Kai-Uwe: Kalter Krieg als antikommunistischer Widerstand. Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit 1948–1959. München 1987. Meyer, Georg: General Adolf Heusinger und die Organisation Gehlen. In: Krieger, Wolfgang/Weber, Jürgen (Hg.): Spionage für den Frieden? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Krieges. München/Landsberg 1997, S. 225–246. Meyer, Thomas: Politische Kultur und Gewalt. In: Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002, S. 1196–1214. Mihr, Anja: Die internationalen Bemühungen von Amnesty International im Fall Heinz Brandt. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 37(2001)4, S. 449–464. Miquel, Marc von: Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren. Göttingen 2004. Mittermaier, Klaus: Vermißt wird … Die Arbeit des deutschen Suchdienstes. Berlin 2002. Mögelin, Chris: Recht im Unrechtsstaat? In: Schultz, Helga/Wagener, Hans-Jürgen (Hg.): Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Berlin 2007, S. 92–111. Möller, Frank/Mählert, Ulrich (Hg.): Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte. Berlin 2008. Möller, Horst/Wirsching, Andreas: 1989/90: Der »Abschied vom Provisorium« und die Perspektiven einer integrierten deutschen Nachkriegsgeschichtsschreibung. In: Möller, Frank/Mählert, Ulrich (Hg.): Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte. Berlin 2008, S. 91–105.
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Mönninghoff, Martin: »Hettstedt ruft Münster!« »Westarbeit« der SED im Bezirk Halle und in Nordrhein-Westfalen (1956–70). Münster 1998. Mohr, Heinrich: Heinz Brandt. In: Fricke, Karl Wilhelm/Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes: Opposition und Widerstand in der DDR. München 2002, S. 332–339. Mommsen, Hans: Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann. In: Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München/Zürich 81992, S. I–XXXVII. Moser, Thomas: Verschlusssache Werner Stiller. In einem der spektakulärsten deutschdeutschen Spionagefälle bleiben auch fast 30 Jahre später viele Fragen offen. In: Horch und Guck 15(2006)55, S. 37–41. Müller, Klaus-Dieter: Bürokratischer Terror. Justitielle und außerjustitielle Verfolgungsmaßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht 1945–1956. In: Engelmann, Roger/Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1999, S. 59–92. Müller, Peter F./Müller, Michael/Schmidt-Eenboom, Erich: Gegen Freund und Feind. Der BND – geheime Politik und schmutzige Geschäfte. Hamburg 2002. Müller-Enbergs, Helmut: Inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR. In: Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hg.): Jahrbuch für Extremismus und Demokratie. Baden-Baden 1994, S. 57–87. Müller-Enbergs, Helmut: Zum Verhältnis von Norm und Praxis in der Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit. In: Henke, KlausDietmar/Engelmann, Roger (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung. Berlin 21995, S. 56–76. Müller-Enbergs, Helmut: Warum wird einer IM? Zur Motivation bei der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst. In: Behnke, Klaus/Fuchs, Jürgen (Hg.): Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg 1995, S. 102–129. Müller-Enbergs, Helmut: Inoffizielle Mitarbeiter – eine Skizze. Zur IM-Problematik. In: Horch und Guck 4(1995)14, S. 1–16. Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 2: Anleitungen für die Arbeit mit Agenten, Kundschaftern und Spionen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 21998. Müller-Enbergs, Helmut: Zum Umgang mit Inoffiziellen Mitarbeitern. Gerechtigkeit im Rechtsstaat? In: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der Deutschen Einheit«. Bd. IV, Baden-Baden 1999, S. 1335–1398. Müller-Enbergs, Helmut: Zur Kunst der Verweigerung. Warum Bürger nicht mit dem Ministerium für Staatssicherheit kooperieren wollten. In: Kerz-Rühling, Ingrid/Plänkers, Tomas (Hg.): Sozialistische Diktatur und psychische Folgen. Psychoanalytisch-psychologische Untersuchungen. Tübingen 2000, S. 165–195. Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 1: Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. Berlin 32001. Müller-Enbergs, Helmut: Wir sind überall … und sie waren's tatsächlich. Die Westarbeit der DDR-Stasi. In: Gerbergasse 18 7(2002)27, S. 27–31. Müller-Enbergs, Helmut: Forschungen zur DDR-Spionage in der Bundesrepublik Deutschland. Stand und Perspektiven. In: Horch und Guck 11(2002)39, S. 38–46.
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Müller-Enbergs, Helmut: Was wissen wir über die DDR-Spionage? In: Herbstritt, Georg/Müller-Enbergs, Helmut (Hg.): Das Gesicht dem Westen zu … DDRSpionage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Bremen 2003, S. 34–71. Müller-Enbergs, Helmut: Wilhelm Zaisser (1893–1958). Vom königlich-preußischen Reserveoffizier zum ersten Chef des MfS. In: Krüger, Dieter/Wagner, Armin (Hg.): Konspiration als Beruf. Deutsche Geheimdienstchefs im Kalten Krieg. Berlin 2003, S. 32–59. Müller-Enbergs, Helmut: Die Erforschung der Westarbeit des MfS – Stand und Perspektiven. In: Suckut, Siegfried/Weber, Jürgen (Hg.): Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz. München 2003, S. 240–269. Müller-Enbergs, Helmut: Die Motivation zur nachrichtendienstlichen Arbeit. Das Beispiel Staatssicherheit. In: Hanak, Gerhard/Pilgrim, Arno (Hg.): Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie 2003. Phänomen Strafanzeige. Baden-Baden 2004, S. 141–166. Müller-Enbergs, Helmut: Zehn Aktenperspektiven. In: Kerz-Rühling, Ingrid/Plänkers, Thomas: Verräter oder Verführte. Eine psychoanalytische Untersuchung inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Berlin 2004, S. 151–190. Müller-Enbergs, Helmut: »Rosenholz« – Probleme mit der Kartei der MfS-Spionage. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR in Europa – zwischen Isolation und Öffnung. Münster 2005, S. 174–189. Müller-Enbergs, Helmut: »Der Tag X hat nicht stattgefunden.« Wirken und Sturz Wilhelm Zaissers (1945–1953). In: Engelmann, Roger/Kowalczuk, Ilko-Sascha: Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953. Göttingen 2005, S. 146–174. Müller-Enbergs, Helmut: Inoffizielle Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit – Motive für geheimpolizeiliche und nachrichtendienstliche Kooperation. In: Litzcke, Sven Max/Schwan, Siegfried (Hg.): Nachrichtendienstpsychologie 3. Beiträge zur inneren Sicherheit. Brühl 2005, S. 7–41. Müller-Enbergs, Helmut: Der 6. Deutsche Bundestag und die Staatssicherheit. In: Deutschland-Archiv 40(2007)4, S. 665–670. Müller-Enbergs, Helmut: »Rosenholz«. Eine Quellenkritik. Hg. BStU. BF informiert Nr. 28. Berlin 2007. Müller-Enbergs, Helmut (unter Mitarbeit von Susanne Muhle): Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil 3: Statistiken. Berlin 2008. Müller-Enbergs, Helmut: Wolff, Friedrich. In: ders. u. a. (Hg): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien. Bd. 2: M–Z, Berlin 52010, S. 1448 f. Müller-Enbergs, Helmut: Hauptverwaltung A (HV A). In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 142 f. Müller-Enbergs, Helmut: Inoffizieller Mitarbeiter (IM). In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 158–160. Müller-Enbergs, Helmut: Kontaktperson (KP). In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 193.
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Vollnhals, Clemens: Der Schein der Normalität. Staatsssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In: Suckut, Siegfried/Süß, Walter: Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 213–247. Vollnhals, Clemens: Denunziation und Strafverfolgung im Auftrag der »Partei«: Das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR. In: Vollnhals, Clemens/Weber, Jürgen (Hg.): Der Schein der Normalität. Alltag und Herrschaft in der SED-Diktatur. München 2002, S. 113–156. Vollnhals, Clemens: Abteilung 4: Kirchen und Religionsgemeinschaften. In: Auerbach, Thomas u. a.: Die Hauptabteilung XX: Staatsapparat, Blockparteien, Kirchen, Kultur, »politischer Untergrund«. Berlin 2008, S. 89–103. Wagner, Armin: Der Nationale Verteidigungsrat der DDR als sicherheitspolitisches Exekutivorgan der SED. In: Suckut, Siegfried/Süß, Walter (Hg.): Staatspartei und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED und MfS. Berlin 1997, S. 169–198. Wagner, Armin/Uhl, Matthias: BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Militärspionage in der DDR. Berlin 2007. Wagner, Armin: Nationaler Verteidigungsrat der DDR (NVR). In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 217–219. Wagner, Armin: Sicherheitskommission beim Politbüro des ZK der SED. In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 269 f. Wanitschke, Matthias: Methoden und Menschenbild des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR. Köln 2001. Weber, Gaby: Wie kam Adolf Eichmann wirklich nach Israel?, siehe http://www.gabyweber.com/dwnld/artikel/eichmann/german/angebliche_Entfuehrung. pdf (Stand: 3.6.2012). Weber, Hermann: »Weiße Flecken« in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung. Frankfurt/M. 21990. Weber, Hermann: »Weiße Flecken« in der DDR-Geschichtsschreibung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 40(1990)11, S. 3–29. Weber, Hermann/Lange, Lydia: Zur Funktion des Marxismus-Leninismus. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Ideologie, Integration, Disziplinierung. In: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Bd. III.3, Baden-Baden 1995, S. 2034–2061. Weber, Hermann/Mählert, Ulrich (Hg.): Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936– 1953. Paderborn 1998. Weber, Hermann: Geschichte der DDR. München 1999. Weber, Hermann: Zur Rolle des Terrors im Kommunismus. In: Mählert, Ulrich/Weber, Hermann: Verbrechen im Namen der Idee. Terror im Kommunismus 1936–1938. Berlin 2007, S. 11–41. Weber, Jürgen: Der SED-Staat. Neues über eine vergangene Diktatur. München 1995. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990. Bonn 2009. Wehner, Markus: Stalinismus und Terror. In: Plaggenborg, Stefan (Hg.): Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte. Berlin 1998, S. 365–390. Weiner, Tim: CIA. Die ganze Geschichte. Frankfurt/M. 52009.
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Anhang
Wiedmann, Roland/Polzin, Arno: Abteilung XXI (Innere Abwehr im MfS). In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 27. Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002. Wilke, Manfred: Heinz Brandt – in Selbstzeugnissen. In: Klewin, Silke (Hg.): Wege nach Bautzen II. Biographische und Autobiographische Porträts. Dresden 1998, S. 49–64. Wilke, Manfred: Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht. Berlin 1998. Wilke, Manfred: Heinz Brandt. In: Kowalczuk, Ilko-Sascha/Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Berlin 2006, S. 130–132. Wilke, Manfred: Der Weg zur Mauer. Stationen der Teilungsgeschichte. Berlin 2011. Wilke, Manfred/Vatlin, Alexander J.: »Arbeiten Sie einen Plan zur Grenzordnung zwischen beiden Teilen Berlins aus!« Interview mit Generaloberst Anatolij Grigorjewitsch Mereschko. In: Deutschland-Archiv 44(2011)2, Online-Ausgabe unter URL: www.bpb.de/themen/NAWPSE.html (Stand: 2.4.2011). Winckler, Stefan: Ein Markgraf als williger Vollstrecker des Totalitarismus. Die Biographie des deutschen Berufssoldaten Paul H. Markgraf (SED) unter besonderer Berücksichtigung seiner Amtszeit als Berliner Polizeipräsident 1945–48/49. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR – Analysen eines aufgegebenen Staates. Berlin 2001, S. 343–353. Winters, Peter Jochen: Der Mielke-Prozess. Eine kommunistische Karriere. In: Weber, Jürgen/Piazolo, Michael (Hg.): Eine Diktatur vor Gericht. Aufarbeitung von SEDUnrecht durch die Justiz. München 1995, S. 101–113. Wölbern, Jan Philipp: Die Entstehung des »Häftlingsfreikaufs« aus der DDR 1962– 1964. In: Deutschland-Archiv 41(2008)5, S. 856–867. Wölbern, Jan Philipp: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Göttingen 2014. Wolf, Stephan: Hauptabteilung I. NVA und Grenztruppen. Hg. BStU. MfS-Handbuch, Teil III/13. Berlin 22005. Wolf, Stephan: Ablage, Geheime. In: Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011, S. 19. Wolle, Stefan: Leben mit der Stasi. Das Ministerium für Staatssicherheit im Alltag. In: Schultz, Helga/Wagener, Hans-Jürgen (Hg.): Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Berlin 2007, S. S. 79–91. Wunschik, Tobias: Die Hauptabteilung XXII: »Terrorabwehr«. Hg. BStU. MfSHandbuch, Teil III.16. Berlin 1995. Wunschik, Tobias: Selbstbehauptung und politischer Protest von Gefangenen im DDRStrafvollzug. In: Neubert, Ehrhart/Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR. Bremen 2001, S. 267–292. Zierenberg, Malte: Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950. Göttingen 2008. Zisler, Diana Christina: Kriminelle Energie. Entstehung, Prävention und Therapie. Frankfurt/M. 2011.
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Anhang
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Zubok, Vladislav: Der sowjetische Geheimdienst in Deutschland und die Berlinkrise 1958–1961. In: Krieger, Wolfgang/Weber, Jürgen (Hg.): Spionage für den Frieden? Nachrichtendienste in Deutschland während des Kalten Krieges. München/Landsberg 1997, S. 121–143.
Lexika und Nachschlagewerke BStU: Abkürzungsverzeichnis. Häufig verwendete Abkürzungen und Begriffe des Ministeriums für Staatssicherheit. Berlin 62003. Engelmann, Roger u. a. (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Berlin 2011. Gieseke, Jens (Hg.): Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit. Kurzbiographien des MfS-Leitungspersonals 1950 bis 1989. Hg. BStU. MfS-Handbuch, Teil IV/4. Berlin 1998. Klaus, Georg/Buhr, Manfred (Hg.): Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2: Geschichtliches Denken bis Opportunismus, Hamburg 1972. Müller-Enbergs, Helmut u. a. (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien. 2 Bde., Berlin 52010. Roewer, Helmut/Schäfer, Stefan/Uhl, Matthias: Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert. München 2003. Rotteck, Carl von/Welcker, Carl (Hg.): Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände. Bd. 9, Altona 1847. Weber, Hermann/Herbst, Andreas: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945. Berlin 2004.
Memoirenliteratur und Zeitzeugenberichte Aharoni, Zvi/Dietl, Wilhelm: Der Jäger. Operation Eichmann: Was wirklich geschah. Stuttgart 1996 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1964. Bailey, George/Kondraschow, Sergej/Murphy, David E.: Die unsichtbare Front. Der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin. Berlin 1997. Berger, Jörg: Meine zwei Halbzeiten. Ein Leben in Ost und West. Reinbek 2009. Brandt, Heinz: Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West. Frankfurt/M. 1985 (Originalausgabe München 1967). Buber-Neumann, Margarete: Als Gefangene bei Stalin und Hitler. Köln 1952. Fricke, Karl Wilhelm: Die Taktik des Menschenraubs. In: SBZ-Archiv 10(1959)12, S. 178–181. Fricke, Karl Wilhelm: So werden Schauprozesse vorbereitet. In: SBZ-Archiv 10(1959)14, S. 210–213. Fricke, Karl Wilhelm: Ein Schauprozess fand nicht statt. Gründe und Hintergründe eines kommunistischen Gesinnungsurteils. In: SBZ-Archiv 10(1959)20, S. 315–317.
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Anhang
Fricke, Karl Wilhelm: Der kommunistische Strafvollzug will »erziehen«. Authentischer Bericht aus der politischen Sonderstrafanstalt Bautzen II. In: SBZ-Archiv 10(1959)24, S. 378–380. Fricke, Karl Wilhelm: Menschenraub in Berlin. Koblenz/Köln 1959. Fricke, Karl Wilhelm: Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung. Berlin 41997. Fricke, Karl Wilhelm: Die Technik der psychologischen Einkreisung. In: Knabe, Hubertus (Hg.): Gefangen in Hohenschönhausen. Stasi-Häftlinge berichten. Berlin 2007, S. 163–173. Fuchs, Jürgen: Unter Nutzung der Angst. Berlin 1994. Gehlen, Reinhard: Der Dienst. Erinnerungen 1942–1971. Mainz/Wiesbaden 1972. Gerken, Richard: Spione unter uns. Methoden und Praktiken der Roten Geheimdienste nach amtlichen Quellen. Die Abwehrarbeit in der Bundesrepublik Deutschland. Donauwörth 1965. Horchem, Hans Josef: Auch Spione werden pensioniert. Herford/Berlin/Bonn 1993. Hornstein, Erika von: Staatsfeinde. Sieben Prozesse in der »DDR«. Köln/Berlin 1969. Janka, Walter: Spuren meines Lebens. Berlin 1991. John, Otto: Zweimal kam ich heim. Düsseldorf/Wien 1969. Juretzko, Norbert: Bedingt dienstbereit. Im Herzen des BND. Berlin 2004. Juretzko, Norbert: Im Visier. Ein Ex-Agent enthüllt die Machenschaften des BND. München 2006. Knabe, Hubertus (Hg.): Gefangen in Hohenschönhausen. Berlin 2007. Kühn, Detlef: Das Gesamtdeutsche Institut im Visier der Staatssicherheit. Berlin 22008. Meier, Richard: Geheimdienst ohne Maske. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsschutzes über Agenten, Spione und einen gewissen Herrn Wolf. BergischGladbach 1992. Müller, Kurt: Der geplante Schauprozess. In: Knabe, Hubertus (Hg.): Gefangen in Hohenschönhausen. Berlin 2007, S. 101–129. Pearlman, Moshe: Die Festnahme des Adolf Eichmann. Frankfurt/M. 1961. Rehlinger, Ludwig A.: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963– 1989. Berlin 1991. Richter, Michael/Rösler, Klaus: Wolfs West-Spione. Ein Insider-Report. Berlin 1992. Sauer, Heiner/Plumeyer, Hans-Otto: Der Salzgitter-Report. Die Zentrale Erfassungsstelle berichtet über Verbrechen im SED-Staat. München 1991. Schlomann, Friedrich Wilhelm: Mit soviel Hoffnung fingen wir an. 1945–1950. München 1991. Schlomann, Friedrich Wilhelm: Mit Flugblättern und Anklageschriften gegen das SEDSystem. Die Tätigkeit der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) und des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen der Sowjetzone (UFJ). Zeitzeugenbericht und Dokumentation. Schwerin 1998. Schollwer, Wolfgang: »Gesamtdeutschland ist uns Verpflichtung«. Aufzeichnungen aus dem FDP-Ostbüro 1951–1957. Hg. von Jürgen Frölich. Bremen 2004. Solschenizyn, Alexander: Der Archipel GULag. Bern 1974. Weiland, Alfred: Partisan der Freiheit. Ein Tatsachenbericht über das Kapitel Menschenraub aus der Geschichte des kalten Kriegs (unveröffentliches Manuskript). Berlin 1959. Welsch, Wolfgang: Ich war Staatsfeind Nr. 1. Frankfurt/M. 2001.
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Wolff, Friedrich: Einigkeit und Recht – Die DDR und die deutsche Justiz. Berlin 22005. Wolff, Friedrich: Verlorene Prozesse. Meine Verteidigungen in politischen Verfahren 1952–2003. Berlin 22009. Zahn, Hans-Eberhard: Haftbedingungen und Geständnisproduktion in den Untersuchungshaftanstalten des MfS. Berlin 52007.
Schriften ehemaliger MfS-Mitarbeiter Bischoff, Horst/Coburger, Karli: Strafverfolgung von Angehörigen des MfS. In: Bauer, Hans u. a. (Hg.): Siegerjustiz? Die politische Strafverfolgung infolge der Deutschen Einheit. Berlin 2003, S. 139–251. Bohnsack, Günter/Brehmer, Herbert: Auftrag Irreführung. Wie die Stasi Politik im Westen machte. Hamburg 1992. Eichner, Klaus/Dobbert, Andreas (Hg.): Headquarters Germany. Die amerikanischen Geheimdienste in Deutschland. Berlin 1997. Eichner, Klaus/Schramm, Gotthold (Hg.): Kundschafter im Westen. Spitzenquellen der DDR-Aufklärung erinnern sich. Berlin 2003. Eichner, Klaus/Schramm, Gotthold: Spionage für den Frieden. Berlin 2004. Eichner, Klaus/Schramm, Gotthold: Konterspionage. Die DDR-Aufklärung in den Geheimdienstzentren. Berlin 2010. Gast, Gabriele: Kundschafterin des Friedens. 17 Jahre Topspionin beim BND. Frankfurt/M. 1999. Grimmer, Reinhard u. a.: Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS. 2 Bde., Berlin 32003. Großmann, Werner: Bonn im Blick. Die DDR-Aufklärung aus der Sicht ihres letzten Chefs. Berlin 22007. Großmann, Werner/Schwanitz, Wolfgang: Fragen an das MfS. Auskünfte über eine Behörde. Berlin 22010. Hartmann, Wolfgang: Gedanken gegen den Strom. Über Bürger der Alt-BRD im Dienste der DDR-Auslandsaufklärung. In: Reichelt, Hans/Richter, Wolfgang/Weber, Hans (Hg.): Unfrieden in Deutschland. Berlin 1995, S. 311–318. Irmler, Werner/Opitz, Willi/Schwanitz, Wolfgang u. a. (Hg.): Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS. 2 Bde., Berlin 32003. Philby, Kim: Im Secret Service. Erinnerungen eines sowjetischen Kundschafters. OstBerlin 21985. Runge, Irene/Stelbrink, Uwe: Markus Wolf: »Ich bin kein Spion.« Gespräche mit Markus Wolf. Berlin 1990. Stiller, Werner: Im Zentrum der Spionage. Mainz 51986. Stiller, Werner: Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten. Berlin 22010. Wagner, Helmut: Schöne Grüße aus Pullach. Operation des BND gegen die DDR. Berlin 2000. Wolf, Markus: In eigenem Auftrag. Bekenntnisse und Einsichten. München 1991. Wolf, Markus: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen. München 1997.
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Anhang
Personenverzeichnis Ackern, Wilhelm van 94, 195, 197, 202, 229–231, 244, 250, 252, 259, 309 f., 320, 444, 488 f., 503, 584– 586, 591 Adenauer, Konrad 49, 266, 295, 303, 349 Bauer, Fritz 172 f. Bauer, Herbert 355 Beater, Bruno 85, 88 f., 93–95, 101, 110, 124, 130, 138, 144, 156, 161 f., 222, 262, 529, 531, 533, 535, 537, 540, 574, 584 Behm, Paul 155–158, 203 f., 254 f., 401, 452 Benjamin, Hilde 211, 236, 259 Berger, Jörg 112 Bialek, Robert 8, 24, 94, 255 f., 282, 299 f., 302, 316, 341, 405 f., 430– 432, 449, 466, 481 f., 503, 537, 578–580 Bilke, Paul 590 Boede, Karl-Heinz 88 Brandt, Heinz 8, 24, 28, 214–217, 245, 247–250, 257 f., 269, 316, 321 f., 343–346, 401 f., 457, 459, 480 f., 503, 513, 522–525, 550, 575 Brandt, Helmut 250 Brandt, Willy 295, 337, 341, 347, 365 Breschnew, Leonid 103 Buber-Neumann, Margarete 142, 377, 404 Chruschtschow, Nikita S. 42, 83, 103, 239, 265, 344 Cukurs, Herbert 174 Dengin, Sergej A. 338, 342 Dibelius, Otto 303 Donnelly, Walter J. 286, 339 Dzierzynski, Feliks 185 Eichmann, Adolf 8, 26, 170–174, 176
Eigendorf, Lutz 111 Erdmann, Horst 140, 335, 349 Fadejkin, Iwan 80 Fickenscher, Wilhelm 214, 216 f. Folk, Heinrich 86, 590 Fricke, Karl Wilhelm 8, 22–24, 26, 28, 32, 44, 55, 80, 82, 94, 141–146, 169, 174, 194, 196, 199, 202 f., 211 f., 231 f., 244, 246, 260, 268, 299, 302, 314 f., 319 f., 328 f., 377, 380, 404, 422, 535, 537, 596 Füldner, Hans 218–220, 223–226, 257, 289, 330 Gassa, Horst 218, 220 f., 224, 226, 330 Gehlen, Reinhard 49 f., 81, 114, 164, 260, 262, 292 Gerken, Richard 279 f. Globke, Hans 172 Großmann, Werner 7, 9, 169 Grotewohl, Otto 97 f., 170, 197, 265 Grünert, Werner 88, 100 Gumbel, Karl 342 Gurion, Ben 171 Haase, Werner 114, 259 f., 262 Haid, Bruno 211 Harel, Isser 173 Heine, Karl 88 Heinrich, Karl 275 f. Herrnstadt, Rudolf 215 Hildebrandt, Rainer 135, 241, 314– 316, 385 f., 446 Hoffmann, Heinz 98 Höher, Wolfgang Paul 262 Honecker, Erich 98, 231, 236 Jamin, Erich 89, 156 Jendretzky, Hans 215 John, Otto 49–51, 291–293 Kaiser, Jakob 295, 337, 354
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Anhang Kemritz, Hans 364 f. Kennedy, John F. 42 Kern, Herbert 211 Kersten, Charles J. 343 Kiefel, Josef 88, 92–94, 101 f., 106, 162, 166 f., 474, 486, 501, 568, 584 Knye, Otto 89, 154 f. Köppe, Paul 90 f., 239 Krüger, Bruno 99, 195, 240 f. Krüger, Susanne 99, 240 f. Kubasch, Walter 237 Kukelski, Werner 88, 219 f. Lampl, Julius 111, 397 Lemmer, Ernst 341, 344 f. Leonhard, Wolfgang 344 Leuschner, Bruno 98 Linse, Walter 8, 23 f., 78, 94, 135– 140, 146, 189, 202–204, 274 f., 295, 297, 306 f., 310 f., 313 f., 316– 318, 331, 333–341, 343, 349 f., 353 f., 357, 359, 366 f., 395, 413, 463 f., 467, 511, 553 f., 556, 599 Lipschitz, Joachim 358 Magen, Karl 47 Mähnert, Gerhard 93 f., 125, 488 f., 585–588 Mampel, Siegfried 24, 136, 140, 147 f., 406, 574 Mangelsdorf, Werner 218, 221 f., 224, 226, 330 f. Markert, Rolf 88 Markgraf, Paul 275–277 Maron, Karl 98 Matern, Hermann 97–99, 255, 379 McCloy, John J. 338 Mellies, Wilhelm 293 Melsheimer, Ernst 211, 233 Mende, Erich 46, 361 Mielke, Erich 15, 22, 54, 65, 71, 77, 84, 88 f., 93–95, 97–100, 104, 106, 111 f., 127, 142, 153, 183–185, 189, 193, 211, 213 f., 229, 236, 245, 255–257, 260, 273, 345, 369,
426, 478, 574, 578, 583–585, 590, 597 f. Müller, Kurt 65, 196, 265 Murau, Sylvester 99, 282, 441, 542, 544 f. Naase, Karl-Heinz 349 Neumann, Alfred 99 Neumann, Erwin 96, 146–150, 255, 282, 289, 310 f., 347, 350 f., 359, 401, 406–408, 433, 436, 447, 453, 482–484, 490, 538–540, 573 f. Neumann, Heinz 142, 377 Neumann, Siggi 215 Neumayer, Fritz 294, 313, 358, 368 Norden, Albert 99, 323 Nuschke, Otto 170, 175 Pieck, Wilhelm 73, 210, 238, 260, 270, 273, 300, 443 Pisnik, Alois 99 Pitowranow, Jewgeni 80 Raddatz, Karl 214, 216 f. Rebenstock, Paul 99 Reimann, Max 336 Renner, Heinz 365 Reuter, Ernst 335, 356 Rosenthal, Walter 307, 310 f., 496 Russell, Bertrand 346 Schäuble, Wolfgang 7 Schirdewan, Karl 97, 214, 216 Schliep, Kurt 145, 423, 447, 530, 532– 535 Schmid, Carlo 360 Schollwer, Wolfgang 225 Scholz, Alfred 88 Schreiber, Walther 355, 357, 367 Schröder, Fritz 89, 574 Schröder, Gerhard 293 Schubert, Rainer 67 Schulze, Siegfried 110, 397 Schumann, Kurt 89 Schwanitz, Wolfgang 169 Schwennicke, Carl-Hubert 341, 356 Semjonow, Wladimir S. 342
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Anhang
Silgradt, Wolfgang 99, 218, 221, 224, 226, 246, 320 f., 330 Smolka, Manfred 99 f., 234–239, 438, 502, 572, 577 f., 597 Sommerlatte, Gerd 28, 197 f., 231, 450 Sorgenicht, Klaus 211 Stalin, Josef W. 60, 83, 178, 184, 239, 265, 404 Stange, Jürgen 63, 299, 311 Stein, Lisa 282, 319 Stern, Carola 82, 144, 344, 543 Stoph, Willi 97 f. Stumm, Johannes 277, 343, 356 Thräne, Walter 86, 158–160, 169, 246, 261, 376, 431, 566, 568, 589, 590 f. Thurow, Rudi 106 Tiemann, Karl-Albrecht 73, 99, 206, 207, 208–210, 238, 270 f., 302, 330, 352 Tillich, Ernst 385 f. Träger, Helmut 88, 125, 229, 573, 582, 584–587
Treßelt, Hugo 89 Truschnowitsch, Alexander 64, 183, 287, 323–328, 331, 341–343, 351, 356 f., 366 f., 551–553 Tschuikow, Wassili W. 286, 338 f. Ulbricht, Walter 55, 60, 79 f., 83 f., 89, 97–99, 211, 213–215, 255 f., 264, 344 f. Verner, Waldemar 98 Vogel, Wolfgang 63, 270, 299, 311 Volpert, Heinz 148, 155, 483, 496, 522–524, 574 Weiland, Alfred 8, 24, 63 f., 197, 233 f., 265–267, 274, 284–286, 334, 385 Welsch, Wolfgang 111 Wolf, Markus 7, 86, 158 f., 260, 588– 591 Wolff, Friedrich 231 f., 248, 299 Wollweber, Ernst 55, 57, 76 f., 79– 84, 89, 92, 97 f., 152 f., 183 f., 213 f., 216 f., 239, 324, 440 Zaisser, Wilhelm 54, 76, 78, 84, 96 f., 215
© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525351161 — ISBN E-Book: 9783647351162