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German Pages [144] Year 1994
AUFKLÄRUNG Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte
In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Günter Birtsch, Karl Eibl, Norbert Hinske, Rudolf Vierhaus
Jahrgang 8, Heft 1, 1993
Thema: Die Kehrseite des Schönen Herausgegeben von Karl Eibl
F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M B U RG
Unverändertes eBook der 1. Aufl. von 1994. ISBN 978-3-7873-1186-6· ISBN eBook 978-3-7873-3490-2 · ISSN 0178-7128
© Felix Meiner Verlag 1994. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.meiner.de/aufklaerung
INHALT
Einleitung Karl Eibl: Abgrund mit Geländer. Bemerkungen zur Soziologie des 'angenehmen Grauens' im 18. Jahrhundert ... .. ...... .... ........ ........... „ ...... . .. .. .. . ..... . . ..... . . .
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Abhandlungen Dirk Niefanger: Melancholie und ästhetischer Genuß. Landschaft in den „Reisen eines Deutschen in Italien" von Karl Philipp Moritz ....... . „ ..„ .... „.„ ..„ .... „..
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Renate Homann: Gewalt der Aufklärung - Aufklärung der Gewalt. Zum Erhabenen in Heinrich von Kleists Erzählungen .... ........... ... .. „ ...... ......„ ... „.........
33
Carsten Zelle: Wezel und Grosse über Schreckenslust. Bemerkungen gelegentlich eines übersehenen Artikels von Johann Karl Wezel .. „ ......... ................. „....
63
Hans-Edwin Friedrich: „Die innerste Tiefe der Zerstörung" . Die Dialektik von Zerstörung und Bildung im Werk von Karl Philipp Moritz „ ........ „ „ ............. „..
69
Werner Troßbach: „Klee-Skrupel". Melancholie und Ökonomie in der deutschen Spätaufklärung ....... .. .. ........ .. .... .. ... .. ....... .. ............ ..... .. . . .. . . ....... .... .. . ...
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Kurzbiographie Fotis Jannidis: August Gottlieb Meißner (1753-1807)
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Diskussionen und Berichte Carsten Zelle: Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts vom 18. bis 20. November 1992 im Neuen Schloß in Meersburg am Bodensee ................. ....... „ .......... „...... 125 Rezensionen über Daniel Hohrath u. a. (R. Fritze), Klaus H. Kiefer (Hg.) (Chr. Mecking), Benedikt Kranemann (B. Schneider), Christian Probst (R. Jütte), Annett.e C. Baier (M. Szczekalla), Werner Schneiders (L. Cataldi Madonna), Erich Trunz (W. Große) .. .. ........ ........ .... ..... „ .... „ .... „.................... ........................ 127
AUFKLÄRUNG ISSN 0178·7128, Jahrgang 8, Heft 1, 1993. ISBN 3-7873- 1186·6 Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhundens und seiner Wirkungsgeschichte. In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhundens herau.sgegeben von Gilnter Binsch. Karl Eibl, Klaus Geneis, Norben Hinske. Rudolf Vierhaus. - Redaktion: Prof. Dr. Klaus Geneis. Universität Trier. Fach· bereich III - Neuere Geschichte. 542g6 Trier. Telefon (0651) 201 -2200 C> Felix Meiner Verlag GmbH. Hamburg 1994. Prinrcd in Germany. - Gedruckt mir Unterstilrzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. - Die Zeitschrift und alle in ihr emhahcnen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechrsgeserzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gih insbesondere für Vervielfliltigungen, Übersetzungen , Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbci· tung in elektronischen Systemen.
EINLEITUNG
KARL EIBL
Abgrund mit Geländer Bemerkungen zur Soziologie der Melancholie und des 'angenehmen Grauens' im 18. Jahrhundert
Aufklärungskritiker wußten es schon immer: Aufklärung war nicht nur der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit, sondern sie hatte auch eine Kostenseite mit manchen bedenklichen Zügen (schon im Ausdruck „selbst verschuldet" schwingt ja der Rohrstock mit). Wer diese Kostenseite jedoch mit dem Instrumentarium von Horkheimer/ Adornos „Dialektik der Aufklärung"' ermitteln wollte, war auf ein System von Voraussetzungen und Folgerungen vereidigt, das den empirischen Blick eher behinderte. Erst in den achtziger Jahren erschienen einige grundlegende Arbeiten, die auf breiter Materialbasis den neuen Aspekt auf Furcht, Angst, Melancholie und, speziell für den Bereich der Ästhetik, auf die Lust am Grauen zur Geltung brachten und so, ohne denunziatorischen Akzent, unser Bild des Zeitalters erheblich differenzierten2 • Die neue Genauigkeit tritt, was Reichweite der Erklärungen anbelangt, bescheidener auf als die deutungsfrohe 'Sozialgeschichte' im Schlepptau der Frankfurter Schule, treibt solche Bescheidenheit gelegentlich sogar bis zur Deutungsabstinenz. Deshalb sei mit den folgenden Bemerkungen versucht, die Kette der Fragen wieder an die Ebene sozialstruktureller Prozesse anzubinden. Rückt man die Lust am Grauen stärker in den Vordergrund als früher, dann muß auch die Rede vom 'Schönen' neu bedacht werden. 'Ästhetik' hat nicht nur
1 Max Horkbeimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1969 (erstmals 1947). 2 Fast eine An Stichjahr ist 1987: Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und BewuJ!tseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1987. - Carsten Zelle, Angenelures Grauen. Literarhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklieben im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987. - Reiner Wild, Die Vernunft der Väter. Zur Psychographie von Bürgerlichkeit und Au.fklärung in Deutschland am Beispiel ihrer Literatur für Kinder, Stuttgart 1987. - Im Hintergrund stehen nun Anregungen durch Michel Foucault und Norbert Elias. - Etwas früher: Hans-Jürgen Schings, Melancholie und Aufklärung, Stuttgart 1977. - Ein früher Blick auf Angst als ästhetisches Phänomen Richard Alewyn, Die literarische Angst, in: Hoimar von Ditfurth (Hg.), Aspekte der Angst, Stuttgart 1965, S. 38-52; überarbeitet: Lust an der Angst, in: Richard Alewyn, Probleme und Gestalten, Frankfurt/M. 1974, S. 307-330. - Vgl. auch Hans Robert Jauß (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste, München 1968, dort speziell: Herbert Dieckmann, Das Abscheuliche und das Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts, S. 271-317.
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Meiner Verlag, 1994, ISSN 0178-7128
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ihren heute gebräuchlichen Namen erst im 18. Jahrhundert erhalten, sondern sich auch als philosophische Disziplin erst in dieser Zeit etabliert. 3 Natürlich kann man für alles auch frühere Anfänge ansetzen. 4 Aber auch dann bleibt unbestreitbar und sei vorerst mit möglichst neutraler Formulierung vermerkt: Gegen die Jahrhundertmitte hin gibt es - im deutschen Sprachraum, auf den ich mich hier beschränke - ein bemerkenswertes Ansteigen des Interesses daran, was es denn mit dem ' Schönen' auf sich habe. Und etwa um die gleiche Zeit befreit sich der 'Schrecken' aus seiner moraldidaktischen Dienstbarkeit, tritt in Zusammenhang mit ästhetischen Phänomenen des 'Erhabenen', deren Wirkung „mit schrecklichen Objekten in Beziehung steht oder in einer dem Schrecken ähnlichen Weise wirkt"S. Um die Problemlage zu erhellen, auf die dieser Ästhetik-Schub reagiert, ist es nötig, die ästhetische Debatte nicht hermeneutisch-aneignend oder im Sinne einer auf 'Klassik' oder gar Gegenwart zueilenden geistimmanenten Teleologie zu sehen, für die jeder 'Fortschritt' als Hin-zu-uns-Schritt letztlich keiner Erklärung, sondern nur der Begrüßung bedarf; vielmehr ist die Deutungsrichtung umzukehren und zu rekonstruieren, wodurch die neuen Momente der geistigen Bewegung hervorgetrieben sein könnten, konkret: welche Probleme 'Asthetik' lösen soll, die vorher nicht da waren oder auf andere Weise gelöst waren.6
3 Alexander Gottlieb Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinenlibus (1735), übers. von Ernst Paetzold, Hamburg 1983. - Ders., Aesthetica (1750), übers. und in Auswahl von Hans Rudolf Schweizer unter dem Titel: Theoretische Ästhetik, Hamburg 1983. - Ders., Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Übers. v. Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983. - Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, 3 Teile, 21754-1759, Nachdruck Hildesheim 1976. - Mit der breitesten Wirkung Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Malerey und Bildhauer-Kunst, Dresden 1755, Nachdruck der 2. Aufl. Stuttgart 1969. - Für Gottsched und die Schweizer zusammenfassend: Hans Otto Horch und Georg-Michael Schulz, Das Wunderbare und die Poetik der Früaufk.lärung , Darmstadt 1988. 4 Die vorangegangene Argumentationssituation auf die Formel gebracht von Odo Marquardt, Kompensationstheorien des Ästhetischen, in: Dirk Grathoff (Hg.), Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode, Frankfurt/M, Bern, New York 1985, S. 103-120: .die Philosophie des Schönen - als Philosophie des Seienden selbst - war keine Philosophie der Kunst; die Philosophie der Kunst - als Theorie der Technik ein Teil der Ethik - war keine Philosophie des Schönen." (S. 111) - Marquardts Erklärungsversuch für die neue Situation darf man bezweifeln: Daß diese Philosophien um 1750 zur Ästhetik .fusionieren", wird im Anschluß an Joachim Ritters Ästhetilcvorlesungen als Kompensation eines spezifisch modernen Prozesses der Versachlichung der Welt gedeutet: Da die Wirklichkeit nicht mehr als 'schön ' gedeutet werden kann, werde Schönheit in die Welt hinein .produziert". Wie alle Kompensationstheorien muß auch diese von der Annahme eines konstanten Bedürfnishaushaltes - hier: an 'Schönem' - ausgehen, dem jedoch erst nachzuspüren wäre. s Edmund Burke, Philosophical Enquiry into the Origin of our ldeas of the Sublime and the Beautyful, 1757, dt. Übers. v. Christan Garve, Riga, derzeit greifbare Übers. v. Friedrich Bassenge, Hamburg 1980, S. 72. - Bibliographie der Schriften über das. Vergnügen an schrecklichen Gegenständen" im Anhang zu: Carsten Zelle, Über den Grund des Vergnügens an schrecklichen Gegenständen in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Peter Gendolla und Carsten Zelle (Hg.), Schönheit und Schrecken, Heidelberg 1990, S. 55-91. 6 Methodisch wäre anzuknüpfen an Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt/M. 1980, S. 47: Variationen im Bereich der 'Semantik' entstehen u. a. aus .kognitiven
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Schon die Querelle des Anciens et des Modemes hatte Unruhe ins Nachdenken über das Schöne gebracht. Nur vordergründig ging es dabei um die Frage nach 'Alten' und 'Neuen'. Von grundsätzlicher Natur war vielmehr die Frage, ob Schönheit ewigen Regeln unterworfen sei oder bloß kontingenten. Voll aufgenommen und neu gewendet wurde diese Frage im deutschen Sprachraum zwar erst vom jungen Herder. Aber bei genauerem Hinsehen zeigt sie ihre Spuren schon weit früher. Der Wolffianer Johann Christoph Gottsched nimmt Stellung. „Man" - deutlicher wird er nicht - habe gefragt: „ob ein Scribent sich nicht vielmehr dem Geschmack seiner Zeiten, seines Ortes, oder seines Hofes; als den Regeln der Kunst, zu bequemen Ursache habe" und ob „die ersten Regeln der freyen Künste[ . . .] nur nach dem Geschmacke des atheniensischen Volkes entworfen". Gottscheds Antwort ist eindeutig: „Die Schönheit eines künstlichen Werkes, beruhet nicht auf einem leeren Dünkel; sondern sie hat ihren festen und nothwendigen Grund in der Natur der Dinge. Gott hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst auch was schönes hervorbringen wiU, so muß sie dem Muster der Natur nachahmen. Das genaue Verhältniß, die Ordnung und das richtige Ebenmaaß aller Theile, daraus ein Ding besteht, ist die Quelle aller Schönheit. Die Nachahmung der vollkommenen Natur, kann also einem künstlichen Werke die Vollkommenheit geben, dadurch es dem Verstande gefällig und angenehm wird: und die Abweichung von ihrem Muster, wird allemal etwas ungestaltes und abgeschmacktes zuwege bringen . " 7 Für Gottsched ist das aber nur der legitimierende Angelpunkt, von dem aus er sogleich wieder auf das kommen kann, was ihm am Herzen liegt: verbindliche 'Regeln'. Eine philosophische Ästhetik war überflüssig, solange die Künste tradierten Handwerks-Regeln folgten , diente allenfalls der Abrundung des jeweiligen philosophischen Systems, da es Kunst nun einmal gab. Die Poetik, als Schwester der Beredsamkeit auf 'persuasio' verpflichtet, kam ihrerseits recht gut ohne Philosophie aus. Solange im Reich der schönen Künste die Kategorie des 'Geschmacks' als unbefragte konsensuelle Größe gilt, besteht hier kein Klärungsbedarf. Nun aber ergibt sich eine Situation, in der das Schöne sowohl von der Angebots- wie von der Bedarfsseite her auf die philosophische Tagesordnung gebracht wird. Auf der einen Seite steht die Wolffische Philosophie mit ihrem Universalitätsan-
Inkonsistenzen und Problemen , vorzugsweise unl"sbaren Problemen , im tradierten Gedankengut" , während Selektion und Stabilisierung auch durch exogenen Problemlösungsbedarf angeleitet werden. Luhmanns Konzeption des Verhältnisses von Sozialstruktur und Semantik unterscheidet sich von früheren Basis-Überbau-Konzeptionen wesentlich dadurch, daß er dem Bereich der Semantik viel höhere Selbständigkeit zutraut, bis zur 'autopoietischen ' Abkoppelung und Ausdifferenzierung von Subsystemen im Zuge des Differenzierungsprozesses. 1 Johann Christoph Gonsched , Versuch einer critischen Dichtkunst, Nachdruck der 4 . Aufl. von 1751, Darmstadt 1965, S. 123 f. - Georg Friedrich Meier, Beurtheilung der Gottschedischen Dicht· kunst , Halle 1747 (Neudruck Hildesheim/New York 1973), nimmt seinerseits im Sinne der ' Neuen' Stellung: Zwar gebe es Schönheiten und Häßlichkeiten, "die auf nothwendigen und unveränderlichen Gesetzen beruhen• , aber auch solche, "die auf veränderlichen und willkührlichen Gesetzen beruhen", ja, es "können zwey Leute eine und dieselbe Sache beurtheilen [ „. ] dem ersten gefällt die Sache, dem andern nicht, und sie haben beyde Recht. • (S. 79f., Hervorhebung K. E.)
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spruch sozusagen auf dem Sprung, um auch dieses Terrain zu bestellen; auf der anderen Seite aber ist tatsächlich ein Problem entstanden, für das eine Lösung gesucht wird: Die Frage nach Universalität oder Kontingenz des 'Schönen' 8 , nach dem 'guten' Geschmack unter einer Pluralität von 'Geschmäckern', schuf einen Reflexions- und Legitimationsbedarf, der am ehesten mittels philosophischer 'Ästhetik' befriedigt werden konnte. Sieht man vom Inhaltlichen und Persönlichen ab, so ist der Streit zwischen Gottsched und den Schweizern ein Krisensymptom. Die Dichtkunst hat ihre Selbstverständlichkeit verloren, und damit ist sie theoriebedürftig geworden. 9 Das, so scheint mir, ist die Herausforderung, der sich Alexander Gottlieb Baumgarten gegenübersieht und die er, obwohl in der Grundintention gar nicht so weit von Gottsched entfernt, viel gründlicher annimmt. Baumgarten knüpft durchaus an bei der Vorstellung einer nach 'Zahl, Maß und Gewicht' geordneten Welt. Aber er konstituiert 'Schönheit' als Gegenstandsbereich einer eigenen Art von Erkenntnis (cognitio sensitiva oder pulchra) , nicht etwa, wie Gottsched, als Hilfsmittel zur Veranschaulichung einer schon durch die 'oberen' Seelenkräfte ermittelten Wahrheit. Ziel der Ästhetik sei die „perfectio cognitionis sensitivae" (Aesth. 14). Die „cognitio sive repraesentatio sensitiva" führt auf eine eigene „veritas aesthetica" 1°. Ähnlich spricht Meier von einer „cognitio pulchra, aesthetica". Von der späteren Genie-Ästhetik ist das aber noch weit entfernt. Baumgarten beziehungsweise Meier bleiben im Kontext der zeitgenössischen Lehre von den Erkenntniskräften. Ästhetische Erkenntnis ist 'klare' , doch ' verworrene' 'Erkenntnis ('cognitio clara et indistincta' oder 'confusa'), insofern also durchaus noch eine Erkenntnis minderen Grades; denn auch für Baumgarten bleibt selbstverständlich: „Hinc obscuritas minor, claritas maior cognitionis gradus est et eandem ob rationem confusio minor seu inferior, distinctio maior seu superior. " 11 Die ' unteren Seelenkräfte' werden zwar aufgewertet, sollen aber zugleich durch 'Ästhetik' in eine Disziplin genommen werden, deren Funktion der der Logik für die oberen Seelenkräfte analog ist. Die Logik ist nach Baumgartens Ansicht nur für die 'deutliche' Erkenntnis , also für den Verstand zuständig. Ästhetik hingegen für „die Gesetze der sinnlichen und lebhaften Erkenntnis" 12 • Aber nun ist nicht mehr in Wolffischer Tradition vom unteren „Teil des Erkenntnisvermö-
8 Auch sie hat natürlich Voraussetzungen in der poetischen und sozialen Entwicklung, aber ich breche den Regreß an dieser Stelle ab. ln der deutschsprachigen Diskussion entzündet sich der Streit vor allem am Paradigma Milton. 9 1768, also schon aus einer gewissen Distanz, unterscheidet Friedrich Just Riede! nur noch die ' aristotelische', die 'baumgartensche' und die 'homesche' Methode der Poetik: .Der Griechische Kunstlehrer nimmt seine Gesetze aus dem Werke des Meisters; der Deutsche aus der Definition; und der Brittische aus der Empfindung. ~ Friedrich Just Riede!, Über das Publicum, Jena 1768, S. 9. Damit sind die kontroversen Positionen der dreißiger und vierziger Jahre schon eingeebnet. Die Bemilhungen Gottscheds und der Schweizer gelten nur noch als Varianten der ' baumgartenschen' Methode. Vgl. besonders Wilhelm Große, Studien zu Klopstocks Poetik, München 1977, s. 29ff. 10 So der Titel von Abschnitt 27 der •Aesthetica '. 11 Baumgarten, Texte zur Grundlegung (wie Anm. 3), Metaph. 520. 12 Philosophischer Briefe zweites Schreiben, in: Baumgarten, Texte zur Grundlegung , S. 69.
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gens" die Rede, sondern von einem selbständigen „unteren Erkenntnisvermögen" . 13 Wenn die 'cognitio sensitiva' aber nun als eigenes selbständiges Erkenntnisvermögen gilt- was ist dann der spezifische Gegenstand dieser 'cognitio'? Der spezifische Gegenstand der 'cognitio sensitiva' entspringt einem Mangel: „nemo philosophorum eo profunditatis descendit, ut intellectu puro perspexisset omnia" (Med. IV). Das ist eine auf den ersten Blick harmlose Anmerkung Baumgartens, fast eine Trivialität: Der vollkommene Verstand ist, wie alle Vollkommenheit, nur Gott eigen. Die Konsequenz aber, die daraus gezogen wird, ist keineswegs trivial: Da die oberen Erkenntniskräfte begrenzt sind und niemals 'omnia', das Ganze, distinkt erfassen können, muß das verbleibende Nichtanalysierbare einer anderen Erkenntniskraft, eben der 'cognitio sensitiva', überantwortet werden. Die Seele als "vis repraesentativa universi pro posito corporis sui" (Met. 513, [s. auch 640)), als Spiegel des Universums, kann nur als Ganze dem Ganzen der Welt korrespondieren, und zwar so, daß sie die Dinge nach Maßgabe der 'Stellung' des Körpers mehr oder weniger 'deutlich' erkennt (vgl. auch Leibniz Monadologie 56f. und 63). Entsprechend ist vorgeschlagen worden, die immer noch pejorativ konnotierte Bezeichnung der 'verworrenen' Erkenntnis adäquater zu paraphrasieren als „komplexe" Erkenntnis der "Erscheinungen [„ .] in ihrer Totalität" 14, als „ Vergegenwärtigung des Ganzen in seiner Fülle" .' 5 Nehmen wir etwas Abstand: Die Bestimmungsleistungen der Ratio werden offenbar als begrenzt angesehen. Das wäre kein Problem, wenn wir uns in einem theologischen Diskurs befänden: Es käme dann eben noch die Offenbarung hinzu, und die Welt wäre damit wieder komplett. Im philosophischen Diskurs aber ergibt sich das Problem, daß mit der Einsicht in die Begrenztheit der Ratio plötzlich zwei Welten entstehen, eine begrenzt-bestimmte und eine zweite, die unbestimmt und unbegrenzt, offen ist und grundsätzlich das 'Universum' , das 'Ganze' oder die 'Totalität' umfaßt. Für Baumgarten ist diese Entgrenzung noch aufgefangen durch den Begriff der Schönheit, das heißt der "perfectio phaenomenon" als des eigentlichen Gegenstandes der sensitiven Erkenntnis. Auch die unbegrenzte Welt ist geordnete Welt, mag deren Ordnung auch nicht distinkt wahrgenommen werden . Gleichwohl ist das ein gefährliches Unternehmen. Erklärt man diese zweite Welt zum Gegenstand einer selbständigen 'cognitio confusa', dann ist grundsätzlich auch dem Aberglauben, der Schwärmerei, dem Tollhaus die Tür geöffnet. Kant: „Deutlichkeit der Begriffe vertreibt die Schwärmerey; hinter Verworrenen Begriffen versteken sich Theosophen. Goldmacher, Mystiker, Initiaten in geheimen Gesellschaften . " 16 Und auch Baumgarten selbst kennt natürlich die-
Hans Rudolf Schweizer, Vorwort zu: Baumgarten, Texte zur Grundlegung , S. XII. Ernst Cassirer, Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, S. 467. Ursula Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972, S. 88. 16 Kant's gesammelte Schriften, bg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften , Bd. 15, S. 669. (Entwürfe zu einem Kolleg über Anthropologie), zit. nach Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung, in: Aufklärung und Haskala, Heidelberg 1990, S. 67-100, hier S. 72. 13
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sen Einwand: „Confusio mater erroris." (Aesth. 7) Ebendeshalb hält er eine Ästhetik für notwendig, eine Vernunftlehre der unteren Erkenntniskräfte. „Es wird nicht das verworrene Denken empfohlen, sondern es geht darum, die Erkenntnis überhaupt zu verbessern, soweit ihr notwendigerweise ein Rest verworrenen Denkens anhaftet. " 17 (Aesth. 7) Es hat keinen Sinn, die „Facultates inferiores" zu unterdrücken, sondern man muß sie - von den 'superiores' her! - regieren: „Imperium in facultates inferiores poscitur, non tyrannis." (Aesth. 12) Eine Art ästhetischer 'Polizey' ermittelt die 'falsitas aesthetica' (Aesth. 445-477) und schließt sie aus. Manches Argumentationsdetail Baumgartens kann zwar als frühe Anerkennung des ' Irrationalen' interpretiert werden. Die explizite Grundintention aber ist nicht so sehr eine Apologie der 'sensitiven' Erkenntnis, sondern ein Versuch, diese Erkenntnis als nun einmal existierend anzuerkennen und sogleich zu disziplinieren und unschädlich zu machen. Das begründet das merkwürdige Doppelgesicht der baumgartenschen Ästhetik; denn wenn erst einmal die Begrenztheit der Vernunfterkenntnis konstatiert wird, das 'Ganze' als Gegenstand eines eigenen Erkenntnisvermögens gilt und dann doch wieder wenigstens 'vernunftanalog' diszipliniert werden soll, entsteht ein widersprüchlicher Komplex , der als ungelöstes Problem seine eigene Dynamik entfaltet. Etwas anders manifestiert sich die coupierte Entgrenzung beim BaumgartenSchüler Georg Friedrich Meier. Er lenkt immer wieder in alte rhetorische Funktionsbestimmungen ein und siebt ähnlich wie schon Thomasius einen wichtigen „Nutzen" der Schönheit darin, „daß sie uns in den Stand setzt, die Wahrheiten, die wir aus den höhern Wissenschaften gelernt haben, auf eine reitzende und angenehme Art vorzutragen [ ... ) Die allermeisten Menschen können ohne sinnliche Bilder nichts begreifen, wenigstens finden sie an der nackenden Wahrheit kein Vergnügen. " 18 Umso bemerkenswerter ist, daß Meier schon 1744 auf eine andere, von Baumgarten nicht berücksichtigte, Eigentümlichkeit der 'sensitiven Erkenntnis' stößt und eine Erklärung versucht. Er ermittelt den Grund, „warum man mit so vielen Vergnügen eine Tragoedie, einen traurigen Roman, oder eine andere traurige Begebenheit, lesen und anhören kan" und weshalb das „süsser und empfindlicher ist, als manchmal ein reines Vergnügen seyn kan." Die traditionelle Antwort würde mit Kategorien der Rhetorik ('movere'), der rationalen Erkenntnis und der poetischen Gerechtigkeit operieren, etwa: Weil wir auf sinnlich-bewegende Weise etwas über die Folgen einer fehlerhaften Handlung erfahren und/oder Genugtuung über die Bestrafung des Lasters empfinden. Etwas
17 "non commendatur confusio, sed cognitio emendatur, quatenus illi necessario admixtum est aliquid confusionis. • 18 Meier, Anfangsgründe l (wie Anm. 3), S. 22 . Vgl. Thomasius: Poesie habe ihren "Nutzen• um der "Schwachen• willen, welche die" Wahrheiten eher vertragen können, wenn sie in allerhand Erfindungen und Gedichte gleichsam eingehüllet sein, als wenn sie nacket und bloß ihnen vor die Augen geleget werden." Höchstnötige Cautelen für einen Studiosus juris (1713), nach: Fritz Brüg~.emann (Hg.), Aus der Frühzeit der deutschen Aufldärung, Neudruck Darmstadt 1966, S. 123. Uberdies sind Meiers Ausführungen in das Geselligkeit-Programm der Jahrhundertmitte eingebunden, das auch den Gelehrten von Pedanterie befreien und seinen "Geist beugsamer, gelenker und reitzender" machen will (S. 25), so daß die Wahrheitsfrage, von der Baumgarten geleitet wird, von anderen Funktionsbestimmungen fast zugedeckt wird.
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später könnte man mit Lessing von 'Mitleiden' oder mit Mendelssohn von 'vermischten Empfindungen' sprechen. Meiers Erklärung lautet anders: Die Seele empfinde "in den Gemütsbewegungen", welcher Art sie auch sein mögen, „die Stärcke ihrer Kräfte, das ist ihre Vollkommenheit". Die 'traurigen' Gegenstände sind also nur Anlaß, damit ein reflexives Vermögen der Selbstwahrnehmung zum Innewerden der eigenen Vollkommenheit, damit aber auch, Leibnizisch gedacht, des Universums, führt. Bedingung dafür sei allerdings die „Vorstellung unserer Sicherheit, und Entfernung von dem Uebel oder Unglück" . 19 Das aber ist eine Erklärungsfigur, die vom Bereich der 'süßen Traurigkeit' schon hinüberweist zu dem des 'Erhabenen' oder dessen Vorstufe, des 'angenehmen Grauens'. Ich verweise dazu generell auf die grundlegende Arbeit von Carsten Zelle. Nicht nur unter dem Titel des •Schönen' macht sich Entgrenzung geltend, wird Entgrenzung dann sogleich wieder eingezäunt. Es scheint sich vielmehr um eine Grundfigur im Denken der Zeit zu handeln, die sich nur in unterschiedlichen Codierungen oder Gegenstandsbereichen unterschiedlich manifestiert. Die Entdeckung der 'Landschaft' als ästhetisches Phänomen zeigt die ganze Komplexität solcher Entgrenzung und Einzäunung. Man muß sich in der zentralbeheizten Welt immer wieder vergegenwärtigen: 'Natur' ist auch im 18. Jahrhundert im praktischen Leben noch etwas Widriges, dem man mit viel Mühe den Lebensunterhalt abringt und das ansonsten aus dichten Wäldern besteht, in denen Bären und Wölfe hausen. Nur als eingehegter Garten oder in der Zurichtung zur 'amönen' Park-Landschaft ist sie erbaulich. Hier war Natur auf begreifliches Maß gebracht, und hier konnte dann die Vorstellung vom 'Naturschönen' anknüpfen. Als Barthold Heinrich Brockes jedoch seinen Blick von Blümchen und Käferchen nach oben richtete, „Ins unerforschte Meer des holen Luft=Raums", da "entsatzte" sich sein Geist „Ob der unendlichen, unmäßig=tieffen Höle", ja, „Verzweiflung drohete der gantz verwirrten Brust" .20 Sie droht nur, denn im Gedanken an Gott kann auch das Entsetzen aufgehoben werden. Bei weiteren Blicken über den Gartenzaun wird Brockes sich und seine Leser immer wieder mit der 'physikotheologischen Wendung' beruhigen (Muster: Grausam ist die Macht der Fluten, aber das Wasser bietet auch großen Nutzen). Im Laufe des 18. Jahrhunderts aber gewinnt die Landschaft Weite, und gerade ihre bedrohlichen Aspekte werden als besonderer Kitzel empfunden. Das Furchterregende oder Unermeßliche wird zur Quelle eines Schaudems, das genossen werden kann, ohne daß noch irgendein Nutzen hinzugedacht zu werden braucht. Nicht daß es solchen Schauder in praxi nicht schon früher gegeben hätte. Seit den Tagen Senecas hält die Bühne einiges an Grausamkeiten bereit, und die Wirklichkeit bot das 'Schauspiel' der groß inszenierten öffentlichen Hinrichtung. Neu aber ist, daß der Schauder auch in der Natur gesucht wurde und daß er schließlich ohne moral-
19 Georg Friedrich Meier, Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt, Halle 1744, Nachdruck Frankfurt/M. 1971, S. 124f. 20 H[e]r(r]n B[arthold) H[einrich] Brockes [ ... ]Irdisches Vergnügen in Gott[ ... ]. Erster Theil, Hamburg 1J721, Nachdruck der Ausgabe von 1737, Bern 1970, S. 3, .Das Firmament" . Ausführliche Behandlung von Brockes und der für seine dichterischen Argumentationen typischen 'physikotheologischen Wendung' bei Zelle, Angenehmes Grauen (wie Anm . 2).
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didaktische oder physikotheologische Wendung (denn der gelegentliche Hinweis auf Gottes 'Macht' ist von anderer Art als der auf Gottes nutzenstiftende 'Weisheit') unter dem Namen des ' Erhabenen' 21 auch in die Ästhetik Eingang fand . Dies allerdings unter Bedingungen: Die Sicherheit des Betrachters muß gewährleistet sein, sei es, daß er den Sturm vom festen Land aus sieht, sei es, daß der Sturm nur eine künstlerische Nachahmung ist. Es drängt sich eine besondere Figuration hervor, die man bildlich als 'Abgrund mit Geländer' bezeichnen könnte. Rousseau genießt die Schlucht: "Man hat die Straße mit einem Geländer versehen, um Unheil zu verhüten. So konnte ich denn nach Herzenslust hinunterschauen und schwindlig werden; denn das Spaßige an meiner Vorliebe für abschüssige Stellen ist, daß sie mir Schwindel erregen, was ich aber gern habe, wenn ich mich nur in der rechten Sicherheit befinde. " 22 Schillers Spaziergänger, vielleicht von Rousseau inspiriert, weiß sich in 'Schwindel' und 'Schauder' zwischen zwei 'Ewigkeiten' vom 'geländerten Steig' geschützt: 23 Endlos unter mir seh ich den Äther, über mir endlos, Blicke mit Schwindel.n hinauf, blicke mit Schaudern hinab. Aber zwischen der ewigen Höh und der ewigen Tiefe Trägt ein geländerter Steig sicher den Wandrer dahin.
Das 'Geländer' ist unabdingbare Voraussetzung. „tua sine parte pericli" heißt es an der topischen Lukrez-Stelle, die den 'Schiffbruch mit Zuschauer' erwähnt. 24 Damit aber sind wir auf anderem Weg wieder zur Zweiteilung der Welt gekommen. Die 'höheren' Erkenntniskräfte schaffen die Ordnung, die Sicherheit verbürgt, das 'Geländer' ; die 'unteren' aber werden durch die Wahrnehmung des Entgrenzten in eine unspezifische Erregung versetzt. Unspezifisch: Denn das Firmament, die Nacht, der Abgrund, das Gebirge, die unendliche Fläche oder das 21 Sammelband, der unter dem Eindruck der Reaktivierung des Begriffs im 'postmodernen' Diskurs einen Überblick gibt: Christine Pries (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Wei.nheim 1989. 22 Jean Jacques Rousseau, Die Bekenntnisse, übers. v. Ursula Frentzel-Wagner, Baden-Baden 1948. 23 Schiller, Der Spaziergang, V. 33 - 36. - Schiller, 'Vom Erhabenen', verwendet das Bild auch als Beispiel bloß . physischer Sicherheit", der er die " moralische Sicherheit" hinzufügt: . Der Begriff der Sicherheit kann[ ...] nicht darauf eingeschränkt werden, daß man sich der Gefahr physisch entzogen weiß, wie z. B. wenn man von einem hoben und wohlbefestigten Geländer in eine große Tiefe oder von einer Anhöhe auf die stürmische See hinabsieh!. • Die Sicherheit "vor dem Schicksal, vor der allgegenwärtigen Macht der Gottheit, vor schmerzhaften Krankheiten , vor empfindlichen Verlusten, vor dem Tode" können wir nur .durch das Bewußtsein unserer Unschuld oder durch den Gedanken der Unzerstörbarkeit unsers Wesens" gewinnen. Über diesen Schritt kommt er zum 'Erhabenen', dessen Vorstellung auf der Basis der 'idealischen Sicherheit' möglich wird. (Schiller, Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch, Bd. 5, München 21960, S. 489-514, hier: S. 497f.) 24 De rerum natura , Beginn des zweiten Buches. - Vgl. auch Hans Blumenberg , Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt/M. 1979. Lukrez nennt noch eine zweite exemplarische Situation, die Blumenberg jedoch nicht behandelt: den Krieg mit Zuschauer. Prominentestes Beispiel Goethe auf der Campagne in Frankreich - wo der Krieg dann freilich auch dem Zuschauer übel mitspielt - und bei der Belagerung von Mainz. Es wäre untersuchenswert , wie weit die heute seltsam anmutende Einrichtung des 'Schlachtenbummlers' im 18. Jahrhundert auf die Grundfigur des Abgrundes mit Geländer zurückzuführen ist.
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bedrohliche Tosen des Meeres werden ja allen theoretischen Äußerungen zufolge2s letztlich immer nur als Auslöser für ein Gefühl erfahren, das sich auf Unbeherrschbarkeit oder Unenneßlichkeit schlechthin bezieht. Die klassische Begründung für die ästhetische Lust an der Angst ging von einem sehr lichtvollen Aufklärungsbegriff aus : „ Was aus dem Leben vertrieben war, rettete sich in die Literatur" .26 Doch auch der Hinweis auf die Kehrseite der 'Mündigkeit' , auf die starke Verinnerlichung von Strafsanktionen im Erziehungsprozeß, die erst eine 'innengeleitete' Moral ermögliche27 , kann zwar manchen psychopathologischen Zug des Zeitalters erklären, doch greift sie für das grundlegende Phänomen der unspezifischen Erregung durch Entgrenzung wohl noch zu kurz. Ferner die freie Natur als Topos der Zivilisationskritik - vielleicht soweit sie 'amön' ist. Aber warum ausgerechnet Abgründe, Gewitter, mit Schwindelgefühl und Grauen? (Und woher kommt das Geländer, wenn nicht aus der Zivilisation?) Man könnte auch auf den Funktionsverlust oder zumindest die Funktionsschwäche von Religion verweisen, die bestimmte Abschließungsleistungen nicht mehr zuverlässig erbringen kann und die Individuen damit in doppeltem Sinn 'ins Freie' setzt; es hat eine gewisse Folgerichtigkeit, daß im letzten Jahrhundertdrittel das religiöse Denken auf Pantheismus zuläuft. Ebenso ließe sich aber umgekehrt argumentieren, daß die Funktionsschwäche der Religion eine Folge der Entgrenzungstendenzen sei. - Woher kommt die eigentümliche Zweiteilung der Welt in eine begrenzte und eine unbegrenzte? Von der Soziologie wird als zusammenfassendes Deutungskonzept für die neuzeitlichen Veränderungen der Sozialstruktur das der funktionalen Differenzierung angeboten.28 Das ist so allgemein, daß es dringend der Konkretisierung auf die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts bedarf. Hier finden wir nun tatsächlich unter dem gleichfalls sehr zusammenfassenden Begriff des (Neu-)'Bürgertums' eine sehr bunt zusammengewürfelte Gruppe von Funktionsträgern unterschiedlicher Art. Sie sind alle in irgendeiner Weise gesellschaftlich relevant oder schätzen sich so ein (in Abgrenzung zum 'Pöbel ', den Bauern, Dienstboten, kleinen Handwerkern und so weiter), haben aber keinen klar definierten Standort im ständischen System, können sich solche Standorte nur sozusagen leihweise aneig-
2s Als Beispiel nur Kant, Kritik der Urteilskraft , 23, lapidar: .zum Schönen der Natur müssen wir einen Grund außer uns suchen, zum Erhabenen aber bloß in uns. • 26 Richard Alewyn, Die Lust an der Angst, 1974, S. 319, mit Bezug auf den Schauerroman: . der romantische Abenteuerroman ein Surrogat für die im Leben verlorene lnsekurität". 27 Vgl. vor allem Begemann, Wild, ferner Thomas Kempf, Aufklärung als Disziplinierung, München 1990, und Heinz D . Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/ M. und Leipzig 1991 . 28 Karl Otto Hondrich, Die andere Seite sozialer Differenzierung, in: Hans Haferkamp und Michael Schmid (Hg .) , Sinn, Kommun.ikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/M., S. 275 - 303, hat mit erwägenswerten Gründen bezweifelt, daß die drei Stadien des Primats von segmentärer , stratifikatorischer und funktionaler Differenzierung die tatsächlichen sozialen Konfliktlinien zwischen Personen beschreiben. Aber auch er gesteht zu, daß die funktionale Differenzierung für intrapersonale Konflikte von besonderer Bedeutung ist (S. 289 f. ).
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nen, indem sie sich am Adel oder am Patriziat orientieren. Erst im Laufe des Jahrhunderts werden sie allmählich zusammen mit Teilen des Adels unter der neuen Integrations-Fahne der ' Bildung' zu den 'gebildeten Ständen' zusammenwachsen. Niklas Luhmann hat die Zuspitzung der funktionalen Differenzierung auf die Individuen charakterisiert als eine Umstellung von Individualität durch Inklusion auf Individualität durch Exklusion. 29 Das Individuum wird nicht mehr durch volle Zugehörigkeit zu einer geschlossenen Gruppe definiert, sondern gehört mehreren Funktionskreisen (Subsystemen) an, die womöglich auch noch schlecht aufeinander abgestimmt sind. Es gerät damit in Distanz zu den Rollen , die ihm jeweils auferlegt werden, erlebt Gesellschaft als kontingent, wird gleichsam ins Freie gesetzt und definiert sich als von ihren Rollen ablösbare Person, als Individualität im modernen Sinn. Die Detailgeschichte dieses Prozesses mit seinen regionalen und sozialen Ungleichzeitigkeiten, die Folgen und Folgeprobleme und die versuchten Lösungsvarianten können hier nicht einmal angedeutet werden. Nur fürs 18. Jahrhundert seien einige wenige Stichworte aufgenommen und mit der Problematik skizzenhaft verknüpft. Als grundlegende Kontrastfolie mag dabei der Gedanke dienen, daß Individualität, die sich durch Inklusion definiert, immer einen berechenbaren, normativ strukturierten Handlungsraum vorfindet und dazu noch eine verläßliche Jenseitsverwaltung, die tendentiell a!Je - und möglicherweise sehr große - Restprobleme absorbiert, wenn nur die diesseitigen Normen eingehalten werden. - Prekär wird die Situation, wenn man die Frage stellen muß: Welche Normen eigentlich, und wie sind sie zu begründen? Diese Frage ist schon vorbereitet mit der Konfessionalisierung, mit der Religion von einer kulturellen Selbstverständlichkeit zum Bekenntnis wird, freilich nur für die wenigen Menschen, die überhaupt die freie Wahl einer Konfession hatten. Sie verschärft sich mit der Lockerung der ständischen Ordnung und wird unter der aufklärerischen Parole des 'Selbstdenkens' geradezu unerträglich; denn wenn man die Parole konsequent befolgt, läßt sie keinerlei Entlastung durch Selbstverständlichkeiten mehr zu. Die Skrupel des Erbgrafen von Wied-Neuwied30 erscheinen nur lächerlich aus der Perspektive eines Lebens, das sich doch wieder Entlastung bei Routinen holt und damit auf ein Stück Mündigkeit verzichtet. Nimmt man jedoch den Gedanken ernst, daß jede unserer Handlungen nach Herkunft und Folgen mit allem anderen kausal verknüpft ist, dann nimmt die Welt einen Grad von Komplexität an, der Handeln unmöglich macht. Der Horizont weitet sich zum ' Ganzen', aber das ' Ganze' ist kein Horizont. Nur limitiertes Selbstdenken ist überhaupt durchführbar. So ist die Geschichte der Aufklärungsprogrammatik zugleich eine Geschichte solcher Limitationen: Selbstbindungen der Individualität, die nur auf dem Wege solcher Selbstbindungen Halt findet , zugleich auch immer wieder die Kontingenz solcher Bindungen erfährt oder durchschaut und unversehens ins Offene gerät. Die am weitesten
29 Niklas Luhmann , Individuum, Individualität, Individualismus, in: N. Luhmann, Sozialstruktur und Semantik, Bel. 3, Frankfurt/ M . 1989, S. 149-258. 30 Vgl. den Beitrag von Werner Troßbach in diesem Heft.
Abgrund mit Geländer
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vorgeschobene Bastion dieser Problematik findet sich im Sturm und Drang, wo sie im poetischen Text bis zur Katastrophe geführt werden kann. (Tragödienhelden dürfen sich über den Kompromiß der 'goldenen Mitte' hinwegsetzen, weil sie ohnedies Todeskandidaten sind.) Das geht hin bis zu den Liebesgeschichten im Werk des jungen Goethe, zu den 'wankelmütigen' Weislingen, Clavigo, Fernando, deren Schwanken zwischen Bindungs-Bedürfnis und Kontingenz-Überdruß sie und die Ihren zugrunde richtet oder zum Exzeß der „Stella"-Utopie führt, bis hin zu Werther, der vom 'taedium vitae' erfaßt wird und dem das All schließlich nichts ist als ein „ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer" (Brief vom 18. August). Sonst läuft das milder ab. Dafür leidet man dann an Melancholie und Hypochondrie, weil die sichere Welt allemal als eingeschränkt, zufällig und vergänglich empfunden wird, die entgrenzte aber als unerträglich. Der Begriff des 'Schönen ' kann da nur scheinbar Linderung schaffen. Er erweitert den Raum zugelassener Wahrnehmung, tut dies aber in geregelter Form: Das reine 'Schöne' , ohne 'Reiz', mit interesselosem Wohlgefallen angeschaut, als „Form des Gegenstandes, die in der Begrenzung besteht" 31 , ist zwar nicht gefährlich, aber eben deshalb auch nicht erregend, sondern - langweilig. Die strikte Trennung des 'Schönen' und des ' Erhabenen' mag transzendental konsequent und in Hinblick auf Natur auch brauchbar sein; für das Kunstschöne bleibt sie, poetisch und empirisch gesehen, ein Königsberger Schreibtischprodukt. 32 Das „Schöne" , so meinte dann Rilke in der ersten Duineser Elegie, sei „nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen". Weniger pointiert: Nur wenn, in welcher Form und welchem Ausmaß auch immer, das 'Schöne' auch erregende Durchblicke aufs Unbegrenzte gewährt: auf Schreckliches, Geheimnisvolles, Unausgesprochenes, Widervernünftiges, Häßliches, Komisches, Disproportion von Schuld und Leiden oder auch, wie in 'Iphigenie', das Gelingen wider alle Wahrscheinlichkeit, wird Kontingenz momenthaft zerbrochen. Daher der Reiz des 'angenehmen Grauens' : Hier erfährt man das Unbegrenzte, und zwar in einer Codierung, die den vitalen Sicherheitsinteressen nicht zuwiderläuft. Und hier kann Kunst sogar als Bändigung des 'Ungeheuers' , als Selbstaffirmation des Vernunftwesens in einer Welt der Vergänglichkeit und Zerstörung wahrgenommen werden. Es ist eine riskante Situation, und sie reicht weit über das 18. Jahrhundert hinaus. Man kann das Geländer zur Mauer ausbauen, die den Blick versperrt, und wird dann zum Philister. Oder man baut das Geländer ab und verliert auch den Boden unter den Füßen. Das dürfte einer der Gründe sein, weshalb Dichtung,
Kritik der Urteilskraft, 23. Bezeichnend ist die unterschiedliche Akzentsetzung beim Philosophen und beim praktizierenden Poeten: Die . Analytik des Erhabenen" steht in der Kritik der Urteilskraft wie ein erratischer Block: Das ' Erhabene' sprengt auch die Ästhetik. Für Schiller hingegen bleibt das Schöne eine utopische Kategorie, die als Vergangenes, Zukünftiges, Ideales, in der gegenwärtig-wirklichen Welt aber nur als 'erhaben' der Zerstörung Anheimfallendes einen Platz hat. In der Schrift Über das Erhabene (wie Anm. 23, S. 792 - 808): "Das Schöne macht sich bloß verdient um den Menschen , das Erhabene um den reinen Dämon in ihm". (S. 806). 31
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Musik und bildende Kunst für die nun anbrechende Ära des Bildungsbürgertums so große Bedeutung erlangen und ihre spezifisch moderne Gestalt und gesellschaftliche Funktion erhalten. Denn hier ist es möglich, das Erregungspotential zu pflegen, das auf Entgrenztes verweist, ohne daß es außer Kontrolle gerät. Der Abgrund schafft jene unspezifische Erregung, die dem Individuum die Ahnung des 'Ganzen' als des einzig adäquaten Gegenübers seines 'reinen Dämons' , seiner einmaligen Individualität vermittelt; die ästhetische Bändigung aber ermöglicht es, trotzdem als Alltagswesen „in dieser uns einmal zugewiesenen Sphäre des Handelns"33 zu überleben. Auf Caspar David Friedrichs Bild „Der Wanderer über dem Nebelmeer" (um 1818) gibt es dann zwar kein Geländer mehr, aber das Bild hat natürlich einen Rahmen.
33 s . 807.
ABHANDLUNGEN
DIRK NIEFANGER
Melancholie und ästhetischer Genuß Landschaft in den „Reisen eines Deutschen in Italien" von Karl Philipp Moritz
Als 1792 das ltalienreisebuch1 von Moritz erschien, war dieses Buch in gewisser Weise ein Novum. Denn es "begründet die 'Italienische Reise' als Genre der schönen Literatur" .2 Hatten Archenholtz und andere Italienreisende noch genaue Beschreibungen geliefert, Aufzählungen und Informationen gegeben oder ihre Erlebnisse in pedantisch geführte Diarien eingetragen, lag hier nun eine literarische Kunstform vor. Moritz selbst dachte schon in Rom daran, sein ltalienbuch anders zu gestalten. Wenn auch die 'Reisen eines Deutschen in Italien' von diesem Konzept später im Detail zum Teil abwichen, so zeigt der im folgenden zitierte Brief an seinen Verleger Vieweg doch, wie wichtig Moritz Form und Gestalt seines Buches, wie unwichtig ihm die bloße Beschreibung des Faktischen ohne literarische Ausgestaltung war. Mein Buch über Italien muß nothwendig etwas Gründliches und dabei Unterhaltendes seyn, wenn es sich unter den vielen Büchern, die man über Italien hat, vorteilhaft auszeichnen soll. Dieß hat mich auf die Gedanken gebracht, meine Reiseroute durch Italien gleichsam nur zur Unterlage, oder zum Leitfaden zu gebrauchen, worauf ich meine sämtlichen Bemerkungen [„ .] reihen könnte, um auf diese Weise eine An von täuschender Komposition hervorzubringen.3
Moritz' Italienbuch verfährt wie jedes autobiographische Werk exemplarisch:
1 Oie ' Reisen eines Deutschen in Italien' sind in der umfangreichen Forschung zu Karl Philipp Moritz etwas vernachlässigt worden . Herauszuheben sind drei Beiträge, die eines der wichtigsten Werke der deutschen ltalienliteratur erstmals eingehender analysieren: Stefan Oswald, Italienbilder. Beiträge zur Wandlung der deutschen Italienauffassung 1770-1840, Heidelberg 1985. - Claudia Kestenholz, Die Sicht der Dinge. Metaphorische Visualität und Subjektivitätsideal im Werk von Karl Philipp Moritz, München 1987. - Alfred Behrmann, Karl Philipp Moritz' Reisen eines Deutschen in Italien in dm Jahren 1786 bis 1788, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 107 (1988), 161-190. Sein Reisebuch steht im Kontext weiterer wichtiger Italienpublikationen, wie seiner 'Götterlehre' , seiner 'Italiänischen Sprachlehre für Damen', seiner Zeitschrift 'Italien und Deutschland' (Zusammen mit A.Hirt) und 'AN00YI:A oder Roms Altenhümer'. 2 Oswald, Italienbilder (wie Anm. 1), 29. Zum Genre der literarischen Italienreise und ihrer Tradition vgl. Walter Erhart, Traumbilder, Glücksritter, Bildungslegenden. Europäische Italieoreisen im 19.Jahrhundert , in: arcadia 26 (1991) 265-289. 3 Brief von Moritz an Vieweg vom 3.2. 1787, zitiert nach: Dorothea Kuhn (Hg .) , Auch ich in Arkadien. Kunstreisen nach Italien 1600-1800, Marbach 31986, 126.
Auflclärung 811
Cl Felix Meiner Verlag, 1994, ISSN 0178-7128
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es zeigt, was gemeint , gedacht oder gewollt wird, nicht unbedingt aber, was geschehen ist. Wenn auch sein impliziter Authentizitätsanspruch aufgrund seiner dezidiert empirischen Position im Sinne der Eifahrungsseelenkunde oft erheblich ist, so ist seine Reisebeschreibung von Italien keineswegs realistisch im Sinne eines dokumentarischen Werkes zu nennen. Moritz stellt immer wieder „the psychological state of the traveller" 4 heraus. „Moritz consciously includes in his prose" - wie Dell 'Orto richtig für die „Reisen eines Deutschen in England" bemerkt, was für die Italienreise aber auch gilt „a recognition of the observer' s subjectivity. " 5
*** Die literarische Kunstform ' Reisebeschreibung ' ist ganz wesentlich - wie jedes erzählende Werk - durch die Darstellung des Handlungsraumes bestimmt. Als ein zentrales Moment dieses Genres kann die sich verändernde Örtlichkeit des Geschehens, die jeweiligen Landschaften und besuchten Städte angesehen werden. Die Funktionen der dargestellten Örtlichkeiten in der Reisebeschreibung überhaupt und speziell in Moritz' 'Reisen eines Deutschen in Italien' sind vielfältig: Der zeitliche Ablauf der Handlung - die Reise - wird als Reiseroute sichtbar. Die Landschaft referiert aber auch auf primär nicht-räumliche Aspekte: Erinnerungen, Assoziationen und Exkurse können durch die Beschreibung der Landschaft legitimiert werden, können aus der Landschaft als Text herausgelesen werden. Psychologische Dispositionen des Betrachters werden in der Darstellung des Sichtbaren deutlich oder können durch das Sichtbare selbst iniziiert werden. Schließlich hat die Landschaftsbeschreibung als Darstellung des Naturschönen auch eine zentrale ästhetische Funktion . Die erste Funktion der Raumdarstellung in Moritz' Reisebeschreibung ist struktureller Natur und läßt das Werk als Reisebeschreibung erst rezipierbar werden. Das Erfassen veränderter Örtlichkeit orientiert sich - zumindest um 1800 noch weitgehend am Tatsächlichen. Interessant erscheinen hier nur die signifikanten Abweichungen. 6 Die anderen Funktionen - Landschaft als Referenzsystem, Landschaft als psychologisches und ästhetisches Wahrnehmungsfeld sind indes für die spezifische Gestaltung des Raumes in Moritz' ltalienbuch relevant. 4 Vincent J. Dell'Orto, Karl Philipp Moritz in England. A Psychological Study of the Traveller, in: Modern Language Notes 91 (1976), 459. s Dell'Orto, Karl Philipp Moritz in England (wie Anm. 4), 459. Wenn nicht besonders vermerkt werden die Teitte von Moritz nach folgender Ausgabe zitiert: Karl Philipp Moritz, Werke, hg. v. Horst Günther, Frankfurt 1981 (Band , Seitenzahl). Die Unterschiede zwischen den beiden Reisebüchern von Moritz, die er auch selbst hervorhebt (vgl. 2,865), sind hinsichtlich der deutlichen Subjektivität des Reisenden nicht gravierend. Zu Unterschieden der beiden Reisebücher vgl. besonders Kestenholz, Die Sicht der Dinge (wie Anm. 1), 85ff. 6 Eine Abweichung von der realisti schen Beschreibung wahrgenommener geographischer Orte scheint etwa vorzuliegen, wenn der Reisende von . den Anhöhen von Loreto" aus jenseits des Meeres . die Küsten von Griechenland ganz deutlich" (2 , 163) zu erkennen meint. Hierzu vgl. auch: Wolfgang Grams, Karl Philipp Moritz. Eine Untersuchung zum Naturbegriff zwischen Aufklärung und Romantik. Opladen 1992, 59.
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Die Funktionen der Landschaftsdarstellungen in der Reisebeschreibung erfordern bestimmte Realisiernngsweisen von Landschaft im Text: In den ' Reisen eines Deutschen in Italien' ist die Darstellung der Landschaft im Kontext zweier verschränkter Diskurse verwirklicht, wobei jeder der beiden Diskurse eine andere Dimension des erfahrenen Raums repräsentiert und je verschiedene Referenzsysteme - Erinnerungen, Assoziationen, der Landschaft inhärente Geschichtlichkeit, kritische Aspekte etc. - inkorporiert. Der erste Diskurs sieht die Landschaft primär als ästhetisches Objekt; der zweite - der psychologische Diskurs - vornehmlich als Spiegel und Erfahrungsraum des wahrnehmenden Subjekts.
/. Erster Beispieltext: Landschaft bei Frascati Die Verbindung der beiden Diskurse soll nun anhand eines ersten paradigmatischen Textes, einer literarischen Landschaftsskizze aus der Nähe von Frascati , gezeigt werden: Des Nachmittags ist mein gewöhnlicher Spaziergang nach der Villa Ludovisi dicht vor der Stadt, wohin ich mit wenigen Schritten aus meiner Wohnung komme.(2, 208) Unmerklich wird in diesem einleitenden Satz ein Gegensatz aufgebaut: 'Häusslichkeit' und 'Natur'. In der 1786 veröffentlichten 'Kinderlogik' stellt Moritz diese Opposition emphatisch ins Zentrum seiner Ausführungen über 'häusliche Glückseligkeit' (3, 469) 7: Welch ein Unterschied zwischen einem Wohnzimmer und der großen Natur! Und doch ist das Wohnzimmer mitten in der großen und offenen Natur so angenehm denn es hat Fenster, wo durch der Anblick der ganzen schönen Natur bloß ans Auge gebracht werden kann, ohne daß unser Gefühl der Unbequemlichkeit eines rauhen Lüftchens ausgesetzt wird - (3, 469) Moritz' Interesse an Natur und Häuslichkeit liegt in der dialektischen Auflösbarkeit dieses Gegensatzpaares. Die synthetische Verbindung von beidem gelingt nur auf der Stufe der Abstraktion, gelingt - wie Moritz sagt - als „Ideenspiel" (3, 469): Wichtig an dem Geborgenheitsgefühl, das sich mit dem „Begriff von Wohnung , Haus oder Obdach" (3,469) verbindet, ist die „Idee von ht'iuslicher Glückseligkeit" (3,469), die mit dem „ungestörten Genuß der schönen Natur" (3,470) verbunden werden soll. Das Grauen der ungeschützt wahrgenommenen Natur kann so durch einen domestizierenden Zugang zum Schönen umgedeutet werden. 8 Das heißt für den oben zitierten konkreten Fall, für den Spaziergang 7 Separat veröffentlicht auch unter dem Titel: Häußliche Glückseeligkeit - Genuß der schönen Natur, in: Karl Philipp Moritz , Schriften zur Ästhetik und Poetik, hg. v. Hans Joachim Schrimpf, Tübingen 1962, 33-35; zum angegebenen Zitat vgl. auch die einschlägigen Stellen aus dem 'Anton Reiser' (etwa: 1, 220 f.). B Vgl. hierzu Kants Unterscheidung des Schönen vom Erhabenen: Immanuel Kant, Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt 1974, Bd. 10, 164 ff. Erwähnenswert ist in diesem Zusammen· hang Wolters Begriff der . kompensatorischen Funktion" des Naturerlebnisses bei Moritz: vgl. Jan Wolter, Ästhetisches Naturerlebnis und Theorie des Schönen bei Karl Philipp Moritz, in; Zeitschrift für Deutsche Philologie 97 (1978) 585 - 616, hier 585 - zur hauslichen Glückseligkeit vgl. 594 f. und 614.
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in der Nähe Frascatis: Der 'gewöhnliche' Spaziergang aus der Wohnung in die Natur hinaus impliziert schon ein weitreichendes ästhetisches Programm. Der wahrgenommene Naturausschnitt muß, um ästhetisch genießbar zu werden, habituell sein. Auch daß es sich hier um einen Spaziergang in die Natur handelt, kann durchaus als erster Hinweis auf ein bevorstehendes ästhetisches Naturerlebnis gewertet werden. Obschon in diesem Fall ein Ziel - die Villa - anvisiert wird, ist dieser, wie jeder Spaziergang nicht im eigentlichen Sinn zweckorientiert. 9 Ziel jedes Spaziergangs ist der Spaziergang selbst und mit ihm der Genuß der erwanderten Räumlichkeit. Der zweite Satz dieser Reisetagebucheintragung bestätigt die oben gehegte Vermutung. Mit „auch von hier" werden Worte benutzt, die vorgängige Erfahrungen bestätigen, die etwas Gewöhnliches bezeichnen. Die im Text folgende Beschreibung einer Aussicht kann als erster Ertrag des Spaziergangs angesehen werden. Der Genuß der landschaftlichen Aussicht scheint - ganz ähnlich wie bei Goethe übrigens 10 - eine erste Stufe ästhetischer Erfahrung zu sein. Auch von hier hat man die Aussicht, auf die Stadt Rom, so wie auf einen großen Teil des alten Latiums und auf das mittelländische Meer. (2, 208)
Mit der Konstatierung einer schönen Aussicht gibt sich Moritz allerdings hier nicht zufrieden. Schritt für Schritt entwickelt er eine andere Seite dieses Landschaftserlebnisses. Vorerst erinnert der im nächsten Satz folgende Rekurs auf die Historizität der Gegend an das Muster einer klassischen Landschaft' 1: Ästhetisch erlebte Natur referiert auf antike Literatur, auf antike Geschichte oder auf den antiken Mythos. Wenn ich diesen Schauplatz der Entstehung Roms betrachte, so steigt die uralte Dichterund Fabelwelt oft vor meinen Blicken auf. (2, 208)
Die Natur wird zum „Schauplatz" antiker Poesie und Geschichtsschreibung, zur Landschaft, deren Sinn in der Beschauung selbst, nicht in ihrer Nützlichkeit liegt. Landschaft als „Schauplatz": das ist die klassische Wahrnehmung der Natur als ein ästhetisches Objekt. Wie deutlich hier die ästhetische Position von Moritz mitschwingt, kann ein Zitat aus der Abhandlung 'Über die bildende Nachahmung des Schönen' belegen: Denn alles, was die Vorwelt erfunden, ist ja in den Umfang der Natur zurücktretend, mit ihr eins geworden, und soll mit ihr vereint, harmonisch auf uns wirken. - - Das Schöne der bildenen Künste[ ... ) will nicht mit ihr in ihren einzelnen Teilen verglichen, sondern 9 Vgl. Kurt Wölfet, Andeutende Materialien zu einer Poetik des Spaziergangs. Von Kafkas Früh· werk zu Goethes ' Werther', in: Theo Elm, Gerd Hemmrich (Hg.}, Zur Geschichtlichkeit der Modeme, FS Ulrich Füllebom, München 1982, S.69-90. 10 Zum Begriff 'Aussicht' im Gegensatz zu 'Landschaft' vgl. Goethes Text 'Zwei Landschaften von Philipp Hackert': Johann Wolfgang Goethe, Werke (Weimarer Ausgabe), hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen v. Bernhard Suphan et al„ Weimar 1787- 1919, Abt.!, Bd.48, 126ff.; zur panoramatischen Sichtweise von Moritz vgl. auch Grams, Karl Philipp Moritz (wie Anm.6), 57ff. 11 Zum hier verwendeten Begriff 'klassische Landschaft' vgl.den Abschnitt ' Klassischer Boden' (2 , 375 f.) .
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in ihrem ganzen Umfange, als zu ihr gehörend, mitgedacht werden und - empfunden sein. (2, 570)
Im Moment des ästhetischen Betrachtens wird die Natur zum Schauplatz , der die "Vorwelt" - Architektur, bildende Kunst, historische Ereignisse - als „zu ihr gehörend" enthält. Erst die kulturellen Referenzen vervollständigen das Landschaftsbild. Der nächste Satz der Frascati-Beschreibung führt zwar einerseits den Gedanken an die imaginäre Referenz der Landschaft weiter, andererseits birgt er aber eine erstaunliche Wende: die Rückkoppelung des ästhetischen Erlebens an die eigene persönliche Erfahrung und Geschichte. Der zweite Diskurs schreibt sich in die Darstellung ein. Es deucbt einem, als ob ein Traum der frühen Kindheit, wo man zuerst die unbekannten Namen dieser Örter und ihre Geschichte hörte, nun in Erfüllung ginge, da man das, womit die junge Einbildungskraft sich so oft beschäftigt hat, nun in der Würklichkeit vor sich sieht. (2, 208)
Die Erinnerung an die 'frühe Kindheit' kann nicht als bloßes Heraufholen früherer Phantasien gewertet werden. Was hier beschrieben wird, ist die Umkehrung des Landschaftserlebnisses des Vorsatzes und damit die reziproke Beleuchtung desselben: dort die Imagination der antiken Geschichte zur Landschaft, hier die Phantasie einer Landschaft zur antiken Geschichte. Der Wahrnehmende - und das ist die Pointe dieser Beschreibungsstufe - sieht „nun in der Würklichkeit" (2, 208) drei Varianten eines Naturbildes: die reale Natur, die tJsthetisch erkbte und die mit der individuell erinnerten verglichene Landschaft. Alle Aspekte des Natureindrucks spiegeln sich gegenseitig. Deutlich wird das im Fortgang der Beschreibung von Frascati: Dichter und Geschichtsschreiber der Vorzeit hier gelesen, wo man den Schauplatz der Ereignisse, die sie schildern, mit allen seinen Merkmalen vor sieb ausgebreitet sieht, versetzen die Seele in eine sanfte melancholische Stimmung, indem sie gleichsam mitleidsvolJ über die Flucht der Zeit und über die hinrollenden Menschenalter trauert. (2, 208)
Jetzt wird nicht mehr daran gedacht, zu gelesenen Autoren der Antike Landschaft zu imaginieren, und auch nicht, zur Landschaft die antike Geschichte zu rekonstruieren, sondern der Text erinnert an Handlungen, die der Reisende selbst an anderen Orten der Reisebeschreibung vollzieht: antike Autoren im Angesicht der klassischen Landschaft lesen. 12 Daß er es hier nicht tut, hat seinen besonderen Grund in der Verschränkung des psychologischen mit dem ästhetischen Diskurs. Das individuelle Erleben der Landschaft wird zu objektivieren gesucht, indem es mit dem ästhetischen Erleben der klassischen Landschaft - als Einheit von antiker Geschichte, Kunst und schöner Natur - verknüpft wird. Diese Verbindung von Historizität und Landschaft formiert schließlich - fast ein Paradoxon - den Prototyp eines melancholischen Blicks: die historischen Implikationen erscheinen als Elemente einer individuell wahrnehmbaren Vanitas-Semiotik.
12 Vgl. etwa 2 , 132 und 484, sowie die entsprechenden Stellen im 'Anton Reiser', die Wolter anführt: Ästhetisches Naturerleben (wie Anm . 8), 588 ff.
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Der Gegenstand der Melancholie führt, indem der Text fast unmerklich den psychologischen Diskurs wieder verläßt, zurück in die objektiveren Gefilde klassischästhetischer Wahrnehmung; hinter der „Flucht der Zeit" und den „hinrollenden Menschenaltern" (2, 208) 13 steht das zeitlose und eben auch jetzt noch erkennbare Schöne der ästhetisch erlebten Landschaft, durch die das Vergängliche, wieder präsent - freilich nie wieder zurückgeholt - werden kann. Im Bild des sich Erinnernden wird die Melancholie des Spätgeborenen sichtbar; die Welt der Antike bleibt eine ästhetische. Der Ausgang der Passage umreißt, indem sich Elemente ästhetischen und psychologischen Sprechens verschränken, ein Landschaftsbild, das die individuelle und die ästhetische Dimension der Landschaft als zwei Seiten eines Wahrnehmungskomplexes erscheinen läßt. Noch breitet der Platanus seine nackten Ästhe aus; aber der entblätterte Mandelbaum blühet; und ich wandle hier in schattichten Lorbeerhainen, und unter immergrünenden Eichen; wo keine Spur des Winters merkbar ist. (2 , 208)
In der Verbindung von Licht und Elementen südlicher Landschaft, zweier Motivbereiche, die in Moritz' Frascati-Beschreibung enthalten sind, verbinden sich zwei für ihn zentrale Symbolketten miteinander: das freimaurerische Erkenntnissymbol und Arkadien. Daß „keine Spur des Winters merkbar ist", heißt nicht, daß er aus diesem Landschaftsbild vertrieben ist. 14 Fast unmerklich schwingt hier das Memento mori des Et in Arcadia ego mit. 15
II. Ästhetischer und psychologischer Diskurs Als die zwei dominanten Realisierungsweisen von Landschaft erweisen sich der ästhetische Diskurs, der die Landschaft als schönes Objekt dem Leser offeriert, und der psychologische Diskurs, der von der Landschaft als Chiffre und Spiegel der Befindlichkeit des Betrachters spricht. Durch den zweiten Diskurs wird jene subjektive Verschiebung des tatsächlichen Betrachtungsobjekts sichtbar und vom Erzähler reflektiert, die jeglicher Landschaftsbeschreibung zumal in einem Reisetext mit durchaus auch fiktionaler Intention inhärent ist. Die deutliche Akzentuierung des subjektiven Impulses bei der Beschreibung räumlicher Gegenwart als Etablierung eines eigenen Diskurses relativiert von vornherein die klassische Position des ästhetischen Diskurses. An beiden Diskursen beteiligt sich Moritz auch außerhalb der hier vorliegenden Reisebeschreibung. 16
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Vgl. dazu auch Oswald, ltalienbilder (wie Anm . 1). 39: . ästhetisch domestiziene Vergänglich·
keit ". 14 Darauf weisen auch die .noch[...) nackten Äste" der Platanen und der noch . entblättene• aber schon blühende Mandelbaum (2, 208). 1s Vgl. zu diesem Motiv, Kuhn (Hg.), Auch ich in Arkadien (wie Anm. 3), Erwin Panofsky. Et in Arcadia ego. On the Conception ofthe Transsience in Poussin and Watteau, in: Raymond Klibansky et al. (Hg.), Philosophy and History . Essays presented to Ernst Cassirer, Oxford 1936. 223 - 254 und Petra Maisak , Arkadien. Genese und Typologie einer idyllischen Wunschwelt, Frankfun, Bern 1981 . 16 Vgl. die große Anzahl psychlogischer und ästhetischer Schriften, die Moritz der Öffentlich· keit gerade in den Jahren der Abfassung seiner Italienreise vorlegte: ·Magazin für Erfahrungssee·
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Nun stehen - wie bereits gezeigt - die beiden Diskurse nicht nebeneinander, sondern konstatieren einen textuellen Zusammenhang: das doppelte Sprechen des Textes geht über das Projizieren einer subjektiven Stimmung in ein - aus der Sicht der klassischen Ästhetik: - an sich schönes Landschaftsbild hinaus. Zentraler Angelpunkt des psychologischen Diskurses ist die vielfältig tradierte Erfahrung melancholischer Gestimmtheit 17 • Eine solche melancholische Gestimmtheit wird durch zwei Aspekte geprägt: durch die Sehnsucht nach Vereinheitlichung und Überschaubarkeit auf der einen Seite und durch das dumpfe Wissen um die Unmöglichkeit dieser Sehnsucht, um die Vergänglichkeit jeder je erbrachten Vereinheitlichung 18 auf der anderen Seite. Diese spezifische Verbalisierung melancholischer Gestirnmtheit innerhalb des psychologischen Diskurses hat analoge Strukturen in der klassisch-ästhetischen Position von Karl Philipp Moritz, die die oben beschriebenen komplexen Verschränkungen der beiden Diskurse innerhalb einer Landschaftsdarstellung begünstigen. Dies gilt es im folgenden zu erläutern. Grundsätzlich bedeutet das Sehen ästhetischer Bilder in der Landschaft nichts anderes als die Verbindung von Bildproduktion, weil ja das zu sehende Bild erst
lenkunde', Publikationen innerhalb der Akademie der schönen Kanste, 'Vorgriffe zu einer Theorie der Ornamente' etc. Vgl. hierzu: Hans Joachim Schrimpf, Karl Philipp Moritz, Stuttgart 1980, 26ff. und Behrmann, Karl Philipp Moritz' Reisen eines Deutschen in Italien (wie Anm. 1), 29ff. 11 Das Phänomen der melancholischen Landschaft in den Werken von Karl Philipp Moritz ist in der der einschlägigen Forschung durchaus bemerkt worden; vgl. etwa: Oswald, Italienbilder (wie Anm . 1), 32 f., August Langen, Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur, hg. v. K.Richter et al., Berlin 1978, 170 und 21-86. Die vorliegende Untersuchung orientiert sich an der langjährigen Forschungs-Tradition zum Melancholie-Begriff; vgl. hierzu: Wolfram Mauser, Melancholieforschung des 18.Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzungen mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz, in: Lessing Yearbook 13 (1981), 253-277, Hans-Hürgen Schings, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, besonders 226-255 und Joachim Dyck, Zur Psychoanalyse der Melancholie. Karl Philipp Moritz, Anton Reiser, in: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, hg. v. Albrecht Schöne, Göttingen 1985, Bd.6, 177-182. Melancholisch zu sein, bedeutet demnach zuallererst, mit sieb selbst beschäftigt zu sein, seine eigene Disposition rticht zu o~)ektivie ren , sondern ihr subjektivistisch nachzusinnen. Sehnsucht nach Vereinheitlichung und Ubersicht gepaart mit Verzweiflung über die eigene Unfähigkeit, diesen Zustand zu ändern, charakterisieren diesen Subjektivismus. Freuds Befund der pathologischen Melancholie sieht .eine tief schmerzliche Verstimmung, eine AuJhebung des Interesses für die Außenwelt[ ... ] durch die Hemmung jeder Leistung und Herabsetzung des Selbstgefühls" beim Melancholiker (Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, in: Ders., Das leb und das Es und andere metapsychologische Schriften, Frankfurt 1981, 106; vgl. auch, Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse , Frankfurt 1973, Bd. l, l 14ff.) Wunberg macht außerdem auf den Zusammenhang von .Informationsansturm" und Melancholie aufmerksam. Melancholisch ist ihm zufolge derjenige, der dem wachsenden Informationsfluß - besonders der Modeme - nicht mehr gewachsen ist und .sich deshalb in Resignation und Schwermut flüc.b tet." (Gotthart Wunberg, Wiedererkennen. Literatur und ästhetische Wahrnehmung in der Modeme, Tübingen 1983, 137) Siehe auch den Zusammenhang von Überreizung und Melancholie bei Karl Philipp Moritz (vgl. fN001 I:AYTON oder Magazin für Erfahrungsseelenkunde. Als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Bd.IV,3, Berlin 1786, 15f.). 18 Vgl. Jean Starobinslci, Melancholie und Spiegelbild. Eine Lektüre von Baudelaires 'Lc Cygne' , in: Karl Heinz Bohrer (Hg.), Bilder der Seele, Merkur-Sonderheft 9/10 (1988) 751.
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gestaltet wird, und Bildrezeption, weil sowohl die Natur als auch das fertige Landschaftsbild gesehen, ästhetisch genossen wird. 19 Im Produktionsbereich ist die Person des Produzenten nicht unwichtig, auch wenn Moritz sie eher als Instrument zur Vermittlung des Schönen ansieht, dessen Wert aber in sich selbst liege (vgl. 2, 556 und 571). Aber die Tatkraft des Bildkünstlers bezeichnet Moritz, wie es in der 'Nachahmungs-Schrift' heißt, gleichsam als „einen Brennpunkt" (2,563), in dem das Schöne in seinen Verhältnissen und nicht realiter zu fassen sei. Obgleich der Wert des Schönen in sich selbst liegt, kann die Auswahl des Gegenstandes, in unserem Fall des Naturausschnittes, der zur Landschaft umgestaltet wird, als individuelles20 künstlerisches Verfahren deduziert werden. Die Heraushebung der Individualität als Auswahlmoment macht eine interessante Analogie zwischen dem auf sein Kunstwerk bezogenen Künstler und dem auf sich selbst (als Kunstperson21 ) bezogenen Melancholiker deutlich. Beide, der Künstler und der Melancholiker, reproduzieren in den von ihnen geschaffenen Visionen immer auch Elemente ihrer selbst: der Melancholiker statt einer Selbstobjektivierung ein subjektivistisches Vexierbild und der Künstler ein von ihm selbst nach ästhetischen Kategorien erwähltes und gestaltetes Kunstobjekt. Als Dilettant kann dieser Argumentation folgend - und einen Topos der Zeit aufgreifend - der dann bezeichnet werden, der nicht wie der Künstler ästhetische Kategorien annimmt, sondern - mit Schiller - ins „Selbstproduzieren"22 , ähnlich dem Melancholiker, fällt. Der landschaftsbetrachtende Melancholiker sieht - folgerichtig - in den Bildern ebenfalls Gestalten seiner eigenen Psyche, obgleich, innerhalb der Moritzschen Ästhetik, im Bereich der Bildrezeption der Wert des Bildes für sich selbst offenbar werden soll. Aber auch im Bereich der Rezeption ist eine eigentümliche Analogie zwischen dem Kunstbetrachter der Moritzschen Ästhetik und dem Melancholiker zu bemerken. Das Bild trägt zwar für den Betrachter seinen Wert in sich selbst, die Konstitution des Bildes als Ganzes muß aber nicht realiter gesehen, sondern kann auch in der Einbildungskraft des Rezipienten vollzogen werden; in diesem Fall
19 Das Zusammentreffen von Produktion und Rezeption entspricht ganz der Moritzschen Anschauung , daß einzig "dem schaffenden Genie[ ... ] der höchste Genuß" (2 , 564) seines Kunstwerks vergönnt sei . • Das Schöne bat daher seinen höchsten Zweck in seiner Entstehung, in seinem Werden schon erreicht, unser Nachgenuß desselben ist nur eine Folge seines Daseins" (2 , 564). 20 "So wählt die bildende Kraft , durch ihre lndividualittJt bestimmt, irgend einen [ .. .] Gegenstand, auf den sie den Abglanz des höchsten Schönen[.. . ] überträgt ." (2,563) - Zum Gesamtkomplex der 'Individualität' des Künstlers vgl. auch: Kestenholz, Die Sicht der Dinge (wie Anm. 1), 85-105. 21 Vgl. Karl Philipp Moritz, Fragmente aus dem Tagebuch eines Geistersehers. Vom Verfasser des Anton Reisers, Berlin 1787 (Nachdruck: Stuttgart 1968) 115f. Vgl. hierzu auch die Äußerungen Anion Reisers über die Auflösung und das Auseinanderfallen seiner Person (1, 53); in diesem Zusammenhang interessant: Schings, Melancholie und Aufklärung (wie Anm. 17), 229. 22 Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hg.v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, München 7J984, Bd.5, 1047. Wo das ~Regulativ" (1048) noch nicht voll ausgebildet ist - Poesie, Gartenkunst etc. - richtet nach Schiller der Dilettantismus den größten Schaden an.
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ist der Rezipient gleichzeitig Produzent. Anders ausgedrückt: die Struktur des rezipierten Bildes trägt die spezifischen Eigenheiten der Rezeptionsfähigkeit des Betrachters , ganz im Gegensatz zu seinen klassischen Ansprüchen, ganz analog aber zum Melancholiker, der seine psychische Situation im Bild wiedererkennt, besser: empfindet.23 Obschon das fertige (Landschafts-)Bild seinen Wert in sich selbst hat - übrigens auch das Selbstbild des Melancholikers, dessen Trauer auch im wahrsten Sinne des Wortes zwecklos ist-, trägt es individuelle Strukturen, die allerdings, nimmt man die psychische Ebene hinzu, nicht bemerkt werden, weil sie analog mit denen des Betrachters oder des Produzenten sind. Ein Bild ist also nur insofern an sich schön, als es an sich schön gesehen wird, nämlich als schönes Ganzes, wie es Moritz formuliert (vgl. 2, 558 ff.) , oder: als ästhetisches Objekt und psychologisches (Spiegel-)Bild. Der psychologische Diskurs komplettiert die ästhetische Dimension der Landschaftsbeschreibung. 24 Sie bezeichnet jene Individua/iUit näher, die zur Auswahl und Vervollständigung des Gegenstandes notwendig ist. In der oben diskutierten ' Frascati-Beschreibung' hatte z.B. der psychologische Diskurs den Bildeindruck erst faßbar gemacht. Insofern darf man die klassische Ästhetik der ' Reisen' nicht um diese psychologische Ebene der Landschaftsrezeption verkürzen, wenn sie auch in ihr nicht theoretisch adäquat angelegt, zumindest aber nicht deutlich intendiert scheint. Vielleicht ist dies eine Schwäche der römischen Ästhetik von Karl Philipp Moritz; vielleicht liegt aber in der Übernahme der 'Individualität' und der Einbildungskraft aus der Genie-Ästhetik in die 'Bildende Nachahmung des Schönen' ein Stück Modernität, ein früher Versuch einer Psychologie der Kunst. III. Melancholische Bilder
"Abendwanderung" hat Moritz ein kleines Kapitel im dritten Teil der 'Reisen' überschrieben, das eine Beschreibung seines abendlichen Aufenthalts zwischen Maria Maggiore und dem Lateran enthält (2, 381 f.). Paradigmatisch wird hier die Einbindung der Melancholie-Ikonographie in einen psychologisch lesbaren Landschaftstext vorgeführt. Daneben finden sich auch hier korrespondierende Elemente des ästhetischen Diskurses. 25 Das Entree der Passage erinnert an die 'Frascati-Beschreibung'. Wieder bedeutet Moritz, daß es sich um einen „Spaziergang" , um ein Wandeln und Sehen handelt und nicht um einen zielgerichte-
23 Wie wichtig - nach Moritz - die Einbildungskraft für den Kunstgenuß ist, zeigt folgendes Zitat: .zu dem Begriff des Schönen, welcher uns daraus entsprungen ist, daß es nicht niltzlich zu sein braucht, gehört also noch, daß es nicht nur oder nicht sowohl, e in für sieb bestehendes Ganze wirklich sei, als vielmehr nur wie ein für sich bestehendes Ganze, in unsre Sinne fallen , oder von unsrer Einbildungskraft umfaßt werden könne." (2 , 558). 24 Ein Hinweis auf die notwendige psychologische Ergänzung antiker Kunst findet sieb in dem kleinen Abschnitt ' Shakespeare' (2, 376 f. ). 2s Mit Jan Wolter könnte man vielleicht von einer kompensatorischen Funktion dieser Elemente sprechen; vgl. Wolter, Ästhetisches Naturerleben (wie Anm. 8). 585 - 616.
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ten Gang. Aus seiner Ästhetik wissen wir, daß der Text hiermit auf den zwecklosen Genuß des Schönen abbebt: 26 Ich gehe durch Maria Maggiore. Man macht durch einen solchen Tempel ordentlich einen Spaziergang; man tritt von der Straße in einen Umfang, der zum Wandeln Raum verstattet, und wo man durch die Mauern sich nicht eingeengt und beschränkt fühlt. Die Säulengänge an beiden Seiten laden zum stillen Nachdenken und zur ernsten Betrachtung ein, so wie man in dem einsamen Tempel unter ihnen auf und nieder geht (2, 38lf.) Stilles, in sieb gekehrtes Nachdenken, Dämmerung, Einsamkeit - mit diesem Motivgeflecht entfaltet der Text ein melancholisches Szenario, das zwar zur mächtigen Erscheinung der Kirche paßt, das aber im eigentümlichen Gegensatz zur folgenden Betrachtungsweise steht. Die Kirche wird als Gemäldegalerie gesehen; anhand der Bilder vermittelt der Text ästhetische Maximen. Das melancholische Flair des Interieurs ist ästhetisch verdrtingt: Von Zeit zu Zeit heißt ein Gemälde den Fuß verweilen, um in der lebendigen Darstellung menschlicher Geschichten durch Farbe und Umriß, den Genius des Künstlers zu bewundern - (2, 382) Wie in der 'Frascati-Beschreibung' ist der Übergang von der melancholischen Nachdenklichkeit zur ästhetischen Programmatik fast lautlos geschehen. Der bedächtige Reisende konstatiert angesichts der Gemälde Fragmente einer an Goethe erinnernden Kunstauffassung27: der Betrachter erkennt in den Bildern Darstellungen menschlicher Geschichten. Dieses Referenz-Modell ist jenem vergleichbar, das seit Goethes 'Italienischer Reise' die literarische Präsentation gesehener Landschaft prägt. 28 Im Bild wird neben der Gegenständlichkeit der Ansicht der geschichtliche bzw. erzählerische Hintergrund gesehen. Die Landschaft ist also nicht nur Staffage für eine Geschichte, sondern die Geschichte selbst staffiert auch die Landschaft aus. Nur so wird die italienische zur arkadischen Landschaft, zum Schauplatz der Antike. Der Fortgang der Passage führt nun zu Landschaftseindrücken im engeren Sinne: Die gerade Straße von Maria Maggiore führt mich zum Lateran - und so wie ich diesen Tempel durchwandert habe, und aus der andern Türe trete, finde ich mich am Ende der Stadt, und sehe eine der reizendsten Landschaften vor mir liegen: (2, 382) Die „gerade Straße" kann man vor dem Hintergrund des Abschnitts „Abwechselung und Einheit in der Landschaft" (2, 410), auf die später noch näher
Vgl. die entsprechenden Ausführungen oben und Wölfel , Spaziergang (wie Anm.9). Vgl. Goethe, Weimarer Ausgabe (wie Anm.10) , Abt.1 , Bd. 49, 303-305 (' Rembrandt der Denker') und Johann Wolfgang Goethe, Werke (Hamburger Ausgabe), hg . v. Erich Trunz. München l l!982, Bd.12, 138-142 ('Ruysdael als Dichter'), sowie: Karl Philipp Moritz ' Vorlesung 'Über ein poetisches Gemälde von Goethe ' (3, 622-629). 28 Vgl. etwa Goethe, Hamburger Ausgabe (wie Anm. 27), Bd.11, 122, 240f., 298 ff.. 323. 427. Zur Vorgegebenheit der ltalienerfahrung insgesamt und zur Bedeutung der ' Italienischen Reise' Goethes im 19. Jahrhundert vgl. Erbart, Traumbilder, Glücksritter, Bildungslegenden (wie Anm.2). 265-289. 26 27
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einzugehen sein wird, und den Eintragungen zum 9.April im 2.Teil der 'Reisen' (2, 236) als leise Anspielung auf das Acedia-Motiv deuten. Die aufkommende melancholische Langeweile wird allerdings durch „eine der reizendsten Landschaften" (2, 382) verhindert. Diese bietet mehr als nur eine schöne Aussicht; sie bietet eine lebendige Erinnerung an Frascati, an eipe Zypressenallee, an das Idealbild einer südlichen Landschaft also, wo der Erzähler „so oft gewandelt" (2, 382) ist. Die Analogie zwischen dem Säulengang in der Galerie am Anfang des Abschnitts und der „Zypressenallee" (2, 382) - in beiden spaziert Moritz, beide Wege sind durch vertikale Elemente gliedernd gesäumt - verweist auf ein anderes analoges Verhältnis, nämlich das zwischen Gemälde (in der Galerie) und Landschaftseindruck (in der Zypressenallee). Das ästhetisch-bildhafte Moment der Landschaft wird hierdurch herausgehoben und unterstrichen. Bemerkenswert ist auch, daß sich die Allee auf einem Hügelgrad befinden muß, also immer wieder der Blick auf die Landschaft freigegeben wird. Der Fortgang der Beschreibung birgt bekannte Motive. Interessant im nächsten Satz ist der Komplex Antike-Licht-Feme: Und hinter diesem die Spitze des Monte Cavo mit dem weißen Kloster, das in die Ferne schimmert, und den selben Platz einnimmt, wo der Tempel des Jupiter Latialis stand, und das Bundesfest der Lateiner gefeiert wurde. (2, 382)
Das in der Ferne schimmernde Weiß eines Klosters erscheint Moritz wegen seiner Referenz auf die Antike erwähnenswert. Der vormals hier stehende Tempel des Jupiter Latialis ist wichtiger als das aktuell zu sehende Klostergebäude, das auch nicht näher beschrieben wird. Im Fortgang der Erfassung der Gegend ist auffallend, wie sich der Blick ständig ändert. Indem der Betrachter seine Position verändert, kann er die Landschaft in verschiedenen Perspektiven sehen; er kann dem Leser immer neue Eindrücke vermitteln, ohne einen Landschaftseindruck bis ins Detail ausarbeiten zu müssen - ein Verfahren, das für Moritz' Reisebeschreibung typisch ist. Der Perspektivenwechsel findet hier oft sehr abrupt statt und setzt eine gewisse Kenntnis der Topographie Roms voraus, zum Beispiel dann, wenn er in einer Parenthese einen neuen Blickwinkel einführt: Zur Linken sehe ich die Sabinischen Berge - ich wende mich nun nach dem alten Tiburtischen Tore - hier zwischen den Mauern ist ein stiller Gang - ich sehe in der Ferne den Rücken der höchsten Berge mit sanften Krümmungen den Horizont bezeichnen. (2, 382).
Auch hier finden sich wieder Hinweise auf das Klassische der weiten Landschaft und kontrastiv dazu die stille Enge im Gang zwischen den Mauern. "Deutlich wird, wie Moritz den ästhetischen Genuß klassischer Landschaft herausstellt, indem er dem Blick auf eine helle, offene, ferne Welt, die Beengtheit29 eines eintöni-
29 Dunkelheit und Enge sind für Moritz Zeichen der Ausweglosigkeit. Zum Verhältnis von Dunkelheit und Melancholie vgl. Schings, Melancholie und Auflclärung (wie Anm. 7), 236. Nach Moritz'
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gen Ganges entgegenstellt, der die melancholische Stimmung begünstigen könnte. Signifikant ist, daß angesichts der durch die Antilee erschlossenen Landschaft das im oben schon erwähnten 'Kinderlogik'-Abschnitt (vgl. 3, 469f.) 30 aufgeworfene Gegensatzpaar 'Draussen' (unwirtlich, fremd) und 'Drinnen' (freundlich, geborgen) umgedeutet wird. Im vorliegenden Beispiel ist die antike Landschaft hell und freundlich; sie ist bequem erfassbar, weil sie - als antike Landschaft - prinzipiell schon angeeignet ist, durch Bildung aufgeschlossen erscheint. Ein enger unübersichtlicher, dunkler Gang, einengende Mauern müssen hingegen erst erkundet werden. Angesichts der als klassische Landschaft identifizierten Natur erscheint - wenn man so will - die freie Natur als das eigentliche „Wohnzimmer" (3, 469). Wie zentral für den Erzähler die in der Landschaft repräsentierte Antike ist und wie sehr diese Antilee das Interesse an einer Landschaft weckt, ja, sie erst ästhetisch sehenswert macht, zeigt auch die hier besprochene Passage 'Abendwanderung': Diese Übrigbleibsel sind gleichsam die Signale der römischen Macht, und erwecken, wenn man sie siehet, lebhaft das Andenken von Roms Geschichte. (2, 382)
Hier dienen die antiken Ruinen - selbst Boten der Vergangenheit - als doppelte Erinnerungszeichen: als ikonische Signifikanten der Altertumsverehrung und als persönliche „Andenken" des sich im Schreibprozeß erinnernden Erzählers. Die „Abendwanderung" fertigt ein „bleibendes Bild [„.], das Zeit und Entfernung nicht wieder auslöschen" (2, 382) kann. Der Erzähler suggeriert, er habe schon während seines Spaziergangs an den Erinnerungswert des Bildes gedacht. Diese Überlegungen über die Zeit, in der das jetzt gesehene Bild nur noch als Erinnerungsbild präsent ist - sozusagen als schlechtes Polaroid ohne das Spiel mannigfaltigster Farben (vgl. 2, 382) - , sind als Auseinandersetzungen mit dem Melancholie-Schema lesbar. Der Melancholiker verzweifelt an der Unfähigkeit, den schönen Moment, den glücklichen Zustand festhalten zu können. Schon im Augenblick des ästhetischen Genusses ist der mögliche Verlust desselben - im Bild - antizipiert. Aufgefangen wird dieses Verfällen in den melancholischen Diskurs hier durch das Vertrauen auf die Stärke des Bildeindrucks; dieses bleibende Bild kann eben „Zeit und Entfernung nicht wieder auslöschen" (2, 382). Genau diesem Schema folgt auch eine ikonographische Melancholie-Darstellung, die Moritz an den Anfang und das Ende der 'Reisen' stellt. Der Abschied von Italien ist nur in der Hoffnung erträglich, die Eindrücke „ von zwei verflos-
Armbruch zu Beginn seiner Reise scheinen die .fast unaufhörlichen Schmerzen" (Brief an Campe vom 20.1.1787; 2, 864) gegenüber der Gebundenheit an einen .Fleck" (2, 864) das geringere Übel zu sein. Die abwechslungsreiche Gesellscnaft, die Goethe dem Kranken vermittelt, empfindet Moritz denn auch als besondere Wohltat, die gegen Langeweile und Trostlosigkeit hilft. Seine Genesung feiert Moritz übrigens ganz freimaurerisch als Wiedergeburt (vgl. 2, 865). Ähnlich empfindet Anton Reiser ein neues Lebensgefühl, wenn er auf dem Wall von Hannover spazierengeht und wenigstens für Augenblicke seine mißliche Situation vergessen kann (vgl. 1, 213). Die Aussichtslosigkeit seines Daseins scheint mit der Enge Hannovers zurückgeblieben zu sein. 30 Vgl. auch 3, 333 ('Hephata!') und 3, 371 ('Neues Kinder ABC-Buch').
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senen Jahren" (2, 484) konservieren zu können und sie nicht wie die Wasser des Mincius unaufhaltsam vorbeifließen lassen zu müssen. Die Erinnerung an diese italienische Zeit soll dieser Darstellung zufolge die „trüben Stunden" versüßen (2 , 484). Was mit den beiden Bildern schließlich auch betont wird, ist der Charakter der italienischen Zeit als neues Leben, auf dessen (Wieder-) Geburtsstunde der 'Sterbende' am Ende der Reise wehmütig zurückblickt. 31 Das Motiv des nachsinnenden Mannes, der, indem er in den Fluß starrt, die vergangene Zeit vorbeifließen sieht, steht in der Tradition der ikonographischen Melancholiedarstellungen; es ist in den Werken von Moritz immer wieder anzutreffen. 32 Die „Abendwanderung" beschließt Moritz - um nun zum Ausgangstext zurückzukehren - mit einer Rückbesinnung auf den ästhetischen Diskurs: Auf einer Anhöbe, die mit Pinien und Zypressen (vgl. 2, 382) bepflanzt ist, genießt er den Höhepunkt und zugleich die Summe seines Spaziergangs. Im vollen Anblick der Gegend um Rom, im Farbspiel der untergehenden Sonne vollenden sieb die Ereignisse des Abends (vgl. 2, 382). IV. Landschaft post festum
Am zentralen Stellenwert der 'Erinnerung' bei der ästhetischen Konzeption der 'Reisen' knüpfen auch Gedanken zum Landschaftserlebnis post festum an. Während das frontale Ansehen der Natur als Landschaft gewöhnlich als die ästheti. sehe Perspektive des Betrachtens dargestellt wird, in der das Bild der Landschaft sich wie ein Gemälde33 als Ganzes zeigt, ist in den 'Reisen eines Deutschen in Italien' mit dem Landschaftserlebnis post festum· eine zweite, von Moritz praktizierte und beschriebene Wahrnehmungsart festzustellen. Exemplarisch hat Moritz die Wahrnehmungsart der Landschaft im nachhinein anhand eines „Spaziergange[s] in der Villa Borghese" (2, 410) 34 entwickelt. Eine helle freundliche Landschaft - das wurde gezeigt - fungiert in Moritz' Reisebeschreibung als Gegenbild zur melancholischen Stimmung des Betrachters bzw. einer melancholischen Landschaft, deren Hauptelement neben Düster31 Auf die Anfangs- und Schlußszene ist auch zu verweisen , um zu zeigen, daß Mo ritz sehr wohl gewisse Strukturen und Motivketten in sein Reisebuch eingearbeitet hat (vgl. dazu Oswald, ltalienbilder (wie Anm. l) , 30f.) Auch in ihrer Replik auf antike Muster - hier VergiJ - bieten die Stellen paradigmatisch eine Illustration beschriebener Wahrnehmungs- und Rezeptionsformen (vgl. 2, 131 f. und die späte Stelle, die mit den gleichen Motiven das Bild des Melancholikers evoziert: 2 , 484). Daß für Moritz mehr das Bild, weniger aber die Empfindung wichtig ist, kann später gezeigt werden. 32 Vgl. Moritz, Fragmente aus dem Tagebuch eines Geistersehers (wie Anm. 21), 114f. und aus dem 'Anton Reiser ' : 1, 201. Zum Gesamtkomplex wichtig: Schings, Melancholie und Aufklärung (wie Anm . 17 ), 248 ff. 33 Vgl.hierzu: Goethe, Hamburger Ausgabe(wie Anm. 27), Bd.ll, 45, 87, 145, 174, 213, 231 , 342, 403; Bd. 12, 138ff., Weimarer Ausgabe (wie Anm.10) Abt.l, Bd.48, 126ff., Bd. 49, 303ff. und Jean Paul, Werke, hg . v. Norbert Miller, München 1963, Bd.V, 288-294 (' Vorschule der Ästhetik', § 80: 'Poetische Landschaftsmalerei '). 34 Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch das Kapitel . Der Umweg " aus Moritz' Roman ' Andreas Hartknopfs Predigerjahre' (1 , 500- 502).
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nis, Enge und Unwirtlichkeit vor allem die Eintönigkeit ist. Eine solche Landschaft wirkt auf den Reisenden ermüdend; sie hemmt seine Aktivität und versetzt ihn in eine träge Grundstimmung; Stichwort: acedia. 35 Moritz greift zu Beginn seiner Ausführungen über „Abwechselung und Einheit in der Landschaft" (2, 410) genau dieses acedia-Motiv auf und stellt ihm seinen ästhetischen Leitgedanken der Abwechselung entgegen. In den verschränkt geführten ästhetischen und psychologischen Diskursen liegt auch hier der Argumentationsvorteil: Nichts ist langweiliger und ermüdender, als eine gerade Heerstraße, wo man das Ziel [ ... ] immmer in einerlei Richtung vor sich siehet Ein Pfad, der sich schlängelt, ist angenehmer, als ein gerader Weg. (2,410) Ein Spaziergang, der wechselnde Landschaftsbilder präsentiert, entspricht Moritz' ästhetischem Empfinden eher als ein eintöniger Blickwinkel. An den Uferauen des Arno schätzt Moritz deshalb zum Beispiel „sich schlängelnde Spaziergänge zwischen Bäumen" (2, 479), die sich „in der angenehmsten Mischung" (2, 479) mit „schattichte[n) Gebüsche[n) [und] grüne[n) Rasenplätze[n]" (2, 479) abwechseln. Der Gedanke, daß der Kunstgenuß - und als solcher ist der Landschaftsgenuß in gewisser Weise zu fassen 36 - nicht langweilig sein darf, sondern Vergnügen bereiten soll, ist so alt wie die Kunst selbst.37 Insofern ist diese Forderung nach Abwechselung nicht neu; sie hat aber für die Rezeption der Landschaft eine erstaunliche Konsequenz. Verbunden wird diese Forderung mit der Maxime der Einheit der Landschaft, was der Sehnsucht des Melancholikers nach Vereinheitlichung entspricht38 • Diese beiden - auf den ersten Blick sogar gegensätzlichen - Grundforderungen entsprechen der Differenzierung nach Einzelnem und Ganzem. Der Forderung nach Abwechselung folgend, betrachtet man einzelne Facetten, wechselnde Bilder einer Landschaft; der Maxime der Einheit folgend, versucht man, einen Gesamteindruck zu gewinnen, die Landschaft ganzheitlich wahrzunehmen. Diese beiden Perspektiven sind - dem psychologischen Diskurs zufolge - in der Psyche des Menschen begründet: Denn die Seele, wenn sie durch die umgebenden Gegenstände angezogen werden soll, wünscht bald ein ganzes auf einmal zu übersehen, und bald sich wieder in sanften Krümmungen zu verlieren, wo das, was kommen soll, nur zuweilen wie verstohlen dem Blicke sich zeigt, und sich nicht eher in seinem Umfange darstellt, bis man es ganz erreicht hat. (2, 410)
Während das Bedürfnis, ein ästhetisch Ganzes zu sehen, schon in den Schriften 'Über die bildende Nachahmung des Schönen' und 'Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten' entwickelt wurde, sieht sich Moritz in den 'Reisen' noch genötigt, zur Erklärung des Prinzips der Abwechselung eine ausführlichere Bemerkung einzuschieben. Für das in sich selbst vollendete Schöne ist die Vor-
Vgl. e1wa Mori1z ' Beschreibung der Landschaf! bei Terravina (2, 236f.). Georg Simmel bezeichnet eine wahrgenommene Landschaft als .Kunstwerk in statu nascendi" (Philosophie der Landschaft, in: ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1984, 135). 37 Vgl. etwa Aristoteles, Poetik, § 4. Zum Begriff des Vergnilgens an der Kunst auch Moritz' Aufsatz 'Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten' (besonders: 2, 546f.). 38 Vgl. hierzu: Starobinski, Melancholie und Spiegelbild (wie Anm. 18), 751. H 36
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Stellung, dieses Schöne sei ein Ganzes (oder jedenfalls als Ganzes rekonstruierbar, Stichwort: Ruine39), denknotwendig. Zur Erklärung der Abwechselung als Voraussetzung ästhetischen Genusses fügt Moritz ein psychologisches Argument an: Es wird plausibel, daß zum Vergnügen der Landschaftsbetrachtung gehört, daß „das, was kommen soll, [was sich] nur zuweilen wie verstohlen dem Blicke [ ... ) zeigt" (2, 410), im Vorgriff auf das in der Erinnerung rekonstruierte Ganze phantasievoll zu vervollständigen ist. Das allerdings gelingt nur tisthetisch, nämlich indem sich der Betrachter als Künstler „eine eigene Welt[ .. .) schafft, worin gar nichts Einzelnes mehr stattfindet, sondern jedes Ding in seiner Art ein für sich bestehendes Ganze[s) ist" (2, 561). 40 So gesehen hat die ästhetische Betrachtung der Natur eine äquivoke Zielrichtung: Einmal erklärt sich der für sich selbst als Totalittit wahrgenommene Einzeleindruck im Sinne der klassischen Ästhetik als 'zwecklos' schön, und zum anderen konstituiert sich die partiell wahrgenommene Natur, so man sie 'zwecklos' durchwandelt hat, „mehr in der Erinnerung als in der Würklichkeit" (2, 410) als schöne, als ganzheitliche Landschaft: So wie die aufeinanderfolgenden Töne der Musik erst allmählich ein Ganzes bilden, das mehr in der Erinnerung als in der Würklichkeit sich in der Seele darstellt, so ist eine Gegend, welche nicht auf einmal, sondern allmählich, so wie man sie durchwandelt, ihr Bild in der Seele abzeichnet. (2, 410)
Moritz eigener Hinweis auf die Musik - ein Vergleichspunkt übrigens, der bekanntlich auch Jean Paul in diesem Zusammenhang wichtig erscheint4 1 - ist nicht die einzige Parallele zu dieser Wahrnehmungsweise. Dem gleichen Modell aneinandergereihter Einzelelemente, die zusammen erst einen totalitären Eindruck vermitteln, folgen die Darstellungen der Leidenspassion Christi in Kreuzwegen, die Rosenkranzgebete42 , aber auch der intendierte Aufbau der •Reisen eines Deutschen in Italien'. 4 3 Folgt man Moritz' eigenem Kompositionsmodell - besonders hinsichtlich der einzelnen Teile zum Ganzen der ' Reisen' - haben die ' Reisen' im Sinne des ästhetischen Diskurses eine durchaus ganzheitliche Gestalt. Sie sind - unter der
39 Als zentralen Text der Goethezeit hierzu vgl.: Wilhelm v . Humboldt, Brief an Goethe v. 23. August 1804, in: Werke, Hg. v. A. Flitner u . K.Giel, Darmstadt 1981, Bd.5, 214-217. Zum Kontext vgl.: Wilfried Barner, Die Trümmer der Geschichte. Über römische Erfahrungen Goethes, in: Hartmut Eggert et al. (Hg.), Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990, 140~ 150. „ 40 Wichtig für das Verständnis dieser Art ästhetischer Wahrnehmung ist auch Moritz' Schrift 'Uber die metaphysische Schönheitslinie'. in: Moritz, Schriften zur Asthetik und Poetik (wie Anm. 7) 151-157; dort ist - im diskutiert.eo Zusammenhang - besonders die Unterscheidung einer eingebildeten Schönheitslinie oder gebogenen Linie und geraden Wahrheitslinienbeachtenswert. 41 Vgl. Jean Paul, Werke (wie Anm. 33), Bd.V, 290. 42 Zu der Reihe der säkularisierten Denkmodelle in der obigen Passage gehört auch die Unterscheidung zwischen breiter Heerstraße und schmalem Pfad (christlich: schmalem Pfad der Tugend). 43 Vgl. Moritz' Brief an Campe vom 3.2 . 1787 (2, 865).
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Folie seiner eigenen Intention - keineswegs fragmentarisch44 , sondern gleich einer Ruine oder einem Architekturornament als ein in Teilen vollendetes Ganzes gedacht, oder - mit Goethe: - ein Ganzes, repräsentiert durch eine Reihe besonderer Elemente. Dieses Buchkonzept integriert die Landschaftswahrnehmung post festum und die traditionelle frontale Wahrnehmung der Landschaft als Bild als zwei sich ergänzende ästhetische Verfahren, die die Vielfalt der italienischen Landschaft für die heimischen Leser erfahrbar machen sollen. Die ornamentale Gestalt der Landschaft 45 - ihre abwechslungsreiche Mannigfaltigkeit46 - soll der langweiligen Sachlichkeit des deutschen Alltags gegenüberstehen, wie Moritz' Italienbuch - zumindest wenn man sein Konzept ernst nimmt - mit seinen Vor- und Rückgriffen, seiner thematischen Ungeordnetheit und seiner fehlenden Stringenz ein ästhetisches Gegenkonzept zu den sachlichen Diarien seiner Zeitgenossen darstellen soll. So wie Moritz am Ufer des Mincius „die reizendsten Bilder von zwei verflossenen Jahren" (2, 484) vorbeifließen läßt, um „mehr in der Erinnerung als in der Würklichkeit" (2, 410) sein Italien zu erfassen, so ergibt die Summe - freilich nicht im Sinne der Addition, sondern eines gleichwertigen Erfassens - der zuerst sukzessiv wahrgenommenen Natur die Totalität einer Landschaft. Dieses Verfahren, ohne es aber auf die Darstellung von Räumlichkeit angewendet wissen zu wollen, begreift Lessing in seiner 'Laokoon'-Schrift bekanntlich als Merkmal der Dichtkunst; er sieht die „ Zeitfolge [als] [. „ ] das Gebiete des Dichters "47 , als seine Möglichkeit aber auch als seine Begrenzung, die es zu kennen gilt. Aus dieser einschränkenden Gattungsklassifikation befreit sich Moritz, indem er versucht, Räumlichkeit in zeitlicher Folge darzustellen und als Wahrnehmungsverfahren zu beschreiben . Die Wahrnehmungsweise postfestum setzt die Segmenteindrücke im nachhinein zu einer einheitlichen Landschaft zusammen . Das Bild des nachsinnenden, über sich selbst und seine Vergangenheit nachdenkenden Melancholikers wird als Schlußbild der ' Reisen eines Deutschen in Italien' durch dieses Wahrnehmungsmodell entscheidend umgestaltet: Es ist, als ob der am Ufer des Mincius Sitzende weniger das vorüberfließende Wasser sähe, sondern einen See - „mehr in der Erinnerung als in der Würklichkeit" (2 , 410): und in diesem See sich die erinnerten Eindrücke zu einem vollendeten Ganzen sammelten. Der Melancholiker, der zum klassischen Ästhetiker wird, vergißt die Angst zu vergessen, weil er weiß, daß im erinnerten Einzelnen das vergessene Ganze enthalten ist. So kann das Schlußbild von Moritz' Arkadienreise, das Bild des sich erinnernden Melancholikers, zur klassizistischen Utopie gegen die Dichtermelancholie umgedeutet werden. Das Beharren auf der Rückbindung des Einzeleindrucks an die Totalität und seine Forderung, mit der Empfindung des Allgemeinen „zugleich einen Blick in das ganze Detail" (1 , 381) haben zu müssen, ist seine in Italien, sicher auch
Vgl. Oswald , Italienbilder (wie Anm . 1), 30. Zum Verhältnis von Landschaft und ornamentaler Struktur vgl. G6rard Raulet, Natur und Ornament. Zur Erzeugung von Heimat, Darmstadt 1987. 46 Vgl. auch den Abschnitt 'Vielfältigkeit und Mannigfaltigkeit' (2, 443). 47 Gotthold Ephraim Lessing, Werke, Bd.3, hg . v. Kurt Wölfe! , Frankfurt 1967, 102. 44 4S
Melancholie und ästhetischer Genuß
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im Gespräch mit Goethe gewachsene Antwort auf das Dilettantismusproblem, auf die "Leiden der Poesie" (1, 380)48 des Anton Reisers. Der dunkel grübelnde Melancholiker, der alles behalten will, weicht dem frohen Italienreisenden, dem der Gehalt seiner Erfahrung wichtiger ist als die addierte Summe seiner Erinnerungen. Letzterer ist offen für die Welt und schreitet voran, Neues zu schaffen; der Andere verzweifelt derweil in unproduktiver Einsamkeit, an seinem eigenen Vergessen und der Unmöglichkeit, alles zu können, alles (noch) zu kennen. Im Kontext zweier aufeinander beziehbarer Diskurse wird in den 'Reisen eines Deutschen in Italien ' von Karl Philipp Moritz Landschaft realisiert: Ästhetisches Sprechen formiert das wahrgenommene Naturschöne als klassisches Objekt; innerhalb des psychologischen Diskurses erscheint die Landschaft als Chiffre und Spiegel subjektiver Befindlichkeit. Durch die verschrdnkt gefahrten Diskurse können verschiedene Referenuysteme der Landschaft prdsent werden und die Landschaftswahrnehmung als dsthetisches Erlebnis und Konzept gegen das Grauen der Melancholie gestaltet werden. Das rezipierte Landschaftspanorama wird dabei durch ein extrahierendes Landschaftserlebnis post festum ergdnzt. Landscape in Karl Philipp Moritz' „Reisen eines Deutschen in Italien" stands in the context oftwo interrelated discourses: aesthetic speech tums natural beauty into a classical object and within psychological discourse the Landscape appears as a cipher and mirror of subjective states. By means of crossing discourses, dif ferent systems of reference can be present and the perception of Landscape be formed as an aesthetic experience and concept which counters the horror ofmelancholy. The panorama in its receivedform is thus supplemented by selective 'post festum' experience of the landscape. Dr. Dirk Niefanger, Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen, Humboldtallee 13 (Jacob-Grimm-Haus), D-37043 Göttingen
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Vgl. hierzu: Schings, Melancholie und Aulkärung (wie Anm. 17), 256ff.
RENATE HOMANN
Gewalt der Aufklärung - Aufklärung der Gewalt Zum Erhabenen in Heinrich von Kleists Erzählungen
/. Das 'ontologische Mißversttindnis' der AujkUirung
„ Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün - und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr - und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich Ach, Wilhelmine, wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr - ". 1
Mit diesen Worten versucht Kleist die Krise zu fassen, die ihm Kants Transzendentalphilosophie aufgezwungen hat. Was sich in diesem Brief individuell ausdrückt, trägt indes allgemeine Züge. Kleist formuliert die Krise der frühen, rationalistischen Aufklärung, auf die Kants Philosophie ihrerseits eine Antwort suchte: Objektive "Wahrheit", die durch ein Fortschreiten des Verstandes in "Bildung" und „ Wissen" angeeignet werden kann und die über das irdische Leben hinaus als „Eigentum" 2 erhalten bleibt, gibt es nicht. Wahrheit wird durch das menschliche Organon der Erfahrung und Erkenntnis: die Vernunft, allererst gesetzt, Vernunft aber wird so ausdifferenziert, daß der Verstand nur noch einen Teil ihrer Funktionen übernehmen kann. Die Krise beruht, wie im folgenden gesagt wird, auf einem 'ontologischen Mißverständnis' der Aufklärung. Es hat sein Zentrum in der Annahme, es könne eine seinsmäßige Gründung von „ Wahrheit" oder „ Versöhnung" jenseits aller Erkenntnis vorausgesetzt werden, die dann entweder durch sich ständig ausdifferenzierendes Wissen immer genauer erkannt
l Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe, hg. von Helmut Sembdner, 8 Bde., München 1964-1969, Bd. 6, 1964: Briefe 1793-1804. Lebensdaten, 163 (Brief vom 22. März 1801 an Wilhelmine von Zenge). 2 Ebd., 162ff.; vgl. auch ebd., 165 (Brief vom 23. März 1801 an Ulrike von Kleist) .
Aufklärung 8/1
Q Felix Meiner Verlag , 1994, ISSN 0178-7128
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oder durch Negation allen bisherigen Wissens punktuell zur Erscheinung gebracht werden könne. 3 Das ontologische Mißverständnis beruht mithin auf der Unterstellung, das Fundament der Wahrheit sei dem aktuellen Erkenntnis- oder Verfassungs-Verfahren gegenüber exterior bzw. transzendent. Es beruht in der einen Variante auf der Unterstellung einer ontologischen Identität von Sein und Erkenntnis und in der anderen Variante auf der Unterstellung einer ontologischen Differenz zwischen Verfassung und Sein, die die Vorstellung der Unmittelbarkeit der Wahrheit ebenso wie der Versöhnung des metaphysischen Etwas jenseits aller Verfassung produziert. 4 Auf Kleist übte die sogenannte Kant-Krise die Gewalt einer existentiellen Erschütterung aus. Der Entzug eines geradezu glaubensmäßigen Vertrauens in die Erkenntnis objektiver Wahrheit stürzte ihn in Verzweiflung bis hin zum Lebensüberdruß. Erfahrung und Erkenntnis sind unter den Verdacht der Willkür, der Beliebigkeit ihres Wahrheitsanspruchs geraten. Wissenschaft kam seither für Kleist als ein Beruf und insofern als ein Mittel, seinen Lebensplan zu stützen, nicht mehr in Betracht. Das Grauen, das verstärkt im Thema der Literatur um 1800 auftritt, hat, lebensweltlich gesehen, in genau der neuen Erfahrung von Abgründen seinen Ursprung, die sich hinter der naturwissenschaftlichen und moralischen Erkenntnis auftun, weil diese immer nur subjektiv und partiell sein können. 5 Ebenso wie die Autoren dieser Literatur sucht nun auch Kleist einen Ausweg aus der existentiellen Erschütterung in seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Gleichwohl gilt es, die
3 Mit dieser Alternative sind die Pole markiert: vorkritische Aufklärung im 18. Jahrhundert und eine Art Teleologie (Naturgeschichte) im 20. Jahrhundert: Kleists vorkritische Rezeption der Aufklärung und Adornos Eschatologie, sofern sie in eine 'Resurrektion der Natur· e inmündet. 4 Für die zweite Variante ist Heideggers .Sein und Zeit" repräsentati v. In der Tradition des ontologischen Mißverständnisses steht selbst noch Adornos ' Ästhetische Theorie '. In ihr ist das ZuVersöhnende - die im Prozeß der rationalen Aufklärung immer ausgegrenzte, verdrängte .Natur" - dasjenige, was am Ende der doppelten Negation des Erkenntnisverfahrens punktuell als das ganz Andere - ex negativo - erscheinen soll; vgl. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ästhetische Theorie, hg. von Grete! Adorno und RolfTiedemann, Frankfurt a. M. 1970, 125-134. Dieter Henrich restituiert ebenfalls noch einmal den ontologischen Status der Differenz von Selbst und Sein in der Kunsttheorie, indem er der modernen Kunst die Aufgabe zuschreibt, die - freilich nie gelingende - Vermittlung zwischen beiden, das heißt für Henrich , den .unvordenklichen Grund des Selbst", zu realisieren. Dieter Henrich , Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel), in: Wolfgang Iser (Hg.), Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Modeme (Poetik und Hermeneutik, 2), München 1966, 11-32. 5 So taucht das Phänomen des Grauens und des Unheimlichen in den Werken der Romantiker - u. a. besonders in E. T. A. Hoffmanns Erzählung 'Der Sandmann' - auf. Folgt man der „Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer/ Adorno, dann ist darin ein Indiz für die unkontrollierte Wiederkehr dessen zu sehen, was im Prozeß der rationalen Aufklärung verdrängt wurde, weil es rational nicht faßbar ist. Daß die methodische Struktur einer .Dialektik der Aufklärung" für die Klärung des historischen und psychologischen Problems des Grauens zu einem unverzichtbaren Standard geworden ist, belegen zahlreiche wissenschaftliche Beiträge, so auch: Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zur Literatur- und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1987; vgl . ferner Hans-Tbies Lehmann, Das Erhabene ist das Unheimli che. Zur Theorie einer Kunst des Ereignisses, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 43(1989). Sonderheft (Heft 9/ 10): Das Erhabene nach dem Faschismus, hg. von Karl Heinz Bohrer, 751 - 764.
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Antworten, die seine literarischen Werke enthalten, mit der gebotenen Vorsicht zu betrachten, hat er doch gleichzeitig bekannt, darin gescheitert zu sein, die „Erfindung", die er in der „Kunst" gemacht habe, zu realisieren. Er hat sein „Guiskard"-Fragment verbrannt - jenes „Gedicht", von dem er seiner Schwester Ulrike schreibt: „Ich habe nun ein Halbtausend hinter einander folgender Tage, die Nächte der meisten mit eingerechnet an den Versuch gesetzt, zu so vielen Kränzen noch einen auf unsere Familie herabzuringen: jetzt ruft mir unsere heilige Schutzgöttin zu, daß es genug sei [... ]. Und so sei es denn genug. Das Schicksal, das den Völkern jeden Zuschuß zu ihrer Bildung zumißt, will, denke ich, die Kunst in diesem nördlichen Himmelsstrich noch nicht reifen lassen. Töricht wäre es wenigstens, wenn ich meine Kräfte länger an ein Werk setzen wollte, das, wie ich mich endlich überzeugen muß, für mich zu schwer ist. Ich trete vor einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich, ein Jahrtausend im voraus, vor seinem Geiste. Denn in der Reihe der menschlichen Erfindungen ist diejenige, die ich gedacht habe, unfehlbar ein Glied, und es wächst irgendwo ein Stein schon für den, der sie einst ausspricht. "6 Als sicher kann indes gelten, daß Kleists Dichtung die Überwindung des ontologischen Mißverständnisses der Aufklärung in dem Maße enthält, in dem sie die Funktion erhält, eine - um es mit Hölderlin zu sagen - „andere Aufklärung"7 zu sein. Dem Faktum, daß an die Stelle der Objektivität nun Subjektivität und Partialität mit den sie begleitenden Problemen der Willkür und Beliebigkeit getreten sind, wird m.E. mit der Forderung nach Freiheit begegnet: Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung: von individueller und kollektiver Bindung an selbst gegebene Regeln, an eine selbst gegebene Verfassung. Die neue Suche nach Erkenntnis gilt - so die hier zu explizierende These - nicht mehr einer objektiven, ewig gültigen Wahrheit, sondern einer 'wahren' Verfassung. Die Wahrheit, die die Literatur unter den neuen Bedingungen noch sagen kann, hat ihren Grund daher nicht in etwas ontologisch Gegebenem, nicht in etwas der empirischen Welt und der menschlichen Erkenntnis nur verborgen gebliebenem Transzendenten, sondern in der Verfassung der literarischen Werke. Der Wahrheit entspricht etwas im Prozeß der Konstituierung der literarischen Rede immanent entstehendes Neues, Transzendentes. Gemessen an der Funktion, die der Literatur dadurch im Prozeß der Konstituierung der Moderne zukommt, ist es sicherlich nicht zu hoch gegriffen, von einer „Kopernikanischen Wende" in der Literatur zu sprechen. Der heutige Stand der wissenschaftlichen Methodenreflexion jedenfalls erlaubt es, diese mit Hilfe des Begriffs des Erhabenen zu verstehen, den Kant in der 'Kritik der Urteilskraft' neu bestimmt hatte. Es hat sogar den Anschein, als hätten Kleist und andere zeitgenössische Autoren in Kants Begriff den Schlüssel gefunden, den sie zur Selbstverständigung ihres neuen literarischen Tuns gesucht hatten. Denn: Als ästhetisches Urteil konzipiert, meint das Erhabene dort den gesamten Prozeß der Urteilsbildung, der - und das ist 6 Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe (wie Anm. 1), Bd. 6, 257 f. (Brief vom 5. Oktober 1803 an Ulrike von Kleist). 7 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Stuttgarter Hölderlin Ausgabe, hg. von Friedrich Beiß· ner , Bd. 4, Stuttgart 1961, 277.
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das Ausschlaggebende - durch das ontologische Mißverständnis, sofern es eine „Kluft"8 zwischen theoretischer und praktischer Vernunft verursacht hatte, provoziert wird. Im Unterschied zu dem ästhetischen Urteil über das Schöne ist das Urteil über das Erhabene nämlich nicht einfach das Modell einer neu gewonnenen Harmonie innerhalb der Erkenntniskräfte, innerhalb der theoretischen Vernunft, sondern - viel umfassender - das Modell einer systematischen 'Inszenierung' des Konflikts zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft, dem Erkenntnis- und dem Begehrungsvermögen, und der Lösung des Konflikts. Zur Explikation dieses Neuen, zu dem weder in der „Kritik der reinen Vernunft" noch in der „Kritik der praktischen Vernunft" ein Zugang eröffnet war, formuliert Kant das Erhabene von einem Gefühl für etwas Transzendentes in ein transzendentales Urteil um, in dem die aktuelle Reflexion der praktischen Vernunft - unter dem Druck des Scheiterns der theoretischen Vernunft und der von diesem Scheitern ausgehenden Drohung, die ganze Vernunft zum Scheitern zu bringen - sich ihrer selbst vergewissert. Diese Selbstvergewisserung belegt Kant mit dem Terminus "ästhetisch", weil sie ohne einen bestimmten (theoretischen) Begriff und ohne eine bestimmte (moralische) Idee verläuft. Sie soll stattdessen nur in bezug auf den Reflex der aktuellen Reflexion der praktischen Vernunft verlaufen, den diese zudem ad hoc in die Lösung des Konflikts mit der theoretischen Vernunft umerfindet. Den Reflex nennt Kant nun wieder „Gefühl", das „Gefühl" der Reflexion von sich selbst: eine aus Ohnmacht hervorgehende Lust oder „negative Lust" .9 Darin findet Kant - so meine These - den gesuchten „Übergang" über die „Kluft" zwischen der theoretischen und der praktischen
8 Kant 's gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen (später: Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910ff., Bd. 5, 1913, 175. 9 Ebd„ 23, 145. Dabei begleitet das Gefühl der Ohnmacht das Scheitern des Verstandes. Die Einbildungs.kraft nimmt bei der Betrachtung bestimmter Naturphänomene plötzlich unendlich mehr wahr, als der Verstand unter einen bestimmten Begriff subsumieren kann. An dieser Expansion der Einbildungskraft - an der unendlichen Fülle sinnlicher Eindrücke - also scheitert das Synthesisvermögen des Verstandes. Es kommt zu keiner empirischen Erkenntnis. Kant spricht explizit von der " Macht" der Einbildungskraft gegenüber dem Verstand; ebd„ 29, 269. Die Tatsache, daß sie nicht alle Funktionen der Vernunft zum Scheitern bringt, verdankt sich der praktischen Vernunft, deren 'Gewalt' nun aber nicht - wie in der Forschung häufig angenommen - die Einbildungskraft zum Stillstand zwingt, sondern, im Gegenteil , zur Fortsetzung ihrer Expansion ermuntert, weil sie genau diese ad hoc in eine indirekte Darstellung ihrer eigenen Tätigkeit umerfindet, insofern auch sie nicht vom Verstand synthetisiert , das heißt nicht von einer dem Verstandesbegriff entsprechenden Anschauung dargestellt werden kann . Diese einmalige auf das aktuelle Scheitern des Verstandes - reagierende Aktivität der praktischen Vernunft läßt das Gefühl der Ohnmacht in das einer indirekten Lust umschlagen. So ist das "Gefühl " des Erhabenen ein Autoreflex der Reflexion der ganzen , in sieb konfligierenden und ihren Konflikt selbst lösenden, Vernunft. " Das Wohlgefallen am Erhabenen der Natur ist daher auch nur negativ (statt dessen daß am Schönen positiv ist), nämlich ein Gefühl der Beraubung der Freiheit der Einbildungskraft durch sie selbst, indem sie nach einem andern Gesetze, als dem des empirischen Gebrauchs zweckmäßig bestimmt wird. Dadurch bekommt sie eine Erweiterung und Macht, welche größer ist als die, welche sie aufopfert, deren Grund aber ihr selbst verborgen ist , statt dessen sie die Aufopferung oder die Beraubung und zugleich die Ursache ftJhlr , der sie unterworfen wird. · Ebd.
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Vernunft, zwischen dem "Gebiete des Naturbegriffs" und dem "Gebiete des Freiheitsbegriffs" . 10 Der systematische Ertrag liegt in der Depotenzierung des ontologischen Mißverständnisses, ist doch an die Stelle der Erkenntnis objektiver Wahrheit (der Natur oder der Moral) die Selbstvergewisserung des (Urteils-) Verfahrens - mithin eine Erkenntnis sui generis - getreten. Kant schreibt ihr die Qualität dessen zu, was er die "Heautonomie" an ästhetischen Urteilen nennt. 11 Sie läßt sich unschwer als Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung fassen . Es liegt daher in der Konsequenz dieser Kantischen Entdeckung, daß seither immer dann, wenn in der philosophischen oder literaturwissenschaftlichen Diskussion Zuflucht zu einer dem Verfassungsprozeß gegenüber exterioren Bedeutung genommen wird, ein solches Vorgehen als ein Mißverständnis gegenüber der Heautonomie verstanden werden muß. Es ignoriert die Modernität des ästhetischen Urteils über das Erhabene - und die Modernität von Literatur und Kunst. Denn darin, daß in das Urteil über das Erhabene Gewalt - die Gewalt der Einbildungskraft gegen den Verstand - methodisch interiorisien ist, um das energetische Potential der Gewalt zur Provokation einer Selbsttransformation der aktuellen Reflexion der Vernunft zu einer ästhetischen zu nutzen, kündigt sich das Novum an, das sich aufseiten der Literatur in der aktuellen Selbsttransformation von deren Rede erfüllt. Es begründet die Modernittit der Literatur. Dieser These liegt eine Theorie der Literatur zugrunde, in der der Begriff des Heautonomen nicht länger mit dem des Autonomen verwechselt wird. Die Theorie der Autonomie kam meines Erachtens nicht über den Punkt hinaus, die moderne Literatur nur als eine andere als diskursive Darstellung von etwas ontologisch, psychologisch oder sprachtheoretisch begründetem Vorgegebenen, Verborgenen oder noch gar nicht Existierenden zu verstehen. Es kommt aber darauf an, sie als Realisation Autoreflexes zu begreifen, in dem - vergleichbar der „negativen Lust" im Urteil über das Erhabene - sich ihr sprachliches Verfahren aktuelJ selbst zu dem nie zuvor Konstituierten und insofern als das vollkommen neu zu Konstituierende erfindet. Hat Literatur nichts Exteriores darzustel-
10 Ebd., 175 f. u. 196. Die Lösung des Konflikts liegt damit in etwas nie zuvor Dagewesenem, in etwas, das , von der .Kritik der reinen Vernunft" und der .Kritik der praktischen Vernunft" her gesehen, unmöglich ist: Die praktische Vernunft übernimmt angesichts bestimmter - großer oder chaotischer - Naturphänomene im aktuellen Scheitern des Verstandes (der theoretischen Vernunft) selbst die (Synthesis-)Funktion der theoretischen Vernunft: Sie erfindet in ihrem Autoreflex eine vollkommen neue Synthesis für die Vernunft als ganze und sekundär dann auch für die Naturphänomene. Die praktische Vernunft 'unterlegt' genau dieses . Noumenon" den ansonsten nicht synthetisierbaren, das heißt nicht faßbaren, empirischen Naturphänomenen. Es ist daher also meine These, daß Kant in dem Autoreflex der Selbsttransformation der praktischen Vernunft den gesuchten • Übergang" gefunden hat . Die Modernität einer solchen ästhetischen Konfliktlösung liegt somit in der Erfindung einer an das aktuelle Verfassungsverfahren gebundenen 'Idee ' des Ganzen eben dieses Verfahrens: an die dem Urteilsverfahren inhärente, nur mehr metaphysiklose, Nicht-Immanenz. Vgl. hierzu: Renate Homann, Zu neueren Versuchen einer Reaktualisierung des Erhabenen. Lyotards Ulilisierung einer ästhetischen Kategorie für eine neue Ethik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 48, l (1994) 43 - 68. 11 Kant' s gesammelte Schriften (wie Anm. 8), Bd. 5 , 185f.
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len, dann folgt daraus indes nicht, was der Tendenz nach in dem Theorem radikalisiert ist, die Literatur stelle nur noch dar, daß sie nichts mehr darzustellen habe. 12 Die Aufklärung nun, die Kleists Werke über die Gewalt leisten, gilt der Heteronomie in ihrer Verfassung. Fremdbestimmung von sprachlicher Verfassung und Verfaßtem in einer vollkommen an einer exterior begründeten Pragmatik orientierten Bedeutung oder in einer vollkommen regellos sich einstellenden Bedeutung ist eine Form von Freiheitsberaubung. Sie indiziert immer Gewalt gegenüber den in Kleists Dramen und Erzählungen rekonstruierten sprachHchen Verfassungen, und sie indiziert immer Gewalt gegen die aktuelle Verfassung des jeweiligen Werks, die sich erst in der Rekonstruktion anderer Verfassungen als freie erfindet. 13 Kleist läßt diese Gewalt nicht selten im Töten der Figuren sinnfällig werden. In enger Anlehnung an die „Kritik der Urteilskraft" hatte bereits Schiller das Verhältnis von Heautonomie und Heteronomie in die Dichtungstheorie übertragen. Im Gegensatz zu den Jebensweltlichen Verfassungen begründete er nämlich die literarische Verfassung aus einer, wie man sagen kann, "tisthetischen Reduktion", fordert er doch, die „empirischen", das heißt immer eingeschränkten, „Formen" in der Dichtung auf eine „unendliche Form" zurückzuführen. 14 Man kann sie als ein Suchverfahren verstehen, das Gewalt in sprachlichen Verfassungen aufspürt, mit dem Ziel, Freiheit - die Idee der Moderne - zu dem Grundprinzip der literarischen Verfassung erklären zu können: 'Freiheit als Verfassung' und 'Verfassung der Freiheit', mußte zur Devise der „anderen Aufklärung" geworden sein, wenn in jener Zeit politisch eine „republikanische Verfassung" als die Rahmenbedingung des „Sapere aude!" , 15 der moralischen Selbstverfassung, etabliert werden sollte. Wenn im folgenden am Beispiel von Kleists Erzählung 'Das Erdbeben in Chili' die Selbstaufklärung der literarischen Verfassung erörtert wird, kann somit der ästhetische Begriff des Erhabenen die Funktion eines lnterpretaments überneh-
12 Diese Auffassung liegt in der Konsequenz der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik und des Formalismus/Strukturalismus; in der Dekonstruktion hingegen bildet sie die Voraussetzung der Beschäftigung mit Literatur. Das werden die Ausführungen zu Kleists 'Erdbeben in Chili' ergeben. 13 Kant spricht von der Idee der .absoluten Totalität" - Kant's gesammelte Schriften (wie Anm. 8), Bd. 5, 25, 250, und 29, 268 - hinsichtlich des Mathematisch-Erhabenen und von der Idee der .Menschheit in unserer Person" - ebd., 28, 262 - hinsichtlich des Dynamisch-Erhabenen, in dem nicht die Größeneinschätzung des Verstandes, sondern die Vorstellung von der Macht des Menschen über die Macht der Natur 'erschüttert' wird. Letzteres war besonders nach dem .Erdbeben von Lissabon" von 1755 eine aktuelle Herausforderung, auf die nicht nur Kant, sondern auch Voltaire (besonders im 'Candide') reagierte. 14 Vgl. Schillers Briefe, hg. und mit Anmerkungen versehen von Fritz Jonas, 7 Bde. , Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1892-1896, Bd. 5, 257. Zum Thema der ästhetischen Reduktion bei Schiller vgl. Renate Homann , Erhabenes und Satirisches. Zur Grundlegung einer Theorie ästhetischer Literatur bei Kant und Schiller (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 43), München 1977, 74-91. JS Kant's gesammelte Schriften (wie Anm. 8), Bd. 8, 1923, 35 ('Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?').
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men. Dabei wird zusätzlich eine besondere Affinität dieses Begriffs zu der Erzählung zutage treten, insofern sie unter dem Gesichtspunkt der Gattung Novelle betrachtet, diese aber mit Goethes Definition als „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit" verstanden wird. 16 Nimmt man an, daß sich eine solche „Begebenheit" im Konstitutionsprozeß der Prosa der Erzählungen ereignet, dann ist der Begriff des Erhabenen geradezu prädestiniert, sie zu explizieren, weil er ja selbst das Urteil über die „unerhörte Begebenheit" - das Ästhetisch-Werden des Organons aller menschlichen Verfassung - ist. Kant nannte das Organon in der Sprache seiner Zeit „ Vernunft".
II. Zum Erhabenen in Kleists Erzlihlungen, am Beispiel des 'Erdbebens in Chili' Der ästhetische Begriff des Erhabenen eignet sich in besonderer Weise, die „andere Aufklärung" zu explizieren, weil ihm auf seiten der Urteilskraft eine Gesetzmäßigkeit inhärent ist, die der Struktur der inneren Dramaturgie der Erzählung gleicht. Bei der Explikation wird aus methodischen Gründen zwischen drei semantischen Ebenen in der Erzählung unterschieden werden. Es sind: - Erstens die Ebene der Figuren und der Konstellationen der Figuren und Handlungen sowie der Beurteilung derselben aus der Sicht des Werks. Diese Ebene ist noch nicht theoretisch, das heißt, sie enthält noch keine Selbstreflexion der Literatur. - Zweitens die Ebene der inhärenten Poetologie: Diese Ebene ist durch jene Selbstreflexion der Literatur gekennzeichnet, die sich in der Rezeption anderer Literatur konstituiert. Sie ist bereits 'theoretisch' , das heißt, sie ist entschlüsselbar nur über eine inhärente 'Theorie' der Novelle. - Drittens die Ebene der inhärenten Ästhetik der Prosa, die sowohl die aktuellen autoreferentiellen Vollzüge der Prosa als auch deren literarische Selbstdeutung umfaßt. Sie ist die höchste Ebene der Erzählung. Sie begründet die Erzählung als eine moderne Novelle. Denn: Sie ist der systematische Ort der aktuellen - hier und jetzt - sich vollziehenden genuinen Selbst-Erkenntnis der modernen erzählenden Prosa. Die drei semantischen Ebenen zusammen ergeben die Methode der „geschichtsliterarischen" Selbstreflexion der Gattung Novelle. Sie sind hier nur, um dies zu betonen, aus analytischen Gründen unterschieden, in der Rede der Erzählung sind sie in jeder semantischen Relation gleichzeitig präsent. 17 16 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Artemis Gedenk-Ausgabe, hg . von Ernst Beutler, Bd. 24, Zürich 1948, 225 (Gespräch vom 25. [29.] Januar 1827). 11 Zur Einführung des Terminus des ,Geschichtsliterarischen" und dessen literarunheoretischem Gebrauch vgl. Renate Homann, Selbstreflexion der Literatur. Studien zu Dramen von G. E. Lessing und H. v. Kleist (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 70), München 1986, besonders 34-47 . Dort habe ich auch die Unterscheidung zwischen den verschiedenen semantischen Ebenen eingeführt. Die Aufteilung erfolgte indes anders als in dem vorliegenden Aufsatz, weil es dort darauf ankam , erst einmal auf die inhärente Reflexion von Literatur aufmerksam zu
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l. Das Erhabene -
theologische Struktur einer lebensweltlich-sittlichen Rezeption von Literatur
Die Naturkatastrophe - das Erdbeben, das „St. Jago", die Hauptstadt von „Chili", fast völlig zerstört hat - bildet auf der ersten semantischen Ebene die, der Novellentheorie gemäße, „unerhörte Begebenheit". Bereits auf dieser Ebene zeigt sich jedoch eine Doppelheit insofern, als aus dieser eine zweite „unerhörte Begebenheit" folgt , nämlich die Ermordung der Hauptfiguren Josephe und Jeronimo sowie der Nebenfiguren Constanze und Juan, des Kindes von Fernando und Elvire. Die Zweiteilung verweist darauf, daß die Erzählung komplexer angelegt ist als eine einfache Novelle, denn diese könnte mit der Rettung des Jeronirno und der Josephe vor dem Erdbeben geendet haben, war es doch das Erdbeben, das diese beiden bereits vor dem Tod gerettet hatte - Josephe vor der Hinrichtung, zu welcher sie wegen ihrer außerehelichen Vereinigung mit Jeronimo verurteilt war, und Jeronimo vor dem Selbstmord, zu welchem er sich angesichts des Todesurteils, das über Josephe verhängt worden war, im Gefängnis entschlossen hatte. Die Tatsache, daß die Erzählung mit der Errettung der Josephe, des Jeronimo und ihres Kindes Philipp sowie dem Wiedersehen in dem außerhalb der Stadt gelegenen Tal nicht endet, daß vielmehr die Rettung in eine andere Katastrophe: in den Mord, führt , deutet auf eine Neubestimmung der Novelle hin, sie kann aber auf der ersten Ebene nicht begründet werden. Auf der ersten Ebene findet Aufklärung über Gewalt - den Mord - insoweit statt, als dessen Ursache als ein allgemeines Problem der Welterfahrung im 17. Jahrhundert dargestellt ist. Sie liegt in einer Verwechslung des naturwissenschaftlichen Paradigmas mit dem theologischen und dem ethischen. Der „Chorherr" legt in seiner „Predigt" die erste Katastrophe, die Naturkatastrophe, die in die Ordnung der menschlichen Gesellschaft zufällig eingebrochen war, als eine religiöse und sittliche Notwendigkeit aus: Das Erdbeben wird „im Flusse priesterlicher Beredsamkeit" zum Vorzeichen des göttlichen „Weltgerichts" umgedeutet. „St. Jago" aber wird mit „Sodom und Gomorrha" verglichen (Bd. 4, 141). 18 Die Gewalt einer solchen Rhetorik endet in der sittlichen Katastrophe: in dem Mord an den vermeintlichen Sündern. Dem rhetorischen Gebrauch der Rede - der Chorherr schürt mit Hilfe alttestamentlicher Motive die Emotionen der in der
machen , so daß es einerseits notwendig war, das, was hier die erste Ebene bildet, in eine erste und zweite Ebene aufzuteilen, um so zu zeigen, daß beide noch nicht 'theoretisch ' verfaßt sind, und es andererseits möglich war, das , was hier die zweite und die dritte Ebene bildet, zu einer Ebene, zu der dritten semantischen Ebene, zusammenzufassen, weil beide: inhärente Poetologie und inhärente Ästhetik, zusammen die ' theoretische' Qualit.ät des literarischen Werks ausmachen. Dieser Wechsel verweist einmal mehr auf den nur heuristischen Charakter der Unterscheidungen. Ein zusätzlicher Vorteil der Unterscheidung besteht darin, eine systematische Orientierung vorzugeben , mit deren Hilfe der jeweilige Stand der literaturwissenschaftlichen Forschung geortet werden kann. 18 ' Das Erdbeben in Chili' wird zitiert nach: Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe (wie Anm. 1), Bd. 4, 1964, 131-145. Im folgenden werden die Zitate aus dieser ErzähJung im Text und in den Fußnoten, wie hier erfolgt, unter Angabe . Bd. 4 " und der Seitenzahl belegt.
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Kirche versammelten „ungeheuren Menschenmenge" (ebd.) gegen Josephe und Jeronimo, um sie sittlich zu disziplinieren - entspricht die Restituierung jenes archaischen Gottesbegriffs, der Gott in der Doppelgestalt eines Rächenden und eines Belohnenden faßt. 19 Auf einen solchen rhetorischen Gebrauch von Rede und auf einen solchen archaischen Gottesbegriff trifft gleichermaßen der Inhalt des alten Begriffs des Erhabenen zu. Kleist vergegenwärtigt ihn mit Hilfe von Dualismen: Schuld - Vergeltung (Rache, Sühne), Unglück - Glück, Zufall Notwendigkeit, Erde - Himmel, Leid - Freude. Folgerichtig läßt er die „Predigt" als die Ursache für die zweite Katastrophe erscheinen, die er in dem Kindermord kulminieren läßt: „Doch Meister Pedrillo ruhte nicht eher, als bis er der Kinder eines bei den Beinen von seiner [des Don Fernando - R.H.] Brust gerissen, und, hochher im Kreise geschwungen, an eines Kirche11pfeilers Ecke zerschmettert hatte." (Bd. 4, 144) Die Erzählung klärt auf dieser Ebene somit in dem eher gängigen Aufklärungsschema darüber auf, daß ein solcher rhetorisch/theologischer Gebrauch von Rede antiaufklärerisch ist: Die Verwechslung der Paradigmen, die ihm zugrunde liegt, war im 17. Jahrhundert bereits eine sittlich zuzurechnende Katastrophe. Literarisches Indiz dafür aber ist die Tatsache, daß biblische Rede in ihr auf sittliche Inhalte (Motive) reduziert wird. Die Distanz, in welche die Erzählung zu einer solchen Auslegung tritt, wird daran deutlich, daß ein anderer Umgang mit Literatur dargestellt ist. Auch er wird nach der Naturkatastrophe praktiziert. In dem Tal vor der Stadt - „im Freien" (Bd. 4, 133 u. 135) - beruht das Miteinander der Menschen weitgehend auf dem Erzählen von Geschichten, die das Erhabene im Sinne antiker Tugenden zu ihrem Inhalt haben: „Römergröße", „ungeheure Taten", „von Selbstverleugnung und der göttlichen Aufopferung", „von ungesäumter Wegwerfung des Lebens". In der „Rührung", die es verursacht, mischen sich „Schmerz" und „Lust" (Bd. 4, 139), die dann wiederum die Anteilnahme der Menschen am erfahrenen Leid der anderen weckt. 2° Folgerichtig bewirkt es einen wechselseitigen vorurteilsfreien Umgang und praktische Hilfe. Die kleine Gesellschaft, die aus einander bekannten Familien besteht, bildet so etwas wie die Utopie einer neuen Gesellschaft: „eine Familie" (Bd. 4, 138).
19 In seiner Eigenschaft als rächender Gott nimmt der alttestamentliche Gott Züge sowohl des Dionysos-Bromios als auch des Mars-Ares an, des .Erderschütterers" und .Städtezermalmers". In der 'Penthesilea' ordnet Kleist die Titelfigur dem Gott Mars-Ares zu, vgl. besonders Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe (wie Anm. 1), Bd. 2, 1964, 20. Auftritt, 236 f. Die Gestalt eines belohnenden Gottes läßt Kleist sowohl in der Figuren-Rede als auch in der Rede der Werk-Perspektive immer dann hervortreten, wenn in ihr jeweils die Rettung vor dem Erdbeben als ein • Wunder" und die augenblickliche Erfahrung als .Glück" ausgelegt wird. Vgl. Bd. 4, 133, 134, 138 u. 140. 20 Lessing spricht in seiner frühen, von der literarischen Empfindsamkeit beeinflußten, Theorie des Mitleids davon, daß der .mitleidigste" Mensch - jener also, den Trauerspiele zur Anteilnahme am dargestellten Leid 'rühren• - der zu .allen gesellschaftlichen Tugenden" .aufgelegteste" Mensch sei. Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel. Nebst verwandten Schriften Nicolais und Mendelssohns, hg. und erläutert von Robert Petsch, Leipzig 1910, 54 (Brief vom 13. November 1756 an Friedrich Nicolai). Kleist spielt damit auf die von Lessing aufgenommene Tradition der literarischen Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts an, um sie von den antikisierenden Trauerspielen des spanischen Barock und des französischen Klassizismus abzusetzen.
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Allerdings bleibt in der neuen Gesellschaft der Denkstruktur, die an dem „erhabenen" Gottesbegriff des Priesters zutage treten wird, erhalten. 21 Die Gewalt des Dualismus bestimmt nach der Naturkatastrophe das Schema der religiösen, sittlichen und politischen Vorstellungen der Figuren: Wie Josephe dem „Drang" nachgibt, in die Kirche zu gehen, um dort „ihr Antlitz vor dem Schöpfer in den Staub zu legen" , weil sie ihn „niemals lebhafter empfunden habe, als eben jetzt, wo er seine unbegreifliche und erhabene Macht so entwickle" (Bd. 4 , 140), so beabsichtigt Jeronimo, obwohl alle politischen Institutionen - Gebäude und die Inhaber der Ämter - durch das Erdbeben zerstört bzw. erschüttert worden sind und obwohl im Tal das gesellschaftliche Leben im Ansatz durch das Prinzip der Gleichheit aller bestimmt ist, einen „Fußfall " vor dem Vizekönig zu „wagen" , um ihn, der die Hinrichtung Josephes nicht abgewendet, sondern nur eine andere Art des Tötens befürwortet hatte, um „ Versöhnung" (Bd. 4, 139) zu bitten. Und: Josephe will den „Fußfall " nur in ein Bittschreiben umgewandelt wissen. Konsequent läßt die Erzählung Josephe und Jeronimo daher von ihrem Plan Abstand nehmen, nach „La Conception" zu gehen, um von dort aus nach Europa auszuwandern, denn das Verwerfen dieses Planes, das seinerseits auf ein voreiliges Vertrauen wiederum in eine Empfindung: in die „Stimmung der Gemüter" und in ihre eigene „unaussprechliche Heiterkeit" (ebd.), zurückzuführen ist, ist ihr Todesurteil. Wenn die Satire Ideale und Utopien an dem Mißverhältnis ihrer faktischen Realisierung in der aktuellen Situation decouvriert, dann erfüllt sie auf dieser semantischen Ebene ihre Funktion darin, die „selbstverschuldete Unmündigkeit" der beiden Hauptfiguren aufzuzeigen und zu verurteilen. Ihr Urteil und damit das Urteil des literarischen Werks auf der ersten Ebene erfüllt sich in dem Tod dieser Figuren. Die Erzählung klärt so über einen antiquierten Begriff des Erhabenen in der Denkstruktur der Figuren und einen dieser entsprechenden heteronomen Umgang mit der Literatur auf. Literatur ist auf Motive des Erhabenen reduziert, die unmittelbar auf sittliche Substanz hin befragt werden. Einen „Umsturz aller Verhältnisse" (Bd. 4, 139), wie ihn nach der Naturkatastrophe der Umgang der Menschen im Tal insinuieren sollte, kann es daher auf dieser Ebene nicht geben.
2. Das Erhabene -
poetologisches Prinzip einer literarischen Rezeption von Literatur
Anders als auf der ersten erscheint auf der zweiten semantischen Ebene das Erhabene als das Prinzip eines Verfahrens und nicht als ein in Form eines Dualismus strukturierter Inhalt. Auf dieser Ebene ist erstmals die Heautonomie der Erzählung konstituiert: Die Erzählung reflektiert sich selbst als eine literarische Gat-
21 Schematisiert dargestelh, handelt es sich um die Struktur eines Dualismus, in dem das eine immer auf Kosten seines Gegenteil s realisiert wird: Glück auf Kosten des Unglücks anderer, Kultur auf Kosten der Natur. Vgl. Bd. 4, 136 u. 138.
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rung, indem sie konstitutiv andere Literatur rezipiert. Aufklärung erscheint hier als ein Suchverfahren nach der Gewalt, die in der literarischen Verfassung vorhanden ist. Die "unerhörte Begebenheit" ist demzufolge nicht mehr in einer doppelten lebensweltlichen Gewalt - in der Naturkatastrophe und in der moralischen Katastrophe - zu suchen, sondern ganz speziell in der Verfassung der Novelle, in einer doppelten "Begebenheit" in der Geschichte ihrer Konstituierung. Die Geschichte der Gattung Novelle ist auf dieser Ebene wiederum nicht historisch vorgegeben, Kleist erfindet sie hier vielmehr nach, und zwar deutlich im Schema eines Dramas, dessen Dramaturgie dem Prinzip des Erhabenen entspricht: (Drohung der) Katastrophe - suspense - Untergang als zweite Katastrophe - Utopie. Wie in einem analytischen Drama situiert Kleist die erste „unerhörte Begebenheit" außerhalb der Erzählung. Sie liegt in der illegitimen Vereinigung zweier, am Maßstab der Poetologie des 17. Jahrhundert gemessen, nicht zu einer Einheit zu bindenden literarischen Gattungen. Sie sind in Donna Josephe und Jeronimo personifiziert. Ausgebend von den Ständen, die die Figuren repräsentieren, können die literarischen Gattungen auf dieser Ebene als hohe Poesie - Lyrik - und 'bürgerliche' Prosa - Epik22 - verstanden werden. Philipp, das Kind der beiden, würde demzufolge einer neuen Gattung, einer Mischgattung aus beiden, entsprechen. Es ist nun das Erdbeben, von dem die Erzählung auf der ersten Ebene als einer Naturkatastrophe berichtet, das die für die zweite semantische Ebene relevante „unerhörte Begebenheit" erst hervorbringt: Die wegen ihrer Vereinigung zum Tode verurteilten literarischen Gattungen und die aus beiden entstandene Mischform werden durch diese Katastrophe vom Tod suspendiert. Da nun auf dieser semantischen Ebene Gewalt nur poetologisch, 'theoretisch', konstituiert ist, bedeutet das Grauen, das die Inhalte der Wortsprache aufweisen, hier nicht primär naturwissenschaftlich, theologisch oder sittlich auszulegende existentielle Gewalt, sondern jene Gewalt, die literarischen Verfassungen inhärent ist. In der Naturkatastrophe und in der moralischen Katastrophe sind gleichermaßen Katastrophen in literarischen Verfassungen dargestellt, eben weil
22 Aufgrund des Stiindeprinzips, das im 17. Jahrhundert herrschte, und der diesem vergleichbaren Hierarchie in der Poetologie dieser Zeit kann - freilich mit der gebotenen Vorsicht - auf eine solche Zuordnung zurückgegriffen werden. Donna Josephe ist die Tochter des Don Henrico Asteron, eines .der reichsten Edelleute der Stadt", den Kleist, um seinen Stand hervorzuheben, auch nur mit dem Titel .der alte Don" bezeichnet (Bd. 4, 130). Jeronimo hingegen war Hauslehrer bei Josephe. Aus der Fülle der normativen Poetologien des 17. Jahrhunderts sei nur erinnert an Martin Opitz: 'Buch von der deutschen Poeterey' von 1624; Georg Philipp Harsdörffer: 'Poetischer Trichter' von 1647 - dem Jahr des 'Erdbebens in Chili' -; Niclas BoileauDespreaux: 'Art po~tique' von 1674; aber auch an Dramen Comeilles und Calder6ns. Besonders Corneilles antikisierende Dramen restituieren den Begriff des Erhabenen in bezug auf die Hierarchisierung innerhalb der Literatur. Seine Trauerspiele haben das Erhabene zu ihrem sittlichen Inhalt, und ihre verspoetische Form entspricht dem Genus grande, dem erhabenen Genus. Auf Kleists Rekonstruktion des Paradigmatischen der Dramen und Fronleichnamsspiele Calder6ns wird an späterer Stelle einzugehen sein.
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Bedeutung nicht exterior gegenüber den literarischen Verfassungen, sondern in ihnen selbst, interior, konstituiert ist. Es ist die inhärente Gattungsreflexion, die in dem suspense des Untergangs der beiden literarischen Gattungen das Merkmal der „Novelle" zu erkennen gibt. Der suspense ermöglicht nämlich in der literarischen Verfassung, was im ästhetischen Urteil über das Erhabene in der Verfassung der Vernunft geschieht: eine nie zuvor dagewesene Verbindung zwischen konfligierenden Paradigmen - dort: zwischen Einbildungskraft, dem Vermögen sinnlich-empirischer Wahrnehmung, und der praktischen Vernunft, dem Vermögen der Realisation Sittengesetzes; hier: die vor der Erzählung liegende, von ihr als zufällige - außerhalb ihrer Gesetzmäßigkeit gehaltene - Vereinigung der beiden verschiedenen literarischen Gattungen, die - und das ist das Entscheidende - in dem suspense ihres Untergangs noch einmal die Chance erhalten sollen, sich als eine Einheit zu konstituieren. 2 3 Kleists Erzählung reflektiert genau darin das Einmalige in der Geschichte der Literatur: die Aussetzung (Außer-Kraft-Setzung) der Gewalt einer normativen literarischen Verfassung gegen die beiden Gattungen, die sich ihrem „Gesetz" 24 nicht gefügt hatten. Allerdings wäre es ein Irrtum zu meinen, Kleist
23 Den Terminus .suspense" har Jean Francois Lyotard im Zusammenhang seiner Reaktualisierung des Erhabenen zu einer Kategorie der ästhetischen Darstellung in Kunsr und Literarur an zentraler Stelle verwand!, vgl. : Jean Franeois Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 38 (1984), 151-164. Für ihn ist die Realisation des suspenses im Sinne eines .es geschiehr", eines .Ereignisses" oder. Vorkommnisses" - ebd., 152, 162 u. ö. - die methodische Voraussetzung für die These, daß Kunst und Literatur unter den Bedingungen der Drohung ihres Endes, die hisrorische Katastrophen wie Auschwitz implizieren, die Drohung widerlegen können. Im Unterschied zu Lyolards Konzepr der Dekonstruktion kommt der vorliegende Aufsatz zu einem anderen Ergebnis hinsichtlich dessen, was moderne Kunsr und Lilerarur zu ihrem substanliellen Zentrum haben. Vgl. dazu auch Renate Homann, Zu neueren Versuchen einer Reaktualisierung des Erhabenen (wie Anm. 10). 24 Zu Beginn der Erzählung ist von dem strengen .klösterlichen Gesetz" (Bd. 4, 131) die Rede, auf das die Todesstrafe für Josephe zurückgehen soll, haue sie doch ihr Kind mir Jeronimo im .Klosrergarten " gezeugt. Wird es nur lebensweltlich verstanden, dann kann die Tatsache, daß das Geserz nicht in einer Figur personifiziert wird, nur konstatiert und das Gesetz in seinem semantischen Potential nur aus der Opposition zu der 'natürlichen Liebe' erschlossen werden, wie es geschieht in dem Beitrag von David E. Wellbury , Semiotische Anmerkungen zu Kleists 'Das Erdbeben in Chili', in: Ders. (Hg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleisu 'Das Erdbeben in Chili', München 1984, 73f. Aus der Sicht der inhärenten 'Theorie' der Novelle - zweite semantische Ebene - isr es dagegen möglich, d.ie Anonymität und Macht des Gesetzes als einen Verweis darauf zu verstehen, daß das .Gesetz" nicht primär auf ein lebensweltliches sei es nun klösterliches, staatliches oder göttliches - zurückzuführen ist, sondern auf ein literarisches, das im 17. Jahrhundert für die Einhaltung der Reinheit lirerarischer Gattungen maßgebend war. Aus dem Grund wird die Rede auf der ersten semantischen Ebene völlig ambivalent, wird jeder eruierbare Sinn sich selbst paradox. Diese Erscheinungsweisen am Semanrischen als den intendierten Sinn der ganzen Erzählung auszugeben, wie es in den hermeneutischen Interpretationen nicht selten geschieht - vgl. u. a. Karlheinz Stierle, Das Beben des Bewußtseins. Die narrative Struktur von Kleists 'Das Erdbeben in Chili', in: David E. Wellbury (Hg.), Positionen der Literaturwissenschaft (wie oben), 54-68 - , hieße freilich, die Erzählung in dem mißzuverstehen, worüber sie gerade aufklären will - in der Gewalt, die in lebensweltlicher Redukrion von Lireratur liegr. Denn es sind gerade die Ambivalenzen und Ambiguitäten, das Paradoxe und der Nonsens, die auf der ersten semantischen Ebene die Funktion erfüllen, das Scheitern der Darstellung innerliterarischer Prozesse mit Hilfe einer unmittelbar lebensweltlich referentialisierten Rede zu dokumentieren.
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sei der Ansicht gewesen, die normative Literatur des 17. Jahrhunderts habe den suspense gleichsam freiwillig gewährt. Das Gegenteil gilt. Kleist zeigt gerade, daß ihr der suspense von außen aufgezwungen wird, und zwar durch eine stärkere Gewalt: durch das „Erdbeben". Eine der Literatur exteriore 'grundstürzende' Gewalt, droht es die normative Literatur als ganze zu erschüttern. Ein solches „Erdbeben" ist die „Gewalt der Musik". 2S Den suspense nun, dem die Gattung Novelle ihre Konstituierung verdanken soll, stellt Kleist als ein erstes Zeichen von Modernität dar: von Freiheit in der Konstituierung literarischer Verfassung. Freiheit aber heißt hier, in der poetologischen Selbstreflexion, das Gegenteil von Nachahmung: nämlich Erfindung. 26 Kleist legt sie wie eine Insel in die Mitte der Erzählung, und er weist sogar direkt darauf hin, daß das Novum, um das es sich in der Erzählung handelt, nur das Produkt eines „Dichters" sein kann: „Indessen war die schönste Nacht herabgestiegen, voll wundermilden Duftes, so silberglänzend und still, wie nur ein Dichter davon träumen mag." Den Traum des „Dichters" aber stellt er im Anschluß daran als einen locus amoenus dar: „Überall, längs der Talquelle, hatten sich, im Schimmer des Mondscheins, Menschen niedergelassen, und bereiteten sich sanfte Lager von Moos und Laub. Um von einem so qualvollen Tage auszuruhen. Und weil die Armen immer noch jammerten; dieser, daß er sein Haus, jener, daß er Weib
2s 'Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik (Eine Legende)' lautet der vollständige Titel der Erzählung, in der Kleist die Verwirrung der Brüder (die den Bilderstu.rm auf den Aachener Dom geplant, aber nicht ausgeführt hatten) auf die Aufführung des Oratoriums, an dem hauptsächlich das Orgelspiel beteiligt war, von deren Mutter zurückführen läßt. Sie soll von der . Gewalt der Töne• (Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe, wie Anm. I, Bd. 4, 1964, 206) sprechen und sogar meinen, .das ganze Schrecken der Tonkunst" (Ebd„ 207) .beim bloßen Anblick" der .unbekannten zauberischen Zeichen", aus denen die Partitur des Orgelwerks besteht, selbst zu erfahren. In dem 'Erdbeben in Chili' ist die Konnotation des .Erdbebens" oder der .Erderschütterung" mit der .Gewalt der Musik", vermittelt über die musikalische Tradition der Poesie, zu erschließen, die ihrerseits auf den Mythos des Dionysos-Bromios zurückgeht, der als .Erderschütterer" und .Städtezermalmer" gilt. Kleist hat u. a. die Verarbeitung dieses Mythos in Euripides ' Bacchen' gekannt, wofür besonders ' Penthesilea' spricht. Die Metaphern .fürchterlicher Schlag" und .durchdröhnen•, mit denen Kleist die Stärke und die Wirkung des Erdbebens gegenwärtig sein läßt, aber selbst noch Metaphern wie das .Flöten" der Nachtigall oder die . Pracht" der Orgel spannen ein Netz musikbezogener Konnotationen, die sich aus der Perspektive der zweiten semantischen Ebene immer dahin fokussieren lassen, daß sie einen .Schlag• gegen die wortsprachliche Verfassung der Literatur bedeuten. So ist noch in den Keulenschlägen der Bürger der .fürchterliche Schlag• präsent, ebenso aber auch in dem .Zusammenschlag" der beiden Gebäude, der Jeronimo das Leben rettete , und schließlich darin, daß die Äbtissin die .Hände über ihr Haupt zusammenschlug", bevor sie dann von dem herabfallenden Giebel des Hauses .erschlagen ward" (Bd. 4, 135). 26 Erst dann, wenn der suspense methodisch als Freiheit interpretiert wird, kann die Tragweite der .unerhörten Begebenheit" für die moderne Literatur erkennbar werden. Bleibt die Interpretation dagegen im Paradigma der Naturwissenschaft, der Physik, dann kann die neue Regel selbst nur als ein .Zufall" in der naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit verstanden werden - wie es folgerichtig auch in Werner Hamachers Beitrag in bezug auf den Topos der sich wechselseitig in ihrem Fall aufhaltenden Häuser geschieht. Vgl. Werner Hamacher, Das Beben der Darstellung, in: David E. Wellbury (Hg.), Positionen der Literaturwissenschaft (wie Anm. 24), 149-173. Kleist aber klärt in seiner Erzählung nicht über den suspense als ein naturwissenschaftliches, sondern als ein literarisches Ereignis auf.
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und Kind, und der dritte, daß er alles verloren habe; so schlichen Jeronimo und Josephe in ein dichteres Gebüsch, um durch das heimliche Gejauchz ihrer Seelen niemand zu betrüben. Sie fanden einen prachtvollen Granatapfelbaum, der seine Zweige, voll duftender Früchte, weit ausbreitete; und die Nachtigall flötete im Wipfel ihr wollüstiges Lied. Hier ließ sich Jeronimo am Stamme nieder, und Josephe, in seinem, Philipp in Josephes Schoß, saßen sie, von seinem Mantel bedeckt, und ruhten." (Bd . 4, 136) Es wurde gesagt, daß sich die Gattung Erzählung in der Rezeption anderer Literatur konstituiert. Erinnert der Zustand in dem Tal, das mit dem „Tal von Eden" (ebd.) verglichen wird, an die Situation der von der Pest verschonten kleinen Gesellschaft, von der Boccaccio in seinen Novellen „Novellen" erzählen läßt womit in Kleists Erzählung auf den historischen Ursprung der Gattung Novelle angespielt wird-, dann erinnert er darüber hinaus auch an so etwas wie 'paradiesische' Zustände innerhalb der Poesie: allen voran an das 'Hohe Lied ' des Alten Testaments, an die Legende der „Heiligen Familie", deren Verbildlichung in der Malerei Kleist geradezu zitiert, und an die Liebeslyrik seit dem Mittelalter. Was aber das Spezifische an dieser Verfassung im Kontext der Selbstreflexion der Gattung Erzählung ausmacht, ist, daß das, was der Novelle hier entspricht, als das Produkt eines „Dichters " angekündigt wird. Und genau darin liegt die „unerhörte Begebenheit", die die Novelle, so wie sie auf der zweiten semantischen Ebene rekonstruiert ist, auszeichnet: Es ist nicht Nachahmung von Natur oder auch von Literatur, es ist Freiheit: Erfindung eines Dichters, was die Verfassung dieser Gattung für die Erzählung des frühen 19. Jahrhunderts interessant macht. Im suspense ihres drohenden Untergangs kommt zum Vorschein, daß aus der Verbindung von Lyrik und Epik eine vollkommen neue Art von Poesie hervorgegangen ist: die Poesie als Dichtung, das heißt als Erfindung. Indem Kleist, um die Vollendung der Novelle darzustellen, andere Literatur, andere gleichsam paradiesisch verfaßte Poesie, rekonstruiert, verweist er darauf, daß die Erfindung eine Nacherfindung ist: die Nacherfindung eines nie zuvor dagewesenen, weil nie realisierten, Paradigmatischen: der inhllrenren Einheit oder Versöhnbarkeit, der unter dem „Gesetz" der normativen Literatur des 17. Jahrhunderts entzweiten poetischen Verfassungen: Lyrik und Epik. Man kann das Produkt der Nacherfindung: eben das Paradigmatische der Novelle, von hierher auch als „Idylle" oder aber mit Schiller als „naive" Poesie begreifen. 27 Die Rekonstruktion älterer, Einheit stiftender, Dichtung hat darüber hinaus noch eine andere Funktion. Mit ihrer Hilfe formuliert Kleist die gesamte Geschichte der Novelle neu. Er erfüllt so poetologisch, was Kant im Urteil über das Erhabene der ästhetischen Reflexion der praktischen Vernunft zugeschrieben hatte: die (Er-)Findung einer Idee des Ganzen, der „absoluten Totalität" der Präsenz
27 Zum Verhältnis von naiver und sentimentalischer Dichtung in Schillers gleichnamigen Aufsätzen vgl. Renate Homann, Erhabenes und Satirisches (wie Anm. 14), 74 -91 , und dies„ Selbstreflexion der Literatur (wie Anm. 17), 21-31. - Bei der Rekonstruktion der literarischen Idylle kann Kleist auf Calder6ns 'Die beiden Liebenden des Himmels ' sowie Voltaires ·candide' und Rousseaus 'Julie, ou la Nouvelle Heloise' anspielen. Sie wird auch dort thematisch als ein Naturzustand reflektiert, der auf eine Katastrophe folgt.
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dessen, was unwiederbringlich entzweit zu sein schien. Im Kontext einer Analyse , die der inhärenten Aufklärung von Gewalt gilt, verdient dieses Verfahren deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil in ihm die Funktion erkannt werden kann, das Problem der Partialität zu lösen - der Partialität der Präsenz von Literatur in Literatur, in der auf dieser Ebene eine Ursache von Gewalt entdeckt wird. Dabei gilt es zu beachten, daß unter den Bedingungen des Ästhetisch-GewordenSeins der Literatur im frühen 19. Jahrhundert die poetologischen Gründe immer in bezug auf das moderne Postulat der Freiheit - als Erfindung - ausgerichtet sind. Kleist deutet auf diesen inhärenten substantiellen Maßstab hin, indem er die Figuren nach der Naturkatastrophe in den sittlichen und politischen Frei-Raum, in die 'Idylle' der Natur, stellt. Als literarisches Produkt aber soll die Idylle außerhalb der traditionellen normativen Literatur und deren Poetologie sowie zukünftiger Literatur und deren Ästhetik stehen28 und insofern auf eine nur ihr eigentümliche Art von Freiheit gründen. Es fragt sich nun, inwieweit sie dieses Freiheitspotential selbst beachtet oder verspielt. Denn in der Antwort liegt die Aufklärung über Entstehung und Untergang der Novelle. Die zweite Katastrophe, die Ermordung von Josephe und Jeronimo sowie des Kindes von Fernando und Elvire und schließlich der Constanze, wird auf der zweiten semantischen Ebene anders als auf der ersten begründet. Die Aufklärung über den Grund dieser Gewalt zielt hier auf etwas Poetologisches. Sie zielt auf Mängel oder Defizite in der Verfassung der dargestellten literarischen Gattungen. War das Neue der Gattung Novelle darin aufgewiesen worden, daß sie ein Produkt von Erfindung - im Sinne der rückwärts gewandten Erfindung des Paradigmatischen alter Poesie - war, das seinerseits die Vereinigung konfligierender literarischer Gattungen indizierte, und wurde darin der Ursprung von (moderner) Dichtung angegeben, dann muß die Novelle gleichwohl ein Defizit enthalten, in dem die Erzählung den Untergang begründet. Am Maßstab der Idee der „absoluten Totalität" gemessen, zu der das Urteil über das Erhabene findet und die Kleist - aus der Perspektive der zweiten semantischen Ebene betrachtet - in der Nacherfindung der ganzen Geschichte der Novelle zu realisieren sucht, muß es in einer nicht-poetischen Reduktion liegen . Die These lautet: Der innere Grund für den Untergang der Novelle liegt in dem ungeklärten Verhältnis der Novelle zu ihrer poetischen Herkunft: zur Pro-
28 Als literarische Gattungen im suspense sind . Jeronimo" und .Josephe" weder Nachahmung der Gesetze der Natur noch Realisation der Gesetzmäßigkeit der ästhetischen Freiheit, die dem modernen Begriff des Erhabenen entsprechen würde. Zu einem Paar verbunden , wird an ihnen sinnfällig, was die Idylle konstituiert: Abwesenheit des Konflikts zwischen verschiedenen literarischen Gattungen: Harmonie, so daß sie am ehesten mit dem Begriff des Schllnen zu fassen ist. Doch gilt gleichzeitig: Die Tradition des Dionysos-Mythos lebt auch in der gesamten bukolischen Dichtung fort. Nicht zuletzt die Tatsache, daß sich Jeronimo und Josephe im Tal unter einem . Granatapfelbaum" niederlassen, deutet auf Kleists Rekonstruktion des Zusammenhangs von Idylle und dem DionysosMythos hin, denn dem Mythos nach ist dieser Baum aus dem Blut des zerrissenen Dionysos entsprungen; vgl. Robert von Ranke-Graves , Griechische Mythologie . Quellen und Deutung, Neuausgabe in einem Band, Reinbek bei Hamburg 1989, 27, 10, 97. Erdbeben und Idylle erfindet Kleist so nach, daß sie vom Mythos des Dionysos her als zwei Seiten eines poetologischen Prinzips erscheinen. Für die inhärente Poetologie handelt es sich um ein musikalisches Prinzip.
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phetie. Kleist läßt diese als die Basis aller Poesie in der Figur „Elisabeth" präsent sein. Für die geschichtsliterarische Konstituierung der Erzählung heißt das: Mit Elisabeth ist in ihr die Tradition der Prophetie der heidnischen Poesie, des Alten Testaments und der Apokalypse des Neuen Testaments präsent, angepaßt freilich an die Bedingungen des 17. Jahrhunderts, von denen die Erzählung berichtet, und darüber hinaus an die Bedingungen des 19. Jahrhunderts, unter denen die Erzählung selbst spricht. 29 Josephe wird auf die Mahnung der Elisabeth, nicht oder doch nicht sofort in die Kirche zu gehen, weil sie eine „unglückliche Ahnung" (Bd. 4, 140) habe, nicht reagieren. Im Gegenteil, es ist gerade Josephe, die zum Auszug aus dem Tal treibt. Und Jeronimo wird ihr nicht widersprechen. Das mangelnde Sensorium für die Tradition der Prophetie ist das Todesurteil für die Novelle im Sinne einer Einheit aus hoher Poesie und bürgerlicher Prosa, aus Lyrik und Epik, die, im suspense der Drohung unterzugehen, eine Chance erhalten hatte, sich als das Neue in der Literatur zu realisieren. Dichtung aber, wenn sie modern sein soll, müßte gerade konstitutiv mit der Tradition der Prophetie verbunden sein, weil sie nur im Verhältnis zu dieser die Eigentümlichkeit ihrer eigenen Verfassung - die Erfindung - von Zufälligem, befreien und poetisch gesetzmäßig disziplinieren könnte. Die 'Ermordung' der Novelle mit barbarischen Mitteln ist nur die äußere Vollstreckung dieses ihr inhärent poetologisch begründeten Todesurteils. Die Ausgrenzung des Prophetischen aus der Novelle kann von der Erzählung als Gewalt offengelegt werden, weil ihr Verfahren auf der zweiten semantischen Ebene einer Suche nach Gewalt in literarischen Verfassungen entspricht. Die Ausgrenzung ist Indiz der Partikularität poetischer Präsenz: Sie ist Gewalt gegen die Prophetie. 30 Sie ist Mord. Damit wäre der neuen Gattung, der Novelle, deren Paradigmatisches einer „Idylle" entspricht, selbst Gewalt inhärent. Ihr Scheitern liegt darin begründet. Doch bleiben in dieser Begründung zwei Fragen offen. Erstens: Weshalb überlebt Don Fernando den Mordanschlag, obwohl auch er nicht auf Elisabeth hört, und zweitens: Weshalb kann sich Meister Pedrillos barbarischer Kampf durchsetzen? Müssen die Antworten auf der ersten semantischen Ebene im Zufall im ' Glück' - des Kampfes der Kontrahenten gesucht werden, so können sie auf der zweiten semantischen Ebene aus einer inneren Notwendigkeit abgeleitet werden, verständigt sich doch die Erzählung auf dieser Ebene in genau der Gegen-
29 Kleist spielt auf das Verhältnis zur Prophetie an, indem er zum einen von Elisabeth berichten läßt , sie habe eine .unglückliche Ahnung• (Bel. 4, 140), und zum anderen Elisabeths Rede, in der sie Elvires Ahnung eines • Unglücks" Fernando ins Ohr flüsten, mit den Wonen kommentieren läßt, sie . raunte" ihm einige Wone ins Ohr, sie fahre fon , ihm ins Ohr .zu zischeln" (Bd. 4, 141). 30 Wie alle Figuren im Tal hat der . fürchterliche Schlag" auch Jeronimo und Josephe . durchdröhnt " (Bd. 4 , 137), und zwar derart , daß sie sich nicht oder doch nur kaum an das, was vor ihm geschehen ist, erinnern können. Einzig Elisabeth soll darin eine Ausnahme bilden; vgl. Bd. 4, 137 f. Ihr Vorausfinden von Wahrheit beruht auf ihrem Vermögen, sich an das Vergangene erinnern zu können . Der . Schlag" gegen die Erinnerung aber ist das Kennzeichen der Musik des Dionysos. Die Idylle ist von ihm im Innersten getroffen.
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überstellung der Kampfarten - des Schwert(-Degen)-Kampfes des Don Fernando und des Keulenangriffs des Meisters Pedrillo - über die Mittel ihres eigenen literarischen Verfahrens. Die Antwort auf die erste Frage liegt nun darin, daß in dem Schwertkampf des Don Fernando eine Wieder-Holung der poetischen Vorlage - des Kampfes des Achilleus in der „Ilias" - kommentiert und zugleich parodiert ist. 31 Die Erzählung rekonstruiert die Homerische Kampfstrategie eines Helden des barocken Dramas, um die literarische, die nicht-naturalistische und darüber hinaus nicht unmittelbar antike, poetische Identität der Figur des Don Fernando im Gegensatz genau zu der Identitätssuche der „Bürger" - zu verdeutlichen, oder anders gesagt, sie klärt, indem sie die Präsenz des antiken Epos in dieser Figurierung kommentiert, über die Funktion derselben unter den aktuellen Bedingungen einer 'Erschütterung' in der Literatur des 17. Jahrhunderts auf. Kurz: Don Fernando, der Held des barocken Dramas, überlebt, weil er eine „Querelle des Anciens et des Modemes" führt. 32 Mittels des Kontrasts ist damit das Defizit an Jeronimo und Josephe dargestellt: Unter den Bedingungen des Angriffs der „bürgerlichen" Literatur ist die Novelle nicht lebensfähig, weil sich das Paar, Lyrik und Epik, das sie konstituiert, nicht selbst verteidigen kann. Der Grund liegt in dem poetologisch fundamentalen Defizit: Die Novelle kann keine „Querelle des Anciens et des Modemes" führen, weil sie ja gerade auf dem suspense von jeder „Querelle" beruht. Kleists Erzählung leistet hier Aufklärung darüber, daß die Novelle - die „unerhörte Begebenheit" in der Geschichte der na-rativen Literatur - unter den Bedingungen theologisch-rhetorischer, didaktisch-sittlicher und naturalistischer Reduktion von Literatur nicht überleben kann, weil sie - aufgrund ihrer Unfähigkeit, eine
31 "Don Fernando[ ... ] glühte vor Zorn; er zog und schwang das Schwert[.. .]. Don Fernando, dieser göttliche Held, stand jetzt, den Rücken an die Kirche gelehnt; in der Linken hielt er die Kinder, in der Rechten das Schwert. Mitjedem Hieb wenerstrahlte er einen zu Boden; ein Löwe wehrt sich nicht besser.• (Bd. 4, 144). Hier wird deutlich, daß Kleist Don Fernando im Wissen um die Rezeption der Achilleischen Attribute- . Zorn", . göttlicher Held" , .Löwe· - in den christlichen Märtyrer-Legenden und in den antikisierenden Trauerspielen des 17. Jahrhunderts parodiert. Verwiesen sei nur auf Calder6ns ' Der standhafte Prinz' , dessen Hauptfigur . Dom Fernando" heißt. 32 Unter dem Begriff .Querelle des Anciens et des Modernes" (oder auch .Parall~le des Anciens et des Modernes") war im 17. Jahrhundert der - vor allem zwischen Fontenelle und Perreault ausgetragene Streit um die Normativität der antiken oder der zeitgenössischen Dichtung erfaßt worden. Im vorliegenden Aufsatz wird er insofern in einem anderen Verständnis gebraucht, als er einen nicht in der Theorie, sondern in den literarischen Werken selbst ausgetragenen Streit meint, welcher als das Konstitutive der inhärenten Theorie verstanden wird . Präsenz von Literatur in Literatur wird in dem vorliegenden Aufsatz im Sinne einer Interreferentialität von Literatur verstanden, deren theoretischer Status weder empirisch - mit Hilfe von Motiven und Einflüssen - verifiziert oder falsifiziert noch technisch an bestimmten Überschneidungspunkten bzw. Nahtstellen von "Texten" auf eine nur semiotische Praxis zurückgeführt werden kann. Nicht in der Geschichtlichkeit von Einflüssen anderer Literatur auf das vorliegende literarische Werk , aber auch nicht in der Technik der Re- und Dekonstruktion anderer Texte in dem vorhandenen Text, sondern in der inhärenten 'Theorie', in der . Querelle des Anciens et des Modernes", besteht der erste Schritt, das Telos moderner Literatur, nämlich die methodisch hergestellte Erfindung der "absoluten Totalität" der Präsenz von Literatur zu explizieren. In dem Versuch, diese 'Theorie' zu seinem Gegenstand zu machen , liegt die Differenz des hier zu explizierenden Ansatzes zur Motivforschung und zur lntertextualität.
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„Querelle" mit der ältesten und antiken Poesie zu führen - auch mit der zeitgenössischen Literatur in keine „Querelle" treten kann; außerhalb literarischer Bezüge stehend, wird sie von dieser wild, 'wütend' erschlagen. Nicht der Traditionsbruch als solcher ist demzufolge das tödliche Defizit für die poetische Verfassung der Novelle, sondern die Unfähigkeit zur Vermittlung an ihre poetische Tradition im Zustand der Entzweiung. In der Unmittelbarkeit, die nur Identität oder völligen Verlust, nicht aber die Konstituierung von Identität in einer gesetzmäßigen Verbindung des Entzweiten kennt, liegt die Ursache des Untergangs. Um nun die Notwendigkeit einer methodischen Verbindung zwischen poetologisch Entzweitem: gegenwärtiger Literatur und alter Poesie einerseits und gegenwärtigen paradigmatisch verschiedenen literarischen Gattungen andererseits, geltend zu machen , figuriert Kleist in Don Fernando die „Querelle des Anciens et des Modemes" so, wie sie unter den Bedingungen des 17. Jahrhunderts als ein inhärentes poetologisches Verfassungsprinzip möglich war. 33 Wo aber die methodische Vermittlung im Sinne einer „Querelle" zwischen zeitgenössischer und alter Poesie fehlt, herrscht der Zufall. Am Maßstab der Heautonomie der Literatur gemessen, bedeutet der Zufall aber Heteronomie: Gewalt gegen eine regelgemäß gewonnene „absolute Totalität" der Präsenz aller nunmehr partiellen poetischen Verfassungen. In der augenfälligen Tatsache, daß ihre Satire nicht Achilleus, den Homerischen Helden , sondern den neuen Helden, Don Fernando, den Helden des Barock, trifft,34 verweist die Erzählung darauf, daß das Prophetische in ihrer Prosa eine andere Transformation erfährt als in dem barocken Drama, das durch eine solche „Querelle des Anciens et des Modernes" bestimmt war. Sie deutet darüber hinaus durch den Untergang der Novelle - Don Fernando kann Jeronimo und Josephe in seinem Kampf nicht retten - an, daß sie Erfindung ausdifferenzieren muß . Ihr Element ist nicht nur die Nacherfindung, sondern auch gemäß dem Prinzip des Erhabenen - die aus der Dekonstruktion der Nacherfindung zu gewinnende Neuerfindung des Naiven, der Idylle, der Novelle. Auf der Ebene ihrer Selbstreflexfon weist die Erzählung darauf hin, daß das neue Prinzip in literarischer Verfassung, die Freiheit als Erfindung von poetischen Verbindungen, von der Novelle selbst nicht beachtet wird. Die Erzählung läßt konsequent die Novelle als literarische Gattung untergehen, um das Neue, die Dichtung, die in ihr entstanden ist, weiterführen zu können: Das Kind von Josephe und Jeronimo überlebt nicht nur das Massaker vor der Kirche, es wird
33 Die Erzählung demonstrien damit an sich selbst, daß jede technische Auslegung ihrer Gedächtnisfunktion ein .SchJagu gegen die inhärente 'Theorie' ist. So ist auch der . fürchterliche Schlag", der Jeronimo und Josephe vom Tode suspendiert, zugleich. weil er ihre Erinnerung an die Gescheh nisse in der Stadt - auf der zweiten semantischen Ebene: die Erinnerung der Novelle an ihre poetische Herkunft - verletzt hat, dann doch , wenn auch verdeckt, der Grund ihres Todes. 34 Bernd Fischer verweist auf das Zwielichtige und Zweideutige des Don Fernando. Er fühn es, auf der ersten semantischen Ebene argumentierend, auf den ständischen Dünkel und das - nahezu dekadente - Unvermögen, das ständische Schema der heldenhaften Veneidigung zu erfüllen, zurück, ohne die inhärente Ironie zu übersehen . Vgl. Bernd Fischer, Ironische Metaphysik. Die Erzählungen Heinrich von Kleists, München 1988, 28- 33.
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auch von Don Fernando und Donna Elvire adoptiert. 35 Damit ist ein anderer Status von Freiheit in der literarischen Verfassung indiziert, als er in der Gattung Novelle erreicht wurde. Erfindung als das neue Verfahren der Dichtung selbst wird ausdifferenziert werden müssen. Als literarische wird die Nacherfindung einer naiven Poesie - einer unmittelbaren Einheit von Lyrik und Epik: das Paradigmatische der Dichtung als Idylle/Novelle - abgelöst werden müssen durch eine Neuerfindung von naiver Poesie, wenn die Literatur unter modernen Bedingungen - der Freiheit als Verfassung und der Verfassung als Freiheit - die Katharsis überstehen soll, die ihr der elementare Angriff der Musik auf ihr Nachahmungs- und Darstellungsprinzip aufgezwungen hat. 36 Man darf annehmen, daß Kleist mit Hilfe der neuen Familie auf seine eigenen Dramen verweist. Die Antwort auf die zweite Frage - die Frage nach der Gewalt von Meister Pedrillos Paradigma - liegt umgekehrt in dessen Kampfstrategie, denn in den Keulenschlägen und darin, daß er den kleinen Juan an seinem Bein wie eine Schleuder dreht, um ihn dann an dem Kirchenpfeiler „zerschmettern" zu lassen, läßt Kleist reflexiv das Barbarische der musikalischen Tradition der Literatur gegenwärtig sein. Die Stärke dieses Paradigmas liegt somit in ihrer Verbindung zur Musik: In dem „fürchterlichen Schlag", den das „Erdbeben" verursachte, und in den Keulenschlägen des „Meisters" Pedrillo und des Vaters des Jeronimo sind die „Gewalt der Musik" und die Gewalt der „bürgerlichen" Literatur auf ein identisches Verfahren zurückgeführt: auf „Schläge". Poetologisch haben diese ihren gemeinsamen Ursprung in dem Mythos der Musik des Dionysos. Figuriert in „Meister Pedrillo", gibt Kleist in Meistersang und Oper dessen - säkularisierte - Nachfahren zu erkennen.37 Ihre Wirkung bleibt ein tödlicher „Schlag" gegen jene Literatur, die nicht regelgemäß mit ihrer poetischen Herkunft verbunden geblieben war. Umgekehrt folgt daraus, daß die Novelle von der „Gewalt der Musik", die sie doch von ihrem Untergang suspendiert hatte, im Innersten seit ihrer Restituierung getroffen war: Sie hat, wie gesagt, keine explizite Erinnerung an ihre poetische Herkunft: Sie ignoriert die Tradition der Prophetie. Weil sie keine „Querelle" mit dieser führt, ist der Modus ihrer Präsenz Unmittelbarkeit. Die Abwesenheit von Gewalt beruht in ihr auf dem Zufall (des Augenblicks). In der Tatsache, daß Meister Pedrillo Philipp, das Kind von Jeronimo und
35 Das Verhältnis von Fernando und Elvire zu Philipp beruht nicht auf einem dem 'Naturzustand' gemäßen Tauschprinzip, dem der 'Mit-Teilung' (vgl. Bd. 4, 137), wie es hinsichtlich der Nahrung und des Erzählens von Geschichten in der Idylle praktiziert wurde, sondern auf venraglicher Regelung. Es gehorcht nicht der Natürlichkeit sozialer Empfindungen, es entspricht vielmehr der Freiheit einer sozialen - institutionellen - Selbstbindung. 36 Weder Nachahmung/Darstellung der Natur, des Schönen oder der gesellschaftlichen Realität noch die Darstellung des Unbekannten oder des noch gar nicht Existierenden reichen aus, das neue literarische Konstitutionsprinzip zu fassen. Daher hatte weder die Theorie der Literatur, die implizit die 'Widerspiegelung' der Realität oder des Nicht-Realen - im Anschluß an Georg Lukllcs geltend macht, noch jene Theorie, die die .Darstellung des Undarstellbaren" - im Anschluß an Adorno/Lyotard - favorisiert, methodisch ein Kriterium für die Neuerfindung ausbilden können. 37 In der Figur des Schusters Pedrillo ist sowohl der "Schuster" Hans Sachs - der Repräsentant des Meistersangs - als auch „Pedrillo" - der berühmte Diener des Beimonte aus Mozarts Oper 'Die Entführung aus dem Serail' - präsent.
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Josephe, nicht erkennen kann , verweist Kleist auf den inneren Mangel des musikalischen Paradigmas. Es ist blind gegenüber dem Neuen in der Literatur. Wahrheit wird in ihm dagegen auf einen lebensweltlichen Inhalt der Worte reduziert. Im Kontext einer 'wahren' literarischen Verfassung ist darin bereits Gewalt zu erkennen gegeben. Im Paradigma des Meisters Pedrillo hat das Erfinderische, das traditionell das Prophetische, aber auch die Homerische „List" war, den Status einer 'Lüge' . „Warum belogen sie uns?" (Bd. 4, 144) - dieser Ausruf ist die Antwort, die Pedrillo für den versehentlichen Mord an Donna Constanze gibt. Er hatte durchschaut, daß er bei seiner Suche nach Jeronimo, Josephe und ihrem Kind von Fernando und Josephe überlistet werden sollte.38 Da er keinen Sinn für das Finderische an alter Poesie und an neuer Dichtung hat, fällt seiner gleichermaßen lebensweltlich-naturalistischen und musikalischen Reduktion die neue Gattung, die Novelle, zum Opfer. Vorbereitet ist der Mord in dem „Stimme"-Werden der in der Kirche versammelten „ungeheuren Menschenmenge". Kleist parodiert so die Praxis eines Oratoriums: „Hierauf: Er ist der Vater! schrie eine Stimme; und: er ist Jeronimo Rogera! eine andere; und: sie sind die gotteslästerlichen Menschen! eine dritte; und: steinigt sie! die ganze im Tempel Jesu versammelte Christenheit! " (Bd. 4, 142f.) Wahrheitsfindung als Verfahren eines buchstäblichen Ruf-Mords endet hier, Identität, naturalistisch und musikalisch reduzierend, und nicht, wie durch die Erzählung angeboten, poetologisch totalisierend, in der unmittelbaren, lebensweltlich-pragmatischen, das heißt: falschen, Identifikation. Don Fernando ist der Vater des Kindes, das auf Josephes Arm sitzt; er ist aber eben nicht der hier gesuchte Jeronimo Rogera. Die Identifikation ist der Tod der Figuren, die das Neue hervorgebracht hatten: die Dichtung als Nacherfindung der Wahrheit der alten Poesie. 3. Das Erhabene - ästhetisches Prinzip der narrativen Prosa Aus der Perspektive der dritten semantischen Ebene ist Gewalt nicht mehr poetologisch von der literarischen Verfassung her zu begründen, deren Methode die gesamte Geschichte einer literarischen Gattung nacherfindet, sondern sprachästhetisch von der aktuell sich vollziehenden Selbstkonstituierung der Prosa her.
38 An Don Fernando ist reflexiv die ' List' des Odysseus gegenwänig. Zweimal versucht er, seine Gesellschaft mit Hilfe einer List aus der Kirche zu retten . In beiden Fällen schlägt der Versuch fehl . Aus der Perspektive der Erzählung wird sie in jedem Fall positiv beurteilt: einmal als . diese sinnreiche zur Rettung erfundene Maßregel" - Bd. 4 , 142 -, ein anderes Mal als . wahre heldenmütige Besonnenheit" - Bd. 4 , 143. In bezug auf die List wird sogar an Josephe ein Zug des Homerischen Helden sichtbar. Sie versucht , ihren Sohn bezeichnenderweise dadurch zu retten, daß sie ihn für einen Sohn des Don Fernando ausgibt. Meister Pedrillo wird diese List als Lüge auffassen . Chr Kind aber wird dennoch - dank der List - den Mordanschlag überleben. Don Fernandos Fähigkeit zur .Querelle des Anciens et des Modernes" erscheint, poetologisch reflektiert , als die ' List', die Methode, mit deren Hilfe sich moderne Literatur gegen die Angriffe der Nicht-Literatur verteidigen kann.
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Lebensweltliebe und poetologische Bedeutung erscheinen damit gegenüber der Aktualität der Prosa als heteronom, weil exterior begründet. Das erklärt, weshalb erst in bezug auf die dritte semantische Ebene das Erhabene sein ganzes ästhetisches Potential als ein Interpretament moderner Literatur entfalten kann. Denn „ästhetisch" bedeutet in Kants Theorie des Erhabenen erstens den durch das Scheitern der theoretischen Vernunft hervorgerufenen einmaligen Kontakt der praktischen Vernunft mit der Einbildungskraft und zweitens das doppelt strukturierte „Gefühl" - die Ambiguität aus Unlust und Lust-, das aus der aktuellen Transformation der praktischen Vernunft hervorgeht und von dieser gleichzeitig zur momentanen Erfassung ihrer gesamten Aktivität (um-)erfunden wird.39 Zum unhintergehbaren Standard für die Theorie der modernen Literatur aber wird das Ästhetische des Erhabenen in dem, worin sich der neue Paradigmenwechsel vollzieht: In ihrer aktuellen Transformation übernimmt die praktische Vernunft die Funktion der theoretischen Vernunft. Dieser Wechsel läßt sich damit erklären, daß die praktische Vernunft in dem vermeintlichen Paradox, dem 'transzendentalen' Gefühl, eine vollkommen neue Synthesis für die konfligierenden Funktionen der Vernunft erfindet und von daher dann - indirekt - auch eine Synthesis für die empirischen Phänomene, für die die theoretische Vernunft in ihrem Begriff keine Synthesis anbieten kann und zu der sie selbst üblicherweise gar keinen Kontakt hat, weil sie nach nicht-empirischen, moralischen Gesetzen urteilt. Da die neue Synthesis genau der Autoreflex der aktuellen Selbsttransformation der praktischen Vernunft ist, kann ihr die Qualität eines „Übergangs" über die „Kluft" zwischen dem „Gebiete des Naturbegriffs" und dem „Gebiet des Freiheitsbegriffs", zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, zugeschrieben werden. Mit diesem Interpretament ist der Einstieg in die gattungsspezifische Sprachreflexion der dritten semantischen Ebene gewonnen. Demgemäß besteht die „unerhörte Begebenheit" in Kleists Erzählung in dem Selbsttransformationsprozeß der narrativen Prosa. Die Prosa - so die These - übernimmt angesichts des Scheiterns alter (vers-)poetischer Rede deren Funktionen, um diese und sich selbst dabei vollkommen zu verändern. Darin liegt der Sinn dessen begründet, was in der Erzählung „die ungeheure Wendung der Dinge" (Bd. 4, 132) genannt ist. Anders als es der Kontext auf der ersten semantischen Ebene nahelegt, ist die „Wendung" nicht punktuell in einem Ereignis, sondern in der Permanenz in jeder semantischen Relation der Prosa - doch darin eben als die methodisch höchste Stufe - präsent: Die ästhetisch konstituierte Prosa ist in der Erzählung die Neuerfindung dessen, was lebensweltlich „Dinge" heißt. Die Aufklärung, die die Erzählung auf dieser Ebene über die Gewalt leistet, betrifft somit all jene Prinzipien von sprachlichen Verfassungen, die die Prosa hindern, sich selbst aktuell zur ästhetischen Prosa zu transformieren, um so die „Dinge" zu wenden.
39 Darin liegt der Zusammenhang von Aktualität und Idee der "absoluten Totalität" von Präsenz begründet: Der Auto-Reflex ist systematischer Ort der Zusammengehörigkeit - und als Reflex eine Widerlegung der Auffassung, der Zusammenhang ergebe sich unmittelbar aus der Aktivität der praktischen Vernunft oder unmittelbar aus der Aktivität der Einbildungskraft.
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Am nächsten Scheidewege stand sie still, und harrte, ob nicht einer, der ihr, nach dem kleinen Philipp, der Liebste auf der Welt war, noch erscheinen würde. Sie ging, weil niemand kam, und das Gewühl der Menschen anwuchs, weiter, und kehrte sich wieder um, und harrte wieder; und schlich, viel Tränen vergießend, in ein dunkles, von Pinien beschattetes Tal, um seiner Seele, die sie entflohen glaubte, nachzubeten; und fand ihn hier, diesen Geliebten, im Tale, und Seligkeit, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre. „ (Bd . 4, 136)
Der letzte Satz weicht grammatisch so von der Norm ab, daß er, wenn Kleist kein Lapsus unterstellt werden soll, bereits etwas Unerhörtes in der Konstituierung der Prosa indiziert: „Und fand ihn hier, diesen Geliebten, im Tale, und Seligkeit, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre." Die Appositionen: „ihn" - „diesen Geliebten" und: „hier" - „im Tale", sind so umgestellt, daß die Grammatik sich zur rhetorischen Figur einer Inversion verschiebt, die die semantischen Relationen, die die Pragmatik der ersten und die Poetik der zweiten semantischen Ebene fordert, immer auch suspendiert. Dasselbe gilt von der Verschiebung des Aussage-Gestus im zweiten Teil des Satzes. Hier fehlt die Wiederholung des Verbs „fand", so daß in der Veränderung der Grammatik das Semantische der Worte: „ Tal", „Geliebter", „Seligkeit", ungeachtet ihrer lebensweltlichen und poetologischen disparaten Herkunft, als gleich behandelt werden kann: Aus der Perspektive der ersten semantischen Ebene, also der lebensweltlichen Reduktion der Prosa, müßte eine solche Gleichheit auf jenen Nonsens verweisen, der Ausdruck der „Seligkeit" der Josephe wäre, ihren Geliebten wiedergefunden zu haben. Aus der Perspektive der zweiten semantischen Ebene, also aus der der poetologischen Reduktion, wäre darin ein Verweis zu sehen, daß sie die lebensweltlichen Differenzen im Semantischen der Worte überwunden hätte, indem ihr unterstellt wird, daß sie alle Worte gleichermaßen in Dokumente und zugleich Kommentare der Selbstreflexion der literarischen Gattungen verwandelt. Konnte das „Erdbeben" auf der zweiten semantischen Ebene als die „Gewalt der Musik" verstanden werden, dann erlaubt die dritte semantische Ebene eine Präzisierung. Mit den Worten „Erdbeben", „Erderschütterung", „Beben der Erde" läßt Kleist die „Erschütterung" der Materialität der Rede durch das musikalische Prinzip kommentieren. Die Metaphorik des „Schlags" präzisiert die Bedrohung der literarischen Rede, wenn sie hier als ein extrem musikalisch aktualisierter Rhythmus verstanden wird. 40 Das sprachästhetiscbe 'Ereignis' nun, daß
40 Kleist erfindet das musikalische Prinzip, die Wiederholung als pure Aktualisierung von Rhythmen, in der Rede seiner Erzählung nach . Das wird besonders deutlich in dem Zusammenhang, in dem er die Bedrohung des Jeronimo durch die Gewalt des Erdbebens darstellt. Sie wirkt solange, solange sich Jeronimo zwar im Freien, aber doch noch in der Stadt aufhält: .Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umher schleudernd, in eine Nebenstrasse; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn herab, und riss ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener. hier schrien Leute von brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen und Tiere mit den Wellen, hier war ein mutiger Retter bemüht, zu helfen; hier stand ein anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos ziuernde Hände zum Himmel." (Bd. 4, 135) (Hervorhebungen von mir - R. H.).
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nämlich die beiden, die mit den Namen "Josephe" und „Jeronimo" belegt sind, von ihrem Untergang durch den musikalischen Rhythmus suspendiert sind, ist in der Prosa in einen methodischen Schritt transformiert: Der Grund des suspenses ist in der aktuellen Konstituierung der Prosa nacherfunden, damit diese von der Drohung des Untergangs noch einmal derart tangiert wird, daß sie sich selbst dabei transformieren muß: Sie übernimmt - so die These - in der Nacherfindung des suspenses der beiden aktuell deren Funktion, genauer: die Funktion, die ihrer Einheit zukam. Kleist transformiert die Prosa zu dem systematischen Ort, an dem die Einheit der beiden nacherfunden werden kann, die sich jetzt als zwei poetische Prinzipien der Rede: als die Metrik und das wortlautliche Semantische, bestimmen lassen. 41 Daher fällt es nicht aus ihrem Rahmen, sondern markiert einen methodischen Schritt in der inhärenten Ästhetik der Prosa, wenn im letzten Teil des zitierten Satzes Metrisches und Lautpoetisches der Worte so verstanden werden, als ob sie in der Strophe eines Gedichts hervorträten. Graphisch ließe sich dieser Teil etwa so aufzeichnen: Und fand ihn hier, diesen Geliebten, im Tale, und Seligkeit, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre. 42 Die Zäsuren, die die Grammatik bildet, lassen Metren entstehen, die die Wortsprache kommentiert; so zum Beispiel in dem zweiten 'Vers': einen Adonius „diesen Geliebten", einen Amphibrachys -"im Tale", oder in den 'Versen' fünf und sechs: einen Amphibrachys - „von Eden", einen Amphibrachys und einen Trochäus - „gewesen wäre". Der Amphibrachys am Ende tritt nun wiederum besonders durch seine Lautung hervor: „von Eden/ gewesen wäre". Das lange und betonte e ergibt eine Art Alliteration. Sie unterstreicht die Gleichheit der metrischen Formation als Amphibrachys. Daß es darauf ankommt, die Bildung der Metren durch die Lautung der Silben hervorzuheben, bestätigt dann auch der Stabreim: „gewesen wäre". Hier sind - gleich einer 'Idylle' in der Prosa Metrik und lautliche Referenzen der Worte unter der Bedingung des suspen-
41 Da auf der dritten semantischen Ebene die Namen Wone sind, die poetische Prinzipien der aktuellen Rede bedeuten, können .Jeronimo" und .Josephe" jene Prinzipien bedeuten, die ihren Ursprung in ältester poetischer Rede haben: in .heiliger Namengebung", deren Paradigma die Adamitische Namengebung der Genesis des Alten Testaments ist, und in .Gott gebe Vermehrung", deren Paradigma d.ie Hervorbringung neuer Bedeutung mit Hilfe der alten Worte (Namen) ist. Die Quintessenz liegt also darin, daß beide innerwonsprachliche 'Ereignisse' topoisieren: .Jeronimo" - die Erschaffung von Welt aus dem Wort qua Namen, der dadurch prophetische Qualität erhält, daß er eine Voraus-Erfindung von Welt ist - und .Josepbe" - eine dem wortspracblichen Material inhärente Produktivität. Daß letztere verspoetisch konnotiert ist, gibt Kleist dadurch zu erkennen, daß er von dem .Schuhflicker" - dem .Meister" - Pedrillo berichten läßt, er kenne Josephe insoweit, als er ihre .kleinen Füße" (Bd. 4, 142) kenne, das Wort .Füße" in selbstreflexiver literarischer Rede aber immer mit Versfüßen, das heißt eben mit metrischen Füßen, konnotiert ist. 42 Die zahlreichen möglichen Varianten widerlegen das Vorgehen nicht, sie bestätigen vielmehr das Prinzipielle desselben.
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ses ihrer alten Funktion und des suspenses der 'pragmatischen Reduktion' der Prosa gegenwärtig. Das Unerhörte ereignet sich hier somit in der Prosa. Die Transformation der Prosa läßt sich am Funktionswandel ablesen: Die Grammatik übernimmt die Funktion der Metrik, das Wort aber die des Laut-Semantischen, des Namens. Und: Die transformierte Grammatik indiziert so gleichzeitig den Selbstsuspense der Prosa: die Aufschiebung der der Prosa inhärenten Heteronomie: Die Prosa hat sich von der 'Reduktion' auf zeitgenössische Grammatik und auf lebensweltlich oder wissenschaftlich referentialisierte Bedeutung selbst suspendiert. Kleist also führt das Novum, das er nacherfindet, in der aktuellen Prosa der Erzählung vor Augen. Die systematische Reinteriorisierung des doppelten suspenses markiert den unhintergebbaren Schritt der Prosa in moderne ästhetische Prosa. Die Prosa ist hier erstmals von jedem Übergriff sprach-exteriorer Bedeutung frei: Sie konstituiert eine ihrem eigenen Prozeß interiore sprachliche und zugleich poetische Bedeutung. Darin ist die Bedingung zu sehen, daß sie überhaupt systematisch zum Ort der Rekonstruktion qua Nacherfindung der Dichtung werden kann, in der Metrik und LautSemantisches (Name) einmal eine Einheit bildeten. Das bedeutet: In der aktuellen Prosa wird potentiell kein poetisches Prinzip der Rede vergessen oder ausgegrenzt, jedes kann vielmehr, eben weil es von seiner alten Funktion suspendiert ist, in der transformierten Prosa erhalten bleiben und im suspense seine bislang unentdeckte, einmal zufällig erreichte Bindung an andere erweisen. Indem die Prosa ihre Selbsttransformation kommentiert, kommentiert sie daher immer zugleich die Präsenz aller poetischen Prinzipien der Rede im suspense. Die Situierung dieser „unerhörten Begebenheit" in dem Kontext, in dem auf der zweiten semantischen Ebene die 'Idylle' dargestellt ist, läßt darauf schließen, daß sie das Paradigmatische von deren sprachlicher Verfassung zu vergegenwärtigen hat. In solcher Rekonstruktion klärt Kleist über die Bedingung der narrativen Rede der Novelle und deren Funktion für die moderne narrative Prosa auf. Die Aufklärungsintention gilt hier einer Art Ur-Situation moderner Prosa, nämlich dem Beginn des Ästhetisch-Werdens der Prosa von Erzählungen , oder in bezug auf die Geschichte der literarischen Gattung gesagt, die auf der zweiten semantischen Ebene zu ihrer poetologischen Kommentierung dargestellt ist, einer Art Ursprung moderner Literatur in der Rede der Novelle. Die Begründung hierfür liegt in der aktuellen Rede. Es fragt sich dann aber erneut, weshalb die Erzählung mit der Darstellung der Idylle nicht endet, weshalb die zweite Katastrophe folgen muß. Bezieht man die innere Dramaturgie der Erzählung jetzt auf deren Rede, dann veranlaßt sie, so etwas wie einen Fehler oder Mangel an den beiden poetischen Prinzipien zu suchen - einen Mangel , von dem her die zweite Katastrophe als notwendig für den gesamten Konstitutionsprozeß der modernen Prosa erscheint. Die Erzählung muß also an der Rede der Novelle einen Mangel aufspüren, von dem so etwas wie Gewalt ausgeht. Der Mangel liegt darin, daß die Rede der Novelle poetologisch zwar interior, sprachästhetisch - in bezug auf das aktuelle Wortsprachliebe der Prosa - aber immer noch exterior referentialisiert war. Sie war auf eine vorgegebene Metrik
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und ein vorgegebenes Laut-Semantisches (Name) als auf ihre 'unerhörte' Bedeutung bezogen. Auf den Mangel deutet auf der ersten semantischen Ebene das Gespräch hin, in dem Jeronimo und Josephe ihren Plan aufgeben, nach „La Conception" zu gehen, um von dort aus nach Spanien auszuwandern, wo sie heiraten und leben wollten. Der Verzicht bedeutet, daß die „Vereinigung" von Metrik und LautSemantischem (Namen) keine Aussicht auf eine allgemeingültige, das heißt gesetzmäßig begründete, Verbindung hat. Die Vereinigung bleibt außergesetzmäßig: zufällig. Das Zufällige aber, das ja vor der Bedrohung durch die Musik die „unerhörte Begebenheit" in der Literatur bildete, wird in der modernen Erzählung als etwas regellos Expandierendes, Heteronomes, erkannt, von dem Gewalt ausgeht. Der Zufall widerspricht der positiven Freiheit: der Bindung an eine - in sich - selbst erfundene Gesetzmäßigkeit; erst sie würde die einmalige, zufällig gefundene, Einheit als allgemeingültig erweisen. Über diesen Mangel klärt die dritte semantische Ebene auf. Sie deckt in ihm die inhärente Gewalt auf, die die Rede der Novelle als unzeitgemäß schon im 17. Jahrhundert erscheinen läßt. Nur insofern die Gewalt von der Erzählung methodisch als eine verfassungsinhlirente Gewalt an „Josephe" und „Jeronimo" sinnfällig gemacht wird, ist der Untergang der beiden in der zweiten Katastrophe und die Ausmalung der Brutalität auf der ersten semantischen Ebene gerechtfertigt: Der 'Mord' ist nur methodisch - zur Dokumentation von verfassungsinhärenter Gewalt - und dabei nur aus sprachästhetischen Gründen gerechtfertigt. Hier nun erweist sich die Systematisierungshilfe des ästhetischen Prinzips des Erhabenen in besonderer Weise. Gemessen an ihm ist die Nacherfindung der poetischen Rede der Novelle in der Rede der Erzählung noch keine Vollform von moderner Freiheit. Sie entspricht noch nicht der doppelt strukturierten - aus negativer in positive übergehenden - Freiheit, in welcher Kant das Heautonome der praktischen Vernunft in dem ästhetischen Urteil über das Erhabene erkannt hatte. Sie ist zwar Dichtung im Sinne von Erfindung, aber sie ist als Erfindung (nur) eine Nacherfindung - eine Nacherfindung des Paradigmatischen, das auf der zweiten semantischen Ebene in der Einheit dieser beiden poetischen Gattungen in der Novelle erwiesen werden konnte. Die Novelle selbst war ja noch keine - nunmehr aber geforderte - Neuerfindung: keine Konstituierung von positiver Freiheit der Prosa in bezug auf sich selbst. Diesen Paradigmenwechsel vollzieht die Prosa erst in Kleists Erzählungen und dort ist er erst auf der dritten semantischen Ebene erkennbar. Im 'Erdbeben in Chili' wird er zudem erst am Ende 'kommentiert': nach der 'Ermordung' von Metrik und Laut-Semantischem qua Namen. Doch kurze Zeit nachher, durch einen Besuch zufällig von allem, was geschehen war, benachrichtigt, weinte diese treffliche Dame im Stillen ihren mütterlichen Schmerz aus und fiel ihm mit dem Rest einer erglänzenden Träne eines Morgens um den Hals und küßte ihn. Don Fernando und Donna EJvire nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war ihm fast, als müßte er sich freuen. (Bd. 4, 145)
Hier, am Ende der Erzählung, ist selbst noch die Übernahme der Funktionen von Metrik und wortpoetischem Sematischen durch Grammatik und Wort-
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Semantisches überwunden. Verspoetisches - Metrik und Reim - ist nicht mehr als etwas Bestimmbares, und sei es auch in einer unerhörten, nie zuvor dagewesenen Formation, präsent. Es ist nicht mehr verifizierbar. Die aktuelle Prosa der Erzählung - so das Ergebnis - ist im Prozeß ihrer Selbsttransformation zur sekundtiren Praxis einer vollkommen neuen Metrik und eines vollkommen neuen lautpoetisch Semantischen avanciert. Sie ist in ihrer ' Normalität' die ganz andere Prosa: die Realisation ihrer positiven Freiheit. Sie hat den methodischen Status einer Selbst-Erfindung: Sie ist Selbstbestimmung im Sinne einer Selbstbindung an die in ihrem Transformationsprozeß aktuell erfundene Konstitutionsregel. Die neue - autoreferentielle - Bedeutung ist methodisch "erworben" . Sie ist daher auch nur über den Umweg der gesamten Methode der Erzählung zu gewinnen. Sie hat einen nicht-ontologischen, nicht-naturalistischen Status. Das Sekundäre macht ihre unhintergehbare Modernität aus. Bedeutung ist nichts Heteronomes, aber sie ist auch nichts Unmittelbares mehr: Sie ist nur 'theoretisch', vermittelt über die gesamte Methode der Selbstkonstituierung der Prosa, zu gewinnen. Die Ausschaltung von Unmittelbarkeit in dem Aktuellen der Konstituierung der Bedeutung kommt dabei einer Ausschaltung von Gewalt in moderner narrativer Prosa gleich. Kleists Erzählungen realisieren diese sprachliche Verfassung, und sie klären gleichzeitig darüber bereits auf. Sie erfüllen darin den Anspruch der "anderen Aufklärung". So läßt sich resümieren : In Kleists Erzählungen ist Gewalt methodisch in die Rede interiorisiert, woraus folgt , daß die Explikation der Gewalt - der Naturkatastrophe, des Kampfes, des Mordes auf der ersten, der „Querelles" auf der zweiten semantischen Ebene - nur ästhetisch - in Referenz zu der aktuellen Selbstreflexion der Prosa - einen allgemeingültigen Sinn ergibt und nur so gerechtfertigt ist. Unmittelbarkeit und Zufall sind - wie die expandierende Einbildungskraft in das Urteil über das Erhabene - in die aktuelle Rede regelgerecht hineinkonstruiert, und: Sie werden regelgerecht dekonstruiert, um ihre Gewalt zugleich erkennbar werden zu lassen, zu suspendieren und im suspense als sprachinhärentes energetisches Potential neu zu konstruieren. Es trifft denselben Sachverhalt, wenn gesagt wird, daß sie in dieser Funktion maßgeblich an der Herstellung „absoluter Totalität" von poetischer Präsenz beteiligt sind. Anders als es die philosophische und literaturwissenschaftliche Theorie der "Dekonstruktion" vorsieht, endet hier nämlich die Dekonstruktion nicht in der Vernichtung, sondern im suspense - hier: im suspense des Untergangs der Novelle und der in ihr vereinigten poetischen Prinzipien. 43 Im Selbstsuspense der Prosa aber liegt darüber hinaus einzig das Fundament der Neukonstruktion. Sie erst entspricht methodisch einer modernen Erfindung. Die "andere Aufklärung" gilt - so das Ergebnis - dem Konstitutionsprinzip der Prosa der Erzählung, deren Gesetzmäßigkeit eine „zur Rettung" insuffizient 43 In der Tatsache, daß die pos1struk1uralis1ische Sprachtheorie methodisch bei der Dekonstruk· tion endet, zeigt sich ein deutlich vormoderner Zug. Sie ignoriert die Transformation und die sich in ihr als doppelstrukturierte, nämlich als negative und als positive konstituierende, Freiheit. Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie , übers . v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a. M. 21988, 43 ff., 81 ff. , 276f. u. ö.
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gewordener poetischer Redeweisen „erfundene Maßregel" ist - mit dem Ziel, die literarische Rede als ganze zu retten. Literarische Rede ist zum Paradigma von positiver Freiheit in sprachlicher Verfassung geworden. Sie ist die nunmehr sekundäre Praxis der vom Untergang bedrohten poetischen Redeweisen, die sie dabei ebenso wie sich selbst vollkommen verändert, und sie ist die 'Theorie' ihrer neuen Praxis. Im 'Sekundären' liegt die Bedingung der positiven Freiheit der 'Prosa', der Freiheit von der Unmittelbarkeit alter poetischer Praxis und der Freiheit zur aktuellen Selbsterfindung: Präsenz der „absoluten Totalität" poetischer Praxis - im suspense - zu sein. In einer solchen Verfassung liegt denn auch die Antwort auf die Frage, worin das Substantielle, die ' Wahrheit', der neuen Prosa besteht. Sie ist die 'Wahrheit'. III. Selbstreflexive Literatur - die „andere Aujkltirung"
Hatte Kant die Lösung des ' ontologischen Mißverständnisses' der Aufklärung in dem „Übergang" entdeckt, den die praktische Vernunft in der Krise der theoretischen Vernunft zwischen sich und der theoretischen Vernunft bahnt, und hatte er damit die Perspektive eröffnet, im ästhetischen Urteil über das Erhabene das Konzept eines vollkommen neuen Paradigmen-Wechsels zu erkennen, 44 dann sind Kleists literarische Werke gleichsam die Probe auf die verfassungsmäßige Realisierbarkeit desselben. Sie sind das Paradigma des neuen Paradigmenwechsels. In der systematischen Herstellung des suspenses der konfligierenden literarischen Paradigmen - der alten und der neuen literarischen Rede - liegt das punctum saliens. Denn nur mit Hilfe des suspenses kann begründet werden, daß das insuffizientere Paradigma weder vollkommen verabschiedet, ausgegrenzt oder zerstört, noch in das kompetentere - vermittelt über eine Dialektik - „aufgehoben" oder aber als das bereits Ausgegrenzte am Ende einer „Negativen Dialektik" unvermittelt, punktuell, als das ganz Andere zur Erscheinung gebracht werden muß. Es bleibt im suspense - deponzentiert, was seinen alten normativen Anspruch betrifft, und vollkommen transformiert, was seine poetischen Potentiale betrifft - gegenwärtig. Das ist gemeint, wenn gesagt wird, es sei nur 'theoretisch' präsent: Es ist reflexiv in der - sekundären - Praxis der aktuellen Prosa gegenwärtig. Umgekehrt gesagt: Ohne eine solche Präsenz kann der Anspruch nicht erfüllt werden, die „absolute Totalität" der Konstituierung von Rede in Literatur zu (er-)finden, deren Realisation erst Freiheit zur methodischen Interiorisierung und Transformation von Gewalt bedeutet. Die Frage, wie denn jene Substanz, die in Kategorien wie „Sinn", „Bedeutung" ihren systematischen Ort hat, in der modernen Litaratur gegenwärtig sein kann, obwohl sie in nicht-literarischen Paradigmen der Erkenntnis nicht von derartigen Transformationsprozessen erfaßt ist, ist wiederum nur von der dritten semantischen Ebene zu beantworten, weil nur sie die Modernität des Präsenz-
« Vgl. zu dem neuen Paradigmenwechsel Renate Homann , Zu neueren Versuchen einer Reaktualisierung des Erhabenen (wie Anm. 10), 60f.
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Problems nicht unterbietet, die das ästhetische Prinzip des Erhabenen vorgibt. Auch Kleists Erzählungen wollen und können es gar nicht vermeiden, andere als literarische Verfassungen darzustellen. Ihre Präsenz ist sogar für die Selbstreflexion der sprachlichen Verfassung konstitutiv. Doch gilt: Kleist begründet die anderen Verfassungen anders, eben literarisch: Er erfindet deren sprachästhetische Begründung. So stellt er, um bei dem 'Erdbeben in Chili' zu bleiben, dar, daß in dieser Erzählung der Glaube an die Transsubstantiation - literarisch gesehen - ein Fundament in der literarischen Verfassung hat. In dem Umstand, daß sich die Prosa als literarische Verfassung selbst transformiert und diesen Prozeß in eine nie zuvor dagewesene „unerhörte" Bedeutung umerfindet, liegt der Literarische Grund dafür, daß unter den Bedingungen der Aufklärung, deren Organon ja der Verstand war, und der Krise der Aufklärung um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert an Transsubstantiation überhaupt geglaubt werden kann. Es ist kein Zufall, daß Kleist im „Erdbeben in Chili" die Geburtswehen der - unfreiwilligen - Novizin Josephe und deren Verhaftung auf den Tag legt, an dem „Fronleichnam" gefeiert wird: das Fest der Verwandlung von Hostie und Wein des Abendmahlsakraments in den Leib und das Blut Christi. 4 s Diese im Glauben verfaßte 'Wahrheit' erfindet Kleist sprachästhetisch neu. Er begründet sie aus der Verwandlung einer sprachlichen (Zeicben-)Materialität in eine dieser inhärente Nicht-Materialität, in einen Auto-Reflex der Verwandlung. 46 Mit der ästhetischen Verfassung des Erhabenen hatte Kant die Transformation der Immanenz der Urteilskraft in eine Art Selbst-Transzendenz - das „Gefühl" als Autoreflex der ganzen, in sich differenzierten Reflexion der Vernunft - umerfunden: in eine Transzendenz ohne traditionelle Metaphysik, in eine Idee ohne ontologische Exteriorität, ohne Heteronomie, das heißt in eine Nicht-Immanenz ohne Gewalt gegen die immanent aktuelle Transformation. Die Erzählungen Kleists rekonstruieren die Begründung sprachästhetisch. Sie klären über diesen Umweg darüber auf, daß der Grund von „Sinn'', „Bedeutung" - und somit auch der Grund für den Glauben an die Transsubstantiation - in der modernen literarischen Verfassung methodisch nach- und neuerfunden ist. Er liegt in dem durch den aktuell herbeigeführten suspense ermöglichten - Übergang der rekonstruierenden, dekonstruierenden und neukonstruierenden Prosa in eine vollkommen neue Prosa: in eine neue - nämlich sekundäre - Praxis der Einheit des alten insuffizienten Poetischen, oder unter Bezug auf Schiller gesagt: in einer „sentimentalischen" Präsenz „naiver" Poesie. Um sie zu realisieren, ist es notwendig, das Semantische der lebensweltlichen Prosa, so wie es die erste Ebene zeigt, in Ambiguität, Paradox und Nonsens zu führen, denn sie ist für die lebensweltliche Prosa und in deren Verfassung das 'Undarstellbare' oder 'Unerhörte'.
45 Und es ist kein Zufall, daß "Wochen" darauf das Erdbeben folgt, das .Chili", das Heimatland der Josephe , verwüstet. Auf der dritten semantischen Ebene tritt an dem Namen .Chili" die Lautschrift (Chi) hervor - des Buchstabens des griechischen Alphabets, mit dem der Name Christus beginnt, um dort ein Erdbeben in der universalen Verfassung der Menschen zu indi· zieren. 46 Der Grund liegt damit in der ,ästhetischen Reduktion" des .metaphorein", ohne welches es keine Rede geben könnte.
Gewalt der Aufklärung
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Sie ist nicht göttlich oder natürlich gegeben, sie ist aber auch nicht spontan, zufällig gefunden, sondern regelgerecht, methodisch, erfunden: Kleists Erzählung 'Das Erdbeben in Chili' endet mit dem Bericht darüber, daß Don Fernando und Donna Elvire Philipp, den „kleinen Fremdling", als „Pflegesohn" angenommen haben. Im Unterschied zu ihrem leiblichen Sohn Juan, den Meister Pedrillo ermordete, hat Don Fernando Philipp in der „Querelle" gegen Meister Pedrillo „erworben". Die neue Familie ist weder unmittelbar die „Heilige Familie", von der die Legende spricht, noch die 'natürliche' Familie, die die Idylle nacherfindet. Ihr ist demgegenüber das verfassungsgemäße Moment von Freiheit konstitutiv inhärent. Die poetische Prosa der Novelle kann in der Prosa der modernen Erzählung wieder gegenwärtig sein, aber nur sekundär, über den Umweg der gesamten Methode, nach welcher sich die moderne Prosa konstituiert. Die Erzählung reflektiert sich selbst als eine „sentimentalische" Novelle. Ihre Utopie aber verrät etwas von Kleists „Erfindung", liegt sie doch im neuen - verspoetischen - Drama: „und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßte er sich freuen".
In Kleists Erzlihlungen hat sich der Ort der Aujkllirung von Gewalt verlagert: von dem Inhalt ihrer Rede hin zur Selbstreflexion ihrer literarischen Verfassung. Erdbeben und Mord, die das Sujet im 'Erdbeben in Chili' bestimmen, sind daher nicht mehr unmittelbar lebensweltlich als Naturgewalt und moralische Gewalt zu identifizieren. Sie haben eine primlir literarische Bedeutung. Sie sind Dokumente und Kommentare von Gewalt in literarischen Verfassungen. Um dies methodisch ableiten und kategorial fassen zu können - dazu ist der Rückgriff auf das Erhabene im Sinne von Kants „Kritik der Urteilskraft" notwendig. In Kleist 's narratives the topos of enlightenment has changed from content to iiterary self-rejlexion. Earthquake and murder, which are the subject of 'Erdbeben in Chili' are therefore not immediately identified with natural and moral violence. They are primarily literary documents and commentaries. Recourse to the sublime in the sense of Kant's „Kritik der Urteilskraft" is necessary to justify and conceptualize this. PD Dr. Renate Homann, Gärtnerstraße 5, D-85049 Ingolstadt
CARSTEN ZELLE
Wezel und Grosse über Schreckenslust Bemerkungen gelegentlich eines übersehenen Artikels von Johann Karl Wezel
Aufklärung und Schrecken scheinen Gegensätze zu sein. Gleichwohl gibt es kaum eine Epoche, in der man sich so beredt über eine paradox erscheinende Empfindung den Kopf zerbrochen hat, die die Engländer delightful horror, die Franzosen rerreur agreable und endlich die Unsrigen angenehmes Grauen genannt haben. 1 Insbesondere die Frage nach den Gründen des Vergnügens an tragischen oder schrecklichen Gegenständen ist im achtzehnten Jahrhundert in zahlreichen ästhetischen Abhandlungen thematisiert worden. Die einschlägige Schrift unseres Klassikers Schiller bildet da lediglich die Spitze eines Eisbergs - eine Bibliographie zum Thema bringt es leicht auf mehr als 40 Titel. 2 Daher ist es nicht abwegig, die Schreckenslust geradezu als eines der Lieblingsthemen der Aufklärung zu bezeichnen, denn in der Auseinandersetzung mit dieser „neronischen Wonne" (Mario Praz)3 werden die kritischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts der Grenze der Aufklärung, und zwar in Hinsicht auf Theodizee, Menschenbild und operativer Kunstfunktion inne. Einer von ihnen ist Johann Karl Wezel, der in seinem auf fünf Bände geplanten, aber nach dem Erscheinen des zweiten von der Zensur verbotenen Versuch[s] über die Kenntniß des Menschen 4 auf einer Anzahl von Seiten unterschiedliche Formen der Schreckenslust durchgeht. „Da diese Materie ohnehin mehr in die Aesthetik gehört" ,s faßt Wezel sich in seiner Anthropologie stichwortartig kurz. Gleichwohl verdienen diese Überlegungen nicht zuletzt deswegen unser Interesse, weil sie 1787 ohne Nennung des Autors in den Berliner Ephemeriden der Lirreratur und des Theaters unter dem knalligen Titel Ueber das Vergnügen am
1 Vgl. Carsten Zelle, . Angenehmes Grauen ". Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert , Hamburg 1987. 2 Vgl. Carsten Zelle, Über den Grund des Vergnügens an schrecklichen Gegenständen in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Mit einem bibliographischen Anhang, in: Peter Gendolla, Carsten Zelle (Hg.) , Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien , Heidelberg 1990, S. 55-91. 3 Vgl. Carsten ZeUe, Ästhetischer Neronismus. Zur Debatte über ethische oder ästhetische Legitimation der Literatur im Jahrhundert der Aufklärung , in: DVjs 63 (1989), S. 397-419. 4 2 Tle. Lei.zig 1784/85. s Ebd., Tl. 2 (1785). S. 284.
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Carsten Zelle
Schreckhaften6 separat erschienen sind - offenbar versprach sich der Herausgeber Christian August von Bertram davon die Aufmerksamkeit des Publikums. Die Wezelforschung hat den Separatdruck übersehen. 7 Der Zeitschriftenabdruck beginnt leserwirksam mit dem Satz: „Man hat sich oft gewundert, wie den Römern und Engländern gladiatorische Schauspiele gefallen konnten; und man antwortete, daß dem Menschen alles gefällt, was ihn stark beschäftigt, und auf seine Seele lebhaften Eindruck macht." (S. 371) Das spielt natürlich auf Jean Baptiste Dubos' Emotionalismus an, dessen Diskurs organisierende Opposition „Trieb zur Thätigkeit" versus „Beschwerlichkeit der Langenweile" Wezel in seinem Versuch einige Seiten vorher genannt und mit der Psychologie der „Selbstliebe" verknüpft hatte - denn auf den Egoismus müsse sich alles zurückführen lassen, was gefällt. 8 Der Franzose hatte 1719 in seinen Reflexions Critiques sur la Poesie et sur la Peinture eine überaus wirkungsvolle Zusammenfassung einer Ästhetik der Zerstreuung für Mußeschichten geliefert, in der er das Rätsel der 'schmerzhaftangenehmen Empfindungen' (Moses Mendelssohn) durch die Beobachtung gelöst hatte, daß selbst die schmerzhaftesten Empfindungen deswegen angenehm seien, weil sie den 'ennui' verscheuchten. Gegenüber dem unerträglichen Überdruß der Langeweile sei ein schmerzhafter Affekt allemal vorzuziehen. 9 Diese Formel, auf die sich noch Schiller beziehen sollte, ist nicht zuletzt von Wezels anthropologischen Gewährsmännern, den 'philosophischen Ärzten' Johann Georg Zimmermann und Samuel-August-Andre Tissot - die genannt werden - und von Ernst Platner - der verschwiegen wird 10 - aufgenommen worden. Wegen der Lebhaftigkeit, die sie in der „Maschine" - diese Metapher („Räder" , „Uhrwerk", „Mechanismus", „Triebwerk" und ähnliches) ist durchgängig - zurücklassen, sind alle Affekte, auch die widrigen, bis zu einem gewissen Grade, angenehm. Dubos vergleichbar, lesen sich Wezels Beispiele daher wie auf den Kopf gestellter Pascal. Jedermann suche Betätigung, sei es mit Muskeln, Sinnen, Verstand oder mit Phantasie und Empfindung. Zu dieser Gattung gehören nun diejenigen Ergötzlichkeiten, denen Wezel sich anschließend zuwendet und deren Untersuchung auch separat gedruckt wurde. Bemerkenswert ist der mentalitätsgeschichtliche und interkulturelle Spürsinn, mit dem es Wezel gelingt, den Besuch der Römer im Amphitheater nachzuvollziehen. Den empfindsamen Aufklärern , versehen mit dem Ideal der Menschenliebe und dem Habitus des Mitleids, der Furcht vor dem Tod und der Angst vor Schmerzen, sei die mit dem römischen Stoizismus verbundene „ trotzige Verachtung der Gefahr und
6 In: Ephemeriden der Litteratur und des Theaters 5 (1787), 24. St „ S. 371-378; Nachweise in Oim Text. Das Separatum entspricht Wezels Versuch (wie Anm. 4), Tl. 2 (1785), S. 273-287. 7 Dies bestätigte freundlicherweise Prof. Dr. Hans Henning, Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der Deutschen Literatur in Weimar (Weimar, den 20. Juni 1989, brieflich). 8 Wezel, Versuch (wie Anm. 4), Tl. 2 (1785), S. 271. 9 Vgl. dazu ausführlich Zelle, . Angenehmes Grauen" (wie Anm. 1), S. 139 -157. 10 Zum Einfluß von Platners 'Anthropologie für Aerzte und Weltweise' (1772) aufWezels ' Versuch · jetzt Alexander Ko§enina, Ernst Platners Anthropol ogie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg 1989, bes. S. 92-106.
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des Todes" fremd. Der Modeme erblicke daher in den Gladiatorengefechten nurmehr ein „grausames Schauspiel ", wo der Antike nach seiner „Denkungsart" Größe und Erhabenheit sah (S . 371-373). Steht Wezel dem römischen Publikum des Amphitheaters mit historischer Distanz gegenüber, so dem „gemeinen Haufen", der zu den öffentlichen Hinrichtungen rennt, mit sozialer. Auch hinsichtlich der Zuschauer dieser Art Schreckenstheater wird zunächst klargestellt, daß es nicht Grausamkeit sei, die die Menschen auf den Richtplatz treibe, sondern der mächtige Antrieb der Neugierde, den bereits Voltaire für solche Fälle ins Spiel gebracht hatte. Neben der Betonung des rituellen Charakters der Exekution, der „Ceremonien", „Zurüstungen" , des „Feierliche[n]" sowie von „Beten und Singen" der versammelten Schaulustigen, stellt Wezel das Schauspielhafte der Darbietung in den Vordergrund. 11 Bei der Vierteilung des Damiens in Paris habe das französische Publikum sich selbstvergessen eingebildet, es stände auf dem Theater und der Beifall habe daher einerseits dem Schauspieler des Opfers gegolten, „weil er den Schmerz so natürlich ausdrückte" , und andererseits dem Henker, „weil er einen Verbrecher so gut quälte". Nicht unwesentlich zum Vergnügen trage auch das Aufführen des Delinquenten bei, nämlich seine „Frechheit" und sein „Muth" (S. 373 - 376) - also gerade jene Momente der Kraft, die auch zur literarischen Gestaltung des Bösewichts etwa bei Schiller beitragen sollten. Die Erörterung dieser beiden Dubos' Kritischen Betrachtungen entnommenen Schreckensbühnen der Vergangenheit und des zeitgenössischen Alltags, die bei den Aufklärern auf Entrüstung und Kritik stießen, legt nun die Frage nahe, wie es komme, daß die Kritiker des wirklichen Schreckens den fiktionalen mit Vergnügen betrachten. „Aber wie können selbst Personen, die das Schreckliche, Traurige, Rührende in der Natur fliehen, sich gleichwohl in der Nachahmung des Dichters und Schauspielers daran ergetzen?" Hätte man nun eine Fortführung des Dubos'schen Emotionalismus erwartet, etwa in der Richtung, daß bei den 'künstlichen' Schrecken die unlustvolle Komponente der Empfindung entfalle und man ein reines Vergnügen genieße, 12 so wird man überrascht. Wezel streitet nämlich mitsamt einem Hieb gegen die besonders von den 'philosophischen 'Ärzten' der Aufklärung bekämpfte Melancholie13 energisch ab, „daß Leute, die das Schreckliche und Traurige in der Natur fliehen, schreckliche und traurige Bücher oder Schauspiele lieben". Solch ein philiströses Wesen könne Wezel bei aller Beobachtung seiner selbst nicht entdecken. Der Melancholiker hingegen, den „rührende Empfindungen vergnügen, der sucht sie überall, in der Natur so wohl als im Schauspielhause". In ähnlicher Weise verschiebt Wezels Antwort auf die topi-
11 Vgl. Carsten Zelle, Strafen und Schrecken. Einführende Bemerkungen zur Parallele zwischen dem Schauspiel der Tragödie und der Tragödie der Hinrichtung, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 28 (1984), S. 76- 103, hier S. 87ff. 12 So bei Dubos, Reflexions Critiques, Bd. 1, Abschn. 3; vgl. Zelle, . Angenehmes Grauen• (wie Anm. 1). S. 146ff. 13 Vgl. Hans-Jürgen Schings, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts , Stuttgart 1977.
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Carsten Zelle
sehe Frage, wie die „Empfindung der Furcht, des Schreckens, der Traurigkeit im Trauerspiele, in rührenden, tragischen oder schrecklichen Erzählungen Gefallen erwecken [können]", das Problem vom Schrecken auf die „gigantischen starken lebhaften Bilder", die den heftigen Affekt- Erstaunen, Verwunderung, Überraschung - erregen (S. 378f.). Vielmehr hebt er auf einen kulturhistorischen Sachverhalt ab. Die Wollust an wirklichen und künstlichen Schrecken sei nur ein Phänomen unzivilisierter Gesellschaften: „Das Schreckliche und folglich auch das Grausame, Unmenschliche, Blutige gefällt auf dem Theater und in Büchern nur zu solchen Zeiten, wenn die Menschen einen Hang zur Wildheit haben" (S. 376). Das ist scharfe Kritik an dem barbarischen, dennoch aufgeklärt sich dünkenden Zeitalter, die Wezel hier übt. Wer melancholische Bilder liebt, erscheint als ein Wilder in der Zivilisation. Das ließe sich freilich auch zu einem DekadenzTopos umkehren. Wer der Zivilisation überdrüssig wird, sucht den Exotismus auch des Schreckens. Ein großer Melancholiker dieser Art scheint insbesondere der Schauerromancier und Abenteurer Carl Grosse gewesen zu sein, der 1788 - also bevor er sich zum Grafen von Vargas adelte - in seinem literarischen Erstling, der Abhandlung Ueber das Erhabene 14 das Selbstgefühl einer in uns liegenden „Seelenenergie" (S. 17 u. ö.) zum Kernstück der Definition des Sublimen gemacht hat. Der Kraft, die in den zerstörerischen Werken der Natur oder in den erhabenen Taten der Menschen zum Ausdruck kommt, korreliert im Betrachter ein Maßstab, der nur in ihm selbst liegt. Dessen Bewußtsein ist mit Wohlgefallen, einem „innere[n] seelige[n) Entzücken" (S. 46 u. ö.), verbunden, und zwar gemäß des Gesetzes, daß die bloße Tätigkeit unserer Erkenntnisvermögen ganz unabhängig von dem diese Bewegung auslösenden Gegenstand der Erkenntnis angenehm ist. Hier rekurriert Grosse auf das 'je sens, donc je suis' der Empfindsamkeit, das über Mendelssohn und Dubos auf den späten Descartes zurückgeht. Diese auf das Selbstgefühl unserer eigenen Energie zurückgebogene Definition des Erhabenen, in der sozusagen die von Mendelssohn herausgearbeitete Struktur der vermischten Empfindung desentimentalisiert wird, erklärt die Bejahung des negativen Grundes des Erhabenheitserlebnisses: Naturgewalten mit ihrer alles zernichtenden Kraft und Menschen mit ihren bösesten Taten sind sichere Mittel, die negative Lust des Erhabenen auszulösen. Somit ist in Grosses Bestimmung des Erhabenen nicht nur die schaurigschöne Naturkulisse seiner späteren Romane, sondern auch die Gestalt der auf diesem Hintergrund agierenden Protagonisten vorgezeichnet: der erhabene Bösewicht: „Ist Miltons Satan nicht groß?" (S. 172) fragt Grosse mit Blick auf dessen Kühnheit, Macht und Unerschrockenheit und z.erreißt mit seiner Schwärmerei für „glänzende Laster" (S. 174) beiläufig das Band zwischen Ethik und Ästhetik. Damit einher geht eine Abwertung der ethischen Qualität des Mitleids. Diese in der Aufklärung so favorisierte Empfindung entlarvt Grosse als eine Leidenschaft der Eigenliebe. Aufgewertet wer-
14 Göttingen und Leipzig [Johann Daniel Gotthelf Brose] 1788; Nachweise in () im Text. Siehe Neudruck Carl Friedrich August Grosse, Ueber das Erhabene. Mit einem Nachwort hg . v. Carsten Zelle (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. 9), St. Ingbert 1990.
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den dagegen Hobbes und Lukrez. Hinsichtlich der Frage nach dem Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen heißt es schlicht: „Lukrez sagt, daß es süß sey, dem auf dem Meere herumirrenden Seefahrer [. .. ) zuzusehen, weil es ein Vergnügen wäre, Uebel vor Augen zu haben, von denen man frey ist. Lukrez hat Recht" (S. 58). In diesem Zusammenhang stoßen wir auf den Dekadenz- beziehungsweise Ästhetizismus-Topos der neronischen Wonne. Nero soll bekanntlich Rom angezündet haben, um sich an dem Brande zu ergötzen. Grosse kommt mehrmals auf jene „brennende Stadt" (S. 66 u. ö.) zurück, an der sich eine lodernde Einbildungskraft labt, „die sich nicht am guten sondern am schönen ergötzt" (S. 67). Während Wezel vom Selbstgefühl angenehmen Grauens nichts wissen will, weil er am Projekt der Aufklärung festhalten möchte, führt die Auseinandersetzung mit dem angenehmen Schrecken des Erhabenen Grosse an die Grenze zum Ästhetizismus. Denn glauben wir nicht Nietzsches Stimme von jenseits von gut und böse zu hören und schauen wir nicht in Leiris' Spiegel der Tauromachie, wenn Grosse gelegentlich einiger Ausführungen zum Zusammenhang von Macht und Erhabenheit, die ihren Anlaß in Burkes Abschnitt zu 'power' finden dürften, ganz ohne Distanzierungstopos über Tiergefechte im allgemeinen und Stierkämpfe im besonderen schreibt: „Daher läuft man so gern zu solchen Schauspielen trotz dem weinerlichen Zurufe schlaffer Moralisten hin; man folgt so gern dem Zuge des Herzens nach Scenen, wo ungeheure Kräfte sich zeigen; man dürstet nicht nach dem rauchenden Blute edeler Thiere, aber man dürstet nach den ausdrucksvollen Mienen, nach ihren Anfällen und ihrem kraftvollen schönen Tode." (S. 83) Für Grosse findet die Aufklärung in der Ästhetik ihr Ende. Gegenüber gutgemeinten Versuchen, den Widerstreit zwischen Ethik und Ästhetik in Frage zu stellen, funktionsanalytisch abzufedern oder aujkliirerisch zu verharmlosen, illustrien der Beitrag die These, daß die Aujkltirung hinsichtlich Theodizee, Menschenbild und Kunstfunktion in der Asthetik ihre Grenze findet, an zwei Texten aus der Sptitaujkltirung: Johann Karl Wezels (1747-1819) Auf satz Ueber das Vergnügen am Schreckhaften, einem Seitenstück seiner 'Anthropologie', und Carl Grosses (1768-1847) Buch Ueber das Erhabene. Beide Schriften gehören zum lntenext einer „Ästhetik des Schrecklichen", die nicht nur einen charakteristischen Beitrag zu den Grundproblemen der Aujkliirungstisthetik bildet, sondern einen besonderen lntensittitsgrad: ihre Krise bezeichnet. ln contrast to well-intentioned anempts to question, relativize or minimize the opposition of ethics and aesthetics this anicle uses two texts from the /ate enlightenment Ueber das Vergnügen am Schreckhaften byJohann Karl Wezel (1747-1819) and Ueber das Erhabene by Carl Grosse (1768-1847), to illustrate the thesis that, when it comes to theodicy, the conception of man and the function ofart, aesthetics p/aces a Limit on enlightenment. Both writings belong to the aesthetics of the terrible, which is not only a characteristic contribution to the basic problems of enlightenment aesthetics, but also reveals its state of crisis. D.r. Carsten Zelle, Universität - Gesamthochschule Siegen, D-57068 Siegen
HANS - EDWIN FRIEDRICH
„Die innerste Tiefe der Zerstörung" Die Dialektik von Zerstörung und Bildung im Werk vom Karl Philipp Moritz
"Denn das höchste Schöne der bildenden Künste, faßt dieselbe Summe der Zerstörung, ineinander gehallt , auf einmal in sich, welche die erhabenste Dichtkunst, nach dem Maß des Schönen, auseinander gehüllt, in furchtbarer Folge uns vor Augen legt" . 1
In nahezu allen Texten von Karl Philipp Moritz spielt "Zerstörung" eine zentrale Rolle. Moritz verwendet die Vokabel weit über den Zusammenhang seiner ästhetischen Reflexionen hinaus geradezu terminologisch. Die Intensität seiner obsessiven Reflexion der "Zerstörung" kann verstanden werden als Ausdruck von Kontingenzbewußtsein,2 und die langjährige Auseinandersetzung mit diesem Phänomen als Versuch, das Problem aufbrechender Kontingenz im Medium philosophischer, poetischer und ästhetischer Reflexion mittels eines metaphysischen Konzeptes zu lösen und zu kodieren. 1772 erschien in Leipzig ein Auszug aus der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste von Johann Georg Sulzer. 3 Darin versuchte Sulzer das Verhältnis von Künsten und Natur neu zu bestimmen. Nicht Mimesis der Natur, sondern " Verschönerung aller dem Menschen nothwendigen Dinge" 4 sei das Wesen der schönen Künste. Im einschlägigen Artikel gab Sulzer eine Definition der Natur: Sie ist " nichts anders als die höchste Weisheit selbst, die überall ihren Zwek auf
1 Karl Philipp Moritz , Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788). Zitiert nach Karl Philipp Moritz , Werke , hg. von Horst Günther, 3 Bde, Frankfurt am Main 1981, Bd. Il , 576. Im folgenden zitiert mit Bandzahl in römischen und Seitenzahl in arabischen Ziffern. 2 . Kontingenz" wird hier verstanden im Anschluß an Werner Frick, Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts (Hermaea. Germani stische Forschungen NF, Bd. 55), T . 1.2, Tübingen 1988. Kontingenz wird als . defizienter Modus von Sinn, Kohärenz und finaler Ordnung, durch negative Bestimmungen wie Nicht-Notwendigkeit, Irregularität, Unselbständigkeit, Unbeständigkeit , Unberechenbarkeit, Unvorhersehbarkeit etc. charakterisiert", T . l , 11. 3 Johann Georg Sulzer, Die Schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, Leipzig 1772. 4 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln, abgehandelt, Bd. m, Leipzig 21793, 72.
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das vollkommenste erreicht. Daher kommt es, daß in ihren Werken alles zwekmäßig, alles gut, alles einfach und ungezwungen, daß weder Ueberfluß noch Mangel darin ist. "S Das Schädliche spielt keine den harmonischen Entwurf sprengende Rolle, denn die Natur hat „dem, was unmittelbar schädlich ist, eine widrige zurüktreibende Kraft mitgetheilet" .6 Alle dieser Harmonievorstellung zuwiderlaufenden Naturphänomene läßt Sulzer unberücksichtigt, indem er auf die dem Menschen verborgenen letzten Absichten der Natur verweist. Noch im gleichen Jahr wurde die Schrift in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen von Goethe rezensiert und scharf verurteilt. Gehört denn, was unangenehme Eindrücke auf uns macht, nicht so gut in den Plan der Natur als ihr Lieblichstes? Sind die wütenden Stürme, Wasserfluten, Feuerregen, unterirdische Glut und Tod in allen Elementen nicht eben so wahre Zeugen ihres ewigen Lebens als die herrlich aufgehende Sonne über volle Weinberge und duftende Orangenhaine? Was würde Herr Sulz.er zu der liebreichen Mutter Natur sagen, wenn sie ihm eine Metropolis, die er mit allen schönen Künsten, Handlangerinnen, erbaut und bevölkert hätte, in ihren Bauch herunterschlänge? 7 Goethe betrachtet die Natur aus der Perspektive unmittelbarer Affiziertheit heraus und verweist auf die Defizite von Sulzers Vorstellungen. Er führt die verheerende Wirkung von Naturkatastrophen ins Feld, deren unmittelbare Einwirkung auf die künstlerischen Bestrebungen er darlegt. Goethe protestiert aber nicht nur gegen ein einseitig harmonisches Bild der Natur, sondern weist darauf hin, daß der Mensch als Teil der Natur von ihr existentiell bedroht ist. „Oberhaupt [„ .] härtet sie [„ .], Gott sei Dank, ihre echten Kinder gegen die Schmerzen und Übel ab, die sie ihnen unablässig bereitet" .8 Er verweigert sich Sulzers Prämisse, daß die Natur einseitig positiv begriffen werden könne. Sie ist vielmehr gut und böse zugleich und entzieht sich sowohl der Kategorie der Zweckmäßigkeit wie jeglicher moralischen Festlegung .9 Goethe verweist auf die nicht wegzudiskutierenden zerstörerischen Aspekte der Natur und sucht auf dieser Grundlage das Verhältnis von Kunst und Natur neu zu bestimmen:
s Ebenda,
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6 Ebenda, 74. 7 Johann Wolfgang Goethe, Berliner Ausgabe, Bd. XIX , Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen, Berlin/Weimar 21985, 24. Künftig zitiert als BA. Friedrich Nicolai wird später in seiner 1775 erschienenen Werther-Parodie Freuden des jungen Werthers genau dieses Argument mit dem Stichwort .ein Genie ist ein schlechter Nachbar" gegen die antisozialen Aspekte von Werthers Geniebegriff anführen. Vgl. Friedrich Nicolai, 'Kritik ist überall, zumal in Deutschland, nötig'. Satiren und Schriften zur Literatur, München 1987; Zitat 27f. 8 BA XIX/24. 9 Die moralische Indifferenz der Natur bezeichnet in Goethes Frühwerk die Formel .gut und böse wie die Natur" . Vgl. folgende Stellen: Johann Wolfgang von Goethe, Gedichte 1756 - 1799, hg . von Karl Eibl, Frankfurt am Main 1987, 22 (künftig zitiert als FA); Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden, hg . von Hanna Fischer-Lamberg, Berlin 1963 - 74 , Bd. II , 12, 85; Bd. IV , 18f. ; Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887 - 1919, Bd. IV/3, 33.
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Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt, nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten. Schon das Tier durch seine Kunsttriebe scheidet, verwahrt sich; der Mensch durch alle Zustände befestigt sich gegen die Natur, ihre tausendfache Übel zu vermeiden und nur das Maß von Gutem zu genießen; [ .. . ] 10
Goethes Auseinandersetzung mit der 'zerstörenden Kraft des Ganzen' unterscheidet sich von der ästhetischen Diskussion um das angenehme Grauen im 18. Jahrhundert" in einem ganz zentralen Punkt. Der einschlägige antike locus classicus stammt aus De rerum natura von Lukrez: Suave mari magno turbantibus aequora ventis e terra magnum alterius spectare laborem, non quia vexari quemquamst iucunda voluptas, sed quibus ipse malis careas quia cemere suave est; 12
Die Stelle formuliert die Perspektive epikureischer Weltanschauung. Lukrez betont die Distanz des Beobachters vom sicheren Ufer aus. 13 Goethe setzt nicht am Problem der ästhetischen Darstellung an, sondern begründet seine neue Auffassung von 'Kunst' mit der unmittelbaren Bedrohung des Menschen durch die Natur. 'Kunst' ist nicht mehr Nachahmerin oder Verschönerin der Natur, sondern wird ihr entgegengesetzt; sie ermöglicht dem Menschen, aber auch schon dem Tier mittels seiner 'Kunsttriebe' , sich gegen die zerstörende Kraft der Natur zu behaupten . 'Kunst' 14 meint an dieser Stelle nicht nur die Künste als Ensemble ästhetischer Bemühungen, vielmehr fallen sämtliche kulturellen Bestrebungen des Menschen unter diesen Begriff, mit Goethe zu sprechen „alle Zustände". Von diesem Ansatzpunkt her bestimmt Goethe 'Kunst' in Opposition zur Natur als den zentralen Begriff, der die Autonomie des Menschen der Natur gegenüber als Notwendigkeit begründet. Die zerstörerischen Seiten der Natur sind nicht mehr in einen metaphysischen Optimismus eingebunden, sondern bleiben als solche
BA XIX/25. Vgl. die umfassende Darstellung von Carsten Zelle, .Angenehmes Grauen". Literarh.istorische Beiträge zur Ästhetik des Schreclclichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987. Mit anderer Fragestellung vgl. Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aulklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Ma.in 1987. 12 Lukrez , De rerum natura Il/ 1-4. "Wonnevoll ist' s bei wogender See , wenn der Sturm die Gewässer / Aufwühlt, ruhig vom Lande zu sehn, wie ein andrer sich abmüht, I Nicht als ob es uns freute, wenn jemand Leiden erduldet, I Sondern aus Wonnegefühl, daß man selber vom Leiden befreit ist.• Zitiert nach der Übersetzung von Hermann Diehls. Lukrez, Von der Natur, München 1991, 89. 13 Vgl. Herbert Dieckmann, Das Abscheuliche und das Schreclcl.iche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts, in: Herbert Dieckmann, Studien zur europäischen Aulklärung, München 1974, 372-424, hier 384ff.; Hans Blumenberg, Schiffbruch m.it Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1979; Carsten Zelle, .Angenehmes Grauen" (wie Anm. 11), 12. 14 Zur begrifflichen Differenzierung wird zwischen Kunst im engeren und 'Kunst' - wie von Goethe in der Sulzer-Rezensioo verwendet - im weitesten Sinn unterschieden. 10 11
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bestehen. In vielen Stellen begegnet in Goethes Frühwerk Kontingenzbewußtsein in dieser Form, und jeweils wird auf 'Kunst' verwiesen, wenn es um die Bewältigung dieses Problems geht. Dabei wird rasch deutlich, daß den Künsten eine herausragende Stellung zukommt. So beginnt etwa die Rede Zum Schäkespears Tag mit Reflexionen über den Tod (die 'allgemeine Nonexistenz'), is dem die Dichtung Shakespeares entgegengesetzt wird. Die Rede endet mit einer Feier des Genies Shakespeare, das selbst Natur hervorzubringen vermag und damit seine Autonomie glanzvoll bestätigt: „ Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen! " 16 Die in der Sulzer-Rezension formulierte Opposition von Natur und 'Kunst' bestimmt den Impuls der Prometheus-Ode. Prometheus beruft sich in der ersten Strophe auf seine 'Kunst' fertigkeit wider die „zerstörende Kraft des Ganzen". Bedecke deinen Himmel Zeus Mit Wolkendunst! Und übe knabengleich Der Disteln köpft An Eichen dich und Bergeshöhn! Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte Die du nicht gebaut , Und meinen Herd Um dessen Glut Du mich beneidest. 17 Zeus fungiert als Naturgottheit. Hütte und Herd sind elementare Beispiele für die in der Sulzer-Rezension angesprochene Befestigung des Menschen, die der Natur entgegengesetzt wird. Sie liefert die Basis für den Autonomieanspruch des prometheischen „Hast du's nicht alles selbst vollendet/ Heilig glühend Herz" .is Die Distanz des Beobachters ist ein durchgängig in der Diskussion des Erhabenen zu beobachtendes Phänomen. 19 Gleichwohl spielt der Gedanke der existentiellen Gefährdung schon früh eine wichtige Rolle. Verdeutlichen läßt sich dies an einem frühen Beispiel, dem Gedicht Das Firmament aus dem Irdischen Vergnügen in Gott von Brockes: Man siehet Seine Herrlichkeit an der mächtigen grossen Höhe, an dem hellen Firmament, an dem schönen Himmel. Als jüngst mein Auge sich in die Saphirne Tiefe I Die weder Grund I noch Strand I noch Ziel I noch End' umschrenkt Vgl. BA XVII/ 185 . BA XVII/188. FA 1/ 1, 203. Vgl. Horst Thomt, Tätigkeit und Reflexion in Goethes . Prometheus•. Umrisse einer Interpretation , in: Karl Richter (Hg.), Gedichte und Interpretationen, Bd. 2, Aufklärung und Sturm und Drang, Stuttgart 1983, 427 - 435 mit weiteren Literaturhinweisen; neuerdings Hartmut Reinhardt , Prometheus und die Folgen, in: GoetheJb 108 (1991) 137-168. 18 FA III , 204. 19 Vgl. Carsten Zelle, . Angenehmes Grauen• (wie Anm. 11), 82, 291 f. 15
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Ins unerforschte Meer des holen Luft-Raums I senkt' I Und mein verschlungner Blick bald hie- bald dahin lieffe I Doch immer tieffer sank: entsalzte sich mein Geist I Es schwindelte mein Aug' I es stockte meine Sele Ob der unendlichen unmässig-tieffen Höle I Die I wohl mit Recht I ein Bild der Ewigkeiten heisst I So nur aus GOtt allein I ohn End' und Anfang I stammen, Es schlug des Abgrunds Raum I wie eine dicke Flut Des Boden-losen Meers auf sinkend Eisen thut I ln einem Augenblick I auf meinen Geist zusammen. Die ungeheure Gruft des tieffen dunkeln Lichts I Der lichten Dunckelheit I ohn' Anfang I ohne Schranken I Verschlang so gar die Welt I begrub selbst die Gedanken; Mein ganzes Wesen ward ein Staub I ein Punct I ein Nichts I Und ich verlor mich selbst. Dieß schlug mich plötzlich nieder: Verzweiflung drohete der ganz verwirrten Brust. Allein / o heylsarns Nichts! glückseliger Verlust! Allgegenwärt'ger GOTT I in Dir fand ich mich wieder. 20
Vom Blick in den Himmel geht auf den Betrachter eine Sogwirkung aus, die ihm das Unendliche des Firmaments als potentiell existenzbedrohende Gefahr erscheinen läßt. Die Grenzenlosigkeit des optischen Eindrucks erzeugt Gefühle des Entsetzens, Schwindelns , Verschlungenwerdens. Am Ende steht die Depersonalisation als Erfahrung eines Augenblicks. Die drohende metaphysische Vernichtung des Beobachters mündet allerdings im Gefühl des Sichwiederfindens in Gott. Ein Moment der Distanz liegt in der poetischen Formulierung der Erfahrung. Die beschriebenen Eindrücke und ihre Gefahren werden im Medium des Gedichts ästhetisch kodiert und verlieren so ihren unmittelbaren Schrecken. Gleichwohl bleibt das Bewußtsein der Gefährdung erhalten. Das punktuelle Aufblitzen der zerstörerischen Kraft des „Ganzen" führt nicht zu Sinnzweifeln, sondern zum Bewußtsein, in einem unverbrüchlichen metaphysischen Zusammenhang aufgefangen zu sein. Die ästhetische Diskussion im 18. Jahrhundert21 kreist in erster Linie um das Problem der ästhetischen Bewältigung des Schreckens, während die philosophischen und theologischen Konzepte zunächst als hinreichende Bewältigung des Problems betrachtet werden. Die Differenz zwischen Brockes und Goethe besteht im Verlust des metaphysischen Optimismus. Die herkömmlichen Konzepte haben ihre Tragfähigkeit verloren. 22 Damit geht eine Verlagerung des Problems einher. Goethe nimmt von vornherein nicht den Standpunkt des gesicherten Beobachters ein, sondern den des von den zerstörerischen Kräften der Natur unmittelbar Affizierten. Damit treten Natur und 'Kunst' zueinander in Opposition. Kunst in ihrer weiten Bedeutung tritt an die Stelle, die bei Brockes die Religion einnimmt.
20 Zitiert nach: Jürgen Stenze! (Hg.). Gedichte 1700-1770. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge, München 1969, 85 f. 2 1 Vgl. Carsten Zelle, . Angenehmes Grauen " (wie Anm . 11). 22 Vgl. summarisch den Forschungsbericht von Peter Pütz, Die deutSche Aufklärung, Darmstadt 41991.
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Die Position des distanzierten Beobachters des Schrecklichen ist in Kants Schrift Über das Gefühl des Schönen und Erhabenen Grundlage philosophischer Reflexion. Zwei Zitate mögen diesen Grundzug verdeutlichen. Die Wirkung der Tragödie setzt Distanz voraus: „[D]as Unglück anderer beweget in dem Busen des Zuschauers teilnehmende Empfindungen und läßt sein großmütig Herz vor fremde Not klopfen. Er wird sanft gerührt und fühlt die Würde seiner eigenen Natur. "23 „Die mathematische Vorstellung von der unermeßlichen Größe des Weltbaues, die Betrachtungen der Metaphysik von der Ewigkeit, der Vorsehung, der Unsterblichkeit unserer Seele enthalten eine gewisse Erhabenheit und Würde. " 24 Betrachtungen und Vorstellungen führen zur Reflexion, nicht aber werden das in der Tragödie dargestellte Unglück oder die erhabenen Naturgegenstände selbst zum Problem. Das Erdbeben von Lissabon führte den Gebildeten die Grausamkeit der Natur vor Augen und wurde als Widerlegung der Theodizee aufgefaßt. Voltaires Candide und in Deutschland Wezels Belphegor ziehen Konsequenzen aus der Naturkatastrophe. Noch in Dichtung und Wahrheit berichtet Goethe vom Entsetzen, das dieses Ereignis auslöste. 25 Von dieser Perspektive her konnte ein harmonischer Naturbegriff mit einer einseitigen Betonung des Nützlichen, wie ihn Sulzer seiner Ästhetik zugrundelegte, kein zeitgemäßes Konzept mehr sein. Im Gefolge dieser Neubewertung der Natur mußte zwangsläufig auch 'Kunst' eine Neubewertung erfahren. Die existentielle Bedrohung durch die vernichtenden Kräfte der Natur und das Bewußtsein, neue Lösungsmöglichkeiten für das damit verbundene Problem formulieren zu müssen, wird im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zum vordringlichen Reflexionsgegenstand. In diesem Zusammenhang ist neben Goethe vor allem das Werk von Karl Philipp Moritz zu berücksichtigen. 26 Beider Wege trennen sich allerdings in den jeweiligen Lösungsversuchen. Moritz' Werk ist durchzogen von dem Bewußtsein, sich gegen 'Zerstörung' in mannigfaltigen Erscheinungsformen behaupten zu müssen. Immer wieder kreisen seine Reflexionen um das Problem, eine metaphysische Begründung für die Zerstörung zu formulieren und die Distanz des Beobachters neu zu bestimmen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der am Beispiel des Anton Reiser angesprochene Zweifel „an einer vernünftigen Ursach seines Daseins - sein Dasein schien ihm wie ein Werk des schrecklichen blinden Ungefährs." (1/233)
23 Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weiscbedel, Sonderausgabe, Nachdruck der Ausgabe Darmstadt Sl960, Bd. II, 830. 24 Ebenda, 834. 2s Vgl. Harald Weinrich, Literaturgeschichte eines Weltereignisses. Das Erdbeben von Lissabon, in: Harald Weinrich, Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft, Stungart/Berlin/Köln/Mainz 1971, 64-76. 26 Vgl. den in der Moritzforschung topischen Hinweis auf die Widersprüchlichkeit seiner philosophischen Anknüpfungen. Vgl. Peter Rau, Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion . Studien zum Werk von Karl Philipp Moritz, Frankfurt am Main 1983, 2 ff.; Lothar Müller, Die kranke Seele und das Licht der Erkennmis. Karl Philipp' Moritz Anton Reiser, Frankfurt am Main 1987, 280; Christoph Brecht, Die Macht der Worte. Zur Problematik des Allegorischen in Karl Philipp Moritz' Hartknopf-Romanen, in: DVjs 64 (1990) 624 - 651, hier 624f.
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Das Problem aus der Perspektive des unmittelbar Betroffenen stellt Moritz im autobiographischen 'psychologischen Roman' Anton Reiser dar. Die philosophische Einbindung und damit auch die Entschärfung der Zerstörung im kosmologischen Zusammenhang läßt sich in der Götterlehre und der Kinderlogik verfolgen. Zur Grundlage einer Ästhetik wird die Dialektik von Bildung und Zerstörung in Moritz' Hauptschrift Über die bildende Nachahmung des Schönen .
1. Die „Schrecken der Vernichtung" im Anton Reiser Anton Reiser sieht sich in Moritz' psychologischem Roman im Verlauf seiner Lebensgeschichte immer wieder von Zerstörung in vielfältiger Erscheinungsform bedroht. 27 Die Erzählung vom Tod eines Bergmannes löst bei Anton Schrecken aus: Anton hörte aufmerksam zu, und bei dieser Kopfzerschmetterung dachte er sich auf einmal ein gänzliches Aufhören von Denken und Empfinden, und eine Art von Vernichtung und Ermangelung seiner selbst, die ihn mit Grauen und Entsetzen erfüllte, sooft er wieder lebhaft daran dachte. (I/59)
Der Schrecken resultiert nicht aus dem Gedanken an den Tod allein, denn „der Gedanke an die eigne Zerstörung[... ] verursachte ihm sogar eine Art von wollüstiger Empfindung, wenn er oft des Abends, ehe er einschlief, sich die Auflösung und das Auseinanderfallen seines Körpers lebhaft dachte." (1/53) Eine neue Qualität ergibt sich aus dem Gedanken, daß der Tod die absolute Vernichtung des Individuums bedeuten könnte. Vorher war Antons Nachdenken über den Tod verknüpft mit der religiösen Gewißheit des Weiterlebens nach dem Tod. Nach pietistischem Muster - ein Lied der Madame Guyon bietet den religiösen Kontext - interpretierte Anton die Vernichtung seiner selbst als notwendige Durchgangsstation zu Gott hin. (Vgl. 1/47)28 Seine metaphysische Beruhigung der Todesfurcht wird brüchig in der Konfrontation mit dem realen Tod. Das Problem der Zerstörung im Tod wird bedrohlich, da die Frage des Weiterlebens der Seele nach dem Tod sich neu stellt. Das commercium mentis et corporis muß Anton aufgrund seiner unmittelbaren Affiziertheit neu zu bestimmen suchen. Die Drohung des Nichts läßt ihn die „Schrecken der Vernichtung" (1/304) empfinden: (D]er Übergang vom Dasein zum Nichtsein stellte sich ihm so anschaulich und mit solcher Stärke und Gewißheit dar, daß seine ganze Existenz nur noch wie an einem Faden hing, der jeden Augenblick zu zerreißen drohte. (1/304)
Die Wirkung dieses Gedankens hängt mit Reaktionen seines Körpers zusammen. Die „Tröstungen der Madame Guion" (1/47) werden in dem Moment obsolet, wie uns der Erzähler in einer burlesk anmutenden Bemerkung mitteilt, da der
27 Zur Herausarbeitung der .schwanen" Aspekte des Romans vgl. Allo Allkemper, Ästhetische Lösungen. Studien zu Karl Philipp Moritz, München 1990, 38 ff. 28 Vgl. zur Rezeption der Madame Guyon Robert Minder, Die religiöse Entwicklung von Karl Philipp Moritz auf Grund seiner autobiographischen Schriften. Studien zum Reiser und Hartknopf, Berlin 1936, 35ff.; Lothar Müller, Die kranke Seele (wie Anm. 26), 219ff.
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Körper seine Rechte einfordert. Einen ernsten Hintergrund erhält das, als die Zerstörbarkeit des menschlichen Körpers29 augenfällig wird. Und da nun die Stücken dieser hingerichteten Menschen auf das Rad hinaufgewunden wurden, und er sich selbst, und die um ihn her stehenden Menschen eben so zerstackbar dachte - so wurde ihm der Mensch so nichtswert und unbedeutend, daß er sein Schicksal und alles in dem Gedanken von tierischer Zerstückbarkeit begrub [ ... ] Dann konnte er sich nicht enthalten, sich immer an den Platz der zerstückten und in Stücken auf das Rad gewundenen hingerichteten Missetäter zu stellen - und dachte dabei, was schon Salomo gedacht hat: Der Mensch ist wie das Vieh; wie das Vieh stirbt, so stirbt er auch. (11222) Was aber, so fragt sich Anton, bedeutet dies für die Seele?30 Ist sie mit dem Körper so untrennbar verbunden, daß die Zerstückelung des Körpers auf die Seele übergreift? Der Erzähler kommentiert Antons Erschütterung vom "Gedanke[n] oder vielmehr Ungedanke[n] vom Nichtsein". (1/216 f.) Anton irrt „ohne Stütze und ohne Führer in den Tiefen der Metaphysik umher." (I/216) Er ist Melancholiker. (Vgl. I/233)3 1 Aus der pathographischen Perspektive sind die Reflexionen über das postmortale Schicksal der Seele zu sehen: Und wo blieb nun der Geist nach der Zerstörung und Zerstückelung des Körpers? [ ... ] - er dachte sieb den übrig gebliebenen und in der Luft herumfliegenden Verstand eines Menschen, der bald in seiner Vorstellungskraft zerflatterte. Und dann schien ihm aus der ungeheuren Menschenmasse wieder eine so ungeheure unförmliche Seelenmasse zu entstehen - wo er immer nicht einsahe, warum gerade so viel und nicht mehr und nicht weniger da wttren, und weil die 'Zahl ins Unendliche fortzugehen schien, das Einzelne endlich fast so unbedeutend wie nichts werde. (11223) Anton verfügt in dieser Phase seines Lebens über keine tragfähige metaphysische Tröstung, die er dem Gedanken an die Zerstörung entgegensetzen könnte. Er fühlt sich grundsätzlich von Zerstörung bedroht, weil er sich sozial isoliert sieht. 32 Wo ist ein die Vereinzelung aufhebendes verbindendes Prinzip in der menschlichen Gesellschaft? „( ...] die Eingeschrtinktheit des einzelnen Menschen ward ihm anschaulich. / Er fühlte die Wahrheit: man ist unter so vielen Tausenden, die sind und gewesen sind, nur einer." (I/221) Das Gefühl der Vereinzelung unter allen anderen Menschen bereitet Anton „Höllenqual" (l/302): 33
29 Vgl. Lothar Müller, Die kranke Seele (wie Anm. 26), 280 ff.; Wa.lter Gartler, Unglückliche Bücher oder die Marginalität des Realen. Eine Untersuchung im Vorfeld des deutschen Idealismus, Wien 1988, 76ff.; Heinz Brüggemann, Das andere Fenster. Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt am Main 1989, 60ff. 30 Vgl. dazu Lothar Müller, Die kranke Seele (wie Anm. 26), 294ff. )1 Vgl. Hans-Jürgen Schings, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kri1iker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhundens, Stuttgart 1977, 226ff. l2 Vgl. zum Problem des Egoismus als Phänomen der Zerstörung und Krankhei1ssymptom Lolhar Müller, Die kranke Seele (wie Anm. 26), 374 ff. Vgl. dazu Moritz" Reflexionen in der "Vergleichung zwischen der physikalischen und mcralischen We/tM (III/221 f.). 33 Vgl. 11221 .sooft er sich nachher in einem Gedrlinge von Menschen befunden hat, ist eben dies Gefühl der Kleinheit, Einzelheit, und fast dem Nichts gleichen Unbedeutsamkeit in ihm erwachtM. Vgl. Peter Rau, ldenlitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion (wie Anm . 26), 114 ff.
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Aber keinen Freund,
und nicht einmal einen Feind zu haben das ist die wahre Hölle, die alle Qualen der fehlbaren Vernichtung eines denkenden Wesens in sich faßt. (11302)
Immer wieder weist der Erzähler darauf hin, daß solche Gedanken sich auf Antons Innenleben verheerend auswirken, weil seine Reflexionen unmittelbar auf sein Gefühl zurückwirken. Anton fehlt Distanz zu diesen Erfahrungen. Alle in diese Richtung weisenden Eindrücke nimmt er als Vernichtung seiner selbst wahr. An anderer Stelle beleuchtet Moritz das Problem aus der komplementären Perspektive. Antons Isolierung resultiert primär nicht aus seinem Eigennutz , sondern er wird von der Gesellschaft 'zerstört'. Der Eigennutz ist die vom Individuum ausgehende Zerstörung des Sozialen. Im Andreas Hartknopf wird ein Taubstummer wie folgt charakterisiert: Neid und Eigennutz [hatten] so tiefe Wurzel bei ihm geschlagen, daß er der Blume den Sonnenschein, und der Herde die sich unter einem Baum gelagert hatte, den Schatten mißgönnte - Alle seine Mienen und Bewegungen waren widerwärtig und liefen auf Zerstörung und Verderben hinaus. (11442)
Egoismus ist "das allerfürchterlichste und schrecklichste; ohne Hülfe, ohne Rettung bin ich mir selbst, als einem sich verzehrenden, sich selbst mit tausend Gefahren und dem Untergang drohenden Ungeheuer, überlassen." (1/461) Die Überwindung des Egoismus ist möglich im ästhetischen Genuß. „ Vergessen unsrer selbst[] ist der höchste Grad des reinen und uneigennützigen Vergnügens, welches uns das Schöne gewährt. Wir opfern in dem Augenblick unser individuelles eingeschränktes Dasein einer Art von höherem Dasein auf." (II/545) Moritz verleiht dem Eigennutz einen metaphysisch positiven Sinn, indem er ihm eine zentrale Rolle in der Bildungskraft des Menschen zuschreibt. Der Eigennutz liegt dem Tätigkeitstrieb zugrunde; er ist der „Stachel" aller "menschlichen Bestrebungen". (Ill/212) Ohne Eigennutz gibt es keine Selbsttätigkeit. „Um dies große Spiel nun wieder in Bewegung zu bringen, müßte doch am Ende jener Stachel der Tätigkeitstriebe den Menschen wieder gegeben werden - " (Ill/212) Das Problem der Vernichtung wird auf verschiedene Lösungen hin entwickelt. Alle lassen sich unter dem Oberbegriff einer Tendenz zum Ganzen hin fassen. 34 Eine der ersten Lösungsstrategien, die Anton selbst entwickelt, sind seine Zerstörungsspiele. 35 Wenn er auf der Wiese ging, so machte er eine Scheidung, und ließ in seinen Gedanken zwei Heere gelber oder weißer Blumen gegeneinander anrücken. Den größten unter ihnen gab er Namen von seinen Helden, und eine benannte er auch wohl von sich selber. Dann stellte er eine Art von blindem Fatum vor, und mit zugemachten Augen hieb er mit seinem Stabe, wohin er traf. 34 Vgl. Raimund Bezold, Popularphilosophfo und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz, Würzburg 1984, 7; Werner Frick, Providenz und Kontingenz (wie Anm. 2), 365 f. 35 Vgl. Lothar Müller, Die kranke Seele (wie Anm. 26), 395 ff.; Christian Begemann, Furcht und Angst (wie Anm. 11), 300f.; Carsten Zelle, Ästhetischer Neronismus. Zur Debatte über ethische und ästhetische Legitimation der Literatur im Jahrhundert der Aufklärung, in: DVjs 63 (1989) 397 - 419.
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Wenn er dann seine Augen wieder öffnete, so sah er die schreckliche Zerstörung, hier lag ein Held und dort einer auf den Boden hingestreckt, und oft erblickte er mit einer sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindung sich selbst unter den Gefallenen. (1152; vgl. l/ 196f.)
Diese Spiele deutet der Erzähler als „doch im Grunde das fürchterlichste Resultat der höchsten Verzweiflung, die vielleicht nur je durch die Verkettung der Dinge bei einem Sterblichen bewirkt wurde". (Ul97) Noch im späteren Leben werden sie als Rettung aus „dem Zustande des tödlichen Authörens aller Wirksamkeit" (I/196) bemüht. Was aber ist es genau, das Anton diese Spiele spielen läßt? Er setzt sich an die Stelle des Schicksals. Vermittels dieser Setzung wird das Gefühl der bedrohlichen Zerstörung abgeleitet. Der Erzähler bezeichnet Antons Gefühle nach dem Spiel als gleichermaßen wehmütig wie angenehm. Diese gemischte Empfindung36 zeigt die Objektivierung seiner selbst an, die Anton im Spiel erwirbt. 'Schicksal' fungiert als Kodierung seines eigenen Lebensgefühls. Die Macht über die Zerstörung ist Sache des Schicksals, als das Anton selbst agiert. Er schafft „sich auf die Art eine Welt, die er wieder nach Gefallen zerstören konnte". (I/197) Er kann sich selbst unter die „Gefallenen" versetzen, weil er die Perspektive eines distanzierten Beobachters einzunehmen vermag. Die Zerstörungsspiele verweisen auf einen bedenklichen, pathologischen Zug seines Charakters. Solange er sich an Blumen austobt, hält sich der Schaden in Grenzen. Aber als in der Stadt, wo seine Eltern wohnten, einmal wirklich in der Nacht ein Haus abbrannte, so empfand er bei allem Schreck eine Art von geheimem Wunsche, daß das Feuer nicht sobald gelöscht werden möchte. (1/52)
In den Spielen tobt sich Lust an der Zerstörung aus, die der Erzähler als „ohnmächtige kindische Rache am Schicksal, das ihn zerstörte," (1/197) deutet. Dieser bedenkliche Aspekt erfordert geradezu die Folgerung des Erzählers, es handele sich um eine „dunkle[] Ahndung von großen Veränderungen, Auswanderungen und Revolutionen". (1/53) Damit ist der pathologische Hintergrund der Spiele zwar nicht seiner Brisanz entkleidet, aber er ist zum Symptom allgemeiner Veränderungserwartung erklärt. Die Suche nach einem Weg aus der unmittelbaren Affiziertheit durch die Vernichtungsdrohung zur Distanzhaltung bestimmt auch Antons Versuche in der Poesie. Ausgesprochen ist das an einer der Stellen, die seine Lage als die eines vom Abgrund bedrohten Menschen erscheinen läßt: Durch die Empfindungen, welche während der Zeit, da er dies Gedicht verfertigte, in ihm abwechselten, war wirklich seine ganze Seele erschüttert - er bebte vor dem schrecklichen Abgrunde des blinden Ohngefährs, an dessen Rande er schon stand, mit Schaudern und Entsetzen zurück, und schmiegte sich gleichsam mit allen seinen Gedanken und Empfindungen in die tröstende Idee von dem Dasein eines alles regierenden und lenkenden gütigen Wesens hinein. (11255)
36 Zur Bedeutung der gemischten Empfindungen für die ästhetische Diskussion des Schrecklichen vgl. Herbert Dieckmann, Das Abscheuliche und das Schreckliche (wie Anm. 13), 374; Carsten Zelle, Das Schreckliche als ästhetischer Begriff. Ein Abriß , in: Archiv für Begriffsgeschichte 33 (1990) 125-135; zur Bedeutung Moses Mendelssohns vgl. Carsten Zelle, . Angenehmes Grauen" (wie Anm . ll),3 15ff.
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Anton fühlt sich nicht bruchlos im Glauben an Gott aufgehoben, sondern er verweist auf die "Idee von dem Dasein" Gottes. Die religiöse Rettung verdankt sich einem dezisionistischen Akt. 37 Antons Bemühungen als Dichter sind dilettantisch .38 Er unterliegt "mancherlei Arten von Selbsttduschung, wozu ein mißverstandener Trieb zur Poesie [... ] den Unerfahrnen verleitet hat." (l/312) Warum aber kommt einer wie er dazu, sich als Dichter zu versuchen? Darüber liefert die Schilderung seiner Lektüre der Goetheschen Leiden des jungen Werthers Aufschluß. 39 Anton findet dort „alle seine damaligen Ideen und Empfindungen von Einsamkeit, Naturgenuß, patriarchalischer Lebensart, daß das Leben ein Traum sei, u. s. w. ", (11244) angesprochen. Bekanntlich begeht Werther - der als Urheber dieser Gedanken fungiert - am Ende des Textes Selbstmord. Obwohl häufig Antons Neigung zum Selbstmord bekundet wird, lebt er weiter. (Vgl. 1/223, 246) Warum begeht er nicht Selbstmord? Was rettet ihn vor dem "Gedanke[n], der ihm so lange seine eigne Existenz wie Täuschung, Traum und Blendwerk vorgemalt hatte"? (I/245) Die Lektüre des Werther bricht das Gefühl der Isolation auf und vermittelt ihm einen neuen Modus ästhetischer Distanzierung. [D]ie allgemeinen Betrachtungen über Leben und Dasein, über das Gaukelspiel menschlicher Bestrebungen, über das zweckJose Gewühl auf Erden; die dem Papier lebendig eingehauchten echten Schilderungen einzelner Naturszenen, und die Gedanken über Menschenschicksal und Menschenbestimmung waren es, welche vorzüglich Reisers Herz anzogen. (11245)
Der Problemgehalt des Werks ermöglicht Anton eine identifikatorische Lektüre des Textes, da Werthers Probleme mit Ausnahme der Liebesgeschichte seine eigenen sind. Wäre aber nur die Gedankenwelt Werthers für Anton wichtig, hätte er vergleichbare Erfahrungen auch mit einem expositorischen Text machen können, der seine Probleme behandelt.40 Gerade das Poetische des Romans, seine ästhetische Form, aber ist für Anton entscheidend. Die Vokabeln "lebendig" , "eingehaucht" und „echt" , bezogen auf die ästhetische Qualität des Romans, verweisen auf die Topik biblischer Verbalinspiration. 41 Im 2. Paulusbrief an die 37 Vgl. Werner Frick, Providenz und Kontingenz (wie Anm. 2), 375. 38 Vgl. Hans RudolfVaget, Das Bild vom Dilettanten bei Moritz, Sch.iller und Goethe, in: JbFDH
1970, 1-31 ; Hans Joachim Schrimpf, Karl Philipp Moritz, Stuttgart 1980, 112f. 39
Zu Moritz' Goethe-Rezeption vgl. Oskar Walzei , Die Sprache der Kunst, in: JbGoetheGes
1 (1914) 3 - 62; hier 38 ff.; Hermann Blumenthal, Karl Philipp Moritz und Goethes. Werther• , in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 33 (1936) 28 - 64; Gerhart Pickerodt, Das .poetische Gemählde". Zu Karl Philipp Moritz' • Werther"-Rezeption, in: Weimarer Beiträge
36 (1990) 1364-1368. 4-0 Für Antons Interesse an Werther ist die .entscheidende Erhellung seines individuellen Daseins" nicht allein bedeutsam. Vgl. Jan Wolter, Ästhetisches Naturerlebnis und Theorie des Schönen bei Karl Philipp Moritz, in: ZfdPh 97 (1978) 586-616; Zitat 600. Schon Hermann Blumenthal, Karl Philipp Moritz und Goethes " Werther• , gründete die Bedeutung des Romans für Moritz nur auf den . allgemeinen Gehalt des Werther" (30). 41 Vgl. dazu Herders Forderung an die Dichter, .deine ganze lebendige Seele in todte Buchstaben hin(zu]mahlen" , damit .der eigentliche Ausdruck unabtrennlich sey." Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. I, Berlin 1877, S. 395. Vgl. auch die Bedeutung der Shakespeare-Lektüre, die ihm eine . neue Welt eröffnet" (I/224).
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Korinther heißt es: „Der Buchstaben tödtet / Aber der Geist machet lebendig. " 42 Im Werther ist es gerade die Form - also der Buchstabe -, die lebendig ist. Unterstrichen wird dies mit der Opposition zwischen „zwecklosem Gefühl auf Erden" und quasi-metaphysischer Bestimmung der Form des poetischen Textes . Der Zwecklosigkeit des bisherigen Lebens wird die ästhetische Form als Konstituens von Sinn entgegengesetzt. Der poetische Text bietet Reflexionsmodelle an und die formale Gestaltung transportiert eine gleichsam religiöse Wahrheit. Die Lektüre ermöglicht ihm, sich als ganzes Wesen zu setzen. Indes fühlte er sich durch die Lektüre des Werthers, ebenso wie durch den Shakespeare, sooft er ihn las, über alle seine Verhältnisse erhaben; das verstärkte Gefühl seines isolierten Daseins, indem er sich als ein Wesen dachte, worin Himmel und Erde sich wie in einem Spiegel darstellt, ließ ihn, stolz auf seine Menschheit, nicht mehr ein unbedeutendes weggeworfenes Wesen sein, das er sich in den Augen andrer Menschen schien. (I/247) Die philosophischen Reflexionen im Anton Reiser erhalten erst unter dieser speziell poetischen Perspektive ihren Stellenwert. Philosophische Spekulation ist Antons „Lieblingsbeschäftigung" (1/248) vor allem deswegen, weil sie ihn „bis zu dem Begriff des Unendlichen empor[führt] " . (1/248) Aber die Form der philosophischen Spekulation ist nicht mehr allein argumentativer Natur, sondern nimmt für sich ästhetische Qualität in Anspruch. Die Idee des Unendlichen zum Beispiel „ verwandelt[ .. .] seine Spekulation in eine Art von poetischer Begeisterung" . (I/248; Hervorhebung v. V.) 43 Anton vermag seine soziale ' Vernichtung' zu überwinden im „Blick auf das Ganze des menschlichen Lebens". (I/233) Antons Gefühl, der Vernichtung hilflos ausgesetzt zu sein, hängt jeweils mit dem metaphysisch begründeten Gefühl der Partikularität ohne Bezug zu einer Ganzheit zusammen. Der Versuch, das „Ganze" zu denken bzw. Ganzheit herzustellen, ist der Weg zur Überwindung der 'Zerstörung' . Dieses Denken basiert auf ästhetischen Momenten . Claudia Kestenholz hat in ihrer Untersuchung zu Moritz auf die durchgängige Figur der „Selbst-Erhebung des Subjekts zur pseudogöttlichen Reflexionsinstanz" 44 hingewiesen. Das darin vorhandene dezisionistische Moment wird ausgesprochen anläßlich der Entstehung von Antons Gedicht Der Gottesleugner: Er dachte sich den Gottesleugner, als den Sklaven des Sturmwindes, des Donners, der tobenden Elemente, der Krankheit, und der Verwesung, kurz als den Sklaven aller der unvernünftigen leblosen Wesen, die stärker sind als er, und die nun seine Herren geworden sind, da er den Geist voll ewger Huld nicht verehren will. - Das Bedürfnis , einen Gott zu glauben, erwachte bei dieser Gelegenheit [ ... ) (1/253 f.)
42 2 Kor. 3,6. 43 Vgl. . Seine Einbildungskraft arbeitete beständig , die großen Begriffe von Welt, Gott, Leben , Dasein usw. die er mit seinem Verstande zu umfassen gesucht hatte, nun auch in poetische Bilder zu kleiden - und diese poetischen Bilder selbst waren immer das Große in der Natur, al s Wolken , Meer, Sonne, Gestirne usw." (1/249). 44 Claudia Kestenholz , Die Sicht der Dinge. Metaphorische Visualität und Subjektivitätsideal im Werk von Karl Philipp Moritz, München 1987, 43. Vgl. „Zu der Geburt eines bleibenden, unzerstörbaren Geistes , gehört notwendig eine innere Konsistenz und Festigkeit der Gedanken, ein unerschütterliches auf innere feste Persönlichkeit sich gründendes Selbstbewußtsein" . (III/297)
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Die Angst vor der Vernichtung führt zu einem Gottesbeweis. Der Gottesleugner ist allen zerstörerischen Kräften der Natur ausgeliefert, und die einzige Rettung davor ist der Glaube an Gott, der Bedürfnis, nicht aber selbstverständlich gegeben ist. Die Brüchigkeit des Gottesglaubens führt zur bewußten dogmatischen Setzung. 45
II. Die Dialektik von Zerstörung und Bildung als kosmologisches Prinzip in der Kinderlogik und der Götterlehre Moritz bietet im Anton Reiser ein Panorama der Gefährdung des Subjekts durch Vernichtung und Zerstörung in vielen Erscheinungsformen. Seine Perspektive verdeutlicht er mittels der mehrfach verwendeten Abgrundmetapher. Während die Gefährdung Anton Reisers vor dem „schrecklichen Abgrunde des blinden Ohngefährs" (l/255) ständig präsente Bedrohung ist, formuliert Moritz seine Reflexionen als gesicherter Beobachter. Diese Perspektive nennt er in der Vorrede seiner Beitrlige zur Philosophie des Lebens als grundlegende Bedingung der philosophischen Reflexion: Wer das tun will, muß sich gleichsam in Gedanken von sich absondern, und sein Schicksal wie das Schicksal eines Fremden betrachten. [.„] Er muß also die Kunst lernen, in manchen Augenblicken seines Lebens sich plötzlich aus dem Wirbel seiner Begierden herauszuziehen, um eine Zeitlang den kalten Beobachter zu spielen, ohne sich im mindesten für sich selber zu interessieren. (IIl/8; vgl. IIl/35)
Denn „[s]elbst das Schreckliche, sobald es sich nicht mehr auf uns beziehet uns nicht mehr in Schrecken setzt, wird es in sich selber schön, und wir sehen es mit Vergnügen an. -" (Il/919) Zugleich wird im Anton Reiser sowohl auf der Ebene des Erzählten wie der des Erzählers darauf verwiesen, wie der metaphysischen Bedrohung durch die Zerstörung zu begegnen sei. Allein die dezisionistische Setzung eines 'Ganzen' stellt sicher, daß die zerstörerischen Kräfte der Natur nicht dominieren. Zerstörung ist aber nur eine Seite der Natur. Als Gegenbegriff entwickelt Moritz seinen Begriff der „Bildung". Bildung und Zerstörung ergeben gemeinsam das „Ganze" .46 Er 4S Ganzheit wird auf der Erzählebene in der Erinnerung hergestellt, die die vereinzelten Elemente eines Lebens zu einem Ganzen integriert. Vgl. Lothar Müller, Die k.ranke Seele (wie Anm. 26), 24 ff.; Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie - Selbstbiographien und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987, 105 ff.; Manfred Koch, .Mnemotechnik des Schönen". Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus, Tübingen 1988, 50; Allo Allkemper, Ästhetische Lösungen (wie Anm. 27), 19ff. Die Distanz des Erzählers zum Gegenstand - in Moritz' Fall die Objektivierung seiner eigenen Biographie - wird in der doppelten Perspektive des Romans realisiert. Vgl. Hans Joachim Schrimpf, Karl Philipp Moritz (wie Anm. 38), 49 ff. 46 Vgl. zur Bedeutung des .Ganzen" für Moritz Erdmann Wanieck, Karl Philipp Moritz's Concept of the Whole in His • Versuch einer Vereinigung . .. •, in: Studies in Eighteenth-Century Culture 12 (1983) 213-222; Bernhard Fischer, Kunstautonomie und Ende der Ikonographie. Zur historischen Problematik von 'Allegorie' und 'Symbol' in Winckelmanns, Moritz' und Goethes Kunsttheorie, in: DVjs 64 (1990) 247-277; bes. 257ff. Vgl. aus dem Andreas Hartknopf .Das Licht hatte sich von der Finsternis gesondert, der Morgen war angebrochen. I Das verwirrte Chaos der Ideen, die von Jugend auf in meine Seele geströmt waren, ordnete sich plötzlich zu einem schönen Ganzen." (l/457)
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nimmt jedoch Zerstörung nicht allein als unvermeidliche Seite der Natur hin, sondern ist bestrebt, Zerstörung an sich metaphysisch sinnvoll zu begründen. Bildung setzt notwendig Zerstörung voraus. Dies läßt sich an zweien seiner längeren Schriften darlegen, am Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik (1786) 47 und an der Götter/ehre oder Mythologische Dichtungen der Alten (1791). In der Kinderlogik vermittelt Moritz seine grundlegenden Auffassungen als didaktisiertes Wissen. Die Dialektik von Bildung und Zerstörung als weltstrukturierendes Prinzip wird in einer längeren Passage gegen Ende entwickelt, wo die „Kinderlogik [ ... ] keine Kinderlogik mehr" (III/386) ist. Seine grundsätzliche Auffassung formuliert er an früherer Stelle: [D]as scheint nun freilich einmal die Ordnung der Dinge so mit sich zu bringen - daß eines das andere zerstört - und in sich verwandelt. So müssen selbst diejenigen, welche sich des Fleisches enthalten, doch den Bau der Pflanzen zerstören, die ihnen Nahrung geben. Aber aus der anscheinenden Zerstörung wächst wieder neues und beßres Leben hervor - doch davon ein andermal mehr! (Ill/402 f.) Unvermeidlich ist Zerstörung wirksam, wenn es um die elementarsten menschlichen Bedürfnisse geht, wie das Beispiel des Vegetariers zeigt. Angedeutet ist aber schon, daß damit eine qualitative Veränderung des Zerstörten einhergeht. Es wird in eine andere Stufe überführt, damit zugleich einem neueren und besseren Leben zugeführt. Zerstörung ist also notwendig und in einen Prozeß eingebunden, der auf eine hierarchische Abfolge verschiedenwertiger Formen hinausläuft. Sie wird als unumgängliche Durchgangsstation von einer Existenzform in eine höhere interpretiert. Mit anderen Worten: Das Bessere basiert auf der Zerstörung des minder Besseren. Allein die Vokabel „anscheinend" deutet eine Differenzierung des Begriffs an. Der Unterschied zwischen „anscheinender" und echter Zerstörung besteht in der Einbindung in einen Prozeß des Fortschreitens zu einer höheren Organisationsform. Dazu ist „Bildung" des Zerstörten vonnöten. Auf diese Weise ist der Zerstörung ein Sinn zugeschrieben, der sie nicht nur notwendig macht, sondern Moritz dazu führt, sie zu bejahen. 'Kunst' und Natur stehen sich in einem Verhältnis gegenüber, das durch die Zerstörung der Natur vermittels der 'Kunst' bestimmt ist. „Die Kunst muß die Natur zerstören, ehe sie ihre neue Bildung anfangen kann." (111/415) Auch Moritz begreift Kunst hier im weitesten Sinne. Elementare kulturelle Leistungen sind gemeint, wie aus der Gegenüberstellung von Kunstwelt und Naturwelt ersichtlich ist. (Vgl. IIl/412f.) „Aus der zerstörten Naturwelt entsteht [„.] durch die Umarbeitung des Menschen die Kunstwelt". (IIl/415) Der Tischler zum Beispiel muß den Baum zerstören, damit etwas Besseres gebildet werde.
47 Vgl. Thomas P. Saine, Die ästhetische Theodizee. Karl Philipp Moritz und die Philosophie des 18. Jahrhunderts, München 1971; Hans Joachim Schrimpf, Karl Philipp Moritz (wie Anm. 38), 94ff.; Raimund Bezold, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde (wie Anm. 34), 13 ff.
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Tisch, Haus, Kreuz, Schiff sind Gegenstände, wozu der Stoff größtenteils aus dem Pflanzenreiche genommen ist, in welchem der Mensch erst die Natur zerstören muß, um aus dieser Zerstörung eine neue Welt von Gegenständen hervorgehen zu lassen. (IIl/420)
Zerstörung wird als Grundprinzip menschlicher Erhaltung wider die Natur begründet und nobilitiert. Liegt aber der Zerstörung kein Bildungszweck zugrunde, ist sie sinnlose Zerstörung. Problematisch ist die verhältnismäßig unbestimmte Disponibilität des Bildungsbegriffs. Die Bestimmungen zur Zerstörung im Fall eines Krieges (Vgl. IIl/407) - etwa die ' Bildung' von Waffen, die einzig der 'Zerstörung' dienen - bleiben moralisch indifferent. Das Eisen rächt an dem Menschen die zerstörte Tier- und Pflanzenwelt - ( ...]Der Mensch zerstört durch das Eisen die Tier- und Pflanzenwelt - um eine neue Schöpfung von seiner eignen Arbeit daraus hervorgehen zu lassen Bald beneidet er sich untereinander diese neue von ihm selbst hervorgebrachte Schöpfung Daraus entsteht Krieg und Streit - Eben das, wodurch diese Schöpfung hervorgebracht wurde, zerstört sie wieder („ .] Die Spitze des Eisens kehrt sich gegen den Menschen selbst - und weil er damit die Ordnung der Natur zerstörte - so zerstört es ihn wieder. (III/421 f.)
Die „Spitze des Eisens" wird doppeldeutig gesehen. Sie steht mit Zerstörung und Bildung gleichermaßen im Zusammenhang. In anderen Texten weist Moritz darauf hin, daß die kriegerische Zerstörung ebenfalls in der 'Bildung' der Völker eine Funktion hat. 48 „Wenn irgend etwas verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden, so sind es ebensowohl die Fortschritte der friedlichen Künste in einem Staate, als die kriegerische Bildung desselben, welche auf diese Ehre Anspruch machen kön.nen." (Il/598) Moritz entwickelt den Gedanken so weit, daß die künstlerische Darstellung der Ilias die Zerstörung des Trojanischen Kriegs rechtfertige, (Vgl. Il/57 4 f.) der Pinsel Raffaels die Konstantinsschlacht. „Eine Schlacht mit allen ihren Schrecken ausgemalt, ist einer der erhabensten Gegenstände; es ist die Zerstörung selbst verewigt; das Schrecken und die Unordnung geordnet; und das Verderben und der Untergang selber zu einem harmonischen Ganzen gebildet - " (Il/369) Die kosmologische Relevanz der Dialektik von Bildung und Zerstörung entwickelt Moritz im letzten Teil seines Textes. Sein Ausgangspunkt ist d.ie Frage, ob der Tod echte oder anscheinende Zerstörung des Menschen bedeute. Die Natur „sollte nur deswegen in jedem einzelnen Menschen eine eigne neue Schöpfung, eine neue Welt hervorgebracht haben, um ihr Werk desto öfter wieder zerstören zu können?" (IIl/442) Diese auch im Anton Reiser aufgeworfene Frage beantwortet Moritz in der Folge. Der Tod ist nur 'anscheinende' Zerstörung, denn „aus der zerstörten Körperwelt steigt /die Geisterwelt / empor - ". (IIl/443) Die Natur „zerstört nur, um zu bauen - Das Bauen und Bilden ist der Zweck, die Zer-
48 Vgl. die Ausführungen zur Bedeutung des Elends in Moritz' Schriften bei Peter Rau, Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion (wie Anm. 26), 286 ff.
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störung ist nur Mittel - " (IIl/444) Zerstörung ist mithin nicht mehr an sich bedrohlich, sie ist in einem metaphysischen Konzept positiv bestimmt. 49 Da sie immer wieder zur Bildung notwendig ist, entsteht Dynamik in der Natur. „Die immerwährende Vervollkommnung der Geisterwelt ist das Fortschreitende in der Natur - ohne dies Fortschreitende würde der Kreislauf der Dinge selbst ohne Zweck und ein bloßes absichtsloses Spiel sein - " (III/444) Demnach ist der „immerwährende Kreislauf der Natur[ . ..]:/ Leben und Tod/ Jugend und Alter / Bildung und Zerstörung" (ill/444) nicht etwa ein melancholischer Zirkel des lmmergleichen, denn der „Kreislauf" ist im Idealfall ein Fortschritt. Am Ende der Argumentation gipfelt die Stufenleiter von Bildung und Zerstörung in der Vorstellung eines unzerstörbaren Gipfels, des „höchste[n] denkende[n] Wesen[s] [ ... ] Gott". (llI/446) Nun ist freilich dieser Gottesbeweis zirkulär und läßt sich auf eine Grundstruktur reduzieren: Es muß einen Sinn geben, sonst wäre alles sinnlos. Wenn nicht Ordnung, Plan, Zweck, in diesem Weltall ist, so hört mein Denken auf[ ... ] Soll ich über das Universum denken, so muß es auch ein denkbarer Gegenstand, es müssen keine Widersprüche darin sein. - Es muß sich in meiner Vorstellung nichts einander aufheben und zerstören Plan, Ordnung, Zweck ist das Höchste, was ich denke [... ] (lll/229) Moritz befindet sich „im Vorhof" einer Geschichtsphilosophie. In diese Richtung weisen einige Bemerkungen über das antike Rom. „Die Kräfte [des röntischen Volks] wurden gleichsam mit sich selbst vervielfältigt; jeder wiederkehrende Zeitraum wurde ein für sich bestehendes Ganze, bis jedes Jahr zuletzt mit dem erstaunlichen Anwuchs der Macht des röntischen Volks an Taten zu einem Jahrhundert wurde. " (11/444) 50 Auch in der Geschichte sind Bildung und Zerstörung wirksam. In der Götterlehre weist Moritz nach, daß dieses grundlegende Prinzip auch schon von den alten Griechen erkannt worden sei. Er interpretiert deren Mythologie als ästhetische Einkleidung des antiken Wissens um die stetige Wirkung der die Zerstörung überwindenden Bildung. Auch hier zeigt Moritz eine Hierarchie auf, die zu immer höherer Bildung führt.s 1 Am Anfang „ist Chaos, Nacht und Finsternis" . (II/616) Die „schöne Einbildungskraft der Griechen" (II/616) läßt sie selbst das Fürchterlichste reizend machen.
49 Eigentümlich schillernd ist der Begriff „Geisterwelt". An dieser Stelle nimmt er eine geradezu okku ltistische Färbung ein, während er später in einen canesianischen Zusammenhang eingereiht wird . (Vgl. III/445) Vgl. Raimund Bezold, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde (wie Anm. 34), 3lff. ; Claudia Kestenholz, Die Sicht der Dinge (wie Anm. 44), 154ff. so . Rom aber mußte gleich vom Anfang an nach allen Seiten zu seine Kräfte ausbreiten, die sich eben durch diese immerwährende Anstrengung in sich selbst vervielfältigten und vermehrten. [ ... ] Durch den äußern Angriff in sich zurückgedrängt, fügte sich der Staatskörper immer fester in einander, und wurde zum unüberwindlichen Phalanx, von welchem die feindlichen Speere wie von einer Demantburg zurückprallten. [ .. .)Von seinem ersten Keim an , bis auf die Zerstörung von Kanhago, war alles in immerwährendem Wachstum und zunehmender Lebenskraft; a.ls Kanhago zerstön war, so verquoll das Leben und die Blume fiel ab ." (Il/463) SI Vgl. Hans Joachim Schrimpf, Die Sprache der Phantasie. Karl Philipp Moritz ' Götterlehre, in: Heinz Otto Burger (Hg.), Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen , Darmstadt 1972, 272 - 305.
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Gleich am Anfange dieser Dichtungen vereinigen sich die entgegengesetzten Enden der Dinge; an das Furchtbarste und Schrecklichste grenzte das Liebenswürdigste. - Das Gebildete und Schöne entwickelt sich aus dem Unförmlichen und Ungebildeten. - Das Licht steigt aus der Finsternis empor. (ll/616f.)
Die Mitglieder der ältesten Generation der Götter fungieren in erster Linie als Sinnbilder der Zerstörung. Pluto ist der Herr des Tartarus, Saturnus „ein Bild der alleszerstörenden Zeit". (Il/623) In Saturnus ist Zerstörung das vorherrschende Prinzip. Er bildet zwar schon - nämlich Zeus und seine Geschwister -, bleibt aber eine „alles zerstörende[ ], ihre eigenen Bildungen verschlingende[ ] Macht". (II/618) Die Gleichzeitigkeit von Bildung und Zerstörung belegt Moritz an jedem einzelnen Beispiel der olympischen Götter, wie Schrimpf bereits ausgeführt hat. Exemplarisch sei auf die Darstellung des Apoll verwiesen: Unter den Dichtungen der Alten ist diese eine der erhabensten und liebenswürdigsten, weil sie selbst den Begriff der Zerstörung, ohne davor zurückzubeben, in den Begriff der Jugend und Schönheit wieder auflöst und auf diese Weise dem ganz Entgegengesetzten dennoch einen harmonischen Einklang gibt. [ ... ) Apollo und Diana sind die verschwisterten Todesgötter; sie teilen sich in die Gattung: jener nimmt sich den Mann und diese das Weib zum Ziele; und wen das Alter beschleicht, den töten sie mit sanftem Pfeil, damit die Gattung sich in ewiger Jugend erhalte, während daß Bildung und Zerstörung immer gleichen Schritt hält. (Il/670)
Alle olympischen Götter sind solche Bilder des Entgegengesetzten in den ihnen jeweils zugeordneten Bereichen. Die Halbgötter und Menschen werden ausschließlich der „Bildung" zugeordnet. Wie fundamental das Problem der Zerstörung für Moritz ist, zeigt die kosmologische Gültigkeit, die er dem Widerspiel von Bildung und Zerstörung zuschreibt. Diese Universalisierung des Bildungsbegriffs führt zur Ästhetisierung der Welt.
III. Die Aufhebung der Zerstörung im Kunstwerk Kunst im engeren Sinn ist aus dieser Perspektive der Spezialfall eines fundamental wirksamen Prinzips. Kunstwerke trotzen der Zerstörung. (Vgl. II/200)'2 Speziell für die Ästhetik hat Moritz seine Gedanken dazu in seiner Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) ausgearbeitet. 53 Sie bietet zugleich erneut einen Blick auf die problematischen Aspekte seiner Lösung des Problems.
52 Vgl. zum Phänomen der Bändigung der Zerstörung im Kunstwerk die Beschreibungen der Sixtinischen Kapelle IIl/345 und den Text über die Laokoon-Gruppe III/380f. Vgl. Helmut Pfotenhauer, "Die Signatur des Schönen" oder "In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?". Zu Karl Philipp Moritz und seiner italienischen Ästhetik, in: Helmut ?fotenhauer (Hg.), Kunstliteratur und ltalienerfahrung, Tübingen 1991, 67-83; Alfred Behrmann, Karl Philipp Moritz' .Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788", in: ZfdPh 107 (1988) 161-190. S3 Vgl. Egon Menz, Die Schrift Karl Philipp Moritzens .Über die bildende Nachahmung des Schönen" , Göppingen 1968; Hans Joachim Schrimpf, Karl Philipp Moritz (wie Anm. 38), 94ff.; Peter Rau, Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion (wie Anm. 26), 397 ff.
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Auf Zerstörung kommt Moritz gegen Ende seiner Überlegungen genauer zu sprechen. Wie, fragt er, ist die Bildungsk:rafts4 des Menschen anthropologisch verankert. Zur Beantwortung dieser Frage postuliert er das Vorhandensein einer ' tätigen Kraft' oder Tatkraft (Vgl. 11/568) im Menschen, die sowohl der Bildungswie auch der Empfindungskraft zugrunde liege. Im Anschluß daran führt er aus, wie die Verbindungen zwischen Bildung und Zerstörung, Einzelnem und Ganzem in seiner Konzeption beschaffen sind. Am Beispiel des Menschen erläutert er das Verhältnis zwischen Einzelnem und Ganzem: Von den Verhältnissen des großen Ganzen, das uns umgibt, treffen nämlich immer so viele in allen Berührungspunkten unsres Organs zusammen; daß wir dies große Ganze dunkel in uns fühlen, ohne es doch selbst zu sein: die in unser Wesen hineingesponnenen Verhältnisse jenes Ganzen streben, sich nach allen Seiten wieder auszudehnen: das Organ wünscht, sich nach allen Seiten bis ins Unendliche fortzusetzen. Es will das umgebende Ganze nicht nur in sich spiegeln, sondern so weit es kann, selbst dies umgebende Ganze sein. (Il/568) Die Tatkraft ist Merkmal der conditio humana. Ihre Wirksamkeit ist auf das Ganze ausgerichtet. „Denn die Natur, welche den menschlichen Geist gebildet hat, gnügt ihm zuletzt nicht mehr - er ruft in der Schöpfung, die ihn umgibt, eine neue Schöpfung hervor. - " (III/ 184) Problematisch ist aber, daß zwischen dem Ganzen und der Beschränktheit des Menschen eine unüberbrückbare Differenz besteht, die die Tatkraft stets zu überwinden sucht. Die Tendenz zum Ganzen ist nicht nur dem Menschen gegeben, sondern zieht sich wiederum als Prinzip durch die ganze Natur. Vorausgesetzt ist ein Korrespondenzverhältnis zwischen Einzelnem und Ganzem. In der Differenz zwischen beidem hat die Zerstörung ihren Ort. Einzelnes und Ganzes stehen folglich in einem Spannungsverhältnis zueinander, denn „[d]ie Zusammensetzung ist [ ... ] eine Unterjochung der Teile" . (Ill/287) „Das Zusammengesetzte läßt sich nie ohne Streit, Krieg, Gegeneinanderstreben denken, die Ruhe ist in der Auflösung, in der Gleichwerdung, in der Absonderung der Teile." (III/287f.) Die Welt ist eine Stufenleiter von Organisationsformen, in ihr herrscht das Bestreben einer jeden Organisationsform zum Ganzen hin. 55 Daher ergreift jede höhere Organisation, ihrer Natur nach, die ihr untergeordnete, und trägt sie in ihr Wesen über. Die Pflanze den unorganisierten Stoff, durch bloßes Werden und Wachsen - das Tier die Pflanzen durch Werden, Wachsen und Genuß - der Mensch verwandelt nicht nur Tier und Pflanze, durch Werden, Wachsen und Genuß in sein innres Wesen; sondern faßt zugleich alles, was seiner Organisation sich unterordnet, durch die unter allen am hellsten geschliffne, spiegelnde Oberfläche seines Wesens, in den Umfang seines Daseins auf, und stellt es, wenn sein Organ sich bildend in sich selbst vollendet, verschönert außer sich wieder dar. (II/569)
S4 Zum Begriff der Bildungskrafi bei Moritz und seiner ästhetischen Tradition vgl. zusammenfassend Hans Joachim Schrimpf, Karl Philipp Moritz (wie Anm. 38), 94; 98. ss Vgl. Ingeborg Schmidt, Zu Karl Philipp Moritz ' Kunstprogrammatik, in: Philosophie und Kunst. Kultur und Ästhetik im Denken der deutschen Klassik, Weimar 1987, 208- 214, mit der problematischen Rückführung von Moritz' Stufenleiter auf eine "optimistische antifeudale Welthaltung" (208).
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Nun ist die Stufenfolge durchlässig, d.h. jede niedere Organisationsform kann in einer höheren aufgehen. Darüber hinaus ist es das Bestreben einer jeden Organisationsform, die ihr untergeordnete in sich aufzunehmen bzw. mit den gleichrangigen Organisationsformen zu konkurrieren. Das aber ist einzig dadurch möglich, daß die niedere Organisationsform zerstört wird. Diesen Preis muß und soll sie zahlen, um ihre Verschönerung zu erreichen. Bildung ist ein Vorgang, der die Zerstörung der Einzelteile zur Bildung des Schönen erforderlich macht. An einem konkreten Beispiel läßt sich dies erläutern. Werther begründet im berühmten Brief vom 21. August seine melancholischen Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Welt damit, allein aufgrund seiner Existenz notwendig zum Zerstörer der mikrokosmischen Welt werden zu müssen. Da ist kein Augenblik, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblik, da du nicht ein Zerstöhrer bist, seyn mußt. Der harmloseste Spaziergang kostet tausend tausend armen Würmgen das Leben, es zerrüttet ein Fustritt die mühseligen Gebäude der Ameisen, und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. [... ] Mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die im All der Natur verborgen liegt, die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. 56
Für Moritz ist der Mensch eine höhere Organisationsform als die Tier- und Pflanzenwelt. Die Aufgabe der menschlichen Existenz aus einem melancholischen Zweifel heraus ist undenkbar, weil der Mensch damit seine höhere Existenz der niederen Organisationsform aufopfern würde. Das aber würde die Pervertierung der Stufenleiter bedeuten. Aufgrund dieses letztlich ästhetischen Arguments ist es zwar „schade um den Teil der Pflanzenwelt, den die hereinbrechende Flut verschlingt; aber nicht um den, der, von der lebendigen Welt zerstört, in eine höhere Organisation hinüber geht: denn weit mehr schade, als um die Pflanzenwelt, wäre es um die[ ... ] Menschenwelt, wenn diese deswegen nicht stattfinden sollte, damit alles übrige in dem Zustande seiner natürlichen Freiheit bliebe. - " (Il/572) Moritz ist im weiteren Verlauf seiner Argumentation moralisch indifferent. Findet Bildung nicht statt, erfordert der Drang der Tatkraft zum Ganzen hin, konkurrierende Organisationsformen zu zerstören, damit auf diesem Weg eine größere Organisation gebildet werde: Wo nicht, so muß er das, was um ihn her ist, durch Zerstörung in den Umfang seines wirklichen Daseins ziebn, und verheerend um sich greifen, so weit er kann; da einmal die reine unschuldige Beschauung seinen Durst nach ausgedehntem wirklichem Dasein nicht ersetzen kann. Mit dem sich angeschliffnen Stahle seines eingeschränkten Daseins nicht mehr froh, strebt er, außer sich selber, ein größeres Ganze, als er selbst, zu sein; stellt sich, zu einem Volk, zu einem Staat sich bildend, mit Wesen seiner Art zusammen, um Wesen seines gleichen, die sich ihm unterordnend ihm nicht dienen, mit ihm nicht eins sein wollen, zu zerstören. Er steht auf dem höchsten Punkte seiner Wirksamkeit; der Krieg, die Wut, das Feldgeschrei, das höchste Leben ist nah an den Grenzen seiner Zerstörung da. - (ll/ 569)
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Der junge Goethe (wie Anm. 9), Bd. IV, 139.
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Die Gefahr, die im Gedanken der Sinnlosigkeit von Zerstörung liegt, hat Moritz im Anton Reiser dargestellt, aber auch als heilbare Melancholie ausgewiesen.57 Zerstörung wird eingebunden in die Idee des Fortschreitens in der Natur von niederer zu höherer Organisation als notwendige Durchgangsstation. Die Bildung eines Volks aus der Zerstörung des Einzelnen, der Krieg als höchstes Leben sind nicht moralische, sondern ästhetische Phänomene und mittels ihrer Einbindung in das Fortschreitende legitimiert. Die konkreten Auswirkungen dieses Gedankens bleiben verschwommen, aber Kriege führen dazu, daß eine höhere Organisation - etwa der überlegene Staat - das Ergebnis des Waltens von Zerstörung ist. Das Volk ist die dem Einzelnen übergeordnete Organisation, die den Einzelnen zu zerstören vermag, ja dies unter Umständen sogar tun muß. Eingefangen wird dieser Gedanke wiederum mit dem Hinweis auf die Vorbildlichkeit der Natur, die „nie zerstört, als wo sie muß, und schonet, wo sie kann". (Il/569) Moritz verweist also auf einen idealen Zustand eines glücklichen Gleichgewichts der strebenden Kräfte. Er tritt aber erst wieder ein, wenn die höhere Organisationsform sich durchgesetzt hat. Unausgeführt bleibt, wie die Verknüpfung zwischen fundamentalem Prinzip und Empirie im einzelnen beschaffen ist. Bildung bändigt die Zerstörung und beraubt sie ihres nihilistischen Aspekts. „So geht die um sich greifende, zerstörende Tatkraft, sich auf sich selber stützend, in die sanfte schaffende Bildungskraft, durch ruhiges Selbstgefühl, hinüber, und ergreift den leblosen Stoff, und haucht ihm Leben ein." (II/570) Weitere Aufschlüsse darüber bietet der Begriff des „Schädlichen", den Moritz im folgenden entwickelt. Auch hier argumentiert er auf der Basis des Primats der Vollkommenheit. [. „] so ist nur jede uovollkommnere Sache insofern schädlich, als eine vollkommnere darunter leidet. - Das wirklich Vollkommnere kann daher nie den Unvollkommnern; dem weniger Organisierten nie das höher Organisierte schaden. (Il/572)
Der Gegensatz zwischen „anscheinender" und totaler Zerstörung aus der Kinderlogik läßt sich auch hier wieder finden. Entsteht eine höhere Organisationsform aus Zerstörung, dann ist Zerstörung gerechtfertigt, ja sogar wünschenswert - sie ist dann nur „anscheinend". Moritz fordert den Untergang der Schwäche zugunsten der Stärke. „So ließe sich nun weiter schließen, daß es in der Menschenwelt auch mehr schade um die überwiegende Stärke wäre, wenn diese deswegen nicht stattfinden sollte, damit die Schwäche ihre Schwachheit nicht gewahr werde". (II/572) Folglich wird vom Schwächeren die Aufopferung im Dienste des Höheren gefordert. „ Und das Individuum muß dulden, wenn die Gattung sich erheben soll." (II/573) „Allein die Qualen sind nur dem Individuum schrecklich, und werden in der Gattung schön [ ... ] Ist es nicht die immerwährende Zerstörung des Einzelnen, wodurch die Gattung in ewiger Jugend und Schönheit sich erhält?" (II/576) Radikal formuliert: um „den höchsten Vollendungspunkt des Schönen" (11/574) zu erreichen, ist Zerstörung notwendig und
s1 Es spricht vieles dafür, daß die Formulierung des Bildungskonzepts zwischen dem Erscheinen der ersten drei (1785/86) und des vienen Bandes (1790) des Anton Reiser anzusetzen ist.
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wünschenswert. ss Damit ist aber auch gesagt, daß zwischen Zerstörung und Schönem eine Relation des Maßes besteht, denn die „Schönheit [schreibt] der Zerstörung selbst ihr edles Maß vor". (TI/577) Das kann jedoch heißen, daß zur Bildung des höchsten Schönen totale Zerstörung erforderlich sein kann. Und die immerwährende Zerstörung des Schwächern durch das Stärkere, und des Unvollkommnern durch das Vollkommenere, scheint uns in eben dem Maße, wie die unaufhörliche Bildung des Unvollkommnem zum Vollkommnern, dem ewigen Schönen nachzuahmen , das, über Zerstörung und Bildung selbst erhaben, in der Himmelswölbung und auf der stillen Meeresfläche ruhend, sich uns am reinsten darstellt. (II/577) Tod und Zerstörung selbst verlieren sich in den Begriff der ewig bildenden Nachah mung des über die Bildung selbst erhabnen Schönen , dem nicht anders als, durch immerwlihrend sich verjüngendes Dasein, nachgeahmt werden kann. (ll/578)
Moritz formuliert eine Apologie der Zerstörung, die aus der Verlagerung des Problems vom Moralischen ins Ästhetische abgeleitet wird. Qualen, Tod, Krieg, Katastrophen, Isolation - an anderer Stelle von Moritz betrauert - sind ursprünglich Aspekte der zerstörerischen Seiten der Natur, die die Existenz des Menschen bedrohen. Dieser Bedrohung kann Moritz nicht mehr mit dem Rückzug auf die herkömmlichen metaphysischen Vorstellungen entgegentreten. Dieses aufbrechende Konzingenzbewußtsein bändigt Moritz vermittels des Gedankens der Bildung eines höheren Schönen. Zerstörung ist nicht mehr allgegenwärtige Bedrohung, sondern sie fügt sich als transitorisches Moment in einen Prozeß der Bildung ein und ist damit Teil einer neuen Ganzheit. „Der Zusammenhang der ganzen Natur würde für uns das höchste Schöne sein, wenn wir ihn einen Augenblick umfassen könnten." (Il/592) Moritz setzt ein nicht näher bestimmtes Aptum zwischen Schönheit und Zerstörung voraus. Die Feier der Schönheit gerät ihm in seiner ästhetischen Schrift und in den Beschreibungen der Kunstwerke, in denen Zerstörung gebildet ist, auch zu einer Feier der Zerstörung. Jegliche Zerstörung ist nicht nur gerechtfertigt, sondern erforderlich und wünschenswert zur Bildung. Die Frage nach den Grenzen von Zerstörung wird allein von ästhetischen Beweggründen bestimmt, die moralische Reflexion aber suspendiert. Die Apologie der Zerstörung begründet Moritz' Ausnahmestellung im Rahmen frühklassischer Ästhetik.
Die zerstörerischen Seiten der Natur werden ab 1770 bei Goethe und Moritz zu einem nicht mehr im Rahmen vorgegebener Deutungsmuster lösbaren Problem. Im Anton Reiser behandelt Moritz Zerstörung als physische und metaphysische Bedrohung des Individuums; in den theoretischen Schriften bemüht er sich um die iisthetisch-philosophischen Aspekte. Seine Lösung des Problems findet er in der Konzeption eines teleologisch ablaufenden Prozesses, in dem Zerstörung als 58 Das Bewußtsein um die Zerstörungskraft des Schönen findet sich als Problem auch in Goethes Torquato Tasso (Vv. 1840ff.) formuliert. "Zu fürchten ist das Schöne, das Fürtreffliche I Wie eine Flamme, die so herrlich nützt, / Solange sie auf deinem Herde brennt, I Solang sie dir von einer Fackel leuchtet, / Wie hold! wer mag , wer kann sie da entbehren? I Und frißt sie ungehütet um sich her, I Wie elend kann sie machen!" (BA VIl/774 f.) .
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notwendige Vorbedingung der Bildung als kosmologisches Prinzip metaphysisch begründet wird. Beginning in 1770 nature 's destructive aspects become a problem for Goethe and Mo ritz which cannot be resolved by conventional frames of interpretation. In his Anton Reiser Moritz treats destruction as a physical and metaphysical threat to the individual; in his theoretical writings he deals with the aesthetical and philosophical issues. He finds his solution ofthe problem in the conception ofa teleological process in which destruction is given a metaphysical foundation as the necessary precondition of education. Dr. Hans-Edwin Friedrich, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München
WERNER TROSSBACH
„ Klee-Skrupel" Melancholie und Ökonomie in der deutschen Spätaufklärung
"Man hat gesagt und wiederholt: Wo mir's wohlgeht ist mein Vaterland! Doch wäre dieser tröstliche Spruch noch besser ausgedrückt, wenn es hieße: Wo ich nütze ist mein Vaterland! Zu Hause kann einer unnütz sein, ohne daß es eben sogleich bemerkt wird; außen in der Welt ist der Unnütze gar bald offenbar. Wenn ich nun sage: Trachte jeder überall sich und andern zu nutzen! So ist dies nicht etwa Lehre noch Rat, sondern der Ausspruch des Lebens selbst" . 1
Im Aufruf zu selbständigem, kritischem Denken haben Generationen von Forschern zu Recht die zentrale Losung der Aufklärung in Deutschland erkannt. In den letzten Jahrzehnten ist mehr auf den zweiten Pfeiler dieser Epoche hingewiesen worden: den Anspruch auf selbständiges, kritisches Handeln. Er unterlag zwar Formveränderungen im Prozeß der Aufklärung, als Prinzip ist er jedoch für die gesamte Epoche charakteristisch. Schon die „Moralischen Wochenschriften" aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehen in der „Nützlichkeit" die entscheidende Eigenschaft des „Patrioten".2 In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wird aus der - längst als gegeben empfundenen - „Nützlichkeit" der Anspruch auf politische Partizipation abgeleitet3 , und in den siebziger und achtziger Jahren, als sich die Aufklärung grundlegend zu politisieren beginnt, kommt ein geradezu universaler Wille zur Veränderung zum Durchbruch.4 1 Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, zitiert nach: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, 28. August 1949, Zürich 1949, S. 414. 2 Wolfgang Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1971 , S. 321. 3 Rudolf Vierhaus, Politisches Bewußtsein in Deutschland vor 1789, in: Helmut Berding/HansPeter Ullmann {Hg.), Deutschland zwischen Revolution und Restauration, Düsseldorf 1981 , S. 168. Exemplarisch: Hans Erich Bödeker, Thomas Abbt. Patriot, Bürger und bürgerliches Bewußtsein, in: Rudolf Vierhaus {Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, S. 230. 4 In der gebotenen Klarheit: .Zur Aufklärung als epochen- und gesellschaftsspezifischem weltaneignendem Sinnbildungsprozeß gehört unmittelbar die Transformation jeglicher menschlicher Umweltwahrnehmung in Handlungsmotivation. Der Prozeß der Aufklärung ist also nicht nur die Sache des Verstandes , sondern vor allem auch die des praktischen Verhaltens zur Welt und Umwelt , eine alle Lebensbereiche umfassende Reformbewegung. Aufklärung ist kritisches Denken in praktischer Absicht.• {Hans Erich Bödeker/Ulrich Herrmann, Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung, in: Dies. (Hg.), Aufklärung als Politisierung - Politisierung der Aufklärung, Hamburg 1987, S. 5. Zur Politisierung insgesamt: Fritz Valjavec , Die Ent.stehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815, Wien 1951 (N D Kronberg 1978).
Aufklärung 8/ 1
C Felix Meiner Verlag , 1994, ISSN 0178-7128
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\Verner Troßbach
Selbstverständlich ist dieser zweite Pfeiler nur in enger Verbindung mit dem ersten zu sehen. Erst als die Fassaden statischer Weltbilder, die Ketten von Dogma und Aberglaube zu fallen begannen, konnten sich die Menschen zum - auch praktisch zu verstehenden - „Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit" anschicken . Erst als die positiven Wissenschaften die Gesetze der Natur entdeckten, konnte der Schauer vor dem Geheimnis der Einsicht in die Wirkungsweisen mathematisch darstellbarer Zusammenhänge weichen. Einsichten ermöglichten Eingriffe, den Entdeckungen folgten die Erfindungen, der Glaube an das Schicksal machte dem Willen zur Veränderung Platz. Was auf dem Felde von Natur und Technik gang und gäbe wurde, konnte auch vor wirtschaftlichen und politischen Zuständen nicht Halt machen. Dies galt um so mehr, als das Streben nach Veränderung nicht mehr als Willkür einzelner abgetan werden konnte. Wie in der Natur so wurden im gesellschaftlichen Leben allgemeine Gesetze5 entdeckt, an denen bestehende Verhältnisse gemessen wurden . Aber auch die Zukunftsentwürfe hatten den Gesetzen zu entsprechen, was ihnen in den Augen ihrer Protagonisten erst ihre Würde (und ihre Kraft) verlieh. Geschichte wurde nicht länger fatalistisch als Kombination zirkulärer Abläufe oder als Heilsgeschichte gedeutet, deren Verlauf mit all seinen Sprüngen und Rückschlägen einem verborgenen göttlichen Plan gehorchen sollte, ihre Triebkräfte wurden statt dessen als „Naturabsicht" säkularisiert, die es - allerdings nicht ohne methodische Schwierigkeiten - zu entschlüsseln galt. Geschichte konnte so den Menschen verfügbar gemacht werden, dergestalt freilich, daß auch hier das Erkennen ihrer Gesetzmäßigkeit(en) erst das Tor zu sittlichem Handeln öffnete.6
s Im . Gesetz" kann der Schlüsselbegriff der deutschen Aufklärung gesehen werden. Naturgesetz, Sittengesetz und Fortschritt konnten nur als Trias gedacht werden (Rolf Grawert, .Gesetz", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 894 ff.; Wolfgang Bartuschat, . Gesetz, moralisches", in: Historisches Wört.erbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel/Stuttgart 1974, Sp. 519ff.). Als . Naturgesetz sittlichen Handelns" kann auch Kants . kategorischer Imperativ" begriffen werden, wenngleich er diese Konstruktion aus der .intelligiblen" Welt gegen das empirische, juristische Gesetz scharf abgrenzt . (Manfred Buhr/Gerd Irrlitz, Immanuel Kant, in: Zwi Batscha (Hg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 19~6. S. 102 ff. - Friedrich K.aulbach, Kants Philosophie des Handelns und ihre aktuelle Bedeutung, in: Pragmatik. Handbuch des pragmatischen Denkens, Bd 1., hg. von Herbert Stachowiak und unter Mitarbeit von Claus Baldus, Hamburg 1986, S. 455 ff.). Diese Unterscheidung wird - in vulgarisierter Form - dann auch für die deutsche politische Popularphilosophie bestimmend, deren Forderungen sich auf den .Gesetzesstaat" (Hans Erich Bödeker, Prozesse und Strukturen politischer Bewußtseinsbildung der deutschen Aufklärung , in: Bödeker/ Herrmann, Aufklärung als Politisierung, wie Anm. 4, S. 23 f.) und damit - insbesondere im Kontext der Französischen Revolution - auf die Bewahrung des status quo beschränken. 6 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953, S. 99. - Reinhart Kosel leck, Kritik und Krise . Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/M. 1976, S. 108 f. - Heinz-Dieter Kittsteiner , Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/ M. - Berlin - Wien 1980, S. 13, 43. - Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft in Humanismus und Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991 , S. 137 ff.
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Vor das Handeln war also die vernünftige Reflexion gesetzt, nicht als Gegensatz, sondern als der eigentliche Grund. Philosophie begriff sich als Handlungswissenschaft, 7 und noch das komplizierteste „System" gipfelte in konkreten Anweisungen. Der "Trieb" zur „Tätigkeit" sollte sich demgemäß auf breiter Front „ vernünftig" entfalten. Freilich trafen auch die abstraktesten Maximen, so kategorisch sie auch formuliert sein mochten, auf historisch gewordene Zustände, die sich durch die Macht des Faktischen der Veränderung zu entziehen trachteten. So schien zum Beispiel das „gemeine Volk" sein Ohr dem vernünftigen Rat nur ungern zu leihen, 8 und auf der anderen Seite waren absolutistische Herrscher, auch wenn sie - wie Friedrich II. - selbst von den Ideen der Aufklärung durchdrungen waren, nicht immer bereit, ihre, wie sie meinten, wohlerworbenen Rechte den Postulaten der Vernunft zu opfern. 9 Solche Konstellationen stellten dann die Gretchenfrage aufgeklärten Politikverständnisses in Deutschland. Nur eine kleine Minderheit zu einem großen Teil im Illuminatenorden organisiert10 - konnte sich zur Idee der Reform auch gegen die Monarchie durchringen. Der größte Teil wich dorthin zurück, von wo er ausgegangen war: in die bürgerliche Gesellschaft. Aber auch dort gab es - abseits der staatlichen Strukturen - genug zu verändern: im familiären Zusammenleben, im bürgerlichen Umgang und auf dem weiten Feld von Bildung und Eniehung. 11 Hier war der Bürger in seinem Element, hier konnte er räsonieren und reformieren, ohne das Gehorchen zu vergessen.
7 Rudolf zur Lippe, Praxis und Bewußtsein in der Neuzeit, in: Pragmatik, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 319ff.; Buhr/Irrlitz, Immanuel Kant, (wie Anm. 5). 8 Zum Problem der . Volksaufklärung": Kai Detlef Sievers, Volkskultur und Aufklärung im Spiegel der Sehleswig-Holsteinischen Provinzialberichte, Neumünster 1970. - Jürgen Voss, Der Gemeine Mann und die Volksaufklärung im späten 18. Jahrhundert, in: Hans Mommsen/Winfried Schulze (Hg.), Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung, Stuttgart 1981 , s. 208 - 232. 9 Allgemein zum Verhältnis von Aufklärung und Absolutismus: Karl Otmar Frhr. v. Aretin (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974. - Helene P. Liebe!, Der aufgeklärte Absolutismus und die Gesellschaftskrise in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: Walther Hubatsch (Hg.), Absolutismus, Darmstadt 1973, S. 488- 543. Zu Friedrich ll. und der Müller-Arnold-Affäre: Eberhard Schmidt, Kammergericht und Rechtsstaat. Eine Erinnerungsschrift, in: Otto Büsch/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Modeme Preußische Geschichte. Eine Anthologie, Bd. 2, Berlin/ New York 1981 , S. 635 f. Eine pointierte Einschät.zung zum Problem der .Partizipation• im friderizianischen Preußen: Ingrid Mittenzwei, Theorie und Praxis des aufgeklärten Absolutismus in Brandenburg-Preußen, in: Jahrbuch für Geschichte 6 (1972) S. 53 - 106. - Günter Birtsch (Hg.), Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers (Aufklärung 2,1 1987). 10 Zum llluminatenorden: Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart-Bad Canstatt 1977. - Manfred Agethen , Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, München/Wien 1987; s. auch Koselleck, Kritik (wie Anm . 6), S. 74 ff. Zu den . Demokraten" außerhalb des Illuminatenordens: Jost Hermand (Hg.), Von deutscher Republik 1775-1795. Texte radikaler Demokraten, Frankfurt/M. 1975. 11 Zur Erziehungsideologie der Aufklärung: Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt/M. 1980. - Reiner Wild, Die Vernunft der Väter. Zur Psychographie von Bürgerlichkeit und Aufl