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German Pages 560 Year 2020
Christian Rabl Architekturen des Inauthentischen
Architekturen | Band 59
Christian Rabl (Dr.), geb. 1983, studierte Architektur an der Technischen Universität Wien.
Christian Rabl
Architekturen des Inauthentischen Eine Apologie
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Inhalt
Vorbemerkung.................................................................................. 7 Einleitung ..................................................................................... 11
Dimensionen des Authentizitätsbegriffs 1 1.1 1.2 1.3
Zur Begriffsgeschichte des Authentischen.............................................. 39 Eintritt ins »Zeitalter des Narzissmus«......................................................................42 Das »Ideal der Authentizität« ................................................................................. 53 Authentizität als ästhetische Kategorie .................................................................... 60
2 2.1 2.2 2.3
Architektonische Authentizitätsartikulationen.......................................... 73 Authentizität als künstlerische Autorschaft ................................................................ 77 Authentizität als Materialwahrheit und -gerechtigkeit................................................... 91 Authentizität als Geschichts- und Traditionswahrung .................................................. 107
Architektonische Brüskierungen durch das Inauthentische 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8
Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus ............................... 129 Narrative des Inauthentischen in den historistischen Stilarchitekturen...........................129 Repräsentationsmachtkämpfe Geburtsadel vs. Geldadel ............................................. 138 Die Stilfrage als Nachspiel des Klassizismus............................................................. 145 Rezyklierungen des Mittelalters.............................................................................. 158 Das Prinzip des Stilpluralismus .............................................................................. 168 Die Freiheiten und Optionen des Eklektizismus ......................................................... 180 Neunzehnnullnull – Der Späthistorismus ................................................................... 191 Die exotistischen Projektionen des Orientalismus ...................................................... 198
4 Das Inauthentische in der Traditionswahrung.......................................... 205 4.1 Authentizitätsklassifikationen der Denkmalerfassung................................................. 205 4.2 Konjunktur der Rekonstruktionsprojekte................................................................... 216 5 5.1 5.2 5.3
Das Inauthentische als Simulation in der Themenarchitektur .......................... 229 Zauber der Simulakren – Abweichungen in die architektonische Vielfalt......................... 229 Die Attraktion des Authentischen in der Urlaubsindustrie............................................ 240 Duplitecture – Sekundaritäten und Zweitklassigkeiten ................................................ 248
Hauptstädte des Inauthentischen 6
Hauptstädte des Inauthentischen ...................................................... 259
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Budapest .............................................................................. 267
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Tiflis .................................................................................... 319
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Baku ................................................................................... 367
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Wiesbaden .............................................................................. 411
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Atlantic City ........................................................................... 453
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Doha ................................................................................... 497
Schluss: Nach dem Authentischen .......................................................... 533 Literaturverzeichnis......................................................................... 537 Bücher und Buchbeiträge............................................................................................. 537 Zeitungs- und Magazinartikel ........................................................................................ 552
Vorbemerkung
Mein Bild einer urteilsfähigen anti-metaphysischen Architekturkritik entwickelt sich aus der Idee der anti-essentialistischen Theorie, im Erleben und Beschreiben von Kontingenz Möglichkeiten eines individuellen wie politischen Freiheitsgewinns zu erblicken, insofern diese Kontingenzeffekte die unvermeidliche Konstruiertheit von essentialistisch restringierenden Weltbildern und Ideologien phosphoreszieren. Ein verfeinertes Kontingenzbewusstsein für gefirnisste Fixierungen des Sozialen ist dementsprechend Telos dieser Politik, mit Richard Rorty »welterschließende« Neubeschreibung von Kontingenz ihr Mittel, ihre demokratische Befreiungsformel. Allerdings erscheint die Implementationsmacht anti-essentialistischer Theorie in der konkreten Rezeptionsleistung mitunter insofern als einseitig, als sich ein architekturtheoretischer Kritikalitätsgewinn tendenziell eher über den Umweg einer allgemeinen Wahrnehmungsverschiebung im Sinne eines »Metaphernwechsels« einstellt, das heißt über das Hereinbrechen eines »nichtnormalen Diskurses«, wie es Rorty nennt, und weniger über eine spezifische diskursive Wahrnehmungsverschärfung innerhalb der Rechtfertigungskriterien eines herrschenden »normalen Diskurses«. Zu fragen bleibt daher, inwiefern die kulturell abwegig veranlagte »Wahrnehmungsweise« des Inauthentischen und Künstlichen selbst gar keine eigenständigen Erläuterungen ästhetischer Phänomene entwickelt, sondern lediglich bereits zirkulierende Negativattribute der Architekturbeschreibung reaffirmiert – einen »Metaphernwechsel« über »welterschließende« Begriffsverschiebungen und -umkehrungen betreibt, indem sie nicht viel mehr zu tut, als bereits präetablierte Attribute, die Architekturen als Qualitäten und Nicht-Qualitäten zuerkannt werden, semantisch umzugruppieren, um dann die Artifizialität und Inauthentizität travestierender Kunst zu bejubeln. »Wahrnehmungsweisen« muss man zuallererst erfahren. Ist man dazu, aus welchen Gründen auch immer, außer Stande, kann man nur versuchen, sie argumentativ nachzuvollziehen. Ein sekundäres Bemühen, dass zwar darin, ästhetisches Empfinden nachträglich zu rationalisieren, nicht grundsätzlich unbefriedigend sein muss, aber dann, wenn man die Inauthentizitätsfaibles für Übertriebenes, Künstliches und Gefälschtes nicht teilt, ausschließlich auf außerarchitektonische Argumente kultureller »Subversivität« rekurrieren muss. Ein Unterfangen, das überdies Gefahr läuft, sich »gesinnungsästhetisch« zu versteifen. Als wäre ästhetischer Genuss nur dann unverdächtig, wenn
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sich das Ästhetische in den Dienst »subversiver« Wirkungen zwingen lässt. Also wenn sich das Objekt des sinnlichen Begehrens in die theoretische Perspektive und politische Hoffnung einer anti-essentialistischen Rezeptionsweise von befreienden Kontingenzmomenten eingliedern lässt. So gesehen stehen »Neubeschreibungen« dessen, was sich architekturästhetisch hinter der Chiffre »Inauthentizität« verbirgt, vor einigen möglichen Enervierungsrisiken. Wobei die erste potenzielle Schwierigkeit bereits im »Metaphernwechsel« selbst liegt, denn entgegen dem spröde-theoretischen Eindruck, der sich bei einem anti-essentialistischen Rezeptionsprojekt künstlerischer Kontingenzeffekte vordergründig einstellt, muss es einem erst gelingen, in einen »nichtnormalen Diskurs« hineinzukippen. Um dann, nach einem erfolgreichen Hineinkippen, worin eine zweite Schwierigkeit liegt, nicht vor dem Eindruck zu frustrieren, dass mit dem »Metaphernwechsel« selbst ja eigentlich bereits alles gesagt ist, weil sich aus dem »nichtnormalen« kein produktiver »normaler Diskurs« institutionalisieren will. Aber auch dann mag, und darin ruht eine dritte Schwierigkeit, die Architekturbeschreibung selbst als intellektualistisch gegenüber ihren ästhetisch-sinnlichen Qualitäten erscheinen, wie direkt teleologisch fixiert auf Interpretationen der Politizität einer Kontingenz- und Konstruiertheitsrezeption. Die genussfähige Ästhetizität der der manchmal allürenhaften Künstlichkeiten und Inauthentizitäten, das süß aphrodisierende Sinnendrangsal des Überfeinerten und Übertriebenen verunklart dann hinter einem »gesinnungsästhetischen« Betrachtungsimperativ. Dieses Buch, dass einschlägig Inauthentisches in der Architektur affirmiert, sich ihrer vergifteten Waffen zu bedienen versucht, indem sie die inneren Widersprüche der traditionalen Klassifikation architektonischer Phänomene bewirtschaftet, will leidenschaftliche Kuratierungstätigkeit sein und nicht nur ein anti-essentialistisch teleologischer »Theoretizismus«. Aber ich muss mir eingestehen, dass es meinen Diskussionen architektonischer Inauthentizitäten teilweise nur ungenügend gelingt, frei von dieser Einseitigkeit hin zur »gesinnungsästhetischen« Intellektualisierung zu sein. Das veranschaulicht die Historismus-Interpretation, die zwar natürlich die Kunstbemühungen des 19. Jahrhunderts nicht ausschließlich als unfreiwillig übersteigerte prahlerische Affektiertheiten darstellen will, aber sich in ihrer Würdigung aggressiver Künstlichkeiten und Inauthentizitäten nicht nur die Kritik gefallen lassen muss, die zeitgebundenen bauästhetischen Kriterien der historistischen Architektur zu vernachlässigen, sondern in Verdacht gerät, mit einer kontingenztheoretisch positionierten Verteidigung insgeheim idiosynkratisch-subjektive Geschmackspräferenzen reinzuwaschen. Denn natürlich ist meine argumentativ ausgebreitete Affirmation der Inauthentizität der historistischen Architektur nur die halbe Wahrheit. Gleichermaßen begeistern mich ihre Schönheit und Romantik, der wetteifernde Prunk ihrer überreichen, farbenprächtigen Detaillierungen und Linienführungen, die geschichtsträchtigen Stilzitate, ihr Pathos, ihre Ambition. Die konservativen Verlockungen des Historismus, die tief in ihm fließenden Sehnsüchte, sind mir nicht fremd, seine Schönheit und Romantik ein mir nicht immer hinlänglich eingestandener Antrieb für das Plädoyer, in einer Welt verfeinerter Kontingenzempfindungen zu leben. Mein Bedürfnis, das, was mir subjektiv architektonisch lieb ist, nicht nur in einer kunstgeschichtlich inventierenden Tätigkeit zu einem privaten Architekturkanon
Vorbemerkung
des Inauthentischen, des Zitativen, des Theatralischen, des Geschichtslastigen und des Spielerischen zusammenzufügen, sondern über ein kontingenztheoretisches Rezeptionsprojekt zu verteidigen – weil ich dies für philosophisch richtig und politisch notwendig erachte – ist der Antrieb dieser Arbeit. Und weil meine subjektiven architektonischen Präferenzen zu einem guten Teil Baukunst belangen, die sich entweder außerhalb der »legitimen« akademischen Gegenwartsarchitektur befindet oder aber kunstgeschichtliche Materie betrifft (am liebsten in der durch den Historismus rekapitulierten Variante), prägt diese Arbeit ein durchaus absichtliches Nichtverhältnis zur gegenwärtigen Westarchitektur. Kritisiert wird die »legitime« Gegenwartsarchitektur freilich indirekt, indem die Interpretation der vielgestaltigen Inauthentizitäten im Historismus und in der Themenarchitektur auch diejenigen ästhetischen Qualitäten erfasst, die diese abseits ihrer travestierenden Verpackungstricks grundsätzlich auszeichnen: ihr sinngeladener Ausdruck, ihr Geschichts- und Kunstsinn und ihre repräsentative Schmuckfülle. Dinge, für die nicht nur die zeitgenössische Moderne wenig Feuer zeigt. Generell erscheint mir meine persönliche Modernerezeption, die dieser Kritik zu Grunde liegt, jedoch eigentlich wenig unkonventionell zu sein. Das, was in diesem Buch an Grundunzufriedenheit führt, sind durchaus mehrheitsfähige Malicen eines gängigen Enttäuschungsdiskurses in der architektonischen Fachschriftstellerei: die Ablehnung des Funktionalismus und der Geschichtsfeindlichkeit der Avantgarden, ihrer Manifestationen intellektueller Arroganz; die Zurückweisung des Bauwirtschaftsfunktionalismus mit seiner stadtästhetischen Verdurchschnittlichung dieser Radikalismen; die Beanstandung der Bildpraxis der »Signature Styles«, in der sich die Stararchitekten als Selbststilisierer in neoliberalem Umfeld gefallen.1 In die Argumente eines grundsätzlicheren Einwands kann sich dieses Buch allerdings verwickeln. Sein Nichtverhältnis zur Gegenwartsarchitektur bringt ein Nichtverhältnis zu den aktuellen architekturtheoretischen Diskursen mit sich, was man als Eskapismus, als ästhetizistischen Rückzugsgedanken interpretieren kann – und das in einer Zeit, die nach radikalen Antworten auf eine radikale Wirklichkeit verlangt. Gerade die Stadtbeschreibungen mit ihrer kursorisch-essayistischen Attitüde eines Städtereisenden umkreisen uneingestanden zuallererst subjektive ästhetische Befindlichkeiten, Affinitäten. Sie zeigen eine enge touristische Perspektive in Zeiten des »Overtourism«, desinteressiert und unpolitisch. Auch die Auswahl der Städte des Inauthentischen selbst ist erklärungsbedürftig. Weniger die der zweitrangigen themenarchitektonischen Kapitalen Atlantic City und Doha, da diese zwar lächerliche Signifikanten umkreisen und im massenmedialen Ringen städtischer Faszinationsökonomien durch den spektakelurbanistischen Fieberdunst von Las Vegas und Dubai überlagert werden, aber gerade dadurch, über ihre architekturimmanente simulationsästhetische Künstlichkeit hinaus, eine spezifische
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Und umgekehrt sind auch meine subjektiven Hauptidentifikationsfaktoren nicht weiter ausgefallen, auch wenn man an den Einzelsympathien einen allgemeinen Ästhetizismus ausmachen kann. Sie gelten, durch die Pupille eines Retrofuturismus romantisiert, der Spätmoderne der 1960er und 1970er.
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Sekundarität (gegenüber Las Vegas und Dubai) ausbilden, die in ihren havarierten Inauthentizitätswirkungen herauspräpariert werden kann. Umso stärker gilt es allerdings für die vier Städte des Historismus. Auch wenn dieses Buch für sich keinen architekturhistorischen Systematizitätsanspruch reklamiert, bringt die Entscheidung, sich mit Budapest, Tiflis, Baku und Wiesbaden um eine Erzählung historistischer Inauthentizitäten zu bemühen, Paris, Wien, Mailand, Madrid, Bukarest, Buenos Aires, Riga oder Karlsbad und Marienbad aber unbehandelt zu lassen, eine Vereinseitigung mit sich. Diese kann ich nur durch die Absichtsbekundung entspannen, dass ich mich mit dem Historismus, der mich am stärksten im Dämmerschein seiner Spätstile fasziniert, in einem späteren Buch an den Beispielen einiger dieser Städte beschäftigen will.2 In Bezug auf die beschreibende Ebene ist weiters noch der allgemeinere Einwand zulässig, dass diese Arbeit den drastischsten kulturellen Inauthentizitätsphänomenen der Gegenwartswelt, den Verhässlichungen der Städte durch einen schamlosen und betrüblichen Kapitalismus, im Verhältnis nur wenig Aufmerksamkeit schenkt und hinterherhinkt. Kursorisch bleibt die Verhandlung etwa der Künstlichkeiten der kapitalistischen Transformationsgesellschaft Chinas mit seinen plagiierten Amerikanismen des Lebensstils, die sich architektonisch in ein halluzinatorisches Durcheinander scheinamerikanischer Skylines, Themenparks, Malls und Suburbs niederschlägt. Die chinesische »duplitecture«, wie die duplizierten Stadtbilder architekturpublizistisch genannt werden, zeichnet in ihrer Artifizialität, ihrem Kitsch, ihrer kapitalen ästhetischen Unwürdigkeit zuallererst eine Inauthentizität im Negativen aus – als anspielungsfreie, gesäuberte Standardisiertheit und Warenförmigkeit.
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Ein gegengleicher Hinweis gilt meiner (unveröffentlichten) Dissertation Themenarchitektur in einer anti-essentialistischen Neubeschreibung. Diese Beschäftigung mit Themenarchitektur als Architekturphänomen deklarativer Künstlichkeit umfasst Stadtbeschreibungen von Las Vegas und Dubai. Die Ausführungen in diesem Buch sind der Grund, warum maßgebliche Themenarchitekturen, wie zum Beispiel The Palace of the Lost City in Sun City, das Madonna Inn in San Luis Obispo, der Universal City Walk in Los Angeles oder Opa-Locka in Miami, hier nicht behandelt werden.
Einleitung
Joris-Karl Huysmans, Hauptrepräsentant der Dekadenzliteratur des Fin de Siécle, suchte im Alter die Gnade der Kirche, verstieg sich im Katholizismus und starb als sich in Askese übender Laienbruder in einem Kloster. Davor hatte sich der Mann mit dem widersprüchlichen, verwirrenden Charakter, realitätsflüchtig im Mystizismus und Satanismus versucht. Der Schriftsteller, im Zivilberuf Ministerialbeamter, hatte sich unter »Schwarzmagier« und »unreine Priester« gemischt, die in »gottesmörderischen Messen« Hostien entweihten. In seinem bedeutendsten Werk, dem 1884 veröffentlichten Roman Gegen den Strich, exerzierte er einen nicht weniger exzessiven Weg, der Gemeinheit des gewöhnlichen Lebens zu entgehen. Huysmans ließ einen reichen Décadent der Jämmerlichkeit des Alltags und des Üblichen, diesem »schmählichen Schauspiel«, entfliehen, indem dieser in einen fiebrig überspannten Ästhetizismus des Artifiziellen eintaucht. Dessen »Hang zum Künstlichen, sein Bedürfnis nach Exzentrik« beschreibt er als Ergebnis »überirdischer Verfeinerungen«: »es war im Grunde ein Hintaumeln, ein Anlauf zu einem Ideal, zu einer unbekannten Welt, zu einer fernen Seligkeit, so begehrenswert wie die, die die Heilige Schrift uns verheißt.«1 Huysmans’ Hauptfigur, der autistische, durch einen inzestuösen Stammbaum geschwächte Adelige Des Esseintes, ist der Banalität und Saturiertheit des Pariser Aristokratenmilieus überdrüssig, erträgt das »schändliche, servile Gewühl des Jahrhunderts«2 nicht länger und wird ein Apostel der Künstlichkeit, errichtet ihr Altäre, denn diese erscheint ihm »das Erkennungszeichen des menschlichen Genies zu sein […]. Ihm zufolge hat die Natur ihre Zeit gehabt. Durch die abstoßende Einförmigkeit ihrer Landschaften und Himmel hat sie die Aufmerksamkeit und Geduld der Menschen mit verfeinertem Geschmack endgültig erschöpft. […] Kein Zweifel, […] der Augenblick ist gekommen, da man da man sie, wo irgend möglich, durch Künstlichkeit ersetzen muß.«3 Des Esseintes verschanzt sich in eine exquisite Einsiedelei perverser Kunstgenüsse, bis er schließlich die Verwirrung seiner überreizten Nerven nicht mehr beherrscht und zu tief in die Wirbel seines ästhetisierenden Wahnsinns gerät. Der Keim von Des Esseintes’ Verderbnis
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Huysmans, Joris-Karl: Gegen den Strich, München: DTV 2003, S. 99 Ebd., S. 260 Ebd., S. 33
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Architekturen des Inauthentischen
liegt in eben jenem Stilwillen, das Künstliche dem Natürlichen zu favorisieren, »in seinem Haß auf alles Banale und Gängige die wildesten Verrücktheiten, die barockesten Extravaganzen«4 zu huldigen. Er vervielfältigt seine Genussfähigkeit, indem er sich »innere Symphonien« aus Spirituosen panscht – jeder Likör der Mundhaut wie der Klang eines Instruments. Indem er sich nuanciertest aromatisierte »Duftakkorde« zu filigranen Parfums verstäubt, und sich schließlich – seiner »Präzision im Künstlichen« halber – mit Hilfe eines Klistiers ernährt. Seinen literarischen Geschmack und seine Beschäftigung mit der Kunst trieb Des Esseintes derweil immer weiter ins Seltene, Esoterische, Obskure, bis sie »sich nur noch auf Werke richteten, die durch das Haarsieb getrieben und von grüblerischen und subtilen Geistern destilliert worden waren«5 . Als Pflanzenzüchter zieht es den Artisten des Künstlichen wiederum zu Treibhausblumen hin. Zunächst hatte ihn sein »natürlicher Hang zum Künstlichen […] die echte Blume zugunsten ihres Abbildes verwerfen lassen, das dank der Wunder des Gummis und der Drähte, des Perkalins und des Tafts, des Papiers und des Samtes wirklichkeitsgetreu verfertigt werden konnte«, doch in seiner nervösen Erschöpfung giert er nach der »Zusammenstellung einer anderen Pflanzenwelt. Nach den künstlichen Blumen, die die echten nachäfften, wollte er natürliche Blumen, die falsche nachahmten.«6 Huysmans führte Des Esseintes mit seinen ästhetizistischen Liebhabereien an den Rand geistiger Umnachtung, der Taumel der Künstlichkeiten erwies sich als überaus ungesund. – Was er aber nicht sein muss. Künstlichkeit ist weder in sich selbst schlecht noch in sich selbst gut. Die Erfahrung des Artifiziellen und Inauthentischen kann, und das macht sie interessant, die Fähigkeit zu intellektueller Differenzierung schärfen, wie sie eine ästhetische Verfeinerung nach sich ziehen kann, die zu demokratischer Helligkeit beisteuert. Sie wird potenziell emanzipatorisch, um den Begriff im weitesten Sinn zu benutzen, wenn ihr Erlebnis zeigt, wie es Richard Shusterman ausdrückt, »wie die Dinge anders sein können […]. So demonstriert sie, daß das, was gegenwärtig als natürliche soziale Notwendigkeit erscheint, eine historisch hervorgebrachte und somit veränderbare Kontingenz darstellt. Kurz, sie kann wirksam zur Entstehung eines für ausdrücklichere soziale Kritik […] notwendigen Bewußtseins führen.«7 Um die Sache schärfer zu fassen: eine anti-essentialistisch geäderte, substantialitätskritische Praxis, die der Vorstellung folgt, dass »emanzipatorische Politik immer den Anschein einer ›natürlichen Ordnung‹ zerstören und das als notwendig und ausweichlich dargestellte als reine Kontingenz aufdecken«8 muss, kann aggressive Künstlichkeit und Inauthentizität als durchaus wirksame Waffen einsetzen, um die als Ideologie der Authentizität weiter amtierende abendländische Metaphysik auf die Planke zu führen; um kulturelle »Authentizitätsstrategien« als Machttechniken zu diskreditieren, die mithin dem Ziel dienen, gesellschaftliche Hierarchien zu beschirmen, in dem sie
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Ebd., S. 222 Ebd., S. 107 Ebd., S. 108-109 Shusterman, Richard: Kunst leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1994, S. 71 Fisher, Mark: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?, Hamburg: VSA 2013, S. 25
Einleitung
Interessen im Namen eines »authentischen« Ausdrucks als universalisierbar prämieren. Aber natürlich will sich diese Fürsprachebemühung für das Inauthentische sich nicht ausschließlich »gesinnungsästhetisch« begründen, über eine Instrumentalisierung ihrer Ästhetizität, um damit gesellschaftliche Wirklichkeiten zu hintertreiben. Sie beabsichtigt nicht, darüber eine Philosophie zu machen. Sicher bezweckt sie eine ontologische Nobilitierung von Kontingenz, und sofern ist sie eine politisch motivierte Position. Doch will sie diese Einsicht in die Entstehungsbedingungen und die Kontingenz spezifisch, vereinzelt, konkret erleben und neu beschreiben, neu konstellieren. Inauthentizität kann dabei nur relational zum definitionsbedürftigen Begriff der Authentizität erfasst werden. Als instruktives Differenzverhältnis zu den Begriffen der Authentizität, ihren geläufigen Erzählungen, die sich aus den abendländischen Traditionslinien entwickelt haben und die kulturellen Debatten des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts vor sich hertreiben. Denn »als semantisches Ereignis hat Authentizität seit längerem Konjunktur. […] Authentizität mit seiner Aura von Echtheit, Wahrhaftigkeit, Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit, Eigentlichkeit ist zu einem erfolgreich eingesetzten Markenartikel und Emblem geworden.«9 Hinter den begrifflichen Zurechtmachungen versammeln sich allerdings ungleichartige Ideologien, Weltwahrnehmungen, Denkmilieus und Kategoriensysteme. Und man muss festhalten, wie dies Susanne Knaller und Harro Müller tun, »daß der extrem schillernde Begriff nicht nur wegen seiner Vielfachverwendung so ubiquitär geworden ist, sondern weil er häufig auf nicht immer aufschlüsselbare Weise empirische, interpretative, evaluative und normative Elemente miteinander verknüpft.«10 Die Wirkungsradien der unterschiedlichen Authentizitätsreize kann man lediglich einkreisen: »Unabhängig davon, ob der Begriff der Authentizität politisch, philosophisch, philologisch, psychologisch oder aber ästhetisch definiert wird, weist er in seiner heutigen Ausprägung einen kleinsten gemeinsamen semantischen Nenner auf, der die Bestimmungsmerkmale der Ursprünglichkeit, Unverfälschtheit, Echtheit und Wahrhaftigkeit enthält. Die Antonyme lauten dementsprechend: Kopie, Inszenierung, Falschheit, Fälschung und Konvention.«11 Dies betrifft auch die Authentizitätsbeglaubigungen für gelingende Subjektivität – eine über die Wahrhaftigkeit, über die Übereinstimmung zwischen ausgedrückten und wirklichen Gefühlen, hinausgehende Individualität, speziell in der künstlerischen Expression. Mit Lionel Trilling, der mit der Abhandlung Das Ende der Aufrichtigkeit einen der einflussreichsten Beiträge zur kulturtheoretischen Diskussion des Authentizitätsbegriffs verfasst hat, ist die Authentizitätsemphase der Gegenwartsgesellschaften an einen Entwicklungsbruch der westlichen Moderne geknüpft. Er registrierte, dass Authentizität eine »intensivere moralische Erfahrung voraussetzt als Aufrichtigkeit, eine anspruchsvollere Auffassung des Selbst und dessen, was es bedeutet, sich selbst treu zu sein, 9 10 11
Knaller, Susanne/Müller, Harro: »Einleitung. Authentizität und kein Ende«, in: dies./ders. (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink 2006, S. 7 Ebd., S. 8 Mecke, Jochen: »Der Prozeß der Authentizität. Strukturen, Paradoxien und Funktion einer zentralen Kategorie moderner Literatur«, in: Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink 2006, S. 82
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eine umfassendere Beziehung auf die Welt und die Stellung des Menschen in ihr und schließlich eine weniger großzügige und weniger freundliche Ansicht von den sozialen Bedingungen des Lebens.«12 In der Authentizitätserwartung kristallisiert sich die Innensphäre des neuzeitlichen Individuums in seiner Dezentrierungserfahrung. Trilling weiter: »Es ist ein bedeutungsschweres Wort. Wenn wir mit Bezug auf das menschliche Dasein von Authentizität, Echtheit sprechen, dann verwenden wir das Wort so wie im Museum Fachleute, die prüfen, ob Kunstwerke wirklich sind, was sie zu sein scheinen oder sein sollen […]. Daß das Wort in den Moraljargon unserer Tage Eingang gefunden hat, weist darauf hin, wie sehr wir unsere Existenz als problematisch empfinden und um die Glaubwürdigkeit unseres individuellen Lebens besorgt sind.«13 Das aus einer allgemeinen »Diskrepanz zwischen Schein und Sein« entstandene Authentizitätsverlangen signalisiert zwar nicht zwangsläufig eine Krise der abendländischen Zivilisation. Es macht jedoch deutlich, wie sehr uns die »Dialektik von Schein und Sein […] [als] spezifische geistige Errungenschaft bzw. Obsession der westlichen Kultur«14 epistemisch konstituiert. Es zeigt, wie sehr der dialektische Charakter, der unsere Authentizitätsdiskurse befeuert, zugleich jeden Versuch verunmöglicht, diese stillzulegen. Gerade auch, weil sich Authentizitätsbeglaubigungen auf nie mehr stützen können als auf Autorität, wie Helmut Lethen festhält: »Dinge werden authentisch gemacht und, solange die Autorität unbestritten ist, von einem Publikum, das diese Autorität akzeptiert, auch für authentisch gehalten. Dinge, Haltungen und Kunstwerke werden so lange für authentisch gehalten, wie die Autorität ihrer sozialen Inszenierung als unproblematisch erscheint.«15 Es liegt daher auf der Hand, dass es gleichermaßen einseitig wie unergiebig wäre, aus der Summe an schwer zu greifenden Zuschreibungen, die ein weites semantisches Feld erschließen und entfaltungsträchtige intellektuelle Gespräche angestiftet haben, ein spezielles Authentizitätsverständnis und seine Beglaubigungsinstanzen – etwa den Zentralbegriff in der ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos oder das ethische Ideal in der Moralphilosophie Charles Taylors –, zum Nennwert zu nehmen und für eine Begriffsverallgemeinerung einzuspannen. Die Überlegung »Wenn Authentizität die Antwort ist, was ist die Frage?«16 kann nur schließen: eine Pluralität von Antworten repliziert einer Pluralität von Fragen. Und wie Susanne Knaller schreibt, liegt gerade »in der offenen Applikabilität von Authentizität, das heißt in der Offenheit hinsichtlich 12 13 14
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Trilling, Lionel: Das Ende der Aufrichtigkeit, Wien: Ullstein 1983, S. 20 Ebd., S. 91 Assmann, Aleida: »Authentizität – Signatur des abendländischen Sonderwegs?«, in: Michael Rössner/Heidemarie Uhl (Hg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld: Transcript 2012, S. 30 Lethen, Helmut: »Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze«, in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, S. 228. Unser Authentizitätsverständnis ruht, so Lethen, auf einer immergleichen »Topographie des Authentischen«: »immer liegt es unter einem modernen Konstrukt, das als Oberfläche begriffen wird, die durchdrungen werden muß.«; ebd. S. 229 Schäfer, Robert: Tourismus und Authentizität. Zur gesellschaftlichen Organisation von Außeralltäglichkeit, Bielefeld: Transcript 2015, S. 131
Einleitung
ästhetischer und kritischer Relationen, wiederum eine Erklärung für ihre Durchsetzungskraft – vor allem dann, wenn man den Umstand, dass Authentizität die Paradoxa des Subjektiven, Referentiellen und Medialen austrägt, produktiv werden lässt.«17 Die durch diese Begriffsapplikabilität begünstigte inflationäre Allgegenwärtigkeit ästhetischer wie nichtästhetischer Authentizitätszuschreibungen hat aber auch einen Ungläubigkeitsreflex institutionalisiert, der sich nicht allein gegen plumpe Instrumentalisierungen des Authentizitätsattribute richtet: »Overuse has utterly debased the term authenticity itself. Anything so called now appears not authentic, but contrived to seem so«18 . Die allen Authentizitätszuschreibungen invariante Aporie, durch die eigene Medialität die intendierte Unmittelbarkeit in Gestalt einer Darstellungstransparenz zwangsläufig zu hintertreiben, weil Echtheit nur als Echtheitseffekt, Präsenz nur als Präsenzeffekt hergestellt werden kann, erzeugt eine reflexive Skepsis. Jonathan Culler hat dieses Paradox zwischen einer als Darstellungs- oder Ausdruckstransparenz im Sinne einer Darstellungs- oder Ausdrucksunmittelbarkeit, die das, was sie behaupten will, durch die Behauptung in ihrer zwangsläufigen Medialität sabotiert, auf den Punkt gebracht: »The paradox, the dilemma of authenticity, is that to be experienced as authentic it must be marked as authentic, but when it is marked as authentic it is mediated, a sign of itself, and hence lacks the authenticity of what is truly unspoiled, untouched by mediating cultural codes. […] The authentic sight requires markers, but our notion of the authentic is the unmarked.«19 Authentizitätszuschreibungen bestimmt ein paradoxaler Charakter, was bereits Trilling durchschaute, als er fragte: »Wird nicht jede Kunst – und sei ihre Authentizität auch noch so verbürgt und ihre Wahrhaftigkeit noch so erschütternd – das NichtAuthentische bei denen fördern, die ihre Erfahrung bewußt durch sie sie prägen lassen? Als Nietzsche das furchtbare Wort vom ›Bildungsphilister‹ prägte, dachte er an das in besonderer Weise Nicht-Authentische eines Lebens, das auf die besten Bildungsgüter gebaut ist.«20 Zugleich ist aber auch nichts erreicht, wenn man den Authentizitätsbegriff als sekundäre Wirkungsfunktion gewisser Wahrnehmungs- und Autorisierungsroutinen wegrationalisiert, als standpunkts- und interessenabhängige nachträgliche Fiktion, um dann mit der »Authentizität besten falls ironisch als Kriterium zur Unterscheidung verschiedener Grade der Künstlichkeit«21 zu verfahren. Ein anti-essentialistisches 17 18 19
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Knaller, Susanne: »Original, Kopie, Fälschung. Authentizität als Paradoxie der Moderne«, in: Martin Sabrow/Achim Saupe (Hg.), Historische Authentizität, Göttingen: Wallstein 2016, S. 61 Lowenthal, David: »Authenticity? The Dogma of Self-Delusion«, in: Mark Jones (Hg.), Why fakes matters. Essays on Problems of Authenticity, London: British Museum Press 1992, S. 184 Culler, Jonathan: »Semiotics of Tourism«, in: American Journal of Semiotics, 1/1990; Vgl. Knaller und Müller: »Derjenige, der Authentizität für sich beansprucht, dementiert diese im Akt des Behauptens zugleich. Das gilt auch für den Imperativ: ›Sei authentisch!‹ […] Man kann also expressive Authentizität allenfalls […] zeigen; wendet man sich reflexiv auf diesen Akt des Zeigens zurück, ist man aus der Authentizität herausgefallen und redet – auf nichtauthentische Weise – über Authentizität.«; Knaller/Müller: 2006, S. 9 Trilling, 1983, S. 100 Lethen: 1996, S. 209
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Rezeptionsprojekt, das die Kontingenz und das Gewordensein jedweder Wertzuschreibung hervorstreicht, will jene Authentizitätseffekte defunktionalisieren, die Herrschaftsimperative mit sich führen, will die Letztbegründungsfiguren einer Authentizitätsmetaphysik, die mit der Suggestivkraft ihrer Authentisierungsinstanzen Herrschaftsverhältnisse naturalisiert, denaturalisieren. Das heißt aber nicht, Authentizität in einer Generalverurteilung zu einem Leerwort zu degradieren – »not to debunk authenticity as an illusion, nor to reduce it to a secondary phenomenon that can be explained by some other, more primal factor.«22 Die unterschiedlichen Authentizitätsverständnisse müssen in ihrer Gemachtheit markiert werden, sie sind aber nur dann zu deplausibilisieren, wenn sie metaphysisch beladen, wenn sie in die Unterdrückungsstrukturen nicht-subjektiver Machtbeziehungen eingeschrieben sind. Denn es ist nicht erstrebenswert, die Authentizitätskategorie zur Gänze fallen zu lassen. Nicht nur, weil »[d]ie Tatsache, dass Unklarheit darüber besteht, was der Authentizitätsbegriff überhaupt bedeutet, […] nicht als hinreichende Begründung dafür zu akzeptieren [ist], einfach auf ihn zu verzichten«23 , sondern weil er einen so bedeutenden, von der Kompliziertheit des menschlichen Lebens in den Beschleunigungen der Moderne zeugenden Stellenwert einnimmt, dass ihn nicht zu benutzen heißt, ihn denen zu überlassen, die sich mit ihm der Gunst der Verhältnisse verschreiben. Der Imperativ der Authentizität hat eine Schlüsselfunktion in den durch die westlichen Gegenwartsgesellschaften schwirrenden Bildern gelingender Individualität, ihren Sinn- und Glücksverständnissen, bis hin zu den am Fäulnis der Ichsucht unterminierten Hyperindividualismus unseres »Zeitalters des Narzissmus«, das viele Menschen mit Unbehagen erfüllt, weil es Innerlichkeit und Subjektivität auf das Charakterbrimborium überheblicher konsumistischer Hedonisten mit verengtem Horizont und fehlender Empathie zu reduzieren scheint. An der Figur dieses in die Trivialitäten seines Ichs getriebenen Narzissten verrät sich zugleich die Schalheit eines Individualismus, der sich darin, einen authentischen Ausdruck unserer geglaubten inneren Natur in einer vom Kapitalismus und den Massenmedien beherrschten Sphäre zu finden, in die bunten Träume der Warenwelt verstrickt, wie auch sein »programmatisch-tyrannisches Gesicht«, wie es Jutta Schlich nennt. Es zeigen sich die psychischen Deformierungen eines gesteigerten Egoismus, der sich eigentlich aus den gesellschaftlichen Emanzipationsbedürfnissen in der »abendländischen geweiteten Kulturlandschaft« entwickelte: »Die Authentizitätsprogrammatik verdankt sich einem Affekt ihrer Apologeten gegen Autoritäten, welche zu einer autonomen anonymen Größe – der Hof, die Gesellschaft, der Staat – substantialisiert werden. Charakteristisch für die Authentizitätsdiskurse ist eine nachhaltige Tendenz zur Verabsolutierung subjektiver Betroffenheit zur absoluten Wahrheit«24 . Charles Taylor bezeichnet diese »Kultur der Authentizität« überhaupt als Signum der »neuzeitlichen Identität«. Diese bilde den bestimmenden Horizont des modernen
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Lindholm, Charles: Culture and Authenticity, Oxford: Blackwell 2008, S. 141 Schäfer: 2015, S. 31 Schlich, Jutta: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte, Tübingen: Max Niemeyer 2002, S. 138
Einleitung
Individualismus, vor dem es gelte, seine Innerlichkeit in einer originellen Weise expressiv zu verwirklichen. Taylor spricht von einer »Ethik der Authentizität«, die wir uns ins Gedächtnis rufen müssen, um sie gegen die individualistischen Verabsolutierungen eines Narzissmus zu aktivieren, der unsere »von inneren Spannungen erfüllte Kultur« verflachen lässt, da diese »nach einem Ideal lebt das nicht vollständig begriffen wird und das wenn man es richtig verstünde, viele ihrer Praktiken in Frage stellen würde. […] Die Kultur des Narzißmus lebt einem Ideal gemäß, hinter dem sie systematisch zurückbleibt.«25 Wenn wir mit Taylor die Authentizitätsdiskurse als Leitnarrative begreifen, um zu erfassen, was unsere Gesellschaften antreibt, und was gerade alles kulturell passiert, ist eine Differenzierung der unterschiedlichen Authentizitätsbilder unumgänglich. Taylors »Ethik der Authentizität«, die unseren Individualismus ideengeschichtlich fundiert, ist weder gleichbedeutend noch abschließend verantwortlich für die sich auf verdünnte Begriffe stützenden Authentizitätsbegehren unserer »atomistischen« Gegenwartsgesellschaft, in der der Andere »im Licht des Authentizitätsideals instrumentalisiert [wird], insofern er als Hilfsmittel zur eigenen Erfüllung dient.«26 Das »Ideal der Authentizität« ist keine trübe Kuppel, die uns einfasst und dazu verurteilt, uns mit einer niedergehenden Kultur abzufinden. Aber es hat, vom Ideal abwärts betrachtet, schiefe, verkürzte Authentizitätsartikulationen ausgebildet, in denen sich »der Authentizitätstrubel des neuesten Zeitgeists traurig erklären [lässt]: als Schall und Rauch einer Begräbnisfeier.«27 Auf der einen Seite einen gesellschaftlichem »Atomismus« mit seiner Selbstfragmentierung narzisstischer Individuen, der auf Basis einer verfeinerten Mythologie des autonomen Subjekts die Authentizität des Einzelnen ins Prinzipielle stilisiert – sei es in den Höhen der Intellektuellendiskurse in einem nietzscheanischen Zarathustragefühl, oder eben in den Tiefen als selbstbezogen expressiven Konsumhedonismus, den, kulturindustriell induziert, allein durch die Gewalt der Affekte zusammengehaltene Authentizitäts- und Intensitätsreklamen einpeitschen, wie es bei Neil Leach heißt: »hijacked by the multinational conglomerates and turned into an empty advertising slogan, claiming its authenticity against its very absence of authenticity, such that ›authenticity‹ becomes a suspect, counterfeit currency in the hypermarket of hyperreality. It’s the ›real thing‹, a Coca-Cola world«28 . Auf der anderen Seite einen vor- oder gegenmodernen Konservativismus, der, wenn er nicht den Authentizitätsbegriff als Chiffre des Individualismus pauschal ablehnt, einen essentialistischen »Jargon der Eigentlichkeit« entwickelt, wie Theodor W. Adorno die preziösen Wörter der Echtheits- und Eigentlichkeitsrhetoriken bezeichnete, die zur bestimmenden Ideologie eines arroganten Intellektuellen-Mandarinentums in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft wurden. Adorno subsumierte unter diesen »Jargon der Eigentlichkeit« jenes gepflegt Schöngeschriebene im Meisterdenkergestus, das
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Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 66 Breuer, Ingeborg: Charles Taylor zur Einführung, Hamburg: Junius 2000, S. 110 Baumgart, Reinhard: »Lionel Trilling: Das Ende der Aufrichtigkeit«, in: Der Spiegel, 29/1981 Leach, Neil: The Anaesthetics of Architecture, Cambridge, MA: The MIT Press 1999, S. 3
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in seinem sich transzendental setzenden, emphatischen Wahrheitsanspruch ganz philosophisches Durchdrungensein sein will: »Die Autorität des Absoluten wird gestürzt von verabsolutierter Autorität. Der Faschismus war nicht bloß die Verschwörung, die er auch war, sondern entsprang in einer mächtigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenz. Die Sprache gewährt ihm Asyl; in ihr äußert das fortschwelende Unheil sich so, als wäre es das Heil. In Deutschland wird ein Jargon der Eigentlichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, Kennmarke vergesellschafteten Erwähltseins, edel und anheimelnd in eins;«29 Während das Authentizitätsideal, das Charles Taylor wiedergewinnen will, im ersten Fall, im Individualitätstaumel des kulturindustriellen Narzissmus zergangen ist, weil, wie er schreibt, »alles, was über das Ich hinausgeht, außer Acht gelassen werden darf: das Abtun der eigenen Vergangenheit als belanglose Nebensache, das Bestreiten der Forderungen, die aus der Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen ergeben, die Leugnung der Solidaritätspflichten«30 , wird es in der zweiten Verwendung, im zum Ressentiment gegen die Jetztzeit verwendeten Tiefsinnskitsch konservativer Konfidenten des Eigentlichen zu einer Bedrohung, wenn seine im elitären Gestus der Wenigen formulierten essentialistischen »Jargonwörter« im Feld des Politischen kulturelle Zwangsinstanzen und Diskriminierungen aufrechterhalten, indem sie das Gemachte und Hergestellte der Verhältnisse verschleiern. Adorno: »Was in der Kulturindustrie die PseudoIndividualisierung besorgt, das besorgt bei ihren Verächtern der Jargon. Er ist das deutsche Symptom fortschreitender Halbbildung; wie erfunden für solche, die sich als geschichtlich verurteilt oder wenigstens absinkend empfinden, aber vor ihresgleichen und sich selber als inwendige Elite sich gerieren.«31 Der Authentizismus des Architekturdiskurses Die in den Kulturwissenschaften und in der Philosophie durch eine Vielzahl kritischer Diskurse geschärfte Betrachtungsweise, dass unsere abendländische »Kultur der Authentizität« auf eine diffizile diskursive Aushandlung angewiesen ist, da sie sich iterierend über situationsgebunden präparierte Bezeichnungsakte stabilisiert und jene die »Authentizitätskonzepte stets bestimmende Prozessualität zwischen Beglaubigungsund Geltungsakte und Inszenierung zeigt, dass dem Begriff Authentizität universale wie individuelle, performative wie […] referentielle Momente inhärent sind, die gemeinsam einen Komplex bilden, der wiederum legitimierende, begründende, verweisende, kompensatorische wie repräsentative Funktion haben kann«32 , ist in die Architekturtheorie bisher nur unzureichend eingedrungen. Die Kriterien der Bewährung der hinsichtlich ihres Begriffsinhalts, -umfangs und -gebrauchs vielschichtigen Authentizitätskategorie bleiben unhinterfragt, da der Begriff des Authentischen selbst, diese mit heißeste Kategorie gegenwärtiger Kulturkritik, im
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Adorno, Theodor W.: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, S. 8-9 Taylor: 1995, S. 31 Adorno: 1964, S. 19 Knaller: 2016, S. 47
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architektonischen Feld, wie Andreas Huyssen schreibt, im Dunkel der Inartikuliertheit bleibt, »[i]nteressanterweise […] im modernen Architekturdiskurs so gut wie gar nicht auf[taucht]. Architekten und Architekturhistoriker sprechen eher von der Wahrheit oder Zeitgemäßheit des Materials und treffen damit eine Unterscheidung von echt und von unecht […] oder zeitgemäß und unzeitgemäß.«33 Die wirklichkeitserschließende Ideologie der Authentizität durchpulst weitestgehend widerspruchsfrei das Selbstverständnis der westlichen Architektur, treibt kriteriell durch unsere Diskurse, stabilisiert den westlichen Kanon. Die Affektbesetzungen des Authentizitätsideals lassen uns architektonische Phänomene des Künstlichen, Inauthentischen als »verächtliche Verletzungen der Wahrheit« anprangern, mit John Ruskin als »unwürdige Vorspiegelung falscher Thatsachen in Bezug auf Material, Masse und Wert der Arbeit. Einen ebenso strengen Tadel, wie ein schweres moralisches Vergehen, verdient dieser Betrug, […] von jeher, wo er weitverbreitet und geduldet war, ein Zeichen des Rückgangs in den Künsten;«34 Einer Apologie des Inauthentischen im »legitimen« Architekturdiskurs steht die »professionspolitische« Eigendefinition des expressiven Künstlerarchitekten entgegen, da die Authentizitätsartikulation als Kardinaltugend baukünstlerischer Gestaltung firmiert. Die gelingende Authentizität des architektonischen Ausdrucks zeichnet sich gegen all das ab, was wir kritisieren, wenn wir, wie Regina Wenninger schreibt, »Künstlern vorwerfen, sie zielten nur auf billige Effekte ab, ließen sich vom Publikumsgeschmack korrumpieren, schwelgten in bloßen Manierismen, ahmten einen fremden Stil nach oder wiederholten lediglich sich selbst. Weder Fälschung noch Plagiarismus kann man Künstlern in solchen Fällen zur Last legen. Trotzdem scheint es ihrer Kunst in einem gewissen Sinne an Authentizität zu mangeln.«35 Angestachelt werden die Authentizitätsimperative der »legitimen« Gegenwartsarchitektur aber auch durch die als anachronistisch empfundenen historischen Anleihen des Neotraditionalismus und das Künstliche der »Hyperrealitäten« simulativer Themenarchitekturen, die Feindbilder stellen, die zur Parteilichkeit verleiten. In beiden Fällen sind es architektonische Brüskierungen durch Inauthentisches, die die Echtheitsund Eigentlichkeitsgesten der Moderne motivieren und vor sich hertreiben – »[w]o das Authentische der Täuschung entgegengesetzt wird, ist die Versuchung gross, sich auf die Seite des Echten zu schlagen«36 . Zum einen gegen die unbeabsichtigte Inauthentizität in den Stilimitaten des Neotraditionalismus, seine Geschichtsklitterung. Zum anderen die beabsichtigte Inauthentizität themenarchitektonischer Simulationen, die die Autorität des Authentizitätsideals aufkündigen und unverhüllte Kulissenhaftigkeit als Attraktion veranstalten. Denn die künstlichen »themed environments« setzen rezeptionsseitige Kontingenz- und Fiktionalitätseindrücke als Showeffekte ein, entwickeln bei spezifisch illusionskompetenten Rezipienten ein dementsprechendes Begeh33
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Huyssen, Andreas: »Zur Authentizität von Ruinen: Zerfallsprodukte der Moderne«, in: Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink 2006, S. 244 Ruskin, John: Die sieben Leuchter der Baukunst, München: Harenberg 1999, S. 63 Wenninger, Regina: Künstlerische Authentizität. Philosophische Untersuchung eines umstrittenen Begriffs, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 9 Bürger, Peter: »Die Echtheit der alten Steine«, in: Neue Zürcher Zeitung, 7.1.2009
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ren – mundus vult decipi, ergo decipatur. Die kulturelle Authentizitätsemphase wird in diesen Architekturen des Inauthentischen suspendiert, die Konstruiertheit ihrer Fiktionen wird gekennzeichnet, Echtheits- und Eigentlichkeitsvorstellungen werden nicht mehr repristiniert. Architekten und Architekturtheoretiker, die Authentizität einklagen, stützen, sich, gesagt oder ungesagt, dann auf die wirkmächtigen Authentizitätsbilder der abendländischen Kultur, die sich, wie es Taylor darlegt, als »Ideal der Authentizität« verankert haben. Und nicht dieses heißt es zu deplausibilisieren, sondern ihre Zerrformen, die sich zu mehreren eigenständigen, aber sich gegenseitig stabilisierenden Authentizitätserzählungen und Echtheitstropen verdichtet haben. Denn in der Architektur werden mit dem Attribut des Authentischen verschiedene Qualitäten verhandelt: Autorschaft im Sinne einer unkorrumpierten Originalität der künstlerischen Expression, bauliche Beschaffenheit im Sinne einer Aufrichtigkeit der Materialität und Funktionalität und schließlich ein baukultureller Traditionsbezug. Das Unternehmen, den kulturkritischen Diskussionsstand zur Authentizitätskategorie – der nicht zufällig in den Schlüsselphänomenen, mit denen sich die philosophische Kritik beschäftigt, mit diesen drei Authentizitätsdimensionen der Architektur analog ist – in eine Negation architektonischer »Authentizitätsstrategien« zu überführen, verlangt darum nach einer Präzisierung dieser Authentizitätsartikulationen anhand ihrer Gestaltungsintentionen und den diesen zugrundeliegenden Idealen unverfälschter Autorschaft, Materialität und Bezugnahme auf bauliche Tradition. Dabei hat eine Architekturästhetik des Inauthentischen argumentativ natürlich zwangsläufig mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass sich ihre Inauthentizitätszuschreibungen aus der Nichterfüllung von Authentizitätserwartungen ableiten. Dies zeigt sich speziell bei nicht-intentionalen Symptomen des Inauthentischen, die sämtliche »Authentizitätsstrategien« rezeptionsästhetisch in sich tragen und unbeabsichtigt die Architektur in ihrer Zeitlichkeit, ihrer Gemachtheit, ihrer Künstlichkeit markieren. Denn hier leiten sich die ästhetischen Qualitäten des Inauthentischen aus scheiternden Legitimierungs- und Repräsentationsfiguren in Gestalt architektonisch unplausibler Authentizität ab, die durch die Begrifflichkeiten kulturtheoretischer Kritik, die eine authentizitätskritische Handlungsfähigkeit zu behaupten versucht, sichtbar werden. Das Interpretationsinteresse einer Ästhetik des Inauthentischen bestimmt sich in ihren Architekturbeschreibungen unumgänglich parasitär zu den Authentizitätsimperativen, die sie mit ihrem Wahrnehmungssprung destabilisieren will. Zwar liegt die grundsätzliche Plausibilisierungslast bei der Entwicklung der Authentizitätskategorien selbst und eine Architekturästhetik des Inauthentischen mag es sich dahingehend leicht machen, einfach negatorisch die Widersprüche der Authentizitätsdiskurse zu bespielen und diese zu sabotieren. Auch damit, in der Desavouierung der Authentizitätskategorie als diffuse, inkohärente, ideologische Chimäre, trüge sie das ihre dazu bei, auf metaphysischen Begrifflichkeiten basierende Machtsysteme zu disqualifizieren. Nur gelänge es ihr damit weder, das auch für das ästhetische Wertsphäre heranziehbare, differenzierte Bild Charles Taylors aufrechtzuerhalten, der dazu rät, das wir unser »Kultur der Authentizität« »so betrachten sollten, als spiegele sie zum Teil ein ethisches Streben, nämlich das Ideal der Authentizität, doch das sei ein Ideal, das die
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ichbezogenen Erscheinungsformen dieser Kultur von sich aus nicht zuläßt.«37 Noch trägt die negatorische Herangehensweise dazu bei, Dispositive der Wahrnehmung zu kreieren, mit denen sich die Attraktionen des Inauthentischen in der Architektur argumentativ fassen lassen. Und zwar in einer Weise, in einem architekturtheoretischen Erzählverfahren, das architektonische Inauthentizitätseindrücke nicht einfach nur als Malitätserfahrungen tribunalisiert, sondern mit neuen Bezeichnungen belegt, die der aktuellen Kulturkritik der Authentizität gerecht werden und diese vertiefen. Der Beitrag, den eine Architekturtheorie hierbei leisten kann, ist zuallererst der nicht geringe, architektonische Macht- und Herrschaftsrepräsentationen in ihrer unhintergehbaren Iterabilität und Partikularität als grundsätzlich resignifizierbar zu durchschauen, und so der politischen Vorstellung der anti-essentialistischen Theorie zu folgen, Kontingenzerlebnisse als Momente einer demokratischen Verfeinerung zu begreifen, sofern diese eine Dezentrierung substantialistischer Kultur- und Identitätskategorien herbeiführen, kulturelle »Substantialisierungen«, die Pluralität und Verschiedenheit wirkmächtig unterdrücken, unterminieren. Die Leistung einer Architekturtheorie, die sich anti-essentialistische Neubeschreibungen und damit eine Deplausibilisierung autoritativer kultureller Identitäten und Traditionen zur Aufgabe macht, liegt darum zum einen in einer allgemeinen Parteinahme für Individualität und Andersheit innerhalb einer politischen und theoriepolitischen Frontstellung; in der Mobilisierung des politischen Horizonts gemeinschaftlich geteilter Werte. Zum anderen aber natürlich auch in einer perspektivischen Bereicherung dieses theoretischen Einbettungskontexts durch einen anti-metaphysischen »Metaphernwechsel« im Architekturdiskurs. Architekturphänomene des Inauthentischen Die drastische Schärfenverlagerung der Architekturwahrnehmung in der Frage der Authentizität bildete der Historismus des 19. Jahrhunderts aus. Die Entwicklung des geschichtlichen Denkens, das geistes- und ideengeschichtlich entscheidend durch einen substantiellen kulturellen Erfahrungsverlust und Traditionsbruch, ein Nivellieren der Überlieferung, bedingt wurde, bildete den Kulturuntergrund einer wichtigen architektonischen Zäsur: der Wiederaufnahme geschichtlicher Stilausprägungen im Sinne einer Wählbarkeit. Es »verselbständigt sich die Form, die zum Träger der historischen Assoziation wird«38 , um die architektonischen Repräsentationsmachtkämpfe der nun rivalisierenden Klassen des Geburts- und Geldadels zu bespielen: der auf Samt aufgewachsenen, müßiggängerischen und starrsinnigen Aristokratie, die ihrem Ende entgegendämmerte, und des reich und einflussreich gewordenen Großbürgertums, dessen ästhetische Prinzipien allerdings in allen Bereichen parvenühafte Künstlichkeit charakterisierte. Denn da »die Bourgeoisie der Gründerzeit keinen wirklich authentischen Stil entwickeln konnte, imitierte sie Vergangenes. So füllte man die Häuser mit Nachahmungen früherer 37 38
Taylor: 1995, S. 65 Brix, Michael/Steinhauser, Monika: »Geschichte im Dienste der Baukunst. Zur historistischen Architektur-Diskussion in Deutschland«, in: ders./dies. (Hg.), ›Geschichte allein ist zeitgemäss‹. Historismus in Deutschland, Lahn-Gießen: Anabas 1978, S. 277
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Kunstformen und stopfte Zimmer mit protzigen objects d’art verschiedenster Stilperioden voll. Das Überladene wurde dem Einfachen, das Dekorative dem Nützlichen vorgezogen, Räume waren bis zur Unwohnlichkeit geschmacklos eingerichtet.«39 Der Historismus als eine Stilarchitektur, deren künstlerisches Wirkungswollen sich in der Stilvielfalt konkurrierender Neo-Stile pluralisierte, ließ die Frage der Authentizität und Inauthentizität des individuellen architektonischen Rückgriffs auf die unterschiedlichen historischen Kunstgüter nicht nur grundsätzlich unumgänglich werden. Die Architekten des Historismus, darunter die nicht unbekanntesten und unauffälligsten, versuchten, als würden sie ihrem historischen Gedächtnis nicht länger glauben, die Geschichtsstile entweder prinzipienpflichtig zu purifizieren oder jedoch eklektizistisch zu übersteigern. In den so freiwillig oder unfreiwillig forcierten stilistischen Zeichenüberreizungen wurden Inauthentizitätswahrnehmungen zur ästhetischen Elementarerfahrung. Nicht von ungefähr ist daher bei den Architekturtheoretikern des 19. Jahrhunderts, bei John Ruskin, Gottfried Semper und Cornelius Gurlitt, ein lauter Authentizitätsanspruch in ihrem Imperativ nach architektonischer Wahrheit artikuliert, nach künstlerischer Auktorialität, nach funktioneller, struktureller, materieller und architektursymbolischer Angemessenheit. Gegen ihre Zeit gerichtet, gegen eine »Dauerinszenierung von Geschichte […] – vom Nationaldenkmal bis zum Geschirrschrank«, bei der die Historie unablässig als »als Identitätslieferantin«40 inszeniert wurde. Die industrielle Fertigung imitativer Surrogatmaterialien im Kunsthandwerk und in der Architektur leitete neben der neuen Reproduktionstechnik der Fotografie das so bezeichnete Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ein und akzentuierte eine kunsttheoretische Wahrnehmungsverschiebung hin zum Qualitätsmerkmal der Authentizität und Einmaligkeit. Daher hat zwar Ákos Moravánszky Recht, wenn er schreibt, dass die Architektur des Historismus, »indem sie sich dieser Entwicklung unterordnete, zu einem Kettenglied des Produktionsprozesses [wurde], und die einzige ihr mögliche ethische Tat war, daß sie mit exhibitionistischer Aufrichtigkeit ihr eigenes nichtauthentisches Wesen zeigte und Fragmente der in der Vergangenheit geschaffenen Werte zusammensuchte.«41 Zugleich allerdings ließ dies die allgemeine Authentizitätserwartung steigen, und daher ist es »falsch, ein ganzes Jahrhundert […] im Irrtum einer Idiosynkrasie gegen das Inauthentische befangen zu sehen. Vielmehr ist umgekehrt in der aufkommenden Reproduktionstechnologie des 19. Jahrhunderts auch gerade eine Begründungsmacht für Authentizität zu sehen«42 . Noch deutlicher mobilisierte im 20. Jahrhundert die Moderne gegen den Historismus den Heilshorizont ihrer Echtheits- und Gerechtigkeitsdoktrin der Form und Funktion, die sich auf die tief in unser Kulturbewusstsein eingedrungenen Authentizitätsdiskurse und deren Klassifizierungsmuster stützen konnte. Nicht nur im Funktionalismus-Paradigma seiner architekturdialektischen Überwinder wurde der
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Janik, Allan/Toulmin, Stephen E.: Wittgensteins Wien, München: Piper 1987, S. 53 von Müller, Achatz: »Kostümfest im Mantel der Geschichte«, in: Die Zeit, 41/1996 Moravánszky, Ákos: Die Architektur der Donaumonarchie 1867 – 1918, Budapest: Corvina 1988, S. 8 Wetzel, Michael: »Artefaktualitäten. Zum Verhältnis von Authentizität und Autorschaft«, in: Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink 2006, S. 40
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Historismus für die Generationen danach weithin zum »Denunziationsbegriff«43 . An der historistischen Architektur wurde nun kritisiert, dass in ihr die in der kunstgeschichtlichen Kanonisierung und Dekanonisierung verhandelten Authentizitätsgaranten des unverfälschten Kunstbemühens, der unverfälschten Materialbearbeitung und der unverfälschten Traditionsverhaftung nicht oder nur unzureichend verwirklicht wurden. Architekturhistoriker wie Hans Sedlmayr klagten daher, dass »im 19. Jahrhundert […] im Gebiete der Kunst unendlich vieles ›unaufrichtig‹, unecht, berechnet, vorgeschützt« gewesen sei und am »Überwiegen des Unechten« »bisher noch alle Gesamtdeutungen der Epoche gescheitert« seien, da diese »eine Methode notwendig [machen würde], die imstande ist, das Echte und das Unechte zu unterscheiden, die Masken zu durchdringen«44 . Durch Authentizitätsimperative getragene intellektuelle Ansichten, denen sich in Künstlichkeiten und Inauthentizitäten grundsätzlich eine Schwäche und ein Verfall der Kultur verraten, kritisieren am Historismus dann pauschalisierend das, was auch viele historistische Architekten, die im Traditionsraum der Metaphysik verhaftet waren, in Selbstbezichtigungen als Dilemma des 19. Jahrhunderts verstanden: den »Mangel eines Abstraktums, das laut allgemeinem Konsens nicht existierte, andere Jahrhunderte aber scheinbar mühelos zustande gebracht hatten: einem Epochenstil.«45 Zwar wird die zitative Stilpluralität des Historismus natürlich in den kanonbestimmenden kunstgeschichtlichen Urteilen als Signum der Architektur des 19. Jahrhunderts ausgemacht, mit der der Historismus seine Geschichtsidee durchscheinen lässt. Die auktoriale Authentizität eines eigenständig bearbeitenden Künstlerarchitekten, die dem Historismus abverlangt wird, wird durch diesen Makel des Sekundaristischen, allerdings als grundsätzlich beschädigt erachtet, mag die einzelne »Stilwiederaufnahme« auch der künstlerischen Behandlung fähig sein. Die Stilarchitekturen bestimmen sich in ihrem Authentizitätsverständnis sekundaristisch zu geistes- und kunstgeschichtlichen Stilidealen – als ein regelgeleiteter und ein regelverletzender Historismus. Die formstreng perludierende Kopie, der im kunstgeschichtlichen Urteil dann Uneigenständigkeit angelastet wird, und der Eklektizismus, der Neues durch kompositorische Formvermengungen entwickelt, weil dessen Versonnenheit das Eigenartige und Gesetzmäßige der Stilepochen in deren Wertigkeit und Bedeutung verletzen würde. Als sei der Eklektizismus generell eine sich selbst verunmöglichende Position, nichts weiter als ein seichtes, leeres Spiel, das sich das Große und Schöne der Geschichte tief erniedrigt. Dabei ist die kunstgeschichtliche Stilbetrachtung selbst eben »eine unmittelbare Frucht des methodischen und geschichtlichen Denkens des 19. Jahrhunderts […]. Um seinen ›Stil‹-Begriff zu bilden, hat das 19. Jahrhundert erst die Fähigkeit erworben, Architektur und Kunst über den Stil als künstlerisches Ausdrucks- und Anschauungsmit-
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Hardtwig, Wolfgang: »Traditionsbruch und Erinnerung. Zur Entstehung des Historismusbegriffs«, in: Michael Brix/Monika Steinhauser (Hg.), ›Geschichte allein ist zeitgemäss‹. Historismus in Deutschland, Lahn-Gießen: Anabas 1978, S. 18 Sedlmayr, Hans: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Berlin: Ullstein 1956, S. 8-9 Landwehr, Eva-Maria: Kunst des Historismus, Stuttgart: UTB 2012, S. 182
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tel in der Geschichte zu verstehen.«46 Doch selbst die Entwicklung des geschichtlichen Denkens, die epistemische Vorbedingung des Historismus sowie sein Rezeptionsspezifikum, wird gegen diesen gewendet. Weil bei der historistischen Architektur, indem sie »Stilgewandung, Zweck und Machtansprüche ›geschichtlich‹ legitimiert, […] sich die Stilverkleidung im doppelten Sinn als Maskierung« verrät, die »nur noch als Verhüllung dient« und damit »ein austauschbarer Bestandteil der Architektur«47 wird. Generell würde ein Verwenden und Wiederverwenden der Epochenstile den »ursprünglichen Intentionen« des Historismus zuwiderlaufen, wie Wolfgang Pehnt hervorhob: denn den »Zitatoren [ginge] das Bewußtsein der geschichtlichen Bedingtheit ab, aus dem der Historismus entstanden war. Die Einsicht in das Gewordene, in die Einmaligkeit und die Unwiederholbarkeit historischer Situationen, die eigentliche Botschaft des Historismus, hätte die Wiederverwendung zeitgebundener Ergebnisse ausschließen müssen.«48 Dabei haben gerade diese historistischen Zitatoren in ihrem Geschichtsverständnis – und darin unterscheidet sich ja der Historismus als Kunstphänomen von den vielen Naissancen und Renaissancen der Architekturvergangenheit – die architektursymbolischen Gehalte der historischen Stilideale über ihre singuläre kulturelle Situiertheit hinaus als transferierbar und transplantierbar begriffen. Und damit diejenigen Authentizitätskategorien aufgeweicht, die Pehnts Rede erst wiedereinsetzt, wenn die kontingenten Entstehungskontexte der Epochenstile zu ihrer Bedeutungslegitimierung verwendet werden. Zumal eine die kunstgeschichtliche Praxis banalisierende, selbstbeschränkende Auffassung, da eine ausschließliche und abschließende Qualifizierung architekturgeschichtlicher Einzelphänomene über ihre Authentifizierbarkeit grundsätzlich nichts qualitativ über diese aussagt und damit auch über eine deklarative Inauthentizitätsanschuldigung hinaus nicht qualitativ begründen kann, was beispielsweise die Renaissance und die Neorenaissance unterscheidet. Aber nicht nur das, die Begründungsstruktur sabotiert sich gerade im Fall der Renaissance selbst, da deren ästhetisches Verweisverhältnis zur Antike den Authentizitäts- und Reinheitskriterien selbst nicht entspricht, die am Historismus, der Neorenaissance, kritisiert werden, wie Rolf Linnenkamp mit Recht hervorhebt: »Woher entspringt eigentlich der enggeistige Anspruch auf ›Reinheit‹ in der Kunst, welcher gegenüber der Gründerzeit erstmals als neues, wenn auch negatives Stilkriterium aufzutreten sich anmaßte? Es mutet doch schizophren an, daß wir die Renaissance, die vor keinem Plagiat ernsthaft zurückschreckte, als ›rein‹ bezeichnen, jedoch die Gründerzeit, deren Plagiate uns genauso deutlich vortreten, als ›protzig‹ und ›neureich‹ denunzieren.«49
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Klingenburg, Karl-Heinz: »Statt einer Einleitung: Nachdenken über Historismus«, in: ders. (Hg.), Historismus. Aspekte zur Kunst im 19. Jahrhundert, Leipzig: E.A. Seemann 1985, S. 20 Lemper, Ernst-Heinz: »Historismus als Großstadtarchitektur. Die städtebauliche Legitimierung eines Zeitalters«, in: Karl-Heinz Klingenburg (Hg.), Historismus. Aspekte zur Kunst im 19. Jahrhundert, Leipzig: E.A. Seemann 1985, S. 54 Pehnt, Wolfgang: Das Ende der Zuversicht. Architektur in diesem Jahrhundert, Berlin: Siedler 1983, S. 11 Linnenkamp, Rolf: Die Gründerzeit 1835-1918, München: Heyne 1976, S. 40
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Das als Reinheits- und Wahrheitsemphase auftretende Authentizitätskriterium bestimmt auch das disziplinäre Selbstverständnis der Denkmalpflege. Die internationale Karriere des Authentizitätsbegriffs als Klassifikationskriterium von Baudenkmälern, die sich in den Grundsatzpapieren der Disziplin manifestiert, artikulierte sich bei John Ruskin, Alois Riegl oder Georg Dehio bezeichnenderweise ebenfalls gegen den Historismus, dessen unbedarfte und übermütige Restaurationspraxis sich zu purifizierenden Stilrückführungen und -weiterführungen aufschwang, anstatt sich darauf zu beschränken, qualitätswahrend zu erhalten. Gegen die eklektizistischen, neuschöpferischen Rekonstruktionen des 19. Jahrhunderts richtete sich ein »moderner Denkmalkultus«, der die Denkmalwürdigkeit an die materiellen Authentizität einer unverfälscht überlieferten baulichen Substanz knüpft, an die Echtheit des Kunstwerks in seiner geschichtlichen Zeugenschaft. Eine Architekturästhetik des Inauthentischen hingegen verhält sich zwangsläufig quer zu dieser auf Authentizitätsbeglaubigungen basierenden Baudenkmalpflege. Sie kapriziert sich gerade an den absichtlichen und unabsichtlichen Zuwiderhandlungen ihrer fachlichen Bestimmungskategorien, an Provokationen der Frage »Wo hört die Authentizität auf und fängt die Verunechtung an?«50 In der Rekonstruktionskontroverse optiert sie, wenngleich aus anderen Intentionen als ihre Bauherren, für den zu »verzeichnenden Boom populärer Rekonstruktions- und Erinnerungsarchitekturen […], für deren Umsetzung jetzt neue Koalitionen aus Politik und Bürgerschaft auf den Plan getreten sind.«51 Denn in ihnen zeigen sich die Kontingenzen und Idiosynkrasien der Geschichte, in ihnen zeigt sich, dass die Denkmalauthentizität, wie Rekonstruktionsbefürworter Joachim Fest betonte, »immer ein Mißverständnis [gewesen sei]. Denn die Architektur ist nicht nur die Kunst der Täuschung schlechthin, sondern unter den Künsten auch diejenige, in der die entschlossene Aneignung des Vergangenen Meisterwerke hervorbringt. Wer Wiederhergerichtetes als nichtauthentisch verwirft, müßte überdies fast den gesamten historischen Baubestand ablehnen, weil er ganz überwiegend der Triumph des Falsifikats ist.«52 Eine Architekturapologetik des Inauthentischen, die wahrscheinlich kurzerhand in die Bibliothek der Reaktionäre und Revanchisten geschlichtet wird, affirmiert allerdings nicht darum Inauthentizitäten an dem über die Jahrhunderte Restaurierten, Umgebauten, Wiederaufgebauten der Baudenkmäler, weil zwangsläufig alles Falsifikat sei und das Wissen darüber flüchtig und verflüchtigt, wie dies Fest suggerierte, als er die Frage in den Raum stellte: »Wer empfände vor der Treppenanlage der Würzburger Residenz noch den Mangel an Authentizität?«53 Sondern weil sie intellektuelles Kapital 50 51 52
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Schmid, Alfred A.: »Das Authentizitätsproblem«, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, 42/1985 Falser, Michael S.: Zwischen Identität und Authentizität. Zur politischen Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland, Dresden: Thelem 2008, S. 3 Fest, Joachim: »Plädoyer für den Wiederaufbau des Stadtschlosses«, in: Vittorio Magnago Lampugnani/Michael Mönninger (Hg.), Berlin morgen. Ideen für das Herz einer Großstadt, Stuttgart: Gerd Hatje 1991, S. 78 Ebd., S. 79
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aus den Künstlichkeitsirritationen historisierender Attrappenbauten schlagen will, wie auch aus den unbeabsichtigten Geschichtsverfälschungen überengagierter Restauratoren, aus der »Beklommenheit angesichts perfekt restaurierter und konservierter Quartiere«, die, wie Reinhard Bentmann es bezeichnet, »die denkmalpflegerische Ambition zu einem Fest des schönen Scheins in einer historisch ausgedünnten Sphäre auseinanderrestauriert hat[.] Man wollte das Beste, und das Resultat ist ein parfümierter Leichnam«54 . Als Infernalisierung dieser in simulatorischen »Erinnerungsarchitekturen«, die alte Baudenkmäler wiederaufführen, inkubierten architektonischen Inauthentizität wird die im 20. Jahrhundert vergnügungsindustriell zu einem weltweiten Milliardengeschäft verselbstständigte Themenarchitektur betrachtet. Die an den Rekonstruktionsprojekten kulturkritisch beklagte Veruneigentlichung der Geschichte radikalisiert sich in den thematischen Simulationsästhetiken zur massenbelustigenden Attraktion. Sie sind der äußerste Punkt in einer Verlaufskurve aufweichender Authentizitätsverständnisse. Weil: »The skill and ease of replication make authenticity all the more elusive today. As fakes and replicas become harder to teil from originals (if not more attractive than them), other traits – uniqueness, symbolic association, historical credibility – gain canonical authentic status.«55 Die kommodifizierten Themenwelten entlebendigen nicht nur die Reize ihrer Referenzorte, sie entlebendigen in die Modi eines derb konsumhedonistischen Lebensgenusses entfremdeter Konsumenten. In ihnen zeigt sich mit Guy Debord die »wesentliche[] Bewegung des Spektakels, die darin besteht, alles in sich aufzunehmen, was in der menschlichen Tätigkeit in flüssigem Zustand war, um es in geronnenem Zustand als Dinge zu besitzen, die durch die negative Umformulierung des erlebten Wertes zum ausschließlichen Wert geworden sind«; und nicht nur Debord erkannte darin seine, »unsere alte Feindin wieder, die so leicht auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding scheint, während sie doch im Gegenteil ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit: die Ware.«56 Dass die Inauthentizitäten der Themenarchitekturen als Symbol einer kulturell übergriffigen kapitalistischen Unterhaltungsindustrie nicht nur in den verkrampften Mienen der Intelligenzija ein latentes Unbehagen entladen, liegt daher auf der Hand. Die Diskussion dieser syndromhaften Bündelung architektonischer Artifizialitäten allerdings mit Authentizitätsimperativen pauschal zu strangulieren, wie dies eine aversionsbelastete Kultur- und Architekturtheorie tut, bewegt sich jedoch selbst auf einem ziemlich unsicheren Grund. Denn nicht nur kulturdiagnostisch dauerstrapazierte »Hyperrealität« der warenförmigen Simulationsarchitekturen ist »ein sehr vertracktes Ding […], voll metaphysischer Spitzfindigkeit«, sondern ebenso die Authentizitätskategorie, die man als intellektuelle Reiseapotheke gegen den halluzinatorischen Glanz der »Simulakren« im Gepäck führt.
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Bentmann, Reinhard: »Die Fälscherzunft. Das Bild des Denkmalpflegers«, in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 2/1988 Lowenthal: 1992, S. 188 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Edition Tiamat 1996, S. 31
Einleitung
Zwar hat Jean Baudrillard, der maßgebliche Begriffsbildner des angeblichen Wirklichkeitswandels hin zu einer »Hyperrealität« selbstbezüglicher Zeichen, klar akzentuiert, dass in der »Wüste des Realen«, die ihm die spätkapitalistische Gegenwart ist, anders als bei der Ideologie, die »lediglich einer Veruntreuung der Realität durch die Zeichen« entspricht, das »Realitätsprinzip« selbst annulliert ist – denn die »Simulation entspricht einem Kurzschluß der Realität und ihrer Verdoppelung durch die Zeichen. […] [M]an stellt sich ein falsches Problem, wenn man die Wahrheit hinter den Simulakra restituieren will.«57 Diese Einsicht wird allerdings, auch in unnuancierteren Betrachtungen Baudrillards, meist auf den Objektbereich, den Defektkomplex konsumistisch völlig eingeebneter Medien- und Erlebniswelten begrenzt, um die vorgebliche Referenzlosigkeit der Zeichen in kulturpessimistische Verlustrechnungen zu überführen, die weiterhin auf der ungeschützten Behauptung einer Differenz zwischen »Wahrem« und »Falschen«, zwischen »Realität« und »Fiktion« aufbauen und so einen theoretischen Prohibitivpreis für »Theming« festsetzen. Ein derartig schief gedachter, um seine Aussagequalität gebrachter Begriff des »Simulakrums« trägt dann nichts mehr dazu bei, das Symptomatische der den Betrachter affizierenden Kulissenhaftigkeit und Künstlichkeit simulativer Themenarchitektur zu fassen. Vielmehr sitzt er selbst dem Wahrnehmungsfehler auf, an der Inauthentizität von Simulationsästhetiken eine diese beschädigende Mangellage auszumachen, indem er dem Publikum künstlicher Architainment-Attraktionen ein naives Wirklichkeitsvertrauen unterstellt, dass dieses nicht hat. Denn selbst beiläufigste Besucher besitzen eine ausgeprägte Fiktionalitätsbewusstheit und erfassen die durch immersive Simulationswirkungen nie zur Gänze suspendierten Erfahrungen spektakulärer Künstlichkeit als einen wirkungswichtigen Reizcharakter dieser Architekturen: »[T]he basic question is whether the tourists […] are looking for authenticity at all, or are they content just to have fun and be fooled. The answer seems to be that the vast majority of tourists clearly differentiate [authentic historic] sites from playful Disneyesque amusement parks or other tourist sites where authenticity is neither demanded nor expected – except by children who really hope to see Mickey Mouse«58 . Das Inauthentische ist dem Disney-Publikum ein Attraktions- und Aufmerksamkeitsmittelpunkt, viele Besucher fasziniert gerade der Illusionismus, sie »interessiert vor allem, wie ›die Magie‹ funktioniert.«59 Mit Odo Marquard, der herausstreicht, dass sich »synchron zur zunehmenden Legierung von Realität und Fiktion […] auch der Unterschied von Realitätswahrnehmung und Fiktionsbewußtsein« verwischt, lässt sich zwar gerade auch mit Bezug auf Simulationsästhetiken sagen, es sei »gegenwartszentral, daß beide wachsend den Charakter des Halbbewußten annehmen«60 . Aber diese These einer »handlungsdienliche[n] Eigenverblendung«61 , die Marquard auf seiner Auffassung 57 58 59 60 61
Baudrillard, Jean: Agonie des Realen, Berlin: Merve 1978, S. 43-44 Lindholm: 2008, S. 47 Steinkrüger, Jan-Erik: Thematisierte Welten. Über Darstellungspraxen in Zoologischen Gärten und Vergnügungsparks, Bielefeld: Transcript 2013, S. 61 Marquard, Odo: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn: Wilhelm Fink 1989, S. 94 Ebd., S. 93
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stützt, dass »der Mensch der avancierten Spätkultur«, um die Wandlungsgeschwindigkeit im Bewusstseinsleben des Einzelnen zu verarbeiten, »fiktionspflichtig« wird, »die spätmoderne Beschleunigung […] die – unbewußte, bewußte oder halbbewußte – Einwilligung in die Selbstentlastung des eigenen Handlungslebens durch Fiktionen – durch halbwillentlich falsches Bewußtsein – unwiderstehlich«62 macht, ist nicht das gleiche wie die Hyperrealitätsbehauptungen eines verflachten, mit Authentizitätsbedürfnissen belasteten architekturtheoretischen Baudrillard-Diskurses. Eine hierzu konfligierende anti-essentialistische »Neubeschreibung« vom kommerziell verseichteten Themenwelten teilt Marquards Legierungsthese von Realität und Fiktion. Nicht aufgrund einer empirischen Beweislage, sondern weil sie die Begriffsdifferenz Realität vs. Fiktion nicht mehr in der Weise wichtig nehmen will, wie es die abendländische Philosophie getan hat. Wobei »Neubeschreibung« freilich weder heißt, in ein kontextgleichgültiges, sophistizierend theorieschweres Dekonstruktionsjenseits zu entgleiten, noch eine erfahrungseinseitige Jubelbereitschaft für das Inauthentische zu kultivieren. Sie will einfach einen intellektuellen Gewinn aus den ausgestellten Widersprüchlichkeiten simulativer Themenarchitekturen, ihrer Spannung zwischen Stilisierung und Erfindung ziehen, aus dem Umstand, »[that] [t]he concepts of real and fake, however, are too blunt to capture the subtleties of Disney simulations. […] [T]hings are not just real or fake but real real, fake real, real fake, and fake fake«63 . Sie will sich eine Sphäre nichtlegitimer Architektur erschließen, die mit Ausnahme der vereinzelten »populistischen« Gelegenheitsprostitution, die einige prominente Postmodernisten im Feld kommerzieller »themed environments« betrieben, vom Justemilieu der Gegenwartsarchitektur ignoriert wird. Kapitalen des Inauthentischen Eine Architekturästhetik des Inauthentischen entflammt sich an Städten wie Budapest, Tiflis, Baku, Wiesbaden, Atlantic City oder Doha. An Städten, die man wie mit übernächtigten Augen sieht, da einen die Sukzession ihrer architektonischen Kapricen Aufwallungen architektonischer Künstlichkeiten und Inauthentizitäten auffährt, die eine Zerknirschung des Authentizitätsdiskurses bewirken und die (eigenen) Legitimationsideologien des Echten hintertreiben. Diese Städte tragen auf unterschiedliche Art und in unterschiedlichen Aufsummierungen Ballungen des Inauthentischen in sich. Was aber natürlich nicht heißt, dass man ihre Faszination in einer abschließenden Weise mit dieser architekturästhetischen Kategorie diskutieren kann. Denn ihre historisch gewichtigen Stadtarchitekturen sind als geschichtliche Phänomene in ihren zeitprägenden Wirkungen natürlich auch dann authentifizierbar im Sinne eines kunstgeschichtlichen Klassifizierungskriteriums (im Sinne ihrer Eigenzeitlichkeit, ihres historischen Eigenwerts), wenn sie sich durch absichtliche und unabsichtliche Brüskierungen des Authentischen kennzeichnen, durch Imitation und Simulation, durch Eklektizismus, Kontextfremdheit und nicht- oder teileingelöste Bedeutungsproduktionen.
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Ebd., S. 93 Fjellman, Stephen M.: Vinyl Leaves. Walt Disney World and America, Boulder, CO: Westview 1992, S. 255
Einleitung
Die Dramatik dieser Städte liegt aber in ihren vielfältigen Inauthentizitäten. Gerade auch weil man sie unter der Gewalt der Authentizitätsdiskurse empfindet. Denn einer die Authentizitätsmythologien deplausibilisierenden Begriffsarbeit, die in Inauthentizitäts- und Künstlichkeitsaffirmationen nicht nur ein intellektuelles Distanzierungsmittel, eine Art Mitleidsapplaus für eine unabsichtliche Über- und Unterfunktion künstlerischen Gelingens sieht, bleibt das Inauthentische eine grundsätzlich parasitische Kategorie, die sich an Authentizitätsideologien abarbeitet und Inauthentizitäts- und Künstlichkeitsphänomene gerade dann als ästhetisch und diskursiv interessante, kulturell subvertierende Taumelzustände wahrnimmt, wenn sie gegen potente Essentialisierungen von Wesens- und Echtheiten reiben, mit aufwieglerischen metaphysikverdächtigen Generalisierungen. Die ungarische Hauptstadt Budapest besticht mit einem üppigen und machtheischenden späthistoristischen Stadtbild, das keine Anstalten machte, ihre Lust an sinnverwirrender architektonischer Ausschweifung niederzuhalten. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde »[e]in Großteil der Stadt […] als gigantische Kulisse errichtet, als ein überschwänglicher Ausdruck des Nationalstolzes, und eine deutliche Zurschaustellung neuen Reichtums und wiedergefundener Macht«64 . Die registerreiche, unharmonikale Pathos- und Imponierkunst der Budapester Stadtarchitektur weist nicht nur die kunstgeschichtliche Ansicht zurück, der Späthistorismus hätte sich, wie es in seinen schwachen Kräften stand, damit begnügen müssen, in lächerlicher Verdünnung Trivialitäten der Stilzitation weiter zu unterbieten. Sie schlägt sich in ästhetischen Erfahrungen nieder, die einen verwackelten Bereich des Inauthentischen umfassen. Die historistischen und jugendstilistischen Prunkfassaden der Donaumetropole, die wie Pfauen wirken, die gleißende Räder schlagen, lassen eine gesteigerte Empfindlichkeit für das Gemachte und das Zeitverankerte an ihnen entwickeln. Der in der Millenniumsausstellung 1896, der Tausend-Jahr-Feier der »Landnahme« der Magyaren, kulminierende weltstädtische Erwartungstaumel, den Ungarn, ein »Land der Entwicklung, auch ein Land falscher Träume und echter Möglichkeiten«65 , in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg entfachte, formte nicht nur eine vornehme Metropole der Belle Époque, den opulenten Vorschein eines Besseren im Formenreichtum des Eklektizismus, sondern zugleich ein nationalistisches Tageserwachen, eine sich auf die assoziativen Tiefen eines architektonischen Ungarntums berufende Nationalästhetik. Die Impulse der Nationalromantik, die den Budapester Späthistorismus wie auch die jugendstilistischen Aufbruchsversuche des ungarischen Secessionsstils inspirierten, schürten schicksalserdrückende patriotische Stimmungen, die man in prunkenden späthistoristischen Staatsbauten ausdrückte, die jedoch bei dem politisch eigentlich konservativ eingestellten Secessionisten Ödön Lechner, der Zentralfigur des Magyaros-Stils, ebenso originelle Eigenerfindungen der Geschichte befeuerte – eine »erfundene Tradition«, in Distanzwahrung zum Lager der Traditionalisten. Die Überspanntheit der ungarischen Jahrhundertwendearchitektur veranschaulicht die innere Realität und äußere Wirklichkeit des späten Habsburgerreichs, einer Kultur 64 65
Heathcote, Edwin: Budapest. Ein Führer zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Köln: Könemann 1997, S. 6 Jahn, Harald A./Székely, András: Jugendstil in Budapest, München: Harenberg 1999, S. 10
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der Scheinhaftigkeit und Inauthentizität, einer Herrschaft von Lüge und Betrug, und sei es nur ästhetisch. Einer Kultur, die »nicht lediglich die Scheinhaftigkeit der realen Welt und die Realität der künstlichen Welt, sondern auch die Relativität von Schein und Wirklichkeit selbst«66 zeigte. Denn die im Fieber einer Dämmerung liegende habsburgische Fin de Siécle-Kultur erfasste mit scharfsichtiger Ironie, mit einem feinen, in seelische Tiefen spürenden Geist, dass sich ein Niedergang ankündigte. Sie begriff, dass »[d]ie gleichen Dinge, die an der Oberfläche sinnenfroher Weltlichkeit Glanz und Gloria aufwiesen, […] untergründig der Ausdruck des Elends [waren]. Die Labilität der Gesellschaft mit ihrer Freude an Pomp und Aufwand war nur der Ausdruck eines versteinerten Zeremoniells, das kaum das kulturelle Chaos verhüllen konnte«67 . Georgiens Hauptstadt Tiflis, diese in ihrer fünfzehnhundertjährigen Historie an Geschichtsträchtigkeit und Kunstwürdigkeit einmalige Stadt, intensiviert ihre vielgestaltigen stadtästhetischen Inauthentizitätserfahrungen erst vor dem Hintergrund ihrer Kultur- und Naturgewaltigkeit. Gegen jene romantisch besetzten und zugleich politisch-ideologisch instrumentalisierten »mythopoetischen« Topoi Georgiens geblendet, die, über die russische Literatur symbolisch aufgeladen, den Blick auf dieses Land bestimmen: der Glorifizierung des stolzen und heißblütigen georgisches Volkes mit seiner eigenständigen, im Mittelalter zur Blüte gebrachten Nationalkultur und der Idealisierung der kaukasischen Landschaften, die im Lichtschleier des Südens, dem »sanft verschmolzenen Farbenspiel eines grusischen Frühlings« eine affektive Naturwahrnehmung stimulieren, in der »[n]irgends […] das Auge scharfe Umrisse [gewahrt], alles ist weich, so hingehaucht, farbenunbestimmt.«68 Die vielfältigen Inauthentizitätswahrnehmungen, die das Tiflis der zaristischen Imperialmacht im 19. Jahrhundert mit seinem importierten, das Hausmannsche Paris nachahmenden Historismus bietet, flackern allerdings nicht nur in ihrer stadtästhetischen Antithetik zu den mittelalterlichen Kuppelkirchen der nationalen Sakralbaukunst und zur pittoresken Tifliser Altstadt auf, in der sich terrassenartig »schiefe, malerische Häuser [stapeln], die mit Balkons überladen und von alten Reben umrankt«69 sind. Denn die Inauthentizitäten und Künstlichkeiten des Tifliser Historismus sind zuallererst Phänomene überstrapazierter Repräsentations- und Assimilationskapazitäten bei der kulturellen Integration der Stadt in den zaristischen Herrschaftsverband. Sie resultieren aus den ästhetischen Indifferenzen einer gesandtschaftlichen Imitationsarchitektur, mit der gleichermaßen der russische Imperialismus, das damals armenischstämmige Stadtbürgertum und die politisch wie ökonomisch zurückgesetzten Georgier kulturellen Ausdruck suchten; in der sich die in Revolutionsprophetie, Bohème und Jugendstil verdichtende Gewächshausatmosphäre des Tifliser Fin de Siécle aufhitzte. In der Gegenwart ins Übermäßige, fast Karikaturale übersteigert durch die in den Nuller-Jahren unter dem aktionistischen Präsidenten Micheil Saakaschwili lancierten,
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Hanák, Peter: Der Garten und die Werkstatt. Ein kulturgeschichtlicher Vergleich Wien und Budapest um 1900, Wien: Böhlau 1992, S. 132 Janik/Toulmin: 1987, S. 45 Bodenstedt, Friedrich von: Tausend und Ein Tag im Orient, Frankfurt a.M.: Societäts-Verlag 1992, S. 196 Montefiore, Simon Sebag: Der junge Stalin, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2007, S. 35
Einleitung
von denkmalpflegerischer Umsicht und philologischem Geist befreiten Restaurierungsmissverständnisse: unbeabsichtigt manifestiert sich in dem durch unbedarfte Restaurierungsarbeiten bis zur Unkenntlichkeit verfälschten, seiner Farbe beraubten Tifliser Historismus die genuine Inauthentizität historistischer Architektur aber weit stärker als in den vernachlässigten Gründerzeitvierteln, die in ihrer verwunschenen Ruinenerhabenheit zu einer »authentizistischen« Verfallsmystik verleiten. Die Inauthentizitätswirkungen der Tifliser Symbolbauten des 20. Jahrhunderts rühren dagegen aus einer überschießenden Paradoxität ihrer ambitionierten Architekturtriumphe in den staatskapitalistischen Mangelverhältnissen der UdSSR. Die Machtpathetik des stalinistischen Klassizismus schuf eine »Fantasiestadt Tiflis«, deren surreal »Traumhaftes« darin lag, »dass sie gebaute Ideologie war. Eigentlich sollten nicht die Menschen der Gegenwart dort leben. Das stalinistische Tiflis war für die ›Neuen Menschen‹ bestimmt«70 . Ebenso wurde der expressive Fortschrittsheroismus der Sowjetmoderne von den resignativen Realitäten der Diktatur, der Armut, der parteiamtlichen Schlamperei und der institutionalisierten Korruption offen dementiert, ad absurdum geführt wurden. Die Irritation liegt in ihrer faktischen architektonischen Gelungenheit wider und aus der Gleichgültigkeit und Unfähigkeit einer allmächtigen Staatsbürokratie, mit ihren »machtgestützten Lebenslügen«, die an der Spitze der Parteihierarchien als »Zynismus und Paranoia zu einem unauflöslichen Amalgam zusammen[flossen]«71 . Und auch das Tiflis des 21. Jahrhunderts unter dem Präsidenten Saakaschwili, dem prowestlichen Reformeiferer, der der Stadt einen naiv aggregierten Futurismus international zugekaufter Landmark-Architekturen als Symbole einer überhasteten, hysterischen Westanbindung aufzwang, entwickelt mit seinen Sci-FiUngetümen dieses Spannungsverhältnis zur übrigen Stadt – in Realitätsprüfungen mit den abblätternden Gründerzeit- und schäbigen sowjetkommunistischen Plattenbauten ihrer Umgebung. Auch die aserbaidschanische Hauptstadt Baku, die nicht minder faszinierende zweite Kaukasus-Kapitale, lässt sich in ihrer Vielgestaltigkeit mit der Kategorie des Inauthentischen natürlich nicht auch nur annähernd umfänglich fassen. Und das betrifft nicht allein die geschichtlich gewichtige islamische Altstadt, deren Paläste, Moscheen und Karawansereien nicht anders denn als authentisch in einem historischen Sinn zu betrachten sind, sondern auch die Stadt des Fin de Siécle, »das eigentliche Baku, groß und ein wenig snobistisch. […] [E]ine auf Bestellung erbaute Stadt, geschaffen für die privaten Händler, die Neureichen, die Erdölkönige von Baku.«72 Denn auch Bakus Gründerzeitstadt ist im repräsentativen Schwulst und in der stilistischen Vielfalt ihrer Prunkbauten zunächst einmal als der authentische Ausdruck einer architektur- und stadtgeschichtlichen Ära zu begreifen. Ihr Historismus ist zwar importiert, aber er repräsentiert die Baugesinnung des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen und den Epochengeist der einstigen Weltmetropole des Petroleums im Besonderen: »in den Straßen der Ölstadt [versammelten sich alle] […] Raritäten der Baukunst. Alle Stile waren vertreten. Maurische Paläste standen neben gotischen Gebäuden, und die byzantinische
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Wackwitz, Stephan: »Traumstadt«, in: Merkur, 11/2016 Enzensberger, Hans Magnus: Politische Brosamen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 72 Kapuściński, Ryszard: Imperium. Sowjetische Streifzüge, Berlin: Die Andere Bibliothek 1993, S. 64
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Kuppel erhob sich neben einem Rokokopavillon. Die Paläste waren das Steckenpferd der Ölherren und jeder suchte auf andere Weise irgendeinen sonderbaren Traum seiner Seele zu verwirklichen.«73 In Anbetracht der immanenten Inauthentizität historistischer Architektur heißt das dann allerdings wiederum: in Bakus gründerzeitlichen Prachtstraßen manifestiert sich geschichtlich authentisch die Inauthentizität des Historismus. Diese sind zwar nicht allein darin inauthentisch, dass sie mit viel Aufwand die Stadtästhetik des Hausmannschen Paris ans Kaspische Meer übertrugen. Dafür aber grundsätzlich, weil es ihre architektonischen Mittel sind. Die historistischen Repräsentationsbauten, mit denen sich der Geldadel Bakus, die Ölbarone, »selbstbewusst aus den Zwängen des von der Aristokratie geprägten ästhetischen Kanons befreit[en] und […] sich unbekümmert [nahmen], was ihnen an Stilrepertoire gefiel«74 , sind in ihrer Darstellungswucht, Fülle und Verschiedenartigkeit gebaute Manifeste der Inauthentizität – eine Architektur, die wie im Fieber spricht. Bakus städtische Entwicklung im 20. Jahrhundert lässt sich auch nicht ausschließlich unter die Kategorie des Inauthentischen subsumieren. Im Unterschied zum Funktionalismus einer vereinzelt mit gehobenen Fertigkeiten umgesetzten Sowjetmoderne durchzieht Bakus nationalistisch gefärbten stalinistischen Klassizismus, der zur Kalmierung der aserbaidschanischen Unabhängigkeitsgefühle instrumentell islamische Stilinsignien aufgriff, aber eine faszinierende Inauthentizität ideologischer Unaufrichtigkeit und materieller wie typologischer Artifizialität. Und auch das stadtgeschichtlich jüngste Kapitel, die Internationalisierung Bakus unter der Diktatorendynastie Aliyev seit der 1991 erlangten Unabhängigkeit, hat einen Drall ins Inauthentische. Einerseits in Gestalt eines deplatziert wirkenden Zukaufs westlicher Stararchitekten, deren unvermittelte »Signature Styles« zwar in der Medienrezeption ins Weite wirken, die architektursymbolischen Gelingensbedingungen nationaler Repräsentanz und ihren staatlich verfügten Hurra-Patriotismus aber nicht stringent erfüllen. Andererseits in den sauren Ausdünstungen einer Dubai-Bauästhetik, die glänzt, funkelt und dabei teilweise ein Maximum an Hässlichkeit auflädt. Die gegenwärtige Stadt steht »zwischen den Zeiten. Mit einem Bein in der alten Sowjetunion, mit dem zweiten in jenen seltsamen Hybriden der Globalisierung, die wie Dubai […] aus Islam, märchenhaftem Ölreichtum, westlichem Luxus und orientalischen Regierungsformen zusammengesetzt sind.«75 Auch das deutsche Wiesbaden, die Residenzstadt des kleinen Herzogtums Nassau, die im 19. Jahrhundert mit ihrem Spiel- und Bäderbetrieb zur »Weltkurstadt« aufstieg, in der alljährlich die deutschen Kaiser und in- und ausländische Fürstlichkeiten die Saison verbrachten, buchstabierte in ihrer prunkbeladenen, imponiersüchtigen Stadtarchitektur die Varianten und Variantenabweichungen historistischer Stilaneignung aus.
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Bey, Essad: Öl und Blut im Orient. Meine Kindheit in Baku und meine haarsträubende Flucht durch den Kaukasus, Frankfurt a.M.: H.J. Maurer 2008, S. 42 Landwehr: 2012, S. 21 Wackwitz, Stephan: Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2014, S. 91
Einleitung
Die weltkurstädtische Treibhausluft bewirkte eine erstaunliche Verüppigung der historistischen Stilbaukunst, ein artificium der Theatralik und Künstlichkeit, das für alle Anlässe ein aufwendiges Lächeln parat hatte – gespreizt, jedoch gewichtig. Auf die verhaltene Glut des Klassizismus, den tragenden Stil der ersten Jahrhunderthälfte, der die Kunst der Antike als das Maß der Dinge begriff und mit seinen entfärbten, apollonischen Bauten attische Tage imaginierte, folgte die Romantik, die elegisch in geheimnisvoll ungebrochene Zeiten schweifte. Sei es in mit Deutungsdemut rekonstruierenden Exerzitien des »Purifizierens« reiner Formen der Schönheit oder in freventlichen Glossolalien eines gescheiten und begeisterten Eklektizismus. Bis schließlich der Späthistorismus mit dem Neobarock seine ästhetischen Assoziationen fand, die einerseits die kaiserliche Machtatmosphäre transportierten – das Zeitalter der Pickelhaube, die zum Symbol für den deutschen Militarismus und den imperialen Machtanspruch des Deutschen Kaiserreiches, die überhebliche Reichsglorie der Hohenzoller wurde –, andererseits aber auch die gesättigte freie Innerlichkeit des Geburtsund Geldadels im Wilhelminismus bespielten. Wiesbadens von Eitelkeiten und Selbstherrlichkeiten angetriebener Späthistorismus, seine repräsentative, auf Herrschaftssymbolen beruhende Architektur, wirkt wie ein Flaggengelübde auf die Wilhelminische Zeit, schuf ein stilistisches Prestissimo, mit dem man sich die schmierige Sympathie des Kaisers erwarb. In großen und groben Reizen und Effekten inszeniert, synoptisch Formen und Motive früherer Zeiten geistreich und geistlos wiederholend, lässt er einen der Illusionen dieser Ära anheimfallen, die versuchte, mit den martialischen Äußerungen und chauvinistischen Winken des eitlen, präpotenten Kaisers Wilhelm II. und den verstiegenen Halluzinationen ihrer Prunkarchitekturen die gesellschaftliche Wirklichkeit zu entkräften. Das gegenwärtige Wiesbaden, dass sich im 20. Jahrhundert in eine weit weniger epische, weniger weltläufige und weniger elegante Verwaltungsstadt mit Angestelltenmentalität und einer behäbigen spätbürgerlichen Gesellschaftskruste verwandelte, ist stadtästhetisch weiterhin vom nachklingenden Flair der »Weltkurstadt« bestimmt, auch wenn sich längst ein Milieu der Mittelmäßigkeit breitgemacht hat – in Gestalt funktionalistischer Nachkriegsarchitektur mit widriger Ausstrahlung und den bundesrepublikanischen Alltagsästhetiken der spätkapitalistischen Massenkultur. Das Missverhältnis zwischen diesem Kulturzustand, der sein Maß an der Versagung zu haben scheint, und der viel zu prunkenden Stadtarchitektur, die wie in einer Zeitblase gefangen wirkt, schwächt deren Kunstwirkung allerdings nicht, sondern steigert im Gegenteil deren Reize, verstärkt die verblüffenden Unglaubwürdigkeiten, die Theatralik der Bäderstadt. Die amerikanische Glücksspielstadt Atlantic City dagegen entwickelte ein unverständiges Nichtverhältnis zur eigenen illustren Vergangenheit als »America’s Favorite Playground« in den Jahrzehnten vor und nach 1900, als das Seebad an der Südküste von New Jersey, berühmt für seine holzbeplankte Flaniermeile am Strand, den Boardwalk, seinen Grandhotels, Vergnügungspiers und Amüsierbetriebe, als die führende nationale Urlaubsdestination die Unter- und Mittelschicht mit einer glamourösen Suggestion von städtischer Freizügigkeit und architektonischer Extravaganz in Verzückung brachte und erfolgreich der Prohibition trotzte. Atlantic City war
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»a temporary suspension of disbelief. Behavior that was exaggerated, even ridiculous, in everyday life was expected at the resort. The rigidities of Victorian life relaxed, permitting contact between strangers and the pursuit of fantasies. The imprimatur of the absurd was upon Atlantic City. […] The town was a gargantuan masquerade, as visitor deceived visitor, and entrepreneurs fooled them all.«76 Mit dem Niedergang der Vergnügungsstadt ab den 1950ern entstanden Abriss-, Zerfalls- oder Trümmerbrachen, die auch das gegenwärtige Stadtbild, nach Jahrzehnten des Abstiegs mit der Glücksspiellegalisierung in Hast und Brachialität ausgebreitet, als angstlüstern machende städtische Tristesse prägen. Denn »Interesse hatten die Bauherren, die zur Zeit des Casinobooms kamen, ohnedies nur an der ersten Häuserreihe hinter der Strandpromenade gezeigt, allenfalls noch der zweiten, um Parkhäuser zu bauen. Dahinter […] beginnt die amerikanische Version von Obervolta.«77 Aber auch die längst angejahrten Fiktionswelten der Casino-Architekturen, die spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 mit massiven Umsatzrückgängen und Schließungen kämpfen, bieten abermals Impressionen des Niedergangs – wirtschaftlich und ästhetisch, als kulturindustrieller Trash, die Ersatzwirklichkeit der kapitalistisch Angehängten und Überflüssigen. Ihr in abermaligem Verfall begriffenes Stadtgefüge bietet circensische Spiele architektonischer Inauthentizität und massenkulturellen Kitschs als ein amplitudenstarkes Widerspiel der riesenhaft-insularen CasinoInfrastrukturen (in verschiedenen Stadien freizeit- und unterhaltungsindustriellen Attraktivitätsverlusts) in grässlicher Nachbarschaft zu erbärmlichen urbanen Verfall. Atlantic Citys Casinobauten sind dabei in dem Maße inauthentisch, wie thematischen Simulationsästhetiken imitativ, illusionistisch und materiell künstlich sind und sie diese Attribute, ihre spektakuläre Artifizialität, intentional als Attraktion verkaufen. Das Charakteristische an den ungünstig aufgetakelten Themenarchitekturen ist allerdings nicht ihre immanente Inauthentizität, es ist ihre in Schande versinkende Hässlichkeit und Plumpheit. Die aufgeblasene Vulgarität ihres schrillen Zampanos, des Immobilientycoons Donald Trump, diesem Prototyp eines übertreibenden, selbstherrlichen Menschen, der sich, bei seiner protzigen Neureicheneitelkeit mit weiter Kreditlinie gesegnet, an seinem eigenen (empfundenen) Erfolg und Esprit delektiert, spiegelt sich in den Architainment-Bespielungen wieder: sie sind angeberisch, unkultiviert, platt. Voller Präpotenz und Eitelkeit – »this is what Donald Trump’s Atlantic City was: gilded and schlocky. […] He opened casinos that looked like gaudy Epcot pavilions and called them the finest buildings ever made.«78 Der proletoid exerzierte Ekelreigen ist nicht nur sekundaristisch gegenüber seinen Referenten, sondern zweitklassig gegenüber der kontemporären »Theming«-Konkurrenz. Was nicht heißt, Atlantic City wäre inauthentisch im Verhältnis zu einem authentischen Las Vegas, auch wenn die Casino-Ungetüme am Boardwalk wie ein schaler Ab-
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Funnell, Charles E.: By The Beautiful Sea. The Rise and High Time of That Great American Resort, Atlantic City, New York: Rutgers University Press 1975, S. 37 Schwellen, Michael: »Der Mann, der am Himmel kratzte«, in: Die Zeit, 35/1990 McQuade, Dan: »The Truth About the Rise and Fall of Donald Trump’s Atlantic City Empire«, in: Philadelphia Magazine, 16.8.2015
Einleitung
klatsch des Strip wirken, wie eine »hässliche Schwester von Las Vegas«79 . Aber dieser zweifache Inferioritätseindruck prägt die Atlantic City-Erfahrung und deklassiert die Stadt zur Zweitklassigkeit: gegenüber den simulationsästhetischen Spektakeln von Las Vegas auf der einen Seite und gegenüber den Heydays der Grand Hotels und Vergnügungspiers auf der anderen Seite – dem lasziven Atlantic City, das, »[l]ike the bathing beauty she was, […] tiptoed down to the water’s edge, looking saucy. […] Dressed up in a multitude of costumes, she strutted and posed against it, entertaining her audiences, showing her stuff she was tempting, reckless, unpredictable, flamboyant, vulgar, and boy, was she built!«80 In ihrer unfreiwilligen Sekundarität, ihrem Simulakrenstatus liegt auch die inauthentische Grazie der pompösen, prosperierenden Golfmetropole Doha, der Hauptstadt Katars, in der die Hyperrealität der weltweit metastasierenden DubaiBauästhetik ein architektonisches Champagnerdinner feiert. Das Verdikt der westlichen Intelligenzija über Dubai, ihre gigantomanischen Schaustellungen von Macht und Gegenwärtigkeit würden nur das ästhetisch Verächtliche achten, seien vulgär und unmanierlich – als sei die Stadt eine Verdammnis, zu unserer Prüfung eingerichtet –, lässt sich in allen Anklagepunkten auf Doha übertragen. Schließlich ist auch dem kleinen Wüstenemirat »mit tiefen Taschen«81 stadtästhetischer Zartsinn unbekannt. Doha inszeniert in einer prahlerischen Prachtliebe die neureiche Morgenbegeisterung der emiratischen emerging global cities. Sie bekränzt sich mit dem Juwelenschmuck futuristisch ikonischer Skyscraper-Architekturen. Sie lässt eine künstliche Insel als unvermeidliches Waterfront-Prestigeprojekt in ihren lauen Gewässern dümpeln. Sie imaginiert sich mit scheintraditionalistischen »Heritage«-Hyperrealitäten eine Geschichte, die sie nicht hat. Sie prolongiert eine ebenso nicht selten orientalisch versetzte Eloxal-Postmoderne, die die leichten Rollen spielt. Und sie kauft zur Befriedigung ihres Amerikanisierungsbedürfnisses zudem plakative Themenarchitekturen ein. Doha empfängt einem im architektonischen Glanz des arabischen Hyperkapitalismus, allerdings beinahe ausschließlich mit nur leicht variierenden, sekundaristischen Nachbildungen der städtischen Eigenvermarktungsstrategien ihres berühmteren, in allen Lüsten der architektonischen Ausschweifung erfahrenen Nachbaremirats Dubai. Wie dieses fabriziert Doha Simulakren im Sinne Baudrillards: Stadtmanifestationen, die allein einer Zeichenrekurrenz zu dienen scheinen, »sich von vornherein in die rituelle Dechiffrierung und Orchestrierung der Massenmedien einschreiben«82 . Dabei immer ein Vergleichsverhältnis zu Dubai eingehen. Einzelne Meisterwerke der »Oil Urbanization«-Moderne und wirkungsstark verschlungene Filigranarbeiten der gegenwärtigen Stararchitekten-Liga, die einen Avantgarde-Futurismus antrailern, erschließen sich architekturkanonisch einer »legiti-
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Lindner, Roland: »Die hässliche Schwester von Las Vegas«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.6.2007 Levi, Vicki Gold/Eisenberg, Lee: Atlantic City. 125 Years of Ocean Madness, New York: Clarkson N. Potter 1979, S. 17 Sträter, Andreas: »In Katar spielt die Zukunftsmusik. Die Reichsten unter Reichen«, in: Rheinische Post, 11.11.2012 Baudrillard: 1978, S. 38
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men« Westrezeption, der eigentliche Reiz Dohas liegt jedoch in einem Sich-Verlustieren an einem Esprit unfreiwilliger Sekundarität.
Dimensionen des Authentizitätsbegriffs
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Zur Begriffsgeschichte des Authentischen
Die Literaturlage zum Begriff der Authentizität ist bis ins 20. Jahrhundert überschaubar, die philosophische Basis schmal: »Blickt man auf die Begriffsgeschichte von Authentizität, dann ist festzustellen, daß das seit dem 18. Jahrhundert kurrente Wort im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein Hauptwort der Moderne gewesen ist.«1 Die vormoderne Verwendung des altgriechischen authentikós beziehungsweise lateinischen authenticus bezieht sich ausschließlich auf die Originalitäts-, Echtheits- oder Provenienzbezeugungen von Dokumenten, Zeugnissen und Artefakten – »Authentifikation ist […] eine juristische, theologische, quellenkritische Beglaubigung der Gültigkeit und der genuinen Unversehrtheit einer Überlieferung.«2 Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts differenzieren sich eine Vielzahl an Einzeldiskursen aus, die Authentizität als Differenzkriterium beschäftigen, um gelingende Subjektivität verstanden als Einzigartigkeit und Individualität, aber auch künstlerische Unnachahmlichkeit zu würdigen, oder rezeptions- und wirkungsästhetischen Bedingungen bildmedialer Darstellung. Aber auch wenn sich seitdem Diskurse der Subjektauthentizität und der Objektauthentizität ausmachen lassen, kann »die Authentizitätsproblematik«, wie Sabrow und Saupe schreiben, dennoch »nicht ohne analytische Verluste in zwei strikt voneinander geschiedene Bereiche aufgeteilt werden«3 . Eine sektorierende Einteilung in Subjektauthentizität und Objektauthentizität darf nicht unterschlagen, dass sich der Begriff »in einem Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremd1 2
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Knaller/Müller: 2006, S. 7 Sabrow, Martin: »Die Aura des Authentischen in historischer Perspektive«, in: ders./ Achim Saupe (Hg.), Historische Authentizität, Göttingen: Wallstein 2016, S. 33; Jan Berg verweist darauf, dass die historische Praxis des Authentifizierens von religiösen Reliquien in gegenwärtigen Autoritätsbekundigungen von Authentizität präsent geblieben ist: »Die typologische Ähnlichkeit des autoritativen Zuschreibens mit dem religiösen Wahr-Sprechen, dem Segnen, Weihen, Heiligen ist nicht zufällig. Manchmal ist Zuschreibung als authentifizierendes Verfahren wörtlich wie metaphorisch wie metaphysisch zu verstehen: authenticum nennt man im Mittelalter jenes Zettelchen, das man der Reliquie beilegt, das ihr eine heilige Bedeutung beilegt.«; Berg, Jan: »Formen szenischer Authentizität«, in: ders./Hans-Otto Hügel/Hajo Kurzenberger (Hg.), Authentizität als Darstellung, Hildesheim: Universität Hildesheim 1997, S. 163 Sabrow, Martin/Saupe, Achim: »Historische Authentizität. Zur Kartierung eines Forschungsfeldes«, in: ders./ders. (Hg.), Historische Authentizität, Göttingen: Wallstein 2016, S. 14-15
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bestimmung« konfiguriert – selbst dort wo er »als Beglaubigungs- und Verbürgungskategorie […] ein Normierungs- und Objektivierungselement«4 zeigt. Auf ein Grundcharakteristikum lassen sich die Einzeldiskurse nicht rückführen: »Man kann prinzipiell empirisch überprüfbare […] von interpretativen und evaluativen bzw. normativen Verwendungsweisen […] unterscheiden. Das Vertrackte am Authentizitätsbegriff scheint [aber] darin zu liegen, daß er häufig auf nicht immer aufschlüsselbare Weise empirische, interpretative, evaluative und normative Momente miteinander kontaminiert. Prinzipiell läßt sich Authentizität als universaler Geltungsbegriff einführen, der weder steigerungs- und verhandlungsfähig noch graduierbar ist.«5 Die unterschiedlichen Karrieren des Authentizitätsbegriffs dürfen allerdings auch nicht dazu verleiten, die in diesen entfaltete semantische Assoziations- und Beschreibungsbreite, man kann auch sagen Unschärfe, historischen Begrifflichkeiten überzustülpen, diese nachträglich mit Authentizität zu synonymisieren: »Zwar sorgt die Unschärfe des Begriffs dafür, dass er stets neuen Bedeutungsfacetten eingebunden werden kann, allerdings stellt das dem Begriff erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschlossene semantische Spektrum eine diskursive Restriktion seiner Anwendbarkeit dar«6 , streicht Tino Mager hervor. Eine Rekapitulation der Authentizitätskategorie tut sich keinen Gefallen, wenn sie »aktuelle semantische Synonyme von Authentizität auf Begriffe des 18. und 19. Jh. [transferiert], ohne deren diskursbedingte Spezifizität zu reflektieren.«7 . Die Vielgestaltigkeit der sich durch eine fluide, erweiterungsfähige Begriffsbildung auszeichnenden Einzeldiskurse des Authentischen, die sich addieren, aber nicht summieren lassen, macht jeden Versuch, für sich eine Begriffsverallgemeinerung nach einem autoptisch herauspräperierten grundsätzlichen Charakteristikum zu bilanzieren, unzulässig. Alles was sich sagen lässt ist, dass einige dieser Einzeldiskurse mehr als
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Knaller, Susanne: Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007, S. 21 Müller, Harro: »Theodor W. Adornos Theorie des authentischen Kunstwerks. Rekonstruktion und Diskussion des Authentizitätsbegriffs«, in: Susanne Knaller/ders. (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink 2006, S. 56 Mager, Tino: Schillernde Unschärfe. Der Begriff der Authentizität im architektonischen Erbe, Berlin: De Gruyter 2016, S. 40; Wichtig ist auch, dass sich keine zeitliche Reihung der unterschiedlichen Authentizitätsdiskurse, »dass sich im Grunde keine Entwicklungslinie identifizieren lässt. Die Konzepte und Konnotationen von Authentizität lösten einander nicht ab. Sie bestanden vielmehr nebeneinander, beeinflussten sich gegenseitig und wurden zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten aktualisiert.«; Rehling, Andrea/Paulmann, Johannes: »Historische Authentizität jenseits von ›Original‹ und ›Fälschung‹. Ästhetische Wahrnehmung – gespeicherte Erfahrung – gegenwärtige Performanz«, in: Martin Sabrow/Achim Saupe (Hg.), Historische Authentizität, Göttingen: Wallstein 2016, S. 99 Knaller: 2007, S. 18; Ein Einwand, der sich beispielsweise gegen Jutta Schlich richten lässt, die mit dieser Intention verallgemeinerte, dass »spätestens seit dem 18. Jahrhundert […] Authentizität ein geheimer Leitstern des kritischen Diskurses« gewesen sei, der sich »in der ›Unmittelbarkeit‹ des Sensualismus, in der ›Natürlichkeit‹ der Empfindsamkeit, in der ›Ursprünglichkeit‹ der Romantik, im ›Wesen‹ des deutschen Idealismus, im ›Leben‹ der Lebensphilosophie gezeigt hätte«; Schlich: 2002, S. 1
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andere auf der eigenen Hegemonie bestehen, und einige mehr als andere mit den intellektuellen Zeitdiagnosen der Gegenwart verkrallt sind. Beides betrifft zuallererst Authentizität als Ziel eines auf dem Ideal der Selbstverwirklichung basierenden Individualisierungsschub in der westlichen Welt, der sie sich im 20. Jahrhundert, mit dem Eintritt in ein »Zeitalter des Narzissmus«, zunehmend »atomistisch« vereinseitigt, was Kulturkritiker wie Lionel Trilling oder Christopher Lasch zu dem gegenwartsdiagnostischen Urteil veranlasste, der Authentizitätsdiskurs verfestige in den Lebensverhältnissen der kapitalistischen Industriegesellschaften ein »narzisstisches Syndrom« (1.1.1). Dieses zeige, dass der Einzelne »in seiner Rolle als allgemeiner Mensch, als besonderes Mitglied von Gemeinschaften, Organisationen und als unvergleichliches, singuläres Individuum keinen Ort mehr findet, von dem aus er […] diese unterschiedlichen Zumutungen zu synthetisieren vermochte. So gesehen ist der Authentizitätsbegriff Ausdruck und zugleich Symptom dieser Krise«8 . Charles Taylor hat demgegenüber ein philosophisches Authentizitätsverständnis in die Debatte eingebracht, das aus einem anti-universalistischen Bewusstsein für die grundsätzliche Hinterfragbarkeit der Individuationsbedingungen ein »Ideal der Authentizität« als Grundcharakteristikum neuzeitlicher Identität auszeichnet (1.1.2). Auch wenn dessen gegenwärtige Verflachung auf einen Zustand hinausläuft, »in dem jeder die eigenen Absichten individualistisch definiert und nur aus instrumentellen Gründen an der Gesellschaft festhält – die eigentliche Basis des Zusammenhalts zersetzt, den eine freie, partizipatorische Gesellschaft braucht, um am Leben zu bleiben.«9 Ohne selbst die Existenzweise des modernen Menschen mit essentialistischen Vorstellungen zu belegen, wendet er sich gegen eine »narzisstische« Verkürzung, da diese unterschlägt, dass »[d]as moderne individualethische Ideal des guten als des authentischen Lebens […] sich sowohl auf ein gelingendes Selbstverhältnis als auch auf gelingende Fremdverhältnisse [bezieht]. Damit erstreckt es sich auf die Bereiche lebensgeschichtlicher Selbstverständigung und lebenspraktischer Selbstdarstellung.«10 Weiters wird Theodor W. Adornos Inanspruchnahme des Authentizitätsbegriffs in der Kunsttheorie rekapituliert (1.1.3). Adornos Ansprüche an ein authentisches Kunstwerk wirken im Urteil einerseits auf das Inauthentische der »Kulturindustrie« zurück, der er pauschal attestierte, sie würde mit allerbanalsten, allein der kapitalistischen Akkumulation dienenden Kunst- und Unterhaltungsartikeln nur die unentfalteten ästhetischen Empfindungen und Bedürfnisse eines außenbestimmten Massenpublikums befriedigen. Andererseits brach Adornos dissonanter Authentizitätsbegriff mit den verschwiemelten Irreduktibilitätsverdrängungen des existenzphilosophischen »Jargons der Eigentlichkeit«, der sich der metaphysischen Bestände und Autoritäten zu versichern versuchte – in einer Gestimmtheit, die »etwas von Augurenernst [hat], beliebig verschworen mit jeglichem Geweihten«11 .
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Knaller/Müller: 2006, S. 10 Taylor: 1996, S. 721 Rouvel, Kristof: »Zur Unterscheidung der Begriffe Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit und Authentizität«, in: Jan Berg/Hans-Otto Hügel/Hajo Kurzenberger (Hg.), Authentizität als Darstellung, Hildesheim: Universität Hildesheim 1997, S. 216 Adorno: 1964, S. 11
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Eintritt ins »Zeitalter des Narzissmus«
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rangiert der Begriff der Authentizität als Fundamentalwert, mit dem das Gelingen der individuellen Subjektivität, ihrer Beziehungen und Erfahrungen verhandelt wird. Im Ziel authentischer Selbstverwirklichung artikuliert sich der »umfassendere Individuationsbegriff« der von Charles Taylor so genannten »Kultur der Authentizität«, die auf einem tiefgreifenden Wandel der abendländischen Kulturgeschichte fußt: der Wende zum »Expressivismus«, der »im achtzehnten Jahrhundert aufkommenden Vorstellung, wonach jedes Individuum anders und etwas Ureigenes ist und durch seine Originalität darauf festgelegt wird, wie es leben sollte.«12 Erst seit Daseinsgrund und -ziel des Individuums in diesem selbst gesucht, und »nicht mehr qua Differenz zu anderen und durch Identifizierung mit einem bestimmten Rollenrepertoire festgelegt« werden, seit »das Selbstverständnis den Fremdbezug abgelöst hat, ist die Basis für den modernen Begriff von Individualität und damit auch von Authentizität gegeben. Identität ist nicht länger vorgegeben, sondern jedem einzelnen aufgegeben.«13 Mit der Formierung des neuzeitlichen »Expressivismus« entwickelte sich komplementär zur Idee der Autonomie, wie Hartmut Rosa präzisiert, Authentizität zum normativen Kriterium für eine gelingende expressive Identitätskonstituierung: »Danach kommt es im Hinblick auf die Frage der Identität nicht nur darauf an, daß es meine (oder unsere) Wünsche und Bedürfnisse sind, die mein (unser) Leben bestimmen, sondern es ebenso entscheidend, daß es meine (unsere) […] authentischen Wünsche und Bedürfnisse sind, welche die Identität definieren. Während Autonomie (als Selbstgesetzgebung) erfordert, daß wir selbst uns die maßgeblichen Gesetze auferlegen, verlangt Authentizität (als Selbstübereinstimmung), daß wir dies in innerer Übereinstimmung mit uns selbst tun.«14 Diese Achsenverschiebung der abendländischen Individualität hat Lionel Trillings Studie Das Ende der Aufrichtigkeit kulturgeschichtlich nachgezeichnet. In dieser Entwicklung tritt zunehmend das Gefühl ins Bewusstsein, dass sich Selbstwert und Selbstre-
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Taylor: 1996, S. 653 Mecke: 2006, S. 89 Rosa, Hartmut: Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a.M.: Campus 1998, S. 195-196; Durchaus ähnlich lagert die Integrität authentischer Subjektivität im philosophischen Ansatz Alessandro Ferraras. Seine authenticity-thesis beschreibt er aus dem Ableitungsverhältnis der beiden Prinzipien der Autonomie und der Authentizität: »the authenticity-thesis claims that the notion of authentic subjectivity is to contemporary modernity as the notion of autonomous subjectivity is to early modernity. While the Enlightenment is the age of autonomy par excellence, ours is the age of authenticity. […] The normative ideal of authenticity brings with it a methodological appendix which implicitly calls into question the early modern universalism and replaces it with a new universalism based on the model of reflective judgment.« (Ferrara, Alessandro: Reflective Authenticity. Rethinking the Project of Modernity, London: Routledge 1998, S. 5) Wichtig ist Ferraras Beharren, dass sich Authentizität nicht allein aus Autonomie begründen kann: »Autonomy and authenticity appear, then, to be related in an asymmetrical way. On one hand, authenticity presupposes autonomy. Neither traditional nor affective action […] can be authentic. […] On the other hand, the conceptual gap between autonomous and authentic conduct cannot be bridged with materials derived analytically from autonomy.«, ebd., S. 6
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spekt des Menschen nicht mehr länger allein in der Kategorie der Aufrichtigkeit beschreiben lassen, in einer »Übereinstimmung von mitgeteiltem und wirklichem Fühlen«15 , die das Tun beglaubigt. An die Stelle der Aufrichtigkeit ist vielmehr das Bedürfnis nach einem authentischen Selbstsein getreten, dass sich gegenüber den Zwängen der Gesellschaft behaupten muss, da der Vollzug sozialer Rollenkonventionen nur um den Preis unaufhebbarer Inauthentizität zu entrichten sei. Trilling streicht daher hervor, »daß Authentizität implizit ein polemischer Begriff ist, dessen Wesen es ausmacht, daß er herkömmliche und gängige Meinungen, insbesondere ästhetische, dann aber auch gesellschaftliche und politische Anschauungen in Frage stellt.«16 Das Pathos des Authentischen verlangt nach unnachgiebiger individueller Eigenständigkeit, nach Rücksichtslosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Regeln. Denn nur so lässt sich eine ehrliche, unverzerrte Konfrontation mit sich selbst ermöglichen, gibt sich der Reichtum des inneren Lebens zu erkennen, der sich zu einer gewinnbringenden Selbstdarstellung nutzen lässt.17 Im 20. Jahrhundert wird daher schließlich »das Daseinsgefühl, das Gefühl, stark zu sein, immer mehr der Vorstellung persönlicher Authentizität subsumiert. Das Kunstwerk selbst ist seiner ganzen Selbstdefinition nach authentisch. Man meint, daß es gänzlich aus den Gesetzen seines eigenen Seins lebt und deswegen das Recht hat, schmerzliche, gemeine oder gesellschaftlich nicht gebilligte Themen darzustellen.«18 Auch Bernard Williams zeichnete die Entfaltung einer Idee der Individualität nach, die Authentizität zunehmend von den Tugendimplikationen der Aufrichtigkeit abspaltet. So scheint, »der springende Punkt der Authentizität als eines spezifisch modernen Werts darin [zu liegen], daß man in reflektierter Form die nicht ausgedrückten Gewißheiten zurückzugewinnen trachtet, von denen man annimmt, sie hätten die vormoderne Welt geprägt. Aber wie immer die Authentizität als Ideal ausgedrückt werden mag – klar ist, daß sich ihre Forderungen nicht mit den Forderungen […] der Authentizität einer anderen Person decken.«19 15 16
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Trilling: 1983, S. 12 Ebd., S. 92; »Die moderne Karriere des Authentischen als Kriterium der Kunst sowie der Moral des ungekünstelten Lebens leitet Trilling aus verschiedenen Quellen her. Die Ästhetik des Erhabenen und der Rousseauismus des 18. Jahrhunderts, Lebensphilosophie und Reformbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts haben für eine Aufwertung des Authentischen gesorgt. Unter seinem Stern habe […] die Entwertung der Kultur der Distanz und Zeremonialität, der Diplomatie, der notwendigen Choreographie des entfremdeten Seins in der Gesellschaft, kurz der ›Höflichkeit‹, stattgefunden. Im Namen der Authentizität habe die Aufwertung von Unordnung, Gewalt, Schmerz und Unvernunft an moralischer Autorität gewonnen.«; Lethen: 1996, S. 219 Kristof Rouvel weist darauf hin, dass Authentizität gegenüber der Aufrichtigkeit überdies eine stärkere Intentionalität impliziert: »Ich muß also durchaus in meiner Lüge authentisch sein können – andernfalls fügte der Begriff der Authentizität dem der Wahrhaftigkeit (gegenüber anderen) nichts hinzu. Meine Authentizität kann dann aber nicht bereits darin bestehen, daß ich um meine Absicht zu täuschen weiß […]. Wenn das Wissen um die eigene Lüge tautologisch ist, muß der Begriff der Authentizität, soll er gehaltvoll sein, mehr bedeuten als, daß ich weiß, daß ich lüge […]; er bezeichnet vielmehr mein Wissen, warum und wozu ich lüge.«; Rouvel: 1997, S. 220-221 Trilling: 1983, S. 96 Williams, Bernard: Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 276
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Authentizität bildet dann das »heroische Ideal« einer »alle sonstigen Forderungen [des Moralischen] ausschließenden Übereinstimmung des Selbst mit seinen tiefsten und wie auch immer gearteten Bedürfnissen und Regungen«. Aus dieser Authentizitätsemphase gehen aber, so Williams, keine moralischen Motive hervor, »die anderen wohlgeneigt sind – sie sind so, wie sie nun einmal sind. Außerdem besteht für die Authentizität jetzt nicht einmal mehr ein Grund, eine Verbindung zur Aufrichtigkeit im Sinne des wahrhaftigen Verhaltens gegenüber anderen aufrechtzuerhalten.«20 Als moralisches Idiom ist das Authentizitätspathos daher gefährlich, wie auch Trilling schließt. Es zeigt eine Schwäche des gemeinschaftlichen Umgangs an, einen gesellschaftlichen »Atomismus«, der dazu animiert, sich ausschließlich in selbstverantwortliche Initiativen zu investieren.21 Was aber natürlich nicht heißt, Trilling würde sich im Umkehrschluss für Inauthentizität stark machen, wenn man damit Unaufrichtigkeit in Sinne der Verschlagenheit eines manipulativen oder der Passivität eines autoritären Charakters meint. Vielmehr war ihm daran, das ältere Aufrichtigkeitsideal gerade dadurch zu bewahren, dass man auf die Maßlosigkeit und Widersprüchlichkeit einer atomistischen Authentizitätsemphase hinweist. Eine zivilisierende Wirkung versprach er sich allein von einem reflexiven, erweiterten Verstehenshorizont sozialer Konventionsformen und Rollenzuweisungen. Er verteidigte »eine Kultur der Distanz und der zeremoniellen Höflichkeit […]. Die Vorstellung eines unverstellten Selbst sei nur eine Fiktion, denn menschliche Triebregungen ließen sich nur in der vermeintlichen Künstlichkeit sozialer ermessen. […] Der Moraljargon der Authentizität jedenfalls […] habe nur Gewalt, Extremismus und Dogmatismus befördert.«22 Befürchtungen, die seitdem, seit das entwickelte kapitalistische System durch seine Hinwendung zum Individualismus in ein Zeitalter des Narzißmus eingetreten ist, wie eine 1979 erschienene Gesellschaftsanalyse Christopher Laschs heißt, mit unterschiedlichen Beweisgewichtungen die Kulturkritik bestimmen.23 20 21
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Ebd., S. 278 Williams betont, dass der kritisierte atomistische Individualismus damit eine moralische Wertung vornimmt, nämlich die Ansicht, »Heuchelei sei ein besonders schlimmes Laster, schlimmer noch als egozentrisches Verhalten. Dieser Gedanke hat tatsächlich etwas mit Authentizität zu tun und repräsentiert ganz bestimmt ein neuzeitliches Ideal […]. Heuchelei ist jedoch ein Verstoß im Hinblick auf öffentliche und zwischenmenschliche Verhältnisse, eine Verletzung der Redlichkeitsregel. Nun ist eine gegen Heuchelei gerichtetes Ideal zwar mit einer egozentrischen Einstellung vereinbar […], doch es beinhaltet eine Forderung nach zwischenmenschlicher Wahrhaftigkeit«; ebd., S. 279 Reichardt, Sven: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 62; Trilling unterstreicht, dass »die Individuen sich der sozialen Maskerade, der Zeremonien und Rituale bedienen müssen, um sich einen Freiheitsspielraum zu verschaffen – diese Denkfiguren bilden auch heute den äußersten Gegenpol zum Authentizitätsdenken.«; Lethen: 1996, S. 220-221 Die Befürchtungen kreisen mit Trilling in erster Linie um den »Extremismus« der Authentizitätsideologie, der das Affektuelle nicht länger zügelt, wie auch die Beschreibung Ferraras suggeriert: »All normative conceptions of authenticity share the assumption that a life in which the deepest and most significant motifs that resonate within us find expression is somehow not just a fortunate contingency […], but is rather a kind of ›ought‹ which binds all of us. Furthermore, all conceptions of authenticity share an aversion to the reason-centered view of subjectivity typical of the Western tradition and especially to the hierarchical structuring of human subjectivity into a higher ratio-
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Aus den kulturell behäbigen Wirtschaftswundergesellschaften der 1950er, die noch weitgehend eine freudlose Leistungs- und Verzichtsethik sowie homogenisierte konformistische Lebensentwürfe beherrschten, entwickelten sich zuerst in den Gegenkulturen der radikalen Intelligenz von 1968ff. politisierte Vorstellungen heterogenisierter Lebenswelten und -modelle, die freies Identitätsspiel und individuelle Selbstverwirklichung gegen die Normiertheit der fordistischen Ökonomie stellten. Gegen die verknöcherten Politik-, Verkehrs- und Lebensformen einer althergebrachten Bürgerlichkeit kultivierten die subkulturellen Gegengesellschaften identitätsstiftende Praktiken als »Politik der Ersten Person«, »de[s]jenigen, der in einem Akt der Befreiung sein Einssein mit sich selbst erzwingt.«24 Authentizität wurde in den linksalternativen Milieus der 1970er zur zentralen »Selbstbeschreibungskategorie« ihrer von einem Entfremdungs- und Repressionsempfinden gegenüber der konventionellen Mehrheitsgesellschaft bestimmten Lebensformen. Das Authentizitätsverlangen definierte »ein Subjektivierungsregime, in dem die Selbstmodellierung zur Lebenspolitik gemacht wurde«25 , wie Sven Reichardt ausführt: »Authentisch zu sein war ein Distinktionsmerkmal, es unterstrich die eigene Besonderheit und setzte eine gegenkulturelle Identitätssuche in Gang. Die Kritik an den bürgerlichen Verblendungs- und Verschleierungsmedien, der konsumistischen Kulturindustrie und der kapitalistischen Produktionsweise lässt sich kulturwissenschaftlich auf die Kritik an der Entfremdung in der Moderne zurückführen. […] Der bürgerliche Kapitalismus erzeuge unweigerlich künstliches Verhalten und falsche Bedürfnisse. Der Authentizitätsverweis fungierte im linksalternativen Spektrum als Abgrenzungsbegriff und zugleich als Selbstführungstechnik«26 . Dadurch aktiviert entfaltete sich ein durch die hegemonial werdende neoliberale Wirtschaftsideologie legitimierter permissiver Konsumhedonismus mit entpolitisierten Versionen des lebensstilistischen Nonkonformismus.27 Diese Kommerzialisierung transformierte »das ursprünglich politische Projekt der Selbstverwirklichung in
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nal component and a lower one, constituted by the realm of affects, emotions, feelings and the passions.«; Ferrara: 1998, 53 Diederichsen, Diedrich: »Sei voll authentisch! Erfinde dich neu!«, in: Der Tagesspiegel, 14.8.2012 Reichardt: 2014, S. 68 Ebd., S. 59; Reichardt hebt hervor, dass die authentische Individualität dabei paradoxerweise zur Bedingung einer gelingenden Milieueinbindung in die subkulturelle Gemeinschaft wurde: »Authentizität und Gemeinschaft […] verweisen auf ein Paradoxon: Authentizität rückt das Individuum und dessen Fähigkeit zu einem Mehr an Autonomie, Selbstverwirklichung und Lebenssouveränität in den Mittelpunkt – auch und gerade angesichts der vielfältigen Bemächtigungen individueller Souveränität durch kapitalistische Arbeitsstrukturen, autoritäre Verhältnisse und die kulturindustrielle Konsumgesellschaft. Die linksalternative Vergemeinschaftung thematisiert hingegen (in Abgrenzung zu ebendiesen Ermöglichungsbedingungen) die Förderung des Gemeinsinns, der kollektiven Identität«; ebd., S. 873 Auch Menke skizziert die Entwicklung der Selbstverwirklichung in der Entpolitisierung der 1960erGegenkultur zu einer »Kultur des individualistischen Hedonismus«: »Negativ soll die Berufung auf Selbstverwirklichung und Authentizität den Anspruch auf ein Leben zum Ausdruck bringen, das nicht in der Erfüllung von Rollenerwartungen, der Entsprechung an Verhaltenskonventionen oder der Umsetzung von traditionell bestimmten Lebensplänen aufgeht. Positiv geht es in der Berufung […] darum […], ›das eigene wahre Selbst zu entdecken‹«; Menke, Christoph: »Was ist eine ›Ethik der
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Hedonismus«, wie Reichardt weiter rekapituliert. »Aus den zum Zwecke der Gesellschaftsumwälzung eingeübten Techniken der Selbstveränderung wurden Formen des Eigenmanagements, die ihren Gesellschaftsbezug und die revolutionäre Perspektive einer politischen Utopie verloren hatten. Aus der linken Innerlichkeit wurden ebenso kommerzielle wie angepasste Selbstverbesserungs- und Leistungstechniken.«28 Seitdem überflutet der Spätkapitalismus seine Konsumenten mit Produkten, die eine Meisterung des Selbst in einem intensivierten, gesteigerten Leben versprechen, die suggerieren, dass sich mit ihnen lebenspathetisch zu einem authentischen Ausdruck bringen lässt, was in ihnen ist. Die Menschen der westlichen Gegenwartsgesellschaften sammeln Authentizitätserfahrungen und -artikel als Zeichen gelingender Identitätsstiftung ein, wobei die unvermeidliche »schillernde Unschärfe«, die, wie Tino Mager herausstreicht, die Authentizitätskategorie charakterisiert, »die Sehnsucht nach Werten wie Wahrhaftigkeit und Echtheit« reflektiert, ohne jedoch »dabei für ihre Gültigkeit zu bürgen«. Denn in pluralisierten Gesellschaften ist das Authentische zwangsläufig »unspezifisch«. Es »konnte erst in einer Zeit zum Ideal erkoren werden, als sich der Anspruch auf Universalität von Anhaltspunkten, Erzählungen und Wahrheiten aufzulösen begann.«29 Bezeichnenderweise scheint die kapitalistische Zubereitung warenförmiger Authentizitätssuggestionen dabei selbst im Scheitern ihrer Scheineinlösungen noch ihr Versprechen zu wiederholen. Denn, so Hans Magnus Enzensberger lakonisch, »je mürber die eigne Identität, desto dringender das Verlangen nach Eindeutigkeit. Je serviler die Abhängigkeit von der Mode, desto lauter der Ruf nach grundsätzlichen Überzeugungen. Je frenetischer die Spesenjägerei, desto heroischer das Ringen um Integrität.«30 Je inauthentischer die Authentizitätsartikel, die der Kapitalismus liefert, desto leidenschaftlicher das Authentizitätsverlangen nach Tiefschürfendem. Was selbst mitunter für die diagnostische Zeitkritik, die die Krankheitszeichen des begierdenverwirrenden Individualismus, der nur an seine eigene Haut denkt, beklagt, gilt. Nicht nur die Bewegung des Kommunitarismus mobilisiert substantialistische aristotelische Ideen einer »inneren Natur« in uns, die es auszudrücken gilt, um die Defizite, unter denen unsere Gesellschaften leiden, zu überwinden. Denn ihnen erscheint der Individualismus, wie Taylor schreibt, als eine defizitäre »konzentrierte Vertiefung ins eigene Ich bei gleichzeitiger Ausklammerung oder sogar Unkenntnis
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Authentizität‹?«, in: Michael Kühnlein/Matthias-Lutz Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011, S. 219-220 Reichardt: 2014, S. 37-38 Mager: 2016, S. 27 Enzensberger: 1982, S. 11; Dean MacCannell zeigt dies mit Blick auf die Echtheitssehnsüchte des Tourismus: »The dialectics of authenticity insure the alienation of modern man even within his domestic contexts. The more the individual sinks into everyday life, the more he is reminded of reality and authenticity elsewhere.« (MacCannell, Dean: The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, London: Sage 1976, S. 160) Auch MacCannell sieht darin eine strukturelle kulturelle Entwicklung: »unique to the modern world is its capacity to transform material relations into symbolic expressions and back again, while continuing to differentiate or multiply structures. The expansion of alternative realities makes the dialectics of authenticity the key to the development of the modern world. The question of authenticity transcends and subsumes the old divisions of man vs. society, normal vs. deviant, worker vs. owner.«; ebd., S. 145
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der besonders bedeutenden Fragen oder Belange, welche auf religiösem, politischem oder historischem Gebiet über das Ich hinausgehen.«31 Dies ist auch der Hauptanklagepunkt der Charakterologie, die Alasdair MacIntyre in seinem Hauptwerk Verlust der Tugend anbietet, um den in seiner Beschreibung verhängnisvollen Niedergang der westlichen Kultur hin zu einem moralischen Relativismus, den er »Emotivismus« nennt, der »das Auslöschen jeder echten Unterscheidung zwischen manipulativen und nicht-manipulativen sozialen Beziehungen zur Folge hat«32 , ideengeschichtlich nachzuzeichnen. MacIntyres philosophische Intention, gegen diesen »Emotivismus«, der beteuert, »daß alle wertenden Urteile oder genauer alle moralischen Urteile nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen sind«33 , eine Rehabilitierung der aristotelischen Tugendethik abzuleiten, richtet sich gegen einen Individualismus, der sich als »sich selbst gratulierender Gewinn« feiert, »einerseits befreit […] von den sozialen Fesseln jener einengenden Hierarchien, die die moderne Welt bei ihrer Geburt abstreifte, und andererseits von dem, was die Moderne für den Aberglauben der Teleologie hält.«34 MacIntyre findet diese auf Nutzenmaximierung basierende, individualistische Gesellschaft in drei idealtypischen Charakteren wieder, die diese ausgebildet hat: den reichen Ästheten, den Manager und den Therapeuten. In diesen drei Sozialcharakteren spiegelt sich das Instrumentelle, Apersonale unserer Kultur. Die reichen Ästheten sind allein daran interessiert, »die Art von Langeweile abzuwehren, die so bezeichnend für den heutigen Müßiggang ist, indem andere zu einem Verhalten veranlasst werden, das ihren eigenen Wünschen entgegenkommt, ihre übersättigte Lust befriedigt.«35 Der Manager verinnerlicht »in seinem Charakter die Aufhebung des Unterschieds zwischen manipulativen und nicht-manipulativen sozialen Beziehungen; der Therapeut vertritt die gleiche Aufhebung im Bereich des persönlichen Lebens.«36 Gemeinsam ist diesen Charakteren, wie der »emotivistischen« Moral selbst, dass sie sich auf die scheinbar einspruchslose Autorität »moralischer Fiktionen« stützen müssen, die »vielleicht kulturell mächtigste von allen« zeigt sich »in den Ansprüchen auf Effektivität und damit auf Autorität […], die von jener Hauptfigur des modernen sozialen Dramas gestellt werden, dem bürokratischen Manager. Unsere Moral wird […] als Theater der Illusionen entlarvt.«37 Zur Authentizitätssuche des Individualismus steht dies allerdings nicht unbedingt in Widerspruch, schließlich gewinnt die Authentizitätskategorie paradoxerweise auch
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Taylor: 1995, S. 21 MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 41 Ebd., S. 26 Ebd., S. 54-55 Ebd., S. 433 Ebd., S. 50 Ebd., S. 107; Wie gegen reduktionistische Verschwörungstheorien vom geheimen puppet master gerichtet, ergänzt MacIntyre: »Wir werden nicht durch Macht sondern durch Ohnmacht unterdrückt; einer der Hauptgründe dafür, weshalb die Präsidenten von Großunternehmen nicht, wie einige radikale Kritiker meinen, die Vereinigten Staaten beherrschen, ist der, daß sie nicht einmal mit Erfolg ihre eigenen Unternehmen beherrschen«; ebd., S. 104
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dadurch an Strahlkraft, dass, wie Marquard schrieb, die allgemeine »Illusionsbereitschaft wächst. Dem arbeitet eine Wirklichkeit zu, die […] weithin für den Einzelnen gerade aufhört, Gegenstand möglicher eigener Erfahrung zu sein: nicht nur, weil in der wandlungsbeschleunigten Welt Erfahrung schnell veraltet«. Die »moderne Wirklichkeit erhält in wachsendem Maße [ei]ne Färbung von Halbunwirklichkeit, in der Fiktion und Realität ununterscheidbar werden.«38 Daniel J. Boorstin hat diesen illusionären Umgang mit der Wirklichkeit durch eine Verselbstständigung massenmedialer Inszenierungen als Herstellen von »PseudoEreignissen« bezeichnet. In seinem 1962 erschienenen Klassiker der Medientheorie Das Image diagnostizierte er einen schwindenden Wirklichkeitssinn der amerikanischen Gesellschaft, eine »nationale Selbsthypnose« durch die Inflation dieser »neuen Art synthetischer Neuigkeit«: »Die Produktion von Illusionen, die unsere Erfahrungen überfluten, ist zu dem Geschäft Amerikas geworden«39 . Der Illusionismus der Images, der Wunschbilder, bei denen es nicht mehr um die Wirklichkeit geht, sondern um die Inszenierung und Wahrnehmung von Wirklichkeit, sei längst das Hauptverhängnis der sensationssüchtigen amerikanischen »Überflussgesellschaft«, die sich in der unendlich permutierenden Produktion von »Pseudo-Ereignissen« einem genussreichen, jedoch unreifen und (noch) konformistischen Konsumhedonismus hingibt. Wobei, so Boorstin, »[n]icht nur die Werbung […] ein Gewebe aus Kniffen und Illusionen geworden [ist], sondern so ziemlich die ganze Welt. Die Zweideutigkeiten und Illusionen der Werbung sind nur Symptome.«40 Denn das wunschtraumhafte Bildermachen ist tief in die hypertrophierte Bedürfnisstruktur der Menschen eingedrungen, hat eine Anspruchsspirale initiiert: »jeder von uns beliefert individuell den Markt und stillt die Nachfrage nach den Illusionen, die unsere Erfahrungen überfluten. Wir brauchen diese Illusionen und glauben an sie, weil wir übertriebene Erwartungen hegen. Wir erwarten zu viel von der Welt.«41 Charakteristisch für die Funktionsweise der Wunschbilder-Wirklichkeit aus zweiter Hand ist allerdings, dass ein Wissen um ihre Gemachtheit die Faszinationskraft nicht einschränkt. Denn die »zur Schau gestellte Maschinerie, der Einblick in den Entwurfsund Fabrikationsprozeß des Images fasziniert uns. […] Paradoxerweise befriedigt uns ein Leitbild umso mehr, je mehr wir über die Tricks bei seiner Herstellung wissen, über die Berechnung, den Einfallsreichtum und die Anstrengung, die für seine Entwicklung aufgebracht wurden. Diese Kunstfertigkeit beweist uns, daß wir recht tun […], wenn wir es akzeptieren.«42 Generell unterscheiden sich »Pseudo-Ereignisse« durch ihre pointierte Konstruiertheit vom Klischee. Denn »Klischees verengen und begrenzen Erlebnisse auf ein emotional erträgliches Maß; Pseudo-Ereignisse dagegen schminken und dramatisieren Erlebnisse […]. Eben das macht Pseudo-Ereignisse weit verführerischer; […] Wenn man die Entstehung eines
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Marquard: 1989, S. 94 Boorstin, Daniel J.: Das Image. Der Amerikanische Traum, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 27 Ebd., S. 283 Ebd., S. 25 Ebd., S. 259
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Klischees klärte […], würde man die Glaubwürdigkeit des Klischees mindern. Eine Information über die Inszenierung eines Pseudo-Ereignisses dagegen vermehrt seine Faszination.«43 Das gilt auch für das drastischste Einzelphänomen der sich dauerbelustigenden Illusionskultur der Images: für die selbstbezüglichen, nicht mehr an Fähigkeiten und Talente gebundenen Berühmtheiten. Die kalkuliert fabrizierten Image-Inszenierungen der Berühmten führen zu einer bedenklichen Ununterscheidbarkeit der »Männer und Frauen, die nur groß scheinen, weil sie berühmt sind«, von denen, »die berühmt sind, weil sie groß sind. Wir degradieren immer mehr Ruhm zu einem bloßen Bekanntsein.«44 Die Inszeniertheit dieser menschgewordenen Pseudo-Ereignisse entwertet und entwirklicht gerade in der Faszination für die medialen Mechanismen der Image-Fabrikation die allfälligen Leistungen und Fähigkeiten der Berühmten. Von Boorstin beißend kommentiert: »Wenn vor zweihundert Jahren ein großer Mensch auftrat, so suchte das Volk Gottes Absichten in ihm zu erkennen; heutzutage suchen wir nach seinem Presseagenten.«45 Selbst in der scheinbaren Desillusionierung der Paparazzi-Kameralinsen, deren Sensationswert in einem Voyeurismus von Normalheit, in einem Anti-Glamour ungeschminkter Celebrities mit Pickelvisagen in Jogginghosen, liegt, schlummert die Faszination der Imageillusion in der Differenz dieser scheinbaren Authentizitätshäppchen zur Bühnen- und Leinwandglamourosität. Und nicht anders verhält es sich mit dem in der Gegenwart nicht nur bei Berühmtheiten manisch betriebenen digitalen Existenz-Exhibitionismus, bei dem das eigene Leben als endlose Selfie-Strecke bis in den Intim- und Schambereich inszeniert wird. Bei den Millionen Nichtberühmtheiten greift hier ein narzisstischer Impuls, die Verlockung vermeintlich demokratisierter Produktionsbedingungen von »Pseudo-Ereignissen«, bei den Berühmtheiten stützt der digitale Exhibitionismus hingegen ihre Aureole des Starruhms durch die Unterfütterung mit einer Banalauthentizität individueller Nichtigkeiten, die sich von denen der Nichtberühmtheiten allein bildästhetisch kaum unterscheiden. Noch bevor der Neoliberalismus und der mit ihm prolongierte Konsumhedonismus sich zu den heutigen Selbstoptimierungsdoktrinen verfestigte, fand jedoch bereits die entscheidende mentale Verschiebung in der westlichen Kultur statt, die in den Einzelnen das Verlangen eingesetzt hat, intensiv, in großen und reinen Linien zu leben. Denn die im neoliberalen Leistungs- und Selbstinszenierungsdruck internalisierten Bedürfnisstrukturen, aus denen heraus die Westmenschen verzweifelt versuchen, sich selbst zu genügen, in dem sie sich in Fitnessstudios und ins Reality-Fernsehen, zu Schönheitschirurgen und Lebensberatern schleppen (und die sie in die Bulimie, Sucht und Depression treiben), entstammen einem zunächst in den emanzipatorischen Selbstbefreiungsrhetoriken linker Alternativmilieus etablierten Ansatz der »Selbsttherapeutisierung […] als Projekt zur Befreiung des entfremdeten Individuums«, der dann, wie Reichardt zusammenfasst, eine »eine normierende Wirkung« entfaltete: als »Management
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des Selbst. Die frei gewählte Selbstthematisierungskultur bedeutete daher keineswegs nur ›Freiheit von‹, sondern auch ›Zwang zu‹.«46 Tom Wolfe umriss diesen 1976 in seinem Essay The ›Me‹ Decade and the Third Great Awakening: die Herausbildung der historisch beispiellosen »Überflussgesellschaft« in den Nachkriegsjahrzehnten ermöglichte, so Wolfe, dass der davor allein »aristokratische« Luxus einer ichzentrierten Selbstbespiegelung bis in die unteren Schichten diffundierte und sich eine ausschließlich auf das eigene Befinden, auf eine Steigerung des Ich-Bewusstseins zulaufende »Me Decade« im Amerika der 1970er ausbildete: »The old alchemical dream was changing base metals into gold. The new alchemical dream is: changing one’s personality – remaking, remodeling, elevating, and polishing one’s very self … and observing, studying, and doting on it. (Me!)«47 Speziell in den indifferenten Energien einer Vielzahl gesellschaftlicher Phänomene, die von den Befreiungsrevolten der 1968er-Gegenkultur stimuliert waren und um gruppentherapeutische EncounterSelbsterfahrung, sexuelle Befreiung und neuentdeckte Spiritualität kreisen, erblickte Wolfe gesteigerte Ichbezogenheit: »Yet the appeal was simple enough. It is summed up in the notion: ›Let’s talk about Me.‹ No matter whether you managed to renovate your personality through encounter sessions or not, you had finally focused your attention and your energies on the most fascinating subject on earth: Me. […] Just imagine … my life becoming a drama with universal significance«48 . Christopher Laschs Das Zeitalter des Narzißmus, das viel Einsichtsreiches über die Lebensbefindlichkeiten der westlichen Leistungsgesellschaften vermerkte, registrierte in den Vereinigten Staaten der 1970er ebenfalls diesen um sich greifenden Ichkult narzisstischer Selbstbespiegelung. Er beschrieb, wie die »mit pathologischem Narzißmus einhergehenden psychologischen Strukturen […] sich in weniger geballter Form auch in so vielen charakteristischen Zügen der amerikanischen Kultur manifestieren – in der Faszination von Ansehen und Berühmtheit, der Angst vor Wettbewerb, der Unfähigkeit, Mißtrauen zu überwinden, der Seichtheit und Flüchtigkeit persönlicher Beziehungen«49 . Diese kaufimpulsgetriebene Kultur des Narzissmus, von der sich Lasch umgeben sah, stimuliert das Bedürfnis des Einzelnen, sich allzu ausgiebig mit sich zu beschäftigen, sich als Individuum zu enträtseln, sich zu finden und zu verwirklichen. Die Persönlichkeitszuspitzungen dieser Ichbezogenheit begriff Lasch allerdings gesellschaftsanalytisch nicht als starken Überindividualismus, sondern im Gegenteil als ein Zeichen geistiger Verzweiflung, die Menschen mit ramponierter, selbstabschätziger Individualität befallen hat. Denn die Begierden eitler Selbstgefälligkeit, die im Narzissmus keimen, sind nicht der Lage, »das innere Hungergefühl [zu stillen], aus dem sie 46 47 48
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Reichardt: 2014, S. 71 Wolfe, Tom: »The ›Me‹ Decade and the Third Great Awakening«, in: New York Magazine, 23.8.1976 Ebd.; »Each soul is concentrated on its own burning item … my husband! my wife! my homosexuality! my inability to communicate, my self-hatred, self-destruction, craven fears, puling weaknesses, primordial horrors, premature ejaculation, impotence, frigidity, rigidity, subservience, laziness, alcoholism, major vices, minor vices, grim habits, twisted psyches, tortured souls – and yet each unique item has been raised to a cosmic level«; Ebd. Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzißmus, München: DTV 1986, S. 199
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hervorgehen. Persönliche Beziehungen, die sich auf Anteilnahme an Ruhm, auf das Bedürfnis gründen, zu bewundern und bewundert zu werden, erweisen sich als flüchtig und unzulänglich.«50 Das »Zeitalter des Narzissmus« ist Ausdruck einer sich einschleichenden Identitätskrise, verursacht durch die hypostasierten Gewalten des Kapitalismus und der staatlichen Bürokratien, die eine Auszehrung kultureller Traditionen, eine Schwächung institutioneller Autoritäten, eine Instabilität der menschlichen Beziehungen, die ihren Bindungscharakter eingebüßt haben, und im Ergebnis »die innere Armut der narzißtischen Persönlichkeit« mit sich bringen. Nach durchaus gängigen kulturpessimistischen Bildern sah Lasch durch den Kapitalismus »die Kompetenz des Menschen im täglichen Leben auf einem Gebiet nach dem anderen beschnitten und das Individuum von Staat, Firmen und anderen Bürokratien abhängig gemacht. Der Narzißmus stellt die psychologische Dimension dieser Abhängigkeit dar.«51 Die narzisstischen Selbstbeschäftigungen der Amerikaner bilden eine »durch Werbung, künstliche Bedarfsweckung und die gesamte hedonistische Massenkultur« entflammte kulturelles Syndrom: »Auf den ersten Blick scheint eine auf Massenkonsum beruhende Gesellschaft die Hemmungslosigkeit in ihren eklatantesten Formen zu schüren. Genauer betrachtet, versucht die Werbung jedoch […] vielmehr die Selbstzweifel [zu fördern]. Sie versucht, Bedürfnisse zu erzeugen, nicht etwa zu erfüllen […]. Indem sie den Konsumenten mit Bildern des süßen Lebens umstellt und sie mit dem Glanz von Berühmtheit und Erfolg verknüpft, ermutigt die Massenkultur den gewöhnlichen Bürger, Geschmack am Außergewöhnlichen zu finden, sich mit der privilegierten Minderheit zu identifizieren und sich in seiner Phantasie ihrem Leben in exquisitem Komfort und sinnlichem Raffinement anzuschließen. […] Indem sie grandiose Ansprüche weckt, weckt sie auch Selbstanklage und Selbstverachtung.«52 Laschs Mentalitätsgeschichtsschreibung schließt damit, dass sich in der Gesellschaft ein Zynismus breitmacht, Seelenbefindlichkeiten, die Resignation und Passivität bewirken und Disziplin und Willensbereitschaft unterminieren.53 Die narzisstisch Gekränkten finden nicht mehr zurück in die eigene Haut. Hedonismus und Permissivität, aufreibende Fixierungen auf unnatürliche, außenbestimmte Bedürfnisse, sind Zeichen für
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Ebd., S. 38 Ebd., S. 26 Ebd., S. 204; Lasch verweist auf eine fatale Übertragung des massenmedialen Starkults auf die alltäglichen Lebensrealitäten: »Mit ihrem Starrummel und ihrem Bemühen, Berühmtheiten mit Glamour und erregendem Spektakel zu umgeben, haben die Massenmedien die Amerikaner zu einer Nation von Fans und Kinogängern gemacht. Die Medien steigern narzißtische Träume von Ruhm und Ehre und geben ihnen Nahrung; sie ermutigen den einfachen Mann auf der Straße, sich mit den Stars zu identifizieren und die gewöhnliche Masse zu verachten, und sie erschweren es ihm zunehmend, die Banalität des Alltagslebens zu ertragen.«; ebd., S. 38 Dies zeigt sich, wie Lasch mit konservativer Note betont, in den liberalen Erziehungsprinzipien. Diesen sei es »unmöglich, Selbstbeherrschung oder Selbstdisziplin zu entwickeln; da aber die amerikanische Gesellschaft diese Eigenschaften ohnehin nicht mehr schätzt, arbeitet die Abdankung der Elternautorität bei den Jugendlichen auf diejenigen Charakterzüge hin, die in einer korrupten, permissiven und hedonistischen Kultur gefragt sind.«; ebd., S. 201-202
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die Entfremdung und Vereinzelung des Großstadtmenschen der postmodernen Konsumwelt: »nicht nur die Aufrichtigkeit, die unproblematische Übereinstimmung des inneren und äußeren Menschen, wird unter diesem Druck zerstört. Gefährdet wird schließlich auch ihr Ersatz, das starke, notfalls amoralische Daseinsgefühl eines authentischen Lebens.«54 Das Sinndefizit, das unsere spätkapitalistischen Gesellschaften in ihrem kulturellen Richtungsverlust aufreißt, führt zu einem hypertrophen Anspruchsdenken, wie nicht nur Odo Marquard festhielt: »die heutige Anspruchsgesellschaft kompensiert durch Konsumaufwand das Sinndefizit. […] Die Ansprüche wachsen, weil der Sinn ausbleibt: die moderne Wohlstandsgesellschaft ist – objektiv vergeblich – der Versuch, den verlorenen Sinn durch Luxus zu ersetzen«55 . Die Anstrengungen, in unserem tief in die Vergesellschaftung hineinreichenden, gegenwärtigen kulturellen Ungemach eine Form zu finden, besser zu leben, eine Steigerung des Ichs zu erreichen, die der Unermesslichkeit des Lebens selbst gerecht wird, zeigen sich uneinsichtig, schlagen augenscheinlich eine unglückliche, falsche Richtung ein. Denn: »Wenn irgendwo Erwartung und Erfüllung divergieren, so daß Enttäuschungen, Erfüllungsdefiziterlebnisse, Mangelerfahrungen entstehen, dann gibt es niemals nur eine, sondern dann gibt es stets zwei Möglichkeiten der Erklärung: entweder nämlich ist da zu wenig Erfüllung, oder es ist da zu viel Erwartung«56 . Gelingende Authentizität wird dabei zum Richtmaß. Der subjektivistische Habitus der alternativen Linken, der die Persistenz konformistisch-konservativer Normen und Werte demolierte, verallgemeinerte sich als weitschweifige Selbstbespiegelung der subjektiven Authentizität zum Blueprint für die Akteure des neoliberales Wirtschaftsindividualismus, für »Flexibilisierungsgewinner[], die den klassisch-popkulturellen Zusammenhang zwischen ästhetischer Kennerschaft und ethischen Konsequenzen aufgekündigt haben«57 . Der Gegenwartskapitalismus hat den Authentizitätsimperativ in das marktwirtschaftliche Leistungsprinzip integriert, diktiert ihn mit schikanöser Wirkung auf dem durch ein Flexibilitätsdiktat zunehmend in seinen Möglichkeiten verlorenen, zu einem Leben in der Nichtfestlegung verurteilten Westmenschen, wie es Diederichsen beispielhaft festhält: »flache Hierarchien, selbstverantwortliche Angestellte, Selbstverwirklichung und Selbstvermarktung, Flexibilität […]. Jedes dieser Stichworte klingt in seiner ersten Fassung nach der Erfüllung einer Forderung, die Linke und Progressive noch bis in die 70er hinein gestellt haben, heute aber bezeichnet es eine grimmige Realität scheinbar unausweichlicher neoliberaler Zwänge.«58 Nun muss man seine Haut als authentische Individualität zu Markte tragen. Die neoliberale Ellbogengesellschaft verpflichtet nicht nur ihre Erfolgsmenschen zu optimie54 55 56 57 58
Baumgart: 1981 Marquard, Odo: Apologie des Zufälligen, Stuttgart: Reclam 1986, S. 39 Ebd., S. 40 Diederichsen, Diedrich: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999, S. 279 Diederichsen, Diedrich: Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008, S. 193-194
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rungsverpflichtetem Nonkonformismus, der hedonistische Persönlichkeitsteile in die Erwerbsexistenz einbringt. Nicht nur in der fehlgeleiteten Eigenliebe der geldfiebrigen Yuppiewelt, deren arrogantes Arschlochverhalten auf durchaus kindlich-narzisstische Ich-Fantasien stützt, oder in der nicht weniger narzisstischen Nivellierung der entsubjektivierten Stars des massenmedialen Mainstreams der überhitzten digitalen Kulturindustrie, deren Wirken und Wertigkeit sich auf ihre trendplatzierende und einflussvermittelnde Funktion reduziert – und zeigt, dass Authentizität zu einer »Frage der Form und der Kontrolle des Repertoires der konstitutiven Elemente und von deren Inszenierung« wird, einhergehend mit dem Rezipienten-Einsicht, dass »alles Spektakel ist […] [und] es nur noch auf dessen Form ankommt«, was »eine Mythisierung und Mythologisierung auf erweiterter Stufenleiter«59 markiert.
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Das »Ideal der Authentizität«
Die Kulturkritik am narzisstischen Individualismus, die Alasdair MacIntyre und Christopher Lasch beispielhaft artikuliert haben, sieht in dem autonomietrunkenen wie identitätsunsicheren Selbstverwirklichungsbemühen unserer Zeit Lebensparameter, die zu bändigen oder wenigstens zu mäßigen wären, denn »[d]as Resultat dieses ganzen Strebens nach Selbstverwirklichung und Authentizität stellt sich als Verlust verbindlicher moralischer Normen und Werte dar, an deren Stelle ein moralischer Subjektivismus getreten ist, der zugleich – aus Mangel an vorgängiger Verbindlichkeit – zu sozialem Atomismus tendiert.«60 Auch Charles Taylor rückt diese verkrampften Züge eines verkürzten »Ideals der Authentizität« ins Zentrum der Entfremdungsprozesse der Moderne, da der Individualismus einen Atomismus ausgebildet hat, der »grundverkehrt« sei und »in mancher Hinsicht nachgerade seine eigenen Absichten [vereitle]. Es trifft offenbar zu, daß die Kultur der Selbstverwirklichung viele Menschen dazu verleitet hat, die Belange, die darüber hinausgehen, aus den Augen zu verlieren. Auf der Hand liegt ferner, daß diese Kultur triviale und hemmungslose Formen angenommen hat.«61 Der atomistische Individualismus, der die Selbstverständigung unserer Gegenwartsgesellschaft beherrscht, schürt das Entrückt-Sein eines »ausdehnungslosen«, »punktförmigen« Subjekts, das seine responsive Einbettung im Sozialen verleugnet. Er erschaffe, wie Hartmut Rosa schreibt, »das Schreckgespenst einer Welterfahrung, in der das gleichsam zu einem
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Reck, Hans Ulrich. »Authentizität als Hypothese und Material – Transformation eines Kunstmodells«, in: Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink 2006, S. 250 Breuer: 2000, S. 111 Taylor: 1995, S. 22; »[I]n einer Welt wechselnder Zugehörigkeiten und Beziehungen nehmen der Substanzverlust, die Fadenscheinigkeit der Bindungen und die Seichtheit der Gebrauchsdinge rasch zu. Von noch unmittelbarerer Wirkung sind die Konsequenzen im öffentlichen Bereich. Eine Gesellschaft von Selbsterfüllern, deren Zugehörigkeiten in immer höherem Maße als widerrufbar angesehen werden, ist außerstande, die zur öffentlichen Freiheit erforderliche starke Identifikation mit der politischen Gemeinschaft zu tragen.«; Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 877
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Architekturen des Inauthentischen
ausdehungslosen Punkt geschrumpfte Selbst sich wie durch eine Mauer von allem Lebendigen abgetrennt findet«62 . Anders als aber MacIntyre oder Lasch ist Taylor, der eine Liberalismus-, aber keine Liberalitätskritik im Auge hat, der Meinung, das nicht das »Ideal der Authentizität« selbst die Schuld an den verschiedenen Krisenerscheinungen unserer zunehmend atomisierten, sich in ihre Subjektivitäten verlierenden Gesellschaften trägt, er geht »den Weg des Weder-Noch. Weder gehört er zu den uneingeschränkten Anhängern unserer Authentizitätskultur, noch lehnt er diese kategorisch ab«63 . Denn er sieht in ihr »ein eindringliches moralisches Ideal wirksam […], wie sehr dessen Äußerung auch heruntergekommen und travestiert sein mag.«64 Taylor leitet aus der evidenten Feststellung, dass das allgemeine Merkmal des menschlichen Lebens »sein durch und durch dialogischer Charakter«65 sei und daher die »inneren Forderungen des Authentizitätsideals« auf dialogische Bindungen, die Anerkennung des Ichs durch Andere in seiner Gesellschaftlichkeit, angewiesen sind, die Unzulänglichkeit des atomistischen Individualismus ab. Er insistiert, dass »das Subjekt selbst […] in der Frage, ob es selbst frei ist, nicht die letzte Autorität sein [kann], denn es kann nicht die oberste Autorität sein in der Frage, ob seine Bedürfnisse authentisch sind oder nicht, ob sie seine Zwecke zunichtemachen oder nicht«66 . Denn die gesellschaftliche Existenzweise des Menschen basiert auf »dialogisch« ausgetragenen intersubjektiven Artikulationsbemühungen gemeinschaftlich geteilter Überzeugungen, die über güterabwegende Wunschpräferenzen, die Taylor als »schwache Wertungen« bezeichnet, hinausgehen und auf übergreifende qualitative Wertunterscheidungen, die er »starke Wertungen« nennt, rekurrieren. In ihrem begrenzten Repertoire des Urteilens verkennen die rein egoistischen Profilierungen eines konsumhedonistischen Selbst jedoch ihre innere Konstitution, diese unvermeidliche Rückbezüglichkeit auf qualitative »starke Wertungen«.67 Das atomistische Subjekt begreift nicht, dass es »uns, sofern wir zu einer sinnvollen Selbstdefinition gelangen wollen, […] unmöglich ist, den Horizont, vor dem die Dinge für uns Bedeutsamkeit gewinnen, zu annullieren oder zu bestreiten«68 , und kann daher nicht anders, als seine eigenen 62
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Rosa, Hartmut: »Is There Anybody Out There? Stumme und resonante Weltbeziehungen – Charles Taylors monomanischer Analysefokus«, in: Michael Kühnlein/Matthias-Lutz Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011, S. 24 Breuer: 2000, S. 111 Taylor: 1995, S. 22 Ebd., S. 41 Taylor, Charles: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 125 »Der grundlegende Irrtum des Atomismus […] besteht darin, daß er nicht in Betracht zieht, in welchem Maße das freie Individuum mit seinen eigenen Zielen und Wünschen, dessen gerechte Entlohnung er zu sichern sucht, seinerseits nur möglich ist innerhalb einer bestimmten Art von Zivilisation, daß es einer langen Entwicklung bestimmter Institutionen und Praktiken, der Herrschaft des Gesetzes, der Regeln wechselseitiger Achtung, der Gewohnheiten gemeinsamer Beratung, gemeinsamen Umgangs, gemeinsamer kultureller Selbstentwicklung und so weiter bedurfte, um das moderne Individuum hervorzubringen«; ebd., S. 175 Taylor: 1995, S. 47; Auch Williams verweist darauf, dass Selbstbilder durch Außenbeurteilungen falsifiziert werden können: »Das Vorhaben, ein in sozialer oder rein persönlicher Hinsicht authen-
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Absichten zu sabotieren. Die Banalität individualistischer Lebensstilpraxen liegt dann »nicht daran, das sie der Kultur der Authentizität angehören, sondern daran, daß sie in krassem Gegensatz zu den Erfordernissen dieser Kultur stehen. Eben dadurch, daß man Forderungen aus dem Bereich jenseits des eigenen Selbst ausklammert, macht man die Bedingungen der Bedeutsamkeit zunichte und riskiert daher die Trivialisierung.«69 In dieser Verkümmerung der »Tiefendimensionen« der Individualität verliert der Mensch als selbstinterpretierendes Subjekt die Einsicht, dass das Individuum und seine fundamentalsten Belange untrennbar an »starke Wertungen«, an gemeinschaftlich geteilte Ideale und Lebensverbildlichungen verbunden sind. Bei ihrer Beschädigung »wäre ich nicht länger ein Subjekt, das imstande ist, zu wissen, wo es steht und welche Bedeutung die Dinge für es besitzen, ich würde einen schrecklichen Zusammenbruch genau der Fähigkeiten erleiden, die mich als Handelnden definieren«, so Taylor: »[I]ch würde einen Großteil dessen verleugnen, aus dem heraus ich die Bedeutung der Dinge für mich bewerte und bestimme. Ein solche Verleugnung würde sowohl in sich selbst inauthentisch sein als auch mich unfähig machen zu sonstigen authentischen Wertungen.«70 Diese Inartikuliertheit der »moralische[n] Kraft des Ideals der Authentizität«71 in unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis beruht darauf, wie Taylor ausführt, dass der Liberalismus, der unsere »Kultur der Authentizität« und den Individualismus im Allgemeinen als Freiheitsgewinn des Einzelnen gutheißt, vom Gedanken getragen ist, »eine liberale Gesellschaft müsse sich neutral verhalten mit Bezug auf Fragen, die die konstitutiven Eigenschaften des guten Lebens betreffen«72 und daher mit Bedacht Theorien vom »Wesen des Menschen« zurückweist, und erst Recht politische Konzepte einer Unterordnung des Einzelnen unter eine Gemeinwohlvorstellung wegmoderiert, weil diese die Grenzen der individuellen Freiheit einschnüren. Demgegenüber steht ein Konservativismus, dessen Ordnungsvorstellungen sehr wohl die Idee der Wertgebundenheit des Lebens kennzeichnet, doch ist diesem Authentizität, die er mit der sich ausbreitenden Beunruhigung über den Individualismus in Verbindung bringt, keine »Tugend«.73 Taylor, der sich selbst gegen seine Zuordnung zur Strömung des Kommunitarismus wehrt, teilt mit diesem eine auf gemeinsamen Wertvorstellungen und konstitutiven
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tischen Leben zu führen, kann aus äußerlichen Gründen scheitern, ohne dass dieses Resultat die Vorstellung falsifiziert, es wäre ein authentisches Leben gewesen. Es gibt jedoch Umstände, unter denen diese Vorstellung tatsächlich falsifiziert werden kann; und in solchen Fällen werden die Hoffnungen, die sich der Akteur auf ein sinnvolles und befriedigendes Leben gemacht hat, durch das Geschehen nicht nur bestritten, sondern widerlegt.«; Williams: 2003, S. 306-307 Taylor: 1995, S. 50 Taylor: 1992, S. 37 Taylor: 1995, S. 24 Ebd., S. 25 Neoaristoteliker wie MacIntyre sind natürlich der Ansicht, »es gebe tatsächlich so etwas wie das Wesen des Menschen, dessen Verständnis zeige, daß bestimmte Lebensweisen höher Stehen als andere und besser sind als diese. […] Doch Philosophen, die jene Auffassung vertreten, sind im allgemeinen Gegner des Ideals der Authentizität. Dieses gehört nach ihrer Anschauung einer verfehlten Abweichung von den in der Natur des Menschen angelegten Maßstäben.«; ebd., S. 27
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Übereinkünften bezugnehmende Vorstellung einer moralischen Erneuerung des politischen Lebens, die »von dem religiös inspirierten Wunsch einer Restituierung verbindlicher Werte geprägt«74 ist. In der unsere abendländischen Gesellschaften definierenden Dichotomie zwischen einer desengagiert-instrumentellen Rationalität und einer romantisch-expressiven Weltsicht ergreift er allerdings klar Partei für eine »romantische Konzeption der Befreiung«, weil seine Rekonstruktion der für die neuzeitliche Epoche konstitutiven moralischen Quellen des Selbst zur Einsicht kommt, das sich Authentizität zum sinnstiftenden Ziel einer gelingender Identitätsbildung und eines gedeihliches Lebens entwickelt hat, das man gegen das Mechanistische und Instrumentelle des atomistischen Individualismus durch Neuartikulierung zur Entfaltung bringen muss. Es ist ein Ideal mit historisch eingeschränkter Geltung, wie alle Ideale zeitgebunden und kulturabhängig, aber etwas, das man nicht ignorieren, und das mit man nicht einfach mit der Kleidung ausziehen kann.75 Für die Selbstdeutungen des in den Expressivismus eingebetteten Menschen »ist die Vorstellung von zentraler Bedeutung, daß unsere innere Natur zum Ausdruck kommen muß. Die verkehrte Stellung der Vernunft ist die der Vergegenständlichung und des Gebrauchs instrumenteller Vernunft: die richtige Stellung ist die, die das zu authentischem Ausdruck bringt, was wir in uns haben.«76 Und an dieses Authentizitätsziel, das unsere romantisch-expressiven Modelle der Selbstverwirklichung inspiriert, ist eine gewisse Aufrichtigkeitserwartung geknüpft, wie auch Bernard Williams anmerkt: »Die Authentizität – oder zumindest das Streben nach Authentizität als einem reflektierten Ideal – scheint auf einem Begriff der Redlichkeit zu beruhen, der Aufrichtigkeit und ein mutiges Sich-der-Wahrheit-Stellen miteinander verbindet«77 .
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Breuer: 2000, S. 62 Hartmut Rosa arbeitet heraus, dass Taylor zwar die Artikulation einer »philosophischen Anthropologie« anstrebt, die die Konstitution des Selbst in einer situierte Lebensform und in durch evaluative Selbstdeutungen erschlossenen moralischen Topographien als »unhintergehbare Bedingung einer Selbsterkundung, wie sie jeder Prozeß geglückter Identitätsbildung erfordert«, beschreibt. Dieser »Hintergrund eines evaluativen Begriffsnetzes, welches das Ganze des menschlichen Lebens kontrastiv nach ethischen Gesichtspunkten des Guten oder des Schlechten auszulegen erlaubt« (Rosa: 1998, S. 10), ist allerdings kulturabhängig. Rosa schließt daher, »daß es in der Philosophie Taylors in Wirklichkeit zwei Begriffe des Selbst gibt, die streng zu unterscheiden sind: Einem anthropologischen Konzept, welches sich um die Klärung der universellen Bedingungen der Möglichkeit bemüht, ein handelndes menschliches Subjekt und eine Person zu sein, steht der Begriff des spezifisch neuzeitlichen Selbst gegenüber, dem bereits eine spezifische moralische Landkarte und daher eine konkrete Identitätskonzeption zugrunde liegt.«; ebd., S. 83 Taylor: 1992, S. 200; »Der romantische Expressivismus entsteht aus dem Protest gegen das Aufklärungsideal der desengagierten instrumentellen Vernunft und die daraus hervorgehenden Formen des sittlichen und gesellschaftlichen Lebens: gegen eindimensionalen Hedonismus und Atomismus.«; Taylor: 1996, S. 721 Williams: 2003, S. 280; Die Erfüllung dieser Redlichkeitsbedingung hebt eine weitere Eigenheit der Selbstverwirklichung, die Rosa unterstreicht, jedoch nicht auf: die »prinzipiell unabschließbare Natur des Interpretationsprozesses«. »Während es auf der einen Seite einen inhärenten, in der Natur von ›Sprachwesen‹ verankerten Zwang oder Drang dazu gibt, sich über Aspekte der unbewußten Interpretationsebene, des impliziten Hintergrundbildes, das wir von uns und der Welt haben und das unserem Selbstverständnis und unseren Handlungen zugrundeliegt und uns dabei konstituiert, bewußt zu werden und ihre reflexive Klärung anzustreben, ist es auf der anderen Sei-
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Das Streben nach Authentizität impliziert bei Taylor allerdings keinen Essentialismus, der eine innere »Wesenheit« des Selbst, generell einen überzeitlichen, ungeschichtlichen Begriff des Menschen postuliert.78 Vielmehr »erscheint das Ich-Modell des Inneren Kerns als eine falsche Antwort, aber auf eine richtige Frage.«79 Entscheidend für die Herstellung und Meisterung des eigenen Selbst ist »eine Bestimmung des Wie des Wollens«, wie Christoph Menke Taylor interpretiert: »Wenn das Ideal der Authentizität oder Selbstverwirklichung sich auf das Wie, nicht das Was des Wollens bezieht und wenn das Was des Wollens immer schon sozial und kulturell normiert ist, dann fordert das Ideal der Authentizität oder Selbstverwirklichung nicht, das Eigene oder die innere Natur des Selbst statt der sozial bestimmten normativen Gehalte zu wollen, sondern in Bezug auf die sozial bestimmten normativen Gehalte seine innere Natur zu verwirklichen.«80 Instanz für die sinn- und selbstverständnisstiftende Selbstverwirklichung ist die Transfiguration der Innerlichkeit in die »subtileren Sprachen« künstlerischer Selbstäußerung. So, wie es seit dem Expressivismus der Romantik für die nun epiphanische Kunst gilt, die seither »im geistigen Leben eine zentrale Stellung besetzt und ist in mancher Hinsicht an die Stelle der Religion getreten [ist]. Die Ehrfurcht, die wir vor künstlerischer Originalität und Schöpferkraft empfinden, rückt die Kunst an den Rand des Numinosen«81 . Was die Akzentverschiebungen des Epiphanischen, die Taylor an den Kunst- und Literaturentwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts nachzeichnet, verbindet, ist allerdings keine Befreiungs- oder Autonomisierungsdynamik, sondern ein schwieriges, aber fruchtbar zu machendes Spannungsverhältnis der expressiven Selbst-
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te doch niemals möglich, diesen Selbstinterpretationsprozeß erschöpfend abzuschließen«; Rosa: 1998, S. 90-91 Auch Ferrara reduziert das, was es heißt, ein authentisches Ich zu sein, nicht auf eine »subjektphilosophische« Individualität, sondern definiert die Ethik der Authentizität im reflexiven Urteil unter Intersubjektivitätsbedingungen: »The authenticity-thesis and the perspective of intersubjectivity are complementary. The authenticity-thesis shares the assumption that the kind of subjectivity capable of ›grounding‹ validity is an intersubjectively constituted sort of subjectivity but, unlike the intersubjective paradigm, does not assume that such capacity to ground validity derives from the subject’s property of being intersubjectively constituted.« (Ferrara: 1998, S. 13) Diese Reflexivität zielt nicht einem Universalismus im Sinne einer Angleichung des eigenen moralischen Handels an allgemeine Prinzipien: »For the ethic of authenticity, instead, the willingness to abide by formal principles is not the exclusive constituent of moral worth. Rather, all ethics of authenticity start from the assumption that in order to be a worthy moral being, we must not deny or try to suppress, but rather acknowledge the urges which deflect us from our principles, while at the same time continuing to orient our conduct to the moral point of view.«; ebd., S. 7 Menke: 2011, S. 223, Menke erläutert dies dahingehend, dass sich ein »Selbst, das sich auf seinen Inneren Kern bezieht, […] nur feststellend auf die Stärke oder Schwäche seiner Wünsche« bezieht. Es »wird in diesem Selbstverhältnis der Selbstobjektivierung oder -verdinglichung genau dazu unfähig, was es eigentlich leisten wollte: eine Antwort auf die praktische Frage zu geben, was es tun oder wie es leben will. Das Ich-Modell des Inneren Kerns reduziert einen Akt des Willens auf eine registrierende und damit objektivierende Feststellung.«; ebd., S. 224 Ebd., S. 227 Taylor: 1996, S. 655
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bestimmung mit den Dezentrierungseffekten einer fragmentierten, atomisierten Gesellschaft, denn das »menschliche Leben ist von irreduzibler Mehrschichtigkeit. Das Epiphanische und das gewöhnliche, wiewohl unentbehrliche Reale können nie ganz in Einklang gebracht werden, und wir sind dazu verurteilt, auf mehr als einer Ebene zu leben […]. Die Einsicht, daß wir auf vielen Ebenen leben, muß gegen die Anmaßungen des konsolidierten – herrschenden oder expressiven – Selbst durchgesetzt werden.«82 Eine wichtige Differenzierung, die Alessandro Ferrara mit Blick auf den Verhältniszusammenhang der narrativen Grundbestandteile der Authentizitätsartikulation einführt, ist dann allerdings die zwischen zentrierten und dezentrierten Individualitätsbegriffen. Zentrierte Positionen, zu denen Ferrara Taylor – nicht nur wegen dessen robuster kommunitaristischer Positionsbeziehung und wenig vorsichtigen theoretischen Formulierungen zur neuzeitlichen Güterordnung – einreiht, setzen das Innenverhältnis des Subjekts und seine konstitutiven Werte in eine Ordnung.83 Während für die radikalere dezentrierte Auffassung die Vorstellung eines hierarchisierten, kohärenten Lebenslaufs essentialistischen Mentalitätsrelikten aufsitzt, ihr erscheint »narratability as the epitome of inauthenticity. For every narrative assumes that there is order in the material to be narrated.«84 Ungeachtet aber der Wünschbarkeit einer zentrierten Selbstbeschreibung, die allein dahingehend anzustreben ist, als die Psychologie kognitive Dissonanzerfahrungen als belastenden Zustand für das Ich beschreibt, ist eine dezentrierte Auffassung die philosophisch ergiebigere, weil sie das Ich in seiner Zeitgebundenheit und Kulturabhängigkeit drastischer akzentuiert. Eine Beschäftigung mit dem Inauthentischen hat an diesem Punkt einhaken: die kontingente Konstruktion des Sozialen zu beleuchten. Der reflexionsleitenden Einsicht des anti-essentialistischen Konstruktivismus folgend lässt sich nämlich gerade am Inauthentischen und Iterativen der Verhältnisse das Bewusstsein für Machtverhältnisse und wie diese verinnerlicht werden, schärfen – beispielsweise an hintertriebenen Authentizitätserwartungen, die sexual- und körperpolitische Regulative heteronormativer Männlichkeit und Weiblichkeit verstetigen sollen. Im Idealfall führen Inauthentizitätserfahrungen dazu, Authentizität nicht länger als substantialistisch begründetes Differenzkriterium zu begreifen, sondern »als Setzung und Selbstbeschreibung […], deren
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Ebd., S. 832 »Authors who propound a centered notion of authenticity do wish (1) to maintain some kind of orderly stratification of the layers of an identity, (2) to continue to speak of a core and a periphery, and (3) to make sense of the plurality of experiences, detours, and side-narratives to a life-history as variations on a unique theme. Authentic subjectivity, understood along these lines, neither renounces unity and coherence in favor of an unstructurable self-experience nor seeks a coercive coherence stemming from principles external to the self. Rather, it aims at reconciling all the constitutive moments of the self under the aegis of a unique life-project, which retains the status of a normative construct in the light of which the quality of the life-course can be assessed.«; Ferrara: 1998, S. 56 Ebd., S. 56
1 Zur Begriffsgeschichte des Authentischen
Beobachtung Einblick in Entstehungs-, Erhaltungs- und Transformationsregeln kultureller Systeme geben kann«85 . Eine Beschäftigung mit dem Inauthentischen dient dann einer Apologie des Zufälligen. Anders als es die philosophische Parole Odo Marquards intendierte, liegt das Interesse allerdings an der emanzipatorischen Wandelbarkeit des »Beliebigkeitszufälligen«, nicht an der Sichtbarmachung der Beharrungskräfte des uns untilgbar prägenden »Schicksalszufälligen« der Herkunftswelt. Inauthentizitätserfahrungen stimulieren einen antimetaphysischen Skeptizismus, der wie Marquard schrieb, »ein[en] Sinn für Gewaltenteilung« stiftet, für ein In-Schach-Halten der Realität über eine detranszendentalisierende »Teilung jeder Alleingewalt in Gewalten, die Teilung der Geschichte in Geschichten, die Teilung der sozialen und ökonomischen Macht in Mächte, die Teilung der Philosophie in Philosophien«, um daraus eine für die Individualität des Einzelnen befruchtende »Freiheitswirkung der generellen – gewaltenteiligen – Buntheit der Lebenswirklichkeit«86 zu stimulieren. Der skeptische Zweifel bezweckt jedoch nicht wie bei Marquards kokettierend unorthodoxen Konservativismus eine Bejahung kulturstabilisierender »Wandlungsträgheit« aus dem Argument, dass das Leben zu kurz ist, und wir daher »unvermeidlich wandlungsträge anknüpfen [müssen] an Vorgegebenes, das stets zu den kontingenten Besonderheiten gehört, aber nicht im Sinne einer beliebig wählbaren und abwählbaren Beliebigkeit, sondern im Sinne eines kaum entrinnbaren Schicksals«87 . Während Marquard den Menschen einen »elementaren Fatalismusbedarf« zugesteht, den gerade der zu akzeptieren hat, »der kein Fatalist sein will«, weil erst die Einsicht, dass man an Fäden angebunden ist, die einen führen, und »viele Dinge ›immer schon‹ ohne Zutun laufen und gelaufen sein müssen, […] die Möglichkeitsbedingung des Handelns in Reichweiten«88 erzeugen, liegt in der Authentizitätskritik, die deren metaphysische Autorität entqualifizieren will, das Augenmerk darin, sich in dem Gedanken der Veränderlichkeit zu üben. Aber auch Odo Marquard schließt aus seiner Einsicht, dass wir Menschen »stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen« sind, dass wir am besten daran tun, die unumgängliche Begrenztheit unserer Denkmodelle nicht in ein abstraktes Absolutes überschreiten zu wollen und stattdessen zum dem gelangen sollen, »was – dieserhalb – für uns immer unvermeidlich ist: eine Form der Einwilligung in das Zufällige.«89 Ei85
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Knaller, Susanne: »Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs«, in: dies./Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink 2006, S. 32; Unter den Voraussetzungen, die den Authentizitätsbegriffen Taylors und Ferrara unterliegen: »Eigentlichkeit und Differenz würden hier nicht kompetieren, Wertkonzeptionen nicht auf Prinzipien, sondern auf reflexiven Urteilen basieren. Damit verabschiedet […] [man] sich von der Vorstellung eines präexistierenden idealen Selbst bzw. von Einzigartigkeit im Sinn von substantieller Selbstidentität und damit Differenz zu anderen.«; ebd., S. 24 Marquard: 1986, S. 7 Ebd., S. 67; »Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl. Ich sage, wohlgemerkt, nicht: wir Menschen sind nur unsere Zufälle; ich sage nur: wir Menschen sind nicht nur unsere Wahl; und ich sage außerdem nur noch: wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl.«; ebd., S. 131 Marquard : 1989, S. 65 Marquard : 1986, S. 6
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ne solche »Bereitschaft zur eigenen Kontingenz« hat ihm »nichts mit Beliebigkeitslust zu tun«90 , sondern stützt einen »Usualismus«, eine Bejahung des »Sinn[s] fürs Usuelle, für die Unvermeidlichkeit der Üblichkeiten«91 , die es wert sind, dass man sich mit ihnen befasst. Denn er befürchtet, dass wenn den Menschen »ein Wandlungsübermaß zugemutet wird […] – etwa durch ein Überquantum an Entbesonderungspensen, an Universalisierungspflichten«, wir mit »– mit ruinierenden Folgen – das Menschliche«92 vergessen.
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Authentizität als ästhetische Kategorie
Kunsttheoretische Platzierungen des Authentifizierungsbegriffs finden sich, in enger zeitlicher und intellektueller Nähe, bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Was die Gedanken der Philosophen der Frankfurter Schule in Vibration brachte, waren die Bedingungen der Selbstständigkeit der Kunst in einem Jahrhundert, in dem der Fortschritt der Reproduktionstechniken und deren Instrumentalisierung in den Akkumulations- und Distributionsmechanismen der Massenmedien einen »Verblendungszusammenhang« instrumenteller Vernunft aufspannen, durch den »Verdinglichung«, wie Albrecht Wellmer schrieb, »gleichsam von allen Seiten in die Poren der modernen Kunst ein[dringt]: vonseiten der Gesellschaft, deren technische Rationalität auf die konstruktiven Verfahren der Kunst abfährt […]; vonseiten der geschwächten Subjekte, die den Freiheitspotentialen der Kunst sich nicht gewachsen zeigen; und schließlich aus dem ästhetischen Material selbst, dessen Entwicklung die Individualisierung der Sprache in Sprachzerfall umschlagen lässt.«93 Die Verdinglichungsphänomene führen zu einem »Verlust an Echtheitserfahrung […], der als Entfremdung bezeichnet werden kann«. Unter diesen Rahmenbedingungen sei, so rekapituliert Mager, »[d]as Verlangen nach Echtheit […] jedoch unzeitgemäß und das Habhaftwerden des Originalen und Echten kann durch eine in erster Linie mediale Wirklichkeitsvermittlung nicht gewährleistet werden. Da dieses Verlangen aber dennoch besteht, bietet eine diffus positiv konnotierte, ›unbestimmte‹ Ersatzqualität wie Authentizität […] ein ideales Surrogat für Echtheit und Aura.«94 Zunächst taucht der Authentizitätsbegriff, wenngleich nicht als ästhetische Zentralkategorie, in Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf. Genauer: im Schlüsselgedanken des Aufsatzes, dass durch die Möglichkeit technischer Reproduktion das Auratische im Kunstwerk untergraben werde, das Benjamin als Erfahrung einer Unnahbarkeit, Echtheit und Einmaligkeit, als »Erscheinung einer Fer-
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Ebd., S. 8 Ebd., S. 7 Ebd., S. 68 Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 17 Mager: 2016, S. 33
1 Zur Begriffsgeschichte des Authentischen
ne, so nah sie sein mag«95 begriff, wird die semantische Assoziationsweite der später ausartikulierten Authentizitätskategorie negativ umfasst. Allerdings nicht dergestalt, dass sich die auratische Daseinsweise des Kunstwerks, die aus ihrer Ritualfunktion in traditionalen Kultzusammenhängen abgeleitet wird, umfänglich als das beschreiben ließe, was einmal Authentizität heißen wird, denn dieser weist er eine bescheidenere Stellung als Substitut der Kultkraft zu – »[u]nbeschadet bleibt die Funktion des Authentischen in der Kunstbetrachtung eindeutig: mit der Säkularisierung der Kunst tritt die Authentizität an die Stelle des Kultwerts.«96 Weil sich Benjamins von einer gegenromantischen Intention geleitete Charakterisierung auratischer Kunstwerke »auf de[r]en Einmaligkeit bezieht, […] steht dabei im Vordergrund das Interesse an ihrer Echtheit und Originalität, nicht an ihrer Authentizität im Sinne ästhetischen Gelingens und an ihrem objektiven Potential, produktive Wahrnehmungskrisen: ästhetische Erfahrungen zu provozieren.«97 Diese Authentizitätsdimension einer auktorial gelingenden Künstlerschaft, mag sie auch als »Wahrnehmungsgröße«98 , die sie ist, die Aurawirkung eines Kunstwerks maßgeblich prägen, hat Benjamins Aurabegriff tatsächlich nicht im Sinn, lediglich jene Authentizitätsdimension der Echtheit und Originalität, die »an die Materialität der Sache rückgebunden« ist: »Körperlich-materielle Unversehrtheit auf der einen Seite, fremdkörperartige Artifizialität auf der anderen Seite: so sieht die Ausgangssituation für ein Verständnis von Authentizität als Originalität aus. Sie verkörpert zugleich eine Ursprünglichkeit, die sich in dem Maße, wie deren Zeugenschaft an einem materiellen Träger haftet, sinnlich erfassen läßt.«99 Ein Defizit in Benjamins kunsttheoretischer Theorie ist jedoch, so Peter Bürgers Theorie der Avantgarde, die Überbetonung technischer Neuerungen (die es vergleichsweise in der Literatur so nicht gibt) für die strukturelle Entwicklung des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst. Benjamin mythologisierte den »entscheidende[n] Einschnitt in der Entwicklung der Kunst […] [zum] Resultat technologischer Veränderung. Emanzipation bzw. emanzipatorische Erwartung werden hier direkt an die Technik verknüpft.«100 Es 95
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 15 96 S. 17 97 Schäfer: 2015, S. 43 98 »Im Gegensatz zur Echtheit stellt die Aura eine reine Wahrnehmungsgröße. […]. Wichtiges Kriterium dabei ist die Einzigkeit eines Kunstwerks […]. Indem Benjamin […] Authentizität als Substitut für den Kultwert begreift, bezeichnet er damit auch den Ersatz von Echtheit und Aura durch Authentizität«; Mager: 2016, S. 31 99 Wetzel: 2006, S. 37; »Als ganz so gewiß erweisen sich die Nichtreproduzierbarkeit des Authentischen und die Trughaftigkeit des Simulakrums bei Benjamin jedoch nicht, […] [er] zeigt auch ein anderes, skeptischeres Wissen, das mit der Verschiebbarkeit der beanspruchten Kategorien operiert […]. Zwei Dinge aber sind es, die irreduzibel an die Einmaligkeit des Authentischen als ›Echtheit einer Sache‹ geknüpft sind, nämlich die materielle Dauer und die geschichtliche Zeugenschaft«; ebd., S. 36 100 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 38; Bürger widerspricht einer einhergehenden Periodisierung der Kunstgeschichte kongruent zur jener der Gesellschaftsformationen: »Einmal darf die technische Entwicklung nicht als unabhängige Variable aufgefasst werden, denn sie ist selber abhängig von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung; zum anderen darf man den entscheidenden Umbruch in der Entwicklung der Kunst in der bürgerlichen Ge-
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zeige sich aber, so Bürger, eine relative Selbstständigkeit der Teilsysteme und eine Indifferenz der ästhetischen Sphäre gegenüber gesamtgesellschaftlichen Krisenerscheinungen (– in Folge der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der einzelnen Teilsysteme). Des Weiteren vernachlässigt Benjamin damit die bürgerliche Emanzipation der Kunst vom Sakralen. Die praktische Folgenlosigkeit der Kunst in Hinsicht auf ihre intendierten Ziele, ein Resultat ihrer Autonomie als einer von der Lebenspraxis abgekoppelte Sphäre, ist keineswegs nur eine rein subjektive Seite der künstlerischen Produktion, sondern Teil einer gesellschaftlichen Dynamik: der Verselbstständigung der Kunst. Davon, »daß in der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft die Kunstwerke tendenziell ihre gesellschaftliche Funktion verlieren.«101 Adorno kritisierte in diese Richtung die zu »einfache Antithese zwischen dem auratischen und dem massenreproduzierten Werk, die, um ihrer Drastik willen, die Dialektik beider Typen vernachlässigt«, eine »Simplifizierung« freilich, die »der Reproduktionsarbeit zu ihrer penetranten Beliebtheit verhalf.«102 Das »von Benjamin mit sehnsüchtiger Negation beschriebene Phänomen der Aura« verleite »undialektisch gehandhabt, zum Mißbrauch. Mit ihr läßt jene Entkunstung der Kunst zur Parole sich ummünzen, die im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks sich anbahnt.«103 Die Aura aber ist, so Adorno, der im Gegensatz zu Benjamin einem elitären kulturdiagnostischen Vermassungsdiskurs anhing, der »Gehalt« des Kunstwerks, auch des entzauberten, und diesen kann man nicht »abschaffen und die Kunst wollen«. Entscheidend für den ästhetischen Authentizitätsdiskurs ist aber nicht die begriffliche Umarbeitung des Auratischen durch Adorno.104 Sondern seine Situationsbeschreibung der Kunst in ihrer Autonomie qua Funktionslosigkeit, die er zwangsläufig als Anverwandlung des entfremdeten Gesellschaftlichen ansieht, und deren Widerständigkeit sich nur mehr im avantgardistischen Kunstwerks als unverfügbares Nichtidentisches aufrechterhält. Die Erfahrung von Unverfügbarkeit lässt uns mit überempfindlicher Wahrnehmungsfähigkeit einen Blick auf die »utopische Idee einer überindividuell wahren, das heißt von Herrschaftsansprüchen ebenso wie von Selbstunterwerfung be-
sellschaft nicht monokausal auf die Entwicklung technischer Reproduktionsverfahren zurückführen.«; ebd., S. 41 101 Ebd., S. 42 102 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 89 103 Ebd., S. 73 104 Adorno beschreibt diese als »Atmosphäre«: »Was hier Aura heißt, ist der künstlerischen Erfahrung vertraut unter dem Namen der Atmosphäre des Kunstwerkes als dessen, wodurch der Zusammenhang seiner Momente über diese hinausweist, und jedes einzelne Moment über sich hinausweisen läßt.«; ebd., S. 408
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freiten Subjektivität«105 tun, die die verdingliche, instrumentelle Vernunft anderenorts kassiert hat. Authentizität als ästhetische Qualität soll bei Adorno »der Charakter von Werken sein, der ihnen ein objektiv Verpflichtendes, über die Zufälligkeit des bloß subjektiven Ausdrucks Hinausreichendes, zugleich auch gesellschaftlich Verbürgtes verleiht.« Die Authentizität des Kunstwerks geht damit über seine »Autorität« hinaus, denn mit diesem Begriff wäre zwar auch »die Gewalt bezeichnet worden, die solche Werke ausüben, nicht aber das Moment von deren Berechtigung kraft einer Wahrheit, die schließlich auf den gesellschaftlichen Prozeß zurückweist«106 . Das Authentische firmiert in Adornos Ästhetischer Theorie, die, wie Bürger einwirft, dazu neigt, »den geschichtlich einmaligen Traditionsbruch, den die historischen Avantgardebewegungen markieren, zum Entwicklungsprinzip der modernen Kunst überhaupt zu machen«107 , als Signatur avantgardistischer Radikalität. Gegen den spätkapitalistischen »Verblendungszusammenhang« aber kann diese, ein »authentisches Widerlager nur als Negativität in der Ästhetik aufscheinen […]. Damit verlagert sich jedoch die Unterscheidung von authentisch und inauthentisch letztendlich von der Grenze zwischen Ästhetik und Wirklichkeit in den Innenbezirk der Ästhetik selbst. Authentizität konstituiert sich nunmehr in der permanenten Absetzungsbewegung […] [der Kunst] von sich selbst.«108 Das Authentische in der Kunst hat seinen Widerpart im Inauthentischen des Widerparts der Kunst, der Kulturindustrie. Adornos kunsttheoretischer Elitarismus und geschichtspessimistische spätmarxistische Gesellschaftstheorie verhinderten allerdings, das Inauthentische, anders als negativ zu fassen, als Ausdruck dirigistischer Kulturindustrie, wie er sie zusammen mit Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung charakterisiert hatte: als die Einebnung von Individualität in der Massengesellschaft
105 Rebentisch, Juliane: »Die Liebe zur Kunst und deren Verkennung. Adornos Modernismus«, in: Texte zur Kunst, 4/2003; »Damit Kunst sich nicht an die Verfügung durch die Subjekte ausliefert (und diese dadurch zugleich betrügt), muss […] in den Kunstwerken selbst etwas wie Subjektivität gegenwärtig sein. Dies ist auch der tiefere, nämlich ethische Grund für die modernistische Kritik an aller Kunst, die ihre Objekthaftigkeit hervorkehrt […]. Die modernistische Idee, dass im authentischen Kunstwerk selbst etwas wie Subjektivität gegenwärtig sein muss, darf allerdings nicht so verstanden werden, dass sich im Kunstwerk die empirische Subjektivität des Künstlers ausdrückt. Denn die Vorstellung, dass das Kunstwerk lediglich Ausdruck des Künstlersubjekts sei, reproduzierte ja das Problem der subjektiven Verfügungsgewalt über das Objekt auf der Ebene der Produktion. Das ist auch der tiefere, nämlich ebenfalls ethische Grund für die moderne Kritik an der Genieästhetik.«; Ebd. 106 Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 231 107 Bürger: 1974, S. 83-84; Mit dieser Einschätzung wird, so Bürger, »auch ein anderes Theorem Adornos in seiner geschichtlichen Bedingtheit erkennbar: die Ansicht, daß nur die in der Nachfolge der Avantgarden stehende Kunst dem historischen Stand der Entwicklung der künstlerischen Techniken entspreche. Man muß sehr ernsthaft erwägen, ob nicht der durch die historischen Avantgardebewegungen bewirkte Traditionsbruch die Rede vom historischen Stand künstlerischer Techniken in bezug auf die Gegenwart gegenstandslos gemacht hat.«; ebd., S. 86 108 Mecke: 2006, S. 96
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durch standardisierte Kulturwaren, als Verhängnis des Individuums, das in den kulturindustriellen Vergnügungen seine eigene kapitalistische Vergesellschaftung ideologisch affirmiert. »Inauthentische Kunst […] hat bei ihm wenig Aufmerksamkeit erregt: Unterhaltungsware, Kunstgewerbe, leichte Kunst, Jazz, Popmusik, Trivialliteratur, Film, Fernsehen, Kitsch, das Vulgäre, das Banausische finden keine ausführliche Beachtung, auch wenn Adorno die Leitunterscheidung rekursiv wendet und auf diese Weise dem Inauthentischen ein Moment des Authentischen einschreibt […]. Die mit der Asymmetrieannahme verknüpfte qualitative Differenz zwischen authentischen und inauthentischen Kunstwerken ermöglicht zwar von einer Verfallsgeschichte der Werke zu sprechen […]. Die umgekehrte Bewegung jedoch: Was Kitsch war, kann Kunst werden, wird keiner Reflexion für würdig befunden.«109 Das Inauthentische ist Adorno allein eine »Ersatzbefriedigung« durch die schematisierten Reize eines auf Manipulation basierenden Systems, in dem Kultur als Ganzes zur Ware wird. Und indem dieses den Menschen »das Wohlgefühl erweckt, die Welt sei in eben der Ordnung, die sie ihnen suggerieren will, betrügt sie um das Glück, das sie ihnen vorschwindelt. Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Anti-Aufklärung; in ihr wird […] Aufklärung, nämlich die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug«110 . Ihre industriell betriebene Kultur bildet einen »Verblendungszusammenhang«, mit ihm brauchen die bürgerlichen Kapitalisten an der Macht auch einfach deshalb in der Krise nicht mehr zum Faschismus zu greifen, weil man nun Disney und Warner Brothers hat: »Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet. Die alte Erfahrung des Kinobesuchers, der die Straße draußen als Fortsetzung des gerade verlassenen Lichtspiels wahrnimmt«111 . Das langweilige Bild der Massenkultur, das Horkheimer und Adorno im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung zeichneten, ist aber nicht nur zeitspezifisch zu relativieren, es entsprach auch den damaligen Umständen nur bedingt. Gerade weil sie erkannten, dass »[d]ie Verfassung des Publikums, die vorgeblich und tatsächlich das System der Kulturindustrie begünstigt, […] ein Teil des Systems [ist], nicht dessen Entschuldigung«112 , führte sie ihr Negativismus zu dem resignativen Schluss, das kulturindustrielle Amüsement würde die Massen ausschließlich zur Passivität abrichten: »Daran krankt unheilbar alles Amüsement. Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, […] streng in den ausgefahrenen Assoziationsgeleisen sich bewegt. Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor«113 . Horkheimer und Adorno antizipierten nicht die Sättigungseffekte der Kulturindustrie, die diese mit einer Ubiquität an Intensitäts-, Unmittelbarkeits- und Authentizi109 Müller: 2006, S. 61 110 Theodor W. Adorno, Theodor W.: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 69 111 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1988, S. 134 112 Ebd., S. 130 113 Ebd., S. 145
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tätsverheißungen kompensiert. So verstetigt sich weniger eine passive als eine »zwischen den Extremen oszillierende, mitunter verzweifelt wirkende Bewusstseinslage […], eine Mentalität, die zwischen Echtheitssehnsucht und Echtheitszweifel schwankt. Man verherrlicht das Authentische und begegnet ihm doch mit dem großen Verdacht.«114 Und gerade darin, dass die Authentizitätserfahrung selbst zum kulturindustriellen Warentypus zugerichtet wurde, finden sich allerdings auch Angriffspunkte für künstlerische und außerkünstlerische Subversivität. Speziell unter intellektuell beweglichen Pop-Menschen entwickelte sich seit den 1970ern ein Typ transgressiver »Transformisten«, den ein identitätstheoretischer Anti-Essentialismus stützt, »der sich freute, wenn Rollen und Stereotype durch frei erfundene Identitäten und neue Formen der Lust und der Sozialität gekontert wurden«115 . Aber nicht nur am Phänomen der Kulturindustrie wird an Adornos Kritikfigur eine Verallgemeinerung bemängelt. Es betrifft seine aporetische Vernunftkritik als Ganzes. Denn seine spätmarxistische Kapitalismuskritik, die Kapitalismus als ein falsches, weil rein instrumentelles Verhältnis der Menschen zueinander diskutiert, führt in der Dialektik der Aufklärung zu einer kategorialen Abqualifizierung gesellschaftlicher Emanzipation als Triumph instrumenteller Vernunft, die im Angesicht der »verwalteten Welt« einen Rückfalls von Aufklärung in Mythologie durchmacht – in dem berühmten Ausspruch auf den Punkt gebracht: »schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«116 . Horkheimers und Adornos Vernunftkritik schließt, wie Jürgen Habermas es ausdrückte, damit, dass die »moderne, die vollends rationalisierte Welt […] nur zum Scheine entzaubert [ist]; auf ihr ruht der Fluch der dämonischen Versachlichung und der tödlichen Isolierung. In den Lähmungserscheinungen einer leerlaufenden Emanzipation äußert sich die Rache der Ursprungsmächte an denen, die sich emanzipieren mußten«117 . Habermas hat diese subjektphilosophische Aspektierung der Aufklärung über die Rationalitätsdimension der instrumentellen Vernunft revidiert. Gegen das mit der Dialektik der Aufklärung verbundene »Gefühl, daß die nivellierende Darstellung wesentliche Züge der kulturellen Moderne nicht berücksichtigt«118 , macht er die Eigendynamik der ausdifferenzierten Rationalitätstypen geltend, die sich nach dem Zerfall der metaphysischen Weltbilder als Wertsphären der Wissenschaft, Moral und Kunst verselbständigten und – was Horkheimers und Adornos Vereindimensionalisierung von Vernunft als Zweckrationalität unterschlägt – mit subjektiven Freiheiten und zivilisatorischem Gewinn einhergehen. Habermas betont eigens die »Produktivität und die sprengende Kraft ästhetischer Grunderfahrungen, die eine von Imperativen der Zwecktätigkeit und von Konventionen der alltäglichen Wahrnehmung 114
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Pörksen, Bernhard: »Sage, was du denkst – lass raus, was du fühlst!«, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.8.2016; Pörksen verweist auf Scripted-Reality-Fernsehsendungen, denn in den »Sphären eines besonders aggressiven Realitätsdopings, regiert ein paradoxer Kult des Echten und Wahren, ein Spiel mit Schicksalen und Tränen […]. Es ist ein Spiel, das klaren Drehbüchern folgt und NichtInszeniertheit im Medium der Totalinszenierung suggerieren soll.«; Ebd. Diederichsen: 2012 Horkheimer/Adorno: 1988, S. 6 Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 134 Ebd., S. 138
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freigesetzte Subjektivität ihrer eigenen Dezentrierung abgewinnt – Erfahrungen, die in den Werken der avantgardistischen Kunst zur Darstellung, in den Diskursen der Kunstkritik zur Sprache und in den innovativ bereicherten Wertregistern der Selbstverwirklichung auch zu einer gewissen illuminierenden Wirkung gelangen«119 . Habermas kritisiert an der Dialektik der Aufklärung daher auch, dass diese, da sie ihren Vernunftbegriff ausschließlich »als instrumentelle, an Macht assimiliert« veranschlagt, auf einen Selbstwiderspruch in der »Selbstüberbietung der Ideologiekritik« hinauslaufen muss, wie auch ihre Autoren wussten. Sie praktizieren die grundbegrifflich aporetische »letzte Enthüllung einer auf sich selbst angewandten Ideologiekritik«: »Diese beschreibt allerdings die Selbstzerstörung des kritischen Vermögens auf paradoxe Weise, weil sie im Augenblick der Beschreibung noch von der totgesagten Kritik Gebrauch machen muß. Das Totalitärwerden der Aufklärung denunziert sie mit deren eigenen Mitteln.«120 Auch gegen Adornos Authentizitätsbegriff kann dessen grundsätzlich aporetische Medialisiertheit angeführt werden. Denn Sprechen über Authentizität ist, so Huyssen, »notwendigerweise selbst vom Spaltpilz des Inauthentischen befallen. Wenn Adorno noch der Authentizität einer Kunst der Moderne als radikaler Negation das Wort reden konnte, erscheint uns der Rekurs auf Authentische heutzutage bestenfalls als Reklame oder Markstrategie […]. Wir wissen allzu gut: Authentizität ist keine überzeitliche, sondern eine durch und durch historische und geographisch spezifische Kategorie der westlichen Moderne.«121 Speziell diese Einsicht sollte jedoch zugleich die Opposition in seinen Worten nicht vergessen, denn Adornos Begriffsarbeit zur Authentizität, die die bundesrepublikanischen Intellektuellendiskurse für die nächsten Jahrzehnte für sich einnehmen sollte wie davor der »Jargon der Eigentlichkeit«, wollte eben explizit von dessen Geisel befreien. Attraktiv war der Authentizitätsbegriff für Adornos Ästhetik gerade in seiner semantischen Vagheit, Unvergrübeltheit, darin, »daß das Wort aus der griechisch-römischen Fremde […] quer zum [existenzialistischen] Jargon der Eigentlichkeit […] steht […]. Bei dem Begriff Authentizität scheint es sich also gegen Ende der fünfziger Jahre um einen von keiner Definitionsmacht ausübenden Gruppe beanspruchten, freien Signifikanten zu handeln, dessen Bedeutung konstellativ hergestellt werden muß«122 . Adorno ließ den Authentizitätsbegriff an Gewicht gewinnen, weil sich mit ihm Uneigentliches sprechen ließ – er so Opposition betreiben konnte gegen die Bedächtigkeitsgesten des »Jargons der Eigentlichkeit« mit seinen »marktgängige[n] Edelsubstantive[n]«123 , jene von den Existenzphilosophen, speziell von seinem Lieblingsfeind Heidegger herkommenden Eigentlichkeitsrhetoriken der konservativen Gelehrten und Schönredner, die in jener Zeit die Bühne des deutschen Geistes mit den
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Ebd., S. 138 Ebd., S. 144 Huyssen: 2006, S. 232 Müller: 2006, S. 59-60 Adorno: 1964, S. 9; Verfeinert um Banales, das der Jargon »in die Höhe [hält] und bronziert […], nach dem faschistischen Brauch, der das Plebiszitäre und Elitäre weise mixt«; ebd., S. 9
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wohlgesetzten Worten einer lebens- und geistfetischistischen Ideologie beherrschten; in der eine in philosophische Schwindelgefühle stürzende Auratisierungsliteratur zu purer Beflissenheit verfiel. Der ungegängelte adornitische Begriff der Authentizität war – ehe die Philosophie Adornos 1968ff selbst zum Gegenwartsjargon aufstieg und ihr Authentizitätsbegriff eine Auratisierungskarriere hinlegte, die ihr verdächtig gewesen wäre – nicht Syno-, sondern Antonym zum gedrechselten Gerede der Eigentlichkeit und Echtheit, das »[s]akral ohne sakralen Gehalt, gefrorene Emanationen« sich als »Verfallsprodukt[] der Aura [demaskiert]. Diese paart sich mit einer Unverbindlichkeit, die sie inmitten der entzauberten Welt disponibel oder, wie es wohl in paramilitärischem Neudeutsch hieße, einsatzbereit macht. Die Dauerrüge wider die Verdinglichung, die der Jargon darstellt, ist verdinglicht.«124 Adornos Ideologiekritik hat dieses Weltbild zerschnitten, indem er veranschaulichte, wie dieses einen Ritus inszenierter Authentizität entwickelte, und wie wenig es eigentlich über ihre eigene Krise wusste.125 Ein beispielhaft untergangslüsterner »Jargon der Eigentlichkeit« dieser Art, der das Inauthentische mit Augenkneifen betrachtet, ist die kulturpessimistische Suada des Literaten Botho Strauß. In Niedergangsstimmung angesichts einer an innerer Kraft versiegenden, da am inflationären Geschwätz der Medienwelt zerrütteten Gegenwartskultur beklagt dieser skurrile, kauzige Reaktionär den Verblendungszusammenhang einer »umfassende[n] Mentalität des Sekundären, die tief eingedrungen ist in die Literatur, in die Gelehrsamkeit, die Philosophie und nicht zuletzt in den Glauben und seine Ämter.«126 Das Gefährliche, das Antidemokratische an Strauß‹ Sekundarisierungsthese ist, dass er diese syndromhaft gleichermaßen an der vergnügungssüchtigen Unterhaltungsindustrie, dem Tingeltangel der TV-Kanäle, festmacht wie an der analytisch-kritischen Diskurskultur des Linksliberalismus. Einerseits an dem Wahrnehmungsraub an uns »matt Bestrahlten, die wir jetzt noch denken wollen und sehen wollen und können es nur im Aufschein-Abblitz, einsame Voyeure, deren Welt-Bild vom Schnitt beherrscht wird wie die Eine-Mark-Peep-Show von der Schlitzblende«127 . Andererseits an »der bloß paradoxen, bloß kritischen, bloß das Falsche entlarvenden Intelligenz, durch deren Hohlformen das Längstdurchdachte in schier unversiegbarer Verdünnung rinne.«128 Das Inauthentische, das Sekundäre ist seinem Überdruss Resultat eines »unerhörte[n] Moderieren[s], das unmenschliche Abmäßigen der Tragödien in der Vermittlung«129 durch Konsenspolitiker und Großfeuilletonisten. Durch die »alles durchschau124 Ebd., S. 12 125 »Das Lügenhafte der Verschiebung durch eine Art Kulturkritik, in welche das verkniffene Pathos der Eigentlichen regelmäßig einstimmt, wird sichtbar daran, daß Vergangenheiten […] als Zeitalter anwesenden Sinnes figurieren, getreu der Neigung, auch politisch und sozial die Uhr zurückzustellen, durch Verwaltungsmaßnahmen mächtigster Cliquen die Dynamik einer anscheinend noch allzu offenen Gesellschaft zu beenden, die ihr innewohnt. Weil ihre gegenwärtige Gestalt von solcher Dynamik nichts Gutes zu erwarten hat, verblendet sie sich krampfhaft dagegen, daß die Kur, die sie anbietet, selbst das Übel ist, das sie fürchtet.«; ebd., S. 33-34 126 Strauß, Botho: Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München: Hanser 1999, S. 44 127 Strauß, Botho: Paare, Passanten, München: DTV 1981, S. 178 128 Ebd., S. 14 129 Strauß: 1999, S. 67
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enden, nichts erblickenden« »Gegenwartsfreaks«, die »alles an ihrem eigenen herunterdemokratisierten, formlosen Gesellschaftsbewußtsein«130 messen. Dagegen richtet Botho Strauß seine eigene elitär-augurenhafte Künstlerstilisierung als auserwählter Dichter, der sich zur Pflicht macht, in der Einsamkeit, im Ingrimm eines gegenwartsentfernten Außenseitertums den in der für das »Verhängnis« und das »Tragische« gleichgültigen Gesellschaft zum Verstummen gebrachten »Mysterienlärm« wachzuhalten. Denn: »Durchlöchert, zerfetzt selbst das teuerste, letzte Gut: das was war«131 . Er richtet sich auf die Überwindung des Inauthentischen in der »Eigentlichkeit« einer randständigen, mythenbewussten Künstlerschaft ein, der es »um nicht mehr und nicht weniger als um die Befreiung des Kunstwerks von der Diktatur der sekundären Diskurse […] geht[,] um die Wiederentdeckung nicht seiner Selbst-, sondern seiner theophanen Herrlichkeit, seiner transzendentalen Nachbarschaft.«132 Die zwangsläufige Paradoxität dieser reaktionären Autorenhaltung, die mit einem nicht vermeidlichen Minimum an Gehässigkeit eingedeckt wurde, ist allerdings eine multiple.133 Sie bricht grundsätzlich an der literarischen Sekundarität der eigenen zeitkritischen Essayistik, der man überdies in den 1980ern eine singuläre Aktualität in der kritischen phänomenologischen Durchdringung bundesrepublikanischer Verhältnisse zugestand – was einerseits den eigenen Anspruch auf ein authentisches, nicht durch die sekundaristischen Bagatellen der Massenkultur drangsaliertes Außenseitertum sabotierte, andererseits allerdings auch eine authentische künstlerische Ausdruckskraft beglaubigte. Sie bricht an der Sekundarität einer Schreibposition, deren Autoritätsanspruch im Entwertungsempfinden des Jetzt zugunsten einer eigentlichkeitsbelegten religiösen, politischen, poetischen Überlieferung, die fester Boden sein soll, theoretisch zu bewussten Epigonentum reduziert wird, gleichzeitig jedoch praktisch eine zuwiderlaufende individuelle literarische Subjektivität entfaltet und damit Authentizität gewinnt. Sie bricht, zusammenfassend, an den unvereinbaren Autoritätsimperativen künstlerischer Individualität und kultureller Traditionsverpflichtetheit. Bei Autoren wie Botho Strauß dienen »Jargons der Eigentlichkeit« der Galle und Eitelkeit eines späten Kunstpriestertums, das nicht selten wie eine unfreiwillige Eigenpersiflage erscheint, wenn es sich in stilisierter Insurgentenhaltung in geweihter Kenntnis von einem Ewigen, einem Zeitenthobenen oder einer Ursprünglichkeit meint. Der Vitalitäts- und Virilitätskult dieser Künstlerinszenierungen, die Idealisierung der Künstlers als Inbegriff eines intensiven, gesteigerten Lebens, verkürzt allerdings die 130 Strauß: 1981, S. 92; In diesen gegenwartsfixierten Menschen degeneriere, so Strauß, der Bürger zu einem »klassenlosen Mischtyp aus historisch reißfestem Synthetikmaterial«: »Was diese Population zusammenhält, ist im Wesentlichen ihre kritische Öffentlichkeit, eine komplizierte Gemengelage von versprengten Interessen, Aufsichten, Gereiztheiten, Gesinnungs- und Sorgenstimuli. Hier überlebt das Wort Kultur nur noch in kurioser Bedeutung, als Emphasezusatz im öffentlichen Jargon« (Strauß: 1999, S. 28-29); Diese Kultur betreibe eine »Hypokrisie der öffentlichen Moral, die jederzeit tolerierte (wo nicht betrieb): die Verhöhnung des Eros, die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche, Tradition und Autorität, sie darf sich nicht wundern, wenn die Worte in der Not kein Gewicht mehr haben.«; ebd., S. 59-60 131 Strauß: 1981, S. 179 132 Strauß: 1999, S. 41 133 »[E]in Erdbeben im Feuilleton, Sonderabteilung wehmütige Männerblütenträume aus dem Frakturzeitalter.«; Radisch, Iris: »Eine merkwürdige Wiederbegegnung«, in: Die Zeit, 07/2018
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Hypothek der Romantik zunehmend in der Hinsicht, dass sich die »Rückkehr zur mythosfähigen Authentizität und Autorität […] auf die Inszenierung von Künstlerattitüden und nicht mehr auf das künstlerische Material selbst«134 bezieht. Und in die Mystifizierung der eigenen Wichtigkeitsintuitionen der Künstler spielt schließlich, das merkt Diedrich Diederichsen an, auch hinein, »dass sie zeitgenössische Kunsttheorie so rezeptionsästhetisch grundiert ist, dass das Wissen und die Kriterien der Künstler dort gar keine Rolle spielen. […] Das gibt nun wiederum den Vertretern einer Produktionsästhetik, namentlich den Künstlern, das Gefühl, minoritär zu sein, und dadurch werden sie umso trotziger. Ihr nicht theoretisch anschlussfähiges Künstlerwissen […] [wird] zu magischen Kenntnissen marginalisiert und mystifiziert. Die Betroffenen reagieren mit Antiintellektualismus und einer Metaphysik des Künstlertums.«135 Der sich selbstmystifizierende, zum Außenseitertum berufene Künstler, der sich mit seiner speziellen Weise, die Dinge zu erfahren und in Besitz zu nehmen, selbst unter Genieverdacht stellt, perpetuiert den Epiphaniecharakter des Künstlerwirkens der Romantik, was freilich wiederum eine marktfähige Inszenierungsfigur darstellt in einer Aufmerksamkeitsökonomie, die den Künstlern Entertainerfähigkeit abverlangt … Gegenläufig zu dieser Entertainmentfunktion eines »authentizistischen« Kunstpriestertums, die im kunsttheoretischen Diskurs als Zeitphänomen Beachtung findet, und im Ersteindruck in einem Widerspruch zu der Kulturdiagnose, die unsere Gegenwartsgesellschaft in einem »Zeitalter des Narzissmus« versinken sieht, scheinen sich dagegen in einem Marktsegment des Entertainments selbst Authentizitätsstrategien unerwartet auf dem Rückzug zu befinden: im Feld kontemporärer Popkultur und ihrer theoretischen Kommentierung. Die Kategorie der Authentizität hat hier fasslich an Attraktivität eingebüßt, scheint, so Felix Stephans, »von der Zeit überholt und ist lautlos aus dem Sprechen über Pop entfernt worden. Wir werden sie nicht vermissen.«136 Er registriert eine merkliche Tendenz, wenn er betont, »dass die Authentizitätsdiskussion einfach überhaupt nicht mehr ernsthaft geführt wird. […] Aller Wahrscheinlichkeit nach liegt das daran, dass wir es heute mit dem kompetentesten und unaufgeregtesten Poppublikum zu tun haben, das es je gegeben hat.«137 Die Poptheorie ist sich jedoch uneins, ob diese Entwicklung verfeinerten intellektuellen Mitteln in der Reflektion der eigenen Produktions- und Rezeptionsbedingungen geschuldet ist, dem dominierenden Lebensgefühl der Skepsis und Ironie, der anti-illusionistischen Lektion in unvermeidliche Sekundarität, wie sie, Diederichsen beschreibt
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Reck: 2006, S. 276 Diederichsen: 2008, S. 200-201 Stephan, Felix: »Authentischer Pop, was war das noch?«, in: Die Zeit, 47/2011 Ebd.; Stephan schließt, »dass wir von den Popidolen auch deshalb keine Authentizität mehr erwarten, weil wir uns selbst nicht mehr für authentisch halten. Die Techniken der ästhetischen Selbstinszenierung mittels inhaltlich ambivalenter Symbole reichen weit in den Alltag hinein: Spätestens seit American Apparel die Schulhöfe ausstattet, ist die entsemantisierte Bezugnahme auf Stile verschiedener Epochen und Strömungen angewandtes Alltagswissen. Die Hipstamatic-App […] liefert dazu den offiziellen Bildstil: posthistorisch, apolitisch, entideologisiert.«; ebd.
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es, die ersten »eingestandenen Revivals« der frühen 1980er bedeuteten: »Man hatte begriffen, dass der Pop-Moment aus zwei Teilen bestand und wollte nun schon gezielt beides selbst praktizieren: das Material für die Fetischisierungen liefern und seinerseits altes Material seiner vervollständigenden Zweitrezeption zuführen.«138 Vielen ist das Phänomen, dass wir den Sinn für den Unterschied zwischen Authentischem und Inauthentischem verlieren, beziehungsweise uns der Unterschied einfach nicht mehr kümmert, nämlich Ausdruck einer kulturellen Agonie. Dass das Authentische »nicht einmal mehr als Schein vorgespielt wird, markiert [ihnen] einen folgenreichen Einschnitt, der nicht den auf ihre Imago, auf das enteignete Bild reduzierten Stars geschuldet ist«, sondern einerseits »der egozentrischen Entfesselung der zu nahezu jeder Selbstüberlistung bereiten Rezipienten«139 im massenmedialen Mainstream, andererseits den ironisch-zynischen Rezeptionshaltungen der Subkulturen, veranschaulicht im Typus des querulatorisch unbegabten Hipsters, des Distinktionsgewinnlers des Zitats, der die Suche nach subversiven ästhetischen Wandlungen, Zäsuren und Anfängen radikal vernachlässigt. Der sich, politisch desinteressiert, in einem von ihm beherrschten Retro-Reich für Eingeweihte einrichtet und die Idee, Pop bedeute die Verkörperung neuer erstrebenswerter Lebensformen, nur mehr gebrochen in distinktiven Verweisen auf einstige Pop-Komplotteure lebt. Simon Reynolds, ein Verfechter der Neuheitsverheißung des Pop, der an die vitalistischen Innovations- und Intensitätsideale präsentistischer, permanent transformatorischer Jugendkulturen appelliert, kritisiert an den derzeitigen Retro-Ökonomien ewig recycelter Revivals, die zu einem beherrschenden Modus popkultureller Produktion geworden sind, ein nicht mehr gestelltes Versprechen des Jetzt. An den Hipsteristas, dem Symbol der erlahmten Aufbruchsstimmung, beklagt er, dass »diejenigen, von denen man erwartet, das sie als Künstler das Unerwartete und Wegweisende produzieren oder es als jene Konsumenten unterstützen, […] am meisten auf die Vergangenheit fixiert scheinen. Demographisch ist es genau die Gruppe, die auf dem neuesten Stand ist, aber anstatt sich als Pioniere und Erneuerer hervorzutun, haben sie die Seiten gewechselt und sind zu Kuratoren und Archivaren geworden. Aus der Avant-garde ist eine Arrière-garde geworden.«140 Simon Reynolds Buch Retromania trägt zwar kein artikuliert adornitisches Empfinden, dass mit der Authentizität der Kunst alles auf dem Spiel stünde, die HipDistinktionsbewusstheit allerdings ausschließlich kuratorisch-archivarisch ins Jüngstvergangene zu verlagern, erscheint ihm als reaktionär. Der eskapistische Hip-Peilblick
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Diederichsen, Diedrich: »Was James Bond und die Popmusik gemeinsam haben«, in: Süddeutsche Zeitung, 30.11. 2011 139 Reck: 2006, S. 249 140 Reynolds, Simon: Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann, Mainz: Ventil 2012, S. 26-27; Reynolds vermisst die »Zeit, in der der Stoffwechsel des Pop auf Hochtouren lief und während der psychedelischen 60er, der Post-Punk-70er, der Hip-Hop-80er und der Rave90er das Gefühl erzeugte, direkt in die Zukunft gespült zu werden.« (ebd., S. 18). Denn Reynolds ist ein »ein Science-Fiction-Fan, der sich die Gegenwart anders vorgestellt hat, als sie noch Zukunft hieß. Einer, der […] er immer noch sehnlichst auf den Raketenrucksack wartet.«; Weihser, Rabea: »Pop am Rande der Erschöpfung«, in: Die Zeit, 43/2011
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der Retro-Begeisterten ist ihm ein Zeichen dafür, »dass die Kultur des 21. Jahrhunderts durch einen die Zeit suspendierenden Stillstand und eine Unbeweglichkeit gekennzeichnet ist«141 , wie auch Mark Fishers Gesellschaftskritik Reynolds beipflichtet. Wahrscheinlich ist es aber auch so, dass das Hipstertum in der Frage der Authentizität auch deshalb etwas zur Seite geht, weil es natürlich eine Antenne dafür hat, dass der Imperativ des Authentischen parallel zu seinem Attraktivitätsverlust in den subkulturellen Hip-Systemen eine viel umfänglichere realitätsbestimmende Karriere im Gegenwartskapitalismus gemacht hat: als allgegenwärtiges Diktat neoliberaler IchAktivierung, die nicht nur genierwillige Semiprominente im Realityfernsehen einbringen müssen, sondern in den kolonialisierten Lebenswelten des Konsumhedonismus einen jeden Einzelnen einer Selbstoptimierungsdoktrin unterwirft und unentwegt eine extemporiere Exhibition von Selbstillusionen abverlangt. Sei es als Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor oder im sich dauerabjubelnden digitalen Zwangsnarzissmus, in dem der Imperativ eines unabhängigen, kreativen, authentisches Ichs längst vom treibenden Faktor zur getriebenen Variablen degradiert ist. So gesehen sind gleichermaßen die authentizitätsindifferenten zusammengefakeden Plastik-Images eines Mainstreams, in dem das konkrete Werk, die Musik, mehr und mehr zum bloßen Souvenir eines Pop-Celebrity- und Pop-Rezipientenleben degeneriert, wie auch die posthistorischen Retro-Loops, die wie Fisher schreibt, anzeigen, dass »unter den Bedingungen digitaler Erinnerung […] der Verlust selbst verloren«142 geht, nachrangige Kulturphänomene im Vergleich zur gesamtgesellschaftlichen Authentizitätsimperativik in der Totalität kommerzieller Medienemissionen. Die übriggebliebenen Kid-Marxisten unter den theorieorientierten Pop-Menschen kritisieren dann zwar weiter zurecht die kulturelle Lethargie der Hipster-Halbintellektuellen, die sich nicht mehr die Mühe machen, anderer Meinung zu sein. Wie schal allerdings dazu ein unreflektiert im Jetzt fixierter »I want my MTV«-Enthusiasmus geworden ist, zeigen nicht nur die wässrigen schriftstellerischen Arbeiten der deutschen Pop-Literatur der 1990er, eine opportunistische Elendsversion von Popeuphorie. Und wenigstens desillusionieren die Hipsteristas indirekt, zeigen, wie politisch folgenlos Pop-Lebensformen generell sind. – Denn wer, wie mit Roger Behrens festzuhalten ist, »behauptet, dass der Nonkonformismus der Popkultur eine hinreichend widerständige Politik, gar eine Politik gelingender Subjektivität darstellt, hat entweder so wenig soziale Phantasie wie Realitätssinn oder ist ein dämlicher Misanthrop, der dem Menschen nicht sonderlich viel zumutet.«143
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Fisher, Mark: Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft, Berlin: Edition Tiamat 2015, S. 15 142 Ebd., S. 10 143 Behrens, Roger: »Traditionelle und kritische Poptheorie. Anmerkungen zur fröhlichsten Wissenschaft, heute«, in: Holger Adam et al. (Hg.), Pop Kultur Diskurs. Zum Verhältnis von Gesellschaft, Kulturindustrie und Wissenschaft, Mainz: Ventil 2010, S. 29
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2 Architektonische Authentizitätsartikulationen
Der architektonische Authentizitätsdiskurs stützt sich in seinen untergründigen kulturellen Verbindungen von Ästhetik und Ideologie auf drei Dimensionen der Authentizitätsartikulation: die Gelingensbedingungen einer in der Architektur zu verwirklichenden unverfälschten künstlerischen Autorschaft (1.2.1), Materialbeschaffenheit (1.2.2) und Traditionsbezugnahme (1.2.3), die nicht nur in den unterschiedlichen historischen Baustilen und Kunstauffassungen, sondern selbst in den Einzelwerken der jeweiligen Epochen spezifisch gewichtet sind und verschiedenartige Spannungshaltungen des Relationellen entwickeln, die sich wiederum auf unterschiedliche Beglaubigungsinstanzen stützen, da »Authentizität grundsätzlich eine paradoxale Struktur zwischen Selbst- und Fremdbeglaubigung, zwischen autologischer und heterologischer Wertigkeit aufweist.«1 Zwar ist, wie Tino Mager festhält, »vor dem 19. Jahrhundert der Bezug des Begriffs Authentizität auf Architektur völlig fremd, er nimmt erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Schlüsselstellung ein.«2 Implizit sind die drei Dimensionen architektonischer Authentizitätsausbildung mit unterschiedlicher Entschiedenheit allerdings seit dem Historismus manifestiert – in den aus der Latenz tretenden Versagensrisiken, als die Authentizität als »Bewegungsmotor« »im Spannungsfeld von originalecht-einzig und verbürgt-verbindlich die Ausdifferenzierung des modernen Kunstsystems seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«3 begleitet. Die seitdem zur Entfaltung gebrachten Authentizitätsdimensionen des autonomen auktorialen Künstlertums, der Materialwahrheit und des Kulturbezugs als kunst- und architekturbegründete Instanzen schufen erst die interpretativen Kategorien, durch die Architekturen Reizreaktionen des Inauthentischen hervorrufen. Das Authentizitätskriterium der individualisierten künstlerischen Gestaltungsbefähigung bricht im historistischen Stilpluralismus in ganzer Schärfe auf, da sich das Ideal eines tiefschürfenden, ungebundenen Künstlertums in seiner geschichtlich erst ausgebildeten Autonomie des Ästhetischen an der Stilübernahme aus der Historie selbst-
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Architekturen des Inauthentischen
beschränkt – jener sich in der »triadischen Begriffskonstellation Autonomie, ästhetische Differenz und Autorbegriff« sich entwickelnde ästhetische Authentizitätsbegriff«, der, wie Susanne Knaller schreibt, »als Geltungs- und Wertbegriff [versteht], legitimiert durch Beglaubigungs- und Zuschreibungsdiskurse, die sich seit der Aufklärung und der (Vor-)Romantik herauszubilden beginnen«4 Das Authentizitätskriterium der baulichen Materialität schaukelt sich an den typologischen und materiellen Präzedenzlosigkeit der historistischen Übertragungsleistungen auf, der »Verleitung zur Annahme eines Baumaterials, das in Wirklichkeit nicht vorhanden ist«5 , was John Ruskin am Historismus als »Heuchelei, Verstellung und Wertlosigkeit«6 verurteilte. Und das Authentizitätskriterium der Traditionsverhaftung entfacht sich im Streit der historistische Stilparteien an der Stilwahl selbst, die zwar ein Aufrechterhalten von Traditionslinien an sich relativiert, zugleich aber auch in dem durch den Historismus künstlerisch materialisierten Zeitalter des Nationalismus bis hin zu »erfundenen Traditionen« architekturideologische Beglaubigungsstrategien Geschichtsbezugs suggeriert. In diesen wird, wie Sabrow und Saupe unterstreichen, »der instrumentelle Charakter von Echtheitsansprüchen und Originalitätszuschreibungen deutlich. Autorität und Autorisierung, zwei eng mit dem Authentizitätskonzept verbundene Begriffe, bestimmen maßgeblich die Auswahl dessen, was Menschen und Gesellschaften als ›ihre‹ kulturelle Überlieferung anerkennen«7 . Folgerichtig positioniert die Moderne Bewegung im frühen 20. Jahrhundert ihren funktionalistisch-technizistischen Erlösungsoptimismus in den merklichen und unmerklichen Pressionen ihrer ideologischen Besetztheiten explizit gegen die als defizient empfundenen Authentizitätsverbürgungen des Historismus. Im triumphierenden Umstürzlertum des Neuen Bauens werden die auktorialen und die materiellen Authentizitätsdimensionen im Namen der »Funktionalität« und »Materialehrlichkeit« als architekturästhetische Reinheitsfantasien imperativisch aufgeladen, während der Traditionsrückgriff der historistischen Stilbaukunst – zumindest »solange die Architekturgeschichte aus der Sicht der Moderne und gegen den Historismus geschrieben wurde«8 – zugunsten einer technik-innovatorischen und gesellschaftsreformerischen Fortschrittseuphorie suspendiert wird. Weil die Moderne, besonders in ihrer Hegemonialform des »Internationalen Stils«, diese ideologischen Hypotheken jedoch bisweilen nur insofern einzulösen vermochte, indem sie Funktion und Zweckdienlichkeit selbst symbolisierend illustrierte, eröffneten sich ihren folgenden Einzelströmungen erst recht wieder die Probleme der symbolisch vermittelnden Zuschreibung: als Arbeit mit architektursemantischen Authentizitätssignalen, die beim Rezipienten erfolgreich ihre eigene Konstruiertheit verbergen. Die unbewältigte Frage der architektonischen Authentizität oszilliert seitdem mit unterschiedlichen Gewichtungen in den verschiedenen entwerferischen Doktrinen der Moderne (und Postmoderne) zwischen den drei vermeintlichen Teileinlösungen. Erstens in der Rehabilitation und Idealisierung der Figur des kreativen Künstlerarchitekten 4 5 6 7 8
Ebd., S. 17 Ruskin: 1999, S. 82 Ebd., S. 90 Sabrow/Saupe: 2016, S. 12-13 Nerdinger, Winfried: Geschichte macht Architektur, München: Prestel 2012, S. 48
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– von den durch die Postmoderne freigesetzten Möglichkeiten zur künstlerischen Expression bis zur unabsichtlichen Karikierung dieses Authentizitätsanspruches durch die algorithmisierten »brandname«-Ästhetiken bildmächtiger »starchitects«, dem narzisstischen Selbstvermarktungsgeschäft der Avantgardearchitektur-Fabriken um ihre in der Welt herumgereichten »Signature Buildings«. Zweitens in einem »Authentizismus« baulich-materialästhetischer Aufrichtigkeit, der sich speziell im »syntaktischen« räumlichen Architekturverständnis gegenwärtiger Minimalismen zeigt. Und drittens schließlich in einem lebendigen Geschichtsbezug, der sich entgegen dem durch die Moderne einst forcierten Kontinuitätsbruch dem Regionalen oder jedoch der eigenen Bewegung gedenkt und sich seinen Authentizitätsbedarf über zitathafte Wiedergewinnungen modernistischer Fortschrittszeichen sichert. Eine Architekturästhetik des Inauthentischen rekurriert auf eine Umkehrung der entqualifizierenden Negativattribute, die bei der Nichterfüllung der drei Authentizitätsdimensionen artikuliert werden. Ihr Enthusiasmus beschränkt sich aber natürlich nicht nur auf Architekturen, bei denen man sich in der summarischen Betrachtung darauf verständigen kann, dass alle drei Authentizitätskategorien unzureichend erfüllt sind. Überhaupt lässt sich kein generalisierendes Schema ableiten, in welchen Verhältnissen sich Authentizitäten und Inauthentizitäten in einem Bauwerk zueinander verhalten, ob und wie sie sich gegenseitig verstärken, ob und wie sich die stärkere Seite durch die schwächere hindurchfrisst, oder ob und wie sie sich neutralisieren. Nicht nur weil »Authentizität […] ein Effekt [ist], den der Rezipient mitgenerieren muß«9 , lassen sich keine antiperspektivischen Analysekategorien extrapolieren. Beispielsweise kann eine starke, als authentisch empfundene künstlerische Autorschaft die materielle Inauthentizität eines Gebäudes überlagern, oder ein als authentisch rezipierter Traditionsbezug verkraften, dass hinter ihr kein starkes künstlerisches Subjekt verbirgt (weil an vernakuläre Architektur die Erwartung an eine expressive schöpferische Originalität generell nicht gestellt wird). Die wirkungsästhetische Bandbreite der Inauthentizitätsphänomene umfasst die unterschiedlichsten Wirkungsintensitäten. Gerade in Bezug auf die künstlerische Autorschaft sind diese sehr vielgestaltig. Inauthentizität kann ein unausgereiften Künstlersubjekt verraten, Oberflächlichkeit, Unernst und Desinteresse. Sie kann als plagiatorisch oder selbstplagiatorisch aufgefasst werden. Sie kann aber auch einem übersteigerten Expressionswollen geschuldet sein, einer übermütigen oder aufgeblasenen Inszenierung des Genieprinzips des Künstlerarchitekten, die man dann als Theatralik, Pathos oder Arroganz wahrnimmt. Und als Aficionado des Inauthentischen wird man erkennen, dass man zwangsläufig stärker auf die Aspekte künstlerischer Inauthentizität anspricht, die sich durch Drastik, Lautheit, Vulgarität, Disparatheit auszeichnen, und nicht durch Langeweile und Harmlosigkeit. Eine Architekturästhetik des Inauthentischen befasst sich mit Authentizitäts- und Inauthentizitätszuschreibungen, die wie in nichtarchitektonischen Authentizitätsdiskursen auch, in unterschiedlichen Maßen hierarchisierend und substantialisierend instru9
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mentalisiert sind. Unproblematischen Wortverwendungen im konventionellen Bedeutungsspektrum einer Echtheits- oder Originalitätsbezeugung stehen metaphysikbeladene Nutzungsweisen gegenüber, in denen der umkämpfte Begriff als Akzeptabilitätskriterium substantialistisch-hierarchische Ideologien stützt. Eine konstruktivistische Rezeptionsperspektive wird eine Architekturästhetik des Inauthentischen aber immer einnehmen. Nicht nur eine von emanzipativen Bestrebungen geleitete anti-essentialistische Theorie, die sich selbst als Konkretionsebene des Politischen begreift, wird Authentizität als Ergebnis diskursiver Aushandlungsprozesse verhandeln und die kategoriale Unterscheidung zwischen Authentischen und Inauthentischen als eine ausschließlich graduelle Abstufung unterschiedlich diskursiv legitimierter Authentifizierungsleistungen begreifen. Eine Hegemonialstellung nehmen solche konstruktivistischen Theoriepositionen im Architekturdiskurs des Authentischen eigentlich bisher nur in der Frage publizistischer Bildmedialität ein. Im medientheoretischen Diskurs über die Mechanismen bildmedialer Authentizitätsreize werden diese in ihren Darstellungsmitteln als Entmedialisierungs- und Unmittelbarkeitsinszenierungen interpretiert, die »Unmittelbarkeit prätendier[en]«, und diese Prätention müsse als »›Versuch‹ (mit oder ohne Absicht)« entlarvt werden, »vergessen zu machen, daß Darstellungsmittel benutzt werden«10 . Die konstruktivistischen Positionen betonen, dass »Authentizität als ›Effekt der Darstellung‹ und damit als primär rezeptions-, sekundär wirkungsästhetisch einzuholendes und erst tertiär produktionsästhetisch auszudeutendes Phänomen«11 begriffen werden muss. Sie weisen einen Immanenzzusammenhang zwischen den Darstellungstechniken der Bildmedien und ihren Authentizitätswirkungen verstanden als »Darstellungslosigkeit« zurück.12 Bildmedialen Ikonographien des Authentischen ist, wie Volkmar Wortmann schreibt, trotz der Suggestion ihres 10
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Strub, Christian: »Trockene Rede über mögliche Ordnungen der Authentizität«, in: Jan Berg/HansOtto Hügel/Hajo Kurzenberger (Hg.), Authentizität als Darstellung, Hildesheim: Universität Hildesheim 1997, S. 13 Schlich: 2002, S. V »Einen Gegenstand scheinbar darstellungslos zu machen, entspricht dem Versuch, unmittelbar unmittelbar zu sein. Dieses Authentizitätsideal schmeckt durch erkenntnistheoretische Reflexion versalzen. Durch die Konstruktion vermittelt vermittelt wird eine Darstellung gegenstandslos gemacht, was sich als unverdaulicher Zirkel erweist. Sobald eine sogenannte ›Gegenstandsebene‹ aufrechterhalten wird, stellt sich auch offensives doing fiction vermittelt und unmittelbar dar.« (Mohn, Elisabeth: »Paradoxien der Ethnographie«, in: Jan Berg/Hans-Otto Hügel/Hajo Kurzenberger (Hg.), Authentizität als Darstellung, Hildesheim: Universität Hildesheim 1997, S. 24) Dieses »Authentizitätsproblem«, Christian Strub hat darauf hingewiesen, ergibt sich allerdings erst dann, »wenn zugleich mit der Unmittelbarkeitsidee die Notwendigkeit von Darstellung bei jeder Thematisierung von Darstellungsunabhängigem akzeptiert wird. Die Idee einer darstellungsfreien Thematisierung ist also nicht realisierbar, sondern kann nur regulative Funktion haben. Eine authentische wäre dann von einer nichtauthentischen Darstellung mittels der regulativen Unmittelbarkeitsidee dadurch zu unterscheiden, daß die authentische Darstellung die mit jeder Darstellung zwangsläufig einhergehende Aspektierung des Dargestellten ›aufzuheben‹ fähig ist, d.h. das Dargestellte durch die Darstellung als nicht Dargestelltes präsentiert. Die authentische Darstellung ist nicht opal sondern transparent – nicht die trübe Scheibe, sondern das unsichtbare Glas«; Strub: 1997, S. 9
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»unmittelbares Erscheinen[s] vor jeder kulturellen Usurpation, […] kein [] Kommunikat gegeben, es muss als Authentizitätseindruck erst ästhetisch hergestellt werden. Authentische Darstellung ist […] keine substanzielle Eigenschaft eines präferierten Mediums, sondern vor allem ästhetisches Format, das den Gestaltcharakter der Darstellung durch Gestaltung zu verbergen versucht und andererseits ohne Gestaltung von Authentizität nichts weiß. Das authentische Bild […] ist eine Chimäre, eine Fiktion.«13 Zwar behauptet das Authentizitätsattribut bei bildlichen Darstellungen eine »privilegierte Relation von Darstellung und Darstellungsgegenstand im Sinne einer transparenten Medialisierung, die den Blick auf den Gegenstand weder trübt noch aspektiert.«14 Doch ist das als Bildauthentizität firmierende »Wirklichkeitsversprechen« bildmedialer Abbildungen, so Wortmann, »kein technisches, es ist ein kulturell gewordenes, der Geschichte des Bildes sozusagen abgerungen.«15 Folglich kann »Authentizität in den Bildmedien […] nicht medienontologisch, es muß vielmehr als Effekt eines kulturellen Handlungsmusters begriffen werden.«16 Diese ruhen auf der »Sehnsucht nach einer Vermittlungsform, die jedes präfigurierte Darstellungsmuster zugunsten einer unmittelbaren Wahrnehmung hinter sich lässt.«17 Gleiches gilt für unterschiedliche Arten medialer Inauthentizität – die diese Erwartungen enttäuschen.
2.1
Authentizität als künstlerische Autorschaft
Die erste Dimension architektonischer Authentizitätsartikulation ist die der »künstlerischen Authentizität« verstanden als gelingende Autorschaft. Seit der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts und der Künstlerverklärung der Romantik wird die künstlerische Expressivität als subjektives artistisches Empfinden verstanden, das in seiner Individualität und Autonomie einmalige und einzigartige künstlerische Charakterzüge ausbildet: »Die Romantik schuf den modernen Künstler: Jung war er, launisch, wild, unabhängig, kompromißlos und von seiner Arbeit besessen.«18 Mit dem Geniebegriff der Romantik wurde die unkorrumpierte Originalität, das Authentische »zum hermetischen Kern, 13 14 15
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Wortmann, Volker: Authentisches Bild und authentisierende Form, Köln: Herbert von Halem 2003, S. 13 Ebd., S. 14 Wortmann, Volker: »Was wissen Bilder schon über die Welt, die sie bedeuten sollen? Sieben Anmerkungen zur Ikonographie des Authentischen«, in: Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink 2006, S. 163 Ebd., S. 184 Wortmann: 2003, S. 11; Christian Strub hat drei Inauthentizitätsphänomene medialer Darstellung unterschieden. Wenn man mit ihm einhergeht, dass im weitesten Sinne »Authentizitätsbehauptungen […] Versicherungen von Darstellungstransparenz, Inauthentizitätsbehauptungen Behauptungen von Darstellungsopazität« sind, dann ist eine Darstellung entweder deshalb inauthentisch, weil (a) »sie das Dargestellte nicht als Darstellungsunabhängiges darstellt, obwohl man eine solche Darstellung für möglich hält. […] Hier impliziert Inauthentizität Falschheit«; weil (b) »sie das Dargestellte nicht als Darstellungsunabhängiges darstellt, aber der Darstellende es auch gar nicht versucht hat«; oder jedoch (c) »weil es gar keine Möglichkeit zu einer authentischen Darstellung gibt.«; Strub: 1997, S. 11-12 de Bruyn, Gerd: Fisch und Frosch oder Die Selbstkritik der Moderne, Basel: Birkhäuser 2001, S. 38
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Nukleus des genialisch geprägten, zur Regellosigkeit berufenen Künstlers. Die Subjektivität besteht seit dem deutschen Idealismus […] in der ästhetischen Entäußerung und Re-Interiorisierung dieser zugeschriebenen, höchst artifiziellen Fähigkeit […]. Authentische Kunst ist nicht mehr der geistaristokratische Gipfelpunkt einer artistischen, singulären, wiewohl exemplarisch wirkenden beispielgebenden Schöpfung«19 . Grundbedingung für die Ausbildung einer als Authentizität titulierten künstlerischen Auktorialität im Expressivismus der Romantik und Nachromantik ist die freigesetzte Subjektivität, die mit der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Subsysteme einherging: »Ästhetische Autonomie und Differenz werden […] durch das nicht kopierende, einmalig schaffende künstlerische Subjekt garantiert, das stets Einzigartiges produziert«20 – und diese Urheberschaft verstanden als authentische auktoriale Signatur entfaltete sich erst mit der Ausdifferenzierung eigenständiger Rationalitätstypen und Wertsphären, die eine Autonomisierung der Kunst und des Ästhetischen mit sich brachte: »Autonomie der Kunst heißt einerseits: Befreiung des Ästhetischen von der verpflichtenden Kraft metaphysischer oder religiöser Weltbilder, Wahlfreiheit des Künstlers hinsichtlich der Stoffe und Formen, Verfügbarkeit des gesamten historischen Stilinventars, Ablösung der ästhetischen Wirkung von nichtästhetischon Wirkungsfunktionen durch Ausrichtung auf ein subjektives und unabhängiges Gefühl beim Kunstrezipienten. Autonomie der Kunst heißt andererseits: Verzicht auf anschauliche Vermittlung des Ganzen, das nicht mehr vom Siegel der Metaphysik zusammengehalten wird, Entwertung der traditionellen Formen und Formkonzepte, wie zum Beispiel Schönheit und Vollkommenheit.«21 Die Autonomisierung der Kunst durch ihre Ausdifferenzierung als Rationalitätstyp wirkte in zweifacher Hinsicht auf das urheberisch wirkende künstlerische Subjekt aus. Einerseits führte die kapitalistische Gesellschaftsveränderung zu einer Institutionalisierung der Kunst und zu einer neuen sozialen Konkurrenzstellung des Künstlers, die über den Originalitätsbegriff gesteuert wurde, bis hin zu einer Selbstdramatisierung des Künstlers als über die Stränge schlagendes Ausnahmeschicksal: »Aus feudaler Klientel in eine ungewohnte ökonomische Konkurrenzsituation entlassen gerät dieser zunehmend unter den Zwang beruflicher Profilierung. […] In der Folge wird daher vor allem das Charakteristische, Innovative, Schöpferische zum Maßstab wahren Künstlertums«22 . Andererseits wurde die Rationalisierung autonomer Wertsphären von den Romantikern als eine Entzauberung der Welt erfahren, die zu einer restaurativ metaphysischen Ersatzbegeisterung an der Kunst führte. Der romantische Geniegestus diente zur Verteidigung des Numinosen, mit ihm »verwandelte sich die romantische
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Reck: 2006, S. 251 Knaller: 2007, S. 17 Ostermann, Eberhard: »Das Interessante als Element ästhetischer Authentizität«, in: Jan Berg/Hans-Otto Hügel/Hajo Kurzenberger (Hg.), Authentizität als Darstellung, Hildesheim: Universität Hildesheim 1997, S. 197 Döhmer, Klaus: ›In welchem Style sollen wir bauen?‹ Architekturtheorie zwischen Klassizismus und Jugendstil, München: Prestel 1976, S. 63
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Klage über das entzauberte Dasein in eine Klage über die verlorengegangene Religiosität. Das romantische Genie war voll des Eingedenkens der Verluste, denen es seine Autonomie verdankte. Ausgerechnet die Basis seines modernen Selbstwertgefühls, der Zugewinn an Mündigkeit, dem ihm das 18. Jahrhundert beschert hatte, wurde mit Vorliebe bezweifelt.«23 Mit Adorno sind authentische Werke solche, die durch keine außerkünstlerischen Nutzenserwägungen getrübt, »konsequent durchgebildet sind und stringent und ohne Rücksicht auf Wünsche der Auftraggeber oder Betrachter ihrer immanenten Eigenlogik folgen. Sogar der Künstler selbst, will er ein authentisches Werk schaffen, habe seine Subjektivität auf- und sich restlos dem Werk hinzugeben.«24 Künstlerische Authentizität impliziert eine Verbindlichkeit, eine Selbstverpflichtung, die der Künstler gegenüber sich und seiner Kunst eingeht, beziehungsweise einzugehen hat, denn das Publikum erwartet, wie Lionel Trilling schrieb, »daß es durch den Umgang mit dem Kunstwerk, so widerständig, unangenehm, ja abweisend es sein mag, eine Authentizität erwirbt, deren Modell das Kunstwerk und für die der Künstler als Person ein Beispiel ist. […] Das authentische Kunstwerk belehrt uns über unsere Inauthentizität und beschwört uns, sie zu überwinden.«25 Künstlerische Authentizität wird daher »mit unverfälschtem Kunstwollen wie subjektiver, künstlerischer, moralischer Integrität verbunden. In der Folge führt das rekursive Beglaubigungsverhältnis von Künstler/Autor (Urheber) und Werk über die Nachweisbarkeit von Ursprungsbestimmtheit hinaus und wird zu einem normativen Kriterium«26 . Und im Umkehrschluss ist das Inauthentische eine unfreiwillige Ausdrucksdimension des Künstlers – in ihr entlarvt sich künstlerische Unaufrichtigkeit oder Unfähigkeit, das künstlerische Schaffen wird als manieriert, kalkuliert, naiv oder klischeebeladen wahrgenommen, da es unseren normativen Idealen des Künstlers nicht genügt. Und sei es nur, weil ein Künstler zu sehr will, er die paradoxale »Aufforderung, Authentizität durch den künstlerischen Entwurf zu realisieren« zu stark akzentuiert. Denn, wie Jochen Mecke betont, sind »[g]ewollte Tränen […] ebenso wenig echt wie gewollte Authentizität. Sobald Authentizität explizit dargestellt wird, hört sie auf, sie selbst zu sein und verwandelt sich in ihr Gegenteil. […] Authentizitätsemphasen sind […] zu Kitsch und Klischee verurteilt.«27 Künstlerische Inauthentizität kreist, darauf weist Regina Wenninger hin, weniger »um handfeste Fälle von Betrug und Täuschung wie bei Fälschungen oder Plagiaten« und mehr um »schwerer greifbare Formen des Falschen, Unechten, Unauthentischen in dem wir auch Personen mitunter als falsch und unecht beurteilen: weil sie lediglich eine Rolle spielen, sich selbst stilisieren, zu einem Klischee ihrer selbst geworden sind«28 . Der »in Fälschungen und Plagiaten involvierte Betrug« ist, so Wenninger weiter, einfach eine ungerechtfertigte Zuweisung einer beglaubigten Autorschaft
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de Bruyn: 2001, S. 40 Schäfer: 2015, S. 90 Trilling: 1983, S. 96-97 Knaller: 2016, S. 48 Mecke: 2006, S. 96 Wenninger: 2009, S. 8
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durch den Plagiator und Fälscher. »Die Falschheit künstlerisch unauthentischer Werke ist dagegen enger an die künstlerischen Eigenschaften des Werkes selbst geknüpft oder an die Art und Weise, wie es produziert wurde.«29 Und diese künstlerischen Eigenschaften des Werken erscheinen auch etwa dann als unzureichend, wenn sich Künstler beispielsweise in routinierten Selbstwiederholungen selbstähnlich werden, denn stilistische Unverwechselbarkeit ist zwar ein integraler Bestandteil künstlerischer Praxis, aber kein hinreichendes Authentizitätskriterium, wenn ein individueller Stil zu einem »Selbst-Plagiarismus« einmündet. Der Einwand, dass das romantische Heroisierungsmodell des Genies für viele Phänomene der Avantgarde-Kunst des 20. Jahrhunderts nicht mehr angemessen sei, ist natürlich nicht von der Hand zu weisen. Ihre künstlerischen Manöver zur Nivellierung des Werkbegriffs, musterhaft in den Readymades, der Appropriation Art und Strategien des Fake, haben zentrale Aspekte des authentischen künstlerischen Selbstausdruck der Autonomieästhetik untergraben, »led to the evolution of a highly intellectualized international artists’ community reliant on an amalgam of appropriation, copy, simulacra, replication, pastiche, and popular reference to challenge the conventions of authenticity; their work often meditates on the sinister intrusion of economic the artist in an era when art itself has lost its accepted boundaries and significance.«30 Es greift allerdings zu kurz, damit die künstlerische Authentizitätskategorie zu suspendieren, denn die Avantgarden und Nachavantgarden haben diese vielmehr transformatiert: weg von der expressiven schöpferischen Originalität, hin zu künstlerischen Haltungen der Überschreitung und Negation, zu Kreativisierungs- und Intensivierungsabsichten des Außerkünstlerischen, die an spezifische mediale und institutionelle Entwicklungen im Kunstsystem geknüpft sind, wie Peter Bürger indirekt zum Ausdruck brachte, als er für die 1970er diagnostizierte: »Wenn heute ein Künstler ein Ofenrohr signiert und ausstellt, denunziert er damit keineswegs mehr den Kunstmarkt, sondern fügt sich ihm ein; er destruiert nicht die Vorstellung von individuellen Schöpfertum, sondern er bestätigt sie. […] Da inzwischen der Protest der historischen Avantgarde gegen die Institution Kunst als Kunst rezipierbar geworden ist, verfällt die Protestgeste der Neoavantgarde der Inauthentizität.«31 In Peter Bürgers Urteil zeigt sich ein allgemeines, an die Authentizitätserwartung gebundenes Charakteristikum künstlerischer Tätigkeit, das mit Wenninger
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Ebd., S. 15; Aber auch in der Beurteilung künstlerischer Fälschungen wandelt sich der Betrachtungsmaßstab, wie Mark Jones schreibt. Nicht mehr das Dargestellte, das Repräsentierte ist zentral, sondern das auktorial hergestellte Werk: »Romantic reevaluation of art as the individual reation of inspired outsiders and nineteenth-century art history’s consequent emphasis on attribution created quite a different market, in which what an image represented became less important than when, where and by whom it had been made. The key test became not whether it was an authentic representation but whether it was an original work.«; Jones, Mark: »Introduction: Do Fakes matter?«, in: ders. (Hg.), Why fakes matters. Essays on Problems of Authenticity, London: British Museum Press 1992, S. 8 Lindholm: 2008, S. 22 Bürger: 1974, S. 71
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veranschaulicht, dass »künstlerische Authentizität ist nicht einfach ein[en] Sonderfall persönlicher Authentizität« darstellt: »Der Begriff künstlerischer Authentizität reflektiert normative Erwartungen, die an Künstler als Künstler gestellt werden.«32 Wenninger, die die Sackgassen der »ausdruckstheoretischen Konzeptionen künstlerischer Authentizität« nachzeichnet, schließt, dass »künstlerische Authentizität«, »was die subjektive Dimension betrifft, keine Funktion der Darlegung oder Abbildung des eigenen künstlerischen Selbst [ist], sondern seiner Realisierung«33 . Ansätze, die »Authentizität und Aufrichtigkeit engführen«, verwässern nämlich im Anspruch, der Künstler müsse im Kunstwerk seine Individualität aufrichtig ausdrücken, ungesagt die »künstlerische Praxis« zu einem »beliebige[n] Anwendungsfall für einen allgemeinen Begriff von Selbstausdruck«34 . Darüber hinaus lokalisiert die ausdruckstheoretische Forderung, der Künstler müsse »in seinem Werk ein wahrheitsgetreues Bild seiner inneren Zustände liefer[n]« die Authentizitätserwartung auf eine unzulässige Weise »im repräsentationalen Gehalt von Darstellungen, nicht im Tun des Künstlers, und misst sie an Äußerungsinhalten, statt an Äußerungsbedingungen.«35 Wer »künstlerische Authentizität« auf Aufrichtigkeitsbedingungen eines Selbstausdrucks, auf die Wiederspiegelung der Innenwelt des Künstlers reduziert, verpasst den Eigensinn künstlerischer Expressivität. Wenninger leitet daraus ab, dass die Authentizität künstlerischen Schaffens als eine Tugendkategorie verstanden werden muss.36 Eine Architekturästhetik des Inauthentischen bemisst sich in Bezug auf die auktoriale Inauthentizitätsdimension natürlich relational zu den gültigen qualitativen Beurteilungsmaßstäben von Architekturentwürfen, relational zu den jeweils zeit- und ortsspezifisch kontingenten, jedoch kontextuell geteilten Bewertungskonventionen. Nicht unabhängig davon, aber darüber hinaus lässt sich die Inauthentizität künstlerischer Intentionen anhand Wenningers Kandidaten inauthentischer Künstlerfiguren präzisieren, die man ungeachtet ihrer künstlerischen Durchbildungskraft in eine mindere Kategorie einsortiert: den Manieristen, der eine willkürliche, sich nicht aus einer internen, nichtbeliebigen Beziehung zu seiner Kunst bedingende Stilverwendung betreibt; den Sentimentalisten, der sich auf das Dramatische versteift; und den Moralisten, der seine Kunst einer Politik oder Ethik unterordnet. Gemeinsam ist diesen Künstlertypen das kalkulierte Abzielen auf Wirkungen, »[s]ie alle konzentrieren sich auf Effekte, und sie alle sind in einem gewissen Sinne selbstzentriert. Der Manierist schwelgt in 32 33 34
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Wenninger: 2009, S. 18 Ebd., S. 44 Ebd., S. 39; »Umgekehrt ist Selbstausdruck auch nicht notwendig für künstlerische Authentizität. Grundsätzlich können Kunstwerke auf vielerlei Weise etwas ausdrücken, unabhängig davon, ob der produzierende Künstler sich selbst im Werk ausdrückt oder die Absicht hat, überhaupt irgendetwas auszudrücken.«; ebd., S. 40 Ebd., S. 41 Der Tugendbegriff macht, so Wenninger, »die moralisierenden Untertöne plausibel, die Authentizitätsurteile vielfach haben, und trägt allgemein dem normativen bzw. evaluativen Charakter unserer Urteile Rechnung. ›Künstlerische Authentizität‹ bezieht sich auf lobens-, wünschens-, empfehlenswerte oder geforderte Eigenschaften von Künstlern und ihrer Tätigkeit. […] Insbesondere negative Authentizitätsurteile enthüllen bestimmte normative Erwartungen, die an Künstler implizit gestellt werden.«; ebd., S. 171
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seinen stilistischen Idiosynkrasien wie der Sentimentalist in seinen eigenen Gefühlswelten und der selbstgefällige Moralist in seiner vorgeblichen Tugendhaftigkeit.«37 Diese über ein qualitatives künstlerischen Ungenügen hinausgehenden Kriterien der Manieriertheit, des Sentimentalischen und des Moralisierenden werden aber erst seit dem Expressivismus der Romantik als Phänomene eines inauthentischen künstlerischen Ausdrucks begriffen – denn »[d]ie Frage nach der Authentizität der Kunst in diesem ästhetischen Sinne stellt sich erst im Zeichen ihrer Autonomie, während Authentizität unter nichtautonomen Bedingungen als ästhetisches Phänomen gar nicht auftaucht.«38 . Die Kriterien selbst wurden natürlich über die gesamte Architekturgeschichte hinweg angeführt, um ein Missfallen auszudrücken, das ihre Betrachter empfanden, ein manierierter, sentimentalischer oder moralisierender Entwurf kann im eigentlichen Sinn aber erst seit der mit dem Virtuositäts- und Geniezeitalter entwickelten künstlerischen Autonomie als inauthentisch bezeichnet werden. Das heißt, der Geltungsbereich der Inauthentizitätskategorie blasst umso stärker aus, je weiter man architekturgeschichtlich rückwärtsläuft. Und umgekehrt heißt dies, dass der romantische und nachromantische Historismus allein aufgrund der in ihm ausdifferenzierten Künstlerautonomie für eine Architekturästhetik des Inauthentischen ein Schlüsselphänomen darstellen muss. Dieser ist nicht darum so interessant, weil er die Authentizitätsverpflichtung künstlerischer Autorschaft in der Stilübernahme abgeschwächt hätte, sondern weil er, im Gegenteil, seine eigene stilimitierende und -nachbildende Architektur, sein wahnwitziges Überschäumen in zitiertem Frühem und Unzeitgemäßen, die sein künstlerisches Selbstgefühl hätten untergraben müssen, vor einer noch erhöhten Geltungsorientierung des schöpferischen Originalitätsbegriff entfesselte, wie Klaus Döhmer festhielt. Denn erst aus seinem gesteigerten expressiven Originalitätsverständnis entwickelte sich »ein charakteristisches Problembewußtsein für traditionelle künstlerische Verfahren wie Kopie, Zitat und Imitation. […] [N]icht ohne Grund erfahren ›Fälschung‹ und ›Plagiat‹ in diesem Jahrhundert ihre bis heute gültige kriminologische Präzisierung. So scheint es […] kaum verständlich, daß diese vom Ausnahmecharakter der künstlerischen Einzelleistung, von der Unwiederhol[bar]keit schöpferischer Vorgänge und der Zwangsläufigkeit ihrer Ergebnisse faszinierte Öffentlichkeit die Wiederaufnahme und damit ein künstlerisch inzwischen fragwürdig gewordenes Verfahren zum Prinzip ihrer stilistischen Selbstdarstellung macht.«39 Diese den Historismus inhärente dilemmatische Ausgangssituation, dass ein vom Expressivismus der Romantik entwickeltes epiphanisches, antimimetisches Kunstverständnis auf eine zu diesem antagonistische mimetische Zitationsverpflichtung traf, die gewisse authentizitätsimperativische Ähnlichkeitsbeweise einverlangte, schuf ein fantastisches Spannungsfeld des Inauthentischen. Die Inauthentizitätswirkung der mimetischen historistischen Stilnachbildung brachte daher mit sich, dass auch eine starke künstlerische Autorschaft im Histo-
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Ebd., S. 78 Ostermann: 1997, S. 197-198 Döhmer: 1976, S. 63
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rismus keine Authentizitätsgarantie ausbildete. Im Gegenteil. Viele symptomatische historistische Gebäude, die beachtliche Kulturtaten darstellen, fallen zugleich durch ungefüge Inauthentizitätsphänomene, die aus der Frage der abbildhaft mimetischen Plausibilität der Stilaneignung herrühren, aus dem Rahmen. Die Künstlichkeiten, die sich aus den Verhältnis- und Unverhältnismäßigkeiten der Stilübertragung entfachen, werfen überraschende Schlaglichter, die einem das Wirklichkeitsgefühl durcheinandergeraten lassen. Gerade auch die Inauthentizitäten im Schärfegrad der Dissonanzen unverständlicher künstlerischer Absichten sind eine ästhetische Hauptqualität des Historismus. Das, was eine Architekturästhetik des Inauthentischen am Historismus als Grundqualität prämiert, sind daher nicht die Manifestationen einer starken Künstlerschaft, sondern die Manifestationen der dilemmatischen Ausgangssituation, in die der Architekt verstrickt ist. Diese schafft architektonische Filiationsbezüge, die bewusst oder unbewusst ihre eigenen geschichtlichen Entstehungsbedingungen in ihrer Kontingenz konturieren. Sei es in einer Übererfüllung der Pflicht zur stilistischen Purifizierung, in einer Überlast schwärmerischer Gefühle oder im Credo eines poetischen Eklektizismus, der eigentlich verfeindete Elemente zu einer Legierung verschmelzt. Denn wie Christian Baur hervorstreicht, ist es unvermeidlich, dass sich der Historismus »fundamental vom Vorbild unterscheiden muß: Ein neugotischer Bau ist in allererster Linie neu und dann erst sind alle übrigen Abhängigkeiten und Bedingungen ablesbar. Die zeitliche Kategorie ist die bestimmende, unabhängig davon wie gelungen […] das Werk ausfällt. Wer die Werke des 19. Jahrhunderts bedauert, ist insgeheim noch romantischer eingestellt als die Befürworter jener Zeit«40 . Zwar ist dieses Inauthentische des Historismus daher fast nie Ausdruck künstlerischer Intentionalität, die Inauthentizitätsanteile wirken vielmehr wie eine Tauchfahrt durch das Unterbewusstsein der historistischen Architektur. Über das Gelingen künstlerischer Autorschaft im Historismus ist damit allerdings nichts gesagt. Denn selbst wenn die Architekten des Historismus künstlerisch keine Inauthentizität intendierten, impliziert die Kunst, die sie intendierten, Inauthentizitäten – gerade auch in ihrem Gelingen. Das Inauthentische mit einer Teilung des Intentionalen und NichtIntentionalen architektonischen Bemühens auseinanderzudividieren, deklassiert dieses daher nicht einfach zu Defektformen verfehlter Echtheitseinlösungen. Was sich auch einfach daran veranschaulicht, dass eine architekturtheoretische Emphase auf das Inauthentische des Historismus den Kanon nicht ums Ganze verlagert, sich nicht allein an Abseitigen kapriziert, auch wenn seine fantastischsten, übertriebensten Bauten wie John Nashs Royal Pavilion in Brighton, Wilhelm Ludwig von Eschweges Palácio Nacional da Pena in Sintra, Carlos Nyströmers Palacio De Aguas Corrientes in Buenos Aires oder Aníbal González Álvarez-Ossorios Plaza de España in Sevilla eine stärkere Anerkennung erfahren. Denn die meisten Meisterwerke des Historismus sind gerade darin berückend, wie sie, stimuliert durch eine kräftige architektonische Autorschaft, durch die Angriffslust einer ausgeprägten Fantasie, inauthentisch wirkende stilistische Filiationsmuster, die sich in die verschiedenen Linien der Geschichte verlieren, ausbreiten. Indem die Stilverpflichtung ausschweift, in der 40
Baur, Christian: Neugotik, München: Heyne 1981, S. 61
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geographische Setzung befremdet oder die eklektizistische Vermengung heterogener Formen die Unmittelbarkeit der Anschauung beeinträchtigt. Für das 1908 eingeweihte, von Francisco de Oliveira Passos in augenscheinlicher kultureller Bemühtheit errichtete Teatro Municipal in Rio de Janeiro gilt das, weil es sich hat hinreißen lassen, das reichhaltige ästhetische System des Neobarock, mit dem Charles Garnier seine Opera Garnier in Paris staffierte, noch zu steigern. Wird bereits in der Gestaltung der Opera Garnier, die zum sinnfälligen Signum für die pathosbedürftige Prachtentfaltung des Historismus wurde, viel Wichtiges über das bildwirkende Inauthentizitätsflackern stilimitierender Baukunst gesagt, bietet der nach Brasilien verfrachtete Neobarock des Teatro Municipal, eines der wenigen verbliebenen Prunkgebäude an der zur Jahrhundertwende angelegten Avenida Rio Branco, der späthistoristischen Prachtstraße der damaligen Landeshauptstadt, in seinen ästhetischen Markierungen eine noch grundlegendere Charakteristik für die ins Inauthentische umschlagende Kunstambition des Historismus. Das Teatro Municipal ist als idealisierender Neuentwurf ein Ausnahmebau, aber einer, der die Herrschaft über sich verliert. Nicht, weil er von fehlgeleiteten kreativen Impulsen belastet ist, von innerer Verwirrung ergriffen. Sondern weil der Neobarock zu viel Inbrunst hat, die im satten Türkis der Kupferpatina der Kuppelbauten und der Vergoldung der Friese und Kapitelle schimmernden Fassaden unter der intendierten allegorischen Tragweite des Theaterbaus wackeln. Und weil die getragene Pathetik des Neobarock, seine Aura französischer richesse artifiziell wirkt im brasilianischen Hitzedunst. Im Widerstreit zerfallen mit allem was sie umgibt. Das gilt selbst für die damalige Avenida Rio Branco, in dessen keine Beherrschtheit kennenden Eklektizismus das Selbstbewusstsein einer neureichen Bourgeoisie in Herrlichkeit und Freuden keimte, erst recht jedoch für die gegenwärtige Magistrale, in der Teatro Municipal eingekeilt ist, im Halblicht liegt, zwischen verglasten Hochhäusern des »Internationalen Stils«, die vieles sind, nur nicht gelungen. Auch die Inauthentizitätswirkungen der Neuen Synagoge in Szeged, die Lipót Baumhorn zwischen 1900 und 1903 errichtete, ruhen auf einer überaus starken künstlerischen Ausdruckswillen, einem poetisch eklektizistischen Zugriff von Seltenheitswert. Das Wahrzeichen der südungarischen Stadt charakterisiert ein überspanntes architektonisches Verlangen, das gerade durch die Fantastik seines ästhetischen Ideengemischs Künstlichkeits- und Inauthentizitätsirritationen entfacht. Die Neue Synagoge zeigt eine hohe geistige Konzentriertheit in der eklektizistischen Vermengung dreier heterogener Formenwelten: des Orientalismus, den die jüdischen Gemeinden des 19. Jahrhunderts als »maurischen Synagogenstil« zur Selbstrepräsentation etabliert hatten, des ungarischen Secessionismus, der der Skrupel historistischer Stilverpflichtung müde, eine zeitgemäße, mit und aus der Fantasie gestaltete Ästhetik zu entwickeln versuchte, und der Nationalromantik, die sich aus dem in der Agonie des späten Habsburgerreichs erstarkenden ungarischen Nationalgefühl speiste. Lipót Baumhorn, ein früherer Mitarbeiter Ödon Lechners, der sich zum führenden Synagogenarchitekten Ungarns entwickelte, schuf bei der Neuen Synagoge ein ausbalanciertes System ineinandergreifender Stilanleihen, dass aufgrund der weltanschaulichen Ungebundenheit der Zitate und Assoziationen allerdings schwierig und unzugänglich bleibt. Das Äußere des in gelblichen Sichtziegelmauerwerk mit weißen Putzfriesen ge-
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haltenen Zentralbaus prägen graue metallene Kuppelaufbauten, Ziertürmchen und Attikaabschlüsse, die eine mächtige Zentralkuppel flankieren, deren reiche Detaillierung mit fialenbestückten Blendgiebeln sich zwar auf die historistische Einbildungskraft bezieht, jedoch verfremdet mit regionalen Akzenten der Nationalromantik. Auch die ins Blaue spielende Innengestaltung des Gebetsraums entzündet ein fantastisches, artifizielles Zierrat- und Farbenfieber, das zugleich durch die Majestätik und die Zierlichkeit seiner Kunst beeindruckt. Durch präzise benannte Details und träumerisch fühlende Assoziationen, bei denen Lipót Baumhorn Maurisches mit Barocken und Gotischem versetzte. Beim Thorabaldachin, der in die blau ausgemalte, mit einem neogotischen Rippengewölbe gegliederte Halbkuppel der Apsis eingestellt ist. Und speziell bei der imposanten, assoziative Berührungspunkte mit islamischer Architektur schaffenden Kuppelinnenseite, deren unterer Kranz Blendsäulen zu geometrischen Rautenstrukturen mit feingliedrige Blütenzeichnungen auffächern, während im oberen Kranz musterverzierte Bleiglasscheiben in verlaufenden Blautönen in maßwerkartige Rippen eingelassen sind. Bei gegenteiligen Beispielen verdanken sich Inauthentizitätswirkungen des Historismus nicht zu einem Hauptteil überschäumender künstlerischer Ambition, überschäumender künstlerischer Durchdringung, die ins Manierierte und Sentimentalische abgleitet, sondern sind Effekte entwerferischer Unzulänglichkeit. Bei dem imposant am Abhang einer Felsenklippe am Schwarzen Meer platzierten Schloss Schwalbennest in Gaspra bei Jalta, dem türmchen- und zinnenverzierten Wahrzeichen und Symbol der Halbinsel Krim, etwa spielt neben Manieriertheit und Sentimentalität auch eine gewisse gestalterische Plumpheit hinein. Die Fantastik, die Unwirklichkeit, die das kleine romantisch neugotische Schlösschen, zu dem Leonid Sherwood 1912 eine bestehende Sommerresidenz kostümierte, ausstrahlt, hat natürlich stark mit ihrer spektakulären Lage an einem steilen Kap zu tun. Mit ihrer materiellen Kulissenhaftigkeit, die bei einer Restaurierung in den 1960ern, bei der das Gebäude zur Gänze neuhergestellt werden musste, noch gesteigert wurde. Und mit dem Umstand, eine an mittelalterliche Burgen am Rhein, an die sich der Bauherr, der Ölmagnat Baron von Steingel zu Erinnern wünschte, anlehnende Architektur an der Südküste der Krim anzutreffen. Sie ist aber auch dem gleichermaßen plakativen wie naiven Entwurf Sherwoods geschuldet. Ähnlich verhält es sich auch mit den Inauthentizitätseindrücken, die von der Ilha Fiscal in Rio de Janeiro ausgehen, einer auf einer kleinen vorgelagerten Insel von Adolfo José del Vecchio 1889 errichteten Zollstation in Gestalt eines neugotischen Schlosses. Auch hier wirkt eine geographische Deplatziertheit hinein, verbunden mit einer materiellen Kulissenhaftigkeit, die speziell noch durch die türkise Farbgebung des Baus angefacht wird. Es ist aber nicht weniger die Kitschigkeit im Entwurf von Adolfo José del Vecchios, der mit leichter Ungeschicktheit Turmaufbauten und Zinnenreihen in einer Weise gruppiert, die Disney-Assoziationen evoziert. Mit dem Späthistorismus hatte sich die Frage nach der authentischen künstlerischen Autorschaft endgültig zugespitzt. Das lag einerseits an einem gegenüber den Reglementierungen der strengen Kopisten freigespielten Eklektizismus, der neue künstlerische Energie freisetzte, andererseits an einer immer stärkeren typologischen Verselbstständigung der Bauaufgaben im Industriezeitalter. Der ab den 1890er-Jahren gefühlte Marasmus des Späthistorismus wurde an Alterungs- und Dekadenzphänome-
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nen festgemacht, die sich als »Beliebigkeit« und »Unaufrichtigkeit« der historistischen Baukunst umschreiben lassen. Als Inauthentizität gegenüber den Dynamiken des heraufdämmernden 20. Jahrhunderts, die der Eklektizismus freier Form- und Typologieüberschreibungen nicht länger einschnüren ließ, wie gegenüber den technischen Entwicklungen der Industriegesellschaft. Dieser Reputationsverlust des Historismus, den die unter Geschichtsmüdigkeit leidenden Künstler des Fin de Siécle verspürten, kulminierte in den Jugendstil, in eine Architektur, die diametrale Intentionen ausbildete – die sich nicht in die Vergangenheit zurück, sondern aus der Vergangenheit hinaus träumte. Der Jugendstil verstand sich in seinen Frühlingsillusionen als ein durch authentische ästhetische Kraft beglaubigter »Versuch der Selbstverzauberung des Menschen in und mit seiner Lebenswelt. […] Mitten im industriellen Zeitalter wollte der Jugendstil ein Paradies.«41 Er empfand sich als ein in sich selbst begründeter ästhetischer Aufbruch zu einer authentischen »Gefühlskunst«, wie sie Hermann Muthesius nannte, um zu ergänzen, dass darin »ihre starken und schwachen Seiten ausgedrückt liegen«42 . Denn es war zuallererst seine gestalterische Fantasie, der der Jugendstil seinen Zeitenruhm verdankt. Sein zur Leichtherzigkeit und zu impulsiven Plötzlichkeiten neigendes, überreiztes Wesen, dass »alles Tektonische [erweicht], wo immer es darauf trifft, angefangen vom Ornament mit seinen typischen fließenden Formen, die an Schlieren im Wasser erinnern, für das Seerose und Schwanenhals ideale dekorative Motive sind, über die Schrift, die hier zum ersten mal quallig und schwankend wird […]. Die Wand eines Hauses, die Rahmen von Türen und Fenstern, Geländer und Stufen biegen sich, als wären sie aus Teig«43 . Zwar bildeten die über die Arts and Craft Bewegung entwickelten Anstrengungen um funktionelle und materielle Wahrheit in der Architektur und im Kunsthandwerk einen entscheidenden Impuls des Jugendstils. Speziell die Wiener Secession beschäftigte sich mit den von Otto Wagner diskutierten Forderungen an die Funktionalität der Architektur. Mit seinem ahasverischen Ästhetizismus stand der Jugendstil, auch der Secessionismus in Wien, allerdings viel tiefer in einer fatalen Tradition, als es die Kräfte, die zum Sturz drängten, wahrnahmen. Die neue Schönheit, der neue Ethos, die neue Entgrenzung der Künste im Leben, die neue Metaphysik der Natursymbole – all das berührte den Gemütsgrund des verfeinerungssüchtigen Bürgertums des Fin de Siécle, das sich zwar einerseits in den Bewusstseinsüberdruss und in den Untergang hineinredete, andererseits seine materialistische Daseinszugewandtheit, seine Neigung zu Luxus und Sinnengenuss weiter steigerte. Die ästhetisierten Unzuchtsspiele zerfließender Kurven und Linien, die der Jugendstil bei seinen schlaraffischen Fassaden und Interieurs kultivierte, erschienen folglich speziell den Modernisten wie ein letzter vergeblicher Versuch der Bourgeoisie, die großbürgerliche Lebensweise und -einstellung des 19. Jahrhunderts in eine Schönheit der Formen zu retten. In Bezug auf die drei Dimensionen des architektonischen Authentizitätsdiskurses, die Imperative unverfälschter künstlerischer Autorschaft, Materialbeschaffenheit
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Sternberger, Dolf: Über Jugendstil, Frankfurt a.M.: Insel 1977, S. 10 Muthesius, Hermann: Stilarchitektur und Baukunst. Wandlungen der Architektur im XIX. Jahrhundert und ihr heutiger Standpunkt, Jena: Eugen Diederichs 1902, S. 58 Sedlmayr: 1956, S. 82
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und Traditionsbezugnahme, die der Historismus nie umfänglich ausbalanciert hatte, der Späthistorismus aber nun in der Wahrnehmung seiner Kritiker nicht einmal mehr partialbefriedigte, hat sich der Jugendstil in seiner Absatzbewegung letztlich einseitig auf den Authentizitätsanspruch einer auktorialen subjektiven Kunstausübung versteift. Die zweite Authentizitätsdimension, das Ideal eines funktions- und materialgerechten Bauens, die zur Ausbildung des Sachlichkeitsstils führte, blieb klar im Zeichen einer Entschränkung des Kunstfähigen durch eine eigenauthentische Architektur, die sich mit einer ichberauschten Intellektualität verziert. Struktur und Materialität wurden ästhetisiert, Stahlsäulen im Namen der künstlerischen Freiheit, sich auszudrücken, kurvilinear zu Blütenstengeln gewunden. Dieses überstarke, zum Weltgefühl aufgeblähte Künstlertum des Jugendstils verlagerte Phänomene architektonischer Inauthentizität daher häufig ins Unfreiwillige. Sie spielen sich ab in Fällen übertriebener Stilisiertheit, bei denen das Traumtänzerische ins Kitschige gleitet, die Art Nouveau mit ihrem Hang für Allegorisches und Metaphysisches unzusammenhängende Sinnbilder und verirrte Parabeln erschafft. Aber selbst im Gelingenden implizierte der eigene künstlerische Authentizitätsanspruch, wie Dolf Sternberger hervorstrich, eine unfreiwillige Inszeniertheitswirkung. Denn: »Man ist niemals weniger unmittelbar als dann, wenn man den unmittelbaren Ausdruck seiner selbst hervorbringen will. Die Idee des Jugendstils war es, die Menschen, ja die Epoche im ganzen als Individuum mit lauter Spiegelungen ihres eignen Innern zu umgeben, sie in diesen Formenreigen einzuhüllen. Narcissus starb, weil er sich an sein eignes Spiegelbild verloren hatte.«44 Ein weiteres Inauthentizitätsrisiko des Jugendstils lag in seinen zweitklassigen Nachahmern, den Verkitschern, bei denen »die so bravourös vorausgaloppierte nouveau art sich allmählich im Design von Versandhausgebrauchsartikeln und Wohnzimmertapeten zu verlaufen beginnt«45 . Cornelius Gurlitt hatte eine Schwäche dieser zerküssten »Kunst der formensymbolischen Linie« erkannt, als er in Zweifel zog, ob »aus den Fingerspitzen der Nervösen eine Schaffensart hervorströmen wird, die die Masse des Volkes, […] meinetwegen jene roh Erscheinenden, packt. Ob diese Kunst der zarten Empfindung nicht sehr bald in der Hand der minder fein Besaiteten in eine Rohheit verfallen wird, vor der die Erfinder zuerst mit Entsetzen fliehen werden.«46 Denn die Artistik der Art Nouveau verlangte, wählerisch und reizbar gegenüber dem Banalen, in ihre Gelingensbedingungen eine Dichte kreativer Intelligenz, die sie nur in ihren geglücktesten Einzelfälle hielt. Bei den Genies des Jugendstils allerdings, bei Victor Horta, Antoni Gaudi, Lluís Domènech i Montaner, Hector Guimard oder Pietro Fenoglio, überprägt die Durchdringung der individuellen Künstlerschaft alle Zweifel. Das Maßlose und das Maßstabgebende ihrer von Pathos, Vitalismus und Gefühl beflügelten Architektur verdrängt Inauthentizitätseindrücke dieser Art. Speziell Antoni Gaudí wird mit einem Geniebegriff 44 45
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Sternberger: 1977, S. 30 Hansen, Hans-Jürgen, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Das pompöse Zeitalter. Zwischen Biedermeier und Jugendstil. Kunst, Architektur und Kunsthandwerk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Oldenburg: Stalling 1970, S. 5 Gurlitt, Cornelius: Zur Befreiung der Baukunst. Ziele und Taten deutscher Architekten im 19. Jahrhundert, Berlin: Ullstein 1969, S. 149
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belegt, der die befreiende Explosion seiner originären künstlerischen Unbedingtheitsformen zur einer Mystifizierung übersteigert, wie generell »[d]as Verständnis für Architektur und Design des katalanischen Modernisme […] durch die ungeheure Wirkung des Werkes von Antoni Gaudí […] eher erschwert als erleichtert worden [ist]. Gaudi war eine außergewöhnliche Erscheinung, […] die sich völlig von ihrem kulturellen Kontext zu lösen scheinen.«47 Denn selbst jene Zeitgenossen, so Tim Benton, die ihn für »verrückt« gehalten haben, haben eine authentische Materialisierung vulkanischer künstlerischer Kräfte in seinen Bauten erfasst, haben seinen Glauben, seine Leidenschaft, seinen Genius gewürdigt. Sie »erkannten, was ihn motivierte – seine religiöse Besessenheit, seine absolute Hingabe an den katalanischen Nationalismus, die Exzentrik und der Extremismus seiner Arbeiten.«48 Inauthentizitätswirkungen entfacht der Jugendstil daher dann am stärksten, wenn seine pläsierlich verspielten Dekors applikativ aufgetragen sind und die authentisierende Autorität einer individuellen Künstlerschaft, die einem gesamtheitlichen architektonischen Gestaltungsgedanken die Farbe eigener Entschließung gibt, verhältnismäßig zurücktritt. Wenn sich das theatralisch stilisierte, mit Assoziationsreichtum angefüllte Jugendstil-Zierrat nicht über den Eigenwert einer künstlerisch modellierten Großform legitimiert wie bei den ekstatischen organischen Entgrenzungen des Modernisme oder bei den exklusiven Geometrien des Secessionismus, sondern sich ohne einheitliche Note ornamentativ über Konventionelles legt. Wie beim Stile Liberty, der italienischen Spielart des Jugendstils, den eine vergleichsweise applikative Nutzung eines fließenden, vegetabilen Bauschmucks unter Beibehaltung patrizierhafter historistischer Kubaturen charakterisiert. Mit Ausnahme der in ihrer Plastizität an Victor Horta erinnernden Entwürfe Pietro Fenoglios in Turin wie der Villino Raby, der Villa Scott und der Casa Fenoglio-Lafleur herrschte beim Stile Liberty »die Tendenz, den Art Nouveau lediglich als stilistische Alternative zum Historismus zu interpretieren. Häufig gewinnen figurative Effekte die Oberhand über die Organisation der Bauform, so daß eine bloße Fassadenarchitektur entsteht.«49 In der den Stile Liberty kennzeichnenden eklektizistischen Vermengung der nervösen Feingeistigkeit der Jugendstil-Ornamentik, einer gereizten Empfindlichkeit der Seele, die für das schwarzblutige Fin de Siécle typisch war, mit der vornehm metropolitanen Opulenz späthistoristischer Prachtarchitekturen, liegt der eigentümliche Reiz eines symbolischen Überschusses. Um die tiefen Schatten des vergangenen Jahrhunderts hinter sich zu lassen, erwies sich nach 1900 schließlich die Authentizitätswirkung der Funktions- und Materialgerechtigkeit als radikalere Kraft. Zunächst in den diätetischen Kasteiungsbemühungen eines kalt-antipathischen Neoklassizismus, dann im Neuen Bauen, dass sich mit seinen
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Benton, Tim: »Spanien – Modernismo in Katalonien«, in: Frank Russell (Hg.), Architektur des Jugendstils. Die Überwindung des Historismus in Europa und Nordamerika, Stuttgart: DVA 1982, S. 51 Ebd., S. 51 Godoli, Ezio: »Italien – Die Liberty-Architektur in Italien«, in: Frank Russell (Hg.), Architektur des Jugendstils. Die Überwindung des Historismus in Europa und Nordamerika, Stuttgart: DVA 1982, S. 204
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Idealen der Funktionalität, Rationalisierung und Typisierung beharrlich den späthistoristischen Überwältigungsästhetiken verschließt. Zumal sich ja der Ästhetizismus, der insgesamt die Stimmung des Fin de Siécle war, als überaus brauchbares Scharnier erwies, um Späthistorismus und Jugendstil architektonisch zu amalgamieren. Nicht wenige Architekten, die den Autoritätsschwund der instinktverarmten Stilbaukunst antizipierten, griffen Versatzstücke des Jugendstils auf, um die üppigen »Flimmereffekte des Späthistorismus auf die Fassaden« zu applizieren, wie auch nicht wenige Jugendstilkünstler dem Späthistorismus zuarbeiteten, »ohne die traditionellen Baustrukturen wesentlich abzuändern. Zahlreiche sogenannte Jugendstilbauten sind […] somit im Grunde ebenso wie die barock oder renaissancehaft fassadierten Objekte derselben Entstehungszeit Schöpfungen des Späthistorismus«50 . Die Fundamentalkritik der Architektur des 19. Jahrhunderts, die von der Modernen Bewegung über ihre fortschritts- und technikeuphorische Doktrin des Funktionalismus gespielt wurde, hat die auktoriale Dimension architektonischer Authentizität allerdings keineswegs suspendiert. Zwar schnitt die form- und ornamentbezogene technizistische Selbstbegrenzung, der sich die Erneuerer der Moderne verschrieben, natürlich künstlerische Kreativität ab, sie gab, mit der Abkanzelung des verfeinerungssüchtigen Genussbedürfnisses des Bürgertums »ästhetische Eigenständigkeit auf« und »bewirkte damit nicht nur eine unzulässige Vermischung dieser autonomen Bereiche unserer Wahrnehmungswelt, sondern gleichzeitig eine höchst bedauerliche formale Verarmung der Architektur.«51 Doch gleichzeitig prolongierten die Modernisten, entgegen der funktionalistischen Ideologie, die eine Reduktion des Künstlerischen auf eine instrumentelle Bewältigung von Nutzungsbedingungen suggeriert, durch ihre Überhöhung des kontextfreien, solipsistischen Monuments, des ort- und zuschreibungslosen Einzelgebildes, ein letztlich romantisches Erbe: die Genieverehrung. Die Moderne Bewegung ist, wie Paolo Portoghesi feststellte, »unter dem Aspekt einer Art ›Starsystems‹ angepackt worden, ähnlich dem, das in den zwanziger und dreissiger Jahren im Kino bei Schauspielern und Regisseuren aufgekommen war.« Der Subjekttypus des Künstlerarchitekten wurde in der Heroisierung der Vorreiter der Moderne, die »eine explosive Mischung individueller Genialität und Technik im Reinzustand«52 garantierten, geradezu zum Prinzip verinnerlicht. Le Corbusier, Adolf Loos oder Ludwig Mies van der Rohe wurden zu Personifizierungen des Kunstpriesterlichen. Nun kann man präzisieren, dass dieses Kusshände werfende »Starsystem« keine Erfindung der Architekturpublizistik ist, sondern ein allgemeines Charakteristikum der Kulturindustrie beschreibt – der Manipulation der künstlerischen Arbeit durch den Kapitalismus. Nur ändert diese Anmerkung nichts daran, dass dieses »authentizistische« Virtuositätsideal in der Gestalt des genialischen Stararchitekten bis in die Gegenwart
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Kitlitschka, Werner: Jugendstil und Historismus in Niederösterreich, St. Pölten: Niederösterreichisches Pressehaus 1984. S. 13 Fischer, Günther: »Über den komplizierten Weg zu einer nachfunktionalistischen Architektur«, in: ders. et al. (Hg.), Abschied von der Postmoderne. Beiträge zur Überwindung der Orientierungskrise, Braunschweig: Vieweg 1987, S. 20 Portoghesi, Paolo: Ausklang der modernen Architektur, Zürich: Artemis 1982, S. 13
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triumphiert (– »[s]o lange Norman Foster noch keinen Herrenduft entwerfen muß«53 ). Dass es den marktfähigen Architekturstars mit Glitzer im Gesicht in der medialen Verkürzung weiterhin gelingt, ein Authentizitätsplus gelingender Künstlerschaft für die Entwurfsleistungen ihrer international ausstrahlenden Spektakelarchitekturen einzustreichen, hinter denen ein vielschichtiges Zusammenspiel einer Armada spezialisierter Planungsstäbe steht, die die genial inspirierten Krakelzeichnungen aus der Hand des Architektenstars, die dann eine nachträgliche publizistische Stilisierung erfahren, in Ausführungspläne übertragen. Diese Affektation der Stararchitekten, die sich bei ihren Planungsverträgen die Nullen ihrer Gagen scheinbar selbst eintragen dürfen, solange die sichtbaren Signets ihrer marktschreierischen iconic landmarks die Renditeerwartungen der Investoren erfüllen, verzerren durch das exzeptionalistische Selbstbewusstsein ihres kontextfreien Kunstpriestertums nicht nur das Anspruchsniveau einer Gegenwartsarchitektur, die jede Richtungsgewissheit eingebüßt hat, und der daher nur mehr Namen bleiben.54 Das an künstlerische Einmaligkeitsmythen geknüpfte »Starsystem« bringt eine berufsethische Abwärtsspirale der Architektengemeinschaft mit sich.55 Eine einseitige Ausrichtung auf manövristische architektonische Wichtigtuereien, die sich darin selbst genügen, dass sie auktoriale Authentizitätseffekte inszenieren und das Gesellschaftliche vernachlässigen.56 Gerade die Architekten der Weltklasse versteifen sich auf eine Bildlastigkeit ihrer Entwürfe – mit fatalen Auswirkungen, die Neil Leach als »anaesthetics of architecture« 53 54
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Matzig, Gerhard: Vorsicht, Baustelle! Vom Zauber der Kulissen und von der Verantwortung der Architekten, Basel: Birkhäuser 2011, S. 34 »Architektenbiografien sind es, die in nicht unerheblichem Maß diese Sichtbeschränkung fördern. Architektur und Architekt werden hier samt der dazugehörigen Philosophie Seite an Seite präsentiert; gerade so, als ob ›Meister und Werk‹ eine schlüssige, sich selbsterklärende Einheit bilden könnten. In diesen polierten Darstellungen sind andere vorhandene und prägende gesellschaftliche Kräfte der Gebäudeproduktion aus dem Blickfeld gestrichen. Architektur erscheint als weitgehend alleinbestimmtes Werk ›großer Meister‹.«; Gruber, Rolf: »Sichtbeschränkungen«, in: Günther Fischer et al. (Hg.), Abschied von der Postmoderne. Beiträge zur Überwindung der Orientierungskrise, Braunschweig: Vieweg 1987, S. 55 Die Diagnose lautet, dass wir, mit Gerd de Bruyn, »den allmählichen Verfall des Selbstverständnisses einer Disziplin erleben, in der sich über die Zeiten hinweg ein permanent wachsendes Aufgabenfeld überaus kreativ mit dem Anspruch auf universelle Bildung und mit ehrgeizigen künstlerischen Ambitionen verbinden ließ. […] Umso größer die Katastrophen des Jahrhunderts, desto triumphaler bildete sich am Horizont die Rettungsgestalt des Architekten ab. Damit aber scheint es jetzt vorbei zu sein.«; de Bruyn: 2001, S. 7-8 Die auktoriale künstlerische Authentizität ist schließlich auch das, was die aus den Theorien Derridas hergeleitete Entwurfspraxis des Dekonstruktivismus zusammenhält, nicht »der philosophische und ästhetische Anspruch, das Zusammenbrechen und Zerfließen architektonisch darzustellen«. Die Kreativität, die der Dekonstruktivismus entzündete, legitimiert diesen, nicht das durch Paraphrasierungen der Philosophie Derridas erzeugte, angesichts chaotischer Urbanitäten und Weltzustände kaum »kaum schockierende« »artifizielle Chaos«: »Es bleibt der erregende Nervenkitzel, der dem Kleinbürger das trügerische Gefühl vermittelt, eigentlich doch als Insider einer destruktiven Eleganz auftreten zu können. So oder so bleibt Architektur harmlos; und das umso mehr, als sie laut verkündet, es nicht zu sein. Sie beschwichtigt mit immer interessanteren und spektakuläreren Bildern.«; Lampugnani, Vittorio Magnago: »Die Provokation des Alltäglichen«, in: Der Spiegel, 51/1993
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beschrieben hat: »What is at risk in this process of aestheticization is that political and social content may be subsumed, absorbed, and denied. […] Architecture is potentially compromised within this aestheticized realm. […] The world becomes aestheticized and anaesthetized. In the intoxicating world of the image, the aesthetics of architecture threaten to become the anaesthetics of architecture.«57 Eine »Gefahr des Umschlags des Ästhetischen in das Anästhetische« liegt gerade, auch Marquard hat darauf hingewiesen, in den Elementen des Ekstatischen einer ästhetischen Affirmation. Eine Gefahr »der Verwandlung von Sensibilität in Unempfindlichkeit, von Kunst in Betäubung. Vor allem dann, wenn die ästhetische Kunst – kunstgrenzvergessen – die ganze Wirklichkeit in den Traum und Rausch der Kunst hineinzieht […]; dann ist das nicht mehr nur Ästhetisierung der Kunst, sondern Ästhetisierung der Wirklichkeit selber. Das ist nicht gut, denn das ist – durch diese Ästhetisierung der Wirklichkeit – die Anästhetisierung des Menschen. Aus Aesthetica werden – gefährlich – Anaesthetica.«58 Entscheidend ist dabei weniger, ob sich die mit aggressiven marktwirtschaftlichen Mitteln betriebene Selbstdarstellung und -vermarktung der Architekturstars nun, wie beispielweise bei Zaha Hadid, Santiago Calatrava oder Frank Gehry, auf eine Wiedererkennbarkeit als »Signature Style« spezialisiert, auf »das buchstäbliche Einhämmern einer Marke als Bildzeichen in Optik und Erinnerung der Betrachter«, was meist, so Winfried Nerdinger, darin mündet, dass die Architekten »von ihrem eigenen Markenzeichen nicht mehr loskommen und sich von Bau zu Bau nur immer noch banaler repetieren.«59 Oder ob sie, wie beispielsweise Rem Koolhaas, Herzog & de Meuron oder Jean Nouvel eine Innovationsagenda der Entwurfseinmaligkeit und -einzigartigkeit ausbilden. Denn auch »das Marktgeschrei der Bauten, die sich selbst als Unikate und Kunstwerke anpreisen, ergibt nur eine Kakophonie. Wichtigste Aufgabe dieser Art von Bauwerken ist die Akkumulation der Aufmerksamkeit, die von eigenen Werbeabteilungen der betreffenden Büros gesteuert wird«60 .
2.2
Authentizität als Materialwahrheit und -gerechtigkeit
Die zweite Dimension architektonischer Authentizitätsdiskussion betrifft die bauliche Materialität. Materialauthentizität im Verständnis einer Materialwahrheit, die in der Architekturtheorie vielfach als Materialsichtigkeit interpretiert wird, scheint sich
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Leach: 1999, S. 45 Marquard: 1989, S. 12 Nerdinger: 2012, S. 193; Wie Nerdinger präzisiert, hat sich diese Entwicklung erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zugespitzt. Zwar waren auch die »großen Architekten der klassischen Moderne […] ohne Zweifel alle auch große Bilderproduzenten sowie Selbstdarsteller und Vermarkter ihrer Architektur.« Die mit ihren Architekten verbundenen Bildzeichen waren allerdings nicht rein selbstbezogen: »sie zielten auf eine neue Form von Behausung und Lebenswelt aller Menschen im Maschinenzeitalter, und auch die Einzelbauten für spezifische architektonische Funktionen wurden als charakteristische Signale für diese neue Lebenswelt aller Erdenbürger geplant.«; ebd., S. 194 Ebd., S. 193
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im Vergleich mit der künstlerischen Authentizität der Autorschaft, die mit verfänglichen kunstphilosophische Annahmen zur Autonomisierung des Künstlersubjekts verschränkt ist und sich in einem durch die »geschichtlichen Bedingungen der Möglichkeit der Selbstkritik des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst«61 radikalisierten Spannungsverhältnis zwischen der Institution Kunst in ihrer ästhetischen Ausdifferenzierung und Autonomie und dem Künstler aufhält, auf eine verhältnismäßig einfache Beglaubigungspraxis zu stützen. Die Frage der Materialwahrheit oder Materialgerechtigkeit, die mit der Architekturlehre des venezianischen Franziskanerpaters Carlo Lodoli im 17. Jahrhundert ihren architekturtheoretischen Ausgang nahm, ist allerdings nicht nur dahingehend tückisch, als Materialeigenschaften in einer Qualität imitiert und gefälscht werden können, dass Architekturbetrachter in vielen Fällen gar nicht in der Lage sind, Materialauthentizität zu beurteilen, ohne die Echtheit der verwendeten Werkstoffe durch eine Befundung zu verifizieren, und erst recht nicht eine bauhistorische Denkmalauthentizität. Die Autorität des Materiellen wird seit der Autonomisierung der Wertsphäre des Ästhetischen eine Frage ästhetischer Wahrnehmung: »das Modell von Authentizität verschiebt sich […] in einer für die Moderne signifikanten Weise und wird eben, zu einer Geschmacksfrage. Es wurzelt nämlich nicht mehr in der Autorität der Sache, d.h. seiner Materialität, von welcher sich der Formwille des Künstlers als neue Autorität vielmehr emanzipiert hat: Das Kunstwerk ist ästhetisches Kunstwerk kraft seiner Artifizialität, d.h. seiner kunstvollen Gemachtheit oder Bildung«62 . Was unter einer funktions- und materialgerechten Verarbeitung einzelner Baumaterialien zu verstehen sei, setzt begriffsgespeiste evaluative Einverständnisse voraus, die entweder mit bedenklichen Schönheitsvorstellungen korrespondieren, die wie das Vertrauen in Materialauthentizität überhaupt, wie Adorno schrieb, »aus der Kunstgewerbereligion der vorgeblich edlen Stoffe übernommen«63 worden sind oder jedoch, bei verhältnismäßig jungen, industriell gefertigten Materialien wie Membranen, Fiberglas, Plastik und diversen Halbfertigfabrikaten an sich diffus bleiben und sich überdies nicht auf ein »archaistische[s] Vertrauen auf die eingeborene Schönheit«64 stützen können. Die unterschiedlichen, uneinheitlichen Authentizitätszuschreibungen, die an die einzelnen Materialstrukturen und Materialverarbeitungen geknüpft sind, variieren darüber hinaus auch hinsichtlich der Zweck- und Funktionszusammenhänge, der sie zugeteilt werden. Sie machen Materialgerechtigkeit verstanden als Vertrauen in eine dem Material adäquate Ver- und Bearbeitung an sich fragwürdig. Adorno hat dies in seinem Aufsatz Funktionalismus heute herausgestrichen, als er festhielt, dass »[d]er Widerstand gegens kunstgewerbliche Unwesen […] längst nicht nur den erborgten Formen [gebührt]; eher dem Kultus der Materialien, der eine Aura des Wesenhaften um sie legt.«65 Materialauthentizität kann nicht heißen, dass eine substantialistisch dem Material inhärente Qualität entschleiert wird, zugleich ist allerdings die Durcharbeitung
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Bürger: 1974, S. 30 Wetzel: 2006, S. 38 Adorno: 1967, S. 108 Ebd., S. 109 Ebd., S. 109
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des Materials Bedingung für künstlerische Authentizität, die es als materialfremde Ästhetik nicht geben kann: »Allein dilettantischer Unverstand und banausischer Idealismus werden sich dagegen sträuben, daß jede authentische, im weitesten Sinn künstlerische Aktivität genaueste Kenntnis der zur Verfügung stehenden Materialien und Verfahrungsweisen erheischt, und zwar jeweils auf dem fortgeschrittensten Stand. Nur wer nie der Disziplin eines Gebildes sich unterwarf und stattdessen seinen Ursprung intuitionistisch sich ausmalt, wird fürchten, daß Materialnähe und Kenntnis der Verfahrungsweisen den Künstler um sein Ursprüngliches brächten. Wer nicht lernt, was verfügbar ist, und es weitertreibt, fördert aus dem vermeintlichen Abgrund seiner Innerlichkeit bloß den Rückstand überholter Formeln zutage.«66 Kunsttheoretische Einsichten dieser Art haben freilich der Architektur des 20. Jahrhunderts ihre materialästhetischen Authentizitätszuweisungen nicht austreiben können. Die Illusion stofflicher Werkgerechtigkeit delegitimierte sich vielmehr zunehmend im eigenen Erfolg. Erst in den Kanonisierungsroutinen der Moderne ist die »Rhetorik der Materialgerechtigkeit«, wie Ákos Moravánszky es nennt, »zum Gemeinplatz geworden, der nicht mehr fähig ist, die Illusion von einer organischen Einheit von Ort, Konstruktion und Form im Leben zu erhalten. […] Die Architekten, welche die kompensatorische Funktion der nostalgischen Suche nach dieser verlorenen Einheit erkannt haben, verwenden ihre formalen Ergebnisse für Inszenierungen, welche der simplen These der Materialwahrheit widersprechen.«67 Aber auch wenn die uneinheitlichen Authentizitätszuschreibungen an Materialien einen Wahrheitsanspruch deplausibilisierten, blieb die Erwartungshaltung, dass Materialbeschaffenheit sichtbar sein muss, davon unberührt. Ein Erbe Carlo Lodolis, der für die Einführung des Begriffs der Funktion in die Architekturterminologie verantwortlich war und gegen die illusionistische Barockbaukunst gerichtet, »als einer der Ersten bestimmen wollte, was auf einer Fassade sichtbar sein darf und was nicht. Durch Lodolis Verbindung der Wahrheit mit der Sichtbarkeit des Konstruktionsmaterials waren Vernunft und Sittlichkeit der Architektur endgültig mit der Frage des Verhältnisses von Konstruktion und Oberfläche verbunden.«68 Diese Gedankenlinie zieht sich durch die architekturtheoretische Diskussion von Lodoli bis hin zur Echtheitsdoktrin der Moderne. In ihren intellektuellen und ästhetischen Distanzierungsmaßnahmen vom Historismus und Jugendstil drehten die Modernisten die Vektoren um und legten die Wertigkeit verblendungsfreier Konstruktion neu fest. Sie verschrieben den übersäuerten Mägen des 19. Jahrhunderts eine Diätik materialsichtiger Funktionalität als Zukunftsverlangen einer emanzipierten Architektur, evozierten mit betonten Gesten der Entschiedenheit einen Schock des Neuen, einen irreversiblen Bruch mit den flitterbehängten Stilarchitekturen: »Den Ehrgeiz der
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Ebd., S. 115 Moravánszky, Ákos: Stoffwechsel. Materialverwandlung in der Architektur, Basel: Birkhäuser 2018, S. 160 Ebd., S. 133-134
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Gründerzeit-Architekten, das dem wirtschaftlichen Nutzen Unterworfene baukünstlerisch zu nobilitieren, verwandelte die Moderne in die Moral einer ungeschminkten Zurschaustellung des Nützlichen. Die eigene Bedeutung sah sie in der ›Ehrlichkeit‹ der Konstruktion, des Materials und in der konsequenten Durchbildung der Funktionen begründet.«69 Und mit diesem »alleinigen und anfänglich radikalen Anspruch scheint uns die Moderne […] bisweilen noch heute Glauben zu machen, dass auch wir, dass wir immer noch Teil dieser sich scheinbar immer – bis in unsere Gegenwart – zerdehnenden Stunde Null eines Neuanfangs sein könnten.«70 Hinter der Behauptung, die Architektur des Funktionalismus trage keine Maske mehr, sondern zeige ihr nacktes Gesicht, stand die Auffassung, wie nicht nur Joachim Fest feststellte, »daß ein Bauwerk nicht betrügen dürfe«. So rechtfertigte die Moderne »die Nacktheit des Baustoffs, die dann zur Würde des Sichtbetons hochgeredet wurde. Doch offenbarte man damit weniger die Ehrlichkeit von Konstruktion und Material als die eigene Unkenntnis der Baugeschichte. Die Architektur war immer die Kunst des schönen Betrugs.«71 Eine Architekturästhetik des Inauthentischen findet genau daran Gefallen: an einer »Kunst des schönen Betrugs«, an ausdrücklichen und unausdrücklichen Illusionen. Architekturstile, die aufgrund ihrer illusionistischen Unaufrichtigkeit kunsthistorisch als unerfreuliche Defekt- oder Zersetzungsepisoden gedeutet werden, sind ihr ein Abenteuer der Wahrnehmung, der getäuschten Augen. An der Gotik zum Beispiel begeistert sie der Flamboyantstil, der die im Außenbau sich abzeichnenden Elemente der statischen Lastableitung, die gotischen Konstruktionselemente der Rippengewölbe, Spitzbögen und Strebepfeiler in simulatorisch dekorative Aufmerksamkeitssignale überführte. Die Baukunst der Renaissance erweist sich bei ihren Überführungen antiker Architektur gerade da als ein Tableau interessanter Inauthentizitätswirkungen, wo sich der »Spielgehalt« der Renaissancekultur, auf den Johan Huizinga hingewiesen hat, in ihren Bauwerken niederschlug: »Der Geist der Renaissance war dem Frivolen fern. Dem Altertum nachzuleben war ihm heiliger Ernst. Die Hingabe an das Ideal plastischer Schöpfung und intellektueller Erfindung war von einer unerreichten Heftigkeit, Tiefe und Reinheit. […] Und dennoch ist die ganze Geisteshaltung der Renaissance Spiel. Dieses zugleich verfeinerte und doch frische und kräftige Streben nach der edlen und schönen Form ist gespielte Kultur. Die ganze Pracht der Renaissance ist eine fröhliche und feierliche Maskerade im Schmuck einer phantastischen und idealen Vergangenheit.«72 Die Renaissanceschriftsteller betätigten sich, wie auch Valentin Groebner unterstreicht, als »virtuose[] Produzenten einer Kompositvergangenheit neuen Typs. Sie schufen nicht nur aus Zitaten von Cicero, Ovid, Horaz und anderen neue Texte mit komplett neuen 69 70 71 72
de Bruyn : 2001, S. 57 Schröder, Uwe: »Der vierte Raum«, in: Klaus Theo Brenner/ders. (Hg.), Strada Nuova. Typologische Studien zur Architektur der Stadt Genua, Tübingen: Wasmuth & Zohlen 2015, S. 8 Fest, Joachim: Im Gegenlicht. Eine italienische Reise, Berlin: Rowohlt 1988, S. 332-333 Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. S. 196
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Aussagen. Sondern sie erzeugten aus gefundenen, rekonstruierten und neu produzierten Versatzstücken eine neue Gesamtantike«73 . Und das gleiche taten die Renaissancearchitekten, mit freiem und herrscherlichem Geist. Sie verstanden es meisterhaft, Gebäude zu entwickeln, die hinter scheinbar authentischer Steinsichtigkeit »ihre echten Tragwerke versteckten und doch das Auge durch ein vollständiges System falscher Konstruktion befriedigen konnten«. Wie Clough und Amabel William-Ellis schrieben, ist es aber »[f]ür unser Vergnügen […] nicht entscheidend, daß die Säulen, die wir sehen, tatsächlich die Last tragen. […] [D]ie Renaissance-Baumeister haben […] erkannt, daß viele neue Kombinationen dann umgesetzt werden können, wenn der konstruktive Anlaß für unser Vergnügen an einem Gebäude zwischen Wirklichkeit und Erscheinung manchmal trennt.«74 Auch an der Barockbaukunst, der die Frage der Materialauthentizität gleichfalls unbeträchtlich war, findet eine Architekturästhetik des Inauthentischen Gefallen an künstlerischen Maschen, die affektiert und manieristisch wirken, die ihren Reichtum verschleuderten, sich in ihrer Kunst verausgabten. Der Barock und seine Bauherren, eine reaktionäre, zur Gegenreformation ansetzende, mit ihren Affekten ringende Machtallianz aus Absolutismus, Merkantilismus und Katholizismus, schuf sich eine Architektursprache, die einen Eindruck machen will, die mit ihrem Pathos den Anspruch auf Herrschaft anmeldet. Zugleich allerdings scheint in den plastischen Illusions- und Überwältigungsästhetiken des Barocks eine Preisgabe ans Irrationale durch, der abermals den Spielcharakter des Gesellschaftlichen verrät, wie Huizinga schrieb: »[M]it dem Begriff Barock [wird] immer die Vorstellung von etwas bewußt Übertriebenem, absichtlich Imposantem, anerkannt Unwirklichem verbunden. Die Formen des Barocks sind und bleiben im vollsten Sinne des Wortes Kunstformen. Auch dort, wo sie das Heilige darstellen, drängt sich das gewollt Ästhetische so stark vor, daß wir Menschen von heute Mühe haben, die Art, wie das Thema behandelt ist, als unmittelbare Umsetzung religiöser Empfindung zu werten.«75 Im späten 18. Jahrhundert erfuhr die Materialauthentizität als Aspekt des »Wahrheitscharakters« der Architektur mit dem Klassizismus, der apotheotischen Stilwiederaufnahme der Baukunst der Antike, dann allerdings eine kräftige Aufwertung. Das klassizistische Architekturideal, seine als »Gegenwirkung gegen den leichtlebigen Zeitgeist [des Rokoko] auftretende Sehnsucht nach Reinheit und Einfachheit, die sich künstlerisch in dem Zurückgreifen auf die gerade jetzt neu entdeckte griechische Antike aus-
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Groebner, Valentin: Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2018, S. 53; »[F]ür die Humanisten steckte die Überzeugungskraft der alten Monumente in ihrer Bedeutung und Beweiskraft für die Präsenz ehrwürdiger Ursprünge. Antike als autoritative und verehrungswürdige ›antiquità‹ war im 15. Jahrhundert etwas, was nicht einfach nur als rätselhafter Überrest herumstand. Es war etwas, was man für anspruchsvolle Auftraggeber im Wortsinn neu entwerfen musste.«; ebd., S. 50 William-Ellis, Clough/William-Ellis, Amabel »Die Scheinlogik architektonischer Schulweisheiten«, in: Gerald R. Blomeyer/Barbara Tietze (Hg.), In Opposition zur Moderne. Aktuelle Positionen in der Architektur, Braunschweig: Vieweg 1980, S. 24 Huizinga: 1987, S. 198
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sprach«76 , wie Muthesius es ausdrückte, sah in der Materialsichtigkeit des weißen Marmors antiker Tempelarchitektur eine vollendete normative Vorbildlichkeit, ein objektives »Wesen höchster Schönheit«. Wobei es nebensächlich war und ist, dass Johann Joachim Winckelmanns aseptisch weißes Antikenbild, das sein Aufruf zur »Nachahmung der Alten« zeichnete, auf einer Verklärung ihres steinernen Ruinendaseins beruhte, wie der Polychromiestreit des 19. Jahrhunderts zeigen sollte: Winckelmann eine Dinglichkeit antiker Steinbauwerke als allgemeingültiges ästhetisches Ideal verabsolutierte, die in Wirklichkeit bunt bemalt waren und deren gravitätische Materialsichtigkeit daher lediglich ein Verwitterungsphänomen darstellte. Das Wichtige an der klassizistischen Kanonisierungsdynamik der Antike sind die über die urheberschaftliche Authentizitätszuschreibung hinausreichende normativen Werte der Echtheit und Provenienz.77 Die Materialauthentizität als Materialsichtigkeit wurde im Klassizismus allerdings durch eine imperativische ästhetische Maxime hierarchisch relativiert: durch das im Anfangsimpuls gegen die illusionistischen Überwältigungseffekte des Barock gerichtete, dem Vernunftglauben des Aufklärungszeitalters verpflichteten Prinzip der Reinheit, das Winckelmann in seiner berühmten Charakterisierung der »vorzügliche[n] Kennzeichen der griechischen Meisterstücke« als »edle Einfalt und stille Größe« bannte, und als Maß für intellektuelle Inständigkeit, Integrität und Gedankenzucht gefasst wurde. Und da sich Reinheit auch in Putzflächen ausdrücken ließ, standen Karl Friedrich Schinkel Sichtziegel- Friedrich Weinbrenners Putzfassaden gegenüber, zeigte der Klassizismus wenig Skrupel, beispielsweise mittelalterliche Fachwerkhäuser mit Putz zu verblenden.78 Winckelmanns Leitsatz der »edlen Einfalt und stillen Größe« suggeriert als künstlerische und auch als materialästhetische Devise einen Authentizitätsimperativ, der sich, wie Schlich ausführt, »[v]or dem Hintergrund des Machtkampfes, der im Zeichen von Tugend, Aufrichtigkeit und nun auch Einfalt und Einfachheit mit traditionell überkommenen Strukturen ausgefochten wird«, ausbildet. Zugleich hinterläuft das Ideal der Einfalt und Naivität allerdings wie ein »Pflaster, das das moderne facettierte Dividuum auf seine Schnittstellen legt, an denen ein innerer Konflikt auszutragen wäre«79 , sedativierend zumindest die Authentizitätsinstanz der künstlerischen Individualität. 76 77
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Muthesius: 1902, S. 13 »Authentizitätsfragen im Sinne von Echtheitsbestimmungen und Zuschreibung [werden] erst mit Winckelmann in den Kunstdiskurs eingeführt. In der Folge wird der Begriff zu einer Frage des individuellen kunstwissenschaftlichen Sachverstandes, naturwissenschaftlich gestützter Untersuchungsmethoden und des Kunstmarktes […] [im] breiteren Sinnspektrum, das vor allem für die Kunsttheorie der Moderne von Bedeutung wird: wahrhaftig, originell, unverfälscht.«; Knaller: 2006, S. 20 »Wie die vorhergehende Epoche, war auch der Klassizismus vielfach gezwungen, mittels Fachwerks und Putz Steinarchitektur zu imitieren und dokumentierte damit eine uns fremde Auffassung von Werkstoff und Material.«; Bubner, Berthold: Wiesbaden. Baukunst und historische Entwicklung, Wiesbaden: Seyfried 1983, S. 18 Schlich: 2002, S. 87; »Der Begriff der ›edlen Einfalt‹ erweist sich als eine leere Abstraktion, weil die Dividuen in ihrem Zeichen von sich absehen und qua bewußtseinsmäßiger Stagnation – gerade nicht die mit ihm behauptete Individualität erreichen. ›Edle Einfalt‹ ist ein strategischer Begriff, der der empfundenen Herausforderung an das Integrationsvermögen des Subjekts Rechnung zu tragen vermag, ohne sie einzulösen.«; ebd., S. 87
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Als im Ganzen inauthentizitätsanfällig erwies sich überdies die »durch Architekturtheorie vermittelte Wirkung klassizistischer Ästhetik auf die Ausbildung historistischen Stilverhaltens«80 , wie Klaus Döhmer herausstrich. Dahingehend, dass sich mit der Antikenrezeption die Prinzipien der Stilübernahme des Historismus schematisierten – was dazu beiträgt, eine Interpretation zu favorisieren, die in der epochengeschichtlichen Einteilung den Klassizismus weniger als eigenständiges Stilphänomen denn als erste Etappe des Historismus betrachtet. Denn die Gärungsmittel des Historismus waren, wie Claude Mignon zusammenfasst, bereits »an der Schwelle des 19. Jahrhunderts in nuce vorhanden: das Streben nach römischer Größe, die Versuchung romantischfreier Form, der Rationalismus in Bautechnik und stilistischen Mitteln, der subjektive historische Symbolismus, der eklektische Historismus und die archäologische Dogmatik.«81 Der romantische und der strenge Historismus vertilgten so gesehen die Empfindungen des Klassizisten weniger mit Ideen als mit einer Reihe geschmacklicher Veränderungen, einem ganzheitlichen Empfinden für das architektonische Bild. Es entwickelte sich ein Streit mit und um Ideen der Geschichte, die in einer auf Repräsentationswirkungen ausgerichteten bauaufgabenspezifischen Architekturtypologie mündeten: »Funktion, Typ und Stil gehen getrennte Wege. Ansprüche auf Geltung prägte die von historischen Stilen vorbesetzte Typenwahl, nicht die Funktion. […] Mit den wachsenden Geltungsansprüchen, deren Entwicklungsgesetz das der Konkurrenz der an der Stadt machtbeteiligten Kräfte ist, verbrauchen sich die Würdeformen, wechseln die Stilvorbilder.«82 Die architekturtheoretische Diskussion des 19. Jahrhunderts prägte genau dieser Zwiespalt. Mit einer Theorie der Materialwahrheit, der Authentizität, auf der einen Seite, der »das Prinzip der Materialgerechtigkeit als jenes Gesetz der Baukunst [erschien], das über den Streitigkeiten der Stilparteien des Historismus steht.«83 Und einer Praxis der Materialsimulation, der Inauthentizität, auf der anderen Seite, die bei den die Übertreibung liebenden Stilimitationen des Historismus, und speziell bei der oft gestelzten, eitlen Explizitheit eklektizistischer Verschmelzungsprozesse, den Imperativ einer materialästhetischen Authentizitätsverbürgung augenfällig entkrampfte. Es ist daher nicht unschlüssig, dass zum führenden Anwalt des Wahrheitskriteriums in der Architektur des 19. Jahrhunderts ein Mann wurde, dem der Historismus als »baukünstlerischer Betrug« erschien: John Ruskin, der wichtigste Kunstkritiker des viktorianischen Zeitalters, dessen Anleitungswillen zum ästhetischen Genuss die Ära einen Teil der Anregung zu ihren Gedanken schuldete. Die Schriften des intellektuellen Generalisten beabsichtigten herauszuarbeiten, »welche Macht und Allumspannung in diesem einzigen Prinzip enthalten ist, und wie von dem Befragen oder Vergessen desselben die Würde oder Entwürdigung jeder Kunst und jedes menschlichen Könnens abhängt.«84 Ruskin machte das Verlangen nach künstlerischer Gewissenhaftigkeit 80 81 82 83 84
Döhmer : 1976, S. 47 Mignon, Claude : Architektur des 19. Jahrhunderts, Köln: Taschen 1994, S. 21 Lemper: 1985, S. 68 Moravánszky: 2018, S. 148 Ruskin: 1999, S. 61; Denn ein Verrat an der architektonischen Wahrheit, ein »Ausscheiden der Gewissenhaftigkeit aus den künstlerischen Bethätigungen hat nicht nur die Künste selbst zersetzt,
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zum Ausgangspunkt und zur Erfahrungsgrundlage seiner architekturästhetischen und -philosophischen Gedankengänge, spitzte die Frage, »ob wir eine wahrhaftige Baukunst haben, die den Namen verdient, oder nicht«85 , zu einer Kritik des Historismus zu, die vernichtend ausfiel. Er blickte auf eine in verdunkelte Farben getauchte Wirklichkeit einer inauthentischen Architektur, auf eine durch Täuschungen beeinträchtigte, intrikate Kunstwahrheit, und verurteilte, was ihm Schande und Unreinheit war. Ruskin, diese mit markanteste Figur im Disput der intellektuellen Gruppen der viktorianischen Epoche, eine ihrer geistigen Figuren ersten Ranges, verachtete, mit Herbst in der Brust, den aufsteigenden Industriekapitalismus, die industrielle Billigfertigung, in apodiktischen Urteilssprüchen. Der gewaltige Wahrheitsanspruch in Kunst und Kunsthandwerk, der seine Ansichten und seine Beziehung zur Zeit und ihren Hauptvertretern bestimmte, ließ Ruskin in intellektuelle Distanz zum Großbritannien im Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft treten. Er sah das Land in die Unreinheit der Lüge verfallen – aus der »Überzeugung, dass für den Fortschritt im Kunstempfinden eines Volkes wenig Hoffnung vorhanden ist, wo man derartige rohe und billige Ersatzmittel in größerem Umfang für dekorative Zwecke verwendet.«86 Die »Angst vor der Maschine«, die sich zu einem bedeutenden »Topos des moralund kulturphilosophischen Denkens des neunzehnten Jahrhunderts« verfestigte, wie Trilling bemerkte, wuchs bei Ruskin zu antiindustriellen Gegenpredigten aus, die sich, vor Zorn und Verzweiflung lodernd, auch gegen das Eisenbahnnetz richtete, das sich über das Land legte: »Das mechanische Prinzip ebenso wie das [kapitalistische] Aneignungsprinzip […] wurden als Feinde des Seins und als Quelle der Inauthentizität empfunden. Die Maschine, sagt Ruskin, könne nur nicht-authentische Dinge herstellen, und die toten Dinge teilten ihre Unlebendigkeit denen mit, die sie benutzen.«87 Sein architekturtheoretisches Hauptwerk Die sieben Leuchter der Baukunst argumentierte allerdings für das Wahre und Authentische nicht im Sinne der Expression von künstlerischer Originalität und Neuheit, einer Stilerfindung, sondern im Sinne einer ethischen künstlerischen Einlösung von Echtheit und Ehrlichkeit: »Alle Arbeit muß sich in guten, unverfälschten Materialien und Formen verwirklichen; sie darf im Betrachter keine falschen Vorstellungen über den Charakter des verwandten Stoffes und über das Quantum an investierter Zeit und Geschicklichkeit erwecken.«88 Eine wahrhafte, authentische Architektur verlange als Grundbedingung die sichtbare Anstrengung der Künstler und Handwerker – in der Weise, wie sich die historischen Baudenkmäler durch »durchweg harte Arbeit« auszeichnen: »Vielleicht die harte Arbeit von Kindern, von Barbaren, von Bauern, aber es war stets ihr Äußertes. Unsere hat stets den
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sondern auch das Zeugnis hinfällig gemacht, das sie hätten geben können hinsichtlich des Charakters der verschiedenen Völker, unter denen sie gepflegt wurden«; ebd., S. 64 Ebd., S. 378 Ebd., S. 103 Trilling: 1983, S. 120 Kemp, Wolfgang: John Ruskin. Leben und Werk 1819-1900, München: S. Fischer 1987, S. 177; »Originalität hängt nicht im mindesten von solchen Dingen [wie einer Stilerfindung] ab. Ein Mann von eigenartiger Begabung wird irgend einen gangbaren Stil aufnehmen, den Stil des Tages, und wird darin arbeiten, darin groß sein«; Ruskin: 1999, S. 379-380
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Beigeschmack von Geldeswert«89 . Der Historismus machte sich für Ruskin mit seinen imitierenden Surrogatmaterialien aus den damals etablierten Baukatalogen für typisierte Details einer »Pflichtvernachlässigung« schuldig, da für ihre gewinninteressierten Auftraggeber »allein die Chance ausschlaggebend [war], ohne Verzicht auf historisch authentische und ästhetisch reputierliche Form die steigenden Materialkosten zu unterlaufen«90 . Ruskin differenzierte drei Arten der inauthentischen täuschenden Wiedergabe. Die erste betrifft die Vorspiegelung nichtexistenter Konstruktion, etwa die beabsichtigte Suggestion falscher Baustützen und Tragbedingungen, die ihm tadelnswerte »täuschende Nachahmung derselben – die Einführung von Baugliedern, welche einen Zweck haben oder zu haben scheinen, und ihn nicht erfüllen.«91 Die zweite behandelt die architektonische Dinglichkeit. Ruskin sind »sämtliche Imitationen […] durchaus niedrig und verwerflich«. Es ist ihm »betrübend, an den Zeitverlust und Kostenaufwand zu denken, der beim ›Marmorieren‹ […] verloren geht, und an die Vergeudung unserer Mittel in absoluten Nichtigkeiten«92 . Das dritte Gebiet der Täuschung umfasst schließlich das, was Ruskin »Herstellungs-Täuschung« nannte, die Verwendung »von gegossener oder maschinenerzeugter Arbeit statt Handarbeit«93 , die er missbilligte, da ihm »der Wert eines Ornaments […] auch in der Zeit [liegt], die nötig ist, um es zu schneiden.« Es bleibt ihm in seiner Prinzipienfestigkeit nicht anderes, als das inauthentische Surrogat zu verdammen: »Fabrik-Ornament stellt einen Arbeitswert dar, den es nicht besitzt, und darum ist es eine Unverschämtheit, eine Pöbelhaftigkeit und eine Sünde. Nieder damit! Mahlt es zu Pulver!«94 Ruskins Wichtigkeit liegt in dem von ihm verallgemeinerten, nach der äußeren Wahrheit und inneren Wahrhaftigkeit der Architektur fragenden Authentizitätsdiskurs, der über die Arts and Crafts Bewegung in die Doktrinen der Moderne diffundierte und damit die Interpretation des Historismus als inauthentische Kunst imitativer Unaufrichtigkeit bestimmte. Denn »Interesse und Sympathie der Kunstgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts« galt den Arts and Crafts-Idealisten, diesen Wegbereitern moderner Formgebung, wie sie Pevsner bezeichnete, »die wortreich gegen die ›seelenlose‹ Serienproduktion kämpften«, obwohl durch jene »[l]etzten Endes […] die tatsächliche große Aufgabe des Jahrhunderts, die Produktion ›for the million‹ nach der industriellen Revolution, nicht gelöst«95 werden konnte. Die von Ruskins Ideen beeinflussten Architekten und Künstler der Arts and Crafts, deren wichtigster Initiator der Literat und Kunstgewerbler William Morris wurde, verband mit den viktorianischen Historisten zwar ihr in tiefliegenden Reminiszenzen gezeigtes Geschichtsinteresse. Anders als diese suchten sie im Mittelalter allerdings nicht
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Ebd., S. 39 Döhmer: 1976, S. 137 Ruskin: 1999, S. 69 Ebd., S. 87-88; Ebd., S. 96 Ebd., S. 99 Mundt, Barbara: »Europäisches Kunstgewerbe des Historismus im 19. Jahrhundert«, in: Hermann Fillitz (Hg.), Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa, Wien: Brandstätter 1996, S. 187
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ausdrucksstarke stilistische Wirkungsmittel, sondern in Reaktion auf die Minderwertigkeit der Waren aus industriellen Fertigungsverfahren eine authentische, urwüchsige Kunst, die sie in der beglückenden Arbeit mittelalterlicher Handwerksgilden verwirklicht sahen. In einem aufrichtigen, einfachen Umgang mit dem Material versuchten sie der Verstümmelung des ästhetischen und manuellen Geschicks durch das Industriezeitalter entgegenzuwirken – ein gesellschaftlicher Anspruch, der ihren gefühlten Vergangenheitsverlust deutlich von Pugins Wiederentdeckung der Gotik im Geiste einer religiösen Erneuerung unterschied.96 Morris übernahm Ruskins Industriefeindlichkeit nicht nur in theoretischen Kommentierungen, in denen er den Verfall des Kunstgewerbes »durch die Entwurzelung des Handwerkers und seine[] Degradierung zum Gehilfen der Maschine« anprangerte, sondern überführte seine Rückbesinnung auf die Qualitäten individueller Handarbeit in die Praxis. Er entwarf manuell bedruckte Tapeten- und Chintzemuster, webte Teppiche, brannte Fliesen, da eine »Reform des Kunstgewerbes […] nur aus einer Reform auch der Herstellungsbedingungen und der Fertigungsmethoden erfolgen [kann], das heißt durch die Wiedergewinnung alter handwerklicher Praktiken.«97 Morris, der seine Zeit entindustrialisieren, aber nicht entzivilisieren wollte, konnte mit den feinen Handarbeiten seiner Manufaktur, dieser exquisiten »Gegenwelt der Schönheit im Sumpf des viktorianischen Geschmacks«98 , allerdings natürlich nur eine sehr schmale Alternative anbieten. Er, der begüterte Unternehmer und feingeistige Ästhet, der sich im Umfeld der Präraffaeliten aufhielt, zugleich jedoch als revolutionärer Sozialist die Arbeiterklasse agitierte, fand nicht aus dem Dilemma, dass sich seine Erzeugnisse, die eine erweiterte persönliche Freiheit der Menschen verkörpern sollten, nur die Wenigsten leisten konnten: »So qualitätvoll die Produkte aus der Werkstatt von Morris waren, die Fertigungsmethode war ein Anachronismus in einer Zeit, in der ein massenhafter Bedarf schnell und kostensparend befriedigt werden mußte. Seine Erzeugnisse konnten nur einer kleinen Schicht von Begüterten zugutekommen.«99 Den Einfluss der von der englischen Reformbewegung entwickelten Prinzipien einer kunstgewerblichen Form- und Werkgerechtigkeit auf die Architektur des frühen
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»Pugin thought that by pointing to the beauties of Gothic he could bring lost souls into the arms of the Church; Morris thought that by pointing to the happiness of the Middle Ages, he could persuade Industrialism to abolish itself.«; Jordan, Robert Furneaux: Victorian Architecture, London: Penguin 1966, S. 182 Lehmbruch, Hans: »Einrichtungen und Möbel«, in: Hans-Jürgen Hansen (Hg.), Das pompöse Zeitalter. Zwischen Biedermeier und Jugendstil. Kunst, Architektur und Kunsthandwerk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Oldenburg: Stalling 1970, S. 100 Sager, Peter: »William Morris oder Der Stoff, aus dem die Grünen sind: Wie wir leben, wie wir leben könnten«, in: Die Zeit, 49/1983 Lehmbruch: 1970, S. 107; »Darin liegt der entscheidende Widerspruch zwischen Morris‹ Leben und Lehre. Sein Werk, die Wiedererweckung des Handwerks, ist aufbauend; der Kern seiner Lehre ist zerstörend. Nur Handwerk fordern, bedeutet die Bedingungen mittelalterlicher Primitivität fordern […]. Das wollte er nicht; und weil er anderseits nicht gewillt war, irgendwelche nachmittelalterlichen Herstellungsmethoden in seinen Werkstätten zu verwenden, war die Folge, daß seine Arbeit teure Arbeit wurde.«; Pevsner, Nikolaus: Wegbereiter moderner Formgebung. Von Morris bis Gropius, Hamburg: Rowohlt 1957, S. 14
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20. Jahrhunderts schmälerte dieser Widerspruch allerdings nicht. Die traditionalistische Heimatschutzarchitektur verpflichtete sich in ihrem Rückgriff auf regionale Bauweisen der Materialgerechtigkeit gleichermaßen wie das Neue Bauen, das allerdings, in Umkehrung von Morris’ Maschinenfeindlichkeit, die Zweckmäßigkeit des Materialeinsatzes in einer industriellen Rationalisierung und Typisierung verwirklicht sah (– im Gleichklang mit dem Werkbund, der den Qualitätsverfall des Kunstgewerbes über eine der maschinellen Fertigung angemessene Warenästhetik abwenden wollte). Zwar ist eine Charakterisierung der Architektur des 20. Jahrhunderts über einen materialbewussten Funktionalismus natürlich äußerst verkürzt. Dieses Narrativ funktionalistischer Maschinenherrlichkeit liegt, wie Wolfgang Pehnt schrieb, »als eine Fiktion bloß. Seit jeher ist sie eher ein moralisches Postulat als eine glaubwürdige Tatsachendarstellung gewesen«, ein zuspitzendes Einfaltsbild. Zum einen ließen sich ihr »andere Architekturgeschichten an die Seite stellen, von denen aus gesehen die heroische Moderne nur als ein exotisches Randphänomen erscheinen müßte: eine Geschichte des modernen Klassizismus […] bis zum jüngsten Rationalismus […]; eine Geschichte des Populismus, dem immer alles Neue verdächtig war; oder eine Geschichte der Spekulantenarchitektur«100 . Zum anderen fügten sich nicht einmal die Modernisten selbst dieser von der ideologischen Verbohrtheit ihrer Theoretiker verzeichneten Beschreibung der Moderne. Viele der erstaunlichsten Architekten des 20. Jahrhunderts ließen sich gerade nicht auf die Eindimensionalität des Funktionalismus reduzieren, »zugunsten eines unterschiedslosen und alle geographischen, klimatischen und kulturellen Besonderheiten nivellierenden Internationalismus«101 – sie begriffen selbst das eigene Gerede als nicht besonders verteidigungswürdig; entwarfen und bauten anders als es ihre Gesinnungsaufsätze deklarierten.102 Dennoch erwiesen sich im Großen die Denk- und Formenmodelle des Funktionalismus, mit denen die Moderne Bewegung eine Horizonterweiterung bedeuten wollte, als die einflussreichsten Doktrinen seit den 1920ern. Sie initiierten einen Paradigmensprung hin zu einer authentizitätsappellierenden Materialästhetik, auch wenn sich in der Realität, entgegen der eigenen Erlöserperspektive, »das Verhältnis von Form und Funktion, von Materialgerechtigkeit und konstruktiver Ehrlichkeit bei weitem nicht so festgelegt [zeigte], wie es viele moderne Architekten gerne hätten. Die ideologische Grundstruktur der Moderne scheint vor allem ein rhetorisches Konstrukt zu sein, dessen Wirksamkeit mit der Leichtgläubigkeit seiner Abnehmer zusammenhängt.«103 100 Pehnt: 1983, S. 16-17 101 Fischer: 1987, S. 10 102 Wie Jan Verwoert über die Moderne schreibt: »It is about the crooked way. It always has been. Modernism is about wanting too many conflicting things at the same time: no more lies ›and‹ new myths, clarity ›and‹ magic, thruth ›and‹ intensity, materialism and‹ spiritualism, progress ›and‹ redemption« (Verwoert, Jan: »Crooked Modernism – Oh, Crooked Indeed!«, in: Joanna Warsza (Hg.), Ministry of Highways. A Guide to the Performative Architecture of Tbilisi, Berlin: Sternberg 2013, S. 170). Verwoert liegt richtig, wenn er schreibt: »If any kind of modernism ever seemed straight it was maybe only on the pages of the manifestos, journals and schoolbooks […]. They not have done their own work much of a favour by thus promoting it«; ebd., S. 173 103 Blomeyer, Gerald R./Tietze, Barbara: »Wege zu einem Neuen Regionalismus«, in: ders./dies. (Hg.), In Opposition zur Moderne. Aktuelle Positionen in der Architektur, Braunschweig: Vieweg 1980, S. 21
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Die beständige materialästhetische Auseinandersetzung verlieh der Frage der Materialgerechtigkeit, über alle Entwicklungsbrüche hinweg, dennoch eine quintessentielle Wichtigkeit für die »legitime« Architekturentwicklung des 20. Jahrhunderts (– eigentlich lediglich von der Episode der Postmoderne in Zweifel gezogen, die, exzentrisch oder populistisch, sich der Intellektualität, der Ironie und des geschichtlichen Bewusstseins bedienten, um ihre verwitzelten Ideen von Historie und Kitsch in Opposition zur Funktionalismusdoktrin zu stellen.) Wenngleich die Einzelströmungen der Moderne durchaus ungleichartige materialästhetische Akzente aus ihrem Funktionalitätsbegriffen ableiteten. Die Pionierleistungen der Zwischenkriegszeit und der »Internationale Stil« der Nachkriegsjahrzehnte verknüpften Materialgerechtigkeit mit Leichtigkeit und Schlankheit, aber auch mit einer herstellungseffizienten industriellen Standardisierung der Materialverarbeitung. Die »Entstofflichung der Architektur« bedeutete, bis hin zu ins Politische herüberspielenden Symbolisierungen, die Glas mit demokratischer Transparenz assoziieren, »zu Beginn des 20. Jahrhunderts für viele Architekten bereits ein Versprechen.«104 Der bauplastisch-skulptural akzentuierte Brutalismus, der die Rohheit und Monumentalität seiner Betonkonstruktionen demonstrierte, zeichnete hingegen das Alternativbild einer auf Massigkeit und Wuchtigkeit basierenden Materialwirkung: »gerade ihre Schwere schien ihre Authentizität und Integrität, ihre zeitlose Präsenz zu bestätigen.«105 Und auch in den einzelnen Genres der »zweiten Moderne« zeigen sich, provoziert durch die semiotische Perspektive der Postmoderne, neue materialästhetische Fundamentalismen »in Richtung der Fetischisierung oder Spektakularisierung des Materials, wie sie sich zum Beispiel in einem Interesse an der mit ihm verbundenen Atmosphären äußert«106 . Ausgewiesen bei den verschiedenen Varianten eines materialästhetischen Minimalismus, für den beispielsweise das Büro Sanaa von Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa gegenwärtig maßgeblich ist, bestimmt das Diktat authentischer Materialbeschaffenheit den Gestaltungswillen der »legitimen« Westarchitektur. Dieser materialästhetische Minimalismus versucht rein intuitiv zu erfassende, sinnlich wahrnehmbare Immersionsräume zu schaffen, nicht-interpretatorische atmosphärische Umgebungen, auf die man sich affektiv einlässt. Diese Atmosphärenarchitektur »authentizistischer« Materialästhetik läuft, wie Ákos Moravánszky schreibt, allerdings Gefahr, mit einer »neuen Ästhetik der Unmittelbarkeit und Präsenz einen alten Antiintellektualismus und Kunstschamanentum«107 zu bedienen – eine Gefahr, die sie mit den gleichermaßen auf Immersions- und Intensitätswahrnehmungen ausgerichteten Spielarten gegenwärtiger Spektakelarchitektur teilt. Auch diese bemühen, wie gestaltungslastig im Sinne einer authentisch zum Ausdruck gebrachten Entwurfsvirtuosität sie auch sind, sinnliche Materialwirkungen. Das gilt für die Vertreter des postdekonstruktivistischen Freiform-Modernismus wie Zaha Hadid, Future Systems oder UN Studios, auch wenn ihre Stahlträger und -rahmen plattenverkleidet werden, für die modernen Konzeptionalisten wie Rem Koolhaas,
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Moravánszky: 2018, S. 291 Ebd., S. 29 Ebd., S. 12 Moravánszky, Ákos: »Zeichen und Atmosphären«, in: TEC 21, 22/2011
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Herzog & de Meuron, MVRDV, Jean Nouvel oder Toyo Ito, und auch für das Gegenwartsphänomen einer diagrammatischen, aus ihren funktionalen und urbanistischen Randbedingungen entwickelten Architektur, die an den Entwürfen der Bjarke Ingels Group diskutiert werden. Die Stararchitekten-Liga hat aufgrund der privilegierten Rahmenbedingungen ihrer Prestigebauten in den meisten Fällen immerhin die Aufwände ausfinanziert, die es braucht, um materialästhetische Qualitäten herauszuarbeiten. An ihr ist nicht auszumachen, welche Probleme sich die Moderne Bewegung mit ihren Beschwörungsgesten der Technik, ihrem gegenornamentalen Reinigungsprozess einbrockte. Denn diese zeigen sich nicht bei den Meisterwerken der Moderne, die demonstrieren, welche großen Reize in einem Reduktionismus ehrlicher Stofflichkeit verborgen sein können, sondern in den betonbrutalistischen Zwangsbeglückungen des aus dem Ideal fließbandmechanisierter Fertigteile abgeleiteten Bauwirtschaftsfunktionalismus, »der vor allem Kapitalverwertungsinteressen und Imperativen bürokratischer Planung gehorchte«108 . Durch die »maschinenkalten« Rationalisierungen des Bauwirtschaftsfunktionalismus, der in seinem Effizienzstreben zu einem Demonstrationsobjekt für die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus wurde, »verprovinzialisieren unsere Städte in Unwirtlichkeit«109 , wie Alexander Mitscherlich es ausdrückte, und das nicht nur stadtästhetisch. Denn die wesentliche der Verheerungen der funktionalistischen Moderne liegt in den gesellschaftlichen Entfremdungsprozessen, die sie den Bewohnern ihrer totbetonierten, letztendlich lebensfeindlichen Hochhäuser und Großwohnsiedlungen aussetzt. Gerade auch über die Authentizitätssuggestionen funktionaler und materialgerechter Architekturen verfestigt sich im Ergebnis die entmenschlichte Unpersönlichkeit der sozialen Beziehungen in den Metropolen zu einer mitunter pathologischen Unwirtlichkeit und Anonymität.110 Nicht zuletzt die Pervertierungen der Moderne, seien sich auch aus der Authentizitätsemphase des Funktionalismus hervorgegangen, haben freilich zugleich das Bewusstsein für den materiell fasslichen »Alterswert« an Baudenkmälern begünstigt – den anderen architekturtheoretischen Strang, den Ruskins Wahrheitsbegriff lanciert hatte. Ruskin hatte sich kategorisch gegen die Restaurierungspraxis des Historismus, gegen »rückführende« Purifizierungen im Namen einer idealisierten »Stilreinheit«, ausgesprochen und damit ein materiell substanzgebundenes Authentizitätskriterium auf 108 Wellmer: 1985, S. 121 109 Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, S. 21 110 Denn nicht nur die Serialität einer standardisierten Plattenbauweise »addieren und vernichten dabei die Möglichkeit einer Integration des Aneinandergeklebten. Aufeinandergestockten. Wenn man dieser mechanischen Vervielfältigung gleicher Baueinheiten in den Produktionszentren und den Hochhäusern des tertiären Sektors manchmal die eindrucksvolle Größe nicht absprechen kann, im Wohnquartier […] kann sich städtische Humanität wohl nur schwer entfalten. Es ist ein Kapitalfall der Tötung des humanen Antriebes in und durch die verwaltete Welt.« (ebd., S. 29) Wobei Mitscherlich diese Kritik an der kapitalistischen Stadt mit einer politischen Forderung verknüpfte: »Ohne die[…] Einschränkung des privaten Eigentumsrechtes an städtischem Grund und Boden ist freilich keine Freiheit für die Planung einer neuen Urbanität zu denken. Die Versuche, an diesem Problem vorbeizukommen, führen unausweichlich dahin, daß […] Megalopolis […] ein ungeheures Scheusal sein [wird]. Los Angeles ist hier das Vorbild«; ebd., S. 55
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den Weg gebracht, mit dem sich die Denkmalpflege vor nachträglichen Eingriffen verwahrt, die unvermeidlich einen Verlust von Unwiederbringlichem bedeuten. Die Pietät gealterter Kunstwerke wird seitdem gegen die zwangsläufig durch gegenwärtiges Kunstempfinden idealisierende Restaurierung verteidigt. Der Erhaltungsauftrag der Denkmalpflege, wie sie sich im 20. Jahrhundert institutionalisierte, ruht auf einem materialfixierten Denkmalverständnis, einem materiell beglaubigten »Alterswert«, der sich aus der maßstabbildenden Auffassung ableitet, »daß dieser für das Denkmal unverzichtbare Durchgang durch vergangene Zeit unwiederholbar, materiell nicht reproduzierbar ist.«111 Die Klassifikation eines Denkmals als authentisch ist an seine baulich-materielle Gestalt geknüpft, »ist abhängig von der Erhaltung seiner materiellen Substanz. Form und geistiger Inhalt des Denkmals bedürfen unbedingt ihrer geschichtlichen Materie. Auch für unsere immer sich wandelnde, ergänzende Befragung der geschichtlichen Aussage des Denkmals ist diese authentische materielle Substanz unentbehrlich. Jeder Eingriff in diese Materialsubstanz reduziert die Wirklichkeit des Denkmals irreversibel.«112 Das qualitätswahrende denkmalpflegerische Erhaltungsinteresse richtet sich an die Authentizität der überlieferten Materialität, betrachtet die Denkmalwirklichkeit mit Blick auf die Intaktheit und Unverfälschtheit ihrer unwiederbringlichen Herkunft, die zwangsläufig durch die Zeit, speziell jedoch durch die »Akzeleration des Zerfalls, die wir vor allem den zunehmenden Schadstoffimmissionen zu verdanken haben«113 gefährdet wird. Und in manchen Fällen, die mit ihren materielle Authentizitäts- und Inauthentizitätsfallen das fachliche Selbstverständnis der Substanzdenkmalpflege herausfordern, muss sich ein Erhaltungswunsch überhaupt damit arrangieren, dass die Verarbeitung nicht-dauerhafter Materialien einen Zerfall unausweichlich werden lässt, was die denkmalpflegerische Authentizitätserwartung an sich hintertreibt. Ein in dieser Hinsicht beachtliches Bauwerk, das eine mehrfache Unterminierung der unterschiedlichen architektonischen Authentizitätsbedingungen mit sich bringt, ist der für die Pan-Pacific International Exposition 1915 errichtete Palace of Fine Arts in San Francisco, eine aus allen Linien ihrer Gestalt anmutige scheinantike Palastruine an einer malerischen künstlichen Lagune. Ein nicht allein historisch inauthentischer Bau, der als artifizielle Ruine überdies inauthentische Alterungs- und Verfallserscheinungen fingiert. Denn auch die materielle Authentizitätserwartung an ein antikes Gebäude hinterlief der Palace of Fine Arts, da sein Architekt Bernhard Maybeck dieses gräzisierende Beaux-Arts-Juwel bewusst in vergänglichem Baumaterial ausführen lassen, schließlich war der Ausstellungspavillon eigentlich nach der Schau für den Abriss bestimmt. Nun fanden die Einwohner San Franciscos aber Gefallen an der Stilartistik des klassizistischen Staffagebaus, sie amnestierten ihn und die Ruinenkulisse verwandelte sich innerhalb weniger Jahre in eine tatsächliche Ruine. Was Maybeck gefiel, denn er hegte
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Mörsch, Georg: »Denkmalwerte«, in: Adrian von Buttlar et al. (Hg.), Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie, Basel: Birkhäuser 2010, S. 19 Mörsch, Georg: »Kopieren in der Denkmalpflege?«, in: Unsere Kunstdenkmäler. Mitteilungsblatt für die Mitglieder der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte,1/1986 Schmid: 1985
2 Architektonische Authentizitätsartikulationen
die schön romantische Vorstellung, er hätte den Palace of Fine Arts nicht nur in die Verkleidung einer vergangenen Zeit steigen lassen, sondern mittels der materiellen Vergänglichkeit auch das unaufhaltsame Schicksal alles Alten simuliert. Zumal es den antiken Atem des Pavillons ja durchaus intensivierte, als unsere Wahrnehmung antiker Baukunst nun mal fast ausschließlich über ihre Ruinen vermittelt ist. Sanierungsarbeiten, die unumgänglich wurden, um den Zerfall des Bauwerks aufzuhalten, sabotierten dann allerdings Maybecks melancholische Ruinenimagination. Als die Attrappe aus Maschendraht, Putzträgern und »staff«, einer wenig haltbaren Mischung aus Gips, Zement und Jutefasern, die in der damaligen Zeit häufig bei Weltausstellungsbauten zum Einsatz kam, unwiederbringlich am Zerfallen war, wurde der Palace of Fine Arts 1965 abgerissen und seine offene Rotunde und Kolonnaden in Stahlbeton wiedererrichtet. Eine architekturideologisch diffizile Tat, schließlich betrifft sie »the value of a lively original versus a dead copy, the integrity of a work of art as expressive of its time, the folly of second-hand substitutes for first-rate inventions, the aesthetics and ethics of duplication measured against the creative act.«114 Die Architekturkritikerin Ada Louise Huxtable vertrat eine Minderheitenmeinung, als sie sich gegen den Wiederaufbau des »beloved, elegant bit of Corinthian-classic pastry« wandte. Sie sah darin die denkmalpflegerische Fehlentwicklung einer »galloping restorationitis«. Diese »evades the sticky problem of saving the real thing by letting it be bulldozed and putting up a copy at a more convenient time or place. This way, the real estate man can have his cake, and the preservationists can eat it. What the result is a lot of sham history and sham art. And it is receiving massive infusions of some of the country’s best philanthropic money.«115 Die Inauthentizität des Palace of Fine Arts hat sich damit allerdings nur verlagert. Aus der materiell inauthentischen Beaux-ArtsSimulation einer griechischen Palastanlage wurde ein nicht weniger inauthentischer Nachbau. Seine Grazie ist dadurch nicht vernichtet, aber die auktoriale Authentizität der künstlerischen Intention, immerhin wurde Maybecks Ruinenbild hintergangen.116 Ähnlich gelagert ist die materielle Inauthentizität des Parthenons in Nashville, Tennessee, des einzigen maßstäblichen und detailpräzisen Nachbaus des antiken Parthenon-Tempels auf der Athener Akropolis, den Architekt William Crawford Smith 1897 für die Tennessee Centennial and International Exposition, die zum Einhundertjahrjubiläum des Unionsbeitritts des Bundesstaates veranstaltet wurde, errichtete. Denn materiell war auch der Nashviller Parthenon als temporäre Ausstellungsarchitektur ausgeführt: als eine mit »staff« verkleidete Holzkonstruktion, die bald die Verfallsstufen ihrer vergänglichen Materialität erfasste und bereits zwischen 1920 und 1931, um dem Tempel ein zweites Leben zu ermöglichen, in dauerhaften Materialien neuerrichtet werden musste. Überwacht vom Archäologen William Bell Dinsmoor, der seine wissenschaftliche Arbeit den Akropolisbauten widmete, war die Ausführung
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Huxtable, Ada Louise: Goodbye History, Hello Hamburger. An Anthology of Architectural Delights and Disasters, Ann Arbor, MI: Preservation Press 1986, S. 171 Ebd., S. 171 Auch dass seine Farbigkeit abgeschwächt wurde und sich nun eine getragene Pfirsichfarbe über Säulen, Skulpturen und Friese zieht, wo bei Maybeck Säulen dunkelrot, ihre korinthischen Kapitelle golden und die Kuppel der Rotunde orange kolorierte, ist ebenso nicht weiter entscheidend.
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phänomenologisch um Authentizität bemüht, materiell allerdings abermals weitab von jeder Wahrheit: das formstrenge Replikat war in Stahlbeton gehalten. Diese vermeintlich frevlerische Entheiligung hellenischen Olympiertums erwies sich bei der Tempelkopie in Tennessee jedoch nicht unbedingt als eine mit der idealistischen Intention, geistige Höhen hervorzurufen, verfeindete Dimension. Denn als städtisches Wahrzeichen Nashvilles hatte sich der Parthenon da längst aus der Ambivalenz seiner materiellen Inauthentizität emanzipiert. Gerade auch, weil die scheinperikleische Reproduktion den dorischen Peripteros in einer unbeschädigten Intaktheit zeigt, damit unterscheidbar macht. Ihn schmücken Nachbildungen der in Athen nur mehr fragmentarisch erhaltenen Marmorskulpturen und -friese, die Lord Elgin Anfang des 19. Jahrhunderts entnehmen ließ und an das British Museum verkaufte: »On Nashville’s copy of the Parthenon, figures modelled from life as described in Pausanias supplement plaster casts of the Elgin Marbles. Tennesseans brag that their Parthenon is so authentic that if Greeks wanted to rebuild the original they would need to come to Nashville.«117 Auch griff man die ursprünglichen Bemalungen auf. Anders als in der Beaux-ArtsSchule, die damals in den USA auf Jahrzehnte wie staatlich beurkundet galt, üblich, verpflichtete sich der Südstaaten-Parthenon nicht dem klassizistischen Griechenlandbild Winckelmanns, dem Ideal der weißen Kunst der Antike, sondern ließ Polychromie zu und hinterlegte Giebelfries und Metopenreliefs rot. Und der Nashviller Parthenon verfügt schließlich im Naos um eine dreizehn Meter hohe Replik der verschwundenen Statue der Athena Parthenos in Gips und Fiberglas, die der Bildhauer Alan LeQuire 1990 enthüllte. Zunächst in klassizistischem Weiß, seit 2002 jedoch mit viel Blattgold polychrom koloriert. Mit seinem ausgeprägten Denkmalcharakter legitimierte und authentisierte sich der Parthenon, wie Architekturkritiker Paul Goldberger schrieb, in seiner Eigenständigkeit. Als Greek-Revival-»Americana« für eine Südstaatenkapitale, die sich selbst als »Athens of the South« rühmt, und doch mit den bedeutungserfüllten Formen, die zivilisiertes Feingefühl herbeiinszenieren, im Bodenlosen schwebt: »To see it is to be struck, first, by the strangeness of it all: it seems less a building than a huge, three-dimensional version of a rendering out of a textbook about the ancient Greeks. The Parthenon is not supposed to exist, except as a fragment, a ruin; this is too whole, as well as too fresh, too squeaky clean […]. But seeing the skyline of Nashville in the distance, which is most emphatically not that of Athens, has the odd effect of making it all seem normal and reasonable: it is as if the skyline view were there to assure us that this whole thing is not really an attempt to pretend we have been transported to Greece, that it is just a piece of earnest, well-meaning Americana after all.«118
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Lowenthal: 1992, S. 187 Goldberger, Paul: »Grand Old Athens in the Land of Grand Ole Opry«, in: The New York Times, 5.3.1989; Goldberger vergleicht den Parthenon passenderweise mit der Themenarchitektur des Opryland Hotels: »Here is where Nashville arrives, for better or for worse, on the architectural map. These two buildings have little in common except geography, and the fact that they are rather bizarre inversions of common building types. They are both follies of a sort, although the most astonishing thing about seeing them in real life is that the one that you expect to be the sillier of
2 Architektonische Authentizitätsartikulationen
Goldberger beschreibt ebenjenes Phänomen, dass mit der auch in der Frage der Materialauthentizität zeitenspaltende Zäsur der Moderne einherging und angesichts der in anonyme »Unwirtlichkeit« versackenden Städte des 20. Jahrhunderts auf eine – zumindest außerhalb des »legitimen« Architekturdiskurses – ungesagte Rehabilitation des lange als Gesamtabirrung verurteilten Historismus hinauslaufen musste. Schließlich »wurde im Kontrast zum modernen Städtebau deutlich, dass hier eine Qualität verloren ging, die erst nach ihrem Verschwinden als Verlust begriffen wurde. Abwechslungsreichtum und das verspielte Relief des Überflüssigen an der Fassade wurden vermisst.«119 Die Moderne, die auf Grundlage einer idealisierten Entwurfsaxiomatik auf der Funktionalität und Materialgerechtigkeit des Gebauten gründete, bewirkte durch ihre typologische und materialästhetische Radikalität eine nachträgliche Authentisierung der historistischen Architektur.
2.3
Authentizität als Geschichts- und Traditionswahrung
Die dritte Dimension architektonischer Authentizität verhandelt das Verhältnis eines Bauwerks zur Tradition, der es entstammt. Es behandelt die historische und geographische Indexikalität der Architektur »in Form der zeitlichen Zuordnung zu einem spezifischen Ursprung, einer Entstehung oder Herkunft.«120 – als physisches Phänomen und als Interpretation der Historiker. Denn Kunstwerke bezeugen, selbst in der bewussten Verneinung, eine Provenienz. Ein Bauwerk ist darum »nicht nur authentisch, wenn es original und nicht gefälscht ist, sondern auch, weil es einem bestimmten Epochenstil, einer bestimmten Verfahrensweise zugeordnet werden kann oder bestimmten Qualitätskriterien gerecht wird. Objektauthentizität resultiert zumeist aus der Rückführbarkeit auf einen Urheber/eine Urheberin oder auf Zugehörigkeit.«121 Diese Zuschreibungsqualität historischer Authentizität ist an die entstehungs- und herkunftsabhängigen Eigenschaften der Architektur, an eine Bezugnahme auf den geistigen Traditionsbegriff der jeweiligen Kultur geknüpft. Die Verbindlichkeit, die einer Traditionsübernahme abverlangt und im Gelingen als Authentizität erfasst wird, verweist, wie Adorno anmerkte, auf die Idealisierung einer damit in Verbindung gebrachten Erfahrungs- und Wissensweitergabe im »Generationszusammenhang, a[uf] das, was von Glied zu Glied sich vererbt […] Im Bild des Weitergebens wird leibhafte Nähe, Unmittelbarkeit ausgedrückt, eine Hand soll es von der anderen empfangen. Solche Unmittelbarkeit ist die mehr oder minder naturwüchsiger Verhältnisse etwa familialer Art.«122 Reize des historisch Authentischen genügen sich daher auch nicht darin, dass
the two, the full-scale replica of the Parthenon in the middle of a local park, turns out to be rather endearing, and the building that you assume will be more conventional, the hotel, is in fact one of the strangest works of American architecture this side of Disneyland.«; Ebd. 119 Brönner, Wolfgang: »Von der Rehabilitation des Historismus«, in: Nordrhein-Westfalen-Stiftung (Hg.): Schloss Drachenburg. Historistische Burgenromantik am Rhein, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010, S. 140 120 Assmann: 2012, S. 28 121 Knaller: 2007, S. 8 122 Adorno: 1967, S. 29
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eine Architektur kunsthistorisch klassifizierbar im Sinn eines Stilausdrucks ist, oder weiter gefasst, historisch indexalisieren lässt. Denn dann würde man »den Begriff historischer Authentizität […] dahingehend missverstehen«, wie Wenninger hervorhebt, »dass Künstler ohnehin unvermeidlich Kinder ihrer Zeit sind oder dass jede Kunst ein Spiegel der jeweiligen Kultur ist, die sie hervorbrachte. So verstanden wäre jede Kunst mit Notwendigkeit historisch authentisch.«123 Im authentischen Traditionsbezug artikuliert sich vielmehr die Erwartung, dass »die Architektur nicht nur die unzählbaren Geschichten der Orte zu überliefern, sondern überdies auch noch ihre eigene Geschichte zu bewahren« hat. Eine freilich dem Fortschrittsgeist der Moderne entgegengesetzte, von diesem als Konservativismus zurückgewiesene Forderung. Und daher ist es nicht verwunderlich, dass das 20. Jahrhundert dieser Authentizitätskategorie wenig abzugewinnen wusste: »[D]as Gedächtnis [lässt] mehr und mehr nach«, schreibt Uwe Schröder, »und die Architektur harrt in der zerdehnten Gegenwart aus – geradewegs so, als suche sie immerfort nach dem Anfang ihrer ›neuen‹ eigenen Geschichte, gleich so, als sei ihre ›alte‹ Geschichte zu Ende erzählt, längst abgelegt […]. Wie anders wollte man das Verschwinden der überlieferten Typen in der gegenwärtigen Architektur beschreiben, wenn nicht als Verlust von Erinnerung.«124 Als Authentizitätsanspruch ist der intentionale Traditionsbezug allerdings selbst natürlich ein Erzeugnis der gesellschaftlichen Moderne. Erst aus der wirklichkeitsstrukturierenden Erfahrung ihres substanziellen Traditionsbruchs und Gewissheitsschwunds heraus erhält die Vergangenheitsanknüpfung als kultureller Bewahrungsauftrag Intentionalität. In dem Augenblick, in dem die »unreflektierte Verbindlichkeit sozialer Formen, die Gegenwart des Vergangenen« nicht mehr als naturwüchsig erfahren werden, sie sich im »Warencharakter der Dinge« brechen und daher auch nicht länger »unwillkürlich auf Geistiges sich übertragen« lassen – was Adorno in seinem Aufsatz Über Tradition schließen lässt: »Mit bürgerlicher Gesellschaft ist Tradition strengen Sinnes unvereinbar.«125 Erst das Geschichtsbewusstsein des 19. Jahrhunderts ließ die Frage einer authentischen »Repräsentationsfunktion« der eigenen Kultur in den unabwendbaren Veränderungen, die die Zeit mit sich führt, virulent werden. Mit der Romantik erhielt das Traditionelle eine sehnsüchtig-weltflüchtige Deutung und Wertung als Reinheit und Unschuld, trüb vermischt mit Gefühlen einer schicksalhaften Tragik der eigenen Nation. »Seit der Romantik heißt Entdeckung von Landschaft auch Bewahrung. Ihre bis heute greifbarste Entdeckung war ja die des eigentlich Historischen, der altdeutschen Städte, der Burgruinen, der Gotik. […] Ihre Erstgeburt ist die ›Rheinromantik‹, von der das gesamte 19. Jahrhundert zehrte«126 . Das historistische Geschichtsbewusstsein, das die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der schöpferischen Leistung reflektierte, tat dann zwar seinen Teil dazu bei, dass sich mit den Expressivismus der Romantik und Nachromantik ein gesteigerter 123 124 125 126
Wenninger: 2009, S. 94 Schröder: 2015, S. 11 Adorno: 1967, S. 29 Schneider, Helmut J.: »Erinnerte Natur. Einleitende Bemerkungen zur poetischen Geschichte deutscher Landschaft«, in: ders. (Hg.), Deutsche Landschaft, Frankfurt a.M.: Insel 1981, S. XV
2 Architektonische Authentizitätsartikulationen
Originalitätsimperativ verfestigte, gegengleich erfolgte jedoch ebenso, aus der Erfahrung einer unüberbrückbaren Zeitdistanz zu den altmeisterlichen Architekturstilen, eine »terminologische Aufweichung des Originalitätsbegriffs« hin zu einer Bemessung an einem »Beitrag zur authentischen stilistischen Selbstdarstellung der Epoche«127 . Die »Echtheitsvergewisserung« der »Authentizitätssehnsucht der Gegenwart [ist] untrennbar mit einer gleichzeitigen Distanzierungsbereitschaft verknüpft«, resümiert daher Martin Sabrow, sie ruht auf einem »Zäsurenbewusstsein«: »die auratische Aufladung des Authentischen in unserer Zeit gilt der Begegnung mit einer Vergangenheit, die kein Zukunftsversprechen mehr in sich birgt, sondern allein der kulturellen Behaustheit in unserer Gegenwart dient.«128 Die Authentizitätskategorie des Traditionsbezugs ist, wie auch Dean MacCannell mit Blick auf das touristischen Begehren, Orte zu bereisen, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, schreibt, »the best indication of the final victory of modernity over other sociocultural arrangements is not the disappearance of the non modern world, but its artificial preservation and reconstruction in modern society. The separation of non modern culture traits from their original contexts and their distribution as modern playthings are evident in the various social movements toward naturalism, so much a feature of modern societies: […] in short, to museumize the premodern.«129 Das Authentizitätsverlangen der Gegenwart ist, zumindest in den massenkulturellen Vermittlungsmechanismen der Traditionsbezüge, dabei allerdings nicht sehr bedachtsam in der Auswahl ihrer Authentizitätsträger – wahrscheinlich begnügt sie sich halbbewusst mit Fiktionen, weil sie sich den illusionären Charakter einer Traditionswahrung in der Veränderungs- und Veralterungsgeschwindigkeit, die mit der Beschleunigung der Moderne einhergeht, eingesteht und so gesehen kompensatorisch, wie Marquard meint, über »Bewahrungsgeschichten« einen »lebensweltlichen Vertrautheitsbedarf« abdeckt, der längst nicht mehr gegeben ist, da die Modernisierungsprozesse »als beschleunigte Artifizialisierung, d.h. Entnatürlichung, und als Versachlichung, d.h. Entgeschichtlichung der Wirklichkeit«130 wirken. Es sitzt allem Anschein nach auch daher vielen unzuverlässigen nationalpathetischen Traditionserzählungen auf, die der sich zum ambitiösen Schicksalsglauben aufschaukelnde Nationalismus des 19. Jahrhunderts ausgebrütet hat, fällt auf diverse »erfundene Traditionen« herein. Diese Erinnerungstäuschungen des kulturellen Bewusstseins, die Eric Hobsbawm und Terence Ranger als »Erfindung von Tradition« bezeichnet haben, sind nicht nur in nicht wenigen Fällen mit ihrer »kulturelle[n] Scheinschwangerschaft«, wie Wackwitz es nennt, »vom wirklichen Leben der Nation längst eingeholt worden«131 , prägen das Nationalbewusst-
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Döhmer: 1976, S. 66 Sabrow: 2016, S. 43 MacCannell: 1976, S. 8; »Beneath all this lies the praise of the naturalness and authenticity of unalienated man completely identified with his society, as against the complexity of an art which builds on the interaction between tradition and the imagination of individual.«; Watkin, David: Morality and Architecture. The Development of a Theme in Architectural History and Theory from the Gothic Revival to the Modern Movement, Oxford: Clarendon 1977, S. 99 130 Marquard: 1986, S. 106 131 Wackwitz, Stephan: Osterweiterung. 12 Reisen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2008, S. 63
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sein – nachdem sie als Versinnbildlichungen der nationalen Staatsidee diese erst etabliert haben.132 Denn man darf diese Stärkerspannung nationalkultureller Identität durch Traditionserfindungen, die in der historistischen Architektur eine ideologiebehaftete Einladung, von patriotischen Gefühlen zu träumen, aktivierte, nicht allein auf Nationalchauvinismus und Heimattümelei reduzieren. Weil natürlich verbinden sich mit dem Nationalismus auch gesellschaftliche Errungenschaften, wie Enzensberger hervorhebt: »Wer nur an das widerwärtige chauvinistische Pathos denkt, von dem sie getragen waren, übersieht leicht die konstruktiven Leistungen des europäischen Nationalismus alter Prägung. Er hat immerhin Konstitutionen hervorgebracht, die Leibeigenschaft abgeschafft, die Juden emanzipiert, den Rechtsstaat und das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt.«133 Vermengt mit einem politischen Konservativismus, der für sich, für sein Volk ein Vorrecht reserviert, bleiben diese nationalpatriotischen Traditionsfiktionen jedoch freilich weiterhin bedrohlich, bilden eine reaktionäre Erzählung, die in der Idee wurzelt, das einen Herkunft Privilegien zusichert. Jedes Mal, wenn von »unser Volk« die Rede ist, wird »ein Possessivpronomen gesetzt, wo ein Demonstrativpronomen am Platze wäre«, formulierte es der linke Theoretiker Wolfgang Pohrt für den deutschen Kontext: »Das Volk ist kein Begriff, den die Nazis erst ruinieren mußten, sondern seit hundert Jahren schon die Lüge von der notwendigen schicksalhaften Verbundenheit der einzelnen im nationalen Zwangskollektiv«134 . Daher ist es naheliegend, dass sich die gegenwärtigen Geschichtswissenschaften »darin gefallen, rituelle und symbolische Handlungsweisen, die Kontinuität insbesondere mit einer nationalen Vergangenheit herzustellen suchen, als erfundene Traditionen zu entlarven und damit die Authentizität von Performanz im politischgesellschaftlichen Raum zu hinterfragen.«135 Die ideologiekritische Betrachtung der Inszenierungsweisen überindividueller Vergangenheit darf dabei aber natürlich ihre sozialkonstruktivistischen Einsichten nicht dahingehend missinterpretieren, sämtliche Traditionen als »erfunden« zu begreifen und damit den Begriff als Ganzes zu entwerten. 132
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Im 19. Jahrhundert wächst das Bedürfnis nach »erfundenen Traditionen« in dem Maße, so Hobsbawm, wie sich politische Herrschaft nationalstaatlich definiert: »the state, seen from above in the perspective of its formal rulers or dominant groups, raised unprecedented problems of how to maintain or even establish the obedience, loyalty and cooperation of its subjects or members, or its own legitimacy in their eyes. The very fact that its direct and increasingly intrusive and regular relations with the subjects or citizens as individuals […] became increasingly central to its operations, tended to weaken the older devices by means of which social subordination had largely been maintained: relatively autonomous collectivities or corporations under the ruler, but controlling their own members, pyramids of authority linked to higher authorities at their apexes, stratified social hierarchies in which each stratum recognized its place«; Hobsbawm, Eric: »Mass-Producing Traditions: Europe, 1870-1914«, in: ders./Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge University Press 1992, S. 265 Enzensberger, Hans Magnus: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 23-24 Pohrt, Wolfgang: »Ein Volk, ein Reich, ein Frieden«, in: Die Zeit, 45/1981 Rehling/Paulmann: 2016, S. 91
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Die Mechanismen, wie aus Vereinbarungen über die Geschichte fixierte Gedankenwelten werden, beziehungsweise, wie aus fixierten Gedankenwelten Vereinbarungen über die Geschichte werden, sind das Entscheidende. Wie sich die Wirklichkeitsentwürfe »erfundener Traditionen«, bis hin zur absichtlichen Verfälschung der historischen Wahrheit, durch die Fühlung an einen abgesunkenen Kulturfundus als Authentizitätsverstärker etablieren, diesen politisch neu formatieren: »the use of ancient materials to construct invented traditions of a novel type for quite novel purposes«136 . Architektonische »Erfindungen von Tradition« sind Echo erklärungs- und legitimationsbedürftiger Machtverhältnisse. Im 19. Jahrhundert, in der Architektur des Historismus, als der politisch-religiös »geheiligte« Determinismus der sozialen Ordnung zunehmend offen erodierte, das Kräfteverhältnis von Aristokratie und Bürgertum eine ungekannte Dynamik erfasste, bedienten sich gleichermaßen die nationalstaatlichen Autoritäten wie der Erste und der Dritte Stand »erfundener« Traditionsbeglaubigungen. Denn als »die Aufklärung die Vorhänge zu zerreißen begann, mit denen das absolutistische Staatsdenken die wirtschaftlichen Verhältnisse der Bevölkerung verhüllte«, wie Wolfgang Braunfels es fasste, verlor »auch der ›hohe Stil‹ der Architekten seine Sicherheit und sollte sie […] nie mehr zurückgewinnen. Denn dieser Stil war immer auch Ausdruck des Glaubens an die Sakralität jeder Fürstenmacht.«137 Hatten bis zur Zäsur des Historismus die »Klassenverhältnisse gegenständliche, architektonische Gestalt«138 in den Repräsentationen der Kunst erhalten, wurde mit der Verfügbarmachung der historischen Baustile nicht nur ein architekturästhetischer Pluralisierungsschub angefacht, mit dem die Repräsentationsneigungen, die Identitätsfragen und -krisen einer pluralisierten, pluralistischen Gesellschaft verhandelt wurden. Mit der Breite der Skala historistischer Stilübernahmen büßten die Einzelstile ihre einst über die Schicksalsverbundenheit mit der »Sakralität der Fürstenmacht« zeit- und kulturgebunden fixierte 136
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Hobsbawm, Eric: »Introduction: Inventing Traditions«, in: ders./Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition. Cambridge: Cambridge University Press 1992, S. 6; »A large store of such materials is accumulated in the past of any society, and an elaborate language of symbolic practice and communication is always available. Sometimes new traditions could be readily grafted on old ones, sometimes they could be devised by borrowing from the well-supplied warehouses of official ritual, symbolism and moral exhortation – religion and princely pomp, folklore and freemasonry (itself an earlier invented tradition of great symbolic force)« (ebd., S. 6) Die bei Staats- und Nationalsymboliken kreierten »Erfindungen von Tradition« stehen und fallen mit dem Gelingen ihrer Authentizitätssuggestionen – im Fall der Authenticité, der Staatsideologie, die Diktator Mobutu Sese Seko in Zaire ab 1971 zur nationalen Integration im Sinne einer »Zaireisierung« betreiben ließ, spiegelt sich dies bereits im Namen wider. Der nach einem Staatsstreich 1965 kleptokratisch herrschende Despot konsolidierte sein Regime über den Kongo, den er in Republik von Zaire unbenannte, über eine kulturelle »Authentizitätskampagne«, die zur Stärkung der nationalen Autonomie die Bewahrung afrikanischer Kultur dekretierte. Die kulturellen Unabhängigkeitsbestrebungen seiner Authenticité-Ideologie zeigte der Mobutuismus, eingewoben in den Personenkult um den Präsidenten, speziell in der »erfundenen« synkretistischen Nationaltracht der Führungsschicht: dem Abacost, einer dem Mao-Anzug ähnelnden Jacke, und der Leopardenmütze. Braunfels, Wolfgang: Abendländische Stadtbaukunst. Herrschaftsform und Baugestalt, Köln: DuMont 1977, S. 161 Ullmann, Ernst: Von der Romanik bis zum Historismus. Architektur – Stil und Bedeutung, Leipzig: E.A. Seemann 1987, S. 17
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Autorität und Allgemeinverbindlichkeit unwiederbringlich ein. Der Historismus fand zu einem Bewusstsein für die kulturelle Irreduktibilität der geschichtlichen Baustile. Der Machtkampf zwischen Aristokratie und Bürgertum entlud sich allerdings in keinem direkt architektonischen Antagonismus rivalisierender Klassenstile. Denn der Aufstieg des tiers état brachte zwar die Architektonik der Stände durcheinander und eine Neuaufteilung der Macht, was kapriziöse Eigenliebe und angestrengten Symbolismus in der Architektur als Statusgebärden des Geburts- und Geldadels mit sich brachte, denn »Aufsteiger eroberten Terrain, Etablierte sahen sich gezwungen, Rechte und Privilegien verteidigen zu müssen. […] [Jedoch] weckte der Zugriff auf die Vergangenheit im Bürgertum des 19. Jahrhunderts keine wirklich neuen Wünsche, sondern erfüllte bereits lange latent vorhandene Sehnsüchte nach einer gehobenen Form von Zugehörigkeit.«139 Die arrivistes aus dem Bürgertum unterliefen den gesellschaftlichen Antagonismus ästhetisch und habituell, sie versammelten sich hinter den Insignien des abenddämmernden Adels, verfielen geradezu in Huldigungsrituale adeliger Habitusund Geschmacksmuster. Die aristokratischen wie die bürgerlichen Bauherren erfanden Geschichte – nicht nur im strengen Historismus, der bei der Übernahme vergangener Baustile eine absolute Inbesitznahme anstrebte, eine Purifizierung der architektonischen Ideen, in deren Namen philosophiert und gebaut wurde, als seien sie heilige unantastbare Wahrheiten. Dabei hatte sich »die Autorität der historischen Stilformen« längst »zum Formenschatz historistischer Motive« verflüchtig, wie Onsell die schwindende Verbindlichkeit der Stile beschrieb: »Der Kanon weicht den Ismen, die letztlich nur noch semiotisch zu verstehen sind. Bauformen ruhen nicht mehr im Gleichgewicht ihrer selbst, sie weisen auf etwas außer ihnen Liegendes hin, sie haben Bedeutung. Die Romantiker wissen das.«140 Bei seinen Meisterwerken entwickelte der Historismus nicht nur eine tiefe Reife der Erinnerungen, er befreite historische Formen und Ideen von der Zeit ihrer Entstehung und ließ den Potenzen geschichtlicher Energie eine Bedeutungssteigerung zukommen. Genau darin ist der Historismus nicht nur eine Tür zur Historie, sondern er wurde selbst Geschichte. Als Stilbaukunst, die den Kanon mit aufreizender Unverschämtheit entmaximalisierte. Die die sich als kulturbefrachtet und geschichtskundig auswies, sich aber, bis hin zu dämonischer Selbstverliebtheit, in hyperbolische Metaphern verrannte und viele kleine verfeindete Stücke und Widersprüche auflud. Die Durcheinander, tiefe Verwirrung zum Ausdruck brachten. Der Historismus versprühte bei all seinem philologischen Geist immer auch den Glanz einer Scharlatanerie, wirkte gespreizt, unnatürlich, wie fauler Zauber, Theaterpappe. Inauthentizitäten sind der Verfasstheit des künstlerischen Phänomens des Historismus immanent. Die Architektur stand für vieles, aber für nichts ganz. Ein schönes Beispiel, wie der Historismus für die in einen restaurativen Verharrungszustand verfallende Aristokratie über mittelalterliche Identifikationsmerkmale Empfindungen von Tradition und Dauer entfachte, und zugleich, ohne es zu wollen, 139 Landwehr: 2012, S. 12 140 Onsell, Max: Ausdruck und Wirklichkeit. Versuch über den Historismus in der Baukunst, Braunschweig: Vieweg 1981, S. 10
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über die elegischen Benommenheiten der Stilentlehnungen böse Vorbedeutungen für den Niedergang des Adels anzeigte, ist das von William Burges zwischen 1873 und 1881 um ein neugotisches Herrenhaus erweiterte Cardiff Castle. Der zu schwelgerischen Dekorationen neigende Neugotiker Burges, einer der kapitalen Kunstgeister des viktorianischen Zeitalters, hatte im Besitzer des Cardiff Castle, dass auf eine vorbestehende normannische Festung aus dem 11. Jahrhundert zurückgeht, einen Bauherrn gefunden, der nicht nur seine Mittelalterbegeisterung teilte. John Patrick Crichton-Stuart, der dritte Marquess of Bute, ein eigentlich religiöser und politisch konservativ eingestellter Adeliger aus einer Nebenlinie der schottischen Herrscherdynastie Stuart, kennzeichnete ebenso wie Burges eine durch und durch eigenwillige Intelligenz wie eine für die viktorianische Zeit nicht untypische Exzentrik, die seine Betätigung als Wissenschaftsund Architekturmäzen anstachelten. Mit dem Erbe seines Vaters, der als Betreiber südwalisischer Steinkohlereviere zu einem führenden Industriellen aufgestiegen war und Cardiff von einem kleinen Fischerdorf zum weltgrößten Exporthafen für Kohle ausgebaut hatte, wurde CrichtonStuart zu einem der reichsten Menschen der Welt. So groß und edel seine Bestrebungen jedoch gewesen sein mögen, und so unbegrenzt seine ökonomischen Möglichkeiten, die Zeit einebnen konnten weder er noch sein genialer Architekt. Denn mit der Entwicklung des geschichtlichen Denkens im Historismus verfestigte sich ein neues Bewusstsein zerbrochener Zeitlichkeit: wenn man frühere Kunstformen »verwenden und wiederverwenden kann, versteht man die eigene Zeit als eine geschichtlich entstandene«, und so werden im Akt der Wählbarkeit, wie Klingenburg es formulierte, die »geschichtlichen Kunstgüter […] ihrer eigenen Geschichtlichkeit enthoben. Sie gewinnen eine neue Bedeutung durch ihre Wiederverwendung in der Gegenwart. Sie werden verwendet wegen der ihnen eigenen Geschichtlichkeit, aber diese muß einer neuen Bedeutung zugeführt werden können.«141 Das Mittelalterliche des Cardiff Castle ist bei aller üppiger Fantasie daher bereits aus der Zeit gefallen, funktioniert irgendwie nicht. Es zeigt eine romantische Sehnsucht nach Verfeinerung einer bereits entschwundenen, über die Schwelle gestoßenen Kultur. Die Architektur wirkt wie eine unbeabsichtigte gebaute Abschiedsempfindung. Die pittoreske Silhouette des Cardiff Castle, dem dunkle Werksteine eine kalte Intensität verleihen, charakterisiert die tableauartige Ungleichartigkeit seiner Bauteile. Speziell der Clock Tower, ein 46 Meter hoher Wehrturm, den Wappenschilder, Sonnenuhren und bunte Statuen schmücken, die in mit satt blauen Sternenhimmeln bemalte Nischen eingestellt sind und allegorisch die Planeten darstellen, verrät Burges in der Sentimentalität seiner Weltanschauung. Aber auch das erkergegliederte neugotische Herrenhaus, dessen Durchfensterung Vierpass- und Nonnenkopfmaßwerk zeigen und der kathedralenartige, mit Fialen, Strebewerk und Krabben besetzte Turmaufsatz des Beauchamp Tower bemühen auf artifizielle Weise das Dunkel einer undurchdringlichen Vergangenheit. Noch melancholischer sann Burges, ein notorischer Opiumraucher, der verlöschenden Lebensform der Edelleute in den Innenräumen nach. Der Bankettsaal und die Bibliothek gehen über in scheinmittelalterlichen Wandmalereien und Schnitzarbeiten, 141
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die allegorisch Jahreszeiten, Mythen und Fabeln abhandeln. Mit vergoldeten, krabbengeschmückten Wimpergen umrahmte Türbögen, kassettierte Decken mit üppigen Schnitzdekor, die gotisches Netzgewölbe imitieren, und figurengeschmückte Kamine versuchen einen in den Sog einer verflossenen Zeit zu reißen. Für ein Arabische Zimmer diktierte John Crichton-Stuart, der mehrmals den Mittleren Osten bereist hatte, Burges ein vergoldetes arabisches Stalaktitengewölbe, bei dem der Architekt eigene Eindrücke islamischer Architektur aus Andalusien und Sizilien verarbeitete. Ähnliche Affektqualitäten ungebärdiger historischer Inauthentizitäten entfacht das dunkel dräuende, von fremden Erinnerungen durchsetzte Schloss Peleș, dass König Carol I. von Rumänien nahe der in den Südkarpaten liegenden Kleinstadt Sinaia in malerisch bewaldeter Hanglage anlegen ließ. In der Erfindung von romantischen Bildinhalten ist das von dem Wiener Architekten Carl Wilhelm Christian Ritter von Doderer zwischen 1873 und 1883 als königliche Sommerresidenz entworfene, und vom tschechischen Architekten Karel Liman zwischen 1893 und 1914 erweiterte Schloss zwar eine in sich stimmige Figur, allerdings beladen mit stilistischen Widersprüchen, da es »gänzlich fixiert ist auf die Formenwelt der deutschen Renaissance mit asymmetrisch gestelltem Bergfried, mit Fachwerkgeschossen, Krüppelwalmgiebeln, Erkern«142 . Man meint angesichts der »altdeutschen« Ideenassoziationen, nicht nur, dass einem die Zeit durch die Finger hindurchrieselt, Schloss Peleș erscheint als kultureller Abdrift, der nicht hierher, an den Südabhang der Karpaten, passt. Auch in Rumänien gelangte der Adel in den Jahrzehnten nach der Staatsgründung 1859 durch die Vereinigung der beiden Donaufürstentümer Moldau und Walachei langsam zur melancholischen Einsicht, mit seinen gestrigen Vorstellungen der eigenen Zeit fremd geworden zu sein, da sich durch den wirtschaftlichen Aufstieg des Bürgertums die Stände einander anzugleichen begannen. Speziell in der neuen Hauptstadt Bukarest, das einen starken Urbanisierungsschub erfuhr, wurde der fadenscheinige Prunk der verharrenden Kräfte der Aristokratie bald von den Baumaßnahmen des Stadtbürgertums überflügelt, dass sich gleichermaßen über importierte französische BeauxArts-Architektur ihrer Internationalität versicherte wie es mit einer nationalromantischen Aneignung des rumänischen Brâncoveanu-Stils aus dem 17. Jahrhundert, einem Mischstil aus byzantinischen, renaissancistischen und barocken Einflüssen, versuchte, sich bei ihrer Identifikationsstiftung vom Saft altrumänischer Traditionen zu nähren. Die bei der um ihren Rang bangenden Adelsklasse bis hin zur virtuosen Weltflucht kultivierte Zähigkeit, über einen architektonisch zum Ausdruck gebrachten Stilwillen an der Vergangenheit festzuhalten, war bei König Carol I., einem Deutschen aus dem schwäbischen Adelsgeschlecht Hohenzollern-Sigmaringen, der 1866 als Fürst und 1881 als König von Rumänien eingesetzt wurde, allerdings aufgrund seiner Herkunft kulturell anders gelagert als bei seinen frankophil eingestellten Untertanen.143 Die romanti142 Wörner, Hans Jakob: »Sinaia-Peles. Die Residenz der Hohenzollern in Rumänien«, in: Florian Fiedler (Hg.), Das Schloss und seine Ausstattung als denkmalpflegerische Aufgabe, München: Karl M. Lipp 1995, S. 55 143 Allerdings war auch Carol I. »strongly influenced by his French family connections. Both his grandmothers […] were French, and he was a cousin of Napoleon III, who, indeed, had supported his candidature for the Romanian throne […]: He spoke excellent French and never used any other language with his ministers or courtiers. Even his solemn oath on becoming prince of the united
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sierte deutsche Renaissance von Schloss Peleș hatte in seiner politischen Orientierungsfunktion zwischen deutschen und rumänischen Stilauffassungen zu vermitteln, als sie sowohl König Carols Geschmackskanon berücksichtigen als auch den Repräsentationsbedürfnissen der rumänischen Nation Genüge tun musste, indem dieser nicht traditionsimmanente Baustil der Regionalmacht Österreich zugeordnet wurde, der Herrschaftsarchitektur des Habsburgerreichs.144 Man bewundert bei Schloss Peleș ein trügerisches Spiel. Als befände man sich im lichten Mittag der Romantik, entwickelte der ungezügelte Bau durch die meisterliche Sentimentalisierung seinen »altdeutschen« mittelalterlichen Gepräges eine starke, zur Fülle neigende architektonische Eigenidentität. Zugleich schüren die spannungsgeladenen, reich gegliederten Fassaden, deren Nullflächen beinahe gänzlich mit Türmen, Erkern, Fachwerk und Passagen alpenländischer Lüftlmalerei überspielt sind, Artifizialitätseindrücke. Durch kleine Ungereimtheiten der Imitation, aber auch allein durch die Üppigkeit der Detaillierung. Auch die anspielungsreiche, sich im Diffusen, im Kleinteiligen verlierende Architektur des Inneren verstrickt sich in Tiefenschichten der Zeit, die zugleich plastisch und künstlich erscheinen. In einer launischen Anmaßung, die allerdings auch mit wehmütigen Gedanken belastet ist, werden Renaissance und Barock in einer erdrückenden Üppigkeit ausgebreitet, dass einem ein wenig schwindelt. Die über sich drei Geschoße erstreckende Ehrenhalle, bei der unter einem Glasdach überreichliches Schnitzwerk, Alabasterreliefs, Intarsien und Aubusson-Tapisserien die Noblesse des Meublements besorgen, nahm gestalterische Anleihen an der RenaissanceSaaltäfelung des Lübecker Fredenhagenzimmers. Das Audienzzimmer, bei dem man, wie im Speisesaal, das Dunkel von den kastanienbraunen Kassettendecken und Wandvertäfelungen niedersteigen fühlt, greift die Renaissanceausstattung des Rathaussaals von Luzern auf. Exotistische Begehren bedienen ein prächtiger Maurischer Saal, den vergoldete Kassettendecken, Stalaktitenfriese und Ledertapeten zieren, und ein Türkischer Salon, denn »so sehr man das Osmanische Reich politisch fürchtete, ebenso sehr erlag man andererseits den Verlockungen seines Lebensstils«145 . Bei aller aus der Verfügbarkeit der Geschichte erfahrenen künstlerischen Gestaltungsmacht prägte die Grunderfahrung der Historismus allerdings Unbehagen. Das Gefühl, dass diese Kunst bewirkte, war zwiespältig – die Kleidung schien gut gemacht, aber schlecht getragen. Eine Ambivalenz, die Friedrich Nietzsche mit seiner »unzeitgemäßen Betrachtung« erfasste, dass das 19. Jahrhundert eine Vergangenheitsfixiertprincipalities in 1866 was sworn in French.«; Villiers, John: »›It is the sovereign who makes the palace, as a stone in a field may become an altar‹: Bucharest under Carol I and the Building of Peleş«, in: The Court Historian, 1/2010 144 Keineswegs zufällig fand sich diese kulturelle Überschneidung dann auch in der Biografie des beauftragte Architekten Doderer wieder – wie der König, für den Schloss Peleș 1914 zum Sterbeort werden sollte, ein Schwabe, aus Heilbronn, der allerdings im Wien der Ringstraßenzeit Karriere machte. Die Änderungs- und Erweiterungswünsche Carols während der Ausführung mussten dann allerdings Doderers Bauleiter Johannes Schultz und später Karel Liman exekutieren. Villiers bezeichnet Schloss Peleş als »a building of surpassing ugliness both within and without, redeemed only by the beauty of the countryside in which it is situated. […] [I]n a bizarre hybrid German neoRenaissance and neo-baroque style, with touches of Scottish baronial and stockbroker’s Tudor«; Ebd. 145 Wörner: 1995, S. 55
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heit narkotisiere. Nietzsche erschienen die veränderten intellektuellen Wirklichkeiten als »Schaden, Gebrechen und Mangel der Zeit«, weil »wir Alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, dass wir daran leiden.«146 Nietzsches zeitkritische Abhandlung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben nahm für sich in Anspruch, den »historischen Sinn«, »auf den dies Jahrhundert stolz ist, zum ersten mal als Krankheit erkannt, als typisches Zeichen des Verfalls«147 betrachtet zu haben. Nietzsche, der Philosoph, der bei seinem Versuch der Zurücknahme der abendländischen Metaphysik tiefer in die Nacht hineinging als alle anderen, der leutscheue Denker, der in erbärmlicher Einsamkeit viel gelitten hatte an seiner Zeit, differenzierte drei Arten der Geschichtsbetrachtung in ihren divergierenden Interessenslagen. Diese widerstreitenden Historientypen entwickeln ein Spannungsverhältnis, das bei Dysbalance lebens- und kulturfeindlich wirkt, ins Krankhafte umschlägt, weil »ein Übermaß der Historie dem Lebendigen schade«. In dreifacher Hinsicht, so diese Kategorisierung, »gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Dieser Dreiheit von Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie: […] eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art«148 . In allen drei Varianten, das ist Nietzsches Gegenwartskritik, erscheint die Historie allerdings durch »Übersättigung« das ganze Zeitalter in Gefahr zu bringen. Die monumentalische Historie verleitet den »Tätigen und Strebenden«, das ist ihre grundsätzliche Gefahr, zu Fiktion und zur Mythologie: »immer wird sie das Ungleiche annähern, verallgemeinern und endlich gleichsetzen, immer wird sie die Verschiedenheit der Motive und Anlässe abschwächen, um auf Kosten der causae die effectus monumental, nämlich vorbildlich und nachahmungswürdig, hinzustellen«149 . Sie überhitzt ihre Glutaugen in falsche Analogien, »sie reizt mit verführerischen Ähnlichkeiten den Mutigen zur Verwegenheit, den Begeisterten zum Fanatismus«150 , so Nietzsche. Wenn die Macht der Historie allerdings überhandnimmt, lähmt sie die Kultur, »lässt die Toten die Lebendigen begraben«151 , führt zu einer Selbstbetrachtung als »Spätlinge«, die sich an Marionettenfäden fühlen, als Epigonen größerer Vergangenheiten. Die Kultur erstarrt in der Einsicht in die Geringfügigkeit der eigenen Bedeutung, da sich in ihr »das Gefühl des gar zu Überspäten und Epigonenhaften, kurz der angebornen Grauhaarigkeit ausbreitet. Die herbe und tiefsinnig ernste Betrachtung über den Unwert alles Geschehenen, über das zum-Gericht-Reifsein der Welt, hat sich zu dem skeptischen Bewusstsein verflüchtigt, daß es jedenfalls gut sei, alles Geschehene zu wissen, weil es zu spät dafür sei, etwas Besseres zu tun. So macht der historische Sinn seine Diener passiv und retrospektiv;«152 146 Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Stuttgart: Reclam 2009, S. 6 147 Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. Wie man wird, was man ist, Frankfurt a.M.: Insel 1977, S. 89 148 Nietzsche: 2009, S. 19-20 149 Ebd., S. 24 150 Ebd., S. 25 151 Ebd., S. 27 152 Ebd., S. 77
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Die Architektur des Historismus hat diese beiden Dimensionen monumentalischer Historie in sich zum Ausdruck gebracht. Einerseits bildet die Überdramatisierung der Geschichte als »effectus« zu Lasten der »causae« einen Grundzug – nicht nur im pathetischen Späthistorismus wurden historische Machtatmosphären ins Künstlerische übertragen, um die Gegenwart zu legitimieren, beispielsweise im kaiserzeitlichen Hurragebrüll des wilhelminischen Neobarock. Andererseits war die Fundamentalfrage der Stilwahl auch Ausdruck künstlerischen Unsicherheit. Speziell die vom Stilpluralismus diskussionsverwirrten Frühhistoristen belastete ein empfundenes Epigonentum. Der zweiten Art Geschichtsbetrachtung, der antiquarischen Historie des »Bewahrenden und Verehrenden«, ist in ihrer undifferenzierten Rückwärtsgewandtheit die Gefahr der Übersättigung mit den Widerscheinen und Schatten der Vergangenheit grundsätzlich immanent. Nietzsche erblickt in ihr »das widrige Schauspiel einer blinden Sammelwut, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen. Der Mensch hüllt sich in Moderduft; […] oftmals sinkt er so tief, dass er zuletzt mit jeder Kost zufrieden ist und mit Lust selbst den Staub bibliographischer Quisquilien frisst.«153 Das Resultat ist, so Nietzsche mit der ihm typischen Galligkeit des Blasphemikers, »der historischästhetische Bildungsphilister, der altkluge und neuweise Schwätzer über Staat, Kirche und Kunst, das Sensorium für tausenderlei Anempfindungen, der unersättliche Magen, der doch nicht weiß, was ein rechtschaffner Hunger und Durst ist.«154 Auch dieser Verarbeitungstypus der Geschichte ist der historistischen Architektur typisch. Die Frage, warum gerade »diese fortschrittsgläubige, zum Materialismus neigende Zeit zugleich so ängstlich und todessüchtig auftreten« konnte, lässt sich, wie Christian Baur ausführt, im antiquarischen Beharrungsimpuls eines veränderungsgeplagten, wackeligen gesellschaftlichen Gebildes ergründen: »Die Anleihe am Mittelalter war auch der Versuch, Teilhabe an einer Epoche des Abendlandes zu gewinnen, […] deren Religiosität in einer selbstverständlichen Bejahung des Daseins und der darin vorgegebenen Ordnungen beruhte und deren Zeitbegriff ganz und gar nicht vom Ziel- und Leistungsdenken geprägt war.«155 Diese Sammelwut, mit der Männer mit glitschigen Händen alles an sich rissen, was Geschichte versprach, führte gar zu einer Verknappung »an altem, historischem Kunstgewerbe […] auf dem Markt und schuf den Anreiz, Gegenstände in Fälschungsabsicht zu fertigen oder zeitgenössisch historistische Werke als historische Kunstwerke zu verkaufen. […] [D]ie großen Fälscher des 19. Jahrhunderts müssen sicherlich unter die bedeutenden Kunsthandwerker der europäischen Kunstgeschichte gezählt werden«156 , ist Dirk Syndram beizupflichten. In der dritten Art Geschichtsbewusstseins, der kritischen Historie des »Leidenden und der Befreiung Bedürftigen«, klingt bereits leise die tragische Musik des späteren »Philosophen mit dem Hammer«, schwelt die Prophetenpose, die die Ungeheuerlichkeit der eigenen Entdeckungen hervorstreicht. Ihr Akteur versucht, die »Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er 153 154 155 156
Ebd., S. 32 Ebd., S. 102-103 Baur: 1981, S. 202 Syndram, Dirk: »Stilfragen. Annäherungen an den ästhetischen Historismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: Klaus Heise/Liselotte Heise (Hg.), Stilversuchungen. Historismus im 19. Jahrhundert, Bielefeld: Bielefelder Kunstverein 1991, S. 26
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sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert, und endlich verurteilt […]. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urteil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht.«157 Das unterscheidet dieses tragische Ringen um Integrität und Autonomie von der wissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung, von der Abstrahiertheit der historisch versierten Intelligenz, die Nietzsche als Bildungsphilisterum angreift. Diese kulturelle Abstumpfung will er mit einer künstlerischen Umgestaltung der Vergangenheit ins »Überhistorische« angreifen, mit einer Elite »unmodern erzogener, das heißt reif gewordener und an das Heroische gewöhnter Menschen […] die ganze lärmende Afterbildung dieser Zeit zum ewigen Schweigen […] bringen.«158 In der historistischen Architektur der deutschen Städte sah Nietzsche, zu dessen Ehrgeiz es gehörte, »als Verächter der Deutschen par excellence zu gelten«159 , allerdings natürlich keine künstlerische Manifestation des »Überhistorischen« verwirklicht. Für ihn war sie nur ein »gebaute[s] Laster, wo nichts wächst, wo jedwedes Ding, Gutes und Schlimmes, eingeschleppt ist.«160 Eine inauthentische Imitation der Vergangenheit, abgepackt von bildungsphilisterhaften Architekten, die die Genieleistungen der Geschichte genau als ihre Kragenweite sahen. Das 20. Jahrhundert mit seinen architektonischen Authentizitätsnarrativen der Funktions- und Materialgerechtigkeit übernahm dieses Charakterbild des historistischen Künstlers als eine Art allesverdauenden Müllschlucker, wenngleich natürlich Nietzsches Imagination einer Aufhebung der Kunst und Philosophie in einem poetisch-dionysischen »Willen zur Macht« dem technisch-instrumentellen Positivismus der Moderne selbst fernsteht. Selbst konservative Gegner der Moderne bemühten den Argumentationstyp Nietzsches, um beginnend mit der historistischen Architektur die Verfallssymptome eines Niedergangs der abendländischen Kultur als Verlust des kulturellen Maßbewusstseins darzustellen. In den inauthentischen Bau- und Gestaltungsprinzipien des Historismus wird ein katastrophischer Verlust der Mitte erblickt, wie die in den 1950ern vielbeachtete kulturdiagnostische Schrift des katholischen Kunsthistorikers Hans Sedlmayr heißt. Er sah mit dem Historismus eine verhärtete Zivilisation, die unter einer »Abweichung von der Idee des Menschlichen« leidet, ihre Spätphase erreichen, missbilligte ihre Kunst »als zeremonienhafte Erstarrung, als Veräußerlichung, als Wucherung ins Kolossale und Leere, als Seelenlosigkeit, Verwilderung und Verrohung.«161 Für Sedlmayrs christlich-reaktionäre Variante humanistischer Weltanschauung manifestieren sich mit dem Historismus die untrüglichen Zeichen einer »Deshumanisierung« durch das Aufklärungszeitalter. Durch unbewältigte »Erschütterungen im Inneren der geistigen Welt« bemächtigen sich »[d]as Nächtige und Unheimliche, das Krankhaft Verzerrte, Krasse, das Obszöne und Verkehrte, das Mechanische und Maschinelle – alle diese Register, Attribute und As-
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Nietzsche: 2009, S. 33 Ebd., S. 65 Nietzsche: 1977, S. 125 Nietzsche: 2009, S. 68 Sedlmayr: 1956, S. 175
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pekte des Unmenschlichen – […] des Menschen und seiner vertrauten Welt, der Natur und aller seiner Vorstellungen. Sie machen den Menschen zur Ruine und zum Automaten, zur Lemure und Larve, zum Leichnam und Gespenst, zur Wanze und zum Insekt, sie schildern ihn brutal, grausam, gemein, obszön, monströs, maschinell.«162 Aber auch wenn man Sedlmayrs metaphysisch durchtränkte Verfallsdiagnose über ein aus den Fugen geratenes atheistisches Zeitalter außer Acht lässt, und man muss diese ja fast zwangsläufig außer Acht lassen, wenn man seine theologische Vorstellung von der »Gottesebenbildlichkeit« nicht teilt (– schließlich sieht der konservative Theoretiker in der modernen Gottferne des Menschen, in der fehlenden Vermittlung zwischen Gott und den Menschen, dessen »Vertotung«163 ), bleiben seine architekturgeschichtlichen Aussagen über den Historismus einseitig. Das betrifft im Ganzen seine Pathologie einer »Zerspaltung« der Künste, ihre Ausdifferenzierung und Autonomisierung, die in der Baukunst das mittelalterliche und bis in den Barock wirkende Ideal eines »sakral gebundenen« Gesamtkunstwerks hintergruben, dadurch die Gegensätze der Kunstgattungen auseinandertrieben und die Zentrierung der Kunst um den Menschen unterminierte. Und damit auch Sedlmayr daraus abgeleitete fundamentalistische Deklassierung des Historismus als anorganisch, amorph, stückhaft, unmalerisch. Als »antihumanistische« Architektur, die einerseits in »Gefahr [ist], sich in reine Geometrie und Konstruktion aufzulösen und damit ihr Wesen aufzugeben« und andererseits nur mehr »Geisterbeschwörung und ›Schauspielerei‹«164 zustande bringt. Der Historismus erscheint ihm als durch und durch erkaltete Kunst, als Abbild der »Verwandlung des Menschen in das Untermenschliche«, als »Leichnam«, der sich »von dem lebendigen Leib […] [in] d[er] Beschaffenheit der kleinsten Formen [unterscheidet]. Und in den kleinsten Formen der ›historischen‹ Stile entdeckt das geschärfte Auge überall jene Unfähigkeit, anders als geometrisch zu gestalten. Ihren Profilen fehlt das Lebendige, das Freizügige, das Sfumato, sie sind alle geometrisch mit Lineal und Zirkel konstruiert.«165 Sedlmayrs Diagnose einer »Zerspaltung«, einer Zerstückelung der mittelalterlichen und barocken baukünstlerischen Ganzheitlichkeit und Gemeinschaftlichkeit im Gesamtkunstwerk zu einer kalt-rationalen Stilmaskerade im 19. Jahrhundert kann und will nur die unfreiwilligen, nicht der bewussten Inszenierung entsprungenen Aspekte der historistischen Inauthentizität fassen. Die Verselbstständigungen und Partialisierungen antiker, mittelalterlicher und barocker Baugedanken zum Preis der Artifizialität anklagen, nicht aber ihre raffinierte Gestaltungslust im Umgang mit Künstlichem und bestaunen, ihren poetischen »Eklektizismus der Kraft, nicht der Schwäche«166 . Denn dieser ist ihm immer nur »Alibi« einer dekadenten Verfallszeit
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Ebd., S. 103 »Der Mensch ist Vollmensch nur als Träger des göttlichen Geistes. So gesehen wäre die Störung, die wir als ›Verlust der Mitte‹ gekennzeichnet haben, eben in der wesensunmöglichen Trennung des Göttlichen und Menschlichen im Menschen zu suchen […]. Die verlorene Mitte des Menschen ist eben Gott: der innerste Kern der Krankheit ist das gestörte Gottesverhältnis«; ebd., S. 136 164 Ebd., S. 109 165 Ebd., S. 82 166 Ebd., S. 63
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der Säkularisation und Dissoziation, die Signatur eines häretischen »Angriffs auf die Architektur«, gar ihrer Abschaffung. Sedlmayr ist die Revolution der Moderne, die er als »Abschaffung der Architektur« über äußerste Rationalisierung, ihr Erkalten ins Anorganische, Mechanische, Maschinelle begreift, so lediglich eine Steigerungsform einer von Gott- und Menschenferne bereits entwerteten Epoche. Ihre radikale Traditionsverneinung, die die Legitimationsstrategie über die Geschichte zugunsten einer authentischen Aktualität und Zeitgemäßheit kappt, den Impetus ihrer ungelehrigen Intelligenz, alles bisher Dagewesene zu zertrümmern, erfasst er daher nicht als Zäsur. Dabei führen nicht nur die Behagensminderungen des Funktionalismus zu Magengrimmen bei den Menschen, sondern ebenso die »Tabuisierung der Geschichte«. Denn die Eingezogenheit in ihre funktionalistische Doktrin ermöglichte der Moderne »nicht nur die beispiellose Radikalität des Neuanfangs, sondern trug gleichzeitig zu einer vollständigen Entwurzelung des Architekturgeschehens bei«167 , bedeutete seit jeher ein Risiko der Depopularisierung für die Moderne durch Entsemiotisierung. Zwar lässt sich mit Günther Fischer argumentieren, dass die funktionalistische Architektur dahingehend keineswegs so »sprachlos«, das heißt ohne Symbolisierungsgehalt war, wie später die Theoretiker der Postmoderne reklamierten, als sie »erstaunlich exakt die zunehmende Entfremdung und Isolation des modernen Menschen innerhalb einer inhumanen Massenzivilisation zum Ausdruck« brachte. Nur handelt es sich dabei nicht nur um eine an sich beängstigende, unbefriedigende Symbolisierung, dass, »was hier spricht, ist nicht die Sprache der Architektur, sondern die Sprache der Börsenmakler, Banken und Bodenspekulanten.«168 Architekturideologisch war die radikale Traditionsverneinung, die die Moderne Bewegung betrieb, jedoch ein essenzielles Moment ihrer Pose gesellschaftlicher Erneuerung und kultureller Distanznahme. Die Moderne verstand sich als eine Architektur, die über sich gewinnt und verzichtet. Ihre bewusst unsensible Vehemenz, sich von der Geschichte und vom konkreten Ort zu lösen, den Kontext wegzuentwerfen, kennzeichnete den prolongierten Epochenwechsel, festigte ihre Erlösungslehre des Fortschritts. Mit emanzipatorischem Anspruch verhielt man sich geschichtsabweisend, durchaus mit Aggressionslust, und strebte auf eine Zukunft hin, die man greifbar wähnte. Weil sie das »Ausgehöhlte, Fiktive« des Traditionsbezug des Historismus fühlte, schlug die Avantgarde »es wie Gips mit dem Hammer weg«; Und gegen diesen Schritt lässt sich, wie Adorno ausführte, aufgrund des »traditionsfeindlichen Impuls[es]« der Sachlichkeit auch nicht mehr innerhalb des funktionalistischen Diskurses schlüssig für Tradition argumentieren: »Darüber zu klagen, Tradition als heilsam zu empfehlen, ist ohnmächtig und widerspricht deren eigenem Wesen. Zweckrationalität, die Erwägung, wie gut es in einer angeblich oder wahrhaft entformten Welt wäre, Tradition zu besitzen, kann nicht verordnen, was von Zweckrationalität kassiert ist.«169
167 Fischer: 1987, S. 10 168 Fischer, Günther: »Architektur und Kommunikation«, in: ders. et al. (Hg.), Abschied von der Postmoderne. Beiträge zur Überwindung der Orientierungskrise, Braunschweig: Vieweg 1987, S. 50 169 Adorno: 1967, S. 30-31
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Architekten wie Walter Gropius, der auf internationaler Bühne den Markennamen »Bauhaus«, den er als sein geistiges Eigentum betrachtete, etablierte und mittels intensiver Vermarktung eine »systematische Stilisierung und Mythisierung des Bauhauses«170 herbeiführte, gaben sich daher als unheilbare Fanatiker einer traditionsverneinenden asketischen Selbstüberwindung, die im Namen einer individualisierten, technisierten Menschheit für sich in Anspruch nahmen, das Bauen mit zivilisatorischem Gewinn zu industrialisieren. Ihre Gebäude präsentierten eine ästhetische Selbstgenügsamkeit, die keine Erinnerung belastet, die die Begierden des Zierrats, das für sie allen Zauber eingebüßt hatte, überwindet und die Architektur in die Abstraktion eines Funktionalismus industrieller Massenfertigung taucht. Sie verübelten, auffallend herablassend und geringschätzig, dem Historismus und »dem bürgerlichen 19. Jahrhundert vor allem, daß es von den beiden Möglichkeiten der Realitätsabsage die Vergangenheit gewählt und sich in den verlorenen Paradiesen heimischer gefühlt habe als in den Phantasiebildern einer klassenlosen Zukunft.«171 In der Nachkriegsarchitektur gab es allerdings auch Minderheitenpositionen, die sich gegen die Schweigsamkeit und Geschichtsblindheit des Funktionalismus wandten und ein Bewusstsein zur Baugeschichte entwickelten, dass, zumindest im Ansatz, Adornos Authentizitätsanspruch eines »kritische[n] Verhältnis[ses] zur Tradition als Medium ihrer Bewahrung« in Gestalt »bestimmte[r] Negation«172 nahekam. Historisierende Stilimitationen lagen diesen Architekten fern, ein authentischer Zugriff zur Tradition war ihnen ausschließlich in der eigenständigen künstlerischen Durchbildung fassbar, indem es, durchaus adornitisch negatorisch, gelänge, diese »nicht [zu] vergessen und ihr doch nicht sich anpassen […], sie mit dem einmal erreichten Stand des Bewußtseins, dem fortgeschrittensten, konfrontieren und fragen, was trägt und was nicht.«173 In Italien beispielsweise, wo obendrein das unpolitische Selbstbild der Moderne, die von sich meinte, sie sei frei und von keiner Ideologie vereinnahmt, dadurch diskreditiert worden war, dass unter Mussolini Diktatur und Avantgarde miteinander paktiert, sich führende Architekten des Futurismus und Rationalismus als Faschistendiener angebiedert hatten, formierte sich eine unvoreingenommenere, regional sensible Moderne, die unter dem Namen Neoliberty diskutiert wurde. Dieses von Paolo Portoghesi so bezeichnete »Italien auf dem Rückzug« richtete ihre Misshelligkeit gegen die Beiprodukte des Fortschritts- und Technikkultes der Modernen Bewegung, wollte die Empfindlichkeit der modernistischen Frömmler brechen und dem Sterben der Formen und Konventionen begegnen: »Mit ihrem Forschen nach Wurzeln in Geschichte und Umwelt bestätigten die[se] sensibleren Architekten […] ihre Missbilligung des vorgeschriebenen Wegs eines inzwischen überflüssigen und unproduktiven Triumphs der modernistischen Orthodoxie.«174
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Nerdinger: 2012, S. 149 Fest: 1988, S. 274 Adorno: 1967, S. 38 Ebd., S. 35 Portoghesi: 1982, S. 47
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Die revisionistische Moderne des Neoliberty, die viele, etwa Reyner Banham, der eine »infantile regression«175 befürchtete, als Abwieglertum missverstanden, suchte eine differenzierende »Rückbesinnung« auf die Umweltgegebenheiten. Mit Ernesto Nathan Rogers, Partner des Architekturbüros BBPR, plädierte man für ein anpassendes Bauen, dass im Rekurs auf die »preesistenze ambientali«, den Kontext eines Ortes operiert. Der Neoliberty nahm dabei allerdings nicht die Gestalt einer Stilrichtung an, wie der schiefe Jugendstil-Verweis suggeriert, denn sein regionalistischer Ansatz implizierte, »dass man auf die autobiographische Einheitlichkeit der Werke und auf die Kohärenz des persönlichen Stils […] verzichtete«176 . Die Integrität seiner Architektur ist weniger an die auktoriale Authentizitätserwartung geknüpft, als Schöpfer origineller Werke eigenen Rechts hervorzutreten, als an einer Einbeziehung der stilistischen Einflüsse des eigenen historischen Erbes. Thematisiert wurde der durch den radikalen Bereinigungseifer der funktionalistischen Architektur eingeleitete »Überlieferungsverlust« auch in der 1953 in Westdeutschland geführten »Bauhaus-Debatte«, die Rudolf Schwarz mit dem aufgebracht betuschelten Pamphlet Bilde Künstler, rede nicht lanciert hatte. »Mit seiner Warnung vor einer seelenlosen kalten technisch-funktionalen Moderne verband Schwarz […] den – vergeblichen – Versuch der Ehrenrettung einer Architektur, die sich der Tradition verpflichtet fühlte, einer Tradition, die er nicht dem Nationalsozialismus überlassen wollte.«177 Schwarz, ein im Diskurs alles andere als zimperlicher Mann, der seine Reputation als Architekt im Kirchenbau erlangt hatte, verschärfte sein Plädoyer für ein geschichtsbewusstes Bauen allerdings mit einem unmäßigen, mit galligen Humor ausgebreiteten Urteil über Walter Gropius und das bereits historische Bauhaus, dem er eine Einbuße an Bildungs- und Gestaltungsreichtum in der Architektur ankreidete. Dieser Debattenaufschlag, dass der Funktionalismus künstlerische Instinkte und intellektuelles Nachdenken niederhalte, ließ dann keinen Raum mehr für viele Nuancen.178 Die Kritiker von Rudolf Schwarz machten ihm einen Skandal und brachten Weltanschauliches ins Spiel, in dem sie auf den Katholizismus des Pamphletisten verwiesen.179
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Banham, Reyner: »Neoliberty. The Italian Retreat from Modern Architecture«, in: The Architectural Review, 4/1959; Banham betrachtete die Neoliberty-Tendenz als Reaktion bürgerlicher Kreise, die die technischen und intellektuellen Zäsuren des frühen 20. Jahrhunderts ignorieren würde: »It has become a convention, based chiefly on paying too much attention to what the masters of Art Noveau claimed they were doing, to regard it as the first of the new styles, but the evidence of the eye affirms that it was the last of the old, in spite of the signs of transition that can be found in its best works«; Ebd. Portoghesi: 1982, S. 48 Nerdinger: 2012, S. 164 Übel nahm man Rudolf Schwarz speziell den Satz: »Es soll auch gar nichts gegen Gropius als Künstler gesagt werden, der er ohne Zweifel ist, aber er konnte offenbar nicht denken – ich meine damit das, was nun einmal im abendländischen Raum Denken heißt«, Schwarz, Rudolf: »Bilde Künstler, rede nicht«, in: Ulrich Conrads/Peter Neitzke (Hg.), Die Bauhaus-Debatte 1953. Dokumente einer verdrängten Kontroverse, Braunschweig: Vieweg 2000, S. 43-44 »Da die quantitativ weit überwiegende Masse der Kritik am Bauhaus bis zur Nachkriegszeit aus dem konservativ-reaktionären Lager kam, sind die ernsthaften zeitgenössischen Gegenstimmen fast durchweg überhört oder verdrängt worden. Dabei nimmt eine Konfrontation der BauhausMythisierung mit der Bauhaus-Kritik dem Bauhaus nichts von einem Ruhm, im Gegenteil, im Spie-
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Die inhaltlichen Anstrengungen, die Schwarz machte, um der funktionalistischen Ideologie den intellektuellen Kampf anzusagen, waren bei aller Indifferenz seines aggressiv-brausenden Gedankenumrisses allerdings in ihrer Grundaussage durchaus verständlich. Er beklagte ein »merkwürdige[s] Verstummen des Gesprächs unter den Baumeistern« infolge eines »großen Bruchs der abendländischen Überlieferung«180 . Diesen lastete er dem Einbruch des Materialismus ins abendländische Denken an, für den das Bauhaus in der Architektur eine Katalysatorfunktion eingenommen hätte. Das Hauptübel läge in der architekturideologischen »Mauer«, die von den Funktionalisten des Bauhauses aufgebaut worden wäre, »indem sie besonders den jüngeren Menschen aufgeredet hatten, mit ihrem Auftreten datiere das Jahr 1«181 , womit die Modernisten zu einem todbringenden Feind geschichtlicher Verweisstrukturen geworden waren. In seiner innigen Verbitterung über den Funktionalismus fand Schwarz zwar auch grimmige Sätze für den geometrischen Schematismus, der zum Markenzeichen des »Bauhausstils« wurde, und für die Baumängel ihrer »Glaswürfel«. Was ihn allerdings weit stärker irritierte als der Umstand, dass es »von oben hereinregnet und das Ganze als Treibhaus funktioniert«, ist die dahinterliegende, auf unscharfe Leitbegriffe aufsetzende funktionalistische Argumentation, mit der sich die einem fanatischen Eifer verschriebenen Bauhausideologen ihre architekturästhetischen Ideale zu einer »unerfreulichen und sehr finsteren materialistischen Weltanschauung zurechtfälschten«182 : »Das Schlimme am Bauhaus war überhaupt nicht sein Versagen im Technischen, sondern seine unerträgliche Phraseologie. Sehr früh war ihnen dort die Theorie vom Zweck in den falschen Hals gekommen, und dann bekannten sie sich vor der erschrockenen Mitwelt feierlich zum historischen Materialismus. Ein Künstler kann beinahe alles tun, ohne daß darum seine Kunst kaputtgehen muß, er kann Quartals- oder Gewohnheitssäufer sein, sich sechs Frauen gleichzeitig halten und was es sonst noch Schreckliches gibt und doch ein Künstler bleiben. Wenn er sich aber zum Materialismus bekehrt, dann verschluckt er ein Gift, das mit absoluter Notwendigkeit zum Tode führt.«183 Schwarz rehabilitierte mit seiner antifunktionalistischen Argumentation gerade auch über das Bild eines ideellen »abendländischen Gesprächs«, dass die Baumeister »über die Zeiten hinweg« führen, nicht nur das Ideal einer kulturellen Traditionsverhaftetheit, er versuchte gegen die Ideologie der Funktionsgebundenheit, der Zweckbestimmung, die auktoriale künstlerische Dimension der Architektur zu verteidigen. Auch an der Bauhausarchitektur selbst, deren uneingestandene, hineinverwickelte ästhetische Qualitäten er unterstrich: »Wie ist es nur möglich, daß die Bauten dieser Jahre bis auf den heutigen Tag mit dem Wort von der ›Neuen Sachlichkeit‹ verunstaltet werden, wo sie doch so viel Schönheit enthielten? Ihr hättet Euch wehren müssen und, da Ihr auch dies nicht denkend durchschauen konntet, aus dem Instinkt Eures Künstlertums ah-
gel seiner Kritiker […] könnten Qualität und Talmi, Realität und Wunschbilder besser erkannt und schärfer unterschieden werden.«; Nerdinger: 2012, S. 149 180 Schwarz: 2000, S. 39 181 Ebd., S. 39 182 Ebd., S. 44 183 Ebd., S. 45
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nen müssen, daß sich dieses Wort gegen die Wurzel Eurer Existenz richtete«184 . Für Schwarz sind die Architekten »eben keine Ingenieure […] und haben ganz anderes zu vertreten. Nämlich das unverstümmelte Leben in seiner lebendigen Ganzheit. Dieses aber keine Funktion, läßt sich nicht in Funktionen auflösen und nicht daraus zusammensetzen, und wenn man das dennoch versucht, tut man ihm Schlimmes an«185 . Die »Bauhaus-Debatte« lieferte schlagende Argumente für eine Richtungsdiskussion – nur wurde die nicht geführt, da es dem »Internationalen Stil« bis weit in die 1960er gelang, seine Erklärungsdefizite vor sich herzuschieben. Erst als die Beschädigungen der tradierten urbanen Bedingungsgefüge durch eine planmäßige Entmischung der Stadtfunktionen, wie sie der funktionalistische Städtebau betrieb, im harten Grau des Brutalismus auch in ihrer architekturästhetisch entsinnlichten, hässlichen »Unwirtlichkeit« unbestreitbar in die Augen sprangen, setzte die Selbstreflexion der Moderne eine offene Opposition frei, die nicht bloß die Dosis jener Medizin verringern wollte, die die Moderne zu sein beteuerte: die Postmoderne. Die Postmoderne, ein letztlich uneindeutiger Periodisierungsbegriff für einen Pool heterogener Positionen, den allerdings philosophisch interessierte Architekten, die beispielsweise Jean-Francois Lyotard überschlägig lasen, als eine Bildungsreaktion auf intellektuelle Impulse der Zeit begreifen durften, kritisierte in gescheiten Polemiken das elitistische, hermetische Funktions- und Formbewusstsein der Moderne. Sie attestierte der vom funktionalistischen Verkunstungsverzicht ideologisierten Architektenschaft eine eigenartige Unfähigkeit, sich mitzuteilen: mit ihren unzugänglichen Nützlichkeits- und Wirtschaftlichkeitsmetaphoriken versäume sie es, die Menschen für ihre Gebäude zu begeistern, verspiele sie die Verbindung zur Gesellschaft.186 Denn die funktionalistischen Ästhetiken blieben asemantisch, wie Wellmer festhielt, »wo sie nicht von außen ornamental oder auch symbolisch aufgeladen werden, bringen [sie] vermöge ihrer eigenen Komplexion keinen Zusammenhang von Bedeutungen zum Ausdruck; sie verkörpern einen Zusammenhang von Funktionen, aber sie drücken ihn nicht aus.«187 Die Postmoderne löste sich von der modernistischen Selbstnötigung, die Historie hochmütig zu ignorieren, und entwickelte im Sinne einer publikumsfreundlichen architekturästhetischen Empfindlichkeitssteigerung ein Bewusstsein für die Massenwirksamkeit imaginativer Geschichtszitate, betrieb ein »partizipativ-demokratisch« verstandenes Miteinkalkulieren affektiver Beziehungen zur Historie. Wenngleich ihre eigenen »Geschichtsanknüpfungen« fragmentarische »isolierte Architekturzitate« blieben und damit einen »seit Jahrhunderten geläufige[n] Topos, der nie Geschichte, sondern bestenfalls historische Sinnbezüge stiften konnte und kann«188 weiterführten,
184 Schwarz, Rudolf: »Was dennoch besprochen werden muß«, in: Ulrich Conrads/Peter Neitzke (Hg.), Die Bauhaus-Debatte 1953. Dokumente einer verdrängten Kontroverse, Braunschweig: Vieweg 2000, S. 168 185 Ebd., S. 169 186 »Nicht einmal in ihrer ureigensten Kompetenz, in ihrer Ästhetik, wurde die kompromittierte Moderne zu einem Erfolg. […] Ihre Historiker haben sie immer mehr geschätzt als ihre Benutzer.«; Pehnt: 1983, S. 74 187 Wellmer: 1985, S. 128-129 188 Nerdinger: 2012, S. 27
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wurde diese neukontextualisierende Setzung geschichtlicher Formenschönheiten der Postmoderne zu einer populistischen Erweiterungsformel, mit Energie und Ironie zelebrierte sie eine freudvolle Befreiung des Menschen von den Entfremdungen der technophilen Welterlösungslehre der Moderne. Freilich bereinigten die Theoretiker der Postmoderne wie Charles Jencks, um die eigene Rhetorik zum Epochenstreit, zur Entwicklungskehre stilisieren zu können, einerseits ihre Feinddefinition der Moderne von jenen »organischen« Nebenlinien, die diese in den unterschiedliche Entwicklungsphasen seit den 1920ern selbstkritisch begleiteten, und vereinnahmten andererseits allzu leichtfertig und ungefragt vermeintliche Parteigänger für die eigene Sammlungsbewegung.189 Im Ergebnis erreichte die Postmoderne, die in den 1980ern schnell einen Zersetzungsprozess erlebte, indem sie zur modischen Formel (»PoMo«) degenerierte, durch die Trittbrettfahrerei einer Spekulantenarchitektur, die sich ihrer Zeichen bediente, trivialisiert wurde, allerdings, zumindest in Teilen, genau das, was sie selbst sein wollte: eine »Revision der Moderne«. Die so bezeichnete »zweite Moderne« wurde selbst verhältnismäßig geschichtsreflexiv, referenzierte die »heroischen« Avantgarden der 1920er und 1930er als sinnstiftende Narrationen der eigenen Praxis. Diese »zweite Moderne« ist, wie Wolfgang Pehnt bemerkte, selbst »unter die Historiker gefallen«: »Darstellungen der neueren Architektur, die noch bis in die sechziger Jahre […] Bekenntnischarakter trugen«, sind nun durch »durch die Reflexion auf die eigene Geschichte kennzeichnet.«190 Womit das im 19. Jahrhundert entwickelte historische Bewusstsein schließlich eine unterschwellige Fortsetzung findet. Weiterhin verstetigen sich prospektive moderne Vorstellungen einer technologieoptimistischen Entwicklungslinie des Fortschritts in den esoterisch poetisierten Technound Freiform-Modernismen von Santiago Calatrava, Zaha Hadid, Asymptote oder Future Systems. Parallel dazu etabliert sich allerdings ein retrospektives Eingedenken in die utopischen Energien eigentlich verlebter modernistischer Fortschrittszeichen durch einen Retrofuturismus, mit dem sich eine latent zukunftsmüde Gegenwartskultur in der Kälte der Verhältnisse sentimental der sprühenden Fähigkeiten der Avantgarden erinnert, Science-Fiction, Zukunft zu erfinden. Eine spezifisch modernistische Retrosehnsucht, die wieder, und sei es nur in der Visibilität des Zitats, in die Sonne jener einstigen Fortschrittsverheißungen blinzeln will, die die Zukunftsentwürfe von Gestern entwickelten, imaginiert sich in die Luftspiegelungen von Utopie bei Oscar Niemeyer, Kenzo Tange, Jean Balladur oder Frei Otto. (Am besten in den grobkörnigen Fernsehästhetiken der 1970er, mit den typischen Lichtstrahlen, die sich in der Kameralinse fangen.) Vielleicht resultiert dieser Retrofuturismus der gestrigen Welten von Morgen, wie Simon Reynolds schreibt, auch aus einer Langeweile, der es, postmodern, »nicht um Hunger als Antwort auf die Entbehrungen«, sondern »um den Verlust des kulturellen 189 »Diese Verwirrung beginnt schon mit der Gleichsetzung von Funktionalismus und moderner Architektur. Es war und bleibt Unsinn, all die von Jencks aufgeführten Architekten unter dem Vorzeichen anti- oder postmodern subsumieren zu wollen […]. Die einzige und entscheidende Gemeinsamkeit ist vielmehr, daß alle diese Architekten tatsächlich anti- oder postfunktionalistisch sind.«; Fischer: 1987, S. 7-8 190 Pehnt: 1983, S. 11
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Appetits als Reaktion auf die Übersättigung unserer Ansprüche bezüglich unserer Aufmerksamkeit und unserer Zeit«191 geht. Zugleich ist dieses Retrobegehren für die Zukunftssignaturen der prädigitalen Zeit jedoch ebenso eine spezifische Rezeption eines modernistischen Selbstbewusstseins, das nicht zuletzt an sozialdemokratisch gelenkte sozialstaatlich-technokratische Emanzipationserfolge erinnert. Wobei der retrospektive Eskapismus dieser Moderne freilich die Möglichkeit verstellt, die utopischen Gehalte dieser Zukunftsentwürfe selbst einzulösen und damit eine authentische Traditionswiederaufnahme dieser futuristischen Architekturen zu verwirklichen. Sie kann sie nur sentimental ästhetisch bannen. Allgemein zeigt sich in Retro-Ästhetiken, die unserer Gegenwartskultur bereits derartig einnehmen, dass »Retro« als Kandidat einer vorweggenommenen Epochenbezeichnung firmiert, eine Mentalität. Sie zeigt, wie Mark Jones schreibt, unsere Zeit ist »more uncertain and anxious about its relationship to history than any previous age. With declining confidence in the present, the urge to conserve and revive the past has become ever more frantic. The interval between a period or style going out of fashion and its return has steadily diminished; […] Concern for authenticity has grown simultaneously with this passion for revivalism, leading to the emergence of an unlikely market for things which are at one and the same time completely derivative and authentically original.«192
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Reynolds: 2012, S. 99 Jones: 1992, S. 7
Architektonische Brüskierungen durch das Inauthentische
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
3.1
Narrative des Inauthentischen in den historistischen Stilarchitekturen
Der Historismus, die unverstandene Architektur des 19. Jahrhunderts, die versuchte, Zukunft aus Vergangenheit zu gebären, hatte viele Qualitäten, aber auch viele Unzulänglichkeiten. Sie hatte einen Hang zur Ausschweifung und zum Prunk, den man ihr später verübelte – künstlerische Skrupulosität war ihr nie eine Tugend. Die Architektur des Historismus »verwirrt uns [bis] heute durch ihre Vielfalt und Verschiedenheit und – es sei gestanden – gelegentlich durch ihre Häßlichkeit.«1 Vielen, deren Magen nicht alles verträgt, erscheint der Historismus, wie es bei Claude Mignon heißt, als ein »Siegeszug der Geschmacklosigkeit«2 , als kataraktartiger Niedergang des architektonischen Kunstsinns, als ein sich selbst entlarvendes Jahrhundert der Trivialitäten, des halbsüßen Kitschs. Seine Hässlichkeit liegt in der auftrumpfenden Schwülstigkeit, mit der er die Baukünste der Vergangenheit zu überflügeln gedachte, in seiner anmaßenden Repräsentationspathetik, mit der er wackelige gesellschaftliche Hierarchien starrsinnig in reaktionäre Würde- und Machtbehauptungen übertrug, wie in seiner aufgeblasenen Unkultiviertheit und Naivität im Umgang mit der entliehenen Historie, der »Plunderhaftigkeit der historistischen Zitate«3 . Denn hässlich war er schließlich gesellschaftlich als Kumpanei der Mächtigen: als Abschiedssymphonie auf die bedrängte Aristokratie und zugleich als angeberische, vulgäre Parvenü-Kunst des aufsteigenden Bürgertums. Die Kunst- und Architekturgeschichte hat den Historismus aufgrund der unterschiedlichsten Punkte heruntercharakterisiert – »[d]as neuzehnte Jahrhundert bietet [einfach] zu viele Angriffsflächen.«4 Der gravierendste Anklagepunkt aber, mit dem man den Historismus kaputtschreibt, lautet, er sei eine Architektur der Künstlichkeit
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Mignon: 1994, S. 7 Ebd., S. 114 von Müller: 1996 Brönner: 2010, S. 137
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und Inauthentizität, eine kalkulierte Ausgedachtheit. Seine Gebäude sind eine Art geschichtliche Unwahrscheinlichkeit, eine ausgebrütete, getürkte Architektur. Ein »unwürdiges Stiltreiben«, wie Hermann Muthesius es abfällig nannte, »in welchen Spätrenaissance, Barock, Rococo, Zopf und Empire geichmässig abgeschlachtet und nach kurzer Zeit des Blutsaugens in die Ecke geworfen wurden.«5 Besonders die Moderne zeigte gegenüber dem Historismus eine herrische Intoleranz, wollte in ihm nur die Entgleisungen und Fehlleistungen einer unseligen Kunst sehen, um der eigenen Weltbeholfenheit im Negieren Fortschrittlichkeit hin zu einem verbesserten, einem gebesserten Menschen zuschreiben zu können. Der Bilanzierungsblick des 20. Jahrhunderts, der die Architektur des Historismus kalt und naserümpfend abservierte, verpasste ihr in verschleiernder Terminologie »kurzerhand das Etikett des Eklektizismus, einer […] schöpferisch unproduktiven, vorwiegend stilimitierenden Epoche. Vor allem meinte man, den Architekten des 19. Jahrhunderts den Vorwurf machen zu müssen, daß es ihnen offensichtlich nicht gelungen sei, einen eigenständigen, verbindlichen neuen Baustil hervorzubringen.«6 Sie sei nur Nachhall und Abglanz. Eine wirklichkeitsblinde Gaukelmagie erfundener Geschichtskulissen, die in ihre eigenen Bilder stürzt. Eine immerzu variierende Agonie, die man mit einem bedauernden Lächeln abtun muss. Dabei hatte auch das historienverliebt durch die Vergangenheit mäandrierende 19. Jahrhundert »wie jede[s] andere nur einen Stil: den Historismus […]. Die verschiedenen historischen Formprogramme waren lediglich seine ›Modi‹«7 : der Klassizismus, der erste historistische Hauptstil, der seinen Aufklärungsidealismus der Nachahmung der griechischen Antike widmet. Die Neugotik, aus der, zumindest zu Beginn, Begehren und Verheißung der Romantik sprechen, voller verborgener Feuer mystischer Einheitssehnsucht und religiöser Frömmelei. Dann die Neorenaissance, der Neobarock und der Orientalismus. Denn diese Epoche entwickelte ihr Selbst in der »Projektion«, wie Ossip Mandelstam Rückschau hielt: »Das Wesen der Erkenntnistätigkeit des 19. Jahrhunderts bestand in einer Projektion. Das vergangene Jahrhundert liebte es nicht, von sich selber in der ersten Person zu sprechen, doch liebte es sehr wohl, sich auf die Leinwand fremder Epochen zu projizieren: Das war sein Leben, sein Tun. Mit seinem stets schlaflosen Denken warf es sich wie mit einem riesigen, wahnsinnigen Scheinwerfer an den schwarzen Himmel der Geschichte.«8
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Muthesius: 1902, S. 36 Schwarz, Mario: »Architektur im 19. Jahrhundert«, in: Hermann Fillitz (Hg.), Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa, Wien: Brandstätter 1996, S. 127 Braunfels: 1977, S. 267 Mandelstam, Ossip: Über den Gesprächspartner. Gesammelte Essays I. 1913-1924, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1991, S. 165; Damit unterschied es sich deutlich vom vorigen Jahrhundert, wie Mandelstam weiter schrieb: »Auf das 18. Jahrhundert, das gar nichts verstand, nicht den geringsten Spürsinn einer vergleichend-historischen Methode besaß und wie ein blindes Katzenjunges in ihm ganz unverständliche Welten geworfen war, folgte das Jahrhundert des Allesverstehens, ein Jahrhundert des Relativismus mit einem ungeheuren Reinkarnationsvermögen: das 19. Jahrhundert.«; ebd., S. 171
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
Klar, man kann aus der geistigen Zentraleigenschaft dieser Zeit, ihren mal schwärmerischen, mal analytischen Geschichtssinn, der das Bewusstsein dieser Gesellschaft geprägt hat und den Historismus als aus der Vergangenheit genährte Kunstauffassung ursächlich bestimmte, nicht alle ihre architektonischen Aporien rückführen. Zumal dieses Geschichtsbewusstsein selbst die wichtigste kulturelle und künstlerische Errungenschaft dieser Ära darstellt – wie überhaupt, Jacob Burckhardt, einer der wichtigsten Kunsthistoriker des Historismus, hielt das fest, »[e]ine Eigentümlichkeit höherer Kulturen […] ihre Fähigkeit zu Renaissancen«9 ist. Ein Grund, und es ist nicht der unwichtigste, warum das Ringen um die richtige Gestaltung bei der Nachahmung oder Neufassung des längst Vergangenen, die architektonische Kardinalfrage des 19. Jahrhunderts, allerdings zwangsläufig immer in Gefahr geriet, sich als Künstlichkeit und Inauthentizität zu deklassieren, ist der geschichtliche Zugriff des Historismus, der sich als bewusste Auswahl aus der Tradition vom Standpunkt der Gegenwart verstand. Als »Freisetzung des Ästhetischen im Geschichtlichen«10 . Den identitäts- und milieuunterstützenden Symbolisierungsbezügen über historische Stile haftete damit eine grundsätzliche Fallibilität an. Sie waren dadurch zwangsläufig in den Verdacht getränkt, selbstzentriert, unplausibel und inauthentisch zu sein. Das heißt, wie gut der einzelne Stilismus auch trägt, den der Historismus dabei bemüht, die Vergangenheit mit künstlerischen Mitteln zu übertrumpfen, und wie sehr eine Stilarchitektur auch die Qualität besitzt, ästhetische Gegensätze in sich zu vereinen, die Referenz- und Verweisbeziehung zur Geschichte ist nun eine semiotisch wertegebundene: »Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war das dekorative System der Architektur identisch mit dem Stil, dem es angehörte«11 Nun löst sich die dekorative Form von dem Stil und wurde beliebig einsetzbar, zum »als Träger einer Idee«: »Gedanken der Vaterlandsliebe, politische Ideen, Bürgertugenden oder religiöse Ideale verknüpften sich mit bestimmten Stilvorbildern, bedingten ihre Anwendung und gaben der Architektur dieser Zeit nicht selten einen allegorischen Charakter, der uns heute kaum noch unmittelbar deutlich wird.«12 Die Künstlichkeit des stilimitierenden Historismus, selbst im Eigenempfindung seiner Zeit, ist in jeweils unterschiedlicher Gewichtung dann eine geschichtliche, eine stilistische, eine auktoriale, eine materielle und eine typologische. Denn alles stand nun zur Disposition. Inauthentisch wirkt der Historismus dann allein in seinen inflationär die Historie plündernden und damit zwangsläufig beliebig wirkenden Stilaneignungen, die die ihn zugrunde liegende Intention, über die Geschichte eine verbindliche Architekturikonologie zu begründen, indem Stil in »der angewandten Kunst als Träger letztlich politisch motivierter, symbolischer Bezüge«13 begriffen wird, unbeabsichtigt sabotierte 9 10 11
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Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Wiesbaden: Marix 2009, S. 84 Brix/Steinhauser: 1978, S. 235 Lehmbruch, Hans/Halverson Schless, Nancy: »Architektur«, in: Hans-Jürgen Hansen (Hg.), Das pompöse Zeitalter. Zwischen Biedermeier und Jugendstil. Kunst, Architektur und Kunsthandwerk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Oldenburg: Stalling 1970, S. 21 Ebd., S. 22 Syndram: 1991, S. 20
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und stattdessen eine mangelnde Verbindlichkeit in Stilfragen zur Schau stellte. Speziell jedoch in der für die Kunst des Historismus so bezeichnenden Hochgestochenheit und Pomposität, mit der zeitfremde Formen sowohl im Gestus streng stilreiner Korrektheit wie der ehrgeizig überbietenden Weiterentwicklung entlehnt wurden. In seiner generellen Tendenz zur Übertreibung, die nicht selten in ungewollte Komik umschlug. Die Inauthentizitätsanklage lässt sich aber natürlich nicht allein durch die an sich plausible, richtige Argumentation ausräumen, dass das Artifizielle und Überladene im künstlerischen Ausdrucksinstrument des stilgeschichtlichen Rückbezugs das 19. Jahrhundert authentisch ausdrücke. Da man damit ein abschätzig gefasstes Hauptattribut des Historismus, dass ihm in seiner ganzen räumlichen und zeitlichen Erscheinung anhaftet, allenfalls mit einer tautologischen Aussage umkapselt, die nicht an den Inauthentizitätswirkungen der einzelnen stilistischen Unterarten des Historismus, die sich mit geschichtlichen Insignien unterschiedlicher Kunst- und Architekturstile behängten, rüttelt. Das muss man allerdings auch nicht. Denn das Inauthentische ist nicht nur ein faktisches Hauptattribut des Historismus, das die Eigenläufigkeit der Baukunst des 19. Jahrhunderts fasst, es ist seine architekturästhetische Hauptqualität. Seine Attraktion, mit einem umfangreichen künstlerischen Ertrag. Als rezeptionsästhetisches Narrativ bietet das Inauthentische die Aussicht, viele architektonische Aspekte des Historismus, seine ambitionierte künstlerische Überschwänglichkeit, mit der man ja an sich viel Sympathie haben kann, seine Pathetik und Umständlichkeit in den Stilimitationen und -vermischungen, als architekturästhetische Phänomene zustimmungsfähiger zu machen. Dabei aber keine entschuldigende Apologetik zu betreiben, keine irgendwie amnestierende Relativierung jener autoritären Gesellschaften, die diese Architektur schufen, ihrer materialistischen und nationalistischen Impulse, des aristokratischen Standesdünkels und des bürgerlichen Besitzglaubens. Ein tieferes architekturgeschichtliches Verständnis des Historismus bietet ein rezeptionsästhetisches Narrativ des Inauthentischen allerdings freilich nicht an, da es vielfach am Unabsichtlichen, am Unbewussten, am Nichtintentionalen dieser Architekturen kapriziert, die wirklichen Ideen der Architekten und Bauherrn dispensiert. Und natürlich trägt das Narrativ des Inauthentischen eine ästhetische Präferenz in sich, mit der sich viele nicht einfach arrangieren, da es die Auswahl auf die üppigsten, überladendsten, theatralischsten Bauten des Historismus kanalisiert, auf das Selbstgefällige und Affektierte. Auf den prunkenden Späthistorismus, den die kanonisierende Kunstgeschichte als Stagnations-, Dekadenz- und Verfallsstadium abkanzelt, als einen Aufruhr an trüber Erfahrung, oder den pompös-eklektizistischen Orientalismus, der sich in unsensibler okzidentaler Überlegenheit eine exotisch-romantische Fremde zurechtbildete. In den künstlerisch-intellektuellen Auseinandersetzungen des Historismus war der zur damaligen Zeit noch nicht in seiner ganzen Breite semantisch ausgebildete, nicht derartig mit metaphysischen Gedanken angereicherte Authentizitätsbegriff grundsätz-
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
lich nicht präsent.14 Aber das gilt auch für den Historismusbegriff selbst, der erst durch Hans Vogel und Hermann Beenken in den 1930ern in der Kunstgeschichte etabliert wurde. Das Jahrhundert des historischen Bewusstseins, das selber erst zu einem Teil retrospektiv die Definition der kunsthistorischen Epochenstile vor ihr vorgenommen hatte15 , hat ihre eigene, zumindest architekturstilistisch rückwärtsgeschulte Kunst nicht als »Historismus« bezeichnet (– und »sowohl in Frankreich als auch in England [sperrt man sich weiter] dagegen. Begriffe wie ›Victorian‹, ›Louis Philippe‹ und ›Napoleon III‹ […] sind aber als länderübergreifende Termini unbrauchbar.«16 ). Der tief empfundene Makel des 19. Jahrhunderts, selbst keinen eigenschöpferischen Epochenstil entwickeln zu können, verunklarte allerdings auch nicht zur Gänze den Blick darauf, dass auch der Stilpluralismus in der Architektur eine gemeinsame Idee hatte – man überhaupt eine Idee hatte. Diese lag in der wählerischen Zuwendung zur Vergangenheit, der durchaus auch in einen Rausch des Besitzergreifens ausartete. Gerade auch im Widersprüchlichen, Nichtgreiflichen der historistischen Stilwiederaufnahmen, manifestierte sich, als allgemeine Sinnklammer, »die scienza nuova des Jahrhunderts: die Geschichte. Die Künstler selbst scheinen Historiker sein zu wollen. Ihre Bilder und Gegenstände enthalten die reinste Realienkunde.«17 Den architektonischen Tag- und Nachtträumen des Historismus wurde und wird zwar ihr Fiktionalitätscharakter angekreidet, wenn man beispielweise mit Georg Dehio reüssiert: »Das 19. Jahrhundert wird in der Kunstgeschichte keine tiefen Spuren hinterlassen; sicher ist doch diesem Jahrhundert die Kunst etwas, sogar viel gewesen; nur war es nicht die eigene Kunst.«18 Einen eigenständigen geistig-materiellen Gesamtzustand hat der Historismus allerdings gerade dadurch erlangt. Er zeichnete sich durch »die Vielfalt seiner Stilorientierungen« aus, während man sich »[b]ei den früheren ›Renaissancen‹ oder Renovatio-Bewegungen […] jeweils an einer Epoche«19 orientierte. Denn »Rückgriffe auf historische Stilepochen gab es seit der Antike […]. Die Kunst dieser ›renovationes‹ unterschied sich vom Historismus des 19. Jahrhunderts jedoch ganz grundsätzlich: Diente bis dato die Wiederbelebung einer ganz bestimmten Zeitspanne der Geschichte und deren Kunst ausschließlich dazu, Ansprüche einer elitären weltlichen oder geistlichen Führungsschicht zu reklamieren, etablierte sich nun ein pluralistisches Stilverständnis auf der Grundlage eines sowohl historisch als auch gesellschaft14
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»Wenn sich im 19. Jahrhundert auch eine heftige Kontroverse zur historischen und künstlerischen Bedeutung der Architektur der Vergangenheit entwickelt, fällt der Begriff der Authentizität nur am Rande und mir der Konnotation ›Originalzustand‹«; Mager: 2016, S. 64 »Die heute gern verwandten Charakterisierungsbegriffe mit den ihnen zugeordneten künstlerischen und kulturellen Werten sind das Ergebnis allgemeiner Vereinbarungen, die erst mit dem wachsenden historischen Interesse seit der Mitte des 18. Jahrhunderts formuliert wurden.«; Syndram: 1991, S. 15 Mundt: 1996, S. 189 von Müller: 1996 Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze, München: Oldenbourg 1914, S. 74 Fillitz, Hermann: »Der Traum vom Glück. Das Phänomen des europäischen Historismus«, in: ders. (Hg.), Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa, Wien: Brandstätter 1996, S. 15; Dieser Umstand wurde nun »in eine Tugend umgedeutet. Stilpluralismus erschien nun als Korrelat liberal verfaßten Staatswesens und bürgerlicher individueller Freiheit.«; Dolgner, Dieter: Historismus. Deutsche Baukunst 1815-1900, Leipzig: E.A. Seemann 1993, S. 61
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lich stark erweiterten Spektrums. Der Historismus in der Kunst basierte nicht auf der reinen Wiederholung der Form, sondern auf den assoziativen und evokativen Eigenschaften der einzelnen historischen Stile«20 . Dieses in den Individualisierungsperspektiven der Stilverwendung erweiterte Entscheidungsvermögen demonstrierte ein neues Reflexionsmoment gesellschaftlicher Entwicklung, dass weit schwerer wiegt als inauthentische Selbstrepräsentationen über eine eklektizistisch verstoffwechselte Historie, bis hin zu einem törichten SichEinordnen-Wollen in große politische Prozesse. Diese Fähigkeit des Historismus, jedwede beliebige Vergangenheit wachzurufen, war auch eine Frage der technischen Generierbarkeit – der Rationalisierung des Bauwesens mit der Industrialisierung. Und auf die kam es an. Denn alles in allem war die Architektur des Historismus nämlich in »in erster Linie ein quantitatives Phänomen.«21 Einerseits was die Bauaufgaben betrifft, in einer bis dahin unbekannten typologischen Dimensionierung der Gebäude und Stadtquartiere, andererseits hinsichtlich der Anzahl an Bauführungen im Städtewachstum des Industriezeitalters. Denn »[n]och nie zuvor in der abendländischen Geschichte wurde so viel gebaut wie im 19. Jahrhundert. Es ist vermutlich keine Übertreibung, […] daß in diesem einen Jahrhundert mehr Gebäude errichtet wurden als in allen anderen Jahrhunderten der abendländischen Geschichte zusammen.«22 Dieses Städtewachstum wurde aber natürlich nicht ausschließlich durch die akademisch ausgebildeten Architekten abgewickelt. Diese erlitten vielmehr eine Degradierung, denn ihre idealistischen baukünstlerischen Stilkämpfe sanken zu einer wirtschaftlichen Variable ab, zu einem austauschbaren kulturellen Überbau der materiellen Basis ungebändigter Spekulation, nachdem »die Einbeziehung in den kapitalistischen Wirtschaftskreis […] das Bauen zur amortisierbaren Investition«23 herabgestuft hatte. Die Wahrheit ist: »[i]n that hundred years of industrial capitalism the professional architect played, relatively, a very small part. It was an age of unprecedented growth, an age of rapacious landlordism and speculative building, of large industrial structures. That, not ›architecture‹, was the building programme of the age.«24 Und Robert Furneaux Jordan liegt weiter richtig, wenn er betont, »we must never forget that the main contribution of the Victorian Age to architecture is the Slum. If the Town Hall in Manchester is really rather superb, there was also … the rest of Manchester.«25 Die kläglichen Arbeiterquartiere unter den dunklen Rauchtulpen der Fabriken. Die Künstlichkeit des stilimitierenden Historismus ruht dann auch darauf, dass die Architektur an sich in dieser Zeit einen grundsätzlich fragilen Status einnahm. Ein Umstand, der Muthesius dazu veranlasste, das 19. Jahrhundert als das »unkünstlerische Jahrhundert«26 zu bezeichnen. Es wird das Zeitalter der Industrialisierung und des Kapitalismus genannt, die Ära des Bürgertums, aber »keine einzige Stimme hat sich bisher 20 21 22 23 24 25 26
Landwehr: 2012, S. 11-12 Mignon: 1994, S. 7 Lehmbruch/Halverson Schless: 1970, S. 15 Brix/Steinhauser: 1978, S. 220 Jordan: 1966, S. 30 Ebd., S. 18 Muthesius: 1902, S. 9
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
erhoben, die es gewagt hätte, das neunzehnte Jahrhundert das Jahrhundert der Kunst zu nennen.«27 Wie pathetisch und prunkend die Repräsentationsgebärden des gesellschaftlich absinkenden Geburtsadels und des gesellschaftlich aufsteigenden Geldadels, die beide um ihren Status rangen, auch auftrumpften, die architektonische Symbolik war an sich mit einem Makel ikonologischer Unsicherheit behaftet. Das ließ den Historismus inauthentisch wirken, nicht nur seine Spekulationsbauten, deren »auftrumpfende Fassadenkultur […] das nüchterne Kalkül [überspielte], dem sie ihre Existenz verdankte.«28 Die Künstlichkeit und Inauthentizität der historistischen Architektur ist aber nicht nur eine fragiler Symbolisierung und Statuszuweisung (auch in ihrer auktorialen Autorität). Denn über allen Maßen ist sie materiell künstlich, in ihrem Einsatz imitierender inauthentischer Materialien. Auch das ist eine Auswirkung des Industriekapitalismus und des rasanten Städtewachstums, das nur über eine Standardisierung und Typisierung der Bauteile quantitativ bewältigbar wurde. Die »Zulieferung vorgefertigter, kunstvertretender Versatzteile«29 , die routinierte Verwendung von industriell hergestellten Formelemente wurden zu einer wirtschaftlichen Bedingung, denn »[w]er schnell und viel bauen will, muß gültige typologische Vorbilder entwickeln, und in der Tat ist das 19. Jahrhundert das Goldene Zeitalter der Baukataloge«30 . Die Fassaden erhielten handelsplatte Standarddetails. Zum einen betrifft diese Inauthentizität die Imitation des Materials, die Verwendung von Pappmachénachbildungen, Gipsattrappen und Stuckmarmor, die industrielle Fertigung von Surrogatmaterialien wie Steingut, Zinkguß, Tombak, Neusilber oder Semi-Porcelain, deren Qualitätseinbußen gestalterisch durch Üppigkeit kaschiert wurde. Zum anderen den Einsatz neuer technischer Materialien wie Eisen und Glas. Denn allein »die quantitative Bewältigung des eruptionsartig angestiegenen Bauaufkommens machte den Einsatz neuer Materialien, neuer Konstruktionen und Technologien notwendig. Das mit der Anwendung des Eisens sich herausbildende strukturelle Denken und ästhetische Empfinden rüttelten an den Grundfesten historistischer Gestaltungsweise.«31 Typologisch künstlich wirkt die Architektur des Historismus schließlich, weil sich ihre Wiederauffrischung der Geschichte nicht auf die traditionellen Bauaufgaben des imitierten historischen Stils beschränkte, sondern in zwangsläufig inauthentischen Übertragungsleistungen auf Gebäudekategorien anwandte, die funktional erst der Industriekapitalismus mit sich brachte. Bahnhöfe, Kaufhäuser, Grandhotels, Parlamentsbauten, Ministerien und Gerichtsgebäude, die nach funktionalen
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Ebd., S. 8 Brix/Steinhauser: 1978, S. 222 Lemper: 1985, S. 59 Mignon: 1994, S. 8 Dolgner: 1993, S. 61; Wie Pehnt betonte, bedeutete der technische Fortschritt den Historisten nicht weniger eine Möglichkeit der Selbstlegitimierung wie den Modernisten. Denn: »Als sprachlicher Ausdruck mochte die zeitgenössische Architektur sich in einer Krise ihrer Mittel befinden, als technische Kunst dagegen konnte sie als ein Glied in aufsteigender Entwicklungslinie betrachtet werden.«; Pehnt: 1983, S. 13
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Gesichtspunkten auszuarbeiten waren, wurden, um den ihnen zugedachten Repräsentationsansprüchen Genüge zu tun, mit dem Gewand eines reputablen Baustils behangen und damit ihre technischen und typologischen Innovationen verschleiert. Stil wirkt im Historismus vielfach applikativ, als wäre er allein dazu da, den Architekten durch den Gebrauch symbolisch-atmosphärischer Bildmittel den Rücken dabei freizuhalten, funktionale Bautypologien zu bewältigen. Diese typologisch-stilistische Zerrissenheit zeigt sich besonders extrem bei der St. Pancras Station in London, der letzten Großleistung der »Railway Mania« des Industriezeitalters (und heute Zielort der Eurostar-Hochgeschwindigkeitsstrecke durch den Ärmelkanal). Die von William Henry Barlow, einer Koryhäe des Ingenieurwesens, konstruierte Bahnsteigüberdachung war bei ihrer Fertigstellung 1869 die weltgrößte freigewölbte Glasdachkonstruktion, eine majestätische »Bahnhofskathedrale« aus himmelblau lackierten gusseisernen Fachwerkträgern. Der Kopfbahnhof selbst mit dem 1873 eröffneten Midland Grand Hotel von George Gilbert Scott hingegen ist eine herrliche Erscheinung der hochviktorianischen Neugotik. Ein nicht minder eindrucksvolles Monument für das pompöse Selbstbewusstsein des die Welt beherrschenden Empires unter Königin Victoria. Scott, der Sieger eines Wettbewerbs, komponierte in gekonnter eklektizistischer Verwendung gotische Stilelemente zu einem riesig dimensionierten, schmuckreichen Ensemble in rotem Backstein, gegen das rot-weiß gestreifte Spitzbogenfenster im Stil der Moschee von Cordoba, sandsteinerne Fialen, Konsolen, Blendarkaden und Steinkapitelle konturiert sind. Das Innere des Midland Grand Hotels dominieren Blattgoldtapeten, florale Wandmalereien und bei der »Grand Staircase« ein kathedralengleiches Deckengewölbe mit einem grünstichigen Sternenhimmel.32 Eine für die viktorianische Epoche typische ideologische Zwiespältigkeit, wie nicht nur Furneaux Jordan hervorhebt: »It combines in one building the romantic aspirations, the stylistic display and the solid philistinism of the […] [Victorian epoch]. With its variegated and strident materials, its tremendously Gothic skyline […], it is a most positive piece of design not a mere essay in the Gothic style. […] St. Pancras was symbolic. The station itself […] is the finest of the great iron train sheds. Scott’s hotel is the most extreme epitome of the Gothic Revival. The two together are the perfect expression of that tragic schizophrenia that is Victorianism.«33 Scotts Neugotik kopierte jedoch nicht nur mittelalterliche Baukunst, in erster Linie kopierte er sich selbst, seinen 1863 errichteten neugotischen Herrensitz Kelham Hall in Nottinghamshire. Und wie bei dieser ist die Neugotik auch hier Zeichen einer Sinnkrise, ein Versuch, die Amfortaswunde des Historismus zu schließen, indem er in einer »schizophrenen« Verneinung der funktionell-typologischen Erfordernisse Fortschritt negiert, wie Christian Baur herausarbeitet: »die gesamte Betriebigkeit des Abfahrens
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1935 wurde das Midland Grand Hotel geschlossen und der Trakt der Eisenbahnverwaltung zugeschlagen, ehe auch diese in den 1980ern auszog. Im Zuge der Großrenovierung von St. Pancras für die Eurostar-Anbindung wurde das Midland Grand Hotel 2007 als St Pancras Renaissance durch die Marriott-Hotelkette wiedereröffnet. Jordan: 1966, S. 94
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
und Ankommens, ist durch einen repräsentativen Monumentalbau, der einen statischen Zeitbegriff verkörpert, abgeschirmt.«34 Der wahrzeichenhafte Uhrturm von St. Pancras, einem flandrischen Rathaus würdig, verrichtet seinen Dienst, er zeigt die Zeit – gleichzeitig tut er jedoch das Gegenteil. Weil er in seiner scheinmittelalterlichen Architektur die Eisenbahn, das allgewaltige Symbol des Zeitalters der Industrialisierung, dementiert: wie die neugotische »Maske der Zeitlosigkeit […] vor eine Halle gestellt wird, in der Zeit nach Sekunden gemessen und verbraucht wird, macht verständlich, warum nicht der geringste Ansatz festzustellen ist, die strukturelle Ingenieurbauweise in der neugotischen Fassade nachklingen zu lassen. Die hochviktorianische Neugotik ist schizophren: […] Es ist ein Konservatismus, der sich selbst aufhebt.«35 Gleiches lässt sich über den späthistoristischen Prachtbahnhof Antwerpen Centraal von Louis Delacenserie sagen. Auch hier erhielt eine Bahnhofshalle aus Stahl, zwischen 1899 und 1905 errichtet, ein eklektizistisches steinernes Empfangsgebäude mit dem werbenden Reiz des Eindrucks sehr vieler, nicht langweiliger Details zwischen Neorenaissance, Neobarock und byzantinischer Architektur. Unter einer riesenhaften 75 Meter hohen Bahnhofskuppel erzielt die kathedralenartige Eingangshalle, ein »eher für einen Staatsakt als zum Warten auf die nächste Zugverbindung nach Paris oder Ostende gedachte[r] Saal«36 , über die prunkvolle Reichlichkeit der Formen exquisite Effekte, die typisch für die Schizophrenie der Zeit, den Fortschritt durch die gebieterische Kraft eines Historismus bricht, der alles unternimmt, um »in den Reisenden mittelalterliche Assoziationen zu wecken«37 , wie W. G. Sebald in seinem Roman Austerlitz, der die Entstehungsgeschichte und Symbolik dieses eklektizistischen Großprojekts reflektiert, schreibt. Zwar ist der demonstrativem Luxus zugetanene Antwerpen Centraal eine augenscheinliche Manifestation der kapitalistischen Ära – der Prunk ist erwirtschaftet aus der gräulichen Ausplünderung der Kolonie Belgisch-Kongo unter König Leopold II., der in seinem afrikanischen Privatbesitz für den Kautschukanbau Millionen Einheimischer in der Sklavenarbeit zu Grunde richtete. In Delacenseries Prachtbau hallen die nationalen Empfindungen Belgiens wider, dieses, wie Sebald schreibt, »auf der Weltkarte kaum zu erkennende graugelbe Fleckchen«, dass im Erfolg seiner mörderischen Kolonialpolitik zu Höherem strebte. Die Majestät des Städtischen, die der Antwerpen Centraal mit seiner Prunkfassade und der Kuppelausbildung, die dem zeitgleichen späthistoristischen Bahnhof Luzern des Architekten Hans Wilhelm Auer abgeschaut ist, gezielt und massiert austrägt, verbildlicht eine hochentzündliche Zeit, »als an den Kapitalmärkten und Rohstoffbörsen von Brüssel die schwindelerregendsten Geschäfte gemacht wurden und die belgischen Bürger, von grenzenlosem Optimismus beflügelt, glaubten, ihr solange unter der Fremdherrschaft erniedrigtes Land stehe nun in Begriff, als eine neue Wirtschaftsgroßmacht sich zu erheben«38 . Gleichzeitig jedoch sind die empfindlichen architektonischen Partikel, die in den komplexen historistischen Kompositionen den eigenen Sinn beschäftigen, unzweifel34 35 36 37 38
Baur: 1981, S. 188 Ebd., S. 188 Sebald, W. G.: Austerlitz, München: Hanser 2001, S. 15 Ebd., S. 15 Ebd., S. 20
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haft ein ästhetischen Innehalten in einer verdämmernden Welt, und erst damit ist, wie auch W. G. Sebald anführt, der »an sich lachhafte Eklektizismus Delacenseries, der in der Centraal Station, in ihrem marmornen Treppenfoyer und der Stahl- und Glasüberdachung der Perrons Vergangenheit und Zukunft miteinander verbinde, in Wahrheit das konsequente Stilmittel der neuen Epoche«39 . Auch ihm ist, damit schließt Sebald, die Bahnhofsuhr das sinnfälligste Symbol eines Baus, bei dem in Gestalt schmückender Wappen »in hierarchischer Anordnung die Gottheiten des 19. Jahrhunderts vorgeführt werden – der Bergbau, die Industrie, der Verkehr, der Handel und das Kapital.« Denn die Mächte des Industriezeitalters bejubelnde Heraldik überragen noch die Bahnhofsuhren. An der Hauptfassade wie in der Wandelhalle rangieren sie »als Statthalterin der neuen Omnipotenz […] noch über dem Wappen des Königs«40 .
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Repräsentationsmachtkämpfe Geburtsadel vs. Geldadel
Fast zwangsläufig richtet die Architekturgeschichte des 19. Jahrhunderts sein gesellschaftliches Augenmerk auf die Behauptungskämpfe zwischen Ersten und Dritten Stand, auf den in Bewegung geratenen Klassengegensatz zwischen einer durch die Industrialisierung verängstigten, verunsicherten Aristokratie und dem durch Kapitalismus und Liberalismus entstandenen Bürgertum, dessen Einflussgewinne als »deutliche Warnsignale für den Adel«41 wahrgenommen wurden. Während der wahre, die tragische Wirklichkeit des Jahrhunderts bestimmende Klassenunterschied zwischen den Privilegierten aus Geburtsadel und Geldadel auf der einen Seite und den pauperisierten Unterprivilegierten der Arbeiterklasse auf der anderen Seite, aus dem Blickfeld verschwindet. Dabei umfasste die Unterschicht ungefähr zwei Drittel der Gesellschaft, sie arbeiteten unter beklagenswertesten Bedingungen in den Fabriken der Kapitalisten, und hausten in den ungesunden, unhygienischen Lebensverhältnissen der städtischen Elendsviertel der Industriestädte. Unter den Schwefeldioxyd-Wolken der Schornsteine, in den nach Müll und Branntwein stinkenden Slums, deren Alltag Gewalt, Hunger und Infektionskrankheiten prägten. Zudem tat sich eine wachsende Zerklüftung der Gesellschaft zwischen Agrar- und Industriestaat auf; mit der Verstädterung eine soziale »Frontstellung zwischen ländlich-agrarischer und städtischindustrieller Welt.«42 So sehr der Historismus architektonisch durch den Klassenantagonismus zwischen Ersten und Dritten Stand, durch die gesellschaftliche Pluralisierungsdynamik unter den Mächtigen und Begüterten angestachelt wurde, durch »das Ringen um die Repräsentations- und Würdeformen der Herrschaft zwischen diesen Mächten,
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Ebd., S. 21 Ebd., S. 21-22; Das Uhrwerk ist das Symbol der neuen Ära, »gingen ja bis zur Synchronisierung der Eisenbahnfahrpläne die Uhren in Lille oder Lüttich anders als die in Gent oder Antwerpen, und erst seit der um Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgten Gleichschaltung beherrsche die Zeit unbestrittenermaßen die Welt.«, ebd., S. 22 Landwehr: 2012, S. 12 Ullmann, Hans-Peter: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 203
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
ein Ringen um die Vorherrschaft in der repräsentativen Struktur der Städte«43 , so wenig, scheint es äußerlich, spiegelt sich in der Baukunst des 19. Jahrhunderts der Klassenunterschied zwischen Besitzer- und Arbeiterklasse wieder. Dabei ist gerade in der stadtästhetischen Überspielung dieses Verhältnisses, der Verschleierung der Arbeitermilieus hinter den Repräsentativfassaden der Zinshäuser, nicht weniger über die damaligen kapitalistischen Klassengesellschaften ausgedrückt als in der architektonischen Typologie der Fabrik. Die Architekturentwicklung des Historismus bestätigt damit zwar nicht den an sich fragwürdigen Gemeinplatz, dass allen Widerspiegelungen gesellschaftlicher Verhältnisse in der Baukunst gemeinsam sei, »der Hauptwiderspruch einer Periode bestimmt den Hauptinhalt ihrer Bauwerke«44 . Seine differenzierten geschichtlichen Bedingungen veranschaulicht der Historismus aber gerade vielgestaltig in seiner »Verhüllung einer Gesellschaftsstruktur, deren um die Macht konkurrierenden Klassen in der konstitutionellen Monarchie einem Status zustrebten, der keiner von ihnen die Alleinherrschaft erlaubte und die sich mit unterschiedlichen sozialen, ökonomischen, politischen und ideologischen Positionen im vermeintlich ›freien Spiel der Kräfte‹ historistisch legitimierten.«45 Der die präkapitalistische Architekturgeschichte seit dem Mittelalter bestimmende »Interessengegensatz zwischen der erstarkenden Kaufmannsschicht und den [fürstlichen und] kirchlichen Autoritäten, der die Innenpolitik der meisten Städte« definierte, indem das »Genossenschaftliche […] zu dem Herrscherlichen in Gegensatz«46 trat, gewann mit dem Aufstieg der bürgerlichen Kapitalistenklasse, mit dem Typus des Reichtümer raffenden Industriellen, eine historisch unbekannte Spannung. Die privilegierten Geburtsstände gerieten in die Defensive und nicht wenige verfielen in ihren Ansehens- und Machteinbußen im »Jahrhundert des Bürgertums«, von wissender Melancholie überschattet, in Lethargie. Die aristokratische Kultur erwies sich nämlich mitunter als »die schwerste Hypothek. Je älter die Familie und ihre Bedeutung, desto problematischer war es, sich an neue Umstände anzupassen […]. Es gab unter den Adeligen die arrogant Beharrenden, die persönlich Beleidigten genauso wie die gesellschaftlich Empörten oder die nostalgisch Flüchtenden.«47 Zu einem Inbegriff für diese Verzagtheiten der Aristokratie wurde die literarische Figur des Don Fabrizio, des Fürsten von Salina, in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman Der Leopard, einem sepulkralen Abgesang auf ein sizilianisches Adelshaus zur Zeit des Risorgimento. Wie hundert Jahre später den Verfasser des 1958 erschienenen Leoparden, den Fürst von Lampedusa, der nach dem Verlust des Einflusses und der Güter mit keiner anderen Absicht seine Familienbiographie verarbeitete »als mit der Traurigkeit fertig zu werden«48 , versetzte das melancholische Gewahrwerden des Kraftschwundes der Adelsklasse Don Fabrizio »in ein[] ständige[s] Mißvergnügen«. Er »betrachtete den
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Lemper: 1985, S. 51 Ullmann: 1987, S. 34 Lemper: 1985, S. 50 Braunfels: 1977, S. 23 Landwehr: 2012, S. 65 Fest: 1988, S. 90
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Verfall seines Standes und seines Erbes, ohne sich zu irgendeiner Tätigkeit aufzuraffen oder auch nur die geringste Lust zu verspüren, dem abzuhelfen«49 . Die Passivität dieses Repräsentanten »einer unglücklichen Generation […], die zwischen der alten und der neuen Zeit steht und sich in beiden unbehaglich fühlt«50 , war allerdings nur eine Reaktion auf die Ahnung der Adeligen, dass die geschichtliche Entwicklung zu ihren Ungunsten ausgehen würde. Ein anderer Teil sagte sich, nicht wie Don Fabrizio gegen, sondern mit dem berühmten Aphorismus aus dem Mund seines Neffen Tancredi, der sich Garibaldis Aufstand anschließt: »Wenn wir wollen, daß alles so bleibt wie es ist, dann ist nötig, daß alles sich ändert«51 . Man arrangierte sich mit den aufstrebenden bürgerlich-liberalen Kräften, die im Leoparden personifiziert werden in der Figur des Don Calógero, einem reich gewordenen opportunistischen Profiteur der Revolution, dem freilich die abgerundeten Manieren der Adelsklasse fehlten. »[D]iesem Sich-selbst-behaupten-Wollen bei Don Calógero und hundert anderen seinesgleichen, ihren dunklen Machenschaften, ihrem zähen Geiz, ihrer Gier verdankte man die Todesstimmung, die jetzt ganz deutlich diese Paläste verdüsterte; und ihm selbst, seinen lieben Freunden, ihrem tatenlosen Unterlegenheitsgefühl, der Tatsache, daß es ihnen nicht geglückt war, erfolgreich zu wirken – alldem war es schließlich zu verdanken, daß jetzt auch ihn, Don Fabrizio, die schwarzen Anzüge der Tänzer [einer Ballnacht] an die Krähen gemahnten, die auf der Suche nach verwester Beute in die kleinen, weltverlorenen Täler hinabgleiten.«52 Die Herrenschicht der Edlen zeigte jedoch ebenso konservative Resistenz und kompensierte ihren »ökonomischen Bedeutungsverlust […] durch eine umso zähere Verteidigung [ihr]er politischen Privilegien«53 und, bis hinunter zum verarmenden Bagatelladel, eine habituellen Apologie aristokratischer Kultur, die ihre gesellschaftlichen Ranginteressen zumindest ästhetisch wahrte und den bürgerlichen arrivistes deren geschmackliche Kleinkariertheit spüren ließ. In ihrer eigenen gesellschaftlichen Gefährdung, ihrer schwindenden Macht, besann sich die Aristokratie aufplusternd ihres Standesbewusstseins, dem Wertsystem dieser überlebten Herrschaftsschicht. Denn »das Pfund, mit dem der Adel also nach wie vor wuchern konnte, war etwas, das man mit Geld nicht kaufen konnte: Tradition.«54 Gerade auch über die Architektur gelang es der um ihre Privilegien bangenden Aristokratie zumindest dem Grunde nach, ihre Kultur
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Lampedusa, Giuseppe Tomasi di: Der Leopard, München: Piper 1984, S. 8 Ebd., S. 127 Ebd., S. 21 Ebd., S. 158 Landwehr: 2012, S. 273 Ebd., S. 65; Gleichzeitig führte sich die gesellschaftliche Elite über Nobilitierungen und Einheiratungen, die Öffnung der alten Geburtsaristokratie für nichtadlige Großbürger, neuen Reichtum und neuen Einfluss zu: »Es war gerade diese bemerkenswerte Fähigkeit zur Assimilierung und Integration, die erheblich zur Revitalisierung des Adels als herrschender Gesellschaftsformation im Kaiserreich beitrug.«; Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht 1871-1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2010, S. 274
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als Instanz unangetastet zu lassen. Auch wenn sie ihnen die Geldmenschen der Großbourgeoisie, die »der Anziehungskraft aristokratischer Lebensformen erlagen«55 , mit ihren statusgierigen Adelsimitationen de facto aus der Hand nahmen. Denn die bürgerlichen Kapitalisten griffen, »wo es um […] Repräsentation ging, noch gern auf die Formen der ständischen Gesellschaft zurück. Der Großindustrielle, der Bankier, der erfolgreiche Geschäftsmann, wer immer es sich leisten konnte, baute sich ein Schloß oder gar eine Burg in mittelalterlicher Gestalt«56 . Auch, weil das im Übergang zur Industrialisierung und während der Restaurationspolitik der Heiligen Allianz liberal und zum Teil republikanisch eingestellte Bürgertum, dass seinen gesellschaftlichen Emanzipationskampf am lautesten in der Revolutionsbewegung 1848 artikulierte, im Laufe des Jahrhunderts zunehmend selbst saturierte – gestützt vom ideologischen Außengerüst des Industriezeitalters: dem kapitalistisch-bürgerlichen Besitzglauben. Die Bourgeoisie tendierte selbst zunehmend zu politischem Konservativismus mit gehemmten, regressiven Sittlichkeitsvorstellungen, als Profiteur einer Ordnung, die sie nun weit eher von der Arbeiterklasse gefährdet sah. Und in zumindest Teilen des Bürgertums, dieser amorphen Kategorie unterschiedlicher Berufsgruppen mit nicht minder unterschiedlicher wirtschaftlicher Macht und unterschiedlichem politischem Einfluss, gab es schließlich weiterhin Autoritätsfixiertheit und eine Art Lakaiensehnsucht, sich zu Dienern der Aristokratie zu machen: »Trotz der permanenten Konkurrenz mit dem Adel lebte man [nämlich] durchaus zufrieden in einer Untertanengesellschaft, in der ein Adelstitel die Türen öffnete, weshalb die Verleihung eines solchen für viele Bürgerliche ein angestrebtes Karriereziel darstellte.«57 Die gängige Auffassung, die Hässlichkeiten des historistischen Architekturschaffens aus dem Niedergang des ästhetisch gebildeten Adelsstands abzuleiten, an deren Stelle ein architektonisch nicht vergleichbar verständiges Bürgertum trat, ist in Summe nicht ganz unbegründet. Denn während für die »höhere Lebensführung« des aristokratischen »Kavaliers«, so etwa Muthesius, der diese Ansicht vertrat, eine qualifizierte »Liebhaberei zu den schönen Künsten eine ganz selbstverständliche Rolle spielte, […] trat der Bürger ohne dieses Erbe seine Stellung an, […] ohne das Bedürfnis, eine höhere künstlerische Kultur zu pflegen«58 . Mit dem adeligen »Kavalier« kam der Baukunst des 19. Jahrhunderts nicht nur »der Kunstbeschützer, der Kunstgeniesser, der Kunstauftraggeber« abhanden, »sondern auch der Mann mit Geschmack«. An seine Stelle trat der bürgerliche Parvenügeschmack, der bei seinem Prunk meist mit unkultivierten Metaphern auskam, im Urteil Muthesius’, »ein Barbarentum […], das seit der spätrömischen Zeit des unter den Soldatenkaisern zerfallenen Kaiserreichs noch nicht wieder dagewesen war.«59 Natürlich heißt das aber nicht, dass allein der Umstand, dass bürgerliche Bauherren aristokratische Typologien an sich rissen, zwangsläufig in der Weise faszinierende architektonische Inauthentizitäten mit sich brachten, wie es beispielsweise bei Schloss Drachenburg im mittelrheinischen Königswinter unvermeidlich wurde, entschied sich 55 56 57 58 59
Ebd., S. 281 Lehmbruch/Halverson Schless: 1970, S. 16 Landwehr: 2012, S. 21 Muthesius: 1902, S. 21 Ebd., S. 22
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bei dem von den Architekten Bernhard Tüshaus, Leo von Abbema und Wilhelm Hoffmann mit einigem neugotischem Pomp über den Rhein gesetzten Schloss doch ein reicher, in den Adelsstand gehobener Bankier, Stephan von Sarter, zu vielen, nicht ganz stilsicheren und widerspruchsfreien Insignien nationaler Selbstvergewisserung. Auch erfasste gleichermaßen die Aristokratie in ihren Bautätigkeiten eine stilistische Unsicherheit angesichts der instabilen Machtbalance. Der Aufstieg des Dritten Standes zur selbstbewussten Führungsschicht des Industriekapitalismus und verleitete nämlich den brüskierten Adel zu architektonischen Besitzstandswahrungen, die sich nicht selten selbst in pompöse Verrenkungen verzettelten. Den sehnsuchtsvollen romantischen Eklektizismus der Burg Kreuzenstein bei Leobendorf nördlich von Wien, einer malerischen, von weiten sichtbaren Ringburg auf einem bewaldeten Hügel am Donauufer, trug so zum Beispiel nicht nur die Absicht einer standesgemäßen Repräsentation ihres adeligen Erbauers, des Grafen Johann Nepomuk Wilczek, der hier, auf den Ruinen einer mittelalterlichen Festungsanlage ein Familienmausoleum und ein Privatmuseum für seine Kunst-, Antiquitäten- und Waffensammlungen unterbrachte. Der als Kunst- und Wissenschaftsmäzen und Kämmerer des Habsburger-Kaiserhauses umtriebige Aristokrat veranlasste den Neuaufbau von Burg Kreuzenstein auch aus einem philanthropischen Antrieb. Das auf den spärlichen Resten einer im Dreißigjährigen Krieg »1645 von den schwedischen Truppen gesprengten Feste [imaginierte][…] historistische[] Architekturgebilde von traumhaft-unwirklicher Erscheinung«60 stückelte detailreiche, die Historie tief im Blute fühlende Idealbilder mit didaktischer Intention zur einer »Schauburg« zusammen, die einer aus den traditionellen Zusammenhängen entlassenen Gesellschaft ein Sich-Identifizieren mit dem Mittelalter zu vermitteln versuchte. Die zwischen 1874 und 1906 von dem Architekten Carl Gangolf Kayser und nach dessen Tod von Humbert Walcher Ritter von Molthein errichtete Burg Kreuzenstein, die »denkmalhaft die Welt des Spätmittelalters« verklärt, wollte respektgebietende und romantische Bilder einer verblichenen Zeit, einer Welt der Unschuld, Schönheit und Hoffnung evozieren, bezweckte eine heroische Erhöhung einer bereits weit entschwundenen Gegenwelt. Sie war der restaurative Bewältigungsversuch des empfundenen Zwiespalts des zwar erinnerungssüchtigen, kulturell allerdings längst entbundenen 19. Jahrhunderts. Denn »Burg Kreuzenstein verdankt ihre Entstehung letztlich dem Bewußtsein, an einer Zeitenwende zu stehen. Hier setzte ein Mann einer vergangenen Zeit ein Denkmal«61 . Graf Wilczek, der den ambitionierten Burgenbau mit Einkünften aus schlesischen Steinkohlebergwerken, die sich im Familienbesitz befanden, finanzierte, bemühte sich bei der Übertragung mittelalterlicher Burgenarchitektur allerdings nicht um eine gesamtheitliche stilistische Authentizitätswirkung. Denn so penibel die vielen von ihm erworbenen wertvollen Spolien versetzt wurden, so eklektizistisch ist die von einem mächtigen Bergfried überragte, spannungsreich gegliederte Burganlage als Ganzes. Wiederverbaute Dachziegel des Basler Münsters finden sich hier, eine aus Venedig stammende Loggia, und über dem pittoresken, den Burghof überspannenden weitausladen60 61
Kitlitschka: 1984, S. 78 Ebd., S. 79
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den Spitzbogen verläuft eine gotische Arkade mit Maßwerkbrüstungen, der »Kaschauer Gang«, der dem demolierten Orgelchor des Kaschauer Doms in Košice entnommen wurde. Beim sich reizend aufschmückenden Schloss Faber-Castell in Stein bei Nürnberg erklärt sich die stilistische Sprunghaftigkeit hingegen durch zwei unterschiedlich alte Bauteile, in denen der wachsende gesellschaftliche Repräsentationsbedarf seiner Besitzer Ausdruck fand. Zunächst manifestierte sich der wirtschaftliche Aufstieg des fränkischen Bleistiftfabrikanten Lothar Faber, noch ehe dieser 1881 in den Freiherrenstand erhoben wurde, in einem patrizischen Landhaus im Stil der Neorenaissance, das Friedrich Bürklein 1872 für ihn errichtete. Bürklein, der bereits beim Fürther Rathaus dem Palazzo Vecchio in Florenz nachgeeifert war, bemächtigte sich eines italienischen QuattrocentoStils (ehe er an der Münchner Maximilianstraße ins Neugotische einstimmen sollte). Als sich dann zur Jahrhundertwende Fabers Enkeltochter und Erbin Ottilie aber mit einem Grafen Castell vermählte, wurde Theodor von Kramer die Aufgabe anvertraut, mit einem standesgemäßen Erweiterungsbau die Aufwärtsentwicklung der sich nun Faber-Castell heißenden Familiendynastie architektonisch abzubilden. Sein mit großem Feuer entworfener eklektizistischer Schlosskomplex im Stil der deutschen Burgenromantik komponiert in freier Gliederung friesverzierte Erker, einen gotischen Treppengiebel, mit Gauben akzentuierte Satteldächer, Fachwerkpartien und schweres Bossenwerk. Ein mächtiger friesverfeinerter Turm mit steilem Walmdach verbindet die Bauteile und versichert sich assoziationshaft als mittelalterlicher Bergfried des allerfeinsten Adels der Familienlinie Castell. (Nur, dass die Gräfin Faber-Castell im architektonisch Geglückten ihr Glück nicht fand, sie die Zärtlichkeiten eines anderen Mannes erwiderte und als schwarzes Schaf der Unternehmerfamilie von der feinen Gesellschaft mit Schimpf und Schmach bedacht wurde.) Mit dem Châteauesque oder Château Style etablierte sich eine Untervariante der Neorenaissance, die mit ihren schwülstigen Imitationen der französische Renaissancearchitektur der Loireschlösser den kulturellen Abgesang auf die Gesellschaftsschicht des Adels besonders deutlich betrieb, veranschaulichte, dass von dessen einstiger Bedeutung nicht viel mehr geblieben ist außer achtunggebietender architektonischer Symbolik. Speziell bei den Herrenhäusern und Stadtvillen reicher amerikanischer Industriellenfamilien des »Gilded Age«, die die architektonische Heraldik der französischen Aristokratie nonchalant einkassierte. Etwa bei dem von Richard Morris Hunt für die Vanderbilt-Dynastie entworfenen Biltmore Estate in Asheville, North Carolina, oder den von Charles Pierrepont Henry Gilberts üppig mit neugotischem Maßwerk bestückten Châteauesque-Stadtvillen in Manhattan wie dem Harry F. Sinclair House und dem Felix M. Warburg House. Das Châteauesque, ein Stilregister der Pariser Beaux-Arts-Schule, bildete gerade auch als semantisch unbestimmte Importarchitektur in so unterschiedlichen Ländern wie den Vereinigten Staaten, Argentinien oder Rumänien ein schlagendes Indiz für eine kulturelle Umbruchzeit, dafür, dass die traditionale Gesellschaft, die Klassenteilung in Aristokratie und Bürgertum, dabei war, kaputtzugehen, zu verschwinden. – Und, grundsätzlicher, dafür, dass sich mit dem Traditionsbruch Inauthentizitätswirkungen als prinzipielle Fallibilitätsgefährdungen der historistischen Stilimitationen auftaten. Beispielsweise, im Fall des Châteauesque, in Rumänien, dass dem importierten fran-
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zösischen Architekturgeschmack eine kulturelle Schlüsselgewalt zusprach, der mit der Nationalromantik, die den Brâncoveanu-Stil wiederaufgriff, um die Gunst der Klasse der Besitzenden rang. Nirgends manifestiert sich das Zwiespältige dieses Châteauesque-Imports drastischer als im Kulturpalast der rumänischen Universitätsstadt Iași, einem als Verwaltungs- und Justizgebäude errichteten überdimensionalen Prachtbau des Architekten Ion D. Berindei, bei dem einen über dem Wiedererkennen und Erinnern französischer Details die Gedanken zu Laufen anfangen. Man ist aus der Fassung gebracht von einer Kunstanstrengung, die aufgrund ihrer Unfähigkeit, den späthistoristischen Impuls zu symbolisch überfrachteten Assoziationen zu zügeln, turbulente Inauthentizitäten entfacht, und doch zugleich den ererbten Formen in übertreibenden Gesten unvorhergesehene Wendungen, von allem anderen verschiedene und verwischte Eindrücke hervorlockt. Weil Ion D. Berindei den 1906 begonnenen Kulturpalast erst 1925, nach 19 Jahren Bauzeit, fertigstellen konnte, war er bereits bei seiner Einweihung von einer Fremdheit zur eigenen Zeit, der einsetzenden Moderne, gekennzeichnet. Noch irritierender wirkt jedoch die ortsbezogene Exotik dieses eigenwilligen, mit neugotischen Formelementen bereicherten Loireschlosses. Denn das der in Paris ausgebildete Berindei, der sich zeitgleich beim erstaunlichen Cantacuzino Palast in Bukarest dem Jugendstil mit entwickeltem Verfeinerungsdrang annahm, in seinem Bestreben, keine Provinzexistenz zu kreieren, Bildeinflüsse des für die Architektur Rumäniens im 19. Jahrhundert maßgeblichen Kulturideals Frankreich strapazierte, lag zwar auf der Hand. Die Stilentscheidungen, auf die sich der nach ästhetischen Ideen suchende Berindei berief, waren allerdings in Iași, der alten Residenzstadt des erst 1859 mit Rumänien vereinigten Fürstentums Moldau, weit weniger schlüssig als in Bukarest, dem stadtbildprägende Prunkbauten wie der CEC-Bankpalast von Paul Gotereau, der Justizpalast von Albert Ballu and Ion Mincu oder der Crețulescu Palast von Petre Antonescu einen Pariser Atem eingehaucht hatten. In Iași blieb dieses sichtbar bereits mit den ästhetizistischen Giften einer überfeinerten Spätkultur infizierte scheingotische Schlossensemble ein dyspeptisches Kunstgebilde. Mit den distinguierten Manieren seines geschraubten Importstils musste der Kulturpalast als städtisches Wahrzeichen, als das er auf den Grundmauern des niedergebrannten moldauischen Fürstenpalasts errichtet wurde, nicht nur aufgrund der unverhältnismäßigen Riesenhaftigkeit seiner bleichteintigen Prachtfassaden zwangsläufig als Deplaziertheit erscheinen. Seine gigantomanischen Längsansichten, die sich achsialsymmetrisch um einen massigen, mit vier pittoresken Scharwachttürmen verzierten Uhrturm auffädeln, der mit seinem spitzen Walmdach 55 Meter gegen die Wolkenbewegungen ragt, haben gerade durch den sich aufdrängenden Eindruck einer nahen Verwandtschaft zu französischen Palastanlagen einen unwirklichen Charakter. Durch die steilen, gräulich-violetten Schieferdächer, die an den Firstlinien mit metallenen Palmettenverzierungen, Lanzen und Ziergauben geschmückt sind, und den mit Maßwerkfriesen, Gurtgesimsen und Wappenreliefs akzentuierten Steinfassaden. Und auch im Inneren des Kulturpalasts treiben die Prunkräumlichkeiten wie die kobaltblaue »Woiwoden Halle« mit ihrem Sternenhimmel und der umlaufenden Bildergalerie der moldauischen Fürsten, die zugleich den Durst nach nationaler Vergangenheit und französisch
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transportierter Weltgewandtheit stillen, unvermeidlich hinein ins Künstliche, Chimärische. Wie beim Kulturpalast im Einzelnen resultierte die in Inauthentizitätswirkungen sich manifestierende architektonische Verunsicherung beim Historismus im Allgemeinen aus einem tief empfundenen Vertrautheitsdefizit, einem depotenzierten Bild der eigenen Zeit. In den Sprachverwirrungen des Stilpluralismus verriet sich die gesellschaftliche Flexibilität und Dynamik, die zur bestimmenden Lebenserfahrung der Bauherren und Architekten des Historismus wurde, die sich aus den reichen Klassen rekrutierten. Bevor sich daraus allerdings die implizit gegenwartsaffirmative Seite des historistischen Geschichtsbewusstseins in einem freien Stilpluralismus, in de facto entkausalisierte Simultanitäten der Stilwiederaufnahmen ausprägte, entwickelte sich in der ersten Etappe des Historismus, im dualistischen Stilparteienstreit von Klassizismus und Neugotik in der ersten Jahrhunderthälfte, eine in schablonenhaften Iterationsstrukturen und mechanischen Nachbildungen zum Ausdruck gebrachte Ambition zur Stilpurifizierung. Die Entfaltung des kunstgeschichtlichen Wissens und die Kanonisierung der Baustile führte in eine »unmittelbare formale Hypostasierung des puristischen Authentizitätskults«62 , »bildet als unmittelbare Folge jenen Purismus aus, der den Originalitätsbegriff des Jahrhunderts nicht selten auf seinen Authentizitätsaspekt einschränkt«63 .
3.3
Die Stilfrage als Nachspiel des Klassizismus
Fädelt man die Architekturgeschichte des Historismus an dem Narrativ seiner zitathaft stilimitierenden Inauthentizitäten auf, tendiert man bei der Fallstrickfrage, ob der Klassizismus, der ab 1770 den Barock und das Rokoko verdrängte, als letzter eigenschöpferischer Epochenstil zu bezeichnen ist oder im Gegenteil als erster Neostil in der Reihe der Neostile, zu zweiter Auffassung. Und das begründet sich nicht nur über die faktische Gleichzeitigkeit des Klassizismus, der über den Rückgriff auf die Baukunst des Altertums die Ideen der Aufklärung zum Ausdruck brachte, und der Romantik – über eine Paralleli- und Pluralisierung der Zeitstile, mit der zum ersten Mal »in der abendländischen Kunst […] [nicht] ein einziger Stil herrscht, der vom Türgriff bis zur Palastarchitektur […] alle bildnerischen Bereiche prägt, […] [sondern] ein […] Stilpluralismus, in dem mehrere, oft widersprüchliche Auffassungen einander gleichberechtigt gegenüberstehen oder auch bekämpfen. Klassizismus und Romantik entwickelten sich als polare Möglichkeiten parallel zueinander.«64 Zwar scheint architekturästhetisch die Klassizisten in der farbensparsamen, kantigen Zurückhaltung ihrer gräzisierenden Gestaltungsziele mit der gestaltungsvergnügten Prunkattitüde der späteren Historisten nicht viel zu verbinden. Denn anders als in 62 63 64
Döhmer: 1976, S. 72 Ebd., S. 71 Flemming, Hanns Theodor: »Malerei«, in: Hans-Jürgen Hansen (Hg.), Das pompöse Zeitalter. Zwischen Biedermeier und Jugendstil. Kunst, Architektur und Kunsthandwerk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Oldenburg: Stalling 1970, S. 113
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Frankreich, wo der Empire-Stil sich mit Napoleons Cäsarismus der imperialen Kaiserarchitektur des römischen Reichs zuwandte, da, wie Muthesius es ausdrückte, »das Schicksal des Staates unter dem korsischen Länderbesieger eine bequeme Gedankenverbindung mit dem römischen Cäsarentum geschaffen«65 hatte, richtete der englische und deutsche Klassizismus seine Antikenrezeption auf Hellas. Seine allürenfreie Graecophilie, sein Ideal der Klarheit, Linearität, Reduktion und Erhabenheit und die zwar historisch nicht begründbare, aber symbolisch als Farbe der Reinheit den Universalitätsanspruch seines Kanons dramatisierende Kennfarbe weiß wirken geradezu antithetisch zum Davor und Danach. Der nun greco-klassizistische Architekt missachtete bei seinen Tempelarchitekturen »die spielende Grazie seiner bisherigen [barocken] Kunst […] und wandte sich dem aufsteigenden griechischen Ideale mit seiner angeblich reineren und harmonischeren Linie zu.«66 Man kann mit Cornelius Gurlitt sagen, dass »die alte barocke Neigung nach Eigenartigem und das klassizistische Gewissen, das auf Regelrichtiges drängte, […] seit den Anfängen der Renaissance und der Bekanntschaft mit Vitruv im Kampf« lagen und nun mit der Antikennachahmung kurzzeitig »nach verschiedenen siegreichen Vorstößen der Eigenwilligkeit […] die Regel«67 siegte, ehe mit dem Historismus, nicht nur als Neobarock, das eklektizistische Effekt- und Opulenzbegehren erneut zurückkehrte. Auch verstand das künstlerische Bewusstsein des Klassizismus seine grundsätzlich den Historismus antizipierende »aus der Vergangenheit genährte Grundhaltung mit dem vordergründigen Bekenntnis zur Geschichte«68 nicht als subjektive Stilwahl aus dem Katalog antiker Typen, sondern vermeinte, mit ihrer Rückkehr zur hellenischen Kunst eine höhere Reinheit, objektiv Wertvolles zu erreichen: »Den Neugotikern, die gegen den heidnischen Tempel einwenden, er sei den Sitten, dem Christentum und der Zeit unangemessen, antworten die Klassizisten, daß sie den griechischen Tempel nicht nachahmen, sondern sich von den darin verkörperten ewigen Prinzipien der Schönheit inspirieren lassen.«69 Die Klassizisten sahen sich nicht über einem unverständlich dunklen Latein alter Meister sitzen, sie glaubten eine allgemeingültige, tempusfreie künstlerische Wahrheit zu fassen. Dennoch ist der Klassizismus als Stilwiederaufnahme eine historistische, durch eine auswählende künstlerische Haltung mit verselbstständigten Verhältnissen zur Funktion und Symbolisierung der aufgegriffenen Stile bestimmt, wie Klingenburg diesen qualitativen Wandel fasst. Die seit der Renaissance stattfindende »Entwicklung eines ständigen organischen Anknüpfens an die Tradition« erhält nun eine Rezeptionsbewusstheit: »das Vorbild wird jetzt als bewußt rezipierte Erscheinung verstanden. Im 18. Jahrhundert beginnt mit dem erneuten Anknüpfen an die Antike […] ein Neuansatz im Verhältnis von Aufgabe und Vorbild. […] Die Situation ist nunmehr gekennzeichnet durch mehrere Möglichkeiten auf dem Gebiet des Vorbilds im Sinne der Rezeption.«70
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Muthesius: 1902, S. 17 Ebd., S. 14 Gurlitt: 1969, S. 17 Dolgner: 1993, S. 7 Mignon: 1994, S. 95 Klingenburg: 1985, S. 17
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
Die vielgestaltigen Inauthentizitätswirkungen des Klassizismus verdanken sich nun auch dem architektonischen Purismus seiner idealisierten Antikenaneignung, das heißt der unvermeidlichen rezeptiven Selektivität des graecophilen Kunstgeschmacks. Das heilige Weiß, dass Johann Joachim Winckelmanns Griechenlandideal, das dem Klassizismus in Deutschland den Weg bahnte, behauptete und die früheren Farbaufträge an den antiken Tempelruinen und Skulpturen archäologisch ignorierte, spielt dabei allerdings zunächst einen rein wirkungsästhetischen Part. Das Marmorweiß des materialsichtigen Greco-Klassizismus, das den das gesamte 19. Jahrhundert währenden Polychromiestreit entzündete, ist nicht nur deshalb inauthentisch, weil es die spätere Archäologie nicht länger beglaubigt. Sein Inauthentizitätseindruck liegt in seinem nichteingepassten Purismus, in der Aseptik einer sauberen, weißen Antike. Gerade in nicht-mediterranen Städten und Landschaften. Die Tempelentwürfe in den hellenistischen Zentren Edinburgh oder Berlin blieben so nicht nur anachronistische Irritationen in der geschichtlichen Wirklichkeit des beginnenden Industriezeitalters. Sie mussten letztlich ebenso geographisch fremd bleiben, mochte der Philhellenismus noch so sehr antike Lebens- und Geisteshorizonte in Friedrich Schinkels »Spree-Athen« beschwören, wie Gurlitt über die Berliner Griechentümelei spottete: »wie liebende Mütter immer Ähnlichkeiten ihrer Kinder mit dem Vater entdecken, so waren die Schöpfer und Nährer dieses Gedankens unermüdlich im Verkünden des Satzes: Hellas ist durch Schinkel in Deutschland zum Wiedererstehen gebracht, nach über zwei tausend Jahren der Finsternis ist bei uns das Licht der Schönheit wieder erwacht«71 . Die gesamte Idee des Philhellenismus, die sich in den 1820ern unter Philologen, Literaten und Bürgern aus einer Begeisterung für den griechischen Freiheitskampf gegen die Türken entwickelte und sich ideengeschichtlich als neuhumanistische Gegenbewegung zur Metternichschen Restauration artikulierte, indem ihre Idealisierung altgriechischer Kultur die hellenische Sendung der Freiheit und Demokratie unterstrich72 , litt unter einem historistisch-argumentativen und ästhetisch-habituellen Authentizitätsdefizit. Wie idealisierend diese Griechenlandschwärmerei bleiben musste, erwähnte nicht nur Jacob Burckhardt, der die republikanische Passion des Neugriechentums als Unkenntnis der Historie zurechtrückte. Denn was sich als Kritik an den neoabsolutistischen Karlsbader Beschlüssen und dem biedermeierlichen Spitzelsystem verstand, die Huldigung Athens unter Perikles, verherrlichte eine Gesellschaft, »dessen Mitleben sich jeder ruhige und besonnene Bürger unserer Tage verbitten würde, in welchem er sich todunglücklich fühlen müsste, selbst wenn er nicht zur Mehrzahl der Sklaven […], sondern zu den athenischen Vollbürgern gehörte. Enorme Brandschatzung des Einzel-
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Gurlitt: 1969, S. 22 Dahinter stand »das Motiv des politischen Liberalismus […], der die Bürger in den noch nicht konstitutionell verfaßten Staaten veranlaßte, sich in Griechenvereinen zusammenzuschließen, sich in der politischen Willensbildung unabhängig oder sogar gegen den eigenen Staat zu organisieren und aus dem System der konservativ-autoritären Staaten das schwächste Glied, die Sultansherrschaft, herauszubrechen, um so das Gesamtsystem zu erschüttern.«; Grimm, Gerhard: »›We are all Greeks‹. Griechenbegeisterung in Europa und Bayern«, in: Reinhold Baumstark (Hg.), Das neue Hellas. Griechen und Bayern zur Zeit Ludwigs I., München: Hirmer 1999, S. 28
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nen durch den Staat und beständige Inquisition in Betreff der Erfüllung der Pflichten gegen denselben durch Demagogen und Sykophanten waren an der Tagesordnung.«73 Eine irritierende Inauthentizitätswirkung entfalten diese artifiziellen Architekturen »all’antica« aber schließlich auch durch ihre typologisch-funktionale Überspanntheiten, die allein daher rühren, dass man »am ästhetischen Ideal des griechischen Tempels als Zeugnis edlen Menschentums fest[hielt], obwohl sich damit schwer die immer differenzierter werdenden Bauaufgaben des Industriezeitalters gestalten ließen.«74 Die Selbstbeschränkung der Klassizisten auf altgriechische Architravbauten ließ diese typologisch-funktional hinter die Baugedanken der Renaissance zurückfallen. Denn »die Renaissancemeister hielten sich«, wie Muthesius akzentuierte, »an römische Thermen, Paläste, Zirkussen, kurz an Bauüberreste, bei denen schon eine Uebertragung der alten starren Tempelkunst auf gesellschaftliche Bedürfnisse stattgefunden hatte. Jetzt hielt man sich an den griechischen Tempel, der nicht einmal Fenster hatte«75 Die griechische Antike war als architektonische Basis einfach ungenügend: »die Form des griechischen Tempels ist von vornherein ungeeignet, die Grundlage für die Forderungen der neuen Zeit zu bilden. Es gibt daher keine echte Wiedergeburt des Griechentums. […] Das Griechische bleibt ›Fassade‹ oder ›Applik‹ im buchstäblichen Sinn«76 . Das gerade in seiner aberwitzig überhauchten Inauthentizität alles überragende Glanzstück des Greco-Klassizismus ist Leo von Klenzes Walhalla in Donaustauf bei Regensburg, das vom bayerischen König Ludwig I. beauftragte deutsche Nationaldenkmal im altgriechischen Baustil des Parthenons. Ludwig verlangte einen Bau »im reinsten antiken Styl«, der »nicht nur direkter Ausdruck der Antikenbegeisterung und des Philhellenentums Ludwigs [sein sollte], sondern […] auch dessen Anspruch auf historische Authentizität«77 genüge zu tun hätte. Klenzes penibel gezeichneter dorischer Peripteros aus strahlend weißem Kalkstein ist dann allerdings bereits im Ferneindruck, mit seinem mächtigen Unterbau aus Freitreppen und Terrassen erhaben an den steilen Hängen des Donautals platziert, ein fast surreales Architekturphänomen, ein pathetischer, allmächtiger Bau. Wirklich Schwindel empfinden lässt die Walhalla dann mit ihrer idealistischen Repräsentationsabsicht als ein »Ruhmestempel« der verhinderten deutschen Nation, dessen hellenistisch-demokratischen Denkmalsymbolik als »germanisches Elisium« allerdings auf eine antiemanzipatorische Apotheose der Restaurationszeit abzielte. Die einen irritierend umtanzenden Assoziationen machen ihn zu einem unfreiwilligen Triumph architektursymbolischer Artifizialität. Beginnend mit der verstiegenen Namensgebung des Säulentempels nach der Ruhestätte gefallener Krieger in der germanischen
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Burckhardt: 2009, S. 306 Kiesow, Gottfried: Das verkannte Jahrhundert. Der Historismus am Beispiel Wiesbaden, Berlin: Monumente Publikationen 2005, S. 115 Muthesius: 1902, S. 20 Sedlmayr: 1956, S. 55; »Unbewältigt bleibt vor allem die christliche Kirche. Zwar hat man versucht, ihre Außenseite in einen griechischen Tempel zu verwandeln […] [, d]iese Zwitterform ist an sich so sinnlos, daß für die Gestaltung des Kirchengebäudes sehr bald die Gotik siegt.«; Ebd., S. 55 Nerdinger, Winfried: »›Ein Bild des reinen Hellenismus in unsere Welt verpflanzen‹. Leo von Klenzes Bauten für Isar-Athen«, in: Reinhold Baumstark (Hg.), Das neue Hellas. Griechen und Bayern zur Zeit Ludwigs I., München: Hirmer 1999, S. 187
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Mythologie, über das Giebelfries mit der Schlacht vom Teutoburger Wald, bis zur feierlichen Büstengalerie im Inneren, die »marmorne Schädelstätte« deutscher Geistesund Geschichtsgrößen, lassen einen die widerstreitenden Bilder nicht mehr aus den Fängen. Klenzes »Parthenonparaphrase« war nicht nur eine »Anachronismus bereits zur Zeit seiner Grundsteinlegung«, so Döhmer, die »Esoterik und historische Ferne ihrer stilistischen Symbolsprache stempelt die Walhalla zur Kaprice eines einzelnen, zu einem Denkmal mit kaum einzulösenden überindividuellen Anspruch«78 . König Ludwig I., ein Mann mit altgriechischer Bildung und Winckelmann-Lektüre, der bei einer frühen Italienreise beim Besuch des Poseidontempels in Paestum wichtige künstlerische Eindrücke empfangen hatte und sich mit der Hellenenbegeisterung infizierte, fantasierte sich aber nicht nur bei der Walhalla in die Gehäuse untergegangener Reiche (– wie alle Wittelsbacher nach ihm auch). Sein Philhellenismus ließ ihn den griechischen Freiheitskampf unterstützen und nach der erlangten Unabhängigkeit, gelang es ihm gegenüber den ausländischen Garanten des jungen Staates seinen Sohn Otto I. als König einzusetzen. In der dann dreißigjährigen Königsherrschaft der Wittelsbacher veranlasste er ambitionierte Bautätigkeiten in Athen. Leo von Klenze, Friedrich von Gärtner und Theophil Hansen wirkten in »Ottonopolis«, der akklamierten Haupt- und Residenzstadt unterhalb der Akropolis. Überhaupt fiel diese Wahl zugunsten Athens, das im Unabhängigkeitskrieg massiv verwüstet worden war, auf Drängen Ludwigs: »Der wichtigste Grund […] war die Bindung König Ludwigs I. von Bayern an das Kulturerbe dieser Stadt; […] Kulturbeflissenheit und eine ideologisch befrachtete Archäophilie – und weniger praktische Erwägungen – stehen hinter dieser letzten Hauptstadtgründung des Klassizismus.«79 Ludwig erträumte sich zugleich aber auch ein bayerisches Hellas, eine Wiedergeburt antiker Kunst in München und eine gräzisierende bauliche Umgestaltung der ehemaligen kurfürstlichen Residenzstadt in ein »Isar-Athen«. Seinen Leibarchitekten Leo von Klenze ließ er ein hellenistisches Forum entwerfen, den Königsplatz mit den Tempelfronten von Glyptothek und Antikensammlung (von Georg Friedrich Ziebland) sowie den Propyläen, dem verspäteten Stadttor nach Athener Vorbild. Ludwig drängte dabei auf eine authentische »perikleische Architektur«, sah er sich selbst doch als ein »Perikles der Jetztzeit«. Und so »wie man die Glanzzeit des klassischen Athens mit dem Namen des Perikles verbindet, so wurde der Ruhm Münchens als Kunststadt […] [auch tatsächlich] von Ludwig I. begründet, dem Hellenen auf dem bayerischen Thron.«80 Durch seine Kunstförderung erfuhr das politisch unbedeutende Königreich Bayern internationale Anerkennung und mit der an das Mäzenatentum rückgebundenen Münchner Kunstentwicklung Ludwig.81 Der König, dessen Einflussnahme und Präsenz als Bauherr teil78 79
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Döhmer: 1976, S. 105 Papageorgiou-Venetas, Alexander: »›Ottonopolis‹ oder das neue Athen. Zur Planungsgeschichte der Neugründung der Stadt im 19. Jahrhundert«, in: Reinhold Baumstark (Hg.), Das neue Hellas. Griechen und Bayern zur Zeit Ludwigs I., München: Hirmer 1999, S. 69 Wünsche, Raimund: »›Lieber hellenischer Bürger als Erbe des Throns‹. König Ludwig I. und Griechenland«, in: Reinhold Baumstark (Hg.), Das neue Hellas. Griechen und Bayern zur Zeit Ludwigs I., München: Hirmer 1999, S. 19 »So wenig Bayern im europäischen Kontext machtpolitisch galt und so sehr das Königreich in der internationalen Politik nur am Rande eine Rolle spielte und eingeschränkt demzufolge der politi-
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weise den Charakter einer Architekten- und Künstlergängelei annahm, »begriff sich als Mäzen und stilisierte sich als solcher.«82 Die aus seinen subjektiven ästhetischen Wünschen und Räsonnements entstandenen Architekturunternehmen verwiesen, nicht nur in den Widmungsinschriften, selbstbewusst »auf den Stifter und Eigentümer […]. Der Besucher sollte also ganz genau wissen, wem er seinen Kunstgenuss verdankte.«83 Auch wenn freilich der Nachruhm von Ludwigs Architekturpatronage zum einen dahingehend zu relativieren ist, dass der König, wie Winfried Nerdinger zeigt, der ihn nicht ganz zu Unrecht einen »unfähigen Kunstdepoten« nennt, im reaktionären Geist des Vormärz autokratisch seine Bauideen durchsetzte, indem er sich an der Staatskasse bediente: »Wenn sinnvollerweise unter Mäzenatentum Kunst für die Allgemeinheit oder die Förderung der Kunst aus privaten Mitteln verstanden wird, so ist dieser Begriff für Ludwig überhaupt nicht anwendbar, denn dieser benützte Staatseinnahmen, um Bauten zu finanzieren, die […] nur seinen Interessen dienten.«84 . Zum anderen führte die Sprunghaftigkeit Ludwigs im künstlerischen Urteil zu ständigen nachteiligen Einmischungen in die Detailplanungen: »So hohl und verlogen wie das angebliche Mäzenatentum erweist sich auch die Legende von Ludwig dem Kunstschöpfer und Förderer der Künstler. Bei genauerer Betrachtung der Entstehungsgeschichte fast aller von Ludwig in Auftrag gegebenen Bauten zeigen sich künstlerische Konzeptionslosigkeit sowie Unsicherheit und Unfähigkeit in ästhetischen Fragen, aus denen sein ständiges Schikanieren der beschäftigten Künstler resultierte.«85 Keineswegs nur deswegen musste Ludwigs »Isar-Athen« freilich nicht nur stilistisch ein Fremdkörper bleiben. Denn auch kulturell fand der ludovicianische Philhellenismus nur bedingt Akzeptanz bei seinen Untertanen. Die katholischen Bayern wurden gegen ihren Willen zu Griechen ernannt. Sie empfanden Ludwigs idealistische Erziehung des Landes als Zwangsbeglückung86 , das »Isar-Athen« aufgesetzt und inauthentisch, was nicht nur bei Gurlitt publizistischen Niederschlag fand: »Die Antike hat in Bayern nicht Wurzel zu schlagen vermocht wie in Berlin. Sie fand dort keinen Boden. Der gebildete Berliner war töricht genug, sich für einen SpreeAthener zu halten: der ungebildete Altbayer war zu vernünftig, um nicht über ein IsarAthen zu lächeln. Nur der König in seiner Sehnsucht nach reiner Schönheit […] konn-
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sche Handlungsspielraum war, so tröstete doch die exponierte Stellung Bayerns im Kunstbereich über diese offenkundige Marginalisierung hinweg.«; Putz, Hannelore: Die Leidenschaft des Königs. Ludwig I. und die Kunst, München: C.H. Beck 2014, S. 175 Ebd., S. 168 Ebd., S. 135 Nerdinger: 2012, S. 32 Ebd., S. 34; »Die gesamte Kunstpolitik Ludwigs war auf seine Selbstverherrlichung und seinen Nachruhm ausgerichtet […] Er unterscheidet sich hier in nichts von allen Despoten in der Geschichte.«; Ebd., S. 34 Der staatlich lancierte Philhellenismus unter Ludwig hatte dabei auch einen politischen Effekt, denn er nahm den bayerischen Griechenvereinen die liberal-republikanische Schlagrichtung: »So entstand in Bayern ein Staatsphilhellenismus, gespeist von der königlichen Vorliebe für ein ideales Hellas, mit der Nebenwirkung, daß sich innerhalb dieser Vereine keine innenpolitische Opposition gegen das königliche Regierungssystem bilden konnte.«; Grimm: 1999, S. 31
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te hoffen, […] das Land zu einem kunstgeschichtlichen Museum für Baukunst zu machen.«87 Diese artifizielle Architekturparade beschränkte Ludwig I. allerdings nicht nur auf das antike Griechenland. Denn der bayerische König wandte sich »auch den ›Neudeutschen‹, den romantischen Nazarenern und Gotikverehrern zu […] und [schwankte] von da an zwischen den Stilen und Epochen, je nach Einflüsterung oder Reiseerlebnissen hin und her«88 . So machten seine Bautätigkeiten auch Ausflüge auf den Apennin: ins Florenz des Quattrocento, in die Lombardei, ins maurisch-normannische Sizilien (bei Klenzes der Capella Palatina in Palermo nachempfundenen Allerheiligen-Hofkirche) und zur frühchristlichen Kirchenbaukunst (bei Zieblands Bonifazius-Basilika). Gurlitt gallig über diese »archäologische Spielereien«: »Wenn Kant gerade darin das Wesen des Schönen fand, daß es nicht zum Besitz reize, so ist Ludwig I. ein sonderbarer Gegenbeweis. Mit der Begehrlichkeit des Kindes und mit dem stetigen Eifer eines starken Mannes führte er durch, daß München von all dem, was ihn am tiefsten in der Kunst ergriffen hatte, mindestens eine Nachbildung erlange.«89 An der Ludwigstraße, Ludwigs »Königsachse«, durfte Leo von Klenze und nach seinem Zerwürfnis mit dem Bauherrn dessen Rivale Friedrich von Gärtner die Kunstsinnigkeit des Wittelsbachers dann entlang einer ganzen Prachtstraße ausbreiten. Auch die Ludwigstraße wirkt künstlich, inauthentisch – einerseits in dem unvermittelten Bruch dieses in den Baugedanken der italienischen Renaissance gehaltenen fürstlichen Straßenzugs zur bürgerlichen Stadt, andererseits in der Kulissenhaftigkeit dieser transalpinen Übertragung eines quattrocentistischen Repräsentativgewands. Den Makel einer mangelhaften städtebaulichen Vermittlung zwischen der Bürgerstadt und der Fürstenstadt Münchens werden auch die weiteren Architekturinitiativen der Wittelsbacher nicht abschütteln: »Während sich die Bürgerstadt teilweise planlos, teilweise nach Prospekten von Bauspekulanten […] ausbreiten konnte, entwickelten die Baumeister des Königshauses […] kühne Prospekte als Blickpunkt von Prachtstraßen […]. Sie vergegenwärtigen die Regierungskonzeption der aufgeklärten und konstitutionellen Monarchie, in der das Mäzenatentum ebenso ein historischer Zwang gewesen ist, wie im 18. Jahrhundert der Schloßbau. So entfaltete sich jene Architektur, in der ein ernsthafter Anstand und jene gebildete Temperamentlosigkeit die plastische Kraft des Barocks und die geistvolle Libertinage des Rokokos verdrängt hatten.«90 Und auch wenn die Frührenaissance-Palazzi bereits in eine »zweite[] Phase des Neoklassizismus [fallen], deren Formen leichter, eleganter und weniger pathetisch waren«91 , bleiben sie Imitationen. Gurlitt kanzelte darum auch diese idealistische 87
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Gurlitt: 1969, S. 31-32, In diese Richtung zielte auch Muthesius: »Es ist nichts bezeichnender, als dass man es für angemessen hielt, mit der griechischen Begeisterung auch diese gänzlich unvolkstümlichen griechischen Namen einzuführen, über die die Zunge des deutschen Spiessbürgers hinwegstolpern musste.«; Muthesius: 1902, S. 15 Nerdinger: 1999, S. 189 Gurlitt: 1969, S. 60 Braunfels: 1977, S. 185 Lehmbruch/Halverson Schless: 1970, S. 22
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Architekturanstrengung Ludwigs als »angewandte Kunstgeschichte«, ab, deren von florentinischer Festlichkeit umblühte »Bauten wieder einmal zu schön [sind], um eine wirklich künstlerische Bedeutung zu haben; zu untadelhaft in ihrem Aussehen; nicht menschlich, sondern akademisch.«92 Das beginnt mit Friedrich von Gärtners prächtiger Feldherrnhalle, dem stadtseitigen Auftakt der Ludwigstraße, einem nur im Zierrat abweichenden Nachbau der Loggia di Lanci in Florenz. Bis zum abschließenden Triumphbogen, dem Siegestor, präsentieren sich die breit lagernden Fassaden dieser bayerischen Via Triumphalis im Lichte eines Idealbildes italienischer Gediegenheit.93 Teils in florentinischer Renaissance, teils in lombardischen »Rundbogenstil«. Wie bei der kunstgeschichtlich gewichtigen Ludwigskirche, der der schwärmerische Italienreisende Gärtner in der äußeren Ansicht gefasste frühchristliche Akzente gab, sie nach innen aber kräftig funkeln ließ. Mit den byzantinisch beeinflussten Ornamentmalereien, dem satten azurblauen Sternenhimmel und dem gewaltigen Altarfresko des Nazaraners Peter von Cornelius. Bei allem südländischen Charme, den die von der Liebe zu Italien durchtränkte Ludwigstraße als Bühne mittelalterlicher Baukünste aber auch versprühen mag, letztlich blieb sie, nicht weniger als die übrigen ludovicianischen Bauerlässe auch, doch in erster Linie Symptome für die dilemmatische Daseinsfrage historistischer Baukunst: die nicht stillzustellende Dialektik der Stildiskussion. Selbst so bedeutende Meister wie von Klenze und von Gärtner, der strenge Hellenist und der heitere Pompeianer, konnten in ihren Werken nicht verbergen, »daß das 19. Jahrhundert weitgehend die Kraft des Formschöpferischen verloren habe und deshalb dazu verdammt […] sei, statt aus sich selbst eine verbindliche Form zu gebären, in der Historie herumzusuchen, um ersatzweise ein einst Gewesenes, aber längst Ausgelebtes wieder einzusetzen.«94 Diese das Jahrhundert prägende Fraktionierung der Architekten und die »Bildung von teils sich bekämpfenden teils den Ausgleich suchenden Stilparteien«95 führte dessen ungeachtet aber auch zu quasi-karthatischen Ambitionen, mittels einer Stilerfindung über das unschlüssige, verknäulte Patt zwischen Klassizisten und Gotikern hin92 93
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Gurlitt: 1969, S. 60 Die Inauthentizität des ludovicianischen München ist allerdings inzwischen nicht eine durch ästhetische Gefangenschaften in den Sujets begründete, eine der Kulissenhaftigkeit. Denn viele Bauten sind auch physisch nicht authentisch erhalten: »Die auf den ersten Blick sichtbare Dominanz des ludovicianischen München ist […] trügerisch. Viele Gebäude, Denkmäler, Platzanlagen und Straßen wurden im 20. Jahrhundert infolge städtebaulicher Maßnahmen der Nationalsozialisten, durch den Zweiten Weltkrieg und den Wiederaufbau […] stark verändert. Kaum ein Bauwerk aus der Zeit Ludwigs I. entspricht in seiner heutigen Gestalt noch dem ursprünglichen Willen von Bauherrn und Architekten.« (Putz: 2014, S. 92-93). Zunächst vergriffen sich die Nationalsozialisten am klassizistischen Stadtbild und missbrauchten den Königsplatz, den sie mit Grablegebauten für die als Märtyrer gehuldigten Teilnehmer des gescheiterten Hitlerputsches 1923 verunstalteten, als Aufmarsch- und Kundgebungsfläche. Dann hinterließen die alliierten Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg massive Verwüstungen. Und bei allen Wiederaufbauanstrengungen der Nachkriegszeit »ist gerade für die ludovicianischen Bauten eine enorme Verlustrechnung aufzustellen. Während die Fassaden vielfach rekonstruiert wurden, erhielten die Gebäude im Inneren nicht selten eine völlig neue Organisation und Funktion.«; Ebd., S. 93-94 Kamphausen, Alfred: Gotik ohne Gott. Ein Beitrag zur Deutung der Neugotik und des 19. Jahrhundert, Tübingen: Matthiesen 1952, S. 11 Dolgner: 1993, S. 10
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auszugelangen, denn letztlich litt »[a]n der Verwirrung der Stile und an der Verwirrung des Stilbegriffs […] das 19. Jahrhundert selbst am meisten. Anfänglich herrschte noch die fröhlichste Unbefangenheit. […] Um 1830 waren die Vielzahl der Stile und der Schatten der Geschichte [jedoch] bereits zur Drohung geworden.«96 Gerade die unermüdlich betriebene kunstgeschichtliche und archäologische Vertiefung entfachte dem 19. Jahrhundert nämlich nicht nur eine Abwesenheitserfahrung, keinen eigenen verbindlichen Zeitstil zu besitzen, sondern schärfte das Bewusstsein für deren außerkünstlerische Einflussfaktoren und verleitete »zur Ansicht, es bestehe eine organische Verbindung zwischen Stil und Gesellschaft, weshalb sie folgerichtig auch die Geburt eines eigenen Stils für das 19. Jahrhundert erwarteten, ohne die Verschiedenheit der Bedingungen zu bemerken, unter denen in ihrer Zeit gebaut wurde und die gerade die Mechanismen zerstörten, die in der Vergangenheit zu einer willkürlichen stilistischen Einheit führten.«97 Der ehrgeizigste und umstrittenste Vorstoß, einen solchen Epochenstil zu erzwingen, wurde mit der Maximilianstraße wiederum in München gewagt. Maximilian II. plante nach der Ludwigstraße seines Vaters eine eigene »Königsachse« anlegen zu lassen. Die nach ihm benannte Prachtstraße, heute eine Nobelmeile exklusiver Boutiquen und Hotels, sollte zu einem »bayerischen Nationalbau« auf der Isarhöhe hinführen, denn bis dahin entbehrte »München, mit all seinen Monumenten flach hingelagert, […] eines unmittelbar mit der Stadt in Wechselwirkung stehenden, hochgelegenen Objektes, eines malerischen Punktes: einer Akropole.«98 Für diesen Bau, das Maximilianeum, eine Ausbildungsstätte für Staatsbedienstete, ließ der königliche Stifter 1850 eine »Preisbewerbung« ausschreiben, die das »Ringen der Gegenwart nach einer nationalen Neugestaltung der Architektur« durch eine Stilerfindung überwinden sollte. Sicherlich »ist das hervorstechendste Merkmal dieser obrigkeitlichen Initiative ihre Trivialität«99 : meinte der König doch, nicht nur die Stildiskussion per »Willenskundgabe« oktroyieren zu können, sondern behinderte selbst mit der »übertrieben hohe[n] Meinung, die Maximilian von seiner eigenen Stilauffassung sich gebildet hatte«100 , die eigene Energie, ins Offene zu gehen und einen neuen Stil zu kreieren. Einerseits, weil er mit seinem Verweis auf die »altdeutsche Architektur« »in den Fehler, dem schöpferischen Geist eine Richtung zu weisen«101 , verfiel. Andererseits, weil er die lancierte Stilbemühung grundsätzlich als synthetisierende Leistung verstand: »Der Anspruch der
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Germann, Georg: Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie, Stuttgart: DVA 1974, S. 9 Mignon: 1994, S. 10 So der spätere Architekt der Maximilianstaße Friedrich Bürklein in seinem Gutachten; in: Hahn, August: Der Maximilianstil in München. Programm und Verwirklichung, München: Moos 1982, S. 30 99 Brix/Steinhauser: 1978, S. 259 100 Hahn: 1982, S. 39 101 Ebd., S. 22; Der Romantiker Maximilian präferierte dabei in nicht allein aus nationalistischen Erwägungen die Gotik: »seine Begeisterung für die Schöpfungen der Antike, der Römerzeit und der Renaissance war groß und ehrlich, reine Freude an der Kunst; und dennoch hing sein Herz nach wie vor am ›altdeutschen Stil‹, an der Gotik. […] Die Antike (und damit auch der Klassizismus seines Vaters) blieb ihm wesensfremd, selbst wenn ihm diese Formenwelt gefiel.«; ebd., S. 12
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Neuheit trat […] hinter die Tendenz nach Ausgleich, Gleichgewicht und Harmonie, die sein politisches wie sein persönliches Weltbild zutiefst bestimmten, zurück.«102 Das architektonische Resultat, das bald Maximilianstil tituliert wurde, ist eine eklektizistisch verfremdete Form der Neugotik mit in Terrakottaziegeln verblendeten Fassaden, ein Versuch, »auf der Grundlage der Neugotik das Beste aus allen historischen Stilen zu vereinen, […] ein Gesamtkunstwerk unter Führung der Architektur zu schaffen, dessen Gesamtcharakter hell, heiter und leicht sein sollte.«103 Friedrich Bürklein, sein Architekt, wurde dafür vernichtend kritisiert. Die Kritik betraf dabei in der Hauptsache seine Künstlichkeit, seine Inauthentizität. Die leichte, beschwingte Stilsynthese mit ihrem abermals südländischen Flair nannte man »ein Unternehmen, das […] ebenso kindisch erscheint, wie seine klägliche Erfolglosigkeit vor aller Augen steht«104 . Das Architekturensemble Maximilianstraße sei mit ihrer heiteren Festlichkeit ein stilisiertes Kunstgebilde, und wie Gurlitt vermerkte, »recht langweilig ausgefallen; die Stilmischung, die sich als neuer Stil gibt, ist recht ungeschickt und kunstlos durchgeführt, das Ergebnis der Bemühungen in München war rein verneinend.«105 Dieses Urteil galt der Verfahrensweise der Gesamtplanung und damit Maximilians naiven Idealismus, zu glauben, »eine zeitgemäße Architektur« per »Preisbewerbung« dekretieren zu können, wie der prinzipiellen Möglichkeit einer schöpferischen Erneuerung mittels Stilvermischung, die bei den vielen Exegeten fester Stilprinzipien per se feurige Empörung hervorrief: »Alle, die von vornherein gesagt hatten, daß Stilreinheit die Grundbedingung jeder Kunst sei, […] hatten leicht jubeln, den vorausgesagten Mißerfolg feststellend. Und es waren der strengen Stilisten recht viele. Die Hellenen in Berlin, München und Wien, die Romantiker Gärtnerscher Schule in München, Wien, Hannover, die Gotiker strenger Richtung am Rhein […]: alle waren sich darüber klar: So wie man in München wolle, gehe die Sache nicht.«106 Leicht machte es den Kritikern die ihnen zu stark auf die Fassadenwirkung ausgerichtete und darum inauthentische, anrüchige Architektur Bürkleins, die nur mit schönem Schein versorgt und »nicht verhehlen [kann], daß ihr die Geschichte zum bloßen Lieferanten eines toten Bildungsmaterials geworden ist.«107 Schließlich Bürkleins als kraftlos beschriebenen Fassadenentwürfe selbst, die »zu flächenhaft, zu kulissenartig erschein[en]«108 . So sei die Stilsynthese nicht bloß unehrlich, sondern entwerferisch gescheitert, einen Eklektizismus zu verfleischlichen. Sie sei zu spröde, ohne Esprit; 102 Drüeke, Eberhard: »Die Maximilianstraße in München – Zum Problem des neuen Baustils«, in: Michael Brix/Monika Steinhauser (Hg.), ›Geschichte allein ist zeitgemäss‹. Historismus in Deutschland, Lahn-Gießen: Anabas 1978, S. 112 103 Hojer, Gerhard: »München – Maximilianstraße und Maximilianstil«, in: Ludwig Grote (Hg.), Die deutsche Stadt im 19. Jahrhundert. Stadtplanung und Baugestaltung im industriellen Zeitalter, München: Prestel 1974, S. 35 104 Muthesius: 1902, S. 49 105 Gurlitt: 1969, S. 91 106 Ebd., S. 91 107 Brix/Steinhauser: 1978, S. 259 108 Hahn: 1982, S. 61; Hahn sieht auch einen Makel in der inauthentischen, weil nur vermittelten Autorschaft: »In künstlicher Aufzucht ist der Maximilianstil entstanden. Bürklein war dabei […] nur der bereitwillige Verwirklicher dessen, was der Bauherr von ihm verlangte. Wenn den Architekten Schuld trifft, ist es die der Nachgiebigkeit. […] So kam es, daß das Ende ein Stück Tragik in
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unfähig, fruchtbare Säfte der Vergangenheit aufzubrühen. Da es, wie Gurlitt als einer von vielen weiter ausführt, den Münchner Architekten hier an Befähigung gemangelt habe, »die alte Kunst geistig zu verarbeiten; sie hatten die alten Stile zu sehr in jener Abstraktion kennengelernt, die sie auf einige wenige gute Formen zurückführte und den bildenden Reichtum als unreif oder Verfall ablehnen ließ. Die Beschränktheit des deutschen Idealismus hing ihnen als Bleigewicht an den Füßen. Das kurze Gedärm hatte sie wieder verhindert, die Stile zu verdauen!«109 Die Kritik, der Maximilianstil wirke kulissenhaft und künstlich, gilt für den gesamten Straßenzug. Die Bemängelung aber, er spräche eine schlaffe, trübe Sprache, gilt nicht für das ganze Quartier. Sie betrifft allenfalls die in privater Bauherrenschaft errichteten Partien aus verwässerten Bürkleinschen Musterfassaden, den »trockenen Rhythmus von Strecklisenen und Blendarkadenreihen – gleichsam die Demonstration der nüchternen Handwerkermentalität ihrer Eigentümer und […] zugleich das Scheitern einer unpolitischen Utopie von Bildungsbürgertum, wie es sich Max II. in romantisch-biedermeierlichem Geist erträumt hatte.«110 Ausnahmen sind aber die zwei architektonisch artikuliertesten, repräsentativsten Einzelbauten der Maximilianstraße, die Regierung von Oberbayern und das Maximilianeum. Beider Strahlkraft beruht aber natürlich gerade auf eben jenen ästhetischen Faktoren, die ihr Kritik einbrachten: ihre Kulissenhaftigkeit, ihre Inauthentizität. Die 1864 eingeweihte Regierung von Oberbayern am Forumsplatz erweckt diesen Eindruck allein in ihrer kathedralenartigen Langgestrecktheit, aber hauptsächlich in der additiven, vertikal gegliederten Terrakottafassade, die aller Dialekte mächtig, gotisierende Fensterund Blendordnungen mit feingliedrigen romanischem, renaissancistischem und byzantinischem Bauschmuck wie auf einem Tableau verbindet. Das auf den Isarhöhen, dem visuellen Abschluss der Sichtachse, gelagerte Maximilianeum, das seit 1948 als Sitz des Bayerischen Landtags dient, wirkt wiederum allein aufgrund der zurechtgerückten Lage wie eine chimärenhafte Architekturkulisse. Denn »von keinem Punkt der Straße aus […] [lässt sich] ermessen […], wie weit das Bauwerk entfernt und wie es dimensioniert ist; daran hindert den Betrachter das Isarbett […]. Der meist über dem Wasser liegende Dunst verstärkt den unwirklichen Eindruck einer ohne Basis aufsteigenden Architektur.«111 Stilistisch inauthentisch erscheint das Maximilianeum, weil es kurioserweise nicht einmal den Maximilianstil gestalterisch durchsich schloß: Die alles erfüllende Bereitwilligkeit des Beauftragten bestärkte den Auftraggeber in seinen vorgefaßten Meinungen«; ebd., S. 85 109 Gurlitt: 1969, S. 92 110 Drüeke: 1978, S. 118; Hahn begründet die Schwäche in einer Verquickung einer falschen Prämisse von Bürkleins Musterfassaden mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen privater Bauherrenschaft: »Die leitende Idee, die ganze Straße hinauf und herunter Arkaden durchzuführen, war gut, weil sie einen einheitlichen Zug in das Ganze brachte; aber abgesehen davon, daß man das Prinzip nicht durchhielt, […] lag der Grundfehler in der Verwendung des spitz geschlossenen Bogens, der für eine durchgängige Arkatur, wenigstens in einem solchen Zusammenhang, bei weitem nicht so sich eignet wie der flüssiger schwingende Rundbogen; […] Zunächst waren überall Arkadengänge […] vorgesehen; man mußte darauf verzichten und sich mit Blendarkaden begnügen, weil die Bauherren mit Recht den teueren Baugrund besser nutzen wollten und die Ladenbesitzer wenig Neigung zeigten, ihre Schaufenster hinter Bogengängen zu verbergen.«; Hahn: 1982, S. 61 111 Hojer: 1974, S. 50
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hält. Zwar erlebten seine Fertigstellung 1874 weder Maximilian noch Bürklein, dessen sensible, »lyrisch angelegte Natur«112 über das »durch die Architekturkritik relativ einmütig belegte[] Scheitern des Unternehmens«113 seelisch gebrochen, in die geistige Umnachtung getrieben wurde. Doch noch kurz vor seinem Tod wurde die neugotische Bogenordnung durch königliche Order zugunsten der aufziehenden Neorenaissance abgeändert. Die zur Isar gewandte, breitgestreckte Schauseite mit den symmetrischen Arkadenreihen zeigt sich nun wie eine antike Theaterfront. Auch eine »genetische Abkunft von barocken Belvederearchitekturen etwa in der Art Fischer von Erlachs«114 , lässt sich nicht ganz abstreiten. Wobei zweifelsohne die »Terrakottabelegte Fassade ein gutes Bild [bietet]. Glücklich gegliedert und gegen die Mitte zu maßvoll gesteigert«115 , mit Goldgrundmosaiken in den Risaliten bedachtsam geschmückt. Doch ist es sehr bezeichnend für den schließlich verlöschenden Scheit des königlichen Feuers, dass nun ausgerechnet der anvisierte Glanzpunkt des Maximilianstils »an sich erfahren [musste], daß die Stilbemühungen fragwürdig geworden waren; der […] unwillig […] fertiggestellte Bau wurde nach anderen Stilvorstellungen umgebildet.«116 Der synthetische Maximilianstil, dem Bürklein die Idee eingegeben hatte, hatte sich wie der ludovicianische Klassizismus »Isar-Athens« in der Pluralität der Stile zu einem künstlerischen Glaubensartikel unter vielen marginalisiert. Er erschien wie »Kompromiß und Arrangement mit der gegebenen baupraktischen Situation unter Aufgabe des in den vierziger Jahren gewonnenen kritischen Terrains.«117 Der Klassizismus, der die architektonische Einzigartigkeit Altgriechenlands behauptet hatte, wurde allerdings immerhin in die ungebundenere, elastischere Geisteshaltung der Neorenaissance überführt und blieb auch über die Pariser Beaux-Arts-Schule und deren transatlantischen Ableger bis ins frühe 20. Jahrhundert präsent. Wenngleich der koryatidenbestückte Beaux-Arts-Stil mit seinem auch aus dem Barock zitierenden Pathos- und Schmuckbedürfnis natürlich die architektonische Mäßigung des Klassizismus nicht mehr im Geringsten zeigte und lediglich die unantastbare Reinheit des klassizistischen Weiß beibehielt. Die unversieglichen Reichtümer der martialischen Repräsentationsgebäude des Beaux-Arts-Stils wirken mit ihrem Kulissengeschiebe vielmehr wie die ruinierten Kinder des aufklärerisch-klassizistischen Nachahmungsprinzips Winckelmanns, in denen im Klassizismus scheinbar gebändigte barbarische Kräfte in prahlerischem Kunstgestammel wieder durchschlagen. Speziell der in der ideologischen Instrumentalisierung schwierigste und nicht nur aus ästhetischen Gründen meistdenunzierte aller Memorialbauten des Neoklassizismus fasziniert gerade durch seine imposante Künstlichkeit, seine nicht bewältigte Authentizitätsnarration: das italienische Nationaldenkmal Monumento a Vittorio Emanuele II. in Rom, der Vittoriano.
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Hahn: 1982, S. 85 Drüeke: 1978, S. 107 Hojer: 1974, S. 50 Hahn: 1982, S. 57 Ebd., S. 54 Döhmer: 1976, S. 41
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Dieses umstrittenste Wahrzeichen der Ewigen Stadt, ein gigantischer, terrassierter Tempelbau, der im typischen Allegorienbemühen des Späthistorismus eine wuchtige Treppenanlage, eine Säulenreihe, ein Reiterstandbild des Königs und Quadrigen strapaziös aufschichtet, wirkt allein in seinem fast gleißenden Weiß, dass einen die Pupillen verengen lässt, artifiziell. Nicht nur, dass der verbaute Kalkstein aus Brescia nicht mit dem in Rom vorherrschenden gräulichen Travertin harmoniert. Der Stein, der dem sattesten italienischem Augustblau Paroli bietet und nachts wie die Nachhitze des Tages abstrahlt, verwittert kaum und legt keine Alterspatina an. Die Ruhe und Erhabenheit des klassizistischen Abstraktionsideals antiker Kunst wird im weißsteinigen Gleißen des Vittoriano pervertiert, erscheint wie seine Bestialisierung, indem es ins Extreme geht. Das verschmähte Riesendenkmal auf dem Kapitolshügel neben dem Forum Romanum, ab 1885 von Giuseppe Sacconi errichtet, inspirierte die patriotische Idee eines »Altars des Vaterlandes« für die Staatsgründungsbewegung, die mit der Zerschlagung des Vatikanstaats und der Hauptstadtwerdung Roms 1870 ihren Abschluss gefunden hatte. Der Vittoriano, von den Einheimischen später verächtlich »Schreibmaschine« genannt, von Intellektuellen aller Lager mit verschiedensten Verdammungsurteilen bedacht (– die Titulierung »Luxuspissoir« des Futuristen Giovanni Papini wird häufig zitiert), wurde städtebaulich bewusst triumphalistisch platziert, um Rom als Zentrum des geeinten Italien mit einem mächtigen laizistischen Architektursymbol Gewicht zu verschaffen, um das im städtischen Selbstverständnis verankerte Papsttum mit unausweichlicher Aggressionsbereitschaft zu überwältigen. Gegen die vatikanische Barockbaukunst wurde der Klassizismus als architektonisches Sinnbild für eine »Italianità« reklamiert, die auch über hundert Jahre später nicht zur Entfaltung gelangt ist in dem Land, dessen anarchische Alltagsmentalität des »Campanilismo«, des Regionalpatriotismus für die Heimatstadt, den Staatszusammenhalt untergräbt. Das »alte, immer neue Gefühl aus Hohn und Bestürzung«118 , dass der Vittoriano erzeugt, ist auch seinem überwältigenden Maßstab geschuldet, der sich, wie Joachim Fest notierte, selbst in einer Stadt mit solch »monumentale[m], alles ins Grandiose treibende[m] Wesen« nicht einfügt. Denn sonst ist »das Große in Rom nie allein um seiner selbst willen groß«, so Fest, selbst »das Kolossalische [ist] in Zusammenhänge eingebunden, die es zwar stützen, aber auch begrenzen und seine Wirkungen steigern, ohne daß sie sich verselbstständigen. Das verleiht der Stadt die einzigartige Intimität selbst im Riesenhaften, und nur das Monumento Vittorio Emanuele fällt da heraus.«119 Als Staatssymbol, als Würdezeichen einer Nation und ihres erstaunlichen demokratischen und gesellschaftlichen Funktionierens trotz Politkorruption, Mafiainfiltration und Berlusconifernsehen, ist der Vittoriano zudem auch geschichtlich diskreditiert. Denn seine Fertigstellung erfolgte erst 1927 unter Mussolini, der eine Rückbindung des faschistischen Italien an das augusteische Kaiserreich herbeiideologisierte, sich selbst
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Fest: 1988, S. 324 Ebd., S. 327; »All die Säulenspaliere, die theatralischen Treppenanlagen und Fassadenwerke, die anderswo so leicht zum Begriff der ›Herrschaftsarchitektur‹ verleiten, fügen sich in Rom ins Menschenmäßige«; ebd., 327
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Architekturen des Inauthentischen
in direkter Linie mit den antiken Kaisern sah, und mit üblicher Diktatorenwillkür gewaltige Schneisen in die mittelalterlichen Kern seiner Reichshauptstadt schlagen ließ, um die Antike städtisch zu privilegieren, ehe er wenige Jahre später gleich den Weltkreis des römischen Reichs neu erschloss, indem das faschistische Italien zunächst zum senfgasgetränkten Abessinien-Feldzug aufbrach, und dann an der Seite Nazideutschlands zum Zweiten Weltkrieg. Auch diese faschistischen Bilder, die den Memorialbau seither umgeben, verdichten den Inauthentizitätseindruck seiner Pathetik, deren gegenwärtige Symbolkraft fast ausschließlich im Unabsichtlichen liegt, in der aufreibenden Qual überpathetisierter Sinngehalte. Den Einwohnern Roms, die sich nicht selten bedenklicher Südkurvengesten bedienen, nicht unähnlich.
3.4
Rezyklierungen des Mittelalters
Die Antikenbewunderung des Klassizismus bildete den Auftakt der historistischen Hinwendung zur Vergangenheit. Sie hatte allerdings früh mit der an den Verlusten der Neuzeit leidenden Romantik einen Gegenpol, die ihr poetisches und religiöses Sehnsuchtsempfinden in ein idealisiertes, fabelschwangeren Mittelalterbild, speziell in die vergessenen Formmöglichkeiten der Gotik projizierte. Mystische Sublimitätserfahrungen der Weltdistanzierung und Vergänglichkeit im Eindruck mediävaler Kathedralen bildeten das metaphysisch-ideelle Agens einer Mittelalterbegeisterung, die sich allerdings gleichzeitig auch über die restaurative Bannkraft einer weltlichen und kirchlichen Rückwärtsgewandtheit versicherte, über die in ihr manifestierte hierarchische Staatsidee: »Die Hinwendung zur Gotik […] verwies auch auf eine idealisierte Epoche, in der die Ständegesellschaft unumstößliche Realität war, in der der Adel im Gegensatz zur macht- und bedeutungslosen Masse des Volkes die Gesellschaft anführte und die oberste Stufe einer gottgewollten Ordnung einnahm.«120 Das neumittelalterliche Ideengut reklamierte in der romantischen Sendung sowohl in England wie in Deutschland die Gotik für sich zur Nationalarchitektur, aus der ein Funke patriotischer Erwartung glimmt. Das Mittelalter, in der Aufklärung noch als »Epoche der Ignoranz und der Finsternis verurteilt«, erstand am Jahrhundertanfang »inmitten der bröckelnden Institutionen und Traditionen […] als Goldenes Zeitalter« wieder auf: »Angestachelt von den napoleonischen Kriegen, besinnt sich der deutsche Nationalismus auf die glorreiche Vergangenheit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation«121 . Dieser Idee nahm sich beispielsweise die Franzensburg im niederösterreichischen Landschaftspark Laxenburg an, eine von Baumeister Franz Jäger Vater zwischen 1801 und 1836 pittoresk inszenierte »mittelalterliche« Wasserburg, die in patriotisch-identitätsstiftender Funktion als nachträgliche Fiktion eines »Rittergaus« dem habsburgischen Ahnenkult zu dienen hatte. Aus der nie realisierten geschichtssinnigen Idee, die im Verfall begriffene Habsburg im schweizerischen Kanton Aargau, die ursprüngliche Stammburg der Dynastie, im Dienst habsburgischer Staatsmystik restaurieren zu lassen, ent120 Landwehr: 2012, S. 84-85 121 Mignon: 1994, S. 49
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
stand die Überlegung, einen abbildhaften Nachbau der alten Burganlage im Laxenburger Landsitz zu platzieren, dann diese frühe historistische Parkburg, errichtet auf einer künstlichen Insel einer malerischen Teichlandschaft. Franz Jäger schuf eine mit Assoziationsfülle arrangierte »ritterliche Burgveste« mit zinnenbewehrten Rundtürmen, mit Konsolsteinen besetzten Mauern und einem romantisch gotisch gezeichneten Torturm mit Ecktürmchen und Fallgitter, der als Anlegepunkt einer Fährüberfahrt dient. Wie die fiktive Restaurierung einer traditionsmächtigen Burgruine gibt sich diese Mythisierung des Hauses Habsburg. Kaiser Franz II. nahm sie als »vaterländisches Monument und zugleich als einzigartige bauliche Antiquitätensammlung« in Anspruch – schließlich »stand der Kaiser gerade in einer kritischen, verlustreichen Phase der Koalitionskriege gegen Frankreich; die Macht des römisch-deutschen Kaisertums war im Vergehen.«122 Zur Stärkung des familiengeschichtlichen Bewusstseins der Habsburger wurde der kaiserliche Antiquitäteneinkäufer Burghauptmann Riedl ausgeschickt, um ausgewählte mittelalterliche Bau- und Ausstattungsteile aus den im Zuge der Josephinischen Religionsreform entweihten Klöstern zusammenzutragen. Spolien der zerstörten gotischen Capella Speciosa, der Babenberger Pfalzkapelle in Klosterneuburg, wurden versetzt, geschnitzte Kasettendecken, bemalte Ledertapeten und Wandvertäfelungen herangeschafft, eine Waffenkammer und ein Verließ eingerichtet und auf einem nahen Turnierplatz Ritterspiele abgehalten. Inauthentisch wirkt die Franzensburg dabei gerade in ihrer Gewandtheit, ihrer beinahe zierlichen Ausführung, die natürlich ausschließlich einer Audienzfunktion genügt; sie »erscheint weniger trutzig als pittoresk, weniger schauerlich als elegant, wie eine fast zufällige Gruppierung von pavillonartigen Türmen, deren fortifikatorischer Zweck offensichtlich nicht ganz ernst zu nehmen ist.«123 Aber genau darin, in der entrückt sphärischen Wahrnehmung einer unwirklich auf spiegelnden Wasserflächen ruhenden Burganlage liegt ihr zweiter romantischer »Entstehungsimpuls«, wie Werner Kitlitschka hervorhob, ihre »vielleicht suggestivste Wirkungsmöglichkeit: die Versenkung des Betrachters in einen außerhalb des alltäglichen Tätigseins liegenden Zustand des Schauens.«124 Sie funktioniert als stimmungsevozierendes Vehikel romantischer Empfindungen, die besonders durch den »Verfremdungseffekt« ihrer Unwirklichkeit hervorgerufen werden: »sowohl durch die aus historisch entfernten Epochen entlehnte oder abgeleitete künstlerische Formenwelt als auch durch die geradezu überwältigende Dichte der künstlerischen Struktur und die übergroße Objektfülle«125 . Diese Mittelalterbegeisterung, die sich über ein Archivieren und Kuratieren historischer Artefakte Authentizität leihen wollte, darin, alles zu sammeln, was diese Zeit zurückbringt, entwickelte bei der Franzensburg ein vielgestaltiges Tableau. Schnell jedoch verengte sie sich durch eine Gleichsetzung mit der eigentlich in romantischer Stimmung entwickelten Neugotik. So, »wie die Vielfalt der antiken Formen in dem einen faden Klassizismus zusammengefaßt werden«, kommentiert Onsell, »so wird die
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Schwarz: 1996, S. 128 Baur: 1981, S. 44 Kitlitschka: 1984. S. 7 Ebd., S. 7
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Vielfalt mittelalterlicher Formen auf eine einzige Formensprache reduziert: die Neugotik.«126 Die Neubelebung der Gotik in ihren vermeintlichen konstruktiven und ornamentalen Gesetzlichkeiten verfuhr hierbei ebenso selektiv typisierend wie der Klassizismus, denn genau wie diesen trieb auch sie ein historistisches Eigenverständnis an, dass die Maßstäbe der Beurteilung der mittelalterlichen Architektur weniger aus dem Gegenstand selbst abzuleiten versuchte als aus ihrer eigenen Zeit, ihren eigenen kulturellen Zusammenhängen. Ihre Rückbindung in die Tiefe der Historie hatte – bei aller archäologischer Inventurarbeit – einen gegenwartsgebundenen Verständnis- und Handlungsradius: »Die Gotikrezeption verwirklicht sich […] nicht in der Kopie mittelalterlicher Gotik, sondern im Zitat stilistisch-visueller Beschaffenheit […]. Ziel ist dabei keineswegs die Fortsetzung des Alten, sondern die Begründung eines Neuen. Die Neugotik erwächst aus der Erkenntnis, daß das Mittelalter vorbei ist.«127 Die Neugotiker vereinten die »historische Bewußtheit des Rückgriffs auf ein mittelalterliches Vorbild […] mit der Bewußtheit, neue Gotik schaffen zu wollen«, so zu bauen, »wie die mittelalterlichen Künstler gebaut hätten, wären ihnen alle die praktisch-technischen Fertigkeiten der Gegenwart zugänglich gewesen.«128 Die neue Gotik korrespondierte mit neuen politischen, geistigen und religiösen Motiven, mit denen sie besetzt wurde, sowie mit der sehnsuchtsvollen Wehmut der Romantiker. Dolgner differenziert die unterschiedlichen Ideengehalte, die im frühen 19. Jahrhundert kursierten und die Neugotik gleichermaßen »als Ausdruck nationaler Bestrebungen unterschiedlichster Schattierung, als Medium klerikaler Restauration, als Legitimation dynastischer Herrschaftsansprüche, als bürgerlicher Stil, als Konstruktionsstil […] und als handwerklich-künstlerisches Reformprogramm«129 fungieren ließen. Man kann sagen, dass das Mittelalter »jetzt die gleiche Rolle wie die Antike während der Renaissance [erfüllt], es dient den unterschiedlichsten Bestrebungen als Spiegel, den Christen und den Laizisten, den Monarchisten und den Republikanern«130 . Denn auch das Bürgertum fand sich in der Neugotik wieder, indem sie diese nicht nur als »Stil der Heiligen Allianz und der Karlsbader Beschlüsse, als Stil der Restauration«131 begriff, sondern in sie die Freiheit und die Geisteskultur mittelalterlicher Städte assoziierte. Alfred Kamphausen, den die Frage beschäftigte, ob die Neugotik als »Brückenschlag zurück zum demütig gläubigen Mittelalter zugleich ein das Subjektivistische überwindendes Bekenntnis zu einem wirklichen Gott« bedeutete, sich »seine neue Geburt« voll126 127 128
Onsell: 1981, S. 25 Klingenburg: 1985, S. 14 Baur: 1981, S. 108; »[B]ei der Neu-Gotik [handelt es sich] um keine kopierte oder möglichst exakt rekonstruierte Gotik […], sondern um einen neuen Stil: Das als gotisch Erkannte oder Verstandene wird mit einer im Mittelalter noch nicht dagewesenen rationalen Systematik auf das Bauwerk übertragen und verwirklicht.«; ebd., S. 88 129 Dolgner: 1993, S. 18 130 Mignon: 1994, S. 50 131 Onsell: 1981, S. 26; Dennoch »führte die sakrale Herkunft der Gotik und ihre Bevorzugung im 19. Jahrhundert durch den Klerus zu einer Verdammung dieses Stiles in liberalen Kreisen. […] Dasselbe Mißtrauen galt natürlich dem Barock als Stil der absoluten Monarchie. Stattdessen propagierte man, vor allem im deutschen Liberalismus, die Anlehnung an die Renaissance als einer Kunst des Bürgertums.«; Lehmbruch/Halverson Schless: 1970, S. 22
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
zog, oder im Gegenteil »die Neugotik eine Gotik ohne Gott«132 gewesen sei, sah daher in ihr »eine Gotik ohne Glauben, eine Kunst ohne sinnfälligen realen Gehalt. Tiefe Skepsis und das Sich-Verlieren im Nachtseitigen war ihre Voraussetzung, Irrealität und Mittelpunktlosigkeit das hinter ihrer maskenhaften Form Witternde.«133 Ihm ist sie eine inauthentische Stilwiederaufnahme, die nicht ihre ursprünglichen christlichen Inhalte tragen, sondern die poetischen Gotikbeschreibungen der Romantiker, die das künstlerische Verlangen, Stimmungen des Schauderbaren, des Sublimen anzufachen, dazu trieb, tiefer in die Zeiten zu gelangen: »sie sind keine Realschilderungen, sondern subjektive Spekulationen, Umschreibung einsamer Stimmung, das gotische Requisit ist nur das Reizmittel, um das Chthonische in sich selbst zu kosten, wenn nicht ihm zu erliegen.«134 Die englische und die deutsche romantische Bewegung suchte in den Eruditionen gotischer Formen jedoch nicht nur das Dunkel, ein die Sehnsucht weckendes Geheimnisvolles und Unendliches, sondern ersehnte im »Aufbäumen des nordischen Empfindens gegen die ihm im Grunde zuwiderlaufende griechische Klassicität«135 ein lebendiges geistiges Zufluchtsreich religiöser und politischer Erweckung. Meinte sie doch, in der Gotik zeige sich ein englischer beziehungsweise deutscher Herkunftston, der dem Vergessen zu entreißen sei. Kamphausen hob selbst dieses überhöhte romantische Bewusstsein hervor, dass dieser Geistesströmung »der Weiterbau gotischer Dome nicht nur Rettung der Denkmäler, sondern Rettung gar der Nation und des Geistes, aus denen heraus sie einst geworden, bedeutete. Wenn die Romantiker der Novalisgeneration sich zu einer neuen Gotik bekannten, dann hofften sie, mit dieser eine neue und doch mittelalterlich geartete Gläubigkeit und eine eigenständige Deutschheit […] zu gewinnen, andernfalls die Verödung der Herzen, der Tod von innen begänne.«136 Im architektonischen Zugriff blieb dabei aber das durch den Historismus in Bezug auf die Symbolisierungsfunktion des Stils grundsätzlich instrumentelle Verhältnis maßgeblich. Dem Historismus lag nicht daran, durch sklavische Imitation unentrinnbar in die Vergangenheit zu verschwinden. Auch und gerade seinen Stilpurismus prägte ein gegenwärtiges funktional-technisches Verfügbarkeitsideal und architekturästhetisches Atmosphärenempfinden. Kamphausen registrierte daher ein »Entsinnlichen und Entmaterialisieren aller Bauelemente«137 in der Neugotik: »Aus dem Mangel an Gefühl
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Kamphausen: 1952, S. 7 Ebd., S. 106; Bezeichnend hierfür ist das Desinteresse der Neugotik am Liturgischen und Ikonologischen, wie beispielsweise von Sedlmayr registriert, der beklagte, »daß der Erneuerung der architektonischen Gotik keine Erneuerung ihrer Bilderwelt entspricht. Die Architektur und die schwächliche religiöse Bildkunst können nicht mehr zusammenfinden. Die Kirche des 19. Jahrhunderts besitzt keine ›Ikonologie‹ mehr; was an Bildern in ihr erscheint, ist theologisch von seltener Einfallslosigkeit«; Sedlmayr: 1956, S. 16 Kamphausen: 1952, S. 24 Muthesius: 1902, S. 26 Kamphausen: 1952, S. 11 Ebd., S. 53
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für adäquates Material erklärt sich die ungehemmte Verwendung von Surrogaten, von Papiermaché für gewölbte Decken«138 . Die Inauthentizitätswirkungen der historistischen Kathedralbauten des 19. Jahrhunderts sind daher nie nur eine Frage der evident stofflichen Neuheit der Neugotik.139 Sie sind nie allein nur dem Umstand geschuldet, dass sie bei aller Faktenfülle in der Stilwiederaufnahme nicht mehr »gewachsen«, nicht mehr »grundverhaftet« wirken, »ungenügend von unten entwickelt« sind, wie Kamphausen bilanzierte. Sie kennzeichnen ein neues funktional-konstruktives Bewusstsein, mit dem sich die eigentlich romantisch besetzte Gotikbegeisterung zunehmend verkehrte, hin zu einer »paradoxalen Umkehrung der Ausgangslage: Der romantisch-sakrale neugotische Stil nimmt rationalistische Züge an und strebt nach erhabener Gliederung und nach Proportionen, wie sie der Klassizismus verwirklichte. Die Klassizisten ihrerseits gestehen dem gotischen Stil seine Eignung für die Sakralarchitektur zu, geben dem eigenen Stil […] eine romantische Note und fügen in ihre neubarocken Kompositionen Pilaster im Stil der Frührenaissance und manieristische Giebel ein.«140 Diese Reformulierung der Neugotik über ihre konstruktiven Prinzipien wurde von dem jungen englischen Architekten Augustus Welby Northmore Pugin eingeleitet, der als Assistent Charles Barrys wichtige Partien des Neubaus des Palace of Westminster gestaltet hatte. Allerdings belud der fanatische Glaubenseifer des zum Katholizismus konvertierten Pugin seine funktional-materiell argumentierten Zweckmäßigkeitskriterien der Architektur mit einer katholischen Heilserwartung, mit der die »stilistischen Übungen […] ins Weltanschauliche hinein ausgeweitet w[u]rden«141 . Das architektonisch Nützliche und Angemessene, die Authentizität der Struktur und des Materials, die Pugin an mittelalterlichen englischen Pfarrkirchen ausmachte, trat daher hinter das Symbolische, Mystische zurück, hinter die Authentizitätssuggestion ihrer Sakralität im christlichen Mittelalter. Pugin belegte die Neugotik mit einer explizit religiösen Sehnsucht. Seine Schriften, die »weniger Architekturtheorie als die Überzeugung [enthielten], daß
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Ebd., S. 53; Denn der Neugotik sei »die Einheit des Materials völlig irrelevant. […] In der Neugotik ist das Räumliche selbst gehaltlos, und das Wandwerk scheint weniger gebundene Umhüllung als vielmehr Einschuß in eine Weite […]. Allgemeine Räumlichkeit oder Raum als Partialität und gebundener, in sich stehender Eigenraum sind völlige Gegensätze. Der letztere kennzeichnet die Gotik.«; ebd., S. 54 139 »Warum sollte auch ein neugotisch-romantischer Entwurf aussehen, als sei der dargestellte Bau wie gewachsen, warum sollte dieser seine Herkunft vom Reißbrett verleugnen? Es sieht immer wieder so aus, als forderten die Kritiker neugotischer Architektur eine Neugotik, die von einem mittelalterlichen Bau nicht zu unterscheiden wäre, die dem Menschen jener Zeit folglich ein neues Werk als altes unterschieben könnte.«; Baur: 1981, S. 28 140 Mignon: 1994, S. 114; »All the works of the Early Victorian Classical Revival – large, dignified, restrained – show a very real comprehension and sensibility. With the new and crude sort of patronage, as well as with the more commercial architectural office, that sensibility faded. Without the passion, romance, piety or sheer afflatus that belonged to even the excesses of the Gothic Revival, High Victorian Classic […] was usually pompous, overornamented, and alternatively either dull or vulgar.«; Jordan: 1966, S. 148 141 Baur: 1981, S. 8-9
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frühere, bessere Zeiten und deren Glaube wiederhergestellt werden müsse«142 , verherrlichten die Gotik zu einem erhebend feierlichen Stil, der die erlebte Gottesferne der viktorianischen Epoche, die Entweihung der Welt, glorreich zurückweist, während er den Klassizismus als heidnische Architektur verwarf. Pugin ging es nicht nur »um die Wiedererweckung eines Baustils«, »sondern um die Wiederherstellung der christlichen Weltordnung«143 . Bezeichnenderweise leitete sich Pugins theologische Gleichsetzung der Neugotik mit einem vormodernen religiösen Heilsreich jedoch nicht über die konkreten Formund Ideenkreise der Gotik selbst her, die der in seiner Rastlosigkeit früh verblühte Ausnahmearchitekt in den unzähligen Sakralbauten seiner kurzen Karriere als Kirchenbaumeister in genialem Detailreichtum verarbeitete, sondern über einen dekretierten religiösen Bekennergestus, der biographisch unterfütterte künstlerische Präferenzen nachträglich rationalisierte: »In fact long before he became a Catholic Pugin had evidently established, solely on grounds of aesthetic taste, that Gothic was the perfect style, but in his writings he […] implies that he selected Gothic because it was the embodiment of Catholic doctrine and structural rationality.«144 Wie John Ruskin auch, die andere Instanz der viktorianischen Architekturtheorie, versuchte Pugin seine idiosynkratisch-subjektiven ästhetischen Ideale mit einem ethisch bedeckten architektonischen Wahrheitsbegriff kurzzuschließen, der sich ungesagt über Authentizitätsversicherungen seines religiöses Eiferertums legitimiert.145 Überlagerte in Pugins Schriften auch ein sakralisierend-spiritueller den funktionalistischen Authentizitätsdiskurs, war mit Ruskin und ihm die Wahrheitskategorie als Frage funktionaler und materieller architektonischer Authentizität in die eigentlich romantische neugotische Bewegung gelangt. Funktionalistischer ausgebreitet wurde diese dann in der technisch-logischen Konstruktionslehre der Gotik von Eugéne Emmanuel Viollet-le-Duc. Ein Atheist mit laizistischer, bürgerlicher Gesinnung, der die mittelalterliche Kirchenbaukunst theoretisch säkularisierte zu einer Einheit »logischer Konstruktion, die der beabsichtigten Nutzung entspricht und deshalb schön ist. Der Rückgriff auf […] die Gotik geschieht im Namen des technischen Fortschritts und eines aufgeklärten Rationalismus«146 . Frankreichs führender Kirchen- und Burgenrestaurator veranschlagte »die sakrale Baukunst ausschließlich [als] eine Sache technischer Vernunft«147 , in Ableitung der Funktionalität der mittelalterlichen Bautechnik. Im Namen strukturell-materieller Authentizitätsprämissen vernachlässigte Violletle-Duc freilich die immateriellen Gehalte der Gotik, ihre kirchlich-liturgischen Prinzipien, beziehungsweise glaubte diese im Einklang mit seiner republikanischen Weltan-
142 Ebd., S. 79 143 Germann: 1974, S. 67 144 Watkin: 1977, S. 3; »In fact Pugin knew before he formulated his theories what he wanted architecture to look like. If one did not know that what Pugin happened to be defending was Gothic architecture one would certainly not guess from his supposed principles.«; ebd., S. 2-3 145 »Pugin’s refusal to recognize the fact that a building is by its very nature artificial derives from his belief that since Gothic architecture is divinely ordained it is not marked by human imperfections«; ebd., S. 19 146 Baur: 1981, S. 133 147 Schulz, Bernhard: »Der Nachbaumeister«, in: Der Tagesspiegel, 12.1.2015
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schauung als stadtbürgerliche Laienkunst interpretieren zu dürfen, die sich gegen die klösterliche Frömmigkeit der Romanik gestellt hätte.148 Er erkaufte sich sein rationalistisch-mechanistisches Erklärungsmuster der Gotik als »vernunftgemäßen« Baustil mit einer geschichtlich fragwürdigen Verneinung ihrer historischen Bedingtheiten. Diese ignorierten Viollet-le-Duc und seine Schüler in ihrem baukünstlerischen Idealismus auch bei ihrer damals bereits stark umstrittenen Restaurationspraxis, die sich vielfach zu einer Authentizitätszertrümmerung hat hinreißen lassen und manchmal mehr historische Bausubstanz vernichtete als Jahrhunderte der Vernachlässigung. Die sich nicht darin begnügte, zu erhalten, zu reparieren und zu sanieren, sondern in perfektionistischen neuschöpferischen Rekonstruktionen eine homogenisierende Stileinheit und Stilreinheit zu ihrem Restaurierungsziel erklärte und die in der konkreten Erscheinung unvollendete Gotik im vorgeblichen Geiste ihrer Errichter zu einem in diese projizierten Telos hin verbessern und vollenden wollte. Die Frage der authentischen Wiederaufnahme ursprünglich mittelalterlicher Bauplanungen beschäftigte auch die deutsche Neugotik, als im Anschluss an die napoleonischen Befreiungskriege publizistische Appelle den Weiterbau des Kölner Doms zur nationalen Bauaufgabe ausriefen. Die Förderer einer Domvollendung um Sulpiz Boisserée, August Reichensperger und Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, die eine romantische, politische und religiöse Verherrlichung des in Köln Stein gewordenen deutschen Genius motivierte, formten eine Dombaubewegung, die im Namen der »vaterländischen Idee« an diesem zu errichtenden deutschen Nationaldenkmal verhandelte, »wie geschichtliche Kunst, Kunsthistorie, zeitgenössische Kunstproduktion und Nationalgedanke sich zu einem Interpretationszusammenhang verbinden, der die vergangene wie die gegenwärtige Kunst in die Mitte nationalen Integrationsverlangens und nationaler Identitätssuche stellt.«149 1842 wurde mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms der »alte Kran auf dem Turmstummel, der die Jahrhunderte als eine Mahnung überdauert hatte, […] wieder in Bewegung gesetzt. Aber so sehr man den alten Bau anschwärmte, so wenig war man geneigt, sich unbedingt seinen künstlerischen Forderungen zu unterwerfen. Der Schülergeist der Zeit äußerte sich in kindlicher Besserwisserei.«150 Dombaumeister Ernst 148 »He could not reconcile his picture of Gothic architecture as a truthful rational structure evolving inevitably from simple faith in programme and materials, with his knowledge that its builders had believed in God and authority and lived in a feudal society that was inegalitarian and therefore, to him, irrational or untruthful.«; Watkin: 1977, S. 28 149 Hardtwig: 1978, S. 24; »Ein seltsames Bündnis von Kräften setzte den Fortbau in Gang; preußischer Protestantismus und rheinischer Katholizismus, verspätetes Gottesgnadentum und nationaler Liberalismus aller Schattierungen. Kein Wunder, daß dieses Bündnis bald zerbrach.« (Germann: 1974, S. 89) Entscheidend wirkte eine päpstliche Bulle von 1821, die das Kölner Erzbistum wiedererrichtete. Diese »hat kräftiger gewirkt als all das Dichten und Schwärmen. […] Und wenngleich draußen die Romantik, noch lange mit der Stange im Nebel herumfahrend, glaubte, es handle sich hier in erster Linie um ein künstlerisches und vaterländisches Unternehmen, war die Geistlichkeit klareren Sinnes nicht im Zweifel darüber, daß es sich um ein kirchlich-katholisches handle.«; Gurlitt: 1969, S. 56 150 Ebd., S. 56; Das Mittelalter hatte gerade einmal zur Hälfte gebaut, was Meister Gerhard und die Generationen an Dombaumeistern nach ihm geplant hatten. Fertig am gotischen Domtorso, den die Romantiker als Symbol der nationalen und religiösen Erneuerung verehrten, war allein der
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Friedrich Zwirner, dem Gurlitts Kritik galt, hatte zwischen verschiedenen wiederaufgefundenen Fassadenplänen und dazu abweichenden Ausführungen zu vermitteln und dazu Passagen, für die es keine erhaltenen Plangrundlagen gab, zu ergänzen. Kritisiert wurde Zwirner schließlich aber für beides. Für inauthentische, eigenmächtige Abweichungen, die ihn, »vom Scheitel zur Sohle königlich preußischer Baurat, von […] vollkommene[r] Unantastbarkeit und Tüchtigkeit« eine Gotik vollenden ließ, »wie die Meister sie besser gemacht hätten, wären auch sie kunstgebildete königliche Bauräte gewesen.«151 Aber auch für fehlende Beweglichkeit in der retrospektiven Rekonstruktion, für die Leblosigkeit und Trockenheit einer Neugotik, die im Kleinen erfolgreich, im Großen jedoch eintönig sei und den im Wandel der Baumeistergenerationen angereicherten, gewachsenen Variationsreichtum mittelalterlicher Kathedralen vermissen lässt. So bei Sedlmayr, dem die neugotische Koppelung vorgeformter Elemente »etwas Ausgehöhltes« hat – »aus der Gestaltung der Einzelformen [spräche] das Wesenlose einer Geisterbeschwörung«152 . Die feierliche Schlussweihe des Kölner Doms erfolgte jedoch erst 1880. Als der identifikatorische Impetus der romantischen Neugotik längst verbraucht war und den Weiterbau inzwischen eine Lotterie finanzierte. Allgemein büßten nach der Jahrhundertmitte nicht nur die einzelnen nationalistischen Bemühungen, ein ihrer Landesvergangenheit entrungenes Exklusivrecht für ihre Gotik herzuleiten und so an das patriotische Empfinden zu appellieren, an Plausibilität und Attraktivität ein, sondern die neugotische Bewegung selbst verlor viel von ihrer Wirkmächtigkeit, ging zunehmend »in eine von den kulturell führenden Schichten belächelte Rittertümlichkeit«153 über. Denn wenngleich viele ihrer Schlüsselbauten in die zweite Jahrhunderthälfte fallen, konnte die Neugotik im sich verselbstständigenden Stilpluralismus den Gültigkeitsanspruch ihres stilistischen Alleinzugriffs nicht länger aufrechterhalten, sah sich zu einer subjektiven künstlerischen Wahl entideologisiert. Der mythischen Eindunkelungen des holdselig-poetischen Weltbildes der Romantiker, dem Kitzel einer geheimnisvollen Beziehung zu heiligen und weihevollen Dingen, entkleidet, wurde die Neugotik nun mit dem Verdikt der formalistischen Willkürlichkeit belegt. Ohne der von tiefem lyrischen Empfinden getragenen Ideenwelt der Romantik, ohne dem Unheimlichen, Flehenden, Geheimnisvollen, erschien die Neugotik wie eine normschöne Entkonkretisierung des gotischen Formenkosmos, wie eine Retortenzeugung ohne Verborgenheiten, bei der sich »die Gotik auf eine Klitterung stereotyper Motive reduziert«, die »immer nur eine von mehreren pittoresken Möglichkeiten«154 darstellen. Muthesius kritisierte wie viele, dass ein »von dem Klassicismus in Reinkultur gezüchteter« Formalismus »auf die romantische Baurichtung über[gegriffen habe], die doch eigentlich ein Protest gegen die Fesseln sein sollte, die er der Menschheit in
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1322 geweihte Chor. Es fehlten die Obergaden von Lang- und Querhaus, die Querhausfassaden und der gewaltige Westbau, von dessen beiden 150 Meter hohen Türmen nur ein Stumpf des Südturms aufgerichtet war, als der Baubetrieb 1560 zum Erliegen kam. Den Baukran am ruinenhaften Turm ließ man damals stehen, wie eine Absichtserklärung für einen späteren Weiterbau. Ebd., S. 57 Sedlmayr: 1956, S. 15 Syndram: 1991, S. 22 Mignon: 1994, S. 51
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der Form des Klassicismus angelegt hatte. Unsere Gotiker verwickelten sich in derselben Weise in den Schlinggewächsen der äusseren Formen und verfielen in derselben Weise in blosse Achitekturmacherei wie die Klassicisten.«155 Der neugotische Formalismus tut Dehios schöner Wendung, die »Gotik ist in den Mitteln, die sie anwendet, ganz Logik, im Gefühlsausdruck ganz Mystik«156 , nicht recht genüge. Denn Mystik stellt sich keine ein, die Formbeherrschung ist zu konturiert, zu wenig verschwommen, zu wenig umdüstert. Und so kompensiert die Neugotik ihr Defizit der Geheimnislosigkeit mit einem effektvoll modellierten Monumentalismus, mit der festlich erdrückenden Inszenierung von Großtypologien wie bei George Edmund Streets Royal Courts of Justice in London, Georg von Hauberrissers Neuem Rathaus in München oder Alfred Waterhouses Town Hall in Manchester. Einseitig ist dieses Urteil über die Neugotik nicht, weil es unverständig ist für die ästhetisch bereichernden Inauthentizitätswirkungen des Historismus, sondern weil es an der formalistischen Neugotik missbilligt, was es an der romantischen Neugotik bestaunt: ihre Stilisiertheit. Bei den großen neugotischen Monumentalwerken zeigt sie sich deutlich in der typologischen Konzeption und in der fast schablonenhaften Präzision kristallinisch überinstrumentierter Maßwerkdetaillierungen, die absichtlich keine Unschärfen herstellen, die so tun, als würden sie an Geheimnissen des Mittelalters rühren. In der romantischen Eingesponnenheit in sich selbst liegt eine verdächtige Stilisiertheit hingegen im Atmosphärischen: in der Fieberhitze frei erfundener, fantastischer Darstellungen, auf die sich das Auge richtet, um in einen Strudel der Assoziationen gerissen zu werden. In der Artifizialität eines halluzinatorischen Stils, der tut, als käme er aus einem dunklen Winkel der Historie, und sich dabei seine Inauthentizität als Mittel atmosphärischer Entrückung zu Nutze macht. Beispielhaft beim Wasserschloss Anif außerhalb Salzburgs, einem spätmittelalterlichen Bau inmitten eines angelegten Weihers, den in den 1830ern der bayerische Landadelige Graf von Arco-Stepperg durch Heinrich Schönauer in einer vom englischen Tudorstil beeinflussten Neugotik erweitern ließ, der die Schwärmerei im Blut sitzt. Die auf stygischem Wasser schwimmende Burg, die bis zur Säkularisierung den Fürstbischöfen als Sommerresidenz gedient hatte, entzündet ihre Wiedergewinnung der Geschichtserinnerung über die stille Präsenz der über den silbrig glänzenden Lichtreflexen entrückten, unbestimmten Bilder. Der mit Maßwerkgesimsen verzierte Turm, die Zinnen, Konsolen, Spitzbogen-Arkaden und Fialengiebeln erscheinen über ein artifizielles Vermittlungsspiel dramatisiert, für das das Inauthentische der Architektur maßgeblich ist. Eine in der Wirkung vergleichbare geheimnisvolle Schönheit des neugotischen Stils, die den feingestimmten Seelen der Romantiker eine Scheintröstung bot, ist Schloss Grafenegg bei Krems in Niederösterreich. Graf August Ferdinand Breuner-Enckevoirt, der Gutsbesitzer, ließ auch hier eine spätgotische Burganlage aus dem 16. Jahrhundert unter dem Einfluss des Tudorstils umgestalten. Architekt Leopold Ernst und sein Sohn Hugo Ernst entwickelten zwischen 1840 und 1888 eine das Poetische miteinbeziehende
155 156
Muthesius: 1902, S. 47 Dehio: 1914, S. 24
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
romantische Neugotik, die ihren Reiz ebenso sehr eindeutig aus ihrer Entrückungswirkung gewinnt, ihrer Stilisiertheit, Künstlichkeit. Ein massiger, mit vier pittoresken Scharwachttürmen und einem maßwerkverzierten Außenumgang akzentuierter Hauptturm, dem sich das Auge fast unausweichlich schmachtend entgegenneigt, überragt eine abwechslungsreiche vierflügelige Anlage, die mit einer Schlossbrücke, die zu einem feingliedrig erkerverzierten Torbau führt, einer Schlosskapelle und einer imposanten, mit Maßwerkpartien und Treppengiebel gestalteten Loggia an der Westfront ein »visionäres Traumgebilde« ausbildet, wie es Kitlitschka ausdrückte: »Zarte, stabartige Vertikal- und Horizontalelemente spalten die Wände in Schichten auf. Zahlreiche Stufengiebel decken weitgehend die großen Dachflächen ab. Vorkragende Erker, vorgelegte Arkaturen, Zinnenbekrönungen, filigranes Maßwerk und Dachzierden sowie ein reiches Repertoire an plastischen Fratzen und Wasserspeiern vervollständigen den Schmuck des Bauwerkes und konstituieren seine entmaterialisierte Wirkung.«157 Wie auch der nicht mehr befüllte, ursprünglich das Schloss umziehende, mit Schilf malerisch inszenierte Wassergraben dazu diente – Kitlitschka führte das aus –, Schloss Grafenegg »durch das Kunstmittel des Wassers gewissermaßen schwebend, der Wirklichkeit entrückt erscheinen zu lassen«158 und damit die »visionäre Wirkung« des Bauwerks weiterzutreiben. Quintessenziell wurde diese architektonische Wirklichkeitsentrückung schließlich für die Bauten des bayerischen Königs Ludwig II., der mit seiner Mittelalter- und Barocksehnsucht zu einem Mythos seiner selbst wurde. Der Historismus erreichte in den an sinnlichen Bedeutungen überreichen, romantisch-eklektizistischen Herrlichkeiten von Schloss Neuschwanstein, Schloss Herrenchiemsee und Schloss Linderhof seine höchste Reife und zugleich seine höchste Verderbtheit. Ludwigs Bauleidenschaft ist ein vom wagnerianischen Ideal einer prächtigen und gebieterischen Kunst geprägter, unerreichter Ausdruck an Kraft und Idealität in der baulichen Imagination, gleichermaßen aber eine tragische, sich an Staffagen klammernde Abartigkeit architektonischer Irreführung und Unaufrichtigkeit. Sie »zeigen wie in Übertreibung den allgemeinen Zustand [des Historismus]: das Schloß wird zu einem bloßen ›Theater‹ im schlechten Sinn.«159 Die Königsschlösser sind schaurige Scharade eines traurigen und langsam dem Schwachsinn anheimfallenden Königs, eines soziophoben Sonderlings, der sich in den retrospektiven Scheinwelten seiner verschwenderischen Schlösser vor seiner Zeit und sich selbst versteckte, vor seinen Ministern und Untertanen, vor seiner ungefestigten Sexualität und seinem Anderssein, selbst vor dem ihm verhassten Tageslicht. König Ludwig ließ sich »in verträumter Idylle wunderliche Lust- und Repräsentationsbauten errichten, die weder der Lust noch der Repräsentation dienten«160 . Natürlich ist aber gerade dieses Fiktionsbewusstsein dafür, dass man in Ludwigs schwärmerischen Fluchten in idealisierte Vergangenheiten einer ästhetisierenden Täuschung aufsitzt, einem Auswuchs verdrängter Realität, das wahre Faszinosum dieser Bauten. Die Attraktion liegt in der Fiktionalität und Inauthentizität, die Ludwig 157 158
Kitlitschka: 1984. S. 80 Ebd., S. 79-80; Der Burggraben schuf eine »eigenartige Schwebewirkung, die mit dem optischen Vibrato seiner zarten bizarren Detailformen in vollendetem Einklang steht.«; ebd., S. 85 159 Sedlmayr: 1956, S. 16 160 Linnenkamp: 1976, S. 126
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Architekturen des Inauthentischen
und seine Architekten Christian Jank und Georg von Dollmann bei all ihrer brillanten Begabung, in tiefe Träume über eine germanisch-mittelalterliche Mythenwelt oder die bourbonische Königsherrlichkeit zu versinken, nie verhindern kann. Die eindrucksvollen ästhetischen Erfahrungen, die Ludwigs Königsschlösser bereithalten, sind nicht ausschließlich rein architektonisch über seine stilisierungsgewandte Empfindungsund Einbildungskraft erschließbar, sondern erst über die weltverlorene Exzentrik ihres Schöpfers, die kalt widerstrahlende Einsamkeit der anachronistischen Prunkräume. Alles ist Illusion. Das Schloss Herrenchiemsee ist zwar eine präzise Nachbildung von Schloss Versailles samt Spiegelgalerie und Paradeschlafzimmer, doch pochte hier eben nicht das öffentliche höfische Zeremoniell der Bourbonen. Der menschenscheue König feierte hier keine opulenten Feste, sondern vergrub als Roi Soleil in effigie sein nicht einzulösendes übersteigertes Herrscherbewusstsein in Blattgold und Brokat. Einsam, auf einer abgeriegelten Insel. Wie auch seine scheinmittelalterliche »Gralsburg« Schloss Neuschwanstein nur in Ludwigs eigener Fantasie Gralsritter und Minnesänger behauste. Die prächtige byzantinische Architektur des Thronsaals, die verschnörkelte Neugotik des Schlafzimmers und die schwelgerische Romanik des Sängersaals hatten allein die Aufgabe, den Vereinsamten in erhabene historische Empfindungen einzustimmen, in seine Gefühlsverwandtschaft mit den wagnervermittelten germanischen Sagenfiguren. Das Anziehungskraft ästhetischer Inauthentizität liegt bei Ludwigs Architekturfiktionen – wie im Historismus allgemein – aber natürlich immer auch in der baulichen Materialität begründet. Am fantastischsten bei der Venusgrotte seines sinnlich-reichen Rokokoschlösschens Linderhof, einer der Blauen Grotte auf Capri nachempfundenen künstliche Tropfsteinhöhle samt Wasserbassin, auf dem sich Ludwig zu Wagnermusik auf einem »Muschelthron« umherrudern ließ. Diese ist nämlich nicht nur ein ingeniös ausgestaltetes stalaktitenbehangenes Bühnenbild, sondern eine technisch avancierte Simulationsmaschinerie, ausgerüstet mit einer Wellenmaschine und einer Warmluftheizung und mit Dynamos elektrisch illuminiert.
3.5
Das Prinzip des Stilpluralismus
Alle Anstrengungen der einzelnen Stilparteien, einen Geschichtsauftrag mit Ausschließlichkeitsanspruch für sich zu reklamieren und den einen zeittypischen »Universalstil« für das 19. Jahrhundert zu priorisieren, erwiesen sich als illusorisch. Sie führten allerdings auch nicht nur zu Unzulänglichkeitsbekundungen, dass das eigene Jahrhundert »seinen Fluch darin erkannt [habe], daß es im Baukünstlerischen nicht mehr schöpferisch gewesen sei und deshalb aus dem Unvermögen zum eigenen Stil alle historischen Stilformen der Reihe nach rekapituliert hätte«; als wäre man verurteilt, sich in einem »Triumph schulmeisterlicher Epigonen«161 , mit einer sich selbst breittretenden Geschichte, zufriedenzugeben. Denn selbstverständlich wurde der sich ausbreitende Stilpluralismus als bisher geschichtlich nicht Dagewesenes erkannt. Das heißt nicht, dass sich die Architekten des Historismus ungeachtet ihrer künstlerischen und weltanschaulichen Standpunkte auf eine bewusste Pluralität eines typi161
Kamphausen: 1952, S. 85
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
sierenden Verfahrens eingelassen hätten, aber in der Realität setzte es sich durch: »So wie früher der Stil wurde jetzt der Pluralismus als das Allgemeine und das Übliche genommen und das Geschichtliche durchdrang als umfassende Erkenntnis alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.«162 Auch heißt das natürlich nicht, dass die Architektur zu einer auf die genießerischen Fähigkeiten der Bauherren ausgerichteten Stilartistik verflacht wäre, die sich über kunsthistorisch zusammengeraffte und zusammengeräuberte Halbfabrikate mit Glanz drapiert. Denn mit der Stilwahl blieben Repräsentationsabsichten verbunden, die Architekturen, über die man zu Identifikation eingeladen wurde, blieben semantisch beladen. Sie gravitierten sich um diese stilvermittelten Sinnund Distinktionsgarantien, und sei es zur gesellschaftlichen Eigenillusion. Wobei mit Max Onsell der Vorstellung zu widersprechen ist, »die Baukunst des 19. Jahrhunderts […] soll […] mit ihrer Vielfalt nachgemachter Stile das Durcheinander einer pluralistischen Gesellschaft spiegeln, die im Grunde nicht weiß, was sie will. […] [Es] wird so getan, als hätten seine Architekten den Entschluß, in dem einen oder andern Stil zu bauen, mehr zufällig gefaßt, […] Jedem der drei HauptIsmen dieser Zeit – Renaissancismus, Gotizismus und Klassizismus – entspricht [jedoch] ein eindeutig definierbarer gesellschaftlich-politischer Ismus. Die Vielfalt der Stilformen im 19. Jahrhundert spiegelt dessen pluralistische Gesellschaft nicht nur vage, sondern ganz präzise wider.«163 Der Stilpluralismus symbolisiert ein Auseinanderdriften der Gesellschaft und auch ein Auseinanderdriften der Gebäudekategorien. Mit dem Historismus wird »das Stilgewand« bei den verschiedenen bautypologischen Unifikationsversuchen, wie Lemper betont, noch im selbstzwecklichen Ornament »Politikum. Indem aber die ringenden Mächte sich für bestimmte Stillegitimationen entscheiden, sind sie zugleich den dem Kapitalismus eigenen Konkurrenzkämpfen ausgeliefert.«164 Der im faktischen Stilpluralismus bekräftigte Grundgedanke des Historismus, dass sich kein architektonischer Stil mehr zum Alleineigentümer über eine Ära aufschwingen und künstlerische Infallibilität beanspruchen kann, entwickelte sich dabei zwar hin zu einer Vielfalt grundsätzlich ranggleicher Architektursprachen, festigte jedoch freilich weder ein argumentatives Patt entlang der Parteilinien des Stilpluralismus, noch eine gleichmäßige Verteilung der Einzelstile in den Entscheidungssingularitäten der Bauführungen. Denn spätestens ab den 1830ern beherrschte die Neorenaissance die internationale Architekturentwicklung. Ihren Ausgang nahm die Neorenaissance in Frankreich, wo bereits der »an dem imperatorischen Geist und der siegesgewissen Geste der römisch-kaiserzeitlichen Architektur« anknüpfende napoleonische Empire-Stil über eine geteilte Rezeptionshaltung mit der »italienischen Hoch- und Spätrenaissance vergleichbare architektonische Leistungen«165 entwickelte. Wie in Frankreich identifizierte sich auch in Deutschland das liberale Bürgertum mit der Neorenaissance als einem architektonischen Symbol
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Klingenburg: 1985, S. 19 Onsell: 1981, S. 7-8 Lemper: 1985, S. 52 Dolgner: 1993, S. 48
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Architekturen des Inauthentischen
städtisch-bürgerlicher Selbstverwaltung, sah mit der Renaissance eine frühbürgerliche, urbane Emanzipation in das Licht der Geschichte treten – die Entwicklung eines diesseitigen, humanistischen Geistes, eine Blüte wissenschaftlicher und künstlerischer Aktivität. Die Neorenaissance transportierte als bürgerlicher Repräsentationsstil Attribute, die, wie Berthold Bubner rekapitulierte, weder »der zunehmende Akademismus […] [mit seinem] auf die zeitlose Gültigkeit des hellenistischen Vorbildes gegründete[m] Ideal noch die mystische Transzendenz und vermeintliche Arationalität ›gothischer‹ Fassaden […] im Sinne des positivistischen Geschichtsbildes« bereitstellen konnten, »um die Einigungsbestrebungen unter preußischer Vorherrschaft und die enormen Mengen verfügbaren Kapitals architektonisch wirksam zur Geltung zu bringen.«166 Die Neorenaissance erlangte ihre Attraktivität in diesem Gedankenkreis bürgerlicher Appellationen aber auch mit nationalen Bezugnahmen. Was als eine Wiederaufnahme italienischer Renaissancebaukunst begann, erhielt eine nationalistische Akzentverschiebung hin zu den landeseigenen Stilvarianten. In Deutschland erfolgte ein politischer Selbstbezug über die Nordische Renaissance. Eine weitschweifige Apologie des Nationalen, die spätestens mit der Reichseinigung zur patriotischen Selbstberauschung auswuchs, »eindeutig chauvinistische Züge […] [annahm], als man, nach dem gegen Frankreich gewonnenen Krieg, nicht nur die Überlegenheit der deutschen Waffen, sondern auch der deutschen Kunst zu entdecken meinte.«167 Ebenso entscheidend für die erfolgreiche Verbreitung der Neorenaissance war allerdings auch ihre transformatorische Wirkungsfähigkeit. Allein unter den pragmatischen Gesichtspunkten einer typologisch-funktionalen Rationalität und Differenzierbarkeit wurde die Neorenaissance als eine vielheitliche, elastische und entwicklungsfähige Architektursprache interessant, wie Dolgner hervorhob: »Obwohl sie einerseits der Trennung von Konstruktion und Dekoration Vorschub leistete, war es andererseits ihr Formenreichtum, die Flexibilität und Vielfalt ihrer Nutzungseigenschaften, die sie im Gegensatz zum klassizistischen Normativ für die Bewältigung des wesentlich umfangreicher und differenzierter gewordenen Raumbedarfs geradezu prädestinierte.«168 Mit der Neorenaissance wurde der Rekurs auf die Vergangenheit daher endgültig historistisch funktionalisiert und nahm das Selbstverständnis des Jahrhunderts kalkulierende Züge an, nachdem es sich zuvor in der Epoche der Romantik noch von einer Hitze übereilen ließ. Dies zeigt sich auch am Phänomen des »Rundbogenstils«, einer von Heinrich Hübsch lancierten integrationistischen Untervariante des Historismus, die mit einiger Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit Elemente lombardischer Romanik und byzantinischer Architektur in die Neorenaissance einmengte. Diese »lediglich terminologische Zusammenfassung divergierender stilistischer Orientierungen«, die auch mit Ludwig Persius und Friedrich von Gärtner in Verbindung gebracht wurde, ermöglichte als Versuch einer »kategoriale[n] Verlagerung des Stilproblems vom historischen in einen strukturalen Deutungszusammenhang […] die Subsumierung von sehr Verschiedenartigem – gotischer, frühchristlicher, byzantinischer, quattrocentes-
166 Bubner: 1983, S. 70 167 Lehmbruch: 1970, S. 88 168 Dolgner: 1993, S. 48
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
ker Elemente – unter einen historisch wenig spezifischen Oberbegriff.«169 Zwar wurde der »Rundbogenstil« in den 1840ern trotz seiner integrativen Ziele »selbst als Stilpartei in die Richtungskämpfe dieser Jahre einbezogen«170 , so Döhmer, seine vervielfältigungsreife Stilpragmatik, seine Ausrichtung auf das Utilitäre, signalisierten allerdings im Prinzipiellen bereits jenen pluralistischen Ausgleich, der den einzelnen durchideologisierten Stilparteien schließlich ihre Unbefangenheit in der Artikulation stilistischer Absolutheitsansprüche raubte. Gottfried Semper war der maßgebliche Architekt dieser Entwicklungsstufe. Er stellte den Historismus in seinem Mittagsglanz auf eine breitere künstlerische und argumentative Basis, verschärfte zugleich aber auch in seinen architekturtheoretischen Schriften die Grundwidersprüche der künstlerischen Situation des Stilpluralismus, die Unvereinbarkeiten einer Architektur, die zwar auf Zweck, Material und Technik als stilbedingenden Faktoren rekurrieren wollte, aber dem entgegenstehend in der Stilimitation die Trennung von Konstruktion und Dekoration forcierte. Gottfried Sempers auf einer tiefen Italiensehnsucht ruhende, von Anpassungsfähigkeit und weltgewandtem Scharfblick geprägte Wiederbelebung der Renaissance in zeitgenössischem Geist sah die Untauglichkeit der Mittel des Klassizismus und weigerte sich, mit Klischee und Vereinfachung zu arbeiten. Semper, ein Mann, der sein Denken auf Vernunft gründete, suchte »einen Ausgleich zwischen Traditionsgebundenheit und Gegenwartsbezogenheit […] [über] eine reichere, kräftigere und kontrastreichere Formensprache, die schmiegsam und entwicklungsfähig genug war, um differenzierten funktionellen Ansprüchen genügen zu können, ohne die an der Antike haftenden Ideale aufgeben zu müssen.«171 Seine prinzipiengeleiteten künstlerischen Kraftaufwallungen, seine Neigung zu großen Gesten, zu Monumentalismus, entsprachen den geistigen Bewandtnissen der Zeit. Seine Neorenaissance war selbstbewusst, fußte auf einer internationalen Idee. Denn Charakter und Gemüt des steckbrieflich gesuchten Barrikadenkämpfers von 1848 spielten nicht mit, in den üblen Mief des Nationalismus hineinzuriechen: »das ist ihm Kleinstaat und Kleinstadt, jene Überschaubarkeit, die Spitzelei bedeutet, wie man es von der mittelalterlichen Stadt her kennt, wo man den Leuten ständig nachspioniert hat, ob sie auch die vom Magistrat vorgeschriebene Nachtmütze tragen.« Für Semper, den freimütigen Liberalen, den unkompromisslerischen Geist, so Onsell weiter, vermittelt die Renaissance ein Ideal patrizischer Bürgerlichkeit und einer »Kunst des genialen Einzelgängers, dessen Ruhm die Grenzen überschreitet, der an den Höfen herumgereicht wird.«172 Sempers theoretisches Werk, nicht nur im Streit um die Polychromie ebenso von bedeutendem Einfluß, hielt allerdings zugleich den Inauthentizitätsverdacht gegen den Historismus aufrecht, als seine »Bekleidungstheorie«, die den Ursprung menschlicher Bautätigkeit auf textile Verhüllungen zurückführte, dahingehend verstanden wurde, dass seine Kunstanschauung struktive und nicht-struktive Teile, Struktur und Schmuck, auseinanderdividiere und das technisch-zweckliche gegenüber dem
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Döhmer: 1976, S. 20 Ebd., S. 24 Dolgner: 1993, S. 60 Onsell: 1981, S. 28
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Architekturen des Inauthentischen
dekorativen, der »Bekleidung«, vernachlässige: »Es ist wohl die gravierendste aller Semper-Fehlinterpretationen, dass seine Begeisterung für Maskenlaune und Karnevalsstimmung, die nur zu gut ins Klischeebild des Historismus als Maskenball der Stile passt, als Aufruf zur freien Verwendung der Versatzstücke aus dem historischen Kulissendepot missverstanden wurde.«173 Eigentlich wollte Sempers »Bekleidungstheorie« die Notwendigkeit einer dekorativen Durchbildung der Einzelelemente betonen, nicht die ausschmückende Gebäudeumhüllung zur Hauptaufgabe der Architektur küren. Die »Maskierung der Realität« bedeutete ihr »keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern deren Potenzierung«174 . Aber seine schwierige argumentative Verbindung zwischen dem Struktiven und Nicht-Struktiven traf in der Architekturtheorie ab der Jahrhundertmitte auf Ansätze, die »Kunstwahrheit« einseitiger auf die struktiven Anwärter dessen ausrichteten, was später die Authentizität der Funktion und des Materials sein würde. Im viktorianischen England nahm John Ruskins Ideal der Kunstwahrheit den noch nicht ausartikulierten Authentizitätsbegriffs in sich auf. Als Vermittler zwischen den Streitparteien des Historismus war allerdings auch Ruskin nur bedingt zu gebrauchen, da er, ein Abweisender, ein Unerbittlicher in der Kritik, der viktorianischen Architektur tiefe Verzagtheit entgegenbrachte, ein deprimierendes Bild seiner Epoche, die er für tief vergiftet und verdorben hielt, zeichnete. Das Gefühl für Wahrheit, dass in Ruskins Brust brannte, ließ ihn den Historismus, der für ihn den Betrügereien eines schändlichen Jahrhunderts erlegen sei, abkanzeln. Nicht allerdings in dem Sinne, dass sich seine Authentizitätsemphase auf eine Überwindung des Historismus durch eine Stilerfindung eingerichtet hätte (»Wir brauchen keinen ›neuen‹ Stil in der Baukunst. […] Aber wir brauchen irgend einen Stil.«175 ). Denn zu sehr bestimmte ihn seine tiefe Bewunderung der Vergangenheit, besonders der edlen Schönheitsformen der Gotik. Vielmehr artikulierte er ein neues Künstlerethos der Echtheit: »Die Formen der Architektur, die wir kennen, sind gut genug für uns. Es wird Zeit genug sein, sie zu verbessern, wenn wir sie, wie sie sind, anzuwenden verstehen. Aber es gibt Dinge, die wir entbehren, obwohl sie unentbehrlich sind: Gehorsam, Einheit, Gemeinsinn und Ordnung.«176 Historist war Ruskin, der die Widersprüche des viktorianische Zeitalters bis auf den Grund fühlte, auch in der Hinsicht, dass er, der »die Arbeit seines Lebens an die Gegenwart geben wollte«, wie es Wolfgang Kemp formuliert, in dieser »Epoche grundstürzenden Wandels«, unvermeidlich zwischen die Zeiten und Zeitformen geriet – eine Entwicklung, die »keiner […] so sehr als Verrenkung empfunden [hat] wie Ruskin«177 . Zudem erwies er sich als Kunstschriftsteller, so Kemp weiter, als Pluralist. Er ist »nicht nur ein Theoretiker, sondern auch ein Praktiker des Reichtums und der Fülle gewesen. Er hat den beredten Linien so viele und so verschiedenartige Auskünfte abgewonnen, 173 174 175 176 177
Moravánszky: 2018, S. 197 Ebd., S. 196 Ruskin: 1999, S. 378 Ebd., S. 381 Kemp: 1987, S. 59; »So schnell wird das Präsens der Kunst und Natur zur Vergangenheitsform gebeugt, daß der Gegenwartsforscher einen weiten Spagatschritt machen und mit einem Bein in der Vergangenheit, mit dem anderen in der Zukunft stehen muß, Historiker und Prophet zugleich.«; ebd., S. 58-59
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
daß man sein methodologisches Vorgehen normalerweise als Pluralismus bezeichnen würde. […] Sein Pluralismus ist ein Pluralismus der Frühe, eine ungeschlachte, oft lose und manchmal großspurige Methodenvielfalt.«178 Ruskin war ein zimperlicher Intellektueller, ein edelgesinnter Mensch, ein Schwärmer und Idealist, aus dessen Augen Flammen sprühten. Er war aber auch ein Überbürdeter, von verzweifelter Leidenschaft aufgerieben. Ein Mann der Widersprüche und Ungereimtheiten, der mit Leidenszuständen zu ringen hatte, dem die Gedanken ungezügelte, wirre Bahnen schlugen. Der ein Skandal war für die träge Feindseligkeit der viktorianischen Gesellschaft, der Wunden erlitt durch die Anwürfe, die fiesen Leitartikel, die man über ihn schrieb (– der diese Anfeindungen allerdings tapfer ertragen hat, auch, als seine unglücklichen privaten Angelegenheiten in ein schiefes Licht kamen). Beherrscht von den viktorianischen Dunkelheiten, die die gedanklichen Hintergründe seiner Weltsicht bildeten, wirkt auch Ruskins architektonische Ästhetik, bei aller Fähigkeit zur brillanten Analyse, »oft emphatisch, manchmal konfus und widersprüchlich, er rationalisiert a posteriori seine subjektiven Neigungen: seine Empfindsamkeit gegenüber Baustoffen, Strukturen, Farben, Italien im allgemeinen und dem Licht Venedigs im Besonderen. Seine Ästhetik ist […] nicht von seinen ethischen und sozialen Vorstellungen zu trennen.«179 In Bezug auf Stilnachbildungen sah Ruskin nur vier geschichtliche Bauarten der Nachahmung für würdig: die Pisaner Romanik, die Frühgotik der italienischen Republiken, die venezianische Hochgotik und die frühe verzierte englische Gotik. Wie bei Pugin auch ist Ruskins Gotikbewunderung ethisch mitbedingt. Anders als Pugin, der diese als den von Gott geheiligten Stil bezeichnete, sah sie Ruskin, selbst in Zuständen düsterer Verzweiflung zunehmend von Gott und der Krone entfernt, allerdings als eine vom gemeinschaftlichen Idealismus freier mittelalterlichen Bauhandwerker bestimmte Architektur, in die er seine romantische, im Widersprich zur herrschenden Ökonomie positionierte Vorstellung von Kunst als Lebensweise projizieren konnte. Für Ruskin, der dem Bauhandwerk zivilisierende Aufgaben zudachte, hatte »sie allein unter den großen Stilen […] die Eigenschaft der Lebendigkeit. Aufgrund der Vorstellungen, die man im neunzehnten Jahrhundert davon hatte, wie die Kathedralen gebaut wurden, konnte Ruskin sie als Verkörperung des Geistes des Einzelnen wie der Gemeinschaft ansehen – sie wurden so langsam gebaut, daß es wirkte, als wüchsen sie, statt gemacht zu werden, und folgten nicht einem Plan, sondern erfüllten eine Entelechie, indem sie nach den ihm den ihnen innewohnenden Seinsgesetzen ihre Vollendung erreichten«180 . Die gesamte Beschaffenheit von Ruskins architekturtheoretischen Überlegungen ist, wie auch in der Kunst- und Naturbetrachtung, allerdings geprägt von einem »spektatorischen« Verstehen, wie es bei Kemp heißt. Ruskins Analyse bestimmt seine mit fieberhafter Aufmerksamkeit betriebene Schaulust, das Auge fungiert als Primärsinn der Kunsterfassung, der die Stimulierung eines Assoziationsflusses bewirkt: »Der ganze
178 Ebd., S. 161 179 Mignon: 1994, S. 123 180 Trilling: 1983, S. 120
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Architekturen des Inauthentischen
Wert ihres Zeugnisses beruht darauf, daß sie Augenzeuge ist, all ihre Echtheit und Autorität beruht auf der persönlichen Beglaubigung des Menschen, der sie hervorbringt. Ihr ganzer Triumph beruht auf der Wahrhaftigkeit des einen Wortes, das vorangegangen ist: Vidi – Ich habe gesehen.«181 Speziell Ruskins Studien der venezianischen Architektur in seinem Hauptwerk Die Steine von Venedig zeichnen einen Betrachter aus, der ein scharfes Auge für Details hat, dem nichts entgeht. Und wenngleich die feinsinnigen, begeisterungsfähigen Reflexionen der byzantinisch beeinflussten venezianischen Gotik ebenfalls Ruskins gesellschaftlichen Idealismus verraten, er den Merkantilismus der Dogenherrschaft verklärte, da er einer Kunst zu begegnen meinte, »die soweit er sah – von Gemeinschaftssinn, religiöser Identität und frohgemuter Naturnähe zeugte«182 , bewirkte seine »spektatorische« Hinneigung zu den in den Lichtspiegelungen schimmernden Palazzi der Lagunenstadt eine Wende in der Gotikrezeption. In dem er »die dekorativen und visuellen Werte stärker als die symbolischen und liturgischen betont, säkularisiert er die neugotische Bewegung. Und mit seiner Bevorzugung der italienischen Gotik gegenüber der englischen Kathedrale söhnt er den italophilen Dilettantismus mit der Gotik aus.«183 Mit den Übertragungsbemühungen venezianischer Gotik im Historismus kann Ruskin allerdings nicht einverstanden gewesen sein. Denn auch wenn sie dieser in der Einbildungskraft, der Kühnheit selbstständiger Behandlung auszeichneten, haben sie Ruskins Wahrheitsanspruch Gewalt angetan. Es sind Gebäude, die, nach Ruskins Maßstäben, aufs Lügen verfallen sind, und genau dadurch eine Wirkung flimmernder Inauthentizität entwickelten. So Luigi Rovellis Villa Borghese auf der Isola del Garda am Gardasee, Carl Caufals Dogenhof in Wien, William Leipers Templeton’s Carpet Factory in Glasgow, Enrico Carlo Macchiavellos inzwischen als Hotel genutzte Villa Luxardo im oberitalienischen Badeort Santa Margherita Ligure oder das Occidental Life Building der Architekten Trost & Trost in Albuquerque, New Mexico. Ein Grund für ihre Inauthentizitäten liegt allerdings nicht nur in einem für Ruskin unverzeihlichen materiellen und handwerklichen Betrug, sondern ebenso in den Konsequenzen von Ruskins eigener einflussreicher Gotikrezeption, die eine Entwurfsmethode provozierte, die gleichermaßen fragmentarisch auf Einzelheiten abzielte wie Ruskins feine Detailanalysen der Verwandtschaftsbeziehungen der Bauglieder in Die Steine von Venedig: »this perception of a building as a cacophony of disjointed groupings of selected elements was taken over wholesale by the architects of the Victorian Gothic years.«184 Die Architekten des viktorianischen Zeitalters wurden Ruskins Wahrheits- und Authentizitätsfanatismus selten gerecht. Zwar galten Selbstdisziplin und Aufrichtigkeit als wichtigste Tugenden der Viktorianer, ein autoritätsfixiertes Sich-Fügen und 181
Kemp: 1987, S. 112; Dies ist bei Ruskin Stärke und Schwäche zugleich: »Sehen um des Sehens willen. Sehen als Selbstempfindung und -bestätigung des apperzipierenden Subjekts, aber die Gefahr droht diesem Konzept – und Ruskin ist ihr bisweilen erlegen –, Intensität mit Reinheit zu verwechseln und die Stimulation der Sinne von den Stimuli zu abstrahieren«; ebd., S. 113 182 Ebd., S. 141 183 Mignon: 1994, S. 123 184 O’Gorman, James F.: The Architecture of Frank Furness, Philadelphia: Philadelphia Museum of Art 1973, S. 21
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
-Disziplinieren in die gegebenen Klassenverhältnisse als Prämisse gelingender persönlicher Authentizität – was Lionel Trilling als »Reaktion auf den Verlust an religiösem Glauben« interpretierte: »Der Nichtgläubige empfand es als notwendig, in seinem persönlichen Leben den selben Grad von Ernst und Gesetztheit zu wahren, der dem Gläubigen eigen gewesen war, und er mußte sich hüten, den leichtfertigen Libertinismus der Franzosen anzunehmen«185 . Gleichzeitig verleitete der Individualismus, den der an den Prinzipien des Laissez-faire ausgerichtete manchesterliche Industriekapitalismus mit sich brachte, zu einer künstlerischen Praxis der Stilimitation, die Ruskin als vergiftete Lügen verurteile, als ein Plündern und Schänden der Historie für leichtverderbliche Eitelkeiten. Es müsse, urteilte er, »mehr als seltsam erscheinen, dass eine Nation wie die Engländer, deren Aufrichtigkeit und Treue im Ganzen anerkannt ist, in ihrer Architektur mehr Beimischung von Täuschung, Anmaßung und Verdeckung von Schwächen duldet, als irgend ein anderes Volk der Gegenwart oder Vergangenheit.«186 Dieses Diskrepanzgefühl zwischen Idea- und Realität lastete – in der Kultur wie in der Architektur – als bleierne Schwere über der viktorianischen Epoche. Es zeigte sich in einem Sich-Einrichten in Scheinsicherheit und sittlicher Heuchelei, in einem Bewusstsein für die Korrumpierbarkeit der eigenen Wertvorstellungen und einer Selbstverfeindung mit den eigenen Begierden, unter der nicht nur von unguten Gedanken geplagte Künstlernaturen wie Ruskin und die Maler der ihm verbundenen Bruderschaft der Präraffaeliten Qualen duldeten. Der lange Zeitabschnitt der Regentschaft Königin Victorias von 1837 bis 1901, in dem sich das britische Empire zur ersten entwickelten Industrienation entfaltete und über sein Kolonialreich den Weltkreis beherrschte, figurierte eine komplizierte, keineswegs unbewegliche politische Periode, in der die Kontinuität der Herrschaft der populären, respektierten Symbolfigur Victoria nicht über die gesellschaftlichen Umbruchsituationen und die verunsicherte viktorianische Gemütsbeschaffenheit hinwegtäuschen konnte, die mit dem ökonomischen Fortschrittsschub der Industrialisierung einhergingen.187 Der Manchesterliberalismus, der neue Vermögenseliten entstehen, die Mehrheit der Bevölkerung jedoch als Industrieproletariat – das unter den Qualmsäulen der Fabriken, in den nach Schnaps, Unrat und Fäulnis stinkenden Arbeiterquartieren einen Bruch in den Lebensgewohnheiten erfuhr – verelenden ließ, schuf eine zwiespältige kulturelle Geprägtheit, bei der, Trilling hat darauf hingewiesen, weiterhin maßgeblich der Klassengegensatz die Bedingungen individueller Identitätsgestaltung gerade in Bezug auf die Aufrichtigkeitstugend umgürtete. Die Bourgeoisie lebte jetzt ökonomisch eindeutig eine Nummer größer, regelrecht übermöbliert, doch blieb ihre Freiheit zu
185 Trilling: 1983, S. 112 186 Ruskin: 1999, S. 64 187 »By and large Victorian England was a tremendously virile and very terrible affair. If we strip away the gadgets and fashions, Victorian England was not unlike the United States today. There was the same unblinking worship of independence and of hard cash; there was the same belief in institutions – patriotism, democracy, individualism, organized religion, philanthropy, sexual morality, the family, capitalism and Progress; the same excitement and movement; the same overwhelming self-confidence […]. And, at the core, was the same tiny abscess – the nagging guilt as to the inherent contradiction between the morality and the system.«; Jordan: 1966, S. 17
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Neuem so gesehen eng begrenzt. Denn die Eliten billigten zwar »die Möglichkeit sozialen Aufstiegs, soweit er sich durch Energie, Talent und ohne Verlust an Redlichkeit erreichen ließ. Doch erbarmungslos prüften sie diejenigen […], die von dem Ehrgeiz beherrscht waren, in der Welt voranzukommen, und sie achteten auf jedes Anzeichen für eine Schwächung der persönlichen Authentizität, die daraus folgte, daß sie ihre vorgefundene Klassenlage aufgegeben hatten.«188 Einen solchen Authentizitätsverlust »nannten sie Snobismus und Vulgarität«189 . Speziell die Aristokraten im Plüschsalon, und die Dandies, in sich zerrissene, blasierte Individuen, die sich bei gleichzeitiger ironischer Distanzierung und mit einem schwachen Beigeschmack der Selbstbemitleidung an die eigenen Privilegien klammerten, wiesen den faden Bildungsbürgergeschmack der Parvenüs, der sich in einem ins Durchschnittliche hineinschlitternden historistischen Stilpluralismus manifestierte, als »Philistertum« zurück. Dynamisiert wurde dieser Stilpluralismus faktisch auch durch die Bauspekulation der Gründerjahre, dem langen zyklischen Wirtschaftsaufschwung nach der Jahrhundertmitte, der sich ab 1871, als mit der deutschen Reichsgründung die Reparationszahlungen des besiegten Frankreichs den Berliner, Frankfurter und Wiener Kapitalmarkt fluteten, zu einer Spekulationsblase auswuchs (– begünstigt durch die wirtschaftsliberale Beseitigung der Konzessionspflicht für Aktiengesellschaften, was zur Gründung unzähliger Schwindelunternehmen führte, und durch Hypothekenbanken, die leichtfertig Pfandbriefe ausgaben). Der kunstgeschichtlich unpräzise Sammelbegriff »Gründerzeitstil« für die serialisierten Neorenaissance- und Neobarockfassaden, die eine überbeschäftigte Bauindustrie hastig auf die Zinshausviertel auftrug, subsumiert diesen aus der Spekulationslust entstandenen Stilpluralismus außerhalb ideologisch zugewiesener Ismen, mit dem die Stilentscheidungen schlussendlich doch zunehmend immer weniger bekenntnisgebunden wurden. Er steht für unterdefinierte Serienfertigungen, bei denen der Stil in der Hauptsache »als baulicher Aufwand, als ein der Spekulation zuzurechnendes Mittel«190 erweist. Der zinsenträchtige »Gründerzeitstil« wird darum auch mit dem Späthistorismus als Ganzem synonymisiert, obwohl der Gründerkrach, diese Muster-Pathologie einer finanzwirtschaftlichen Überhitzung, bereits 1873 das hysterische Spekulationsfieber in Katerstimmung umschlagen ließ.191 Das weltweit bedeutendste Ensemble des Historismus fällt in diesen zunehmend untertheoretisierten typologischen Differenzierungsprozess: die Wiener Ringstraße. Ihr Stilpluralismus ist der Spiegel jenes gewandelten Architekturverständnisses, jener 188 189 190 191
Trilling: 1983, S. 110-111 Ebd., S. 111 Lemper: 1985, S. 59 Ullmann unterstreicht mit den Recht die realwirtschaftlichen Ursachen des Gründerkrachs: »Obwohl Zeitgenossen die Gründerkrise als Börsen- und Kreditkrise erlebten, war sie doch eher eine Krise der gewerblichen Wirtschaft, ausgelöst durch Überkapazitäten und sinkende Nachfrage.« (Ullmann: 1995, S. 60) Deutschland und Österreich verfielen daraufhin auf Jahre in wirtschaftliche Stagnation und der bürgerliche Liberalismus mit seinem Glauben an den freien Markt war erschüttert. Mit der Krise des radikalen Laissez-faire-Kapitalismus erhielt der Antisemitismus Auftrieb, denn die Schuldigen »waren bald gefunden: Da waren einmal die Liberalen, die durch ihre manchesterliche Wirtschaftspolitik angeblich den Boden für die hemmungslose Spekulationswut bereitet hatten; und da waren zum anderen die Juden, die traditionellen Sündenböcke in Zeiten der Krise.«; Ullrich: 2010, S. 44
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»Epoche, die im Zeichen der Vorherrschaft der Neurenaissance steht, und […] den Verlauf im mittleren Jahrhundert« verunklart, da jetzt, wie es bei Hans Sedlmayr heißt, ein »Zeitalter einer allgemeinen Schauspielerei«192 eine Hochblüte erlebt. Die skulpturengeschmückten Prachtbauten der Ringstraße prägt, bei unterschiedlicher Qualität der Einzelbauwerke, die ideelle Spannung eines unverbundenen Miteinanders, eine fiktionsgeleitete historistische Assoziationsakkumulation, die aus den Vergnügungen des architektonischen Ausdrucks aggregativ ein städtisches Gesamtkunstwerk verschiedener Ideen und Interessen schuf, die Rede und Gegenrede pflegen, die ihre Kultur repräsentieren und diskutieren. Der Historismus an der Ringstraße ist gespannt, zielsicher, erwachsen. Mit die fähigsten Kräfte der mittleren historistischen Architektengeneration kamen zum Zug: Gottfried Semper, Theophil Hansen, Friedrich von Schmidt, Heinrich von Ferstel, das Büro Ferdinand Fellner und Hermann Helmer. Bramarbaseure, aber mit grandioser Anpassungsgewandtheit in der Wahl der stilistischen Identifikationsmittel für die sich hier, im späten habsburgischen Wien ausbreitende »Ringstraßengesellschaft« – einem Parfümstrudel aus altem Adel und bürgerlichen Industriellen und Bankiers. Eine architektonische Fantasterei, die, wie Hermann Bahr schrieb, als »Leistung […] staunenswert [ist]. Niemals hat sich Ohnmacht von einer so bezaubernden Anmut, Kühnheit und Würde gezeigt, […] niemals Nichtssagendes von einer so hinreißenden Beredsamkeit gewesen.«193 An der Ringstraße entstand die Baukunst für eine Gesellschaft, die sich zwar ästhetisch in der Vergangenheit vergrub, aber eigentlich nichts anderes liebte als sich selbst, ihre eigene Falschheit. Ihre Architekten entwickelten genau für dieses Leben und seine Beziehungen feines Verständnis und ließen die »elegante Verschwiegenheit und noble Zurückhaltung von Biedermeier und Vormärz – die im Wesentlichen auf obrigkeitliche Repressalien, Zensur und Spitzelwesen gegründet war – […] einem lauten, selbstbewussten, großartigen, mitunter großspurigen Duktus«194 weichen. Das meinte Gurlitt, als er hervorhob, dass all den unterschiedlichen Gebäuden, an denen der äußere Umfang der Baukunst des Historismus durchmessen ist, ein »neuwienerischer Oberstil« gemeinsam ist: »Kein Mensch ist vor Hansens Hellenistik, Schmidts Gotik und Ferstels Renaissance, vor diesen Wiedererweckungen von zwei Jahrtausenden Baugeschichte einen Augenblick in Zweifel, daß das Altertümliche im Grunde nur ein äußerlicher Schmuck und daß das Wienerische der starke, entscheidende Teil in diesen Bauten ist.«195 1857 hatte Kaiser Franz Joseph I. gegen den Widerstand der Militärs, die sich lange gegen eine Entfestigung Wiens sträubten, veranlasst, die militärtechnisch veralteten Basteien der mittelalterlichen Stadtmauer schleifen zu lassen und auf dem der Stadtbefestigung vorgelagerten, unbebauten Glacis einen annähernd kreisförmigen Repräsentationsboulevard mit fünf Kilometern Gesamtlänge zu errichten, der die bereits zum 192 193
Sedlmayr: 1956, S. 57 Bahr, Hermann: »Die Ringstraße«, in: Gotthart Wunberg (Hg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart: Reclam 1981, S. 108 194 Nierhaus, Andreas: »Schauplatz, Bühne, Kulisse. Inszenierungen der Ringstraßengesellschaft«, in: Alfred Fogarassy (Hg.), Die Wiener Ringstraße. Das Buch, Ostfildern: Hatje Cantz 2014, S. 188 195 Gurlitt: 1969, S. 102-104
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Äußersten verdichtete Innere Stadt an die Vorstädte anschließt und die Reichshauptstadt zu einer modernen Metropole erhebt. Nirgends tritt einem derart ins Bewusstsein wie an der 1865 eröffneten Ringstraße, dass Wien im 19. Jahrhundert eine Weltstadt war. In die papierhellen Steinfassaden der Palais übertrug sich der steigende Reichtum der großbürgerlichen »Ringstraßengesellschaft«, die zu einem guten Teil, beinahe zur Hälfte, assimilierte Juden waren. Es übertrug sich zunehmende Wichtigkeit des bürgerlichen Liberalismus, der nach der niedergeworfenen Revolution von 1848 zwar durch den habsburgischen Neoabsolutismus zunächst ausgeschalten wurde, in den 1860ern jedoch nicht unbedeutende politische Einflussgewinne erringen konnte.196 Die Ringstraßenpalais, unter denen die Entwürfe Theophil Hansens wie das Palais Ephrussi und das Palais Erzherzog Wilhelm herausragen, gerieten üppig, aber gut verdaulich, sie verrieten ebenso viel über die machtpsychologischen Verhältnissen wie die repräsentative Staatsarchitektur dieser Via Triumphalis, bei der sich das veränderte Gesellschaftsbewusstsein in den unterschiedlichen Autoritätssymbolen eines äquibrilistischen Stilpluralismus wiederfand. Die stilistisch identifizierte Architektur der Staatsbauten bietet, wie Karl E. Schorske schrieb, ein verdichtetes »Beispiel für den Pluralismus von Baustilen und dessen ideelle Bedeutung.« Reichsrat, Rathaus, Universität und Burgtheater »bilden zusammen ein Viereck von Recht und Kultur. Wie in einer Windrose stellen sie das Wertesystem des [bürgerlichen] Liberalismus dar: die parlamentarische Regierung im Gebäude des Reichsrats, die städtische Selbstverwaltung im Rathaus, die höhere Bildung in der Universität und die Schauspielkunst im Burgtheater.«197 Den Reichsrat, das jetzige Parlament, entwarf Theophil Hansen, ein Philhellene, als einen greco-klassizistischen Tempel, der liberale Staatsgläubigkeit in der Architektur der griechischen Antike zum Ausdruck brachte und mit den Zivilitätsgarantien hellenischer Demokratie verband. Beim Rathaus, mit dem Friedrich von Schmidt der Neugotik einen großen Sieg bescherte, verdeutlicht sich im komplex komponierten Geregelt- und Geordnetsein gotischer Stilprinzipien nicht nur »eine grosse und straffe Schöpfung, deren Wert weit über die Grenzen des Stilinteresses hinausreicht«198 , wie Muthesius würdigte, sondern bürgerliches Selbstbewusstsein. Denn die Gotik flämisch-brabantischer Rathäuser, die Schmidt bei den erhabenen, mit Nachmittagslicht gefüllten Maßwerkfassaden und fialenbeladenen Türmen zitierte, assoziierte man mit der Blüte des unabhängigen mittelalterlichen Städtebürgertums. Die Renaissancefassaden des Universitätsgebäudes von Heinrich von Ferstel wiederum inspirierte das Ideal einer humanistisch-renaissancistischen Italianität. Und der weitschweifige, feierliche Neobarock des Burgtheaters von Gottfried Semper und Carl von Hasenauer hatte Glanz und Kunstsinn des Wiener Theaterpublikums ästhetisch zu bespielen.
196 Da sich unter den Neureichen der »Ringstraßengesellschaft« viele jüdische Aufsteiger befanden, wurden die Ringstraßenbauten auch zu einer Artikulation gesellschaftlicher Integration: »In den Palais der Todesco, Ephrussi und Epstein glaubte man den Traum von Assimilation und Emanzipation verwirklicht zu sehen«; Prokop, Ursula: Wien. Aufbruch zur Metropole. Geschäfts- und Wohnhäuser der Innenstadt 1910-1914, Wien: Böhlau 1994, S. 24 197 Schorske, Karl E.: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siécle, Wien: Molden 1982, S. 61 198 Muthesius: 1902, S. 30
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Zugleich inszenierte das Haus Habsburg, dessen Macht längst im Ausglühen war, an der Ringstraße einen imperialen architektonischen Gegenzauber, der auf eine innere Bindung an das geistige Erbe des Absolutismus insistierte. Beim Kaiserforum, den spektakulären Erweiterungsbauten der Residenz, der Hofburg, fasste Gottfried Semper den habsburgischen Staatsgedanken in eine Imponierarchitektur aus Renaissance und Barock. Und beim einzigen Sakralbau der Stadterweiterung, der als »Denkmal der Vaterlandsliebe und der Verehrung des österreichischen Volkes für das Kaiserhaus« gestifteten Votivkirche, »mit deren Bau gefeiert wurde, daß der Kaiser der Kugel eines ungarischen nationalistischen Attentäters entging«199 , loderten die Feuer der untergehenden monarchischem Sonne in einer von einem verfeinerten Regelbewusstsein beherrschten Neugotik. Wobei die von Heinrich von Ferstel, »ein[em] Chamäleon selbst unter den politisch flexiblen Architekten seiner Zeit«200 , gezeichnete Nachbildung französischer Kathedralen gerade in ihrer stilimitierenden Präzision, der Detailschärfe, entrückt, artifiziell wirkt. Für das nur zum Teil fertiggestellte, da in der Ausführung an seinen riesigen Dimensionen scheiternde Kaiserforum, ein Ensemble aus Neuer Hofburg, Kunsthistorischen Museum und dem Naturhistorischen Museum, entwickelte ausgerechnet der Republikaner Gottfried Semper, dem die freiheits- und zukunftsfeindlichen Verkrustungen der Adelsherrschaft verhasst waren und der als Barrikadenkämpfer 1848 sein Wollen gezeigt hatte, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, einen Repräsentationsstil, der ganz der Autoritätshörigkeit gegenüber dem Kaiser zu dienen hatte. Der geistige Gestus, der Monumentalismus der Neuen Hofburg, korrespondierte freilich sehr wohl mit Sempers Temperament, auch wenn ihm bei den Planungen die Intrigen seines ambitionierten Mitarbeiters Hasenauer schließlich den Mut zerschlagen hatten. Die stadtästhetische Artifizialität der wahrzeichenhaften Ringstraße ist allerdings seit dem Ende der Donaumonarchie 1918 und der Degradierung Wiens zur Hauptstadt eines unmaßgeblichen Kleinstaates auch die eines nun unangemessenen architektonischen Aufwands. Die Größe ihrer Proportionen scheint seit dem politischen Bedeutungsverlust verloren, die Worte, die in ihr pochen, sind gegenüber dem kleinen, unerheblichen Österreich zu pompös. Wie die Rede vom »Wasserkopf Wien« wiedergibt, erscheint, in einer beißenden Bemerkung von Braunfels, »heute der Mantel für diese Stadtpersönlichkeit zu weit geschneidert. Das kaiserliche Repräsentationsprogramm war für die kleine Republik zu reichhaltig. Man bewegt sich in Räumen, die eine politische Vitalität nicht mehr anzufüllen vermag.«201 Diese unbeabsichtigte Artifizialitätswirkung einer gravitierenden städtischen Repräsentations- und Machtambition, die mit keiner politischen Geltung mehr korrespondiert, ließ für die zur Undifferenziertheit neigende Wahrnehmung des 20. Jahrhunderts die historistischen Darstellungsbemühungen architektursymbolisch ins Unscharfe schwappen. Ihm war das dann irgendwie alles eine Sauce, ein abgeschmacktes Spiel. Was leicht dazu führt, dass sich eine falsche und eine richtige Schlüsselaussage
199 Schorske: 1982, S. 55 200 Ebd., S. 65 201 Braunfels: 1977, S. 268
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über die Baukunst des 19. Jahrhundert überlagern. Die falsche, nur der eigenen nachlässigen Betrachtung geschuldeten Auffassung, hinter den unterschiedlichen stilistischen Angleichungen und Abweichungen der allesamt bildintensiven Architektursprachen des Ringstraßen-Historismus maskiere sich eine allgemeine Ununterscheidbarkeit der Fiktionen und der Affektivitäten, und die richtige Auffassung, die sich in der städtischen Gesamtheit der Ringstraße mustergültig bestätigt, nämlich dass »Bezeichnungen wie Neugotik, Neurenaissance oder Neubarock […] nicht drei verschiedene Stile [bedeuten], sondern nur drei Möglichkeiten der dekorativen Form innerhalb einer einheitlichen Kunstauffassung«202 .
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Die Freiheiten und Optionen des Eklektizismus
In der wohlmeinenden Grobdefinition bedeutete der Eklektizismus, der sich dem Deutungsmonopol der strengen Kopisten entgegensetzte, seinen Vertretern weder ein Fehlen stilistischer Sicherheit, ein Eingehen demolierter Kompromisse mit einer Kunstgeschichte, in der jeder Epochenstil einen geschlossenen Horizont definierte, noch eine feierliche künstlerische Beliebigkeit. Weder zwangsläufig eine Verneinung von Tradition noch zwangsläufig eine Verweigerung ästhetischer Synthesis. Der Begriff Eklektizismus, der in den 1840ern terminologisch in die Stildiskussion eingeführt wird und seitdem, wie Döhmer schreibt, mit »wechselnden Epitheta ornantia – ›gedankenlos‹, ›geistlos‹, ›fatal‹ – […] in der Folge zur sprachlichen Ausstattung der Historismuskritik zählen«203 wird, wollte sich persönliche künstlerische Freiheiten erstreiten, indem er sich in freien Schwingungen zu den vielen verschiedenen Kunstepochen ergeht, wollte in der Losgebundenheit von der Einzelkonventionen der Zeitstile deren glückliche Erweiterung und Befreiung, indem er osmotisch neue Formmöglichkeiten in den widerspruchsreichen Beziehungen heterogener Teile entwickelt. Belebte die strengen Historisten, besonders die Neugotiker, die Entdeckungsvorstellung einer künstlerischen Objektivation, versuchten diese sich Geheimniszonen der Geschichte durch eine verfeinerte Reproduktionen öffnen, rezipierten die Eklektizisten, denen bei Konventionen nicht wohl zu sein schien, die Eignung der historischen Formenrepertoires ohne Inferioritätsempfinden. Sie begriffen die Epochengebundenheit einer jeden Kunst mit Blick auf den eigenen historischen Standpunkt und die eigene künstlerische Entfaltung, denn »[s]olange die Architekten ihre Gebäude innerhalb eines Baustils […] entwarfen, war das fertige Bauwerk immer auch eine Äußerung in Bezug auf diesen Stil: eine Interpretation, eine Modifizierung, eine Variation oder gar eine Abweichung.«204 Dies gilt auch für die episodischen, seriellen Eklektizisten, die von Werk zu Werk den Stil wechselten, jedoch die stilistische und methodologische Einheit des jeweiligen Einzelentwurfs beibehielten. Ihnen blieb das imitatorische Pflichtversäumnis weiterhin eine ästhetische Versagenskategorie. Die eigentlichen Eklektizisten jedoch re-
202 Lehmbruch/Halverson Schless: 1970, S. 21 203 Döhmer: 1976, S. 26 204 Fischer: 1987, S. 38
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gistrierten, meist ohne irgendwelche bewusste Opposition, dass sich der eigenen Zeit und eigenen Kunst mit einer stilistischen Selbstbegrenzung im Einzelentwurf nicht gerecht werden ließ, wo doch dessen Wesen Freiwilligkeit und Freiheit ist. Die Zeitstile sind ihnen Primordien für die eigenen Werke, für Fortsetzung und Konkretisierung der Historie durch die eigenen subjektiven Potenzen, durch ein Eröffnen von Beziehungen und Überblendungen in nicht herkömmlicher Weise. Die Eklektizisten beneideten frühere, reichere Zeiten nicht, sondern brachen die Geschichte in Stücke, indem sie die historischen Stile aufeinander beziehen, sie miteinander abhängig machen. Die Architekturhistorie wird bei ihnen im Detail zitiert, aber final entmächtigt, ihre Regeln durch für Puristen schimpfliche Verbindungen entweiht. Die Eklektizisten beginnen auf eigenen Kredit zu leben. Die Gebrochenheit und Beeinflusstheit eröffnet eine neue Sinnoffenheit eigengesetzlicher Bilder, jenseits der gebundenen Freiheit im Repertoire. Spannungen, Widersprüchlichkeiten und Gegensätze werden zu neuen Einheiten gebunden. Die Inauthentizitäten inakkurater Wiedergaben werden überspielt durch die Authentizitätsuggestionen einer vitalischen Künstlersubjektivität, durch die im Eklektizismus gesteigerten Formen künstlerischer Selbstständigkeit, die sich an den Intensitätsgraden der architektonischen Sprachidiosynkrasien, der individuellen künstlerischen Kristallisationen misst. Durch Individualitätsbetonungen des Einzelarchitekten und des Einzelbaus, die auch als Antwort auf die im Industriezeitalter beginnende Typisierung und Standardisierung des Bauens, der Kultur überhaupt, zu betrachten sind. Mit Odo Marquard dient sie als »Ästhetisierung« einer Kompensation, sie wird »spezifisch modern nötig und wirklich als Chancen, den Realitätsverlust, ohne den die modernen Versachlichungen nicht zu haben sind, […] durch Realitätsgewinne wettzumachen (zu kompensieren) […]: je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher wird das Ästhetische.«205 Selbstbewusste Eklektizismen persönlicher Entscheidung, die ihre Zeit aus der Borniertheit streng kopierter Vorbilder befreiten, entwickelten sich jedoch nicht nur aus einer bewussten Opposition gegen die festgesetzten Stilsemiotiken des Historismus, sondern ebenso aus kulturell bedingten Indifferenzen. Wie beispielsweise in der wirtschaftlichen und kulturellen Aufbruchstimmung des amerikanischen »Gilded Age«, in der einerseits die Industrie-Tycoons, die »robber barons« genannten Eisenbahnunternehmer, Stahlindustriellen und Börsenspekulanten, ihre neu erworbenen Reichtümer demonstrativ zur Schau stellten, andererseits sich das Bedürfnis nach einer künstlerisch eigenständigen Nationalkultur entwickelte, einer von dem europäischen Erbe emanzipierte, eine nationales Selbstvertrauen verbreitende »Americana«. Bevor die Beaux-Arts-Schule in den 1890ern eine künstlerische Hegemonialstellung in den Vereinigten Staaten einnehmen konnte, prädestinierte das kulturelle Klima des »Gilded Age« die amerikanischen Architekten dazu, mit den künstlerischen Mitteln zu experimentieren und eklektizistische Mischstile wie das Richardsonian Romanesque
205 Marquard: 1989, S. 9; »Es ist, als wolle die Architektur dieser Zeit gegen den aufkommenden Staatsbürokratismus und die Massengesellschaft die Einzelpersönlichkeit besonders betonen. […] Wie auf einem Kostümfest konnte man sich genau das Gewand von seinem Architekten schneidern lassen, das am besten dem Ehrgeiz des einzelnen, seinem Charakter oder sozialen Rang angepaßt war.«; Lehmbruch/Halverson Schless: 1970, S. 24
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zu kreieren – Henry Hobson Richardsons pittoreske, um subjektive Einfärbungen bereicherte Neuformulierung der Romanik der Auvergne des 11. und 12. Jahrhunderts, die sich mit dem begeisterten Kraftbewusstsein ihrer massigen, auf malerische Gesamtwirkungen ausgerichteten Kubaturen und ihrer rustikalen, ungebändigten Rustizierungen der Schwunglosigkeit des strengen Historismus entgegenstellte. Als eigenwilligster, unkonventionellster Eklektizist des »Gilded Age« trat Frank Furness aus Philadelphia hervor, dessen individualistischer Kunstsinn, auf Freiheit hinzudrängen und ungeahnte Dinge zu tun, auf der Idee einer architektonischen »Americana« nach eigenen Maßstäben gründete.206 Ein rebellischer Geist, dessen ernstes, tief empfundenes Werk einerseits vom Reichtum seiner stilistischen Erwerbnisse und seinem equilibristischen Repertoire lebt, seiner fantastisch ausgestatteten Begabung, Unterschiedliches zusammenzufügen und Unterschiede feinsinnig zu setzen, andererseits von der Passion, nichts Übliches, nichts Alltägliches zu schaffen. »The Furness oeuvre is bizarre and eccentric. He was an original, in the sense of a talent that takes the taste of his time and transforms it into an overwhelmingly personal expression.«207 Die ehrgeizigen, normverletzenden Überhebungen im Eklektizismus des Frank Furness entrissen Philadelphia, die von disziplinierter Züchtigkeit und religiöser Verstocktheit geformte Quäkerstadt, aus den unsichtbaren Händen ihrer Quäkertugenden der Einfachheit und Wahrhaftigkeit. Obgleich selbst Sohn eines hochgestellten Geistlichen, war Furness – ein Schüler von Richard Morris Hunt, den Biografen als einen Mann des Unfriedens, als eine mürrische, übellaunige Figur mit scharfen, durchdringenden Verstand, die sich der Welt nicht anpasste, beschreiben – mit seinem überschießenden Kunstbemühen für Philadelphia eine gegen ihre Erziehung gerichtete Architekturanmaßung, die der schlichten Unschuld und den schweigenden Leidenschaften seiner Vaterstadt Gewalt antat: »Furness gave shape to Victorian Philadelphia. His were among the most boisterous and challenging buildings in an age and noted for aggressive architecture.«208 Ihr rasantes Wachstum zur Millionenstadt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hatte Philadelphia zu einer Kapitale des pittoresken Historismus gemacht, in den 1870ern, als Furness seine Architektenlaufbahn begann, zusätzlich erhitzt durch die 1876 zum Hundertjahrjubiläum der Unabhängigkeitserklärung veranstaltete Centennial Exposition, die erste Weltausstellung, die in den Vereinigten Staaten stattfand.209 Im Glanz des 170 Meter hohen Turms, der aus John McArthurs neobarocker Philadelphia 206 »Furness believed that he was doing no more and no less than developing a modern American architecture out of the elemental forces of the American experience. […] Furness’s buildings are unmistakably the product of American culture, materials, and intentions.«; Thomas, George E.: »Frank Furness: The Flowering of an American Architecture«, in: ders./Jeffrey A. Cohen/Michael J. Lewis (Hg.), Frank Furness. The Complete Works, New York: Princeton Architectural Press 1996, S. 14 207 Huxtable: 1986, S. 101 208 O’Gorman: 1973, S. 15 209 Die Centennial Exposition leitete jedoch zugleich bereits die Wende hin zum Klassizismus der Beaux-Arts-Schule ein: »the Centennial Exhibition was not an affirmation of a bright and creative future but instead was the beginning of the end of the American generation, which would soon be overwhelmed by the display of Europe’s treasures and the sophistication of Beaux-Arts training.«; Thomas: 1996, S. 37
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City Hall herauswächst, einem Prunkbau im Stil des französischen Second Empire, entwarf Furness seine ästhetisch raffinierten, pflichtwidrigen Gebäude, die mit ihren unverständlichen Manieren, ihren übersubtilen Assoziationen und Analogien einen düstere, subversive Kraft gegenüber den Gemeinplätzen des viktorianischen Historismus entfalteten. Die Inauthentizitätswirkungen, die durch Furness’ Architektur blitzen, sind untypisch, da sie durch die architektonischen Qualitätszeichen seiner kreativen Genialität, die gerichteten Willensinhalte seiner künstlerischen Autorschaft, nicht hintertrieben werden. Im Gegenteil, Furness’ eigenwilliger Eklektizismus lässt die immanenten Inauthentizitäten der viktorianischen Geschichtszitate gerade dadurch aufstrahlen, dass er sich unerlaubte Absichten gestattet, übertreibt, persifliert. Es ist eine Architektur der Einbildungskraft, der Eigenmächtigkeit und des Einfallsreichtums, die zwar ältere ästhetische Entscheidungen wiedergibt, aber mit gedanklicher Spannung in ein sinnhaft zusammengefügtes, idiosynkratisches Eigenes verwandelt, impulsiv und brillant. Ada Louise Huxtable: »Turrets, textures, polychromy, rounded and pointed arches, mansarded aad decorated pavilions, dwarf columns, diapered brick patterns, strangely placed windows, warped levels and fulsome ornament were combined in compositions of almost volcanic intensity. Deliberate oddities of arrangement and scale created explosive visual pressures. This is not the naive ›bad taste‹ that has been so simplistically disdained by later generations; it is a deliberately manneristic style that richly rewards the informed eye.«210 Furness‹ Hauptwerk ist die früh in seiner Karriere, zwischen 1871 und 1876 mit seinem Büropartner George Hewitt errichtete Pennsylvania Academy of the Fine Arts, ein rätselhaftes, kunstvolles Ganzes, das in appetitlichen Details die von Ruskin popularisierte venezianische Gotik zeigt. Weil es aber ein Gebäude ist, das selbst in die Verführungskunst der Lüge eingeführt ist, in jedem Stein von seiner Gemachtheit weiß, scheint es die mit Ruskins Idealismus unvereinbare Maxime zu betreiben, dass Abweichungen vom Schema zuallererst in der Überbietung zulässig sind.211 Den inwendigen Genius von Furness demonstrieren Esprit und Anspielungsreichtum der dramatischen Hauptfassade, die auf dem mit einem gotisch-spitzbogigen Maßwerkfenster überhöhten Eingangsportal des Mittelrisalits zuläuft und durch Reliefszenen, plastische Friese und eindeutig dem Dogenpalast zuordenbarer Ornamentik wie einer Zinnenkrone und Rautendekor zergliedert wird. Rote Putzfelder, die mit dunkelgrauem Bossenwerk und hellem Sandstein kontrastieren, zeigen Furness’ überlegenen Farbsinn, der sich auch 210 Huxtable: 1986, S. 101 211 Jeffrey A. Cohen hebt einen wesentlichen Widerspruch zu Ruskins Lehre hervor, wenn er auf die Steinmetzarbeiten verweist, die Furness bei seinen Fassaden bewusst scharfkantig und repetitiv erscheinen ließ: »the hard-edged incision that Furness sometimes favored also implied not the variability of the sculptor’s handwork, but the precision of the machine, especially where the line or pattern was rigid and uniform rather than modulated and freely curved. There was a sense of modernity in repetition that implied the machine’s power to multiply, a subtle imagery embraced even in handwork.«; Cohen, Jeffrey A.: »Styles and Motives in the Architecture of Frank Furness«, in: George E. Thomas/ders./Michael J. Lewis (Hg.), Frank Furness. The Complete Works, New York: Princeton Architectural Press 1996, S. 109
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in der überwältigenden Galerie des glasüberdachten Stiegenhauses manifestiert – »one of the most impressive spaces of American architecture of any period«212 , bei dem sich über gotischen Spitzbogen rautenförmig ausgebreitete goldene Flachreliefs mit Blumenmotiv auf rotem Hintergrund und ein satter blauer Sternenhimmel erheben. Ist das einzige in seiner Kunstgröße vergleichbare historistische Meisterwerk Philadelphias, James Windrims Masonic Temple der Grand Lodge of Pennsylvania, der hinter sich seinem kirchenartigen normannischen Äußeren durch den Katalog der Architekturgeschichte bemüht und mit seinen renaissancistischen, byzantinischen, gotischen, römischen und ägyptischen Logensälen ein magisches falsches Spiel betreibt, ein Glanzpunkt serieller eklektizistischer Stilimitation, ist die Pennsylvania Academy of the Fine Arts ein Höhepunkt stilvermengender Weiterformung. Der Entwurf war wichtig, weil Furness damit einige Schritte weiter in seine eigene Richtung tun konnte. Seine weiteren Planungen für Bankinstitute in Philadelphia, die leider fast alle nicht mehr erhalten sind, waren zwar unterschiedlich gut gelungen, zeigten aber allesamt seine prinzipielle Eigenwilligkeit in der stilistischen Ideenverbindung, die die Sinne entzückte und die Einbildungskraft erregte: »Furness’s designs became progressively more contrary, reversing every norm just for the shock value. […] Often having no deeper purpose than simply to call attention to itself in the commercial strip, its character depended more on attracting attention than on being attractive. In short, die more wrong it was, the better.«213 Etwa die zwischen 1875 fertiggestellte Guarantee Trust and Safe Deposit Company, die 1958 abgerissen wurde. Moduliert und erneut in einem Modus optischer Überreizung kehren bei ihrer Doppelturmfront die neugotischen Ornamentierungen der Pennsylvania Academy of the Fine Arts wieder: die Zinnenkrone, die Friese, hier mit stilistischer Fertigkeit zu Blendarkaden arrangierte Spitzbögen, ebenso die Polychromie von rotem Ziegel und weißem Sandstein. Die Stilvermengung ist wiederum bestimmt von vielfältigen Beziehungen der Details zueinander, lässt sich allerdings bei der Guarantee Trust and Safe Deposit Company weit weniger in die eigene Epoche eingrenzen. Furness’ Fantasie wird mächtiger, einzelgängerischer in Fragen des Takts und des Geschmacks.214 Noch irritierender geriet Furness’ Widerspruchsgeist die 1879 fertiggestellte Provident Life & Trust Company. Das in Philadelphia Anlass zu Missverständnissen gebende Bankgebäude begriff Eklektizismus endgültig nicht mehr lediglich als einen geheimen Ort einer Versöhnung heterogener Formordnungen, sondern als willentliche Missachtung architektonischer Wichtigkeitshierarchien durch ungleichgewichtige Verfremdungen, ungereimte Verflechtungen und unorthodoxe Bedeutungsentlehnungen. O’Gorman ist beizupflichten, das 1959 abgerissene Gebäude der Provident Life & Trust Company ist mit seinen freigeschöpften Ideen »without doubt Furness’s masterpiece at 212 O’Gorman: 1973, S. 37 213 Thomas: 1996, S. 46 214 Wie O’Gorman bemerkte, hinterlief Furness zudem die verbreitete historistische Konvention, durch Polychromie die strukturelle Dynamik des Wandaufbaus darzustellen: »Furness caricatured this practice. Here large windows to right and left of the main portal were pinched in at the imposts, then skewed back, as if the huge, blocky, smooth-dressed Ohio stones were being forced by the light brick walls in upon the void created by the arch they are supposed to support. Such histrionics were a fundamental part of Furness’s architecture«; O’Gorman: 1973, S. 39-41
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a small scale. […] [N]o specific precedents outside of Furness’s own past can be itemized here. This was a personal building, yet thoroughly American too. It was as irreverent and exaggerated as the contemporary humor of Mark Twain. The Provident represented the culmination of the development of Furness’s genius«215 . Mit der Provident Life & Trust Company ging Furness in der Hervorbringung seiner Ideen am weitesten. Ein ungewöhnlicher zum Turm überhöhter, vorspringende Erker, der mit seiner Schwere alles unter ihm zu stauchen scheint, und die allein aus der Tiefe seiner Gedanken entsprungenen Massierungen und Details verlangen nach Aufmerksamkeit. Sie wirken übergriffig, ihnen haftet Archaik, ein dunkler Sinn an: »Overweight details come together with a violent crunch the entrance, forcing the columns into stumps. The segmental arch above the entry struggied against the rest of the fagade to maintain a passage into the interior. The visitor rushed beneath the overhanging cliffs of chunky masonry«216 . Furness’ letztes großes Werk sollte die zwischen 1888 und 1891 errichtete Bibliothek der University of Pennsylvania werden, das Fischer Fine Arts Building. Lebendigkeit und Begehren der Bilder entstehen in der Zeichnung der Hauptlinien, der Massengliederung und Fassadenverzierung des kathedralenartigen Baus, der im erregten monochromen Leuchten roten Sandsteins, Ziegels und Terrakottas einen morosen zinnenbekrönten Turm mit neugotischem Fenstermaßwerk und einen apsisartigen, mit Wimpergen durchgezeichneten Seitenflügel für den mit seinen massigen steinbelegten Arkaden sakral wirkenden Hauptlesesaal ausbildet. Danach kam Furness außer Tritt. Spätere Entwürfe wie seine Erweiterung des Zentralbahnhofs von Philadelphia, die Broad Street Station, fertiggestellt 1893, abgerissen 1953, imponierten eigentlich nur mehr mit ihrer Brachialität. Sein Eklektizismus entpersönlichte, verlor sich in den freien Zuordnungsmöglichkeiten. Lediglich der opulente neugotische Eckturm der Broad Street Station, den er mit fialen- und krabbengeschmückten Wimpergen überbestückte, erreicht noch die für Furness’ Meisterwerke typische Konzentriertheit. Bei vielen seiner späten Arbeiten, mit denen er sich keinen Gefallen tat, war Furness, dessen Autorität der Beaux-Arts-Akademismus bereits angekratzt hatte, nicht mehr in der Lage, die Eindrücke des Fantastischen und des Übertriebenen, die seine Bauwerke auszeichnen, durch seine kreative Genialität zusammenzuhalten. Man kann zwar nicht behaupten, dass sein Blut ruhiger geworden wäre, aber Furness, der bei all seiner Unbeirrbarkeit spürte, dass er nun abseits war, dass er aus der Zeit ging, wusste seine Mittel nicht mehr so energisch einzusetzen. »For a time Furness restored Philadelphia to architectural prominence, but by characteristically nineteenth-century means: the use of style as a vehicle of personal expression. Such a method worked best in small- or medium-sized buildings, epics on twenty-five foot
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Ebd., S. 45 Ebd., S. 44; Furness versuchte wiederholt, durch die Massenwirkungen wuchtiger steinerner Bauteile ein dynamisches Stauchen zu suggerieren. Allgemein behandelte er Stein »with a breadth and mass and resistance to superficial carving that made it seem monumental, heavy, and permanent. On occasion it treated as a linear or planar member, but much more often stone enjoyed a threedimensional fullness. Its ideal state was the block. It was a serious material, the one assigned the most important rhetorical roles and the most demanding structural responsibilities.«; Cohen: 1996, S. 111
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lots; towards the end of his career, when faced with taller and bigger buildings, Furness often stumbled.«217 Der Erfolg, den Furness bis in die 1890er genoss, beweist jedoch, dass er von seinen Zeitgenossen keineswegs als ein unzugehöriger, sich in seiner Exzentrik selbst verbrennender Sonderling erlebt wurde. Seine Klienten, zum Großteil Vertreter einer progressiven Reformbewegung, die sich den Geschäftemachereien, Intrigen und Affären der Republikanischen Parteimaschinerie von Philadelphia in einem Geist politischer Ehrlichkeit und Integrität entgegenstellten, sahen in ihm, seinem Konventionensprengen, seiner expressiven Erregtheit, neue Formen hervorzutreiben, vielmehr ihre freistrebende Zeit verwirklicht – eine Architektur des Muts und der Authentizität, in der sich, wie George E. Thomas unterstreicht, im roten Ziegel eine gewisse Tiefe von Verweisungen auf die Revolutionszeit auftat: »Local red pressed brick or fieldstone […] linked Furness’s designs to the earlier regional Quaker architecture. Like these older buildings, Furness’ architecture was of true load-bearing masonry, not the thin marble revetments of the scandal-plagued City Hall.«218 Furness’ Erfolg zeigte sich weiter darin, dass sein in der Fremdzuschreibung dreister, verschrobener Eklektizismus vom Zeitgeiststreben nicht weniger Architekten aufgegriffen wurde. Spektakuläre Wahrzeichen des viktorianischen Philadelphia eiferten ihm in der Anhäufung unambivalent diskordanter Details, und auch in der Verstiegenheit einzelner Lieblingsprägungen wie seinen fragmentierten, gebänderten Blendsäulen, nach. Das mit kegelförmigen Turmspitzen und Renaissancegiebeln versehene Walton Hotel von Angus Wade oder die Hauptwerke von Willis G. Hale, das Hale Building, eine Vermengung von Neorenaissance und Richardsonian Romanesque, durch die sich ein pittoresker rustizierter Burgenturm zieht, und das Philadelphia Record Building mit seinem filialenverzierten Turmaufbau sind idolverhangene Nachahmungen – »Hale’s own distinctive style was assembled, mixing baroque spatial effects with Victorian Gothic surface detail, the whole of it heavily inspired by Furness’s mannerisms.«219 . Nach 1890 hat Amerika diesen Ausnahmearchitekten allerdings fallengelassen, über sein kontinuiertes Werk von großer Eigenheit als Kuriosum eines versponnenen Eigen-
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Lewis, Michael J.: »Furness and the Arc of Fame«, in: George E. Thomas/Jeffrey A. Cohen/ders. (Hg.), Frank Furness. The Complete Works, New York: Princeton Architectural Press 1996, S. 136 Thomas, George E.: »Frank Furness‹ Red City: Patronage of Reform«, in: ders./Jeffrey A. Cohen/Michael J. Lewis (Hg.), Frank Furness. The Complete Works, New York: Princeton Architectural Press 1996, S. 70; »Confronted by the ongoing evidence of Republican corruption in the rising hulk of City Hall, Philadelphia reformers sought a distinctive image to represent what they perceived as receding values of honesty and individual responsibility. Frank Furness […] provided the distinctive reform image in an original architecture whose red brick surfaces recalled the old landmarks of Revolutionary Philadelphia. […] Transcending fashion, Frank Furness’s red buildings became the emblem of Whig Philadelphia’s progressive cultural, social, and municipal reform.«; ebd., S. 57 Lewis: 1996, S. 128; Michael J. Lewis betont freilich zu Recht die weit höhere entwerferische Komplexität bei Furness: »Hale’s later fate was exemplary for the followers of Furness. For them, style was an affair of spectacular massing, audacious surfaces, and whimsical detail. In the manufacture of these picturesque vignettes the best architects […] could match Furness crocket for crocket. But architectural form, as Furness learned it, was not an affair of surfaces but of the disposition of masses according to a rational plan. This, the legacy of his term with Hunt, was his hidden strength: Furness had learned a method of designing, not a style.«; ebd., S. 128
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brötlers hinweggesehen. Die Beaux-Arts-Schule verstand nicht, wie man diesen Mann anpacken muss, wusste mit seiner bis zur Verwegenheit gesteigerten Eklektik nichts anzufangen. Und erst recht schändlich behandelt haben ihn die Abrissbirnen des 20. Jahrhunderts: »More than half of Furness’s Philadelphia buildings have been destroyed, and much of the rest of his legacy has been severely mutilated. No architect has risen to higher favor in his own time or plunged to greater depths of rejection in later years.«220 Ein anderer historistischer Architekturvirtuose, dessen romantischer Eklektizismus die zitierten geschichtlichen Stile nicht um ihr Eigenes zu brachte und zugleich, ohne die verwendeten Formen einzufloskeln, zu Köstlichkeiten des Pompösen weitertrieb, übertrieb, war der Italiener Gino Coppedé. Ein erzählstarker Mystagoge der mittelalterlichen italienischen Baukunst, der in geschraubter Diktion absichtlich und unabsichtlich über die Binnenspannungen seiner verschmuckten Details interessante architektonische Kräfte des Inauthentischen zur Entfaltung brachte. Die den Späthistorismus vielfach angelastete mangelnde Durchblutung, ein beliebiges Arrangieren liegengebliebener Ware, kann man dem preziösen Eklektizisten Coppedé keinen Moment vorwerfen. Er bewies in der Zitation zwar Traditionsverbundenheit, aber seinem Geschmack haftete eine Überfeinerung an, die ihn die reichentfaltete mittelalterliche Kultur Italiens in pathetischen, überdüngten Phrasierungen allegorisch-fantastisch dramatisieren ließ. Indem ihn sein Schaffenswille fast unumgänglich in Übertriebenheit stürzte, erlangten seine Gebäude eine für die geglückten Augenblicke des Späthistorismus typische innere Dramaturgie hyperbolischer Stilisierung, die eine tückische Dialektik des Inauthentischen und Artifiziellen entfaltete. Die Architekturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts hat dieses Ausnahmephänomen des Späthistorismus natürlich marginalisiert. Man glaubte in der Schwülstigkeit dieser traditionstrunkenen architektonischen Halluzinationen den Ausbruch eines Wahnsinns zu fühlen, die Unaufrichtigkeit und Dekadenz der eitelkeitsbessenenen Gesellschaft des Fin de Siécle. Zu den unüberwindlichen Bewusstseinsklüften gegenüber der Moderne wirkte strafverschärfend für die Beurteilung Coppedès, dass sein Hauptwerk, das ab 1915 gebaute, später nach ihm benannte Quartiere Coppedè, ein kleiner Stadtteil im Norden Roms, auf den er viele Jahre verwendete, bereits in die ausgeglühte Luft des Neoklassizismus und des italienischen Razionalismo fiel. In die Umbruchjahre einer Entsühnung, die einen allgemeinen Gelüsteschwund für architektonische Stilisierung einleiteten. Bei der Fertigstellung des Quartiere Coppedè 1926 herrschte bereits der Faschismus. Der Zug für den Historismus war längst abgefahren, und so erscheint Coppedé wie ein Zeitfremdling, der für eine längst im Untergang begriffene Architektur Aufschub erbittet. Wie einer, der, das historische Prinzip gegen sich, unbeeindruckt der Erstorbenheit der überlieferten Formen trotzt. Viele, nicht nur Modernisten, die sich weigerten, solch schwere Speisen zu verzehren, hielten und halten dieses verspätete Gesamtkunstwerk historistischer Repräsentationsarchitektur, das das Quartiere Coppedè ist, für flach, für Kitsch. Es liefert mit seiner Vielfalt stilistischer Sinngebungen jedoch ein so weites Feld undurchsichtiger Begebenheiten, soviel Eigenenergie in den Stimmungswirkungen der mitvibrierenden erratischen Geschichtsmythen, dass man Coppedè Dinge verzeiht, die man anderen 220 Huxtable: 1986, S. 99
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nicht verzeiht. Auch, weil man sieht, dass hier kein Leichtfertiger versuchte, mit seinen Bauten symbolischen Grund zu berühren, sondern ein Architekt mit einem fixierenden künstlerischen Blick. Der Ton von Coppedès Eklektizismus ist gelöst, doch nichts war weniger seine Absicht, als mit augenzwinkernder Masche eine vergnügliche Architektur zu erschaffen, hinter die Einsichten zurückzufallen, die er verbreiten wollte. Das Quartiere Coppedè ist eine exzessiv eklektizistische und romantisch wirre Erscheinung, die einen mit ihrem glühenden italienischen Blut bereits an den Eingangsgebäuden des Stadtviertels eine bedrängende Begrüßung gibt. Zwei pittoresk betürmte Palazzi, denen die überladenen Erinnerungen an die toskanische Renaissance und den römischen Barock durcheinandergeraten sind, sind über einen mit dem MediciWappen verzierten Torbogen, der die Eingangsstraße ins Viertel überspannt, zu einem mit Maskeronen, Friesen, Balkonen, Girlanden, Wappen, Reliefs und rustizierten Mauerwerk verzierten Ensemble verbunden, »das sich in jedem Detail selbst übertreffen will.« Unter zwei toskanisch gehaltenen Türmen »wimmelt es von Löwenköpfen, Medusen, Widderreliefs. […] Putten, Feen und Engeln. Ein Schwarm Bienen krabbelt zwischen grob geschlagenen Steinquadern die Fassade empor. Versteinerte natürlich, die Insekten treten auf der Stelle.«221 Am zentralen Platz des Quartiers, in das Gino Coppedè selbst einzog, sammeln sich um einen barockisierten Springbrunnen, den Fontana delle Rane, die auffälligsten Einzelbauten des Viertels: der Palazzo del Ragno und die Villino delle Fate, die unter gesamt neun Palazzi und dreizehn Villen, die hier die exklusiven Gelüste eines großbürgerlichen Klientel stillten, herausstechen. Der Palazzo del Ragno verwirbelt Bilder des toskanischen Mittelalters. Er zeigt pittoresk rustiziertes Mauerwerk, eingedunkelte Fassadenmalerei am zentralen Erker des Eckbaus, und ein Spinnenrelief über der Eingangstür, »als Namensgeber […] das auffälligste Element einer ganzen Serie von grotesken Dekorationen, die mit einem dichten Gewimmel aus Löwen, diabolischen Ungeheuern und Drachen die Gebäudefassade schmücken.«222 Die Villino delle Fate retirieren in mittelalterliche Latifundien-Architektur. Die dekorativen Erker, Loggien und Vordächer bilden in ihrer hellen Erscheinung florentinischer Einflüsse einen ultimativen historistischen Italienüberschwang, gleichermaßen extravagant und heimattriefend in der Rustikalität der zusammenhänglichen Details, der ins Gedächtnis gerufenen mediävalen Bedeutungsanreicherungen wie den in Rot-, Gold- und Blautönen gehaltenen historisierenden Fassadenmalereien, den Erkerüberdachungen und schmiedeeisernen Fackelhaltern. Unter den Bauten Coppedès sind die Villino delle Fate eine Ausnahme. Sie sind nicht sein wichtigster Entwurf, jedoch einer seiner schönsten, leichtesten. Das Gefühl nimmt einen für sie ein, weil es ihnen gelingt, all diese Zeichen, die sich der Fassbarkeit eigentlich entziehen, anmutungshaft in eine »bizarre Architektursprache [zu arrangieren], die dem Ungestüm und dem kraftvollen Klang seines toskanischen Dialekts des ungewöhnlichen und äußerst eigenständigen Architekten entspricht: Die Villino delle Fate ist ein phantastisches, ein übertriebenes, ein symbolisierendes, ein hysterisches, ein heiteres Bauwerk.«223
221 van Rossem, Jan: »Das ›Quartiere Coppedè‹ in Rom«, in: Architektur & Wohnen, 04/2009 222 Ruisinger, Dominik: »Das Wunderreich des Gino Coppedè«, in: Die Zeit, 36/1996 223 van Rossem: 2009
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Dieses Urteil gilt auch für das erste Meisterwerk Coppedès, das Castello Mackenzie in Genua. Eine durch ihre stilisierten Übertreibungen in glücklichen Wahnsinn geratene scheinmittelalterliche Burg mit einem nachgeahmten Geschlechterturm, der eine schlagende Ähnlichkeit mit dem Torre di Arnolfo des Palazzo Vecchio in Coppedès Heimatstadt Florenz aufweist. Der unverwechselbare zinnenbekranzte Festungsbau mit pittoresken freien Treppenaufgängen, Galerien, Balkonen und Türmchen, für einen schottischstämmigen Bankier ab 1896 auffällig in die Hügelzüge über Genua platziert, zeigte Coppedé bereits als einen König höherer Reiche eklektizistischer Verdichtungen und Verschiebungen. Im Castello Mackenzie manifestiert sich bereits die einmalige eskapistische Meisterschaft dieses Späthistoristen. Nur das 1905, bei der Fertigstellung, dieser zur Überschwänglichkeit neigenden architektonischen Flucht ins Unwirkliche noch nicht das Stigma künstlerischer Rückschrittlichkeit anhaftete. Die in selbst eingekapselte eklektizistische Scheinwelt des Castello Mackenzie wurde nicht als Realitäts- und Zeitverneinung eines schrulligen Außenseitertums begriffen, sondern ermöglichte Coppedè im Gegenteil den Eintritt in ein von ihm begeistertes großbürgerliches Milieu. Über das repräsentationsmächtige Castello Mackenzie fanden er und sein Bruder Adolpho Coppedè, der in diesem Fahrwasser in Mailand das teilweise routinisierte, teilweise vergröberte, jedoch zweifellos ebenso pompös eklektizistische Castello Cova errichtete, zu ihrem Bauherrenklientel: die bürgerlichen Bankiers und Industriellen Genuas, die sich mit historisiertem Prunk habituell Einlass in die aristokratischen Kreise zu verschaffen versuchten. Für das Aufsteigertum des genuesischen Fin de Siécle gaben auffallende burgenartige Villenbauten wie das Castello Bruzzo oder das Castello Türke, die Coppedè fast wie Selbstplagiate in die Rivieralandschaft ausbreitete, glänzende Visitenkarten ab. Der geistige Reiz dieser mit viel äußerem Aufwand hergestellten Architektursprache liegt dann, wie es für den gesamten Historismus typisch ist, auch gerade in der angelegentlichen gesellschaftlichen Selbstaffirmation des spätbürgerlichen Milieus über eine aufgetakelte Historie (– man muss es nicht Selbstbetrug nennen). Gerade die Künstlichkeit und Inauthentizität des Castello Mackenzie macht die eigentliche Qualität dieser späthistoristischen Zuspitzungsarbeit aus, die speziell in den Details Coppedès eifrig beschäftigte, traumwandlerische Begabung verrät, der Geschichte abgeschaute Stilpartikel zu einer unbändigen Architektur zusammenpulsieren zu lassen, deren Beschwingungen einen erfassen. Man wird von Schwindel ergriffen. Unterhalb des in den Himmel ragenden Torre di Arnolfo zeigt der von festungsartigen Mauer- und Turmpartien flankierte Palazzo, mit hintergründiger Intelligenz und Raffinement griffig und üppig detailliert, paarweise Renaissancefenster mit Säulenund Pilastereinfassungen, barocke Erkerkragsteine, Blattwerkfriese, Bossenwerk und Schwalbenschwanzzinnen. Das meiste verbleibt zwar stilistisch im verbürgten Rahmen, seine Kraft der Evokation erlangt das Castello Mackenzie aber gerade durch die nur halb beabsichtigte Artifizialisierung der eigenen Täuschungskünste. Erst durch die Übertreibung beginnt die Energie von Coppedès Eklektizismus zu fließen. Nichts bleibt im Ungefähren, und natürlich kann niemand behaupten, dass hier keine einzige der übernommenen historischen Verpflichtungen gebrochen wird. Speziell beim üppigen Inneren des Castello Mackenzie, bei dem sich der Architekt abermals als Intensivtäter historisierender Anspielungen auszeichnet und die Übertragungen beträchtliche Ver-
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wicklungsgrade erreichen, Schloss Neuschwanstein oder dem Hearst Castle in der Fülle des geschichtlichen Zitatenschatzes nicht unähnlich. Vergleichbar ist diese unnachahmlich verspielte und detailverliebte Stilvermischung von Gino Coppedès Eklektizismus noch am ehesten mit einigen Meisterwerken des Modernismo Valenciano, der regionalen Sonderform des Jugendstils im spanischen Valencia, bei dem jugendstilistisch behauchte Späthistoristen wie Francisco Mora Berenguer (Palacio de la Exposición de Valencia), José María Manuel Cortina Pérez (Edifici Cortina I) oder Javier Goerlich Lleó (Banco de Valencia) eine applikative Überspanntheit des geschichtlichen Zierrats zum Stil erhoben. Und mit den im gesamtkünstlerischen Geist des Jugendstils überschwänglich verzierten Fassadenentwürfen Mihails Eizenšteins’ an der Alberta iela und Elizabetes iela in Riga. Ähnlich wie bei Eizenšteins, dem fantastischsten der vielen fantastischen Fin de Siécle-Architekten, die die baltische Hansestadt Riga nach 1900 in eine flirrende Architekturhauptstadt der Jahrhundertwende verwandelten, kennzeichnet Coppedès sentenziös versponnene Ornamentvolten eine eklektizistische Desinvolture, die man als Inauthentizität und Unwirklichkeit erfährt. In der italienischen Architektengeneration des Stile Liberty leiten Ernesto Basile (Villino Florio in Palermo) und Giulio Ulisse Arata (Palazzo Berri-Meregalli in Mailand) mit eklektizistischen Entwürfen die heißeste Phase historistischer Inauthentizitätswirkungen ein: die seiner Spätstile. Zwei der bedeutendsten Meisterwerke des Stile Liberty, das Casino und das Grandhotel im kleinen lombardischen Kurort San Pellegrino Terme im Brembana Tal nördlich von Bergamo, steigern diese bis zur Unwirklichkeit. Denn ihre neobarocke Massierung und die Geziertheit der jugendstilistischen Details erlangen allein durch ihre Lage in einer zwar für ihr Mineralwasser berühmten, aber abseitigen Talschlucht eine unverhältnismäßige Überwältigungskraft. Einen faszinierenden Unwirklichkeitsanschein erzielen diese späten Glanzleistungen historistischer Bäderarchitektur, die beide von Romolo Squadrelli entworfen wurden, in den unterschiedlichen Verknüpfungen mit nahen und fernen Betrachtern. Das wuchtige Grandhotel, das langgestreckt am steinigen Gebirgsflusslauf des Brembo lagert, und das erhaben auf einer Hügelkuppe platzierte frühere Casino wirken im landschaftlichen Panorama durch ihre Übermächtigkeit artifiziell, aus der Nähe aufgrund der unerwarteten Weltläufigkeit der reichen, filigranen Prunkfassaden. Squadrellis Architektur erlangt ihre Unmissverständlichkeit allein durch eine luxurierende Überstimulierung, die kein Mittel ungenützt lässt, um zu imponieren. Um die fein betuchten Menschen der gehobenen Kreise, die San Pellegrino Terme in seiner Blütezeit im frühen 20. Jahrhundert frequentierten, spektakulär zu empfangen, zeigt das Casino in freibeschwingter Gestik aus dem Neobarock weiterentwickelte eklektizistische Ideen, bei denen Ernst und Operette eng beieinander liegen. Eingefasst in zwei kurze, nur zitathaft ausgebildete Wandelgänge arrangiert das Casino seine Schauseite wie die Zweiturmfassade einer Barockkirche, bei der allerdings die Türme als feingliedrige lombardische Renaissance-Laternen ausgestaltet sind und sich die plastischen talggelben Kraggesimse, Lisenen und Wandreliefs im behaglichem Nachmittagslicht mit jugendstilistisch fließenden Fensterbrüstungen, geschwungenen Gusseisenverzierungen und orangenen und chromgelben Putzflächen vereinen. Die Nullfläche der Fassade ist quasi gänzlich überlagert.
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Auch im Inneren des Casinos ereignet sich Feierliches. Heftige Emotion ergreift von einem Besitz, wenn man die in ihrem dramatischen Ungestüm überwältigende Haupthalle betritt, die im überladenen Bildablauf ihrer Freitreppe und umlaufenden Arkade die verschwenderische Eleganz des Neobarock mit der Dunkelnachtigkeit des Jugendstils zu einem traumartig artifiziellen Raumeindruck verbindet, mit dem sich die Zeit in einem zurückbiegt. Romolo Squadrellis Raffinesse liegt in einer enthusiastisch überreichlichen Detaillierung talggelber Brüstungen, Friese und Wandreliefs mit Putten, Figurinen und Rankgewächsen des Bildhauers Nicola Vedano, die zusammen mit allegorischen historistischen Deckengemälden, Marmorsäulen, Bronzestatuen und vielfärbigen Stile Liberty-Glasfenstern eine fantastische Überschwänglichkeit herbeiführen. Das Grandhotel, wie das Casino um 1905 errichtet, beeindruckt einerseits mit seiner Mächtigkeit als fünfstöckiger, 128 Meter langer Hotelkoloss, denn ein mit einem neobarocken Haubendach akzentuierter Mittelrisalit und zwei Seitenrisalite gliedern; andererseits mit einer grazilen Außenarchitektur, die Squadrelli mit einem feinen, schöngeistigen Nervennetz der Stile-Liberty-Mode überzog. Farbsicher sind auf die Putzflächen satte Rot- und Orangetöne aufgetragen, die zudem im obersten Geschoß mit floralen jugendstilistischen Fassadengemälden geschmückt sind. Diese intensive, das Spektrum einer Hochsommersonne evozierende Kolorierung konturiert sich nicht nur in der linden Atmosphäre des bewaldeten bergameser Hinterlands. Es hebt die schönlinigen, schnörkelreichen weißen Stile Liberty-Fenstergiebel und -pilaster hervor, die Karyatiden, Girlanden, geschwungenen gusseisernen Brüstungen. Ein Jugendstil, der allerdings das Schicksal, das das Grandhotel zu durchlaufen hatte, nicht aufzuhalten gelang. Denn nachdem der Prachtbau Jahrzehnte bis zur Demütigung vernachlässigt wurde, musste das Hotel 1979 schließen und verfiel, bis eine 2013 fertiggestellte Fassadensanierung schließlich mit den stürmisch blühenden Jugendstil-Applizierungen auch die gepeinigte Würde des weiterhin ungenützten Grandhotels wiederherstellte.
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Neunzehnnullnull – Der Späthistorismus
In Deutschland hatte sich in der affektlabilen und aggressionsgespannten Wilhelminischen Ära, ein Vierteljahrhundert nach der Nationsbildung, der Reichsnationalismus in einen auftrumpfenden, säbelrasselnden Chauvinismus verwandelt, eine nach Außen und Innen gewandte deutsche Allmachtsfantasie. In die letztlich so folgenschwere borussische Selbstbesoffenheit, Weltpolitik betreiben zu wollen, die nicht nur Geistlosigkeit und Vergröberung bedeutete, sondern eine stumpfsinnige Feindseligkeit der Deutschen gegen alles Fremde anstiftete, Rassismus und Antisemitismus. Keime einer Verderbnis, deren Konsequenzen ungeheuer sein werden. Seit mit der Reichsgründung »das vordringliche Ziel der Nationalbewegung erreicht« worden war, hatte sich diese von »einer ursprünglich antiständischen, liberalen Emanzipationsideologie, [die] auf die Veränderung des Bestehenden gerichtet war, […] zu einer illiberalen, staatskonformen Integrationsideologie [gewandelt], die Nation und Reich ineinssetzte, also mit der herrschenden politischen und sozialen Ordnung iden-
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tifizierte.«224 Die militärstaatlich-autoritäre Prägung des Kaiserreichs ließ Adel und Bürgertum gleichermaßen den preußischen Offizierskorps, Eckpfeiler des Reichsgründungsmythos, glorifizieren und sich in Kolonial- und Flottenbegeisterung ereifern. Das Schneidige des Preußentums, Paradeuniformen, Pickelhauben, weiße Helmbüsche, Säbel, Fahnen und Standarten wurden zu allgegenwärtigen Symbolen der waffenstarrenden wilhelminischen Staatsidee, festigten Kaiserglauben, Untertanentum, Gesinnungsmilitarismus und Mitläufermentalität. Ein architektonisches instrumentum imperii fand die Eigenverblendung des obrigkeitlichen preußischen Regiments im Neobarock: »Man entdeckte die Beschwingtheit des 18. Jahrhunderts von neuem. Kurven und Wülste, gedrechselte Teile, Flammenleisten und Balustraden verdrängten zunehmend das schlichte, eher linienhafte Biedermeier. So brachen sich Neubarock und Zweites Rokoko in leichter schwungvoller Manier Bahn.«225 Das machttrunkene Pathos, die Schmiere und Schwulst seiner heraldischen Gebärden transportierte den hackenschlagenden Übermut der Sieger von 1871, einer bald anfaulenden Gesellschaft, deren unter der Kaiserwürde identifikatorisch die nationalchauvinistische Ideologie tragenden Akteure, die »Allianz von Roggen und Eisen«, von Großgrundbesitz und Schwerindustrie, es immer weniger gelang, ihre Eitelkeit zu beherrschen, statt von ihrer Eitelkeit beherrscht zu werden. Ein neobarockes Attrappendeutschland versuchte die Veränderungen, die jenseits des Architektonischen im Gesellschaftlichen lagen, zu kaschieren und die Entwicklung der Kunst zwar nicht gewaltsam, aber immerhin kanonisch stillzustellen. Durch eine vaterlandsschwülstige Berauschungskunst, die zwar in ihren patriotisch semantisierten Nationalstilen nicht unbedingt als inauthentische »erfundene Tradition« diskreditiert werden kann, aber gerade im Mittelalterbezug eine Inanspruchnahme eines Nationalitätscharakters implizierte, der, wie Georg Dehio betonte, so nicht existierte. Denn: »National im eigentlichen Sinne ist indessen die Kunst des Mittelalters niemals geworden. […] Der Einheitspunkt lag in einer Institution, die mit dem Begriff der Nationalität nichts zu tun hatte, in der katholischen Kirche.«226 Aber nicht nur im Wilhelminismus trug der Kraftkult des Neobarock einen architektonischen Nationalchauvinismus. Dem Urbanisierungsschub, der Städte wie Berlin, Wien, Brüssel, Budapest, Odessa, Philadelphia, New York oder Buenos Aires im späten 19. Jahrhundert in glänzende Macht- und Wirtschaftszentren verwandelte, diente der überwache und pathetische Neobarock zur Zeichnung städtischer Steigerungsphänomene. Seine nach Fasslichkeit trachtende, publikumswirksame Repräsentationsarchitektur wurde im Späthistorismus zur Kalkülisierung von symboltrunkenen Machtkitzel instrumentalisiert. Mit dem Neobarock, wie auch mit der neoklassizistischen Beaux-Arts-Schule, die außerhalb Frankreichs speziell in den Vereinigten Staaten, in Rumänien und Argentinien zum Glanze der Autorität der Machteliten mit einer imperialen französischen Imprägnierung strahlte, uferte die späthistoristische Architektur in die Megalomanie
224 Ullrich: 2010, S. 376 225 Blanchebarbe, Ursula: »Neubarock und -rokoko«, in: Klaus Heise/Liselotte Heise (Hg.), Stilversuchungen. Historismus im 19. Jahrhundert, Bielefeld: Bielefelder Kunstverein 1991, S. 41 226 Dehio: 1914, S. 6
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aus. In ihrer triumphalistischen Gewaltsamkeit, der erschütternden Wucht, mit der sie über ihre Massigkeit das Register des Erhabenen bediente, wurde sie eine berechnende Rezeptkunst: darin, »wie sie moralischen Anspruch und Selbstbewusstsein der postfeudalen Gesellschaft sinnenfällig zu machen sucht in Parlamentsgebäuden und Justizpalästen«, dabei allerdings »dieses Selbstbewusstsein gesellschaftliche Wirklichkeit kaum noch reflektiert, d.h. die bürgerlichen Werte, als deren authentische Darstellung Architektur hier auftritt, erneut den Charakter von Hoheitsrechten annehmen.«227 Die preußische Hohenzollernmonarchie befriedigte das Ausdrucksbedürfnis ihrer Staatsbauten aber nicht allein mit Neobarock (wie bei Julius Raschdorffs Berliner Dom) und Neorenaissance (wie bei Paul Wallots Berliner Reichstagsgebäude), sondern ebenso mit einer deutsch konnotierten Neuromanik, die dynastische Assoziationslinien zu ziehen versuchte. Anders als bei König Ludwig II. von Bayern entrückte die Architektur des Historismus allerdings nicht zu vergangenheitssüchtigen Träumereien eines fantasierten Heldentums, sondern sollte in einen Bereich politischer Eindeutigkeit gezerrt werden, um ein Gefühl des Providentiellen herzustellen: »Während das Bürgertum auf freie Verfügung über den von der Geschichte bereit gestellten Stoff pochte, suchte das Kaiserhaus seinen neuabsolutistischen, nationalistischen Herrschaftsanspruch mit einem Rückgriff auf die deutsche Romanik zu untermauern.«228 Gleiches gilt für das ebenso legitimistisch repetierte Rokoko, der als vorrevolutionärer höfischer Einrichtungsstil der kaiserlichen Familien bereits in der neoabsolutistischen Restauration wiederaufgegriffen wurde.229 Das in Frankreich mit der Rückkehr der Bourbonen eingeleitete Zweite Rokoko, als Repräsentationsstil des Feudaladels des Ancien régime besetzt, erreichte seine Verbreiterung besonders unter Louis-Philippe, dem Bürgerkönig, in der Zeit eines einschneidenden Wandels von einer »bigotten, scheinheiligen, in wirtschaftlichen Fragen unbedarften, weder den Geist noch die Erfordernisse der Zeit verstehenden Restauration – hinüber zur tatsächlich bürgerlichen Monarchie Louis-Philippes, dem König der Finanzleute und Börsenspekulanten, dem Beschützer der Fabrikbesitzer, vor dem sich die Bourgeoisie gerne verneigte, weil sie fast sich selber auf dem Thron sah.«230 Das Neurokoko des Second Empire war dann erst Recht ein Rokoko des Dritten Standes, der seine raffiniert verkünstelten, zierlich schwingenden Linien und rankenartig gewundenen Umrandungen als Statusvergewisserung nutzte: »Neurokoko – teuer in der aufwendigen, wenn auch zunehmend teil227 Döhmer: 1976, S. 91 228 Brix/Steinhauser: 1978, S. 268 229 Ein Zentrum des Neurokoko wurde Wien, wo er zwar unter der Bezeichnung »Blondel’scher Stil« auf die Architekturstiche Jacques-François Blondels Bezug nahm, als Restaurationsstil allerdings auf die Glanzzeit habsburgischer Macht unter Maria Theresia verweisen sollte. »Dieser Wiederaufnahme des Rokoko mit der Wiedereinsetzung der Bourbonen in Frankreich folgten europaweit – nicht im Sinne einer politischen Annäherung an Frankreich, sondern im Gegenteil eines legitimistischen Rückgriffs auf einen machtpolitischen Höhepunkt der jeweils eigenen dynastischen Tradition – die anderen Höfe: Preußen in Rückbezug auf Friedrich den Großen; Österreich auf Maria Theresia; Rußland auf Peter den Großen und Katharina die Große usw. Angestrebte politische Kontinuität suchte in stilistischer Kontinuität Ausdruck«; Stalla, Robert: »›… mit dem Lächeln des Rokoko …‹. Neurokoko im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Hermann Fillitz (Hg.), Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa, Wien: Brandstätter 1996, S. 228 230 Mandelstam: 1991, S. 213
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industriellen Herstellung – wurde der Luxusstil für die gehobene Gesellschaftskultur einer exklusiven Käuferschicht. Denn es vermochte ein Leben in Vergnügen und Lust, in Licht und Farbe zu suggerieren und das Odium des Elitären zu verbreiten.«231 Während aber im Neobarock und Neorokoko das Adelsideal in stilarchitektonischen Verfahren, die für künstlerisch subtil zu halten ein Missverständnis wäre, zum Klischee verkümmerte, begann um 1900 die Architektur bereits, unmerklich durch einen Zeitsprung zu gleiten. Risse im Gefüge taten sich auf. »Der allgemeine Druck in Richtung auf einen freieren, weniger traditionsgeknechteten Stil wuchs«232 . Staats- und geschichtsfrustrierte Künstler- und Intellektuellenkreise, die in Teilen unter dem Einfluss der Zeit- und Kulturkritik Friedrich Nietzsches standen, bildeten wie auch die Reformbewegungen und die Sozialdemokratie »Front gegen Defekte der wilhelminischen Gesellschaft, die von ihnen als materialistisch und individualistisch, als oberflächlich und geistlos, als innerlich zerrissen und mit sich selbst zerfallen, als verkrustet und erstarrt kritisiert wurde.«233 Der Zweifel gegenüber der eigenen Zeit, den ein begriffsrasselnder Kulturskeptizismus artikulierte, wuchs in den schwindelerregenden Jahren um 1900 zu einer Grundunzufriedenheit aus: zum Fin de Siécle, seiner Bewusstseinslandschaft aus Langeweile und Überreizung, die wie unter dem Druck trüber Ahnungen bisweilen gar zu einer Untergangslust auswuchs. Die labilen Gemütszustände des 1900-Gefühls, einerseits Ergebnis einer gesteigerten und verfeinerten Innenschau und Selbstbeschäftigung, des Taumels einer fragmentierten Subjektivität, anderseits ein künstlerisch und literarisch vergegenwärtigtes Krisenempfinden, dass auch aus einem Saturiertheitseindruck gegenüber dem Historismus herrührte, der längst einen Sättigungsgrad an Prunk und Pathos erreicht hatte und in Abwesenheit verbindlicher ästhetischer Kategorien zu einem distanzierten, rituellen Umgang mit den geschichtlichen Architekturstilen zu verflachen schien, kratzten an der ästhetische Bewusstseinslage der Ära. Die Imponierarchitekturen des Späthistorismus erschienen nun als ungesunde Auswüchse des Selbstbewusstseins. Es wurde zum »Allgemeingut, daß die Inflation der nobilitierenden Motive an den späthistoristischen Fassaden sich ins Gegenteil gekehrt hatte und nur einem Minderwertigkeitskomplex neureicher Aufsteiger gerecht wurde.«234 Da platzte der Jugendstil mit seinen innovatorisch pulsierenden Kurven und vegetabilen Rankornamenten, die durch bisher geheime Gebiete zu irren schienen, in die Müdigkeit gegenüber der Trivialität der historistischen Empfindungen und Erinnerungen. Als flehe die Epoche mit ihm um Befreiung. Die Jugendstilkünstler versprühten mit Hitzewallungen an den Schläfen einen ästhetischen Befreiungszauber gegen die geschichtsverhafteten Maskeradeversuche der Stilbaukunst, spielten mit der Idee eines Anfangs. »[A]ll die zahllosen Frühlingsgesänge, Frühlingsbilder, Frühlingsfarben und Frühlingsgesinnungen, […] das Frühlingsbewußtsein schlechthin«235 , dass der Jugendstil ausbildete, drehten mit ihrer Passion und Involviertheit in neuerungsfreudi-
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Stalla : 1996, S. 228 Janik/Toulmin : 1987, S. 122 Ullmann: 1995, S. 202 Prokop: 1994, S. 57 Sternberger: 1977, S. 16-17
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ger, nervöser Begeisterung den Zeitgeist, der den ausgeträumten Historisten aus den Händen geglitten war. Dabei bildeten der Jugendstil weder eine architektonische Fundamentalkritik des Historismus noch eine disruptive Kreativität realer kultureller Verdrängung. Auch wenn man ihn umstürzlerischer Neigungen verdächtigte, lehnte er keineswegs alles ab, was der Historismus an Argumenten zu bieten hatte. Vielmehr entstand sie selbst aus der inneren Gärung des bürgerlichen Zeitalters. Grundübereinstimmungen liegen in einem ästhetizistischen Stilempfinden und Stilisierungswillen, einem effektgeleiteten Dekorationsbedürfnis, wie in der Emotionsgereiztheit eines psychisch instabilen künstlerischen Ichgefühls. Der Jugendstil konnte das Fin de Siécle so nicht aus der Benommenheit reißen, nicht ins Leben übergreifen, denn er, ureigensten Produkt der geistigen Strömungen der Zeit, wurde ebenso von ihren Epochenproblemen beherrscht – »die Secessionsmitglieder [waren] dem Leben der bürgerlichen Gesellschaft noch genügend verhaftet, um selbst die Rebellion gegen sie nach deren Spielregeln zu veranstalten«236 . Auch blieb der Jugendstil mit der Ausnahme der radikalsten GesamtkunstwerkRealisierungen eines Victor Horta, Antoni Gaudi, Lluís Domènech i Montaner, Hector Guimard und Pietro Fenoglio applikativ – Zierratkunst. Zwar hatte die fließende, florale »Ornamentik des echten Jugendstils […] ihr Ziel in sich selbst«237 , ihre der Natur entlehnten weichen Formen waren frei von der Geschichte. Die überlieferten typologischen Grundmuster der historistischen Architektur veränderten die Jugendstilkünstler – auch viele ihr ihrer wichtigsten, wie Otto Wagner oder Ernesto Basile –, allerdings meist nur zu unzureichend. Anschaulich zeigen sich verwirrend vielfältigen Verbindungslinien zwischen Späthistorismus und Jugendstil an den luxurierenden Fin de Siécle-Fassadenarchitekturen in Riga. In der baltischen Hansestadt, die in den Jahrzehnten um 1900 einen beachtlichen Wachstumsschub erfuhr, versetzte eine zahlungskräftige wie repräsentationsbedachte Bauherrenklientel aus der Kaufmannsschicht, die einerseits mit der Aktualität des international reüssierenden Jugendstils liebäugelte, andererseits jedoch ebenso mit der Idee einer lettischen Nationalromantik sympathisierte, ihre Architekten um Mihails Eizenšteins, Konstantīns Pēkšēns, Kārlis Johans Felsko, Jānis Alksnis, Heinrich Karl Scheel und Friedrich Scheffel in einen Zustand fiebriger Beschäftigung und es entstanden dabei Gebäude mit fein entwickelter Psyche, die gerade in einer ausgehaltenen Spannung zwischen Historismus und Jugendstil ihre künstlerische Entfaltung fanden. Speziell Eizenšteins Bauten in der Alberta iela und Elizabetes iela lassen einen dabei mit ihren prächtig aufgedrungenen Illusionen, ihren nicht dem Zufall zu verdankenden lyrischen Stimmungen, das Gefühl für die Faszination des Artifiziellen durch und durch gehen. Man kommt angesichts der unzähligen Maskeronen, Büsten, Girlanden, Rocaille, die alle den Geist des Jugendstils atmen, aus dem Schauen gar nicht mehr heraus. Arrangiert hat Eizenšteins sein üppiges Zierrat allerdings auf etablierten gründerzeitlichen Zinshaustypologien, deren Fassadengliederung in der Ausbildung der Friese und
236 Janik/Toulmin: 1987, S. 127 237 Pevsner: 1957, S. 61
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Pilaster dem Neobarock verpflichtet sind: »Die Masken, Blumen, Girlanden, ägyptisierenden Friese im Jugendstil-Riga scheinen wie eine Extremreaktion und Kompensation für die aus dem Verzicht und Kalkül, aus dem Geist des Protestantismus und reich gewordene Stadt.«238 Ein ebenso eindrucksvollen Beispiel, bei dem die opulenten Schönheitsvorstellungen des Historismus mit Beimischungen an farbsprühenden Jugendstil zu einem zeitgeistigen eklektizistischen Pollenregen, zu einer herrlichen Metropolenselbstbezeugung in tempo feroce, eruptieren, ist die Via XX Settembre in Genua. Die zwischen 1892 und 1912 in das Stadtgefüge der geschichtsträchtigen ligurischen Hafenstadt getriebene späthistoristische Prachtstraße, die benannt ist nach dem weltdramatischem Identifikationsdatum des Risorgimento, der Niederschlagung des Kirchenstaates 1870, ist ein Meisterwerk des italienischen »Dekorationsgenies«, wie es bei Joachim Fest heißt, sie steht für »die italienische Neigung zur Draperie, die unablässig Ornamente hervorbringt und das Bestehende nur erträgt, sofern Fassaden oder Blendwerk dessen Unansehnlichkeit verbergen.«239 Die Via XX Settembre besticht durch den schönen Schein einer furios überreizten, wie mit Fieber infizierten Architektur, die ihre Zeit auf den Begriff brachte, indem ihr gelang, alles einzufangen und zu integrieren – alles zusammenzuführen, was ein überfülltes Gefäß überlaufen macht. Die Intensität und Dynamik des Fin de Siécle sind in die Gesichtszüge dieser Stadtpaläste eingeschrieben, in ihre Barockgebärden, die sich auf massige Kubaturen und feingestrichelte Details stützen, und bei den Dekorelementen in exquisiten eklektizistischen Verdrehungen den italienischen Jugendstil, den Stile Liberty, miteinschließen und zu einem einladenden Gestenspiel vermengen. Sein reaktionäres Gepäck hat der Späthistorismus an der Via XX Settembre abgestreift, die Architektur ist furchtbar beziehungsreich, ihr basso continuo ist ein eigentümliches Ineinander baukünstlerischer Hysterica. Sein Schönheitsdienst spiegelt in der stilistischen Überempfindlichkeit die Überreiztheit einer Kultur, der »überhaupt der Geist derart in die Fingerspitzen und Nervenendigungen fuhr«240 . Ezio Godoli hat diesen an der ligurischen Riviera unter dem Einfluss des großen Eklektizisten Gino Coppedè entwickelten Liberty-Mischstil, den »eine barocke Formensprache, überflüssiger Dekor, die Tendenz zur Imitation und eine Vorliebe für maurische, ägyptische oder assyrisch-babylonische Exotik« kennzeichnete, als Zeitgeistphänomen disqualifiziert, denn »[o]bgleich dieser Stil als Liberty eingestuft wurde, reflektierte er im Grunde nur den Geschmack der Aristokratie von Neureichen; er gehört eher in die Sittengeschichte als in die Geschichte der Architektur.«241 Dabei veranschaulicht die Via XX Settembre in ihrer stilempfindlichen Luzidität nicht nur, dass der Späthistorismus nicht dazu da war, langsam zu verdämmern. Sie liefert, eben weil die Genueser Großbourgeoisie keinen Grund sah, ihren Reichtum zu verbergen, emphatische Skizzen eines künstlerischen Verhaltens zur Welt, prächtige architektonische Tunnelgedanken eines »Leben[s] verstanden als Schau! Und das Muster dieser Schau stammte aus
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Schlögel, Karl: Promenade in Jalta und andere Städtebilder, München: S. Fischer 2001, S. 153 Fest: 1988, S. 390-391 Sternberger: 1977, S. 59 Godoli: 1982, S. 210
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früheren Zeiten: Es ist eine Variation des Höfischen Zeremoniells, zugeschnitten auf und vom Unternehmerbürger.«242 Genuas Stadtarchitektur der »Tipologia a Blocco«, das Gliederungsverständnis des Straßenraums in rasterartig lagernde Einzelkubaturen, die historisch aus der Anlage der Renaissancepalazzi an der Strada Nuova gewachsen ist, wurde in der Via XX Settembre fulminant überschärft.243 Die werdende Metropole steigerte die Blockgrößen und -höhen und versah sie mit mosaikverzierten Arkaden für die sich im Sommertempo bewegenden Menschen. Dieser Durchschein der Geschichte, den ein gebrauchsund verbrauchsintensiver Neobarock aufrechterhält, wird aber zugleich verwirrt durch das bizarre Verlangen des Jugendstils, in der Fassadenschau abzuschweifen. Stadtseitig beginnt die Prachtstraße an der Piazza De Ferrari, dem Stadtplatz Genuas, mit dem auffallenden Prunkbau Palazzo della Nuova Borsa von Dario Carbone, Amedeo Pieragostini und Adolfo Coppedè, deren geschwungene steinerne Fassade selbstsicher über ihre Effekte verfügt. Über einer rustizierten Arkade entwickelt der ausgearbeitete Zierschmuck einen Überreichtum aus neobarocken Erinnerungszeichen, der zwar im Einzelnen bei Lisenen, Konsolen, Sprenggiebeln, Balustraden und Gauben aus steifen Nachahmungen bestehen mag, allerdings im Ganzen allein durch seine Wuchtigkeit imponiert – bis hin zu den beiden laternen- und knaufgeschmückten Turmhauben, die sich gegen den violetten südlichen Abendhimmel abzeichnen. Bis die wie ein Triumphbogen ausgebildete Überbrückung Ponte Monumentale die Via XX Settembre durchschneidet, fädeln sich nun späthistoristische Patrizierhäuser auf, die mit ihren gediegenen mosaikgefliesten zweigeschoßigen Arkaden und den beträchtlichen Fassadendetaillierungen den aus unzähligen Inszenierungsvarianten vertrauten, flätigen Späthistorismus Gereiztheit und Überspannung aufträgt. Stadtauswärts, nach der Ponte Monumentale, schwindet die artikulatorische Kraft zum Vielsinn und zur Vielansichtigkeit, die die Via XX Settembre füllt und färbt. Nur mehr der Schlussakt, der Palazzo dell’Upim, ein diffus gehaltener Bau, bei dem der Liberty-Mischstil derbere, obszönere Floskeln verwendete, bereits leicht in den Art Deco gehend, setzt im reinen Augeneindruck weitere Nervenreize von Künstlichkeit. Der Palazzo dell’Upim erscheint wie eine leicht entgleiste Fortsetzung des Liberty, dem das Aroma ungesunder, dekadenter Kunst anhaftet. Doch obwohl seine Ornamentiken bereits von einer gewissen Echolosigkeit gekennzeichnet sind, weiß er mit seiner Pomposität zu imponieren, mit dem für die Coppedè-Epoche eigenen dekorativen Reichtum der Friese, Lisenen und Konsolen, der seinen lässlichen Bagatellen ein Flair des Unnatürlichen einbringt.
242 Linnenkamp: 1976, S. 102 243 »Diese, in der Regel kubisch geformten, rundum freistehenden Stadtbausteine werden durch Straßen und Plätze begrenzt wiederum zu größeren Gruppen rasterartig zusammengefasst und bilden das Grundmuster des Stadtgrundrisses von Genua in ortsbezogen und historisch angepasster und variierter Form. Diese starke Dominanz des Einzelhauses als Block und dessen relative Autonomie hat sich aus der mittelalterlichen Palazzoarchitektur […] entwickelt. Zu Zeiten der großen Stadtexpansion ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis […] in die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein blieb die Tipologia a Blocco das Leitmotiv der Stadtarchitektur in Genua mit vielfältigen Variationen«; Schröder: 2015, S. 19
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Auch der zwischen 1902 und 1905 von Giovanni Ottino errichteten Bahnhof Brignole, dessen Vorplatz an die Via XX Settembre anschließt, erreicht mit seiner neobarocken Bauornamentik einen solchen Reiz des Künstlichen. Sein Neobarock wirkt – verstärkt durch die scharfen Schatten eines niedergehenden Tages – glatt gefügt, appliziert. Wie die nachlässige, mit eingeschliffenen Ungenauigkeiten belastete Stilpflicht eines Schematikers. Nichts davon ist schlicht falsch, aber alles stark zugespitzt. Sinnbildlich für die Via XX Settembre als Ganzes drängt aber auch alles am Bauschmuck des Bahnhofs Brignole zu der Ansicht, dass die Inauthentische und das Überladene, die stilistische Unreinheit, das sind, was den Historismus auszeichnet. Friedrich Nietzsche, der wiederholt in der klimatisch begünstigten ligurischen Küstenstadt überwintert hatte, um seine Krankheit in Schach zu halten, raste zwar bereits der Wahnsinn durchs Hirn, als der Bau der Via XX Settembre in Angriff genommen wurde. Die bleiernen Gedanken des »Philosophen mit dem Hammer«, der wie kein Zweiter über eine Zeit Gericht hielt, in der die Dinge ins Gleiten gerieten, fanden in der Genueser Prachtstraße allerdings eine pikante Bestätigung. Sie veranschaulicht, wie die Verfeinerung im Denken und in der Kunst gleichermaßen eine Ära des Leichtsinns und der Endzeitahnungen angestiftet hatte, weil die bürgerliche Gesellschaft, eben »nicht von selber auf dem rechten Wege«, »gerade unter ihren heiligsten Wertbegriffen de[n] Instinkt der Verneinung, der Verderbnis, der décadence-Instinkt verführerisch gewaltet hat.«244 – Das Aufwallen der Gefühle, das die Via XX Settembre in der süßen Luft ihrer Kunst entfacht, war längst belastet. Hier, an der geschichtlichen Marke, an der sich die Herrschaft von Adel und Kirche endgültig dem Ende zuneigte, stand sie bereits in einem goldenen Schatten: der Lebenserschöpfung, der Dekadenz. Für sie gilt, was Nietzsche über sich selbst sagte: »Brauche ich, nach alledem, zu sagen, daß ich in Fragen der décadence erfahren bin? Ich habe sie vorwärts und rückwärts buchstabiert.«245
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Die exotistischen Projektionen des Orientalismus
Zusammengefasst lagen dem Historismus zwei divergierende Kräfte zugrunde. Zum einen das Bedürfnis nach historischer Illusion, zum anderen das Bedürfnis nach historischer Verfügbarmachung, das sich in der Durchdringungskraft des Geschichtssinns ausdrückte. Dieser bildete die künstlerische Vorbedingung für eine Hinwendung zum geschichtlich Gewordenen, wenngleich seine Doppelsichtigkeit auf historische Bedingtheiten den falschen Zungenschlag, die Inauthentizitäten der eigenen künstlerischen Illusionen desillusionierte. Denn »je weniger Kontinuität durch historischen Sinn, desto mehr Flucht in die Illusion«, was im Umkehrschluss heißt, so Marquard, dass der historische Sinn einen »Desillusionierungswert« darstellt: »er ist eine Ernüchterungsgröße.«246
244 Nietzsche: 1977, S. 94 245 Ebd., S. 42 246 Marquard: 1986, S. 94
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Ein für Inauthentizitätseindrücke ersten Ranges geradezu prädestinierter Seitenstrang der historistischen Architektur hat diesen latent desillusionierenden Charakter seiner Imaginationen dadurch zu unterlaufen versucht, dass er diese zu imponderablen, zur sinnlichen Raserei gesteigerten Phantasmagorien aufbauschte, die die Leidenschaften des 19. Jahrhunderts tief aufwühlten: der Orientalismus. Diese Sonderform historistischer Neo-Stile, die in einer unscharfen Sammelbezeichnung alle islamische Baukunst aufgreifenden Stilnachbildungen westlicher Architekten umreißt, entwickelte eine verschwenderische Weite romantisch-exotistischer Bedeutungswelten, die, von Poesie und Wehmut gekennzeichnet, »orientalisierten«, im Sinne okzidentaler Sehnsuchtsprojektionen selektiv korrigierten. Denn »›Orient‹ war schon immer ein Begriff ohne geographische Eindeutigkeit gewesen, der je nach Perspektive und Interessenlage unterschiedlich definiert wurde.«247 Die Orientbegeisterung fixierte jedoch nicht eine örtliche Ferne, sondern ebenso eine zeitliche. Ihre romantisch-exotistische Weltfremdheit war temporalisiert, das heißt retrospektiv, einer Wiederherstellung des Einstigen zugewandt. Ihre ästhetisch intensiven Gebäude, in denen sich eigenartige architektursemantische Übertragungen aus irreleitenden Erinnerungen ereignen, waren ausdrücklich historistisch. Sie trieb ein Verlangen ins Rückwärtige, Geschichtliche. Und das nicht nur bei Bauten, die, wie eigensinnig auch immer im künstlerischen Zugriff, auf eine islamische Regionalgeschichte referenzierten. Wie Tommaso Malerbas leicht jugendstilversüßtes Stadtpalais Palazzo Mazzone in Catania, dass Assoziationen an das sarazenische Sizilien wachruft, einzelne Palastanlagen des zaristischen Russlands im Kaukasus oder auf der Krim (Edward Blores Woronzow-Palast oder Nikolay Krasnovs Dulber Palast bei Jalta), oder der Neo-Mudéjar, die iberische Spielart des Orientalismus, mit seinen Aneignungen granadischer Maurenarchitektur. Speziell in Sevilla, wo bereits die Mudéjararchitektur mit dem Reales Alcázares eine einmalige Pracht entfaltete, gelang es den beiden späthistoristischen Ausnahmearchitekten der Stadt, Aníbal González Álvarez-Ossorio und José Espiau y Muñoz (– die bei ihren Meisterwerken Plaza de España beziehungsweise Hotel Alfonso XIII. auch die Kunst des katholischen Spanien genial zu paraphrasierten verstanden –), das untergegangene maurische al-Andalus als Neo-Mudéjar zu stilisieren. González Álvarez-Ossorio bei seinem Museo de Artes y Costumbres Populares und dem Edificio para Manuel Nogueira, Espiau y Muñoz beim Edificio La Adriática und dem Edificio La ciudad de Londres. Der Orientalismus setzte, weltgeschichtlich responsiv, ein, als »[a]uf der Weltkarte […] die letzten weißen Flecken verschwunden, und noch die fernsten Kulturen […] durch die europäische Expansion längst vom Untergang bedroht [waren]: Der Orient, nach dem sich die europäische Seele sehnt, war längst historisch geworden. So ist der ›innere Orient‹ ein ebenso künstliches Gebilde wie der Wintergarten«248 , wie Stefan Koppelkamm hervorhebt. Die romantische Einstellung des Orientalismus gegenüber Erinnerungen, die nicht die eigenen sind, war daher auch ein »Ausdruck von Defiziten und Obsessionen der europäischen Psyche. Der ›Orient‹ wurde zur Antithese westlicher 247 Koppelkamm, Stefan: Exotische Architekturen im 18. und 19. Jahrhundert. Exotische Welten, europäische Phantasien, Stuttgart: Ernst, Wilhelm & Sohn 1987, S. 5 248 Ebd., S. 116
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Zivilisation.«249 Er hatte eine vikariierende Funktion gegenüber der Aporienlage der abendländischen Gesellschaften, der zerrissen und konfus gewordenen Welt der eigenen okzidentalen Lebensform. Wie Jacob Burckhardt festhielt, hat »die Exotik der historistischen Kunst zugleich den Blick auf ihre unmittelbaren gesellschaftlichen Zusammenhänge [eröffnet]: auf die Aneignungs- und Verwandlungsfähigkeit von Industrieund Kaufmannskapital, das keine Terra incognita mehr duldet.«250 Der Orient versprach den Europäern mit seinen dekorativen Formeigentümlichkeiten einen Schatz unvergleichlicher, mit Sinnlichkeit assoziierter Ästhetik. Die Sinnenhaftigkeit der islamischen Architektur wurde zur Verheißung ausgesuchter Vergnügungen – speziell die mit Laszivität und Triebhaftigkeit assoziierte Welt der Hamams und Harems, die in Kur- und Spa-Architekturen übertragen wurde. Das Palais Thermal (GrafEberhard-Bad) in Bad Wildbad im Schwarzwald, entworfen von Ludwig Eisenlohr und Carl Weigle, ist hierfür ein Beispiel.251 Obendrein bedeutete der Orientalismus eine Ermöglichung künstlerischer Freigeisterei, die von den Fesseln der Schwere befreite, die der »legitime« Kunstkanon mit sich brachte. Man sah dieser Architektur alle Wildheiten nach, denn »[d]ie Wahl eines exotischen Baustils ermöglichte es, mit den Regeln des guten Geschmacks […] zu brechen. Die ›Geschmacklosigkeit‹ wurde akzeptabel, wenn man sie nur ›chinesisch‹, ›ägyptisch‹ oder ›morgenländisch‹ nannte: Man schob so die Schuld an der ästhetischen Verirrung einer fremden Kultur zu und konnte selbst reinen Gewissens seinen frivolen Neigungen frönen.«252 Eines der bedeutendsten Meisterwerke des Orientalismus, der indische Mogulpalast Royal Pavilion in Brighton on Sea, veranschaulicht dies beispielhaft: sein Architekt, der Klassizist John Nash, durfte sein Erfindungsgenie in einer üppigen Silhouette aus Zwiebeltürmen und Minaretten ungehemmt einbringen. Sein Bauherr, Prinzregent George IV., der sich um nichts kümmerte als um Frauen und Kartenspiel, seinem verschwenderischen, liederlichen Lebensstil in Kulissen »orientalischer Despotie« legitimieren: »[l]ike Brighton itself, the Royal Pavillon has never been quite respectable. To many visitors domes and minarets of Nash’s seaside palace remain a ›set of painted harlots‹ to this day.«253
249 Ebd., S. 26; »Orientalism was never interested in nor adequate to the job of describing architecture as an ensemble of properties, representations and practices. Orientalism, and writing about Islamic architecture in particular, never attempted to analyse the contradictions and complexities of particular oriental settings. Architecture had to resolve or bypass these difficulties in order to be built.«; Crinson, Mark: Empire Building. Orientalism and Victorian Architecture, London: Routledge 1996, S. 233 250 Burckhardt: 2009, S. 84 251 »Islamic was often linked to pleasure, femininity and entertainment. The neo-Islamic buildings that had been designed in the eighteenth and early nineteenth centuries […] relied on the easy delights and connotations of Picturesque theory, which included remoteness as a value in itself.«; Crinson: 1996, S. 21 252 Koppelkamm: 1987, S. 17; Die betraf, so Koppelkamm, auch die Restriktionen baulicher Materialisierung: »Der Verweis auf ein fingiertes exotisches Vorbild sollte nicht nur das Abweichen von der Geschmacksnorm, sondern häufig auch das Experiment mit ausgefallenen Grundrissen und neuen Baustoffen rechtfertigen: So war die Verwendung von Eisen erlaubt, sobald man sich außerhalb herkömmlicher ästhetischer Kategorien bewegte.«; ebd., S. 17 253 Conner, Patrick: Oriental Architecture in the West, London: Thames & Hudson 1979, S. 131
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Ein weiteres Beispiel, wo ein von Begeisterung angetriebener Eklektizismus größte Leichtfertigkeiten begeht, indem er die eigene Herkunftsumgebung leugnet, ist der Orientalismus der Burganlage Rocchetta Mattei bei Grizzana Morandi in der EmiliaRomagna, die sich der im 19. Jahrhundert in Italien berühmte Wunderheiler Cesare Mattei errichten ließ. Die auf einem erhöhten Felsvorsprung ins temperierte Grün der laubbewaldeten Hügellandschaft der Apenninen platzierte Festung bietet einen sich ins Gedächtnis prägenden Irrlichttanz aus vergoldeten maurischen Zwiebeltürmen und Hufeisenbögen, die auf restaurierten Turm- und Zinnenanlagen einer mittelalterlichen Burgruine ein labiles, unbeständiges Gleichgewicht aus Zuwiderlaufendem, Schwierigem und Sperrigem eingehen – irgendwie ungereimt, obskur, doch von besonderer Schönheit. Die zwischen 1850 und 1859 errichtete Rocchetta Mattei ist ein artifiziell wirkendes ästhetisches Gespinst, dass mit ungleichmäßigem Puls überraschende Details des arabischen Andalusiens herbeizitiert. Eine fantasiereiche Zublinselei mit der Historie, die einen in Unklarheit zurücklässt, obwohl ihr Eklektizismus einiges seiner Entstehungszeit kommentiert. Der Wunderheiler Mattei, der Erfinder einer homöopathischen Heilmethode, den Könige und Fürsten konsultierten, kreierte einen teleskopierten Orient, den die Passion für das Zitat auszeichnet, und zugleich durch überraschende Hinzuerfindungen zum arabisch-andalusischen Hauptfundus alles durcheinandergerät. Im Innenhof zieht die Architektur der Rocchetta Mattei Verbindungslinien zum Löwenhof der Alhambra – mit einem kleinen zitathaften Brunnen mit vier Löwenfiguren und einem marmornen Säulengang mit Zackenbögen mit rautengemusterten Spandrillen. Die Haupthalle zitiert den Betsaal der Moschee von Cordoba, allerdings sind die Bogenreihen in einem Schwarz-Weiß-Farbwechsel gehalten. Auch das Castello di Sammezzano, dass sich der Marchese Ferdinando Panciatichi Ximenes d’Aragona zwischen 1853 und 1889 im toskanischen Regello, südlich von Florenz, als rätselhaftes freiwilliges Exil errichtete, verliert sich mit Kunsteifer in eine mit Übertreibungen ergänzte arabische Chimäre, die in einem wehmütigen Licht fremde Orte und Zeiten in sich leben fühlt. Das Castello di Sammezzano umhaucht dabei eine gezierte Melancholie, eine Mischung aus Bitterkeit und Süße. Denn für seinen Erbauer, den als Abgeordnete, Kunstsammler und Philanthrop wirkenden Panciatichi Ximenes d’Aragona, sollte der Orientalismus eine erlösende romantische Gegenwelt zur Politik sein, von der sich nach dem italienischen Unabhängigkeitskrieg, in seinen liberalen Idealen enttäuscht, zurückzog.254 Panciatichi Ximenes d’Aragona überbaute einen in Familienbesitz befindlichen Renaissancepalast – unter Beibehaltung der symmetrischen Gliederung – an der Hauptfassade mit einem mittelachsigen islamischen Eingangsportal aus roten Sichtziegeln, das Flachreliefs, Zackenbögen, Türmchen, aber auch eine riesige Uhr verzieren. Er schmückte die Dachkante mit einem Zinnenkranz und legte das
254 Auf diese Enttäuschung verweist ein lakonischer lateinischer Wandspruch, den der Bauherr anbringen ließ: »Pudet dicere sed verum est publicani scorta – latrones et proxenetae italiam capiunt vorantque nec de hoc doleo sed quia mala – omnia nos meruisse«. Übersetzt: »Ich schäme mich, es zu sagen, aber es ist wahr: Schuldeneintreiber, Prostituierte, Diebe und Makler halten Italien in der Hand und verschlingen es, aber ich bereue dies nicht, sondern die Tatsache, dass wir es verdient haben.«
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rötliche Mauerwerk frei, das eigenwillige linienartige Zierbänder erhielt, die bei scharf einschlagendem Schlagschatten der Fassade eine unwirkliche Gestalt verleihen. Im Inneren huldigte er der Prächtigkeit islamischer Baukunst in üppig durchdetaillierten Prunkräumen, die er in den Wand- und Deckenverkleidungen, den Stalaktitenfriesen, Zackenbögen, Flachreliefs und Fayencekachelungen fein nuancierte, aber zugleich unverhältnismäßig bunt bemalen ließ. Speziell im regenbogenbunten, fächerartig radial verschnittenen Zierrat des Pfauenzimmers. Zwei weitere, ähnlich gelungene Arrangements stilistischen Wagemuts in der Übertragung maurischer Baukunst, die Skizzen des künstlerischen Verhaltens liefern, das für die Architektur des Historismus typisch war, finden sich ebenfalls auf der italienischen Halbinsel: Pasquale Ruggieris Palazzo Sticchi in Santa Cesarea Terme in Apulien und Angelo Collas Villa Crespi am Lago d’Orta im Piemont. Beide zeigen einen Orientalismus, der einen Eindruck von Weitgereistheit erweckt und zugleich ins Poetische entrückt. Der 1900 fertiggestellte Palazzo Sticchi imponiert zuallererst durch seine Lage an der apulischen Felsküste, die seine akzentuierten Pastellfarben, das Beige und Gelb seiner Zinnenkränze und der mit Hufeisenbogen detaillierten Arkaden, das Ocker und Hellblau der eingefassten Wandflächen und das Rot seiner Kuppel dem klaren Blau des Meeres und des süditalienischen Himmels gegenüberstellen. Darüber hinaus ist es die Passioniertheit der anspielenden Zitate, die einen am Palazzo Sticchi gefangen nehmen. Die Zinnenverzierungen nach Art der ägyptischen Mamluken, die Arabeskenreliefs, Stalaktitenfriese und Spiralsäulen lassen das Bauwerk wie eine Sinnestäuschung wirken. Die Villa Crespi ließ sich Cristoforo Benigno Crespi, ein Baumwollindustrieller mit Handelsbeziehungen nach Bagdad und Damaskus, für den die islamische Welt eine Gefühlsangelegenheit war, am bewaldeten Ufer der als Halbinsel in den See hineinragenden Gemeinde Orta San Giulio errichten. Eine exotische, der entlegenen Vorstellungswelt des Orients entlehnte Sommerresidenz, die im Sog romantischer Schwermut die Sehnsucht »nach einer naiven und poetischen Form der Weltaneignung [zeigt], die längst einer vergangenen Epoche angehört«255 . Cristoforo Benigno Crespi fand dazu in Angelo Colla einen Architekten, der elegant schmückende arabische Details auf eine kubisch disziplinierte Patriziervilla mit ruhiger Würde aufzutragen verstand. Auf einem in zartrosa, orange und blaßgrün gehaltenen gemalten Rautenmuster platzierte Colla Schönes und Leichtes in Gestalt filigran gearbeiteter Steinreliefs, die Zackenund Hufeisenbögen der Fenster einfassen, und einer auf das mit Kragsteinen gehaltene Dachgesims aufgesetzten Zinnenkrone, die assoziativ die mamlukische Architektur, mehr jedoch noch Venedigs Dogenpalast evoziert. Die im Dämmer dieser raffinierten Details verschwimmenden Augen sammeln sich dann allerdings in einem mächtigen Minarett mit türkis patiniertem Zwiebelturm, das das Gebäude mit Vertikalspannung auflädt. Nach dem vorzeitigen Tod Collas 1892 veranlasste Giuseppe Talamoni die Ausbildung dieses fantastisch artifiziellen Turms. Und auch im bezähmten Ungestüm der Innenräume der Villa Crespi regt sich eine eitle Begier für die ornamentale Schönheit
255 Koppelkamm: 1987, S. 8
3 Das Inauthentische in der Stilimitation des Historismus
orientalischen Dekors. Speziell im Lichthof strahlen die beglänzten Arabesken in als weißpergamenten getäfelte Pracht – weich, verträumt, künstlich.256 Jenseits der romantischen Exzentrik erlebte der Orientalismus aber als Baustil auch eine gewisse architektusymbolische Institutionalisierung. Bei imperialistischen Verwaltungsarchitekturen im zaristischen Russland oder der Habsburgermonarchie in Bosnien-Herzegowina, wo exotistische Vorstellungen der Kolonialmächte in die besetzten Regionen rückprojiziert wurden. Oder bei der Ritualarchitektur amerikanischer Freimaurertempel, bei denen speziell die Bruderschaft der Shriner eine beachtliche Anzahl an islamisierten Bauwerken mit Zwiebeltürmen und Fayencezierrat als Versammlungsstätten errichtete, die auch unter dem Aspekt interessant sind, als der Stilimport eine europäische Erstrezeption weiterverarbeitete.257 Eine regelrechte Hegemonialstellung erreichte der Orientalismus beim Synagogenbau, wo seine leichtesten, schönsten und opulentesten Werke kreiert wurden. Beispielhafte Bauwerke für die Faszinosum des Artifiziellen und Inauthentischen im Historismus, kunstreich und glühend in den Farben ausgebildet. Wie Wilhelm Stiassnys Jerusalemsynagoge in Prag, Władysław Horodeckis Kenesa in Kiew oder die Berliner Synagoge Oranienburger Straße von Eduard Knoblauch und Friedrich August Stüler. Für das niedergehaltene, unterdrückte Judentum in der Diaspora hatte sich, außer im maurischen El Andalus, die Frage einer repräsentativen Baukultur nie gestellt. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts gelang es der in einem weitgehend feindlich eingestellten Klima lebenden Minderheit, sich aus der Abhängigkeit willkürlich verteilter fürstlicher Privilegien zu befreien und sich die Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürger durch die ihnen eingeräumte Verfassungsrechte zu sichern. Der »maurische Synagogenstil«, der daraufhin entstand, um sich historistischen Stilpluralismus mit einer eigenständigen, wirkungsmächtigen Architektursprache zu behaupten, artikulierte dann erstmals den jüdischen Wunsch nach baulicher Selbstrepräsentation. Als Identifikationsversuch musste der »maurische Synagogenstil« in seiner architektursemantischen Fiktionsarbeit allerdings widersprüchlich, dilemmatisch bleiben. Zwar bekräftigte er, wie Koppelkamm festhält, die Emanzipationsgeschichte des jüdischen Bürgertums. Denn auch wenn »die Tradition, auf die die neuen Synagogen anspielten, eine fingierte war, so erfüllte der maurische Stil […] die ihm zugedachte Aufgabe: Er machte die Synagoge zu einem unverwechselbaren Gebäude, das selbstbewußt die Eigenart des jüdischen Glaubens unterstrich.« Zugleich hinterlief sein architekturästhetisch-allegorischer Gesamtsinn allerdings die nationale Integration der jüdischen Minderheit: »Er stand im Widerspruch zu der von der Mehrzahl der Juden angestrebten
256 Bis in die 1940er war die Villa Crespi, heute ein Nobelhotel, ein Treffpunkt der gesellschaftlichen Eliten Italiens, zunächst unter Crespi, der auch die berühmte Arbeitersiedlung Crespi d’Adda bei Bergamo erbauen ließ, und seinem Sohn Silvio Benigno, der bis zur Insolvenz seiner Firma in der Weltwirtschaftskrise 1929 als einflussreicher Industriellen des Landes galt, dann unter dem nächsten Besitzer, dem Diplomaten Domenico Fracassi Ratti Mentone. 257 »Oriental architecture reached North America by the longer route – via Europa, and particularly Britain, rather than through direct contact across the Pacific. The few recorded examples are therefore doubly curious, for both English and American elements can often be seen in combination with those of the Far East.«; Conner: 1979, S. 173
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gesellschaftlichen Assimilierung, da er durch die Betonung ihrer orientalischen Herkunft die alten Vorurteile von den Juden als einer fremden ›Nation‹ bestätigte«258 . Die architektursymbolische Institutionalisierung bewahrte den »maurischen Synagogenstil« ebenso wenig vor den Inauthentizitätswirkungen geographischer Fremdheit wie gegengleiche Beispiele eines imperialistisch verpflanzten Historismus in der Weltentlegenheit der europäischen Kolonialreiche. Etwa bei der viktorianischen Neugotik des britischen Empire in Indien, die in der Bestimmtheit eines südlichen Lichts, inmitten des Regenwalds surreal, absurd wirkt: »Victorian colonial architecture seems bound to provoke stock responses in its viewers. At two extremes, it either stands for the rapacity and racial self delusion of empire, or for a world of lost glory and forgotten convictions. A third reaction, perhaps less political than these, simply finds nothing but absurdity«259 .
258 Koppelkamm: 1987, S. 100 259 Crinson: 1996, S. 1
4 Das Inauthentische in der Traditionswahrung
4.1
Authentizitätsklassifikationen der Denkmalerfassung
Das Feld des Architekturdiskurses, in dem der Authentizitätsimperativ am energischsten eingefordert wird, ist naheliegenderweise jenes, in dem der Begriff des Authentischen am nähesten an der Beglaubigung eines Urkundencharakters liegt: in der Denkmalpflege. Mit dem Verständnis, »dass die zu beobachtenden Umgangsstrategien mit kulturellem Architektur-Erbe weniger über dieses selbst Aussagen erlauben, als vielmehr über die gegenwartsgebundenen Wertesysteme der Akteure selbst«, wie Michael S. Falser festhält, kann für die Denkmalschutzstandards, die sich seit dem frühen 20. Jahrhundert herausgebildet haben, gesagt werden, dass »die Denkmalbewertungsqualität mit dem mehrheitlich Originalsubstanz-orientierten Begriff ›Authentizität‹ zusammengefasst«1 wird. Ein Bewusstseinswandel der denkmalpflegerischen Theorie und Praxis, der im 19. Jahrhundert mit der architektonischen Wahrheitsemphase bei Ruskin und Morris seinen Ausgang nahm. Nachdem der Historismus eine authentizitätsindifferente Restaurationspraxis der »rückführenden« Harmonisierung in eine idealisierte »Stilreinheit« betrieben hatte, formulierten die Wegbereiter des »modernen Denkmalkultus« eine Ethik des Konservierens, die das denkmalpflegerische Urteilen und Handeln an eine Authentizitätsbefundung knüpft.2 Das denkmalpflegerische Erhaltungsinteresse beruft sich seitdem auf die Authentizität des unveränderlichen authentischen Kunstwerks in seiner überlieferten, zeitbe-
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Falser: 2008, S. 9 Dieses Distanzierungsbedürfnis konnte, wie Pehnt umriss, »entstehen aus dem Überdruss am Historisieren […] auf dem Wege zu Reform und Neuem Bauen […]. Es konnte auch im Gegenteil getragen sein vom Respekt vor dem Alten, seinem unerreichbar hohen handwerklichen Können, seiner originalen Prägekraft, die nicht der blinden Nachahmung ausgeliefert werden durften. Es konnte motiviert sein von dem Wunsche, den Urkundenwert des Überlieferten nicht zu verfälschen, die Quellen rein zu halten. Es konnte zu tun haben mit dem Selbstbewusstsein der Gegenwart, die auf dem eigenen Recht auf eigenen Ausdruck bestand. Es konnte schließlich auch entsprungen sein aus einer Skepsis gegenüber allem ganzheitlich Übergreifenden, das Diverses zur Einheit zusammenzwingen möchte.«; Pehnt, Wolfgang: »Das Ende der Wundpflege«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.11.2008
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dingten baulich-materiellen Gestalt. Der Erhaltungsauftrag der qualitätswahrend wirkenden Denkmalschutzes richtet sich an die materielle Authentizität des baulichen Erbes, an den authentisch bewahrten Zeitausdruck und Geschichtswert, an die Geschichtlichkeit, die sich auch am Wandel der Stile der Bauwerke zeigt, an dem »gesellschaftliche Veränderungen ebenso faßbar [sind], wie er in seinen großen Systemen uns etwas von den großen Ordnungen ahnen läßt, nach denen Menschen einst strebten.«3 Das Authentizitätsbewusstsein der Denkmalpflege ist mit Alois Riegl an den »Alterswert« gebunden, denn »bevor der Begriff des Authentischen Eingang als fundamentale Kategorie in den Diskurs um Wert und Erhalt historischer Architektur und Kulturgüter nimmt, beginnt [bereits] das Alte eine ähnlich auratische Konnotation zu erlangen und gleichsam moralisch verpflichtend als auch mythisch-pittoresk in Anspruch genommen und politisiert zu werden. Genau wie das Authentische kann es zwar inszeniert und somit wahrgenommen, aber per se nicht erschaffen werden.«4 Genau darum muss die Baudenkmalpflege auch, will sie ihre Prinzipien nicht verraten, »Spielverderber sein«, wie es Reinhard Bentmann ausdrückte, wenn Rekonstruktionsprojekte verlorene Geschichte wiederherstellen. Denn sie wird zur »Fälscherzunft«, wenn sie sich politisch oder ökonomisch motivierten Rekonstruktionsbedürfnissen beugt, einer »Rettung der Idylle als Rettung in die Idylle mit der Hoffnung auf Rettung durch die Idylle«5 . Denn der Rekonstruktionsgeist sei »nicht nur abenteuerlich, sondern auch gefährlich«, wie Bentmann weiter schreibt, die eigentümlich zeit- und ortlosen »Erinnerungsarchitekturen« eines simulierten unverfälschten Früher führen zu einer »Aufhebung der Vergangenheit«, die »klammheimlich verdrängt anstatt bewältigt […] [wird], da ihre Aneignung als Usurpation geschieht«6 . Zwar kann in der Restaurationspraxis der künstlerische Eigenbeitrag des Restaurators nie ganz ausgeschalten werden, dieser muss sich mit spezifischen Gegebenheiten abfinden, ist vielfach gezwungen, spekulativ mit Analogieschlüssen zu arbeiten. Und auch weiß »[j]eder Denkmalpfleger«, wie Alfred A. Schmid hervorstreicht, »dass man, im Detail strikt dem Befund verpflichtet, ein Gesamtkunstwerk buchstäblich auseinanderrestaurieren kann« und es immer der Abwägung bedarf, wenn man beim Restaurieren »die Synthese« sucht und Integrations- gegen Konfliktschönheit«7 setzt. Aber allein die Verpflichtung auf materielle Authentizitätswahrung, die Bedachtnahme der Unverfügbarkeit des materiellen »Alterswerts«, bewahrt die Denkmalpflege davor, dass das eigene Verhältnis zum Ästhetischen, das immer auch ein Gesellschaftliches ist, auf die Kulturgüter rückwirkt, die Unzuverlässigkeit der kulturellen Erinnerung diese einer
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Ullmann: 1987, S. 7 Mager: 2016, S. 64-65 Bentmann: 1988 Ebd. Schmid: 1985; Schmid spricht von einer »Hierarchie der Werte« im Kunstwerk, gegen die restauratorische Maßnahmen nicht zuwiderlaufen dürfen. Doch »[s]elbst das Prinzip der Hierarchie der Werte gerät jedoch in die Gefahr der Haeresie, wenn es, wie jede Haeresie, eine Teilwahrheit verabsolutiert. Notwendiges Korrelat dazu muss die Reversibilität einer denkmalpflegerischen Intervention sein, wo immer dies möglich ist«; Ebd.
4 Das Inauthentische in der Traditionswahrung
Romantisierung, einer Schönung unterzieht. Die Erhaltung der Denkmalauthentizität ist der fundamentale disziplinäre Maßstab8 , und »seit über hundert Jahren verläuft hier die Front zwischen Historikern, die im Gebauten vor allem den archivarischen Wert sehen, und Urbanisten, denen ein schönes, historisches Stadtbild wichtiger ist als die materielle Echtheit seiner Bestandteile.«9 Eine Architekturästhetik des Inauthentischen bezieht sich demgegenüber auf ein differierendes Narrativ mit von der Kunstgeschichte differierenden Parasitärkritieren, dass lediglich eine alternative »neubeschreibende« Rezeptionsofferte herstellen möchte. Zwar hat Adorno Recht, wenn er schreibt, dass »[s]chlechter Traditionalismus […] vom Wahrheitsgehalt der Tradition sich dadurch [scheidet], dass er Distanzen herabsetzt, frevelnd nach Unwiederbringlichem greift, während es beredt wird allein im Bewußtsein der Unwiederbringlichkeit.«10 Genau daraus aber, aus der sich noch in der perfekt holistisch rekonstruierten Scheinhistorie zeigenden Kontingenz, Empfindlichkeit und Endlichkeit kann sich eine gegen die Irrtumsanfälligkeit der Wahrnehmung gerichtete Wertschätzung des Missverstandenen herausbilden, die sich gerade beim Anblick falscher Authentizitätssuggestionen in eine inspirierende Unruhe treiben lässt. Mit den denkmalpflegerischen Authentizitätskategorien hat diese Inauthentizitätsaffirmation zwar nur indirekt zu tun, sie berührt allerdings ihre Autorität, da sie sich zwangsläufig parteilich in jenen Rekonstruktionsstreit verstrickt, der sich speziell in Deutschland in den letzten 30 Jahren zu einem breiten Diskurs der politischen Öffentlichkeit entwickelt hat. Ohne deren gegen eine globalistisch entgrenzte Welt gewendeten politischen Konservativismus zu teilen, befürwortet sie die Konjunktur großer, politisch forcierter Rekonstruktionsprojekte, durch die, zumindest mittelbar, der Denkmalpflege ihr »institutionell festgeschriebener Alleinvertretungsanspruch für den Schutz von kulturellem, baulichem Erbe […] infrage gestellt«11 wird. Da sie dem denkmalpflegerischen Authentizitätsverständnis, das im späten 20. Jahrhundert einen bis dahin unerreichten Reputationsgrad erlangt hat, in den Arm fällt und die Akzeptanz des Erhaltungsauftrags der Denkmalpflege einschränkt, weil »in den Plädoyers für Rekonstruktionen […] ausdrücklich die Grundsätzlichkeit d[]er materiellen Verfaßtheit und Unwiederholbarkeit des Denkmals geleugnet und stattdessen die virtuelle Abrufbarkeit als Existenzweise inthronisiert wird«12 . Als erster tat sich John Ruskin in der Missbilligung der im 19. Jahrhundert üblichen purifizierenden Restaurierungspraxis alter Baudenkmäler nach den verklärenden Stilidealen des Historismus hervor und verurteilte die übereifrigen Wiederherstellungen
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»Alleine die wissenschaftlich wie moralisch fundierte Verpflichtung gegenüber dem in seiner gesamten Geschichtlichkeit überkommenen und vielfältig befragbaren Baudenkmal – einhergehend mit der strikten Verweigerung jeglicher Kooperation für Rekonstruktionsvorhaben – muß wieder zum alleinverpflichtenden Arbeitsauftrag der Denkmalpflege werden.«; Falser, Michael S.: »›Ausweitung der Kampfzone‹. Neue Ansprüche an die Denkmalpflege 1960-1980«, in: Adrian von Buttlar et al. (Hg.), Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie, Basel: Birkhäuser 2010, S. 97 Schreiber, Mathias: »Das verrückte Traumbild«, in: Der Spiegel, 3/2001 Adorno: 1967, S. 36 Falser: 2008, S. 3 Mörsch: 2010, S. 24
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denkmalwürdiger mittelalterlicher Kirchen und Burgen als »eine Lüge von Anfang bis zu Ende«13 . Er stellte sein an die materielle Substanz gebundenes Wahrheitsideal einer historistischen Entwurfs- und Restaurationshaltung entgegen, mit der, weil sie selbst »unentwegt neue Architektur in den gleichen historischen Stilen« kreierte, »die Frage der Authentizität immer mehr in den Hintergrund rückte. Man überformte und ergänzte die Originale bedenkenlos, um sie zu verbessern und den Gesamteindruck zu verschönern.«14 Nach Ruskin vertraten dann William Morris und die um ihm gesammelte Liga der Antirestorationists den Standpunkt, sich auf Schutzinitiativen zur Substanzerhaltung zu beschränken und Altersspuren an historischen Bauten als integralen Bestandteil ihrer Geschichtlichkeit sichtbar zu halten. Zwar unterstrich Morris »die Bedeutung des Werdens, begreift Architektur als dynamisch in Bezug auf ihr Dasein«, weil jedoch eine Fortführung des historischen Prozesses der Erneuerung in einem zeittypischen Epochenstil nicht mehr möglich sei, entwickelt er aus dieser »Unmöglichkeit des Weiterlebens der Monumente […] [die] Forderung nach deren Konservierung.«15 Ruskin und Morris stellten sich besonders gegen neuschöpferische Rekonstruktionen, wie sie beispielsweise Emmanuel Viollet-le-Duc betrieb, der sich zwar wie kein anderer um die Inventarisierung und Restaurierung der Baudenkmäler der französischen Kathedralgotik verdient machte, sich bei den ihm anvertrauten Bauwerken allerdings zugleich im Sinne einer Stilreinigung strukturelle Änderungen zutraute und in die von Gebresten bedrohten gotischen Schönheiten korrigierend eingriff. Violletle-Ducs selbstmandatierte Wiederherstellungen verfälschten in ihrer fiktiven Idealgeschichte der mittelalterlichen Baukunst diese, beschädigten gewachsene Strukturen, vernichteten das Sichtbarbleiben im Namen dessen, was man für die in sie intendierte Idealität hielt. Die Denkmalpflege des 19. Jahrhunderts prägte einerseits ein ausgenüchterter Purismus, der mit seiner Intention, Denkmäler von nachträglichen Veränderungen zu »enthässlichen«, als »[e]ine denkmalpflegerische Säuberungswelle [auch] […] über Deutschlands Dome herein[gebrochen war], bereits von den Zeitgenossen in ihrem puristischen Übermaß kritisiert.«16 Andererseits, nicht weniger inauthentisch, eine Bereitschaft zur spekulativen Neuschöpfung, die nicht nur Gurlitt beklagte, als er festhielt, dass »ernste Künstler, also Männer, die etwas in sich haben, das zu äußerer Ausgestaltung drängt, am meisten ihre Eigenart dem restaurierten Bau aufdrängen.« Viollet-le-Ducs Restaurierungsarbeiten verraten den Restaurator. Man wird, wie Gurlitt schrieb, »mit Schrecken inne, wie einförmig die Kunst unter der Hand selbst dieses vornehmen Fachmannes wurde; wie seine Gelehrsamkeit doch nicht ausreichte, sich in den Geist der verschiedenen Zeiten zu versetzen; wie er in die Werke stets nur den eigenen Geist trug, in dem die Zeiten sich bespiegeln.«17 13 14
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Ruskin: 1999, S. 366 Hubel, Achim: »Denkmalpflege zwischen Restaurieren und Rekonstruieren. Ein Blick zurück in die Geschichte«, in: Adrian von Buttlar et al. (Hg.), Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie, Basel: Birkhäuser 2010, S. 43 Mager: 2016, S. 68 Döhmer: 1976, S. 78 Gurlitt: 1969, S. 67
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Zwar wird der Begriff der Authentizität von den Kritikern der Restaurierungsbewegung des Historismus nicht verwendet; und auch »für Viollet-le-Duc ist er unerheblich, da das Original für ihn weder Ausgangspunkt noch Restaurierungsziel ist.«18 Die sinnlich erfahrbare Stimmungswirkung materieller Vergänglichkeit, die sich als ein Authentizitätseindruck beschreiben lässt, der ein Pietätsempfinden für den »Alterswert« einer patinierten historischen Architektur entfacht, wird allerdings zur Schlüsselkategorie jenes »modernen Denkmalkultus«, für den Kunsthistoriker wie Alois Riegl oder Georg Dehio in weiterer Folge eintreten. Das Licht, das auf die Denkmäler fällt, die mit Jahren und Siechtum überladen sind, verwandelt sich nun durch eine die eigene kontingente Rezeptions- und Erkenntnisperspektive reflektierende Position, die die Geschichtlichkeit des Kunstwerks über einen ästhetisch vermittelten »Alterswert« miteinbezieht. Mit Georg Dehio: »Den Raub der Zeit durch Trugbilder ersetzen zu wollen ist das Gegenteil von historischer Pietät. Wir sollen unsere Ehre darin suchen, die Schätze der Vergangenheit möglichst unverkürzt der Zukunft zu überliefern, nicht, ihnen den Stempel irgendeiner heutigen, dem Irrtum unterworfenen Deutung aufzudrücken. Wenn archäologisch gerichtete Architekten ihr Nachdenken auf Restaurationszeichnungen wenden, so sind wir ihnen dankbar dafür. Ausgeführt bedeuten sie […] eine Barbarei trübseligster Art: Gelehrsamkeitsbarbarei.«19 Alois Riegl relativiert nicht nur den Denkmalwert an seiner geschichtlichen interpretatorischen Bedingtheit, er differenziert unterschiedliche Wertkategorien, die sich dialektisch und agonal zueinander verhalten: »Gegenwartswerte« und »Erinnerungswerte«. Am wichtigsten ist ihm der »Alterswert« des Denkmals. Diesem ist zwar unter den »Erinnerungswerten« der »historische Wert« vorgelagert, die geschichtskundige Klassifikation, die das Interesse an einem alten Kunstwerk erst begründet. Dessen Werthaftigkeit haftet nun allerdings nicht mehr »an dem Werke in seinem ursprüngliche Entstehungszustande, sondern an der Vorstellung der seit seiner Entstehung verflossenen Zeit, die sich in den Spuren des Alters sinnfällig verrät«20 . Denn mit dem »historischen Wert« ist »das Interesse, das uns Modernen die von vergangenen Menschengeschlechtern hinterlassenen Werke einflößen, keineswegs erschöpft. Eine Burgruine […] an die sich […] keine chronistischen Erinnerungen knüpfen, kann somit das offenkundige Interesse, das wir Moderne ihr gleichwohl unbedingt entgegenbringen, unmöglich ihrem historischen Werte verdanken.«21 Es ist der vermeintlich authentische, sich in den Verstümmelungen der Zeit ausdrückende »Alterswert«, der uns gerade an Denkmäler, die sich in erbarmungswürdigem Zustand befinden, affektiv bindet. Hieraus leitet Riegel seine Ablehnung der Restaurationsidee ab, denn »das der Kultus des Alterswerts an einer Erhaltung des Denkmals in unverändertem Zustande nicht allein kein Interesse hat, sondern eine solche sogar wider sein Interesse finden
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Mager: 2016, S. 72 Dehio: 1914, S. 253 Riegl, Alois: Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, Leipzig: W. Braumüller 1903, S. 8 Ebd., S. 7
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muß«, liegt daran, dass »das ästhetisch wirksame am Denkmal die Zeichen des Vergehens, der Auflösung des geschlossenen Menschenwerkes durch die mechanischen und chemischen Kräfte der Natur«22 sind. Über die materielle Authentizität des Denkmals gibt zwar der »Alterswert« nicht zwangsläufig eine verlässliche Auskunft, da auch dieser mit artifiziellen Patina- und Verfallsspuren wirkungsästhetisch simuliert werden kann, die Wertkategorie an sich knüpft sich allerdings in einem stärkeren Maße an eine Authentizitätserwartung als der »historische Wert«. Der »Alterswert« suggeriert einen materiell authentischen Erhaltungszustand im subjektiven Pietätsempfinden des Betrachters, veranschaulicht durch den Umstand, dass, wie Riegl herausstreicht, dieser sensibler auf Manipulation des Denkmalbesitzes reagiere als der »historische Wert«: »Wenn an einem alten Turme einige geborstene Steine entfernt und durch neue ersetzt werden, wird der historische Wert des Turmes keine nennenswerte Einbuße erfahren, […] während hingegen dem Alterswerte schon diese geringen Zutaten, namentlich wenn sie […] aus der Masse des Alten grell herausstechen, im höchsten Maße störend erscheinen können.«23 Denn die Gefahr für den »historischen Wert« liegt stärker in einer Unkenntlichmachung ihres legitimatorisches Elements durch physischen Zerfall: »Die Symptome der Auflösung, die dem Alterswerte Hauptsache sind, müssen vom Standpunkte des historischen Wertes mit allen Mitteln beseitigt werden. […] Dem historischen Werte handelt sich nicht darum, die Spuren des Alters, die in der seit der Entstehung verflossenen Zeit durch Natureinfluss bewirkten Veränderungen zu konservieren, die ihm mindestens gleichgültig, wo nicht unbequem sind;«24 Ebenso ist es Georg Dehios Verdienst in der Begründung der neueren Denkmalpflege, das Pietätsargument mit einem später in den Authentizitätsdiskurs überführten Wahrheitsbegriff unterlegt zu haben. Auch Dehio beklagte, dass der Historismus »außer seiner echten Tochter, der Denkmalpflege, auch ein illegitimes Kind gezeugt [habe], das Restaurationswesen. Sie werden oft miteinander verwechselt und sind doch Antipoden. Die Denkmalpflege will Bestehendes erhalten, die Restauration will Nichtbestehendes wiederherstellen. […] Auf der einen Seite, die vielleicht verkürzte, verblasste Wirklichkeit, aber immer Wirklichkeit – auf der andern die Fiktion.«25 Aus der Gegenüberstellung von Wirklichkeit und Fiktion leitete Dehio über die materielle Authentizität der unrestaurierten baulichen Hinterlassenschaften der Vergangenheit einen Urkundencharakter ab, der allein Schutzwürdigkeit begründet. Wie Riegl fundierte er den Erhaltungswillen auf einer Denkmaleigenschaft, die an eine unverfälschte historische Substanz gebunden ist. Denn die »Wirklichkeit der Denkmale bleibe, auch wenn sie verringert sei, durch Nichteingriff oder lediglich konservatorische
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Ebd., S. 25; »Dieser Vorteil des Alterswertes tritt namentlich gegenüber dem historischen Werte deutlich hervor, der auf einer wissenschaftlichen Basis beruht und darum erst auf dem Umwege über verstandesmäßige Reflexion gewonnen werden kann, während der Alterswert unmittelbar auf Grund der oberflächlichen sinnlichen (optischen) Wahrnehmung sich dem Beschauer offenbart«; ebd., S. 28 Ebd., S. 37 Ebd., S. 30 Dehio: 1914, S. 274
4 Das Inauthentische in der Traditionswahrung
Maßnahmen stets Wirklichkeit. Dehio erkennt dabei an, dass die Rezeption der Bauwerke subjektiv und epochenabhängig ist, allerdings sei die überzeitliche Wertschätzung von Kunstwerken durch eine aus geschichtswissenschaftlicher Leistung resultierende Sensibilisierung des historischen Sinns zu bewerkstelligen«26 . Im »Heidelberger Schlossstreit«, der um 1900 als Grundsatzdiskussion über die Aufgaben der Denkmalpflege eine nationale Dimension erreichte, opponierte Dehio erfolgreich gegen die Wiederherstellung des Heidelberger Schlosses, der einstigen Residenz der Kurfürsten von der Pfalz, die im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1693 von der Französischen Armee gesprengt worden war und seitdem, von den Romantikern zur Ikone stilisiert, als Schlossruine oberhalb Heidelbergs in ihrem rotem Neckartäler Sandstein eine düstere Pracht entfaltete. Den im Namen patriotischer Gesinnung artikulierten Appellen, den Ottheinrichsbau des Heidelberger Schloss durch eine Rekonstruktion, für die der Historist Karl Schäfer einen spekulativen Entwurf geliefert hatte, in alter Pracht wieder auferstehen zu lassen, erwiderte Dehio seine Befürchtung einer »vandalisme restaurateur« für »dies wunderbare Ganze« der Ruine, die »aus Vergänglichkeit und Ewigkeit, aus Kunst, Natur und Geschichte zu einem Eindruck zusammengewoben [worden sei], wie ihn niemals menschlicher Verstand allein, auch nicht des größten Künstlers, hätte hervorrufen können«27 . Er wandte sich gegen gewaltsame Eingriffe, seien diese auch noch so vergeistigt und veredelt. Denn »[v]erlieren würden wir das Echte und gewinnen die Imitation; verlieren das historisch Gewordene und gewinnen das zeitlos Willkürliche; verlieren die Ruine, die altersgraue und doch so lebendig zu uns sprechende, und gewinnen ein Ding, das weder alt noch neu ist, eine tote akademische Abstraktion.«28 Das 20. Jahrhundert entwickelte seine Denkmalschutzstandards dann auf Grundlage dieser materiell gefassten Authentizitätsidee. Obgleich die Weltkriegszerstörungen zeigten, dass die auf Riegl und Dehio zurückgehende Konservierungsdevise zu kurz griff. Die Kriegsschäden machten ersichtlich, dass »angesichts des bis dahin nicht gekannten Ausmaßes der Zerstörung […] die Theorien und Konzepte der Denkmalpflege versagten. Die Forderung nach dem bloßen Erhalt durch Konservierung erscheint in Anbetracht der nun auch ohne großes Zutun der Zeit in Ruinen verwandelten Denkmale haltlos.«29 Was sich im Wiederaufbau der kriegszerstörten Altstädte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeigte, der eine auf Einzelfallentscheidungen basierende Bandbreite ausbildete, die »von der Belassung einer Ruine als Mahnmal über die Reparatur bis hin zum rekonstruierenden Wiederaufbau eines Baudenkmals, der alle Spuren der Zerstörung beseitigte«30 , reichte. Und nicht nur bei den bewunderten Rekonstruk-
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Mager: 2016, S. 79 Dehio: 1914, S. 249 Ebd., S. 258 Mager: 2016, S. 85; Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch die veränderte »Ruinenimagination«, die die Vernichtungskriege des 20. Jahrhunderts mit sich gebracht haben, wie Andreas Huyssen ausführt: »in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts sind Monumente des langsamen Verfalls durch Zeit und Natur solchen der plötzlichen Zerstörung durch menschliches Einwirken gewichen. Auszunehmen sind […] verfallende Industrie- oder Hafenanlagen im städtischen Bereich, die in den Jahrzehnten der Deindustrialisierung einen gewissen Ruinenwert akkumulierten.«; Huyssen: 2006, S. 232 Hubel: 2010, S. 49
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tionen der kriegszerstörten polnischen Altstädte von Warschau, Danzig und Breslau ergaben sich Handlungsallianzen für Wiederherstellungen, die explizit Schönungen und Rückformungen miteinschlossen, »meinten, nun könne die Altstadt in einem Zustand vor den Eingriffen des 19. Jahrhunderts wieder entstehen.« Wie Nerdinger betont, waren sich deren Anwälte augenscheinlich »der historischen Bedingtheit ihrer Argumente nicht bewusst, denn der Wunsch nach Reinigung von den Spuren des ungeliebten 19. Jahrhunderts basierte auf dem gleichen Vorurteil, das die Modernen gegenüber dem Historismus vertraten, nämlich dieser sei eklektisch und deshalb unschöpferisch.«31 Erst die 1964 auf dem Zweiten Internationalen Kongress der Architekten und Techniker der Denkmalpflege verabschiedete Richtlinie Charta von Venedig, die zur »einzig verbindliche[n] Grundlage für den Umgang mit historischer Bausubstanz auf internationaler Ebene« erklärt wurde, platzierte das Authentizitätskriterium als Schlüsselqualität für die Erhaltungs- und Restaurierungsarbeiten an historischen Stätten – wenngleich ohne eine weitergehende Begriffspräzisierung. In der Präambel der Charta, die Restaurierung ausdrücklich als eine Maßnahme bezeichnet, »die Ausnahmecharakter behalten sollte«, heißt es: »Die Menschheit, die sich der universellen Geltung menschlicher Werte mehr und mehr bewusst wird, sieht in den Denkmälern ein gemeinsames Erbe und fühlt sich kommenden Generationen gegenüber für ihre Bewahrung gemeinsam verantwortlich. Sie hat die Verpflichtung, ihnen die Denkmäler im ganzen Reichtum ihrer Authentizität weiterzugeben.«32 Die materielle Denkmalauthentizität wurde danach zum Richtmaß in den internationalen Grundsatzpapieren, die im Zusammenhang mit der Denkmalinventarisation der UNESCO als »Welterbe« entstanden, dem zum Schutz von künstlerischen, historischen und archäologischen Stätten entwickelten »universellen« Kultur- und Naturstättenkanon. Ungeachtet des Authentizitätsschubs, den eine Nominierung zum Weltwerbe durch die eigne Resonanz post festum herstellt, ist eine günstige Authentizitätsprüfung durch den Internationalen Denkmalschutzrat ICOMOS, einer nichtregierungsamtlichen Organisation für Denkmalpflege, die als Beratungskomitees der UNESCO fungiert, fundamental für die Beurteilung von Welterbekandidaten. In den Richtlinien für die Durchführung des Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt von 1977 wird Authentizität als Echtheit und Unversehrtheit zum grundlegenden Evaluierungsinstrument, um den »außergewöhnlichen universellem Wert« eines Welterbes zu bemessen.33 Wenngleich die Authentizitätswahrung eines »außergewöhnlichen universellen Werts« im Sinne einer »Selbstverpflichtung zugunsten künftiger Generationen«, wie Andrea Rehling schreibt, »nicht darüber hinwegtäuschen [darf], dass dieses Engagement zugleich darauf zielte, durch den eigenen zivilisatorischen Fortschritt erlittene Verluste in den ›Industriestaaten‹ an anderen Orten der Welt zu kompensieren«34 . 31 32 33 34
Nerdinger: 2012, S. 184 ICOMOS, »Charta von Venedig«, in: ICOMOS Deutschland (Hg.), Internationale Grundsätze und Richtlinien der Denkmalpflege. Monumenta I, Stuttgart: Fraunhofer 2012, S. 47 ICOMOS, »Richtlinien für die Durchführung des Übereinkommens zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt«, in: www.dnk.de Rehling, Andrea: »Universalismen und Partikularismen im Widerstreit. Zur Genese des UNESCOWelterbes«, in: Zeithistorische Forschungen, 3/2011; Hiermit stimmt das Selbstverständnis der
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Generell wird die eurozentrische Perspektive des Welterbekonzepts, westliche Wissenschaftstradition zu generalisieren, thematisiert. Nicht wenige erkennen ebenso in der Nominierungspolitik der UNESCO nicht nur eine Einseitigkeit in der regional ungleichen Verteilung der Welterbestätten, die zudem eurozentrische Benennungsrechte in den Wertzuschreibungen neokolonial verstetigt, sondern ebenso eine Kapitalisierung der Historie, insofern ein touristisch zu verkonsumierendes Welterbe inzwischen einen wesentlichen Wirtschaftsfaktor darstellen kann. Die Richtlinien wurden bereits ein Jahr nach ihrer Verabschiedung auf beispielhafte Weise strapaziert, als 1978 der Antrag zur Einschreibung des historischen Stadtzentrums von Warschau in die Welterbeliste diskutiert wurde. Denn bei der im Zweiten Weltkrieg 1944 während der Niederschlagung des Warschauer Aufstands von der nationalsozialistischen Besatzungsmacht völlig zerstörten Altstadt handelt es sich um eine beispiellose Rekonstruktionsleistung, die zwischen 1949 bis 1955 vom Büro zum Wiederaufbau der Hauptstadt unter der Leitung des Generalkonservators Jan Zachwatowicz hergestellt worden war. Die erst mit der 1984 fertiggestellten Rekonstruktion des Königsschlosses komplettierte Wiederaufbauaktion konnte bei den auf den spätmittelalterlichen Stadtgrundriss aufbauenden Fassadennachbildungen auf Vermessungszeichnungen aus der Vorkriegszeit zurückgreifen, entschied sich jedoch gegen eine originalgetreuen Wiederherstellung der gründerzeitlich überprägten Altstadt, deren Gebäude im kunsthistorischen Urteil als nicht wiederaufbauwürdig galten, zugunsten »eines idealisierten Zustandes der Stadt im 18. Jahrhundert […]. Bei fehlender Evidenz wurde dabei auf Veduten und Hypothesen zurückgegriffen, um eine visuell einheitliche Idealstadt der Zeit Stanislaw August Poniatowskis zu erschaffen«35 . Die Stadtansichten vom Ufer der Weichsel, die Bernardo Bellotto (genannt Canaletto), der Hofmaler des letzten polnischen Königs, gemalt hatte, wurden für den Aufbau mancher Gebäude herangezogen. Bei der 1980 erfolgten Nominierung würdigte das Welterbekomitee schließlich mit dünner Argumentation ausdrücklich die mimetische Qualität der Wiederaufbauleistung der Altstadt, die Begründung lässt sich als Kapitulation vor den eigenen Authentizitätskriterien begreifen. Die Anerkennung der wiederaufgebauten, materiell inauthentischen Warschauer Altstadt zeigte allerdings weniger eine Unverstandenheit des test of authenticity auf, als den Spielraum der Auslegungspraxis, dem sich ein politischer Nominierungsvoluntarismus bedient.36
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UNESCO überein, ihre außereuropäischen Erhaltungs- und Restaurierungsleistungen als »Entwicklungshilfe« im Sinne eines »Nation-Building« zu definieren: »Handlungsleitend war die Vorstellung, dass das Bewusstsein für die jeweilige nationale Identität, das als Signum für Zivilisiertheit bzw. eine entwickelte Gesellschaft galt, dort zu wenig ausgeprägt sei und die Integration der jungen Staaten gefährde. Deshalb sei es notwendig, diese dabei zu unterstützen, sich der jeweiligen Geschichte und Tradition zu vergewissern, deren Pflege zu institutionalisieren und so ein Bewusstsein für die eigene nationale Identität zu schaffen.«; Ebd. Mager: 2016, S. 101 Das Welterbekomitee betrachtete Warschaus Altstadt »as a symbol of the exceptionally successful and identical reconstruction of a cultural property which is associated with events of considerable historical significance.«; Cameron, Christina: »From Warsaw to Mostar: The World Heritage Committee and Authenticity«, in: APT Bulletin, 2-3/2008
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1983 folgte mit der Nominierung des Klosters des heiligen Iwan von Rila im Rila-Gebirge im südwestlichen Bulgarien eine ähnlich gelagerte Interpretation. Denn der im 10. Jahrhundert gegründete orthodoxe Klosterkomplex, der ein geistiges und kulturelles Zentrum des mittelalterlichen Bulgariens ausbildete, nach der Eroberung durch das Osmanische Reich jedoch teilweise zerstört worden war, musste 1832 nach einem Großbrand neu errichtet werden. Auf eine materielle Authentizität der mittelalterlichen Sakralarchitektur konnte sich das Welterbekomitee bei der Ernennung des Rila-Klosters daher nicht beziehen, sondern betonte die Bedeutung dieses Wiederaufbaus für die bulgarische Nationale Wiedergeburt im 19. Jahrhundert, die gegen die osmanische Herrschaft und die Kirchenhoheit des griechischen Patriarchats gerichtete bulgarische Aufklärungsbewegung, die in der Einrichtung des Exarchats und in der Ausrufung eines unabhängigen Fürstentums mündete. Ähnlich verhielt sich auch die Argumentationslinie bei der mittelalterlichen Festungsanlage Cité de Carcassonne. Eine erste Bewerbung der südfranzösischen Festungsstadt wurde zwar 1985 mit der Begründung abgelehnt worden, dass sich der Erhaltungszustand der malerischen Befestigungsanlagen über einem Hügel der Altstadt den Restaurierungsarbeiten Viollet-le-Ducs im 19. Jahrhunderts verdankt und kein authentisches mittelalterliches Baudenkmal darstellt. 1997 wurde Carcassonne dann allerdings in die Welterbeliste aufgenommen, diesmal ausdrücklich auch wegen den idealtypischen Wiederherstellungen, denen Viollet-le-Duc eine pittoreske Gestalt abzuringen verstand. Zu diesem Zeitpunkt hatten allerdings bereits kulturrelativistische Differenzierungsbedürfnisse der auf der abendländischen Überlieferungstradition fußenden Authentizitätsstandards die Diskussion verlagert. Mit dem Grundsatzartikel NaraDokument zur Echtheit/Authentizität, das auf der Nara-Konferenz, einer 1994 in der gleichnamigen japanischen Stadt abgehaltenen Fachtagung, abgefasst wurde, erweiterte die ICOMOS im Namen eines pluralisierten Zivilisations- und Kulturbegriffs die materialfixierte Authentizitätsprüfung hin zu den unterschiedlichen Facetten »immaterieller Authentizität«37 . Die von postkolonialistischen Theoriepositionen kritisierte eurozentristische Konservierungsperspektive der ICOMOS sollte durch ein umfänglicheres Authentizitätsverständnis substituiert werden, dass die unterschiedlichen
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Das Nara-Dokument fußt auf dem Vorsatz, wie es in der Präambel heißt, »die konventionelle Denkweise im Bereich der Erhaltung auf den Prüfstand [zu] stellen und Wege und Mittel zur Erweiterung unseres Horizonts [zu] erörtern […], um für eine größere Achtung der Vielfalt der Kulturen und des Erbes in der Erhaltungspraxis zu sorgen«. Die Authentizitätsevaluierung, der »Test der Echtheit« »bei der Prüfung des außergewöhnlichen universellen Wertes der für die Liste des Erbes der Welt vorgeschlagenen Kulturgüter [sei] so durchzuführen, dass die sozialen und kulturellen Werte aller Gesellschaften umfassend geachtet werden.« Die Beurteilungen der Authentizität »können sich von Kultur zu Kultur und sogar innerhalb einer einzigen Kultur unterscheiden. Es ist daher nicht möglich, eine Beurteilung des Wertes und der Echtheit nach festgelegten Kriterien vorzunehmen. Im Gegenteil, die allen Kulturen geschuldete Achtung gebietet es, Kulturgüter innerhalb des kulturellen Kontextes zu betrachten und zu beurteilen, zu dem sie gehören.«; ICOMOS, »Das Nara Dokument zur Authentizität«, in: ICOMOS Deutschland (Hg.), Internationale Grundsätze und Richtlinien der Denkmalpflege. Monumenta I, Stuttgart: Fraunhofer 2012, S. 141-142
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kulturellen Dynamiken der Evaluierung berücksichtigt.38 Die Zweischneidigkeit dieser Pluralisierung und Partikularisierung der Authentizitätsmaßstäbe wird seitdem diskutiert, da damit zum einen an der Maßgeblichkeit des materiellen Denkmalbegriffs gerüttelt wird, wie beispielsweise Adrian von Buttlar einhakt: »Wenn die moderne Denkmalfiktion vom verlorenen Original ununterscheidbar ist, wird – gelegentlich mit offener Fälschungsabsicht – die Wahrnehmung der Rezipienten getäuscht und ihre intellektuelle Integrität verstört. Gerade darin liegt ja die Gefährlichkeit des weiteren Authentizitätsbegriffs im Protokoll der Nara-Konferenz«39 . Zum anderen haben die aus einer kulturrelativistischen Fragedynamik entstandenen Aufweichungen historischer und materieller Authentizitätskriterien mit der Nara-Konferenz dazu gegenläufig eine Tendenz zu einer »Re-Nationalisierung, ja sogar kulturellen Essentialisierung und Provinzialisierung globaler DenkmalpflegeDoktrinen«40 eingeleitet, die sich an den unzähligen regionalen und nationalen Charters zur kontinent- oder länderspezifischen Revision der Kriterien der Authentizität und Integrität ablesen lässt. Diese beiden Implikationen lassen Kritiker des Nara-Partikularismus von einem »relativistischen Trugschluss« sprechen, der »einerseits zur Zementierung von Traditionen und andererseits zur Entmaterialisierung von Artefakten beiträgt, […] [und damit] wird nicht nur die Vornehmheit des Ideals degradiert, sondern auch das architektonische Erbe in seiner Glaubwürdigkeit selbst korrumpiert.«41
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»Mit der Akzeptanz des dynamischen Charakters der Erbekonstruktion, die ständig neue Bedeutungsschichten […] ausbildete, kamen aber zwei neue Herausforderungen hinzu: erstens sollten die einmal nominierten Welterbestätten in ihren Qualitäten durch nachfolgende Generationen ständig neu interpretierbar bleiben und zweitens musste damit das zu einem Stichtag nach geltenden Richtlinien einmal ausgesprochene Qualitätsmerkmal World Heritage auch nach einer erfolgreichen Nominierung jederzeit nachevaluierbar bleiben« (Falser, Michael S.: »Von der Venice Charter 1964 zum Nara Document on Authenticity 1994. 30 Jahre ›Authentizität‹ im Namen des kulturellen Erbes der Welt«, in: Michael Rössner/Heidemarie Uhl (Hg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld: Transcript 2012, S. 73). Interessant ist hierbei weiters, dass die postkoloniale Eurozentrismuskritik selbst zu einem gewissen Grad ein Ergebnis der theoriegesteuerten Bewertungsdynamik der Welterbekategorien ist: »dass das Authentizitätsverständnis, von dem sich die Kritiker abgrenzen, in seiner extremen Zuspitzung auf originale Substanz, das Monumentale und den originellen Schöpfer […] erst in der Kritik am Begriff in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden ist und so eindeutig in den Fassungen der 1970er Jahre nicht enthalten war.«; Rehling/Paulmann: 2016, S. 103 von Buttlar, Adrian: »Auf der Suche nach der Differenz: Minima Moralia reproduktiver Erinnerungsarchitektur«, in: ders. et al. (Hg.), Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie, Basel: Birkhäuser 2010, S. 168-169; Ebenso Mörsch: »Für den abendländischen Denkmalbegriff, der die Zeitspuren, das Altwerden, die Patina einschliesst, sind Hinweise auf Dinge wie die regelmässig kopierten japanischen Tempel, nach deren Neuerstellung das bisherige Original vernichtet wird, nur interessant, nicht aber übernehmbar, ohne die materielle Basis für den eigentlichen Denkmalwert, die Authentizität im Material des alten Objektes, an die seine Wirkfähigkeit als Denkmal geknüpft ist, aufzugeben.«; Mörsch: 1986 Falser, Michael S.: »Theory-Scapes transkulturell. Zur Karriere des Begriffs der Authentizität in der globalen Denkmalpflege«, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege, 1/2015 Mager: 2016, S. 230
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Dazu, im Umkehrschluss auch architektonische Inauthentizitäten zu prämieren, hat der Authentizitätsdiskurs nach der Nara-Konferenz allerdings natürlich nicht geführt. Und auch wenn einmal Themenarchitekturen des 20. Jahrhunderts zu Welterbestätten erklärt werden, was kulturgeschichtlich bei Disneyland in Anaheim, Kalifornien, und bei einzelnen Resortmonumenten am Strip von Las Vegas durchaus plausibel wäre, wird sich dies nicht aufgrund der Struktureigenschaften themenarchitektonischer Simulationsästhetiken stützen, die eine Rezeptionsästhetik architektonischer Inauthentizität anregen. Dabei decken speziell Rekonstruktionsprojekte und der Streit um diese »nationale Wertehierarchien auf und ermöglichen eine thesenartige Zeitdiagnose nationaler Identität«, wie Falser schreibt. Und wenn er dann Denkmalpflege »als die institutionalisierte, kollektive identitäts- und wertabhängige Analyse, Verwaltung und Verarbeitung von nationalen Zeitsymbolen als Baudenkmäler«42 definiert, kann man diese analytisch-kritische Tätigkeit selbst natürlich auch gewinnbringend auf Denkmalsimulationen übertragen, auch wenn die manchmal nichts anderes sind als trashige Themenarchitektur-Kanaillen niedrigster Art.
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Konjunktur der Rekonstruktionsprojekte
Die in den 1980ern aus gesellschaftlichen Wiederaufbauwünschen lancierten Nachbildungen der in den Flammengarben des Zweiten Weltkriegs vernichteten Fachwerkhausfassaden am Römerberg in Frankfurt und am Marktplatz in Hildesheim brachten eine »Rekonstruktionswelle ins Rollen, in der […] nostalgische und eskapistische Gefühle als Treibmittel wirken, die sich aggressiv gegen ›die Moderne‹ in Architektur und Städtebau richten«43 . Die Denkmalpflege reagierte mit zerknirschten Aufsätzen, die die städtebaulich rückwärtsgewandten Affektzirkulationen simulativer »Erinnerungsarchitekturen« als geschichtsverfälschende Täuschungsversuche zurückweisen, die »selbstgestrickte Märchen von der historischen Stadt erzähl[en]. Bis es alle irgendwann glauben.«44 Diese »Erinnerungsarchitekturen«, die, meist einhergehend mit der Zerschlagung ungeliebter nachkriegszeitlicher Stadtstrukturen, im Zweiten Weltkrieg vernichtete Baudenkmäler zur Wiedererlangung geschichtshaltiger gesamtstädtischer Identifikationsräume wiederaufrichten, gelten als Verstellung, als Blendwerk – als unbedachter und zugleich gefährlicher Geschichtsrevisionismus, der den Eindruck erweckt, als würde die Zeit rückwärtsgehen. Sie liefern, selbst wenn die historischen Details der simulierten Architekturqualitäten stimmen, »keine Erinnerung mehr, nur de-
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Falser: 2008, S. 7-8 Habich, Johannes: »Zur Einführung: Worum es geht«, in: Adrian von Buttlar et al. (Hg.), Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie, Basel: Birkhäuser 2010, S. 10 Tietz, Jürgen: »Märchenstunde am Main«, in: Neue Zürcher Zeitung, 20.3.2017; »Der grosse Irrtum einer derart fiktionalen Stadtarchitektur ist es, dass sie wie eine gebaute Zeitmaschine wirkt. Doch sie ist nur ein Abziehbild einer deutschen Seelenlandschaft, in der die Verwundungen der Kriegsund Nachkriegszeit bis in die nachnachfolgende Generation andauern.«; Ebd.
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ren Beschwörung, zu viel Gleichzeitigkeit im schönen und zugleich schrecklichen Fassadensouvenir«45 . Inauthentizität wird in der deutschen Rekonstruktionskontroverse, besonders in dem die feuilletonistische Szene beherrschenden Ton der Rekonstruktionsgegner, ausschließlich als Negativqualität architektonischer Eindrücke geführt. Obwohl bei den großen Rekonstruktionsleistungen, dem Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden und des Stadtschlosses in Berlin, – wie immer man diese einmal historisch beurteilen wird –, das unausbleiblich Inauthentische keineswegs nur ästhetisch kaschiert wird, sondern ebenso reflexiv gesetzt: etwa wenn sich bei den Steinfassaden der Frauenkirche die eingepassten originalen Spolienteile des 1945 kriegszerstörten Bauwerks materiell abzeichnen und ihre Historizität markieren.46 Was an diesen geschichtsnachbildenden »Erinnerungsarchitekturen« in und außerhalb des Architektur- und Denkmalpflegediskurses eine Scheidung der Geister hervorruft, ist allerdings weniger ihre architektonische Inauthentizität an sich, ihr Ignorieren der kunstgeschichtlichen und denkmalpflegerischen Maßstäbe, die Denkmalauthentizität auf einem materiell manifestierten »Alterswert« gründen, als eine damit in Verbindung gebrachte historische Verantwortungslosigkeit, da die politischen Rekonstruktionsentscheidungen, so wird geurteilt, die Schadensbilanz des Zweiten Weltkriegs und damit die nationalsozialistische Tyrannei herunterspielen. Sie würden, in Einklang mit den Schlussstrichmahnungen eines Martin Walser der Kriegsschuld Nazideutschlands mit heimattümelnden Fachwerkfassaden und barocker Machtarchitektur ausweichen. Denn wenn Walser, der in abtrudelnden Sätzen eine »Dauerpräsentation unserer Schande« als ritualisierte »Pflichtübung« bezeichnete, schließt, »[w]ahrscheinlich gibt es auch eine Banalität des Guten«47 , dann meint er nicht nur das Holocaustmahnmal in Berlin, das er als »fußballfeldgroßen Alptraum« und »Monumentalisierung der Schande«48 abkanzelte (eine Beurteilung, die er später revidierte), sondern ebenso eine Moderne, die sich einzig durch eine demokratisch-moralische Vorsortierung legitimiert, indem sie eine Nivellierung nicht-zustimmungsfähiger Vergangenheiten garantiert. Gerade das Holocaustmahnmal zeigt ja auch, wie Andreas Huyssen es ausdrückte, dass es, wenigstens im Feld der politischen Öffentlichkeit, den Anschein macht, dass »die Deutschen nach Jahrzehnten der Verdrängung schließlich doch noch gelernt haben, mit einer Vergangenheit umzugehen, die weder bewältigt werden kann noch je vergehen wird«; und mit ihrer Mahnmalarchitektur nicht »einfach neue Strategien des Verges-
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Falser: 2010, S. 91 »Die Rekonstruktion besteht zu 43 Prozent aus historischem Material, von 7110 geborgenen Werkstücken konnten 3539 wiederverwendet werden, die einbezogenen Ruinenteile machen 34 Prozent der Gesamtmasse von 60.000 Tonnen aus, bekrönt von der Steinkuppel mit der größten Spannweite nördlich der Alpen. Sie ist nun dauerhaft gesichert durch einen verborgenen stählernen Ringanker, so wie ein verstecktes Stahlgerüst die schwindelnd hohen und steilen, ehemals selbsttragenden hölzernen Emporen trägt«; Bartetzko, Dieter: »Aufgejubelt aus Ruinen: Die Dresdner Frauenkirche«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.10.2005 Walser, Martin: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 18-20 Ebd., S. 20
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sens ausprobier[en], die diesem neuen Deutschland erlauben sollen, zur Tagesordnung der selbstbewußten Nation überzugehen«49 . Die Rekonstruktionsopposition setzt die Wiederherstellungsentscheidungen kriegsruinierter Stadtbildqualitäten jedoch mit einer geschichtsrevisionistischen ideologischen Fixierung gleich, die sich auf nationalapologetische Ideen, die Dämonen des Nationalismus stützt. In diesem Politisierungskonflikt erscheinen die als Bürgeranliegen artikulierten Vergangenheitsvergegenwärtigungen als ein nationalpathetisches Spiel mit dem Tümelnden, dass die Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik wiederspiegle, insofern sich in den von der jeweiligen Lokalpolitik forcierten Rekonstruktionsprojekten zuerst jene von konservativen »Tendenzwendlern« in den 1980ern verschobene öffentliche Rhetorik zeige, die mit Helmut Kohls Forderung einer »geistig moralischen Wende« einherging. Später, nach der Neuetablierung einer gesamtdeutschen Nation ab 1990 mit der Normalisierungspolitik jenseits der obsoleten »deutschen Sonderwege« (– wie es Heinrich August Winkler bezeichnete: »Die deutschen Sonderwege sind an ihr Ende gelangt: der antiwestliche Sonderweg des Deutschen Reichs 1945, der postnationale Sonderweg der alten Bundesrepublik und der forciert internationalistische Sonderweg der DDR 1990. Wo Deutschland liegt, wo seine Grenzen verlaufen, wohin es politisch gehört, das alles ist […] endgültig geklärt. Es gibt keine deutsche Frage mehr.«50 ) So wenig jedoch die Rekonstruktionsprojekte mit den geschichtsrevisionistischen Positionen des »Historikerstreits« korrespondieren, so diskutabel ist der Umkehrschluss, den beispielhaft Michael S. Falser tätigt, dass die Wiederaufbauarchitektur »ein Bekenntnis zur Stadtgeschichte ohne Verdrängung der Geschichtskausalität von deutscher Kriegsaggression und Altstadtvernichtung«51 einschließe. Dieser Debattenansatz strapaziert überdies die Eigenbeschreibung der Wiederaufbauarchitektur als »Stunde Null« über. Der demokratische, weltoffene Ethos der Moderne, den in der frühen Bundesrepublik zum Beispiel Hans Scharoun und Paul Schneider-Esleben, später Günter Behnisch und Frei Otto in symbolträchtigen Architektursprachen reklamierten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich unter den Wiederaufbauarchitekten, die sich nach 1945 eilfertig dem Geist der Moderne verschrieben, nicht wenige durch die »Entnazifizierung« gerutschte frühere Nationalsozialisten befanden, die nun von der für das westdeutsche Restaurationsparadigma der Nachkriegszeit typischen Kontinuität der Funktionseliten profitierten. Es sollte, wie Nerdinger betont, nicht vergessen werden, wie »deutsche Architekten und Stadtplaner, die […] engstens mit dem NS-Regime verbunden gewesen waren, […] also alte Nazis die als Folge des von
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Huyssen, Andreas: »Faszination des Monumentalen: Geschichte als Denkmal und Gesamtkunstwerk«, in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996, S. 283; Huyssen stellt allerdings Fragezeichen hinter seine Sätze, denn er erblickt »Erlösung durch Erinnerung […] [als] Ziel des gegenwärtigen Erinnerungsbooms. […] Erlösung ersetzte Versöhnung oder das noch ältere Konzept Wiedergutmachung.«; ebd., S. 285 Winkler, Heinrich August: »Ende aller Sonderwege«, in: Der Spiegel, 24/2001; »Die Deutschen haben sich dadurch, dass es für sie als Nation vor 1990 so etwas wie westliche Normalität nicht gegeben hat, keinen Anspruch auf fortdauernde Anomalie erworben.«; Ebd. Falser: 2008, S. 145
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Deutschland angezettelten Weltkriegs entstandenen Zerstörungen als Nutzen für die Entwicklung der Städte stilisierten und somit die Täter die durch sie mit verschuldete Katastrophe zur Legitimation der eigenen Eingriffe in die Stadt verwendeten.«52 Die Rekonstruktionsopposition positioniert sich jedoch so mit einer mehr oder weniger expliziten Verteidigung der Moderne, gegen die sich die Rekonstruktionsprojekte ebenso mehr oder weniger explizit wenden, da sich in diesen ein Unbehagen an den mangelnden stadtästhetischen Identifikationsangeboten der Nachkriegsarchitektur ausdrückt, eine Reaktion auf die »Unwirtlichkeit« des Städtebaus nach 1945. Denn nicht nur in Alexander Mitscherlichs Empfinden folgte »[d]er patzigen Kleinbürgerei Hitlerscher Herkunft […] ein schäbiger, zusammengestoppelter Wiederaufbau […]. Was wir zuließen, war die Egalisierung der deutschen Städte auf einem Planungs- und Gestaltungsniveau dritter und vierter Hand.«53 Der abwiegelnde Restaurationsgeist der patriarchalischen Adenauerzeit verstand durchaus, sich in der deutschen Nachkriegsarchitektur gemütlich zu machen. Denkmalattrappen tragen keinen ideologischen Automatismus hin zu einer Deutschland-über-alles-Mentalität in sich, sie implizieren keine nationalistische Blutfrage. Was sie aber nachdrücklich zum Ausdruck bringen, und auch das veranschaulicht bundesrepublikanische Identitätslagen, ist ein Unbehagen am funktionalistischen Wiederaufbau-Städtebau, wie sich am Marktplatz von Hildesheim zeigen lässt. Die niedersächsische Fachwerkstadt, die aufgrund der Pracht ihrer Patrizier- und Gildenhäuser als »norddeutsches Nürnberg« galt, brannte bei alliierten Luftangriffen 1945 bis auf die Fundamente nieder. Bis auf die steinernen Umfassungsmauern des Rathauses und des Tempelhauses gingen die Baudenkmäler in Flammen auf, darunter das berühmte Knochenhaueramtshaus, der »Inbegriff des mittelalterlichen Fachwerkhauses überhaupt, […] das Wahrzeichen Hildesheims, sogar ein Nationaldenkmal, das Patriotenblut in Wallung brachte.«54 In den Nachkriegsjahrzehnten wurde der Marktplatz dann nach den Gesichtspunkten des Wirtschaftswunderkapitalismus mit Bauten im Rasterfassaden-Funktionalismus wiederbestückt, zudem nach Bürgerabstimmung durch eine (als Parkflächen genutzte) Platzerweiterung verändert. Bürgerinitiativen, die sich für den Wiederaufbau von »Alt-Hildesheim« starkmachten, führten 1983 allerdings zu Stadtratsbeschlüssen, die den Abriss der Nachkriegsarchitektur freigaben und die (Teil-)Rekonstruktionen einleiteten. Mit den neuerstandenen Fassaden des Wedekindhauses und des Wollenwebergildehauses und dem neuerstandenen Knochenhaueramtshaus war »das seltsame Nachkriegsdrama ausgestanden. Das berühmte Haus, das fast ein halbes Jahrhundert von der Erdoberfläche verschwunden war, ist wiederaufgetaucht, es wirkt frisch herausgeputzt«. Nur heißt das nicht, das nun »alles [ist] wie früher, alle Spuren des Krieges hier sind ausgelöscht, die Frage nach seinen Ursachen war sowieso lange vergessen. Es sieht aus,
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Nerdinger: 2012, S. 182 Mitscherlich: 1965, S. 63; Diesen Verlust der gestalterischen Qualität in der Detaillierung und im Materialeinsatz bezeichnete Lampugnani als »Nemesis der deutschen Architektur: als Strafe für den Terror, den sie in den dreißiger und vierziger Jahren repräsentiert und beschönigt hat, wird ihr gleich die gesamte eigene Tradition verwehrt.«; Lampugnani: 1993 Anonym, »Ein großes Haus, so alt wie neu«, in: Die Zeit, 51/1989
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als sei nichts gewesen.«55 Denn gerade die Inauthentizitätszuschreibungen dieses »AltHildesheim«, ihr Gefangensein im mannigfaltigen Wahrnehmungssystem des materialfixierten denkmalpflegerischen Authentizitätsdiktats, markieren ihr Stadtschicksal, bedeuten im Ergebnis das Gegenteil einer Entgeschichtlichung, wie Hanno Rauterberg schreibt: »Paradoxerweise wird erst durch die Wiederkehr des Verlorenen die Verlusterfahrung besonders spürbar, und das schon deshalb, weil das neue Alte sich nicht ins Umfeld des alten Neuen fügt. Fast unweigerlich stellt sich die Frage, was denn hier eigentlich wann und aus welchen Gründen passiert ist.«56 Zugleich treiben freilich die Möglichkeitsversprechen der Rekonstruktion den Authentizitätsbegriff der Denkmalpflege in eine dilemmatische Argumentationssituation, die in die eine oder die andere Richtung ihren Status untergräbt. Entweder artikuliert der denkmalpflegerische Authentizitätsdiskurs im ungemilderten Bewusstsein seiner schärfer definierten Authentizitätskategorie seine grundsätzliche Ablehnung, wie dies Falser repräsentativ für seine Disziplin tut: »Rekonstruktionen sind historische Fälschungen, weil sie zum Datum ihrer Entstehung dem Betrachter die Qualität eines gewachsenen Geschichtsdenkmals lediglich vorzuspielen versuchen; und sie sind künstlerische Fälschungen, weil sie so gut wie nie ihre eigene zeitgenössische Handschrift und Autorenschaft offenbaren (wollen).«57 Begreift sie jedoch komplette wie selektive Rekonstruktionsprojekte nicht mehr existierender Objekte in dieser Weise als »schlichtweg außerhalb des Auftrags der Denkmalpflege, materiell überlieferte Denkmäler als authentische Zeugnisse der Kunst und der Geschichte zu pflegen und zu erhalten«58 , kommt dies einer diskursiven Selbstbeschneidung gleich, denn damit erklärt sie sich für nicht zuständig und kann nicht länger als privilegierter Diskutant agieren. Oder aber die Denkmalpflege weicht, im Widerspruch zu den eigenen Glaubenssätzen, ihren Authentizitätsbegriff auf und anerkennt die Erinnerungsqualitäten, die einer vergangenen Wirklichkeit entliehene Fiktionen kreieren – auf die Gefahr hin, und diese Gefahr ist keine kleine, sich über dem Argumentationsansatz einer »immateriellen Authentizität« in eine Beweisführung hineinzuschreiben, die einer Auratisierung simulierter Historie zuarbeitet und, wenn sie Rekonstruktionsprojekte betreut, als Handlanger einer im Ungefähren endenden Illusionsindustrie gauklerische Simulationen auf Länge schneidet. Nicht unbegründet die Warnung Bentmanns, dass die Institutionalisierung der Denkmalpflege seitens konservativer Politik seit den 1980ern dieser einen äußerst trügerischen Aufwind (»gute Karten, verdächtig gute Karten«) beschert habe, in dem sie als »politische Mittäter« eingespannt werden: »Als Identifikationsmacher haben wir teil daran, daß in dieser Republik […] Verdrängung von Geschichte, ihre Beschöni-
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Ebd.; Ein ähnlich lagernder Sachverhalt ergibt sich bei einem weiteren kriegsbeschädigten Baudenkmal Hildesheims, der romanischen Kirche St. Michaelis. Diese wurde als »ein ottonischer, im Detail nicht nachweisbarer Idealzustand (re-)konstruiert, zeitlich spätere Überformungen korrigiert und das Ergebnis [ist] trotz des Fehlens erkennbarer Kriegsspuren als Mahnmal ausgewiesen worden«; Falser: 2008, S. 153 Rauterberg, Hanno: »Altstadt für alle!«, in: Die Zeit, 21/2018 Falser: 2010, S. 99 von Buttlar: 2010, S. 167
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gung, Stilisierung und Verkitschung, als Bewältigung verkauft wird, das Surrogat für die Wahrheit«59 . Paradoxerweise tragen auch die kritischen Intellektuellendiskurse, die jene Rekonstruktionsoffensive ebenso mit malmenden Zähnen registrieren, als fiktionsangereicherte »Geschichtsfälschungen«, als Scharlatanerien patriotisch verhärteter Erinnerungsbilder attackieren, zu dieser Krise der akademischen Denkmalpflege bei.60 Denn auch wenn mit den breiten Kommentierungen eines hyperventilierenden Feuilletons die disziplinären denkmalpflegerischen Begriffsunterscheidungen Eingang in gesamtgesellschaftliche Debatten und ins politische Gremiendeutsch finden, trüben sich ihre faktischen Partizipationsaussichten ein, als diese nun mitunter mit maliziösen Argumentationsmustern falsch eingefädelt, in weltanschauliche Planspiele von Politikern und Feuilletonisten verstrickt werden, und erst recht in die schlampigen Argumentationen reaktionärer Kapitalfraktionen. In diesen Auseinandersetzungen werden die Analysekategorien kunsthistorischer Authentizität instrumentalistisch gebraucht, um symbol- und kulturschwangeren Wiedererrichtungen kriegsvernichteter Architekturdenkmäler wie der Dresdner Frauenkirche oder dem Berliner Stadtschloss als Nationalsymbole des wiedervereinigten Deutschlands ihrer kulturellen Verzagtheit und naiven, antigeschichtlichen Rückwärtsgewandtheit zu bezichtigen. In dem, was ein politisch konservativer Rekonstruktionskonsens als ein Zeichen der Renaissance eines kulturinteressierten Bürgertums affirmiert61 , sehen die Rekonstruktionsgegner eine Wiederkehr nationalistischer Affekte, die Etablierung einer harmonistischen, undialektischen Geschichtsauffassung aufsteigen. Seit dem in den unmittelbaren Nachkriegsjahren betriebenen Wiederaufbau des bei Luftangriffen 1944 niedergebrannten Goethehauses in Frankfurt ist »die (mitverschuldete) Geschichtsspuren verwischende Rekonstruktionspraxis […] mit dem Vorwurf der Aufarbeitungsverweigerung moralischer (Mit)Schuld parallelisiert worden.«62 Ein Plädoyer des linkskatholischen Publizisten Walter Dirks wirkte dabei diskursprägend für die intellektuelle Gestimmtheit der frühen Bundesrepublik. Den Verzicht auf einen Wiederaufbau begriff Dirks 1947 als demütige Verarbeitung der Zeitläufe, als Sühnebereitschaft für die deutsche Kriegsschuld. Denn der Verlust der historischen Erinnerungsstätte, des Geburtshauses des Nationaldichters, »war kein Versehen, das man zu
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Bentmann: 1988 So betont beispielsweise Georg Mörsch das »Zerstörungspotential des aktuellen Rekonstruktionsbetriebs«: »Schon der Fluß der öffentlichen Mittel in solche Rekonstruktionen als Maßnahme der Denkmalpflege und der Entzug dieser Mittel für die wirklichen Denkmäler sind der praktische Beweis für den unmittelbaren Zusammenhang zwischen scheinbarer Denkmalschöpfung durch Neubau und tatsächlicher Denkmalzerstörung.«; Mörsch: 2010, S. 20 Rainer Haubrich schlug diese Argumentation beim Berliner Stadtschloss an. Er sieht über die »städtebaulich heilende[] Kraft des Schlosskörpers« hinaus, in der Rekonstruktion »auch ein Zeichen der Gelassenheit, mit der das Land heute auf die Höhen und Tiefen seiner Geschichte zurückschaut […]. In diesem Projekt scheinen die besten Traditionen des Bürgertums auf: Respekt vor der Überlieferung und ein wacher Sinn für das notwendig Neue, Bildungsdrang und Kunstsinn. Gibt es eine bessere Hülle für diesen Geist als die universale Architektursprache des Barock«; Haubrich, Rainer: »Das Wunder von Berlin«, in: Die Welt, 25.4.2007 Falser: 2008, S. 95
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berichtigen hätte, keine Panne, die der Geschichte unterlaufen wäre: es hat seine Richtigkeit mit diesem Untergang. Deshalb soll man ihn anerkennen. […] Nur eines ist hier angemessen und groß: den Spruch der Geschichte anzunehmen, er ist endgültig.«63 Wie Dirks befürchten die in dieser schwierigen Materie Argumentierenden, dass Denkmalattrappen einen geschichtsverfälschenden Vermeidungsparcours einschlagen, der Vergangenheitsbewältigung neutralisiere, da er »für ein Verständnis von Historie stehe, das den Nationalsozialismus nur noch als Anekdote einer ansonsten bruchlosen Nationalgeschichte betrachte«, wie Stephan Trüby klagt, für den sich Rekonstruktionsarchitektur in Deutschland »zu einem Schlüsselmedium der autoritären, völkischen, geschichtsrevisionistischen Rechten« entwickle, die »zunehmend politische Terraingewinne im lokalstolzen, kulturell interessierten, aber teils eben auch politisch naiven Kulturbürgertum verbuche«64 – Als vereinen Denkmalsimulationen in ihrer Scheinhaftigkeiten die Perfidie der beiden großen Blender kulturindustrieller Manipulation: Hitler und Disney. Nicht, dass sich die leitartikelnden bundesrepublikanischen Intellektuellen, die sich ihren kritischen Desillusionsrealismus zugutehalten, verrannt hätten mit dem Thema, eine Phantomdiskussion führen würden, denn diese Instrumentalisierungsgefahr durch chauvinistische, reaktionäre Heimattümler hat durchaus Plausibilität. Dennoch ist es freilich nicht so, dass gleich dunkle Impulse von einem Besitz ergreifen, wenn man sich etwa in die schmalen Gässchen der nachgebauten Neuen Altstadt in Frankfurt begibt. Wie man überhaupt relativieren muss, »dass Rekonstruktionsprojekte politisch weder rechts noch links einzuordnen sind. Ihre Legitimation beziehen sie vor allem aus zwei Quellen: ihrer handwerklichen Qualität und ihrer bürgerschaftlichen Akzeptanz.«65 Zudem begleitet speziell die Rekonstruktionsopposition der politischen und feuilletonistischen Kommentierwelten den Meinungsstreit kurioserweise selbst oft in der benennenden Festlegung mit essentialistischen Wonnewörtern der »Echtheit« und »Eigentlichkeit«, einer elliptischen Rhetorik, die sich mit ihrer mitgeschleiften Metaphysik teilweise wenig von der einstigen konservativen deutschen Geistigkeit unterscheidet, die Adorno attackierte.
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Dirks, Walter: »Mut zum Abschied. Zur Wiederherstellung des Frankfurter Goethehauses«, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, 2/1947; Das Goethehaus »ist nicht durch einen Bügeleisenbrand oder einen Blitzschlag oder durch Brandstiftung zerstört worden; es ist nicht ›zufällig‹ zerstört worden, genauer gesagt: in einer Kausalkette, die keine Beziehung zu dem eigentümlichen Wesen dieses Hauses hätte und also ihm gegenüber äußerlich wäre. Sondern dieses Haus ist in einem geschichtlichen Ereignis zugrundegegangen, das mit seinem Wesen sehr wohl etwas zu tun hat. Es gibt Zusammenhänge zwischen dem Geist des Goethehauses und dem Schicksal seiner Vernichtung. […] [W]äre das Volk der Dichter und Denker (und mit ihm Europa) nicht vom Geiste Goethes abgefallen, vom Geist des Maßes und der Menschlichkeit, so hätte es diesen Krieg nicht unternommen und die Zerstörung des Hauses nicht provoziert. Die große Vernichtung steht folgerichtig am Ende eines Weges, der von Goethe weggeführt hat.«; Ebd. Trüby, Stephan: »Wir haben das Haus am rechten Fleck«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.4.2018 Alexander, Matthias: »Wir waren schon weiter«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.5.2018
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Eine »Deblockierung der Debatte«66 ist allein angesichts der antagonistischen Interessenslagen illusionär, und am wenigstens scheinen Authentizitätsdiktate, in die man viel hineininterpretieren kann, dazu beizutragen. Veranschaulichen lassen sich die vertrackten Missverständnisse an der Einerseits-Andererseits-Diskussion über die Teilrekonstruktion des Berliner Stadtschlosses als Humboldt Forum, dem kontroversesten Prestigeprojekt der Bundesrepublik. Die Wiedererrichtung der einstigen preußischen Königsresidenz im städtischen Strahlenschein der wiedergefundenen Hauptstadt, eines Berlin, das sich wieder als Weltstadt begreift, geriet seit den frühen 1990ern, verursacht durch ungenügende Diskursdifferenzierung, zur bundesrepublikanischen Gesinnungsfrage, die in feierlichen Leitartikeln zur deutschen Geschichts- und Erinnerungskultur ausgetragen wurde. Die von einer breiten Medienöffentlichkeit begleitete Einformung der Museumsneugründung des Humboldt Forums in die Zeitenferne des rekonstruierten Hohenzollernschlosses, die nach Wettbewerbsentscheid der italienische Architekt Franco Stella zwischen 2011 und 2020 besorgte, war zwar auch ein Architekturstreit – in der seit der deutschen Wiedervereinigung zwischen einem modernistischen Metropolendiskurs, der die Imagebildungen einer ungeduldigen internationalen Investorenarchitektur bedient, und einem sich auf Schinkel berufenen städtebaulichen Leitbild eines »Steinernen Berlins« hin- und hergerissenen Hauptstadt. In der »Konfrontation zwischen den Verteidigern einer Weiterentwicklung und Reparatur des Nachkriegszustandes und jenen einer konservativ-konstruktiven Planungsideologie der Stadtrückführung ins 19. Jahrhundert«, die »auf der Basis einer herbeigeredeten Tradition und Kontinuität einer europäischen Stadtstruktur mit geschlossener Blockrandbebauung und einheitlicher Traufkantenführung […] konsequent die nachkriegszeitlichen Überbauungen«67 marginalisiert. Mehr jedoch noch sollte das anachronistische Schimmerbild der Barockverzierungen in seinen konzeptionellen Entscheidungen und deren Deutungsveredelungen in den Feuilletons eine politische Selbstbeschreibung der Berliner Republik herstellen. Das von den Barockbaumeistern Andreas Schlüter und Eosander von Göthe im frühen 18. Jahrhunderts erweiterte Stadtschloss, das während des Zweiten Weltkriegs 1945 bei Luftangriffen ausbrannte und durch Artilleriebeschuss stark beschädigt wurde, war nach der Teilung Berlins auf Entschluss des DDR-Regimes abgerissen worden. Dieses »eifersüchtige Neuherrschertum«68 hatte, weil »es Gefangene seiner Vorurteile blieb«,
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Bürger, Peter: »Die Echtheit der alten Steine«, in: Neue Zürcher Zeitung, 7.1.2009; Es ist allerdings zu bezweifeln, das sich dies allein durch eine Umdeutung der Vorzeichen erreichen lässt, indem man mit Peter Bürger »das Verlangen nach Rekonstruktionen« als ein Anzeichen dafür interpretiert, »dass viele Menschen in Deutschland anfangen, sich die äusseren und inneren Verheerungen, die der Bombenkrieg mit sich gebracht hat, einzugestehen. Die Unversöhnlichkeit aber, mit der viele Architekturtheoretiker sich dagegen wehren, würde nicht nur einem festgehaltenen ästhetischen Modernismus geschuldet sein, sondern vor allem auch der Verdrängung dessen, was im Zweiten Weltkrieg – durch eigene Schuld – mit den Deutschen und ihrem Land geschehen ist.«; Ebd. Falser: 2008, S. 179 Fest: 1991, S. 77
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wie Joachim Fest resümierte, das Schloss in den »Formeln des sozialistischen Ressentiments« als Symbol der »Junkerherrschaft« denunziert; nicht verstanden, dass es »besser daran getan hätte, die Geschichte, wie das totalitäre Vorgängerregime auch, für sich zu usurpieren, statt deren Zeugnisse zu zerstören.«69 In den 1970ern entstand dann auf dem Areal unter Chefarchitekt Heinz Graffunder mit dem Palast der Republik die Machtzentrale der DDR, ein zeittypisch spätfunktionalistischer Bau mit bräunlich eloxierten Glasfassaden, der zwar in seiner Gestaltungsqualität gegenüber der barocken Schlossarchitektur abfällt, als Sitz der Volkskammer allerdings ebenfalls mit einem historischen Wert besetzt ist und sich ein Stück in die Biographien von Millionen Ostdeutscher einschrieb – und sei es nur, weil sie bei einem Besuch hier einen »Eisbecher Schnatterinchen« gegessen hatten. Daher waren die seit der Wiedervereinigung betriebenen Initiativen zur Wiedererrichtung des Stadtschlosses, die schließlich in Beschlussfassungen des Deutschen Bundestags mündeten, immer mit dem Abriss des überdies asbestverseuchten Palastes der Republik verknüpft, die verkantete Argumentation zu einem Ausspielen zweier vergangener Staatsarchitekturen und ihrer Herrschaftsideen verurteilt. Der sich keineswegs nur aus preußenseligen Konservativen rekrutierende Teil der politischen Deutungseliten, der eine Rekonstruktion befürwortete, betonte in höflicher Belehrung die Notwendigkeit, dass Berlin als Hauptstadt Gesamtdeutschlands in ihrem Zentrum nach einem städtebaulich identitätsstiftenden Wahrzeichen verlange. Eine Meinung, die etwa Joachim Fest der Öffentlichkeit beizubringen versuchte. Er verteidigte das Stadtschloss auch architektonisch gegen die seiner Ansicht nach durch Realitätsuntüchtigkeit entlarvten Nachkriegsplanungen, gegen eine Moderne, die eine Reihe unheilvoller Bilder gezeitigt habe. Die Hohenzollerresidenz sei kein »Einschüchterungsbau« gewesen, vielmehr habe sie, so Fest in seiner Ergebenheitsadresse, »eine Art Intimität oder jedenfalls Menschenmaß bewahrt, was freilich auch auf Schlüter zurückging, der die riesigen Formate durch kunstvolle Unregelmäßigkeiten rhythmisiert und als Bildhauer, der er zugleich war, das Monumentale ins Plastisch-Bewegte aufgelöst hatte«70 . In den gereizten Zurückweisungen der Rekonstruktionsgegner hieß es hingegen, in den ästhetisierten Bildwerten des Preußenschlosses verrate sich eine architektonische Repräsentationskrise der nun Berliner Luft atmenden Bundesrepublik, da sie ihre Zukunft mit Vergangenheit absorbiere. Gesinnungsgeschichtlich zeige sich in ihr ein neudeutscher Nationalismus, der mittelbar den gewachsenen Verfassungspatriotismus der Bonner Republik rückabwickle, und unmittelbar mit dem »Systemtransfer« auch die Bauten des verschwundenen Staates DDR, die Denkmalschichten nach 1945, aus der Erinnerung tilgt, als hätte es die deutsche Zweistaatlichkeit nie gegeben. Mit dem Abriss des Palastes der Republik, der nach der eiligen Asbestsanierung allerdings nur noch aus der bronzierten Glasfassade und einem Stahlbeton-Stahlrahmen-Rohbau bestand, bleibe als falsches Bild im Raum hängen, dass »durch gezielte Simulierung eines nie bestandenen […] Vorzustandes eine Überschreibung der Erinnerungsspuren
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der Nachkriegszeit stattfindet, die in gefährlichem Widerstreit mit der gesellschaftlichsozialen Realität der lange geteilten Stadt steht.«71 Und obwohl die Berliner Rekonstruktionskontroverse, in der Polemik keineswegs zum Vorrecht der Gegner wurde, per definitionem keine Frage der Denkmalpflege diskutiert72 , »beherrschte und terrorisierte der Begriff des Authentischen« den Streit der thesenfreudigen Feuilletontexte, »das Authentische gewährte Generalpardon für alles Hässliche und Misslungene der Geschichte«, rekapituliert Klaus Hartung. Die Gegnerschaft würde sich »am Fetisch eines Begriffs [aufhängen], der dem Gemeinwesen das Recht auf Schönheit und die Souveränität abspricht, die eigenen Traditionen frei zu gestalten.«73 Aber nicht nur der Abbruch eines authentischen Baudenkmals zur Errichtung einer inauthentischen Nachbildung wird beklagt. Auch die Beurteilung der Pläne Franco Stellas, des wenig bekannten Verlegenheitskandidaten, bleibt bestenfalls zurückhaltend. Nicht wenige, wie Hanno Rauterberg, nennen sie »desaströs« und »ängstlich«. Denn Stellas der Tradition des italienischen Rationalismus verhaftete Architektursprache erschaffe mit ihrem »entschiedene[n] Wille[n] zur Allgültigkeit« eine ahistorische »Residenz der Kälte«74 , eine »gestalterische[] Kühlkammer«75 , und sabotiere Schlüters Barock, der noch in der Rekonstruktion durch seine Opulenz für sich einzunehmen versteht. Wenn jedoch bei Schlüter »in der Theaterhaftigkeit seiner Baukunst etwas Uneigentliches« liegt und es »gerade das [ist], was sie bis heute verlockend macht: ihr vermessener Drang ins frei Erdachte«76 , dann steigern die Künstlichkeitseffekte einer Rekonstruktion einerseits, die Rupturen mit dem seinen eigenen Unzulänglichkeiten aufsitzenden Rationalismus Stellas andererseits dieses »Uneigentliche« noch. Und gerade in diesen Uneigentlichkeits- und Inauthentizitätseindrücken, die den preußischen Hohlformeln des neuen Monuments, über das bereits die Reisebusse ausgekippt werden, den Monumentalismus nehmen, erweist sich die Schlossrekonstruktion als »schöner, verrückter Traum, eine begeisternde Illusion«, wie Mathias Schreiber resümiert: »In diesen poetischen Dimensionen wäre Preußens Wiederkehr keine
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Falser: 2008, S. 165 »Die Gestaltung ist nach denkmalpflegerischem Selbstverständnis nur indirekt eine denkmalpflegerische Aufgabe, da das Denkmal Berliner Schloss 1951 materiell untergegangen ist und weder als authentisches Geschichtszeugnis noch als authentisches Kunstwerk wiedergewonnen werden kann.«; von Buttlar: 2010, S. 179 Hartung, Klaus: »Eine Stadt hofft auf Heilung«, in: Die Zeit, 30/2001 Rauterberg, Hanno: »Eine Residenz der Kälte«, in: Die Zeit, 50/2008; »Stellas Fassaden sehen aus, als hätte jemand dem alten Schloss jede Verspieltheit und alle skulpturalen Lustbarkeiten abgehämmert, als sollte nur der konstruktive Kern übrig bleiben, das wahre Innere. Dass diese Art der Abstraktion furchtbar kalt und leblos wirkt, stört Stella nicht. Ihm geht es um Logik, er sucht nach Essenz, nach einer Architektur, die etwas verkörpert, das immer war und immer sein wird.«; ebd. Rauterberg, Hanno: »Bipolare Störung«, in: Die Zeit, 34/2018; Rauterbergs Erklärungsansatz, warum Stella dennoch ausführen durfte, ist allerdings durchaus plausibel: »Vielleicht weil man ihn unbedingt als Pathos-Bremse brauchte. Seine Bauweise schien wie gemacht, um dem barocken Überschwang der Rekonstruktion, die von nicht wenigen als Zeichen einer politischen Restauration begriffen wurde, ein strikt rationales Pendant einzuziehen.«; Ebd. Ebd.; »[D]as Gold allzu goldig, der Warthauer Sandstein makellos. Die Gewordenheit des Schlosses, seine Patina, lässt sich nicht erzwingen. Es wird ein paar verdieselte Winter brauchen, um das Schloss anständig einzugrauen.«; ebd.
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Bedrohung, sie wäre Preußens […] Domestikation. Es klingt paradox: In der SchlossBegeisterung steckt ein gewisser Geschichtsnihilismus«77 . Beispielhaft für die von Zwängen des Kategorischen belastete Debatte über die Legitimität von Rekonstruktionsprojekten ist auch die angelegentlich überinterpretierte Neue Altstadt Frankfurt. Feuilletonistische Lobreden, meist scheu-spröde formuliert, überwiegen in der Diskussion, doch erzeugt der zwischen 2012 und 2018 ausgeführte Wiederaufbau der in den Flammenwalzen der alliierten Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs niedergebrannten Fachwerkaltstadt am einstigen Krönungsweg der deutschen Kaiser zwischen Dom und Römerberg ebenso Opposition. Nicht, weil es nichts gibt ohne Gegenmeinung, oder weil sich die Rekonstruktionsleistungen mit einem bescheidenem Niveau begnügt hätten, sondern weil in die architekturideologische Zuspitzung um die Nachbildung der Neuen Altstadt – die zweite große Rekonstruktionsleistung in Frankfurt a.M., nachdem zwischen 1982 und 1984 bereits die durch die Feuersbrünste der Phosphorbomben 1944 zerstörte Ostzeile des Römerbergs weitgehend originalgetreu wiedererrichtet wurde – auch hineinspielt, dass für die altertümelnden Fachwerkkulissen das in den 1970ern errichtete Technische Rathaus abgerissen wurde. Ein immer umstritten gebliebenes Ungetüm der Architekten Bartsch, Thürwächter und Weber, das aufgrund seiner städtebaulich überdimensionalen Baukörper und dem brutalistischen Fassadenbild mit umlaufenden Waschbetonbrüstungen und Metallgestängerasterungen wie ein Paradefall für die Verfehlungen einer unsensiblen, sich im Schweigen verlierenden Moderne erscheint – die pastellfarbene Altstadtattrappe kann daher auch hier als revanchistischer Akt für die Bausünden der Nachkriegsarchitektur wahrgenommen werden. Grundsätzlicher werden allerdings auch an der Neuen Altstadt, diesem historisch hochbedeutenden Ort, deutsche Geschichte und deutsches Selbstverständnis mitverhandelt, da selbstverständlich auch die Vernichtung der mittelalterlichen Fachwerkaltstadt durch alliierte Fliegerstaffeln in einem direkten Kausalitätsverhältnis zur Kriegsschuld Nazideutschlands steht. Und daher gilt vielen auch die Neue Altstadt als »Ausdruck eines neuen Geschichtsbewußtseins, das sich endlich anschicke, die durch die Verbrechen des Nationalsozialismus gestörte Beziehung zur großen nationalen Vergangenheit zu überwinden«, indem sie glauben lässt, es ließen sich auf diese Weise »gleichsam gefallene Maschen im Strickmuster des deutschen Geschichtsbildes aufnehmen«78 . Abseits dieser mentalitätsgeschichtlichen Verhandlungen deutscher Angelegenheiten taugt Frankfurts Neue Altstadt allerdings auch rein architektonisch weder zur Verharmlosung noch zur Dramatisierung. Das liegt an der grundsätzlichen Überschaubarkeit des kleinen Stadtquartiers, von dem gerade einmal 15 der 35 errichteten »Bürgerhäuser« als Rekonstruktionen ausgebildet sind. Die in den historischen Parzellenzu77
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Schreiber, Mathias: »Das verrückte Traumbild«, in: Der Spiegel, 3/2001; Daher ist es naheliegender, die Frage der Monumentalität in Bezug auf das nahe Holocaustmahnmal zu diskutieren, wie Huyssen die Frage zu stellen, »wie es möglich ist, daß ein Land, das sich in seinem Selbstverständnis und seinen kulturellen Manifestationen nach dem Dritten Reich dem Antimonumentalen verschrieben hatte, plötzlich auf monumentale Dimensionen rekurriert, wenn es gilt, öffentliche Erinnerung an den Holocaust zu demonstrieren.«; Huyssen: 1996, S. 286 Habich: 2010, S. 9
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schnitt eingepassten Häuser mit der für Frankfurt typischen giebelständigen Bauweise mit auskragenden Fachwerkgeschossen über einem steinernem Erdgeschoss bleiben im gesamtstädtischen Gefüge einerseits gegenüber den ansatzlos ins Stadtbild der Finanzmetropole gestellten Bankentürmen, andererseits gegenüber den Unansehnlichkeiten des Nachkriegsfunktionalismus eine Marginalie. Aber es ist auch nicht so, dass man hier ein trübes architektonisches Versagen überblicken würde. In Summe wurde sicher mehr richtig gemacht als falsch. Bezeichnenderweise überzeugen jedoch die Rekonstruktionsleistungen weit mehr als die regelbasierenden Neubauten, die zwar mit beamtischer Rechtschaffenheit die einstigen Gebäudekubaturen mit ihren steile Satteldächern nachzeichnen, in der in sich verhaltenen Art ihrer anämischen, abstrahierenden Fassadendetaillierungen allerdings im Ungefähren bleiben. Es reizen nur die guten Details, die aufwendig nachgebildeten Handwerkskünste: die mit buntgefärbten Schnitzereien verzierte Renaissancefassade des Kaufmannshauses Haus zur Goldenen Waage aus dem 17. oder der Patrizierhof Rebstock am Markt aus dem 18. Jahrhundert mit seinen hölzernen Laubengängen. Dass der Neuen Altstadt im Maße seiner Nahbarkeit allerdings ein augenscheinlicher Artifizialitätscharakter anhaftet, sie wirkt wie chemisch gereinigt, liegt schlicht an ihrer materiellen Neuheit. Die Inauthentizitätseindrücke erscheinen jedoch in einem positiven Sinne konfliktiv, sie zeigen die von Kontingenzen mobilisierten Erinnerungssprünge der Rekonstruktion. Man fragt unwillkürlich nach den hintergründigen Verwicklungen der ins Künstliche entrückten Bilder, nach den Linien zu weit auseinanderliegenden Zeiten. Genau darin liegt der Kitzel des Inauthentischen bei der Nachbildung historischer Baudenkmäler. Selbst ein Übermaß an materiellem Authentizismus, maximale Approximationswerte in der Stringenz und Präzision, schütten nicht den Blick zu für die geschichtlichen Tiefen der Rekonstruktionsleistung, ihre prospektiv und retrospektiv greifenden Wertzuschreibungen, die ein anti-essentialistisches Rezeptionsprojekt in ihrer Kontingenz, ihren Defekten und Defiziten, sezieren will. Beinahe zwangsläufig fällt Irritatives aus der Kulisse, verwickelt sich die »Umfälschung der Geschichte« in Widersprüche. Einfach auch, weil der fingierte »Alterswert« des nachgebildeten Denkmals nichts ist, was man einfach anknipsen kann, erweist sich »der Nachdruck und die Explizitheit des Anspruchs, authentisch oder eben typisch zu sein, [als] ein relativ verlässlicher Indikator fürs Gegenteil […]. Der laut geäußerte und prominent markierte Anspruch, authentisch zu sein, zeigt sich oft als Prätention […] [und] produziert im Gegenteil den Verdacht der Inszenierung.«79 Die Zerknirschung über die Inauthentizität der Denkmalattrappen muss daher keine sein, denn sie ist keine unidentifizierte, keine, die zwangsläufig wie ein Betäubungsmittel auf das Gehirn wirken würde. Das Massenbewusstsein leidet nicht unter einer Apperzeptionsschwäche. Und es ist nicht nur richtig, dass sich die Sehnsucht nach historischer Erfahrung auch in Geschichtsfälschungen befriedigen lässt, sondern ebenso, dass sich in ihnen, wie es Shusterman beschreibt, eine »einladende Vision fremder Sozialwelten und Lebensformen« herstellt, die zu der kontingenzreflexiven »Feststellung
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führen, daß unsere eigenen, sozial eingebürgerten Praktiken weder notwendig noch ideal sind und damit den Weg für Veränderung freimachen.«80 Es ist keine fehlende Problemeinsicht, kein Zufriedensein im schönen Schein, sondern der Indifferentismus der Menschen gegenüber der Moderne, der hinter dem Erfolg des deutschen Rekonstruktionsbooms steht. Und bei allem Kitschverdacht gegenüber der Neuen Altstadt, in Frankfurt drängt sich der Vergleich mit der repetitiven modernistischen Gleichförmigkeit des Europaviertels auf, an deren reduktionistisch ausgedünnten Fassadenrastern das Auge nicht richtig satt wird (– denn an immobilienwirtschaftlichen Stadtteilentwicklungen dieser Art, »die ihre Urbanität und Zukunftsfähigkeit glauben schon mit ihrem Namen ›Europaviertel‹ nachweisen zu können, fröstelt es uns«, wie Christoph Mäckler schreibt, »angesichts der abstoßenden Kälte und Langeweile, die uns in den ungefassten Stadträumen entgegenschlägt«81 ). Oder aber mit der Spektakelarchitektur des Einkaufszentrums MyZeil der Stararchitekten Massimiliano und Doriana Fuksas, deren biomorph geschwungene Glasfassade mit rätselhafter Absicht einen triangulierten Trichter ausstülpt, der wie ein riesiger gläserner Anus aussieht und wahrscheinlich nicht wenige trenchcoattragende Perverse zu das Rückenmark schädigenden Handlungen verleiten dürfte.
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Shusterman: 1994, S. 71 Mäckler, Christoph: »Von Haus aus missglückt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.9.2016
5 Das Inauthentische als Simulation in der Themenarchitektur
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Zauber der Simulakren – Abweichungen in die architektonische Vielfalt
Die Inauthentizitäten vergnügungsindustrieller Themenarchitektur, die progressiven wie konservativen Vertretern der Intelligenzija den Gesichtsausdruck verrutschen lassen, seit sich diese außerhalb der kanonisierten Architektur des 20. Jahrhunderts nach den Gestaltungsprinzipien des Disney Imagineering zu einer internationalen Blaupause für Freizeitinfrastrukturen, Einkaufszentren und Urlaubsresorts entwickelte, haben dieser eine kalte Verurteilung eingebracht. In den weltumfassend massentauglichen thematischen Simulationsästhetiken ist zwar die Architektur das gesellschaftliche Mittelpunktsmedium, das sie sein will. Aber diese gelten als charismafreie Trivialarchitekturen, bei der sich das Publikum, die Besucher unter Niveau amüsieren. Als Schundlieferant für die verkümmerten Begierden des Spätkapitalismus. In keinem Feld der Massenkultur sind Horkheimers und Adornos Analysen der Kulturindustrie so schlagend wie für die Amüsements in Themenparks, wo »das Amüsementbedürfnis weithin von der Industrie hervorgebracht [wird], die den Massen das Werk durchs Sujet, […] das Puddingpulver durch den abgebildeten Pudding anpries, […] dem Amüsement immer schon das geschäftlich Angedrehte anzumerken [ist], der sales talk«; Nirgends sonst zeigt sich in dieser Schärfe die »ursprüngliche Affinität […] von Geschäft und Amüsement […] in dessen eigenem Sinn: der Apologie der Gesellschaft. Vergnügtsein heißt Einverstandensein.«1 Die chimärische »Hyperrealität« der Themenarchitekturen erscheint allerdings zugleich als raffinierter Mechanismus, die mit ihrem Illusionismus die Realität wegmanipuliert. Die thematischen Simulationsästhetiken bewirken, mit Odo Marquard, eine ideologisch verhüllende »Ermächtigung der Illusion, bei der das Ästhetische – gefährlich nicht, weil es zu unwirklich, sondern weil es zu wirklich wird – […] zum anästhetischen Abschied von der Erfahrung führt: zur Anästhetisierung des Menschen.«2
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Horkheimer/Adorno: 1988, S. 152-153 Marquard: 1989, S. 17
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Architekturen des Inauthentischen
Das intellektuelle Übelbefinden dieser Kulturkritik, die in Anschluss an Jean Baudrillards Katastrophendiagnose der »Simulationsgesellschaft« an Themenarchitekturen die Scheinhaftigkeit einer »Hyperrealität« beklagt, in der sich eine künstliche Realität in »Simulakren« verselbstständigt, anstatt die wirkliche Welt abzubilden, hängst sich an der negativbelasteten Inauthentizität der Simulationsästhetiken auf, die man bei einem Schwindel zu erwischen glaubt. Nach Baudrillard ist es das Epochencharakteristikum der »Simulationsgesellschaft«, dass in ihrer selbstreproduzierenden Welt der »Simulakren« (verstanden als Abbild von etwas, das es in der Realität nicht gibt) das Reale selbst simulativ wird, der Unterschied zwischen Imaginärem und Realität verwischt. Während aber »die Fälschung eines Werkes vorspiegelt, das Original zu sein, geht ein Simulakrum weit über die Grenzen des lediglich Objekthaften hinaus, indem es eine andere Realität generiert, […] eine Geschichte […], die so nicht existiert«3 . Zeichen und Wirklichkeit werden ununterscheidbar, denn das »Realitätsprinzip« selbst wird ausgeschaltet, wie Baudrillard diagnostizierte: »Beim Fingieren oder Dissimulieren wird also das Realitätsprinzip nicht angetastet: die Differenz ist stets klar, sie erhält lediglich eine Maske. Dagegen stellt die Simulation die Differenz zwischen ›Wahrem‹ und ›Falschem‹, ›Realem‹ und ›Imaginären‹ immer wieder in Frage.«4 Die thematischen Simulationsästhetiken sind nicht nur die respektloseste Form des Inauthentischen in der Architektur, in der deklarativen Künstlichkeit ihrer »Simulakren« knirschen die Scharniere der Authentizitätsideologie am lautesten, die Baudrillard in der »Simulationsgesellschaft« untergehen sah. Dabei lassen sich Themenarchitekturen nur bei einer sehr äußerlichen Betrachtung ihrer Wirkungsweisen allein über ihre simulatorischen Immersionsqualitäten, über die trügerischen Plausibilisierungszusammenhänge ihrer architektonischen Fiktionen beschreiben, als »Fake authenticity […] so little removed from life that it makes reality itself inauthentic.«5 Die Verrichtung einer Kulturkritik, die aus einer aus einer allgemeinen Geringschätzung heraus den marktgeleiteten Themenarchitekturen ihre Inauthentizität, ihrer Indifferenz gegenüber der Wahrheit, ankreidet, klingt dann daher nicht nur wie aufgesagt, sie verpasst ihre Wirkmächtigkeiten. Eine räsonierende Tätigkeit, die sich, nicht nur zur taktischen Distanzierung, einfach auf die Künstlichkeit der Simulationsästhetiken fixiert, verkämpft sich an einer falschen Ausgangsbeurteilung ihrer Attraktionen, ist mit der Sprache der Wirklichkeit hinterher, ist nicht erklärungskräftig. Denn außer bei dem Randphänomen des themenarchitektonischen Neotraditionalismus, der seine Artifizialität tatsächlich zu kaschieren versucht, ist das Inauthentische der Simulationsästhetiken deklarativ, ein Spektakel, dass sich laut und farbenprächtig ereignet, bei dem das Publikum mitspielt.6 Sie einfach als Makel unzureichender Authentizitätsfabrikation missverstehen, ist die falsche Laufrichtung. 3 4 5 6
Mager: 2016, S. 136 Baudrillard: 1978, S. 10 Glenn, Joshua: »Fake Authenticity«, in: Hermenaut, 15/1999 »Die Mehrzahl jener Erfahrungen, die mit Erlebnisräumen verbunden sind, lassen sich empirisch nicht ihrer Bezeichnung entsprechend als außergewöhnlich oder als sinnen- oder gefühlsbetont kategorisieren: Die Besucher fühlen sich definitiv nicht […] wie in den Tropen, wenn sie in CenterParks unter Palmen liegen.«; Köck, Christoph: »Kult und Metatourismus: die Erlebnisse der Erleb-
5 Das Inauthentische als Simulation in der Themenarchitektur
Die Kultur, die wir haben, ist eine andere: die inauthentizitätsapathischen Besucher thematischer Simulationsästhetiken fragen nicht nach der historischen und materiellen Plausibilität der Inszenierung, sie beschäftigt ausschließlich die Frage »Wie kriege ich das erzählt?«7 Thematische Simulationsästhetiken machen aus ihrer Grundambivalenz, dass noch die holistisch perfektioniertesten Immersionsleistungen die Gemachtheit und Künstlichkeit ihrer Fiktionen nie gänzlich eliminieren können, eine Attraktion – gerade auch die Themenarchitekten, die es zu einer beachtlichen Virtuosität in ihrem Fach gebracht haben, wie Disney Imagineering, Jon Jerde oder Wimberly, Allison, Tong an Goo (WATG). Sie entfachen ein Spiel zwischen Präsenz und Mediatisiertheit, eine wirkungsästhetische Liminalität zwischen immersiv greifenden Simulationseindrücken und antiimmersiv forcierten Kontingenzeindrücken, die ihre Konstruiertheit und Künstlichkeit offensiv zeigen, einem nie »ganz klar darüber [werden lassen], wo die Klimaanlage endet, wo Muzak beginnt«8 . Diese wirkungsästhetische Liminalität lässt sich allerdings nicht in einfach auseinanderdividieren: in eine reaktionäre Immersionswirkung einerseits, die, dumpf und narkotisch, über die immersive Diffusion von Objekt und Rezipient, von Architektur und Nutzer, eine gesellschaftsgestaltende Passivitätsfalle für die Braven und Angepassten in ihren ungeschliffenen kulturindustriellen Bedürfnissen einrichtet (– und die Kassen klingeln lässt, indem sie die Identifikation mit den kommodifizierten lebensweltlichen Konkretionen des Konsumhedonismus populistisch besorgt.) Und den emanzipativen Nervenschock einer Kontingenzwirkung andererseits, der jene für die ökonomische Mehrwertproduktion geweckten Konsumreize subvertiert, den geschmeidigen Populismus kommerzieller »themed environments«, der ein möglichst breites Publikum zu erreichen versucht, bloßstellt.9 Aus dieser in den marktgängigen Themenarchitekturen betriebenen Verschränkung der gegenläufigen Aufmerksamkeitspräferenzen des Immersiven und Antiimmersiven leitet sich keine Dethematisierung themenarchitektonischer Inauthentizitäten ab. Vielmehr verlangt diese Betrachtungsweise nach einem suchenden, um Nuancen bemühten
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nisgesellschaft«, in: H. Jürgen Kagelmann et al. (Hg.), Erlebniswelten. Zum Erlebnisboom in der Postmoderne, München: Profil 2004, S. 92-93 So ist es typisch, »daß der Besucher einer Themenwelt eine Art Doppelposition […], nämlich zugleich innerhalb und außerhalb des Themas einnimmt. […] Damit der Besucher […] die Themenwelt als spielerisches Vergnügen genießen kann, bedarf es immer eines Bewusstseins, dass es sich ›nur‹ um ein Thema handelt.« (Steinkrüger: 2013, S. 61) Der Besucher möchte lediglich den symbolischen Mehrwert des Themings einstreichen. Denn: »Theming provides a veneer of meaning and symbolism to the objects to which it is applied. It is meant to give them a meaning that transcends or at the very least is in addition to what they actually are. In infusing objects with meaning through theming, they are deemed to be made more attractive and interesting than they would otherwise be.«; Bryman, Alan: The Disneyization of Society, London: Sage 2004, S. 15 Boorstin: 1991, S. 238 Wobei sich hinter dem feuilletonistischen Zeitungsseitenfüllen zur »Erlebnisgesellschaft« eine »kurzatmige Zeitdiagnose« verbirgt, einfach, weil, wie Vester festhält, »Erleben« eine »anthropologische Selbstverständlichkeit« darstellt: »Von daher erscheint die Diagnose einer Erlebnisgesellschaft trivial und mindestens so inhaltsleer, als wolle man von einer Handlungs- und Verhaltensoder Wahrnehmungsgesellschaft reden.«; Vester, Heinz-Günter: »Das Erlebnis begreifen – Überlegungen zum Erlebnisbegriff«, in: H. Jürgen Kagelmann et al. (Hg.), Erlebniswelten. Zum Erlebnisboom in der Postmoderne, München: Profil 2004, S. 10
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Interpretieren, eine geduldige Apperzeption, die in ständiger Irritation am Wahnsinn der synthetisch-zuckenden Simulationsästhetiken teilnimmt und dabei seine eigenen Interessen einbringt, investiert: »[a] mode of existence in which one becomes ironically and radically suspicious of all received forms and norms, and in which one strives to lucidly affirm and creatively live the tension of human reality in all its contingency, ambiguity, and absurdity.«10 Und dieses ist weiters zu trennen von der notwendigen politischen Zurückweisung jener Kontrollmodelle, die kommodifizierte Themenwelten herstellen, jener wohlberechneten Ordnungen, die eine Form von freiwilliger Obrigkeitshörigkeit erzeugen, und einem mulmige Gefühle machen müssen. Autoritätsaffirmative Züge, die einen demokratisch aufgeladene Sätze abverlangen über die kleingehäckselten Freiheitsrechte einer reglementierten, konturenfreien Scheinöffentlichkeit, die hohe Regelungsdichte des Sozialen, die politische Beteiligungsformen unterbindet. Klar, die immersive Belustigung in künstlichen Kulissenarchitekturen kann als Dekadenzphänomen abgeurteilt werden, mit Jacob Burckhardt lässt sich erwähnen, dass gerade in »[i]n den abgeleiteten oder Spätzeiten […] der Mensch [glaubt], die Kunst diene ihm; er braucht sie zur Pracht und bedeutet bisweilen mehr ihre Neben- und Zierformen als ihre Hauptformen aus; ja sie wird Gegenstand von Zeitvertreib und von Geschwätz.«11 Doch wo eine enge Rezeption im »Theming« bloß eine populistische Verrohrung sieht, die das kulturelle Niveau runtertrampelt, kann entgegengehalten werden, dass sich hinter dem Phänomen der Themenarchitektur eine massengesellschaftliche Emanzipation vom »legitimen Geschmack« der herrschenden Klasse, wie es bei Pierre Bourdieu heißt, verbirgt, die eine Abflachung der kulturellen Hierarchie mit sich brachte, als sie in Las Vegas, in Miami Beach, in Orlando von Akteuren getragen wurde, für die in ihren ästhetischen Entscheidungen der »legitime Geschmack« keine Prägekraft mehr ausübte. Themenarchitektur ist eine Allgemeinverständlichkeit erzielende, eine populäre Architektur, die weder dem Kanon der Eliten entsprungen ist, noch diesen bedient. Distinktionsmechanismen, die kulturelle Differenz zu markieren und Unzulänglichkeitsgefühle bei den Unterprivilegierten entfachen, greifen an ihr nicht, während frühere »Versuche, eine Ikonographie der Unterklassen zu entwickeln, von vornherein wenig aussichtsreich ersch[ie]nen«, weil, wie Pehnt betont, die »Durchlässigkeit der sozialen Schichten für die ästhetischen Statuswerte der Oberklasse […] auch den unteren Klassen die Illusion [verschafft], an den Vorrechten der Arrivierten teilzunehmen«.12 Das massenkulturell Eingängige, Gefällige der Themenarchitektur machte diese auch nicht von ungefähr interessant für die Polemik der Postmoderne. Denn deren gegen die hermetische Exklusivität der Moderne gewendete eklektizistische Technik, einen künstlerischen Mehrwert durch eine Einbeziehung unterschiedlicher Geschmackskulturen einzustreichen, wollte neue semiotisch besetzte Formen durch eine sublimierte, veredelte Verwendung populärer Zeichen hervortreiben. Postmodernisten wie Charles Moore oder Robert Venturi, bei denen sich intellektuelle Ironie und populistisch-demokratische Neigung zu einer Pop-Perspektive vereinigten, sahen in
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Glenn: 1999 Burckhardt: 2009, S. 99 Pehnt: 1983, S. 24
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der Themenarchitektur Kräfte eines Widerspruchs und versuchten sie ins Erlaubte zu rücken. Sie investierten ihre Zeit und ihr Prestige in Entwürfe, die, von ironischen Wendungen begleitet, weit hinter den feindlichen Linien operierten. Bis sie, die sensiblen Äquibrilisten zwischen Kunst und Kitsch, schließlich selbst Aufträge für Disney annahmen und ihr Witz die Richtung zu verlieren begann, da ihre Idee einer wechselseitigen Inspiration und gegenseitigen Steigerung »legitimer« und »nichtlegitimer« Architektursprachen, die der postmoderne Chefideologe Charles Jencks als »Doppelkodierung« bezeichnete, eingekeilt in den exzessiven Scheinwelten von World Disney World, vom Kommerz erdrückt, ihren Esprit und ironischen Hintersinn einbüßten. Über dem letztlichen Scheitern des Postmodernismus im Feld des Kommerziellen liegt der Schatten eines Missverständnisses. Die Sympathie, die Postmodernisten wie Charles Moore für Disney entgegenbrachten, ruhte zwar nicht nur in ihrem konsensverletzenden Provokationswert gegen einen ideologisch verfestigten Modernismus, sondern betonte in einer feinsinnigen Dialektik die fiktionale architektursemantische Verständlichkeit der thematischen Simulationsästhetiken, ihre Fähigkeit zur (wenigstens simulatorischen) Herstellung von Stadtarchitektur im Sinne eines »einprägsamen Orts« und meinte, ihr eigener ironische und irritierende Kontingenzeffekte erzeugender Anti-Monumentalismus sei den Künstlichkeitswirkungen der Themenarchitekturen verwandt. Jene Postmodernisten, die in Diensten Disneys arbeiteten, registrierten allerdings zu wenig, wie sehr die innere Konstitution ihrer Kunst der mehrdeutigen populistischen Rede von einer kultivierten Sperrigkeit im Wechselspiel von Elitärem und Populären, Legitimen und Illegitimen lebt, und wie sehr diese in der Eigengesetzlichkeit von World Disney World entdifferenzieren musste. Und die Kosten dieser intellektuellen Konfusion bestanden nicht zuletzt auch darin, dass sie es ihren Widersachern bei der Weiterentwicklung der Gegenwartsarchitektur, den Vertretern der »zweiten Moderne«, leicht machten, mit der gegen die Postmoderne gerichteten Deliktbezeichnung Populismus weiterhin eine Exklusivität der expressiven modernen Formen zu betonen. Allgemein aber muss das Phänomen Themenarchitektur entsingularisiert werden. Auch, weil sich die thematischen Simulationsästhetiken zwar funktionell, nicht aber ästhetisch klar abgrenzen lassen von den simulativen und replizierenden Lust- und Vergnügungsarchitekturen früherer Jahrhunderte, von den Staffagebauten der Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts wie den Vergnügungsparks in Coney Island oder Atlantic City. Die gegenwärtige, seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgebliche Grammatik themenarchitektonischer Vergnügungsindustrie wurde von Disney Imagineering, der aus Zeichentrick-Animateuren rekrutierten Design- und Planungsabteilung, die Disneys Vergnügungsarchitekturen gestaltet, geschrieben. Der 1955 eröffnete Themenpark Disneyland in Anaheim, Kalifornien, südlich von Los Angeles, wurde zur entscheidenden themenarchitektonischen Durchbruchleistung. Die kalauerigen Attrappenbauten des Disney Imagineering bilden seither das Paradigma thematischer Simulationsästhetiken. Mit Disneyland schuf Walt Disney nicht nur einen mythischen Kristallisationspunkt der amerikanischen Massengesellschaft, er erwies sich als veritabler
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Kulturstifter: »Western society at large seems on the verge of metamorphosing into a Disney costume party«13 . Prägte die rummelplatzartigen Vergnügungspiers und -parks des frühen 20. Jahrhunderts ihre akzelerierte Urbanität, eine das puritanische Sittlichkeitsregime abschüttelnde »plebejische« Enthemmtheit, strukturierte Disney seinen Freizeitpark auf der Grundlage eines familienzentrierten, traditionalistischen Gesellschaftsideals als »Family Entertainment«. Er suspendierte – themenarchitektonisch überführt in eine idyllische Kleinstadtkulisse, an der alle Klischees hängen – die Hintergrundunruhe des Städtischen und organisierte mit und hinter der vordergründigen Heiterkeit und Menschenfreundlichkeit ihrer konsumhedonistisch ereignisreichen PseudoÖffentlichkeitsbereiche eine konsequente soziale Kontrolle, die die Willkür des Zufalls, das Unbeabsichtigte ausschaltet.14 Statt einem Geschiebe durcheinanderfallender, aufgekratzter Massen, wie es in Atlantic City und Coney Island üblich war, regiert eine restlos genormte Obrigkeitspolitik, eingeweicht in konservative Wertevorstellungen. Disney »doesn’t believe in sleaze, however, nor in old-fashioned revulsion. Square in the middle is where it wants us all to be, dependable consumers with predictable attitudes. The message, never stated but avuncularly implied, is that America’s values ought to reflect those of the Walt Disney Company and not the other way around.«15 Mit diesen antiurbanen Sicherheits- und Reinlichkeitsimperativen traf Disney die Gesamtbefindlichkeit der amerikanischen Mittelschicht, die sich in den Nachkriegsjahrzehnten im »White Flight« vor dem städtischen Diabolismus aus Gewalt, Armut und Schmutz in die Suburbs verbarrikadierte. Disneys Sicherheits- und Reinlichkeitsregime war, indem es den Menschen eine entlastende Wirkung verspricht, versucht, das ihnen Entglittene zurückzugewinnen, die naheliegende Reaktion auf die Verunsicherung durch eine diffuse Gefährdungslage in den Städten, die Amerika nie wieder abgestreift hat. Auf – freilich nicht nur in den kriminalitätsgeplagten Vereinigten Staaten registrierbare – urbane Verwahrlosungsphänomene, die Hans Magnus Enzensberger später in den 1990ern als »molekularen Bürgerkrieg« bezeichnete. Auf die vielen »winzige[n], stumme[n] Kriegserklärungen, die der erfahrene Städtebewohner zu deuten weiß«16 : denn dieser »molekulare Bürgerkrieg«, mag er sich auch zu Vandalismus, Straßengewalt, Bandenkriegen und Rassenunruhen aufschaukeln, »beginnt unmerklich, ohne allgemeine Mobilmachung. Allmählich mehrt sich der Müll am Straßenrand. Im Park häufen sich Spritzen und zerbrochene Bierflaschen. An den Wänden tauchen überall monotone Graffiti auf, deren einzige Botschaft der Autismus ist«17 . Irrationali13 14
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Haden-Guest, Anthony: Down the Programmed Rabbit Hole. Travels through Muzak, Hilton, CocaCola, Texaco, Walt Disney, and other World Empires, London: HarperCollins 1972, S. 264 Der entscheidendste Hebel der Themenparks bei der Eklusion ungewollten Publikums ist der Eintrittspreis: »Because they can charge admission, they can filter out visitors who cannot afford the experience. Theme parks are not public spaces; they are commercial ventures. It would be against the law to prohibit individuals‹ entry to a park on the basis of race or religion, yet it is perfectly within the law to discriminate against anyone who cannot afford the cost of entry.«; Gottdiener, Mark: The Theming of America. American Dreams, Media Fantasies and the themed Environments, Boulder, CO: Westview 2001, S. 154 Hiaasen, Carl: Team Rodent. How Disney devours the World, New York: Ballantine 1998, S. 9 Enzensberger: 1994, S. 52 Ebd., S. 51
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tät und Intentionslosigkeit kennzeichnen seine destruktiven Eruptionen, was ihm »eine neue, unheimliche Qualität verleiht, ist die Tatsache, daß er ohne jeden Einsatz geführt wird, daß es buchstäblich um nichts geht. Damit wird er zum Retrovirus des Politischen.«18 Die berühmte Main Street U.S.A., die idyllisierte kleinstädtische Ladenzeile in Disneyland, ist eine architektonische Antwort auf diese infernalischen Niedergangszustände des Städtischen. Sie ist die Themenarchitektur, in der Disney das ganze Geheimnis seines simulationsästhetischen Eindrucksmanagements ans Licht brachte, und nebenbei eigene Kindheitserinnerungen an seine Heimatstadt Marceline, Missouri, zur Pastellbuntheit verflüssigte. In einer Zeit, in der ein ungehemmter Kapitalismus die amerikanischen Innenstädte in abweisende Finanzdistrikte umbaute und die Mittelschicht ins anonyme Suburbia-Niemandsland der Ausfallstraßen flüchtete, rief die Main Street U.S.A. mit ihren sentimentalen Erinnerungsarchitekturen Bilder ins Gedächtnis, die einen in eine Welt fortreißen, die nicht mehr der Wirklichkeit entspricht: »Disney’s theme parks deserve credit for helping to keep alive not only a large part of America’s vernacular architecture but, on Main Street, the very experience of walkable streets and pleasing public spaces – this at precisely the time when Americans were abandoning real Main Streets for their cars and suburban cul-de-sacs.«19 Die Main Street U.S.A. ist eine übersichtliche, brave Veranstaltung, bei der der an allem ein Preisschild dranhängt.20 Aber das Publikum der Anpassungswilligen lässt sich auf dieses fade Glück inauthentischer Flunkerei willig ein, wie Stephen M. Fjellman eingesteht: »One can argue about the friendly fascism by which costumers are managed throughout the various theme areas; yet it is seductive. The lines move, the restaurant tables and restrooms get cleaned, and the trains are pretty much in time. […] [It] is not without ist utopian aspects«21 . Dabei exekutiert Disney Imagineering gerade in seinem Sauber- und Niedlichkeitsimage eine bedrückende Fantasie umfassender Manipulation. Carl Hiaasen: »Disney is so good at being good that it manifests an evil; so uniformly efficient and courteous, so dependably clean and conscientious, so unfailingly 18
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Ebd., S. 35; »Geführt wird er nicht nur von Terroristen und Geheimdiensten, Mafiosi und Skinheads, Drogengangs und Todesschwadronen, Neonazis und Schwarzen Sheriffs, sondern auch von unauffälligen Bürgern, die sich über Nacht in Hooligans, Brandstifter, Amokläufer und Serienkiller verwandeln. […] Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, es herrsche Frieden, nur weil wir immer noch unsere Brötchen holen können, ohne von Heckenschützen abgeknallt zu werden.«; ebd., S. 19 Pollan, Michael: »Town-Building Is No Mickey Mouse Operation«, in: The New York Times, 14.12.1997 Ada Louise Huxtable bündelt die einzelnen Anklagepunkte, wenn sie schreibt, Disneyland sei eine »standardized mediocrity, endlessly, shamelessly consumerized, a giant shill operation with a Mickey Mouse facade. The huckstaring is relentless. Behind every fake front, at every entrance and exit of every feature, something is inescapably for sale«; Huxtable, Ada Louise: The Unreal America. Architecture and Illusion, New York: New Press 1997, S. 50 Fjellman: 1992, S. 24; Freilich, die Disneyparks sind scheinstädtische Strukturen, aber keine Stadt: »Disney invokes an urbanism without producing a city. Rather, it produces a kind of aura-stripped hypercity, a city with billions of citizens (all who would consume) but no residents. Physicalized yet conceptual, it’s the utopia of transcience, a place where everyone is just passing through.«; Sorkin, Michael: »See You in Disneyland«, in: ders. (Hg.), Variations on a Theme Park. The New American City and the End of Public Space, New York: Hill and Wang 1992, S. 231
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entertaining that it’s unreal, and therefore is an agent of pure wickedness. Imagine promoting a universe in which raw Nature doesn’t fit because it doesn’t measure up; isn’t safe enough, accessible enough, […] even beautiful enough for company standards.«22 Mit Walt Disney World in Orlando, Florida, errichtete der Disney-Konzern – der letztlich, trotz aller manipulativer Inanspruchnahme seiner Medienmacht, mit »Family Entertainment« konservative Konsensmeinungen der Öffentlichkeit zu bespielen und so ein ideologisches Territorium zu kontrollieren, als ein renditefokussiertes Unternehmen agiert, das seinen Wert an der Börse beweisen muss – schließlich eine ultimative simulationsästhetische Urlaubsdestination, die vier Themenparks, Resorts und Malls zu einer holistisch konzipierten Konsumtotalität vereinigt.23 Und nebenbei sein »own private government« errichtete: »a sort of Vatican with Mouse ears, with powers and immunities that exceed nearby Orlando’s. The entertainment titan was authorized, among other things, to regulate land use, provide police and fire services, build roads, lay sewer lines, license the manufacture and sale of alcoholic beverages, even to build an airport and a nuclear power plant.«24 Spätestens mit Walt Disney World verallgemeinerte sich die themenarchitektonische Ästhetik Disneys zum kulturindustriellen Paradigma, zur Epochentendenz.25 Der Begriff der »Disneyfizierung« avancierte zur kulturdiagnostischen Parole, die ein warenförmiges derangiertes Verhältnis zur Wirklichkeit suggeriert – Inauthentizität.26
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Hiaasen: 1998, S. 17-18 »The theme park division is only part of a much large conglomerate whose raison d’etre is to sell commodities. Disney competes with a lot of other corporations for the discretionary leisure dollar […]. The Company – especially at its theme parks – produces, packages, and sells experiences and memories as commodities.«; Fjellman: 1992, S. 11 Foglesong, Richard E.: Married to the Mouse. Walt Disney World and Orlando, Yale: Yale University Press 2001, S. 5; Die Weitsicht, sich riesige Expansionsflächen rund um die Freizeitparks zu sichern, entsprach allerdings nicht nur dem immobilienwirtschaftlichen Geschäftsgenie Walt Disneys: »The frustrating problem confronted by Disney was the uncontrolled growth and ticky-tacky development surrounding Disneyland in California. Walt hated this neon jungle of motels, hamburger joints, and souvenir shops. ›We didn’t create it, but we get blamed‹, he pronounced«; ebd., S. 59 Für Michael Sorkin ist es bezeichnend, dass Disneyland und die Fernsehsendung Mickey Mouse Club gleichzeitig lanciert wurden: »Television and Disneyland operates similarly, by means of extraction, reduction, and recombination, to create an entirely new, antigeographical space. […] The quintessential experience of television, that continuos program-hopping zap from the remote control, creates path after unique path through the infinity of televisual space. Likewise, Disneyland, with its channel-turning mingle of history and fantasy, reality and simulation, invents a way of encountering the physical world that increasingly characterizes daily life. The highly regulated, completely synthetic vision provides a simplified, sanitized experience that stand in for the more undisciplined complexities of the city.«; Sorkin: 1992, S. 208 »[T]he process of Disneyfication is one of rendering the material being worked upon (a fairy tale, a novel, a historical event) into a standardized format that is almost instantly recognizable as being from the Disney stable.« (Bryman: 2004, S. 5) Bryman unterscheidet zwischen »Disneyfication«, der Nachahmung der Disney-Gestaltungsprinzipien, und »Disneyization«, einem allgemeinen Phänomen der Warenattraktivierung: »Disneyization takes up where McDonaldization leaves off. McDonaldization is frequently accused of creating a world of homogeneity and sameness. One of the main foundations for Disneyization is that of increasing the appeal of goods and services
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Von einer »Disneyfizierung« der Städte spricht der Urbanitätsdiskurs allerdings weniger deswegen, weil die Disney Imagineering Planungsabteilung tatsächlich am New Yorker Times Square zu einem Akteur innerstädtischer Revitalisierungen wurde, sondern weil sich die Gentrifizierungsprojekte der Downtown Redevelopments ihrer Prinzipien bedient, um eine kommerzielle Verwertung von Öffentlichkeitsbereichen für konsumtive Hedonismen herzustellen: der genreüblichen simulationsästhetischen Gestaltungsprinzipien eines »themed place-makings« wie auch der restriktiven Politik sozialer Reglementierung und Exklusion. Diese »Disneyfizierung« ist wiederum als Reaktion auf den Niedergang der amerikanischen Städte durch die Suburbanisierung zu begreifen, der nicht nur gesellschaftlich, sondern ebenso architektonisch erfasst wurde, denn die innerstädtischen Bankenviertel zeigen sich »hyposignificant – that is, their symbolic content was attenuated and limited to signifying functionality.«27 Als architekturästhetische Gegentendenzen, meist mehr oder weniger der Postmoderne zugeordnet, entwickelten sich hierzu zuerst die »Festival Marketplaces«, die der Immobilieninvestor James Rouse mit seinem Architekten Benjamin C. Thompson seit den 1970ern in unzähligen Städten der USA in aufgelassenen innerstädtischen Hafen- und Fabrikanlagen arrangierte, indem er historische Klinkergebäude für sentimentale Projektionen auf sedimentierte, organische Stadtbilder aktivierte.28 Dann die Typologie der Urban Entertainment Center, mit denen Jon Jerde in den 1990ern in disneyesker themenarchitektonischer Verklärung entgesellschaftete kulturindustrielle Trägheitsfelder errichtete.29 Wobei jede politische Opposition gegen diese kommerziellen Pseudo-Öffentlichkeitsbereiche, die eine Entdemokratisierung der Stadt, eine Entfremdung in DisneyKuscheligkeit kritisiert, sich selbst keine sentimentale Blöße geben sollte, wie Bryant Simon anmerkt: »Now the critics of our Disneyesque cities proclaim: public space is dead! Yet this lament, usually without intending to, romanticizes the past. […] [T]he much-revered
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and the settings in which they are purveyed in the increasingly homogenized environments that are the products of McDonaldization.«; ebd., S. 4 Gottdiener: 2001, S. 38; Dies ist, so Gottdiener, ein spezifisches Defizit der Moderne: »All ancient cities were overendowed with built forms that were symbols. The ancient city itself was both a symbol or a symbolic expression of a particular civilization and a material environment that sheltered and contained social activities within a signifying space. […] The place of daily living was itself symbolic, as the built environment encapsulated the typical resident in a richly textured, sign-filled space.«; ebd., S. 21 »The festival market places […] were premised on the notion of ›authentic reproduction‹: evoking a sense of collective nostalgia through upmarket produce markets, craft-dominated specialty shops and gingerbread architecture.«; Hannigan, John: Fantasy City. Pleasure and Profit in the Postmodern Metropolis, New York: Taylor & Francis 1998, S. 68 John Hannigan erklärt diese nächste Entwicklungsstufe der Urban Entertainment Center aus den Profitabilitätsdefiziten der »Festival Markets«: »by the 1980s a new formula for downtown revitalization had come to be widely accepted. As desirable as festival market places still appeared to many economically distressed cities, by themselves they were insufficient to ensure a steady flow of visitors to the city center. And they were not the moneymakers that at first they seemed to be. For one thing, they cost three times as much as conventional shopping centers to build (on a square foot basis) yet they attracted one-third of the consumer spending.«; ebd., S. 55
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public experiences of going downtown or hanging out on the front stoop was just as unreal, just as exclusionary, and just as contrived as the Disneyland public experience of today. The public space of the past is largely a myth, an illusion. The public in America has always been segregated and walled off.«30 Weiters sollte eine politische Opposition nicht den Fehler begehen, die scharfen Angriffe, die sie gegen die saubergeschrubbte Disney-Inszenierungsidee des Städtisches fährt, in eine schablonisierte Authentizitätsrhetorik zu verideologisieren und damit eigene Dissensüberschüsse zu vertun. Sicher, gegenüber diesen touristifizierten, gentrifizierten Metropolenszenen, in denen Besucher nur mehr die Eindimensionalität bereinigter Klischees ablaufen, wirkt »im direkten Vergleich der Erlebnisarchitekturen […] [selbst] Disney World inzwischen viel authentischer«, wie Klaus Ronneberger feststellt, denn »Disney World behauptet gar nicht, Realität zu sein«31 . Zudem mag eine verbissen geführte Authentizitätsmarkierung gentrifizierungsgefährdeter Sub- und Stadteilkulturen die eigene politische Mobilisierung festigen, auch bei der radikalen Linken, denn »[d]ieses idyllische Feindbild für antikapitalistische Gegenkulturen ist nicht nur zu unwirklich intakt und unterkomplex, es legitimiert auch einen durch Ausweglosigkeit begründeten unpolitischen Radikalismus«32 Was ein subkultureller Authentizismus allerdings damit fast zwangsläufig auch bewirkt, ist, dass er das »Authentische« in der kannibalischen Gentrifizierungsmechanik weiter attraktiviert und damit als Investmentchance dem spekulativen Kapitalismus in die Hand spielt.33 Denn im neoliberalen Urbanitätsregime werden die Wirren und Unruhen des Städtischen zwar von ihren hässlichen Symptomen gesäubert, aber immer auch als Faszinationsanreiz instrumentalisiert. Die Pazifizierung des urbanen Raums, die ordnungspolitische Regulierungskonzepte einerseits und Gentrifizierungseffekte, die die städtische Unterschicht als geringverdienende Starbucks-Baristas marginalisiert, andererseits herstellen, läuft immer Gefahr, die attraktive Authentizität eines rauen Stadtdschungels in der selbstzüchtigenden Überangepasstheit luxussanierter Signalbauten, 30 31
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Simon, Bryant: Boardwalk of Dreams. Atlantic City and the Fate of Urban America, New York: Oxford University Press 2004, S. 17 Ronneberger, Klaus: »Disney World ist authentischer als Wien«, in: dérive, 1/2000; Ronneberger zur neoliberalen Reglementierung des Urbanen, wo »mit Hilfe einer repressiven Verdrängungspraxis eine selektive soziale Homogenität hergestellt werden soll«: »Ein wichtiges Instrument der Aufwertungsstrategie bilden dabei Raumverbote für missliebige Personen. Strukturell lassen sich dabei zwei Varianten ausmachen. Zum einen definieren die städtischen Behörden im Rahmen von Sondernutzungen wie etwa Gefahrenabwehrverordnungen Betteln, Alkoholtrinken oder Lagern im öffentlichen Raum als Ordnungswidrigkeit. Zum anderen findet mit Hilfe des Hausrechts eine Umwidmung von öffentlich zugänglichen Orten statt. Als Mitautoren am Skript der Inneren Sicherheit stellen private Sicherheitsunternehmen in der ordnungspolitischen Regulation von Stadträumen einen zunehmenden Machtfaktor dar.«; Ebd. Diederichsen: 1999, S. 32 Der atmosphärisch attraktive Stadtraum ist zum wirtschaftlichen Faktor geworden: »zu einer Art Fruchtwasser, in dem der Einzelhandel sich neu gebiert. Das Aufpeppen der City […] [für die] Attraktivität, Anmutung und Aufenthaltsqualität des Innenstadtraums […]. Genau das ist auch die Philosophie hinter den Business Improvement Districts«; Kaltenbrunner, Robert: »Shopping in der Res publica«, in: Die Welt, 8.10.2007
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in Architainment und Eatertainment zu verlieren. Und dagegen schützt am besten, zumindest in den verhipsterten In-Vierteln der Boutique Hotels und Latte MacchiatoCafés, der Vitalismus der Subkulturen und Künstler, auf die, wie Diederichsen ätzt, »als Instanz in erneuernden oder kritischen Urbanitätskonzepten […] allerhand Hoffnungen […] übertragen [werden]. Mindestens richtig im Falschen zu leben oder als Agenten von Gentrifizierung verfallene Viertel auf Sanierung vorzubereiten […], je nachdem ob Makler oder Dissidenz-Theoretiker von ihnen reden.«34 Das Paradebeispiel für Disneyfizierung ist die stadtplanerische Intervention am New Yorker Times Square, jahrzehntelang ein berüchtigter Schandfleck, ein versiffter, nach Müll und Pisse stinkender Straßenstrich. Ein übles Pflaster, dass Disney in den 1990ern mit den Gentrifizierungsinstrumenten familienfreundlicher Musicaltheater und Eatertainment-Attraktionen (– dem sich zunächst rasant ausbreitenden, dann bald strudelnden Phänomen von Themenrestaurant-Ketten wie dem Rainforest Café35 ) aus den Fängen der Sexshops und den zu Erwachsenenkinos verwahrlosten Art-DécoFilmpalästen, die sich mit schmuddelige Bumsfilmchen über Wasser halten mussten, befreiten – und damit aus den Fängen der hier Hängengebliebenen: den Junkies, Nutten, Zuhältern, betrunkenen Matrosen und psychopathischen Rumtreibern wie Taxi Driver Travis Bickle. Auch das Glücksspielparadies Las Vegas hat die Disneyfizierung in den 1990ern ergriffen: »More and more, Vegas is becoming a segregated city, keeping the ›haves‹ from the ›have children‹«36 , wie Alan Richman klagte, der die einst sinistre Spielerstadt nicht wiedererkannte, eine disneyfizierte »family town« sah – »as pristine as a Mormon picnic«37 . Die intellektuelle Kulturkritik, die über Las Vegas die Nase rümpft, entzündet sich längst nicht mehr an der Lasterhaftigkeit der Casinostadt als »Sin City«. Vielmehr entrüstet sie sich an der lamentablen Inauthentizität ihrer unterhaltungsindustriellen »Hyperrealität«, die nicht einmal ihren eigenen zwar halbseidenen, aber gerade in ihrer selbstbewussten »Vulgarität« authentischen Gründungsmythos als Stadt eines Liberace, der Mafiosi und Nackttänzerinnen zu würdigen weiß, wie es belletristisch verdichtet bei Thomas Pynchon in der Klage eines verbitterten Casino-Managers der alten Garde heißt: »›65 war alles vorbei, und es wird nie wieder so sein. Die Halbdollar-Münze, stimmt’s? Das Ding bestand mal zu neunzig Prozent aus Silber, […] seit diesem Jahr ist überhaupt kein Silber mehr drin. Sieht zwar so aus wie ein halber Dollar, tut in Wirklichkeit aber nur so, als war’s einer. Genau wie bei diesen Videoautomaten. Das haben sie mit der
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Diederichsen: 1999, S. 234 »Though the restaurants’ themes ranged from movie or TV memories to sports stars, supermodels and tropical rain forests, the food was often dismissed as terrible. The elaborate decor – rock-androll collectibles, racing cars, animatronic jungle habitats – was impressive but distracting, and the novelty soon wore thin. Rapid expansion into smaller cities […] undercut the cachet of flagship restaurants in«; Bagli, Charles V.: »Novelty gone, Themed Restaurants are tumbling«, in: The New York Times, 27.12.1998 Richman, Alan: »Lost Vegas«, in: Mike Tronnes (Hg.), Literary Las Vegas. The Best Writing About America’s Most Fabulous City, Edinburgh: Holt 1995, S. 230 Ebd., S. 242
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ganzen Stadt vor, eine einzige große Disneyland-Imitation ihrer selbst. Erbauliches Familienvergnügen, kleine Kinder in den Kasinos […]. Scheiß Las Vegasland.«38 Dieses disneyfizierte Freizeitpark-Las Vegas ist das ideologische Epiphänomen des paradoxalen gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaftszustands, in dem sich einerseits der frühere Sündenpfuhl über disneyeske Bagatellisierungen seiner Liederlichkeit als eine Art »All-American City« in den kulturellen Mainstream hinüberverwandelt hat, andererseits sich die Gesellschaft selbst gleichzeitig in einer kommerziell orchestrierten Pornografisierung pseudo-permissiv scheinenthemmt und eine außeralltäglich ausgestellte »Sin City« einfach auch nicht länger braucht, wenn deren X-RatingVerheißungen, zu mindestens in der Medienrealität, ubiquitär dauerverfügbar sind. Mit einem Puritanismus-Backlash allein lässt sich daher das Geschäftsprinzip Steve Wynns – das ist der Casino-Magnat, der sich das alles ausgedacht hat – nicht erklären, die vergnügungssüchtigen Massen um Unverfänglichkeiten wie die kitschigen Piratenschlachten vor dem Treasure Island und die künstlichen Vulkanausbrüche vor dem Mirage zu versammeln, dieser stündlich flammenspuckenden Alibi-Attraktion, die wir als Vulkan bezeichnen, »because thats what the management at the Mirage calls it. […] [T]he whole thing look like a slightly damaged kitchen stove on steroids.«39
5.2
Die Attraktion des Authentischen in der Urlaubsindustrie
Für die meisten Urlauber ist ein mehr oder weniger entwickelter Authentizitätsbegriff Teil des intellektuellen Reisenecessaires. Die Aushandlung, Inszenierung und Vermarktung von Authentizität erfährt auch gerade deshalb in der Urlaubsindustrie eine unverhältnismäßige Wichtigkeit, weil Reisen den Menschen aus den reichen Nationen des entwickelten Kapitalismus eine der höchsten Formen konsumhedonistischer Lebenskunst bedeutet und in der gesellschaftlichen Wahrnehmung einen zentralen Schauplatz darstellt, um Distinktionsgewinne und Statusversicherungen zu erwirtschaften. Generell ist der Tourismus ein entscheidendes Feld des Geltungskonsums: »a form of conspicuous consumption in which status attributions are made on the basis of where one has stayed and that depends in part upon what the other people are like who also stay there. The attractiveness of a place and hence its location within a resort hierarchy
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Pynchon, Thomas: Natürliche Mängel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2010, S. 311 Cooper, Marc: »Searching for Sin City and Finding Disney in the Desert«, in: Mike Tronnes (Hg.), Literary Las Vegas. The Best Writing About America’s Most Fabulous City, Edinburgh: Holt 1995, S. 292; Cooper, der ebenfalls die Disneyfizierung der Glücksspielstadt thematisiert, bezeichnet den künstlichen Vulkan des Mirage als »ground zero of the New Las Vegas. The traditional sleaze and cheese that had always made this place a great weekend refuge from the monotony of an ordered and decorous life are being swept away by a lava flow of respectability and Family Values. Anxiously gathered at the foot of the Mirage Volcano was this herd of beefy middle Americans, almost all dressed in short pants, T-shirts, and baseball caps […]. If Bugsy Siegel had walked by at that moment, half of these lookie-loos would have called the feds. If so much as one old-time Vegas showgirl had shimmered by in boas and pasties, this assembled decency league would have stoned her to death.«; ebd., S. 292
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also depends upon how many other people are staying in the same place, and especially how many other people there are like oneself.«40 In authentische Reiseeindrücke setzen die Menschen über diese Distinktionsbedürfnisse eines Inszenierens der Freizeit hinaus eine existenzielle Heilserwartung, sie stellen eine bedeutende Ressource persönlicher Selbstvervollkommung. Selbst dort noch, wo sie einen mit Schwermutserlebnissen konfrontieren, wenn diese, wie bei W. G. Sebald, wichtige Partien des literarischen Schaffens inspirieren. Auch wenn sich der trüben Gedanken nachhängende Autor eingestand, dass die Zufälligkeiten seiner mäandrierenden Reiseeindrücke gefühlsartige Wallungen des Missbehagens und der Melancholie hervorrufen: »[Ich] finde […] an nichts Gefallen, bin von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht und wäre, wie ich oft meine, viel besser bei meinen Landkarten und Fahrplänen zu Hause geblieben«41 . (Ganz zu schweigen davon, dass sich Sebald, wie er in seinem Buch Schwindel. Gefühle schildert, einmal dazu gezwungen sah, panisch eine Italienreise abzubrechen und den nächsten Nachtzug zu besteigen, weil ihn die Angst übermannte, die neofaschistischen Attentäter der Gruppo Ludwig hätten es auf ihn abgesehen.) Das eigene Bewusstsein für Authentizität und Typizität und die eigene Authentizitätserwartung an die Reiseerfahrung fungieren als Abgrenzungs- und Distinktionsversicherung, wie Jonathan Culler rekapituliert: »The distinction between the authentic and the inauthentic, the natural and the touristy, is a powerful semiotic operator within tourism. The idea of seeing the real […], something unspoiled, how the natives really work or live, is a major touristic topos, essential to the structure of tourism. It is even the explicit selling point of commercial tours«42 . Ein konstruktivistisches, skeptisches Verstehensmodell des Tourismus, wie es John Urrys Begriff des »tourist gaze« entwickelte, der die bildgeleitete Konstruktion eines selektiven Blickregimes beschreibt, das die Steuerung genormter touristischer Routinen organisiert, ist so gesehen nicht wenig verbreitet – nicht nur bei Selektivtouristen, die einen Diskretionsabstand zu lärmenden, unkritischen Reisegruppen wahren, und Cluburlaub als Massenidiotie abtun. Begünstigt wird diese Eigenwahrnehmung dadurch, dass man das eigene Urlaubsverhalten relational zum verpathologisierten Klischeebild des tumben Club- und Pauschalurlaubers betrachten kann. Einer über die Maßen lächerlichen Figur, die sich im Vereinfachungskitsch holistisch geschlossener Ferienwelten verbarrikadiert, das Landesinnere und die Einheimischen, das Unbekannte außerhalb der Resortumzäunung, meidet43 – denn statt Abenteuererwartung treibt sie Risikovermeidung an (»Wenn der
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Urry, John: The Tourist Gaze.Leisure and Travel in Contemporary Societies, London: Sage 1990, S. 23 Sebald, W. G.: Schwindel. Gefühle, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1990, S. 62; Eine Enttäuschungsdimension bildet bei Sebald auch seine, bei vielen Urlaubern registrierbare, Irrationalität in der Wahl der Restaurants: »Ich weiß nicht, wie ich mir in fremden Städten die Lokale aussuche, in die ich einkehre. Einerseits bin ich zu wählerisch und gehe stundenlang durch die Straßen und Gassen, ehe ich mich entscheiden kann; andererseits gerate ich zuletzt meist wahllos einfach irgendwo hin und verzehre dort in trostloser Umgebung und unter Unbehagen ein mir auf keiner Weise zusagendes Gericht.«; ebd., S. 88 Culler: 1990 Diesen Holismus perfektioniert zum Beispiel Disney in Walt Disney World: »Once Disney became a major hotelier, they would want to keep visitors on their property; they would oppose mass transit
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Reisende sich gegen Risiken versichern läßt, ist er ein Tourist geworden«44 ) – und dessen Verhaltensrepertoire sich darauf beschränkt, mit dem Badetuch Liegestühle zu reservieren, sich am derben Buffetessen zu verausgaben und hitzebedrängt in brütender Schwüle bei Trinkgelagen Alkohol in sich hineinrinnen zu lassen. Nicht so sein zu wollen, gehört, so eine stechende Bemerkung Cullers, selbst bereits zum touristischen Repertoire: »Once one recognizes that wanting to be less touristy than other tourists is part of being a tourist, one can recognize the superficiality of most discussions of tourism, especially those that stress the superficiality of tourists. Tourists are inevitably reproached […] for their satisfaction with the inauthentic, the spurious«45 . Denn das eigene Empfinden für authentische Kultur- oder Naturgefüge, die eigenen essentialistischen Projektionen von bukolischer Echtheit und Exotik, werden gegen die Horizontverengung des bequemlichen, sonnenfrohen Kommerztouristen gewendet, der mit All-Inclusive-Bändchen am Handgelenk und fünf Bier im Hals die Erfahrungsleere seiner Reiseerlebnisse mit »Pseudo-Ereignissen« füllt, wie es Daniel J. Boorstin bezeichnete.46 Mit inszenierter Ereignishaftigkeit, mit zum Klischee erstarrten Bildern, den Folklorespeichern entnommenen totrequisitierten Lokalkolorit. Im kulturellen Distinktionsgefüge nimmt der in schlechtem Kredit stehende Kommerztourist keineswegs nur einen Randplatz des Massenbewusstseins ein. Die Kritik an ihm ist selbst längst eine abgestandene Parole, wie Dean MacCannell bilanziert »The touristic experience that comes out of the tourist setting is based on inauthenticity and as such it is superficial […]. It is morally inferior to mere experience. A mere experience may be mystified, but a touristic experience is always mystified. The lie contained in the touristic experience, moreover, presents itself as a truthful revelation, as the vehicle that carries the onlooker behind false fronts into reality. The idea here is that a false back is more insidious and dangerous than a false front, or an inauthentic demystification of social life is not merely a lie but a super lie, the kind that drips with sincerity.«47 MacCannells eigener Ansatz unterstreicht demgegenüber die Authentizitätserwartung der meisten Urlauber, schafft zugleich allerdings ein Bewusstsein dafür, wie deren unterschiedlich entwickelten Authentizitätskriterien erfolgreich von touristisch konstruierten Echtheitsinszenierungen versorgt werden, die er als staged authenticity bezeichnet. Die verschiedenen Ausprägungen einer staged authenticity, die simulieren, sie seien eine unverfälschte »Hinterbühne« der bereisten Kultur, unterstellen allerdings nicht,
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schemes that might take their patrons off property, to spend to spend their money elsewhere«; Foglesong: 2001, S. 108 Boorstin: 1991, S. 134 Culler: 1990 »Touristenattraktionen erfüllen ihren Zweck am besten, wenn sie Pseudo-Ereignisse sind. Damit sie beliebig wiederholt werden können, müssen sie künstlich hergestellt sein. […] Nur um den überspannten Erwartungen, von Reisebüros und Touristen zu entsprechen, werden überall Leute zwangsläufig zu unehrlichen Darstellern. Sie ziehen ihre feierlichsten Riten, Feiertage und Volksbräuche ins Lächerliche, um die Touristen ausreichend mit Ereignissen zu den günstigsten Jahreszeiten und den bequemsten Tageszeiten zu versorgen.«; Boorstin: 1991, S. 149 MacCannell: 1976, S. 102-103
5 Das Inauthentische als Simulation in der Themenarchitektur
wenigstens nicht bei MacCannell, »die Existenz einer real authenticity, zumindest einer non-staged authenticity«, die selbst immer »Resultat von sozialen Konstruktionen und Zuschreibungen [sein muss], die wiederum an die Verfügung über Machtmittel gebunden sind.«48 Auch wenn die meisten Touristen das eigene Urlaubsverhalten ausdrücklich mit dem Anspruch betrachten, selbst dem Inszenierungsverdacht, dem Eindruck, geleimt zu werden, zu entgehen. Gerade auch dann, wenn sich das eigene, gar nicht mal weiter elaborierte Authentizitätsverständnis mit einer faktenbefreiten Authentizitätsvermittlung einer staged authenticity begnügt. Denn »[d]ie Verwendung des Begriffes der Authentizität verweist auf keine objektive Größe, sondern auf eine innere Authentizitätssuche, die die inneren Sehnsüchte auf andere Kulturen und – in Tradition der Romantik – auf die Natur überträgt. Das als ›authentisch‹ bezeichnete Fremdbild ist letztlich die eine Utopie oder Dystopie des Selbst.«49 Nicht nur exotistische Selektivtouristen projizieren demgegenüber ihre Sehnsüchte von Echtheit und Unentstelltem, von der Leichtigkeit des Lebens, in ihre Reisedestinationen und empfinden, in Verachtung für alles Banale und Gängige, heilige Begeisterung für das Spektakulum unverschandelter Einfachheit und Natürlichkeit anderer Länder. Sie meinen, so Hans Magnus Enzensberger, »in armen Gesellschaften manches wiederzuentdecken […], was wir verloren haben: elementare Erfahrungen […]. Gerade das, was wir Jenen voraushaben, mißfällt ihnen. Die Komplexität unserer Verhältnisse wächst ihnen über den Kopf […]. Aber diese Wahrheit betrifft nur uns. Über die Zweite, Dritte, Vierte Welt sagt sie nichts aus. Was die Sinnsucher dort zu entdecken glauben, ist nichts weiter als eine Projektion ihrer eigenen Probleme.«50 48
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Schäfer: 2015, S. 26; MacCannells Bezugnahme auf Erving Goffmans Unterscheidung in gesellschaftliche Frontstage-Bereiche und Backstage-Bereiche, in denen interagierende Individuen ihre Selbstdarstellung auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Bühnen praktizieren, hat viele Diskutanten seiner Darlegungen glauben lassen, sie ruhen auf oder implizieren »Objektivismus oder Essentialismus«: »Das Streben nach Authentizität wie MacCannell es ausführt, ist getrieben vom Interesse an diesen Hinterbühnen. Wenn das ganze Leben zum Schauspiel wird, so die These, entsteht der Verdacht, es sei irgendwie nicht echt und das echte Leben werde im Backstage-Bereich gelebt.« (ebd., S. 27). Diese Entgegnung verpasst allerdings MacCannells Standpunkt, denn »[o]b etwas tatsächlich authentisch ist oder nicht, interessiert ihn gar nicht. Er interessiert sich dafür, was für authentisch gehalten wird und noch mehr dafür, was nachdrücklich als authentisch, natürlich oder echt angepriesen und inszeniert wird.«; ebd., S. 26 Steinkrüger: 2013, S. 82; Auch Ning Wang vertritt diese Betrachtungsweise und siedelt die Authentizitätserfahrung im Reisenden an, in dessen existenziellem Erleben. Und diese gedeiht auch mit Reizen einer »symbolic authenticity which is the result of social construction. The toured objects or others are experienced as authentic not because they are originals or reality, but because they are perceived as the signs or symbols of authenticity […]. Symbolic authenticity has little to do with reality out there. It is more often than not a projection of certain stereotyped images held and circulated within tourist-sending societies«; Wang, Ning: »Rethinking Authenticity in Tourist Experience«, in: Annals of Tourism Research, 2/1999 Enzensberger: 1982, S. 73; Auch MacCannell sieht die Authentizitätserwartung in dieser Weise antithetisch zur Alltagsrealität definiert: »The progress of modernity (›modernization‹) depends on its very sense of instability and inauthenticity. For moderns, reality and authenticity are thought to be elsewhere: in other historical periods and other cultures, in purer, simpler lifestyles. In other words, the concern of moderns for ›naturalness‹, their nostalgia and their search for authenticity
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Das Authentische ist immer das Außeralltägliche in der Wahrnehmung des Urlaubers, wie überhaupt die Wahrnehmungspraxis des Urlaubers selbst in Abgrenzung zu seiner individuellen Alltagserfahrung stattfindet. Das Authentische wird als »Abwesenheit dessen [definiert], was das eigene Leben auszeichnet. Und damit auch die Abwesenheit von Warenförmigkeit und Menschenmasse. ›Authentisch‹ sagt somit weniger über das Reiseziel als über den Herkunftsort des Touristen. Es ist eine Metapher für die vermeintliche Künstlichkeit des eigenen Lebens. Wer authentisch verreisen will, ist im Grunde zivilisationsmüde.«51 Und das unausweichliche Grundparadox dieser eskapistischen Authentizitätserwartung liegt darin, dass die devisenbringenden Touristen ihre eigene frequenzerzeugende exotisch-romantische Sehnsucht selbst torpedieren, da sie der Kultur und Natur in ihrer Intaktheit und Unberührtheit durch ihre Anwesenheit Authentizitätseinbußen zufügen: »Die Verschränkung industrieller Naturausbeutung und ästhetischen Naturerlebens ist zu einer ruinösen Spirale geworden. Flugreisen tragen die Zivilisation, von der sie Erlösung verheißen, in den letzten Erdwinkel.«52 Es ist eben der Tourismus selbst, der mit den durch die Sehenswürdigkeiten durchgeschleusten Touristenströmen seine eigene Verheißung demoliert: »genau das wird ihm als Inauthentizität vorgerechnet. Touristen sind für andere Touristen untrügliche Marker für die Inszeniertheit des jeweiligen Settings, in das sie geraten sind und ›entauthentifizieren‹ sich gegenseitig ihre Destinationen durch ihre bloße Präsenz.«53 Die zunehmende Verwestlichung durch global gleichförmige Modernisierungsprozesse, die damit einhergehende »Verhäßlichung der Welt, die als Gegenleistung zu entrichten ist«, wie es Joachim Fest bezeichnete, ebnet die Exotik fremder Weltgegenden ebenso ein wie die Touristifizierung der Metropolen, und damit die Erfahrungstiefe der Reisenden, die es einerseits immer weiter an die äußersten Ränder der Zivilisation treibt und andererseits ein weltgewandtes Airbnb-Hipstertum kultivieren lässt, dass sich ins Souterrain abseitiger Stadtquartiere einmietet, um in die urbane Alltagsintensität und -authentizität einzutauchen. Verwestlichung und Touristifizierung lassen »alles Reisen den einstigen Beweggrund [verlieren]. Es geht nicht mehr um den Reiz des vermeintlich Unbekannten. […] Denn der Wirklichkeit entkommt keiner mehr. Immer wieder erstaunt die Schnelligkeit, mit der die alles einebnende Weltzivilisation an die entlegensten Punkte vordringt«54 Boorstin registrierte bereits in den 1960ern, am Beginn des Bildschirmzeitalters, eine Umkehrung der Reiseerwartung hin zu einer Bestätigung medial vermittelter, ins
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are not merely casual and somewhat decadent, though harmless, attachments to the souvenirs of destroyed cultures and dead epochs«; MacCannell: 1976, S. 3 Raab, Klaus: »Authentizität. Echt echt?«, in: Die Zeit, 11/2015; Raabs Artikel weist den deskriptiven Gehalt des Authentizitätsbegriff zur Beschreibung von Urlaubsverhalten zur Gänze zurück: »Überhaupt dieses Wort: Kaum jemandem kommt die Authentizität fehlerfrei über die Lippen. Und wenn doch, blicken alle im Raum zu Boden und halten Ausschau nach der nächsten fallenden Worthülse. Noch nicht einmal zwischen Palmen und Pool ist man sicher vor ihr.«; Ebd. Schneider: 1981, S. VI Schäfer: 2015, S. 12 Fest: 1988, S. 151
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Klischeehafte abgleitender Abbildungen. Die Fremde muss seitdem »reiseprospektreif« erscheinen: »Die Leute reisen, um etwas zu sehen, von dem sie schon wissen, daß es da ist. Das einzig Erwähnenswerte, die einzige Quelle für Überraschungen, bieten die eigenen Reaktionen. […] [So] ist auch das fremde Land Bestätigung eines Pseudo-Ereignisses. Unsere Anteilnahme entspringt zum großen Teil unserer Neugier, ob der Eindruck, den wir gewinnen, den Abbildungen in Zeitungen, in Filmen und im Fernsehen ähnelt. […] Wir beurteilen nicht das Abbild nach der Realität, sondern die Realität nach der Abbildung.«55 Gleichzeitig sind es gerade die Abbildungen, die die Authentizitätssehnsucht der Menschen antreibt. Das heißt, jener Menschen, die nicht als Pauschalurlauber in All-Inclusive-Blasen und Scheinwelten simulationsästhetischer Themenparks in Wahrnehmung und Verhalten die These negieren, der moderne Tourismus sei »am besten zu verstehen als unzählige Variationen des immer gleichen Themas: die Suche nach dem Authentischen.«56 Für sie biete sich, wie Robert Schäfer präzisiert, die Authentizitätsideologie als »Rekonstruktion eines Deutungsmusters« an, »das den verschiedenen touristischen Praktiken und Institutionen ihren Sinn verleiht, der in einem Maße etabliert ist, dass er problemlos als kulturelle Selbstverständlichkeit durchgeht […] in der Idee der Authentizität. Sie bildet das ›semantische Gravitationszentrum‹, das das touristische Deutungsmuster zusammenhält«57 . Sein Antagonist ist der authentizitätsindifferente Typ Urlauber, der bereit ist, sich der Gunst der simulationsgesellschaftlichen Verhältnisse zu verschreiben. Dieses nicht übermäßig an der Realität interessierte Publikum begnügt sich mit bildgewaltiger staged authenticity.58 »[They] do not really want to penetrate appearances to find the spontaneous, unrehearsed truth backstage; instead, they are quite pleased to experience the manufactured world they have seen on television and imagined in their dreams. They don’t care if it s all a fake; they expect fakery and appreciate it when it is well done. So long as it s amusing!«59 Darüber hinaus gibt es aber auch ein Gegenstück zu dem, was Dean MacCannell als staged authenticity bezeichnet: staged inauthenticity. Ihr Klientel sucht, ohne es zu ver55 56 57 58
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Boorstin: 1991, S. 164 Schäfer: 2015, S. 8 Ebd., S. 10 »For instance, a tourist can recognise the staged nature of an environment and still enjoy the experience, provided his preference for authenticity is low. Other possibilities for positive and enjoyable experiences include: 1. having either a low or high preference for authenticity, but not perceiving the staged nature of the scene; and 2. having a high preference for authenticity and accurately perceiving the experience as authentic.«; Pearce, Philip/Moscardo, Gianna: »The Concept of Authenticity in Tourist Experiences«, in: Australian and New Zealand Journal of Sociology, 22/1986 Lindholm: 2008, S. 22; »›[R]ecreational‹ tourists who seek in the Other mainly enjoyable restoration and recuperation, and hence tend to approach the cultural products encountered on their trip with a playful attitude of make-believe, will entertain much broader criteria of authenticity. Indeed, they might well be prepared playfully to accept a cultural product as authentic, for the sake of the experience, even though ›deep down‹ they are not convinced of its authenticity«; Cohen, Erik: »Authenticity and Commoditization in Tourism«, in: Annals of Tourism Research, 15/1988
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heimlichen, ein Vergnügen in Verwandlungstricks fiktionaler thematischer Simulationsästhetiken. Für die Besucher themenarchitektonischer Hyperrealitäten gilt ein anderer Preis, sie fasziniert die immersive inszenatorische Wirkungsfähigkeit einer Freizeitindustrie, der Schein das Geschäft ist. Die »[t]ouristische[n] Inszenierungen verstecken ihre Künstlichkeit nicht, im Gegenteil. Wie das stolze making of von Actionfilmen führen sie diese Artifizialität als selbstbewussten Ausweis ihrer eigenen Wirkung vor«60 . Inauthentizität ist Themenarchitekturen ein Verkaufs-, kein Vulnerabilitätsfaktor. Bezeichnenderweise liegt der Attraktionswert unzähliger Themenarchitekturen gerade darin, andere Themenarchitekturen hyperrealistisch nachzubilden, die einen vergnügungsinfrastrukturellen Standard repräsentieren, Genregrößen zu kopieren. Disney Imagineering musste bei den Disneyland-Ablegern in Orlando, Tokyo, Paris, Hongkong und Shanghai schließlich eine Publikumserwartung erfüllen und die immergleichen Markierungspunkte der berühmten Disney-Wahrzeichen platzieren, um die affektiven Einprägungen der eigenen Mythenmacherei zu befriedigen. Wenngleich sich allerdings auch die Inauthentizitätswirkungen von Themenarchitekturen nicht ausschließlich auf Effekte einer staged inauthenticity in Gestalt ausgestellter simulationsmächtiger Inszenierungstricks, die mit der Erwartung und Wahrnehmung des Publikums spielen, zurückführen lassen. Denn der kommerzielle Erfolg konsumhedonistisch optimierter Themenwelten ist zu einem wesentlichen Teil ebenso der bereinigenden Selektion der Referenzorte zuzuschreiben, bei der das Exotische verfreundlicht wird. Und diese zulasten einer verlustfreien Abbildgenauigkeit der Imitation praktizierten Zurichtungen ähneln strukturell den Mechanismen einer staged authenticity, bei der Besucher sich bereitwillig in der Fälschung einrichten.61 Exotik wird exotistisch hergestellt. Und diese Exotismusproduktion offenbart, wie Jan-Erik Steinkrüger schreibt, entgegen der Mehrheitsmeinung der Konsumenten »die eigentliche Problematik von Themenwelten, die andere Kultur oder das Andere der Kultur reproduzieren: es ist weniger die Darstellungspraxis an sich, sondern die Asymmetrie ihres Blickregimes und damit eine Frage der Deutungsmacht, wer wen darstellen und konsumieren und wer wen zum Objekt seiner Schaulust machen darf.«62 Als Beispiel nennt er den Vergnügungspark Phantasialand in Brühl, Nordrhein-Westfalen, bei dem Architekt Andreas Schuberth in der Sektion Deep in Africa und dem Hotel Matamba die
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Groebner: 2018, S. 31; Die Arrangeure thematischer Simulationsästhetiken wissen: »Durch das Offenlegen der eigenen Darstellungsstrategie verliert der Gegenstand und gewinnt die Darstellung die Authentizitätszuschreibung […] Aus einem gegenstandsorientierten Authentizitätsbegriff wird ein darstellungsorientierter.«; Mohn: 1997, S. 23 Beispielhaft gilt dies etwa für die berühmte, den Disney-Mitarbeitern abverlangte ServiceMentalität, für das allgegenwärtige dünne Zwangslächeln der bei Disney »cast members« genannten Servicekräfte. Natürlich ist diese »emotional labour« inauthentisch, unaufrichtig, aber nichts desto trotz eine vom Publikum erwartete Dienstleistung: »The friendliness and helpfulness of Disney theme park employees are renowned […]. Moreover, anyone with even a passing knowledge of the parks expects this kind of behaviour. The ever-smiling Disney theme park employee has become a stereotype of modern culture.«; Bryman: 2004, S. 107 Steinkrüger: 2013, S. 289
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Lehmarchitektur Timbuktus, die Dogon-Kultur im Osten Malis simuliert, »Afrika als kolonialromantische Safari«63 arrangiert. Das Zusammenspiel aus staged inauthenticity- und staged authenticity-Attraktionen lässt sich beispielhaft an Terra Mitica, einem 2000 eröffneten Themenpark im Hinterland des spanischen Ferienorts Benidorm an der Costa Blanca, der falsche Tempel der antiken Kulturen des Mittelmeeres als themenarchitektonisches Illusionstheater arrangiert, veranschaulichen. Der altägyptische Teil zeigt eine Nillandschaft mit Palastanlage, um das schlaffe, entfärbte Wasser eines künstlichen Bassins, in dem einige traditionelle ägyptische Nilbarken liegen, sind ein mit Hieroglyphen verzierter Pylon, Arkaden mit bunt bemalten Lotos- und Hathorsäulen, Pharaonenstatuen, Obelisken, eine Pyramide und ein Leuchtturm von Alexandria gruppiert. Der griechische Teil zeigt das Löwentor von Mykene, einen Peripteraltempel mit einer Statue des Zeus, und weitere Tempelfassaden mit polychromer Ornamentierung, der römische Teil ein Kolosseum und einen Triumphbogen. Und das eine an Terra Mitica ist der Simulationsaufwand, das Pathos der assoziierten Namen mit den Attrappenbauten zusammenzubringen – seine Immersionseffekte: wenn in der Mittagsglut, die aus dem blauen Himmel herabschlägt, altägyptische und altgriechische Tempelbauten nicht so weit hergeholt wirken; und seine Kontingenzeffekte: für die allein die Irritation mit Benidorms Skyline im Hintergrund sorgt. Das andere aber ist seine infrastrukturelle Attraktivität als Themenpark, was neben Attraktionen wie Achterbahnen auch einschließt, dass das, was er an Vergangenheit simulationsästhetisch wiederbelebt, in seinem Klischeeniveau auf das Publikum ausgerichtet ist, das heißt Imponderabilien vermeidet – denn: »Tourists are not paying to be reminded that history is unstable and contingent.«64 Bei den paradigmatischen Disneyparks selbst überlagern sich die unterschiedlichen, aus staged inauthenticity-Phänomenen stimulierten Inauthentizitätswirkungen natürlich mit medial präetablierten Attraktionserwartungen, die sich an den Wahrzeichencharakter ihres Architainments richten. Daher sind sie in den Disneyparks am greifbarsten, die am wenigsten unter diese Klammer zu bringen sind. Etwa bei dem 2001 eröffneten Tokyo DisneySea in Urayasu, unweit der Stadtgrenzen Tokyos, dem zweiten japanischen Disneypark auf dem Areal von Tokyo Disneyland. Die ImagineeringFamiliaritäten in Tokyo DisneySea sind ausschließlich syntaktisch. Der Park verdankt seine Attraktivität allein der themenarchitektonischen Passioniertheit, mit der er in die ästhetischen Beglückungskräfte investiert, die Themenarchitekturen natürlich immer einzufangen versuchen, und die konstitutiven »Theming«-Komplexionen von Immersions- und Kontingenzeffekten forciert. Der ikonische Mount Prometheus, ein künstlicher Vulkan, unter der eine arabische Piratenfestung liegt, und die Mermaid Lagoon, ein begehbares knallig pastellfarbenes Riesenkorallenriff (– eine Farce, die da durchgespielt wird, da sie nachbildet, was unsere Plastikkultur in den Weltmeeren zerstört –), inszenieren avancierte Hyperrealität. Und auch der Tower of Terror, der eine übersteigerte viktorianische Neugotik mit kolonialistischen Empire-Zitaten wie indischen Chhatris mit Zackenbögen und Zwiebelkuppeln 63 64
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zeigt, die eine bereits in anderen Disneyparks etablierte Vertikalfahrt-Attraktion in einem 60 Meter hohen Hochhaus kostümiert, setzt auf einen herrlich grotesken Korruptionismus von Echtheitszeichen.65 Denn der visuelle Reiz liegt nicht nur in der komplex gezeichneten Neugotik, in den staged authenticity-Effekten der Klinkerfassaden und artifiziell patinierten Steildächern, sondern in der typologischen staged inauthenticity einer in den oberen Geschoßen spektakulär auskragenden Hochhausscheibe. Weniger markant sind die staged inauthenticity-Wirkungen hingegen in den Abschnitten Mediterranean Harbor, einer italienischen Hafenstadt, und Arabian Coast, einer zentralasiatischen Medina. Beim Mediterranean Harbor überwiegt das Vertrauen in die Bildmächtigkeit der assoziativen simulationsästhetischen Übertragung venezianischer Kanalszenen, toskanischer Platzsequenzen und genuesischer Hafenansichten. Obwohl konkrete ortsbezogene Referenzierungen in der Schwebe bleiben, sind die Zuweisungen unzweideutig und prononciert: Gotisches Maßwerk und marmorne Renaissancefassaden in der Venedig-, steinsichtige mittelalterliche Patrizierhäuser in der Toskana-, und Renaissancefresken an der Genua-Sektion. Auch die Arabian Coast, die sich auf den Disney-Zeichentrickfilm Aladdin bezieht, entscheidet sich lediglich in den Randunschärfen einer Basarpassage für eine disneyeske Verniedlichung. Die mit Arabesken und fayenceverkleideten blauen Kuppeln, Minaretten und Türmen drapierten Moschee- und Palastbauten und Befestigungsanlagen hingegen vertrauen auf die ästhetische Wirkungskraft islamischer Baukunst. Es ist aberwitzig, aber gerade durch ihren Simulationsaufwand legt Disneys Architainment »Zeugnis ab von der lyrischen Schönheit des Islam. Ihr Glasurschimmer, ihr Saphirgrün und Kobaltblau prägen sich der Netzhaut ein«, wie Joseph Brodsky über die Moscheen in Samarkand, Buchara und Chiwa schrieb. Sie bilden simulationsästhetisch wie diese eine »Erinnerung an eine (wenigstens) farbliche Alternative zu der wirklichen Welt […]. Man spürt tatsächlich in ihnen eine Idiosynkrasie, eine Selbstversunkenheit, ein Streben, sich zu vollenden, zu vervollkommnen. Wie Lampen in der Dunkelheit. Besser: wie Korallen in der Wüste.«66
5.3
Duplitecture – Sekundaritäten und Zweitklassigkeiten
Die ästhetische Angstlust am Vulgären, Kitschigen, Billigem, Halbausgeführten der Themenarchitekturen bedient die Haltung des Trash-Ästhetizismus. Die ironische Blasiertheit und zynische Abgeklärtheit dieser Verfallsphilosophie stellt ein bereitliegendes geistiges Motiv, mit dem sich halbintellektuelle Distinktionsbedürftige, mit beleidigendem Blick in den Augen, ihrer kulturellen Abgrenzung gegenüber dem Massenpublikum der Themenparks und Malls versichern und zugleich eine Legitimierung finden, sich 65
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Der erste Tower of Terror wurde für den zweiten Disneypark in Anaheim, Disney’s California Adventure Park, 1994 errichtet. In den Disney’s Hollywood Studios in Orlando und dem Walt Disney Studios Park in Paris wurde die Attraktion dann ebenfalls gebaut. Diese sind nach der Fernsehserie The Twilight Zone allerdings mit unterschiedlicher Hispanic Revival- und Art Déco-Stilisierung als ausgebrannte Hollywood-Hotels gehalten. 2017 wurde der kalifornische Tower of Terror nach den Science-Fiction-Comics Guardians of the Galaxy umgestaltet. Brodsky, Joseph: Flucht aus Byzanz, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1991, S. 374-375
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selbst genießerisch in den Kulissen der Kulturindustrie herumzutreiben. Themenarchitekturen werden den Trash-Ästheten zur säftelnden Bad Taste Party, um mit Dingen, die unter ihrem intellektuellen Niveau liegen, um mit dem Entsetzen Scherz zu treiben. Zwar beschränkt sich der Trash-Ästhetizismus im interessantesten und sympathischsten Fall durchaus nicht nur auf einen dem Kitsch gewidmeten Hipster-Chic, der die eigene Geschmackssicherheit in der Wahl hässlicher Style-Accessoires wie »ironic mustaches«, Krankenkassen-Brillengestelle, Trainingsanzüge aus Ballonseide, Moonwashed-Jeans und silberglitzernde Leggings unterstreicht, und entwickelt eine Praxis kreativen Kuratierens, die getragen von einem freieren Kulturverständnis und einem Hang zum Abseitigen die ästhetischen Faszinosa des Allerfurchtbarsten artikuliert, sich auf Dinge einlässt, die man sich ansonsten auf Armlänge fernhält. Mit ihm versuchen intelligente Registratoren des Gegenwärtigen das Flüchtige und Verfließende des vibrierenden Äthers der Massenkultur in einer illusionslosen, aber sinnlichen Realitätseinsicht zu fassen. Im uninteressantesten und unsympathischsten Fall ist der Trash-Ästhetizismus aber einfach nur eine allseitige Verächtlichmachung, denunziatorische Niedertracht. Ein Spiegel eigener Abartigkeit und Kaputtheit – böse, polemisch, gemein gegenüber den unteren Schichten, die in einem unfairen Gesellschaftsausschnitt speziell in den USA als »White Trash« gebrandmarkt werden. Eine sich hinter Ironie und Zynismus verschanzende Verschleierungstaktik für die eigenen niederen Kulturbedürfnisse, dafür, den Geschmack der Kulturindustrie im Mund zu haben. Eine hinterlistige Kumpanei mit dem »deformierten, vergnügungslärmigen Landsmann[] in der Gesamtheit seiner Anspruchsunverschämtheit«67 , wie es der in ein metaphysisch-dunkles Reaktionsgeraune sich verlierende Botho Strauß einmal verächtlich ausdrückte. Eine trivialisierte Subversionstheorie, die sich die Taktik einer »Appropriation« der Unterhaltungskultur auf niederes Niveau herunterphilosophiert, und sich damit eine Generalabsolution erteilt, sich selbst den Dreck reinzuziehen, bis einem die Schlagader springt. Eine Attitüde, die den Mindestabstand zu sich und die Distanz zum räudigen Müll der Kulturindustrie verliert (– die sich als elitäre Veranstaltung für Eingeweihte gibt, sich durch ihre Zweitrezeption und Zweitkonsumption allerdings natürlich selbst in die Sphäre der Warenzirkulation einfügt). Immer aber dient nicht nur im Trash-Ästhetizismus ein Ungleichheitsbefund kultureller Niveauverschiedenheit, die auch als Inauthentizität abgekanzelt wird, als distinktives Differenzkriterium, dazu, in mit Ekel gemischter Genugtuung eine intellektuelle Verteidigungslinie einzuziehen. Europa grenzt sich in seinen Authentizitätszuschreibungen gegen Amerika ab, und innerhalb der Vereinigten Staaten werden Authentizitätsgefälle zwischen Ost- und Westküste akzentuiert, wie es lakonisch bei MacCannell heißt: »The United States makes the rest of the world seem authentic; California makes the rest of the United States seem authentic. The dialectic of authenticity is at the heart of the development of all modern social structure. It is manifest […] in attacks on what is phony, pseudo, tacky, in bad taste, mere show, tawdry and gaudy.«68 Den Sun BeltMetropolen wie Atlanta, Dallas, Houston oder Phoenix wird ihre kommerziell moder67 68
Strauß: 1999, S. 61 MacCannell: 1976, S. 155
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nistisch-postmodernistische Gleichförmigkeit und Unerheblichkeit vorgerechnet (»not tasteless. It is, like much postmodernism, a-tasteful. Taste is irrelevant«69 ), magistralen, durch die Kulturindustrie mythologisch aufgeladenen Städten wie Los Angeles, Miami, Orlando oder Las Vegas zwar nicht Unmaßgeblichkeit oder Verwechselbarkeit, aber Künstlichkeit. Der Westen wiederum kurbelt seinen Distinktionskreislauf an, indem er sich gegenüber den neuen Metropolen der globalisierten Ökonomie, deren Eliten ostentativ in die Vorstellungswelten eines westlichen Konsumhedonismus eingeschlossen sind, versperrt. Die amerikanisierten Hyperrealitätsurbanitäten in Dubai, Singapur, Shanghai oder Macao werden gegenüber den eigenen verfeinerten kulturellen Verhältnissen als vernachlässigungswürdige, entwirklichte Zirkulationen des Sekundären, als an die Künstlichkeit verschenkte, ungelebte Existenzen intellektuell auf Distanz gehalten. Eine der bizarrsten architektonischen Infantilitätserfahrungen, die ekelheischende Westmedien derzeit mit dieser Intention herumreichen, ist die Burj al Babas-Siedlung in der türkischen Provinz Bolu, wo das Bauunternehmen Sarot Group in der Nähe der Kleinstadt Mudurnu 732 baugleiche Châteauesque-Villen als Disney ImagineeringPuppenhäuser streng repetitiv und eng gestellt ins Brachland eines abseitigen Gebirgstals wuchtete. Die Absurdität dieses 2014 gestarteten Investments wird spätestens seit dem Bankrott des Entwicklers, der mit dem türkischen Immobilienmarkt ins Trudeln geraten war, die Bauarbeiten einstellen und damit eine halbfertiggestellte Geisterstadt zurücklassen musste, mit hinterhältigem Grinsen als Paradebeispiel für die Unkultiviertheit der »Dubaization«-Attraktionsarchitektur denunziativ ausgeschlachtet, das Hämebedürfnis des Westens befriedigt. Dabei ist Burj al Babas, wie Niklas Maak schreibt, in der Zurückweisung der »Stilvorgaben des minimalismusgläubigen Westens« natürlich eine kulturrelativistische Mahnung. Denn wo feingeistige Westmenschen Böses leiden, scheint diese lächerliche Anhäufung von Klischees das anvisierte arabische Käuferklientel grundsätzlich durchaus einzufangen, dem Selbstbewusstsein der Eliten neureicher Globalisierungsschneisen zu schmeicheln. Darin ist die import-disneyeske Villensiedlung, »auch ein wenig aus wie eine Bebilderung von Freuds Theorie des verdrängten Eigenen, das als erschreckendes Fremdes zurückkommt, wie eine rachsüchtige Armee all der von den Ideologen des Reinen, Klaren, Reduzierten, klinisch Weißen verbannten Bauteile […]. Die Sarot-Siedlung ist alles, was das Bauhaus nicht wollte – industriell massengefertigte Schnörkel und Deko-Elemente, die vorgaukeln, dass hier Steinmetze am Werk waren, Kitsch, Dysfunktionalität, bürgerliche Renommierträume …«70 Die auch allein ihren falschen, verzeichneten simulationsästhetischen Detaillierungen Unfähigkeit beweisenden Château-Simulakren des Burj al Babas buchstabieren die architektonischen Präferenzen einer geschmackskulturellen Hybridation aus, wie sie in den Hurra-Jahren der »Dubaization« in den Golfmetropolen aus dem Import kulturindustrieller Amerikanismen entstanden ist. Sie sind Blasen einer weltweiten architekturästhetischen Gärung. Und zugleich erinnert, so Maak weiter, »der wirklich hem69 70
Fjellman: 1992, S. 16 Maak, Niklas: »Über Schloss und Riegel«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.2.2019
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mungslose Einsatz von Säulen, Erkern und gotischen Fenstersprossen an das große Dilemma halbkonservativer westlicher Architekten, die zwar das Alte rekonstruieren, aber nicht als reaktionär gelten wollen und deswegen in ihrem Tun auf halber Strecke in einem anämisch-pappigen, immer seltsam desinfiziert aussehenden GipsklassizismusSemifreddo steckenbleiben«71 . Der westliche Inauthentizitäts- und Hyperrealitätsdiskurs verrät die Panik, die ihn erfüllt. Besonders wenn er mit hysterischen Augen auf Chinas Aufstieg zur wirtschaftlichen Supermacht starrt, sieht, wie sich die neuen Reichen, die einen exklusiven westlichen Lebensstil bestreiten wollen, mit lächerlichem Magnatengehabe in plagiierter westlicher Architektur und plagiierten westlichen Stadtbildern einrichten, in simulationsästhetischen »simulacrascapes«, die von der Journalistin Bianca Bosker »duplitecture« genannt werden. Das hyperkapitalistische China des 21. Jahrhunderts ist nicht nur ein katzengoldenes Reich der Produktpiraterie, in dem authentizitätsindifferente Plagiatoren gefälschte Markenwaren, Unterhaltungselektronik und Medikamente am »Shanzhai« genannten grauen Markt verkaufen, Chinas neue konsumhedonistische Großbourgeoisie, die ihre Chance erhielt, richtig abzukassieren, sucht ihre Weltgewandtheit und Geschmackssicherheit ausgerechnet durch inauthentische Themenarchitektur auszudrücken. Vordergründig scheinen sich diese themenarchitektonischen Hyperrealitäten, indem sie westliche Architekturstile nachbilden, einer westlichen Definitionsmacht zu fügen, auch wenn sie sich für die Künstlichkeit und das Ausmaß an schlechtem Geschmack, das tatsächlich beträchtlich ist, hämisch-gehässige Tiraden in westlichen Architekturfeuilletons gefallen lassen müssen. In Wahrheit aber zeigt sich in der »duplitecture«, wie sehr sich die chinesischen Wertschätzungskategorien für Nachbildungen unterscheiden. Sie bricht den kulturellen Einfluss des Westens, indem sie dessen Authentizitätsideal zurückweist. Denn sie ruhen auf der »the paradoxical premise that in the way it copies the West, contemporary China manifests its tremendous originality. […] The ontological status and value of the copy in China differ substantively from corresponding Western notions. The copy in China is not stigmatized, as it is in the West«72 . Diese Differenz der Sichtweisen ist in der chinesischen Kulturtradition begründet, in der »the ability to render a good copy has, historically, been taken by the Chinese as a marker of technological and cultural superiority. And the coexistence of an original and its virtually indistinguishable double does not trigger the ontological crisis that is characteristic of the West.«73 Die Liste surrealer, lächerlicher »duplitecture«-Stadtbildimitationen, die eine dauerergrimmte westliche Publizistik sich im falschen Film wähnen lässt, ist lang. Die Bandbreite städtebaulich insular in die dispersiven Außenbezirke chinesischer Megastädte eingesetzter, simulationsästhetisch nie ganz durchgearbeiteter »simulacrascape«-Stadtviertel umfasst unter anderem ein themenarchitektonisches Paris in Hangzhou, das den Namen Tianducheng trägt, eine sich englisch gebende Thames Town
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Ebd. Bosker, Bianca: Original Copies. Architectural Mimicry in Contemporary China, Honolulu: University of Hawaii Press 2013, S. 7 Ebd., S. 25
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in Songjiang, einer Satellitenstadt Shanghais, und eine Venice Water Town in Hangzhou, mit der die ewige, oft Peinlichkeiten produzierende und bereits zu ihrem eigenen Gewöhnungseffekt gewordene »Theming«-Konzeptressource Venedig bedient wird, mit der man auch bereits in China bei dem Venetian Resort in Macao einigen Unsinn getrieben hat. Das Paris in Tianducheng, eine Trabantenstadt, die zu mindestens in den ersten Jahren nach ihrer Errichtung 2007 als Geisterstadt verwaiste, zeigt einen Prachtboulevard im Stil der Champs-Élysées mit Baron Haussmannschen Neoklassizismus, dem allerdings in der Detaillierung viele Irrtümer und Schwächen nachgewiesen werden können, einen auf ein Drittel verkleinerten Eiffelturms, der in den Smogteppich Hangzhous ragt, und dazu mit stumpfer Qualität Nachbildungen der Brunnenanlagen des Fontaine des Quatre-Parties-du-Monde aus dem Jardin Marco-Polo, den Latonabrunnen und den Apollobrunnen aus dem Schlosspark von Versailles. Noch grober erscheint die genreorientierte Bildmotivik der Thames Town. Steif und unlebendig exekutiert reihen sich viktorianische und edwardianische Häuser, Pubs und rote Telefonzellen aneinander. Eine Inspiration soll das kleine Küstenstädtchen Lyme Regis in der Grafschaft Dorset am Ärmelkanal gewesen sein. Die neugotische Kirche von Thames Town ist eine Kopie der Christ Church des Architekten Charles Dyer in Clifton Down, Bristol. Eine nicht ganz glückliche Idee ist schließlich auch Venice Water Town in Hangzhou, eine weitere, im Erwartbaren verbleibende Venedigdekoration. Den durcheinandergemischten Unsinn prägen ein Campanile und ein mit großen roten chinesischen Schriftzeichen über der Zinnenkrone versehener Dogenpalast, bei dem überdies das Loggiengeschoss fehlt und deren Nonnenkopfbögen in die Arkade verschoben wurden. Die restliche Venice Water Town ist von Konturlosigkeit gekennzeichnet, ihre immersiven Einwirkungsmöglichkeiten sind bescheiden. Nicht nur, weil bei den an mehreren Kanälen platzierten Appartementhäusern die stadträumliche Gliederung und die Maßstäbe nicht stimmen, die Detailschärfe der Fassaden ist unzureichend, die VenedigMerkposten bekleiden niedrigste Formen. Generell ist für die stiliterierende »duplitecture« bezeichnend, so Boskers, dass die Inhalte, die das chinesische Massenbewusstsein in sie hineintransportiert, allein die von den Immobilienentwicklern mit abgefeimten Marketingtricks bedienten Luxusassoziationen, die gegenwartshaltig die kapitalistischen Klassenverhältnisse zum Ausdruck bringen, affirmiert, nicht aber die politischen Freiheitsversprechen der westlichen Demokratien. Auch wenn diese signaturstiftenden »simulacrascapes«, die sich nur die gehobenen Einkommenssegmente leisten können, mit der Lebensrealität der allermeisten Chinesen nicht viel zu tun haben, sie ein Privileg der Eliten bleiben, und
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sich ihr Wirkungskreis nur insofern ausweitet, als sie zu touristischen Sehenswürdigkeiten werden.74 Nicht von ungefähr finden sich Chinas Millionäre, eine vom Konsumhedonismus korrumpierte Elite von Emporkömmlingen, die enthemmten Eigennutz vorleben, am liebsten in europäischen Architekturstilen wieder, die eine blasierte aristokratische Passivität auszeichnet. Nachgebaute französische Renaissance-Châteaus sind ihre ultimativen Statussymbole der Reichen, die in diesen Villen-Enklaven im Einwohnerverzeichnis stehen. Die chinesischen Themenarchitekturen »can generally be traced to historical periods during which Europe was defined by the ascension and dominance of the aristocracy and bourgeoisie. This preference presents a striking evolution: the Chinese have emerged from a period under Mao that sought to eliminate class distinctions, only to embrace cultural symbols and styles linked to eras when social hierarchies and class distinctions were at their most formal and institutionalized. The imitations […] hark back to an age of sumptuary laws, strenuously reinforced class hierarchies, and a powerful, privileged aristocracy.«75 Das kaderkapitalistische China der Gegenwart fällt damit auch auf das Selbstverständnis des Westens zurück. Die kapitalistischen Effizienzen des chinesischen Systems, das – seit die Volksrepublik mit Deng Xiaopings Reform- und Öffnungspolitik in die globalisierte Moderne eingetreten ist – einen staatlich gelenkten Kapitalismus mit einer diktatorischen staatlichen Disziplinargewalt verbindet, die eine Abschnürung aller Freiheits- und Bürgerrechte betreibt, schaffen einen entzündlichen Bereich.76 In der westlichen Architekturtheorie hat die chinesische »duplitecture« hingegen keine differenzierte Diskussion entfacht. Auch, weil abseits des in der architekturästhetischen Wirkung Banalen und Kleinlichen, das einen deprimierenden Eindruck hinterlässt, allein ihre Instrumentalisiertheit durch Immobilienspekulanten des interna74
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»While those who are wealthy enough to afford the Western-style villas can travel abroad with ease, the majority of Chinese cannot, and for them, these simulacraspaces, which they can visit on weekends or holidays, are the next best thing. In the present communities, the private living space seems at least partially transformed into a tourist environment. […] China’s wealthy may, perhaps unwittingly but perhaps intentionally, have turned themselves into a tourist attraction for China’s 1.3 billion citizens. »; ebd., S. 108 Ebd., S. 104-105 Sie lancieren einen neoliberalen Diskurs, hauptsächlich in den Wirtschaftseliten, der einen zunehmenden Verdruss über die Langsamkeit und die Sattheit der westlichen Demokratien beklagt und den autoritären Zentralismus der chinesischen Staatsmacht, den kein Parlamentarismus, keine Gewerkschaften und keine demokratischen Beteiligungsrechte retardieren, zugesteht, das effizientere System zu sein, um mit den Veränderungsgeschwindigkeiten eines ungezügelten Kapitalismus Schritt zu halten. Dieser Diskurs ist zwar grundsätzlich gefährlich, aber in sich irrtumsverhaftet, wenn er meint, die verunsicherten, für die regressiven Versprechen des Rechtspopulismus anfälligen Menschen des Westens würden ihn indirekt an den Wahlurnen bereits materialisieren, indem sie illiberalen Parteien ihre Stimme geben, da er zwei grundverschiedene Autoritarismen vermischt: nämlich jenen wirtschaftsliberalen, der eine technokratisch-ökonomische Effizienzsteigerung bezweckt, den er selbst begrüßt, und jenen protektionistischen, Globalisierungseffekte begrenzenden, den die rechtspopulistischen Vereinfacher betreiben und damit Menschen erreicht, die sich in den erkämpften Freizügigkeiten der westlichen Demokratien gut aufgehoben fühlen.
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tionalen Risikokapitals auf der einen, und die in ihr verstetigte kulturindustrielle Impassibilität der Massen auf der anderen, gängige Urteile über die »Disneyfication« bestätigen. Im Schwindel thematischer Simulationsästhetiken zeige sich eine strukturelle simulationsgesellschaftliche Realitäts- und Authentizitätsapathie, die wirklichkeitsdarstellende Simulakren einer gleichgültigen, abgestumpften Kulturindustrie der Realität und dem Authentischen vorzieht: »To feed the hunger for the really real, the media fabricates ›absolute fakes‹ that appear more brightly colored, vivacious, and compelling than the factual world itself. This transposition is obvious when people talk about their experiences of an earthquake or love affair or bank robbery and say it was so vivid that it was ›like a movie‹.«77 Was eine Kulturkritik thematischer Simulationsästhetiken allerdings nicht unterschlagen darf, ist die Einsicht, dass diese simulationsgesellschaftliche Realitäts- und Authentizitätsapathie nicht allein auf einer passiven Manipulationsbereitschaft basiert, auf einer durch die »themed environments« prolongierten konformistischen Gleichförmigkeit, sondern zu einem gewissen Teil auch auf der Bereitschaft ihrer illusionskompetenten Konsumenten, mit sich ein Spiel treiben zu lassen. Thematische Simulationsästhetiken stimulieren bei ihrem Publikum Verhaltensweisen, die Johan Huizinga als wesentliches Kennzeichen des Homo ludens interpretierte: ein im Spielcharakter der Kultur angelegtes »hintergründiges Bewußtsein von ›Nichtechtsein‹«78 . Die Prinzipien des vom gewöhnlichen Leben verschiedenen Spiels, das durch seine durch von Regelbindungen gekennzeichnete Begrenztheit bestimmt ist79 , scheinen sich in den die Rezeptions- und Interaktionsmustern in Themenarchitekturen wiederzufinden. Sie scheinen damit einen sehr ursprünglichen Kulturimpuls aufzugreifen, denn in der Einschätzung Huizingas beginnt Kultur »nicht als Spiel und nicht aus Spiel, vielmehr in Spiel. Die antithetische und agonistische Grundlage der Kultur ist im Spiel gegeben, das älter und ursprünglicher ist als alle Kultur.«80 Diese Anmerkung, dass nicht nur Strategien einer appropriativen Neubeschreibung von Themenarchitektur, die ihr widerspruchsreiches Ineinander von Trash-Faszination und Geringschätzung zu artikulieren versuchen, auf einem »hintergründigem Bewußtsein von ›Nichtechtsein‹« aufbauen, sondern diese Rezeptionsperspektive ebenso den Vorstellungsbereich ihrer gewöhnlichen Konsumenten definiert, rechtfertigt freilich noch keine Apologetik. Wie sich überhaupt alle Strategien appropriativer Neubeschreibung »kulturindustrieller« Architekturartikel bei ihren Versuchen, diese mit ästhetischen Gewinn zu betrachten, nicht die Augen vor ihrer Warenförmigkeit verschließen dürfen: vor der einfachen Wahrheit, dass man sich ihnen gar nicht anders nähern kann denn als zahlungspflichtiger Kunde. Denn unumgänglich laufen auch die subversivsten Appropriationsbemühungen Gefahr, sich in die ästhetizistischen Seifenblasen scheinbar anarchischer Aneignungspraxen einzukapseln und den genuinen »Warencharakter« eines ausschließlich kapitalistisch ausgerichteten Architainment 77 78 79
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Lindholm: 2008, S. 53 Huizinga: 1987, S. 32 »Spiel ist nicht das ›gewöhnliche‹ oder das ›eigentliche‹ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz. Schon das kleine Kind weiß genau, daß es ›bloß so tut‹«; ebd., S. 16 Ebd., S. 88
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zu verpassen. Das heißt, dem naiven Selbstbetrug aufzusitzen, nicht zu realisieren, dass auch derjenige, der in subversiver Absicht durch die drastisch inauthentischen Sekundaritäten eines Disneyland lustwandelt, zunächst ein Flugticket kaufen und sein Eintrittsgeld entrichten muss und es dem Disney Konzern und seinen Aktionären natürlich letztendlich gleichgültig sein kann, welche Motive den unvermeidlich Konsumierenden durch das Drehkreuz seiner kommodifizierten Themenwelt treibt.
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Hauptstädte des Inauthentischen
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Natürlich sind nicht allein die Erstaunlichkeiten des Inauthentischen, die überfallsartigen Künstlichkeiten für die nicht leicht widerstehliche Anziehungskraft dieser Städte verantwortlich. Eine Narration ihrer Inauthentizitäten, ihrer zur Fülle neigenden städtischen Pracht des Artifiziellen, rivalisiert mit anderen Narrationen, angesichts derer einem mitunter gewaltigere Gefühle durchdringen. In Budapest, der imposant an der Donau sich ausbreitenden, architektonisch spannungsgeladenen Hauptstadt Ungarns, sind es zuallererst die Eindrücke bestechender Schönheit, die Fragen der Inauthentizität ihrer über die Stränge schlagenden Stadtarchitektur in den Hintergrund rücken lassen. Die weltstädtische Ausstrahlung Budapests lässt einem, nicht nur an strahlenden Tagen, die Augen übergehen. Die Architekturen des Historismus und des Jugendstils, die speziell in dem bravourösen Unterfangen, eine die Kulturwurzeln des Magyarentums aufgreifende Nationalarchitektur zu erschaffen, bei einer tieferen Betrachtung den Blick auf die Stadt irritieren, ziehen einen mit ihrer Grandiosität in den Bann einer harmonisierten Wirklichkeit. Der Illusionismus, der Budapests dramatische urbane Gesten nicht weniger prägte wie das fiebrige Kulturbewusstsein der späten Habsburgermonarchie als Ganzes, tritt mitunter zurück, wie Wilhelm Droste betont: »Heute überzeugt das damals so fadenscheinig inszenierte Verblüffungstheater. Großstadtarchitektur ist so in den Sklavendienst der Zweckmäßigkeit getreten, in die Ketten eng verstandener Funktionalität, Wirklichkeit, Wahrheit, daß jeder Schnörkel […] wohltuend wirkt, jede Prahlerei erbauend, jede Lüge gesund.«1 In Tiflis bricht eine Narration des Inauthentischen nicht nur bei zu dichterischen Empfindungen geneigten Besuchern am romantischen Sentiment, der Euphorie für die Schönheit Georgiens. Für die Kunst- und Geschichtsträchtigkeit dieses »strahlenden Land[es], blühend und leuchtend, mit einer uralten Kultur, […] mit all den wunderbaren Klischees, die die Wirklichkeit für unsere Sehnsucht bereithält.«2 Und für die Erhabenheit der Natur des Kaukasus, des »herandrängenden Grüns« des »warmen
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Droste, Wilhelm: »Budapest«, in: ders./Susanne Scherrer/Kristin Schwamm (Hg.), Budapest. Ein literarisches Porträt, Frankfurt a.M.: Insel 1998, S. 31 Eich, Clemens: Aufzeichnungen aus Georgien, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1999, S. 15
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und feuchten Lebensatem Georgiens«3 , die einen Mythologismus überschwappender Vitalität und Intensität kultiviert. Das Inauthentische in Tiflis Stadtarchitektur wird geradezu umspült von Echtheitsverheißungen kultureller Ursprünglichkeit und landschaftlicher Unberührtheit. In Baku überlagert sich eine Narration des Inauthentischen unter Umständen mit Reizen des Orientalischen. Und möglicherweise verleiten einen diese zu einer mehr oder weniger exotistischen Rezeptionsperspektive, in der das höhere, protzig-eklektische Lebensgefühl der Ölbarone, der wirtschaftlichen Blitzaufsteiger der Werdezeit Bakus, in seiner ästhetischen und psychologischen Verfasstheit weniger als untypischer Okzident, denn als typischer Orient erscheint. Eine Einschätzung, die sich auch über das Baku der Gegenwart stülpen ließe, über das dubaiske Prunkbedürfnis des autokratischen Präsidenten Ilham Aliyev und seiner gefügigen Günstlinge, dieser schampoonierten Artifizialität aus Spektakelarchitekturen und einer boutiquenglitzernd verschönten Historie. In Wiesbaden, das den Stadttypus des Kurbades repräsentiert, bei dem der Historismus eine meisterliche künstlerische Schöpfungshöhe der Inszenierung erreichte, ist die Architektur wiederum viel zu distinguiert und durch die spätbürgerliche Mittelklasseästhetik der Bundesrepublik Deutschland patronisiert, als das man einer Erzählung des Inauthentischen die Behauptung abnehmen würde, dass sie einen Taumel, eine Bestürzung in einem verursacht. Zwar lassen sich die artikulatorisch passionierten Prunkarchitekturen der Bäderstädte des 19. Jahrhunderts als Paradefälle für die appetitlichen Inauthentizitäten des Historismus beschreiben. Das kurstädtische Stadtflair, das Wiesbaden, Baden-Baden, Karlsbad oder Marienbad transportieren, lässt aber keine Stadtbeschreibungen zu, die glaubhaft weismachen können, dass ihre architektonischen Inauthentizitäten dämonisch schillern, brüskieren würden, ein dunkles Bewusstsein für das Gemachte und Hergestellte der Verhältnisse herbeiführen. Nicht, weil die Darreichungsformen der architektonischen Inauthentizitätseindrücke an sich geringfügig und harmlos wären, sondern weil die konventionellen Rezeptionsroutinen des Schönen, die das ästhetische Massenbewusstsein ausgebildet hat, diese weitestgehend überformen. In Atlantic City, der sich in einer jämmerlichen Lage befindenden Vergnügungsstadt, überlagert die Attraktionen des Inauthentischen und der ästhetischen Illegitimität, über die man sich nur leicht geniert äußern kann, einerseits die Stadthistorie als »America’s Favorite Playground«, der verblichene Glanz der Vergnügungspiers und Grand Hotels, und andererseits die Stadtgegenwart mit ihrer zweifelhaften Marktfähigkeit, eine Gewalt trister Eindrücke, der man sich nicht gewachsen glaubt. Man muss keinem ausgewiesen pessimistischem Amerikabild anhängen, um den in eine begräbnistraurige Niedergeschlagenheit verfallenen Boardwalk als Depressionszone zu erleben, die geschlossenen Großresorts wie Todesschönheiten, die eine peinigende Wirklichkeit widerspiegeln. In Doha, der neureichen Golfmetropole mit ihrem von Geltungs- und Profilierungssucht zerfressenen Überbietungskampf phrasenhafter Dubai-Spektakelarchitekturen, 3
Bitow, Andrej: Georgisches Album. Auf der Suche nach der Heimat, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 22
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mit all ihren zu Blattgold neigenden arabischen Geschmacksverirrungen, der Konturlosigkeit eines kopierten konsumhedonistischen Lebensvollzugs, wirft die kulturtheoretische Hyperrealitätsdialektik die Frage auf, inwiefern das Attribut des Inauthentischen überhaupt noch greift, wenn diese Stadt in ihrer deklarativen Sekundarität den Anspruch, authentisch zu sein, gar nicht mehr zu stellen scheint. Darüber hinaus erscheint eine architekturästhetische Diskussion ihrer ätherischen Simulakrenhaftigkeit natürlich als eine unsensible Frivolität, angesichts des Skandals der Zwangsarbeit hunderttausender migrantischer Arbeitskräfte aus der Dritten Welt, die das Scheichtum zur Realisierung ihrer architektonischen Fürstenlaunen schuften lässt. Auch die Betrachtung der vielgestaltigen Inauthentizitäten in der Architektur des Historismus vereinseitigt sich in der Auswahl der Städte Budapest, Tiflis, Baku und Wiesbaden. Auch wenn kein grundsätzlicher Einwand darin auszumachen ist, dass alle vier Städte ihre faszinierendste Entfaltungsphase im Späthistorismus der Jahrhundertwende erfuhren, denn die späthistoristisch geprägte ästhetische Traumgewalt des Fin de Siécle bestimmt unverhältnismäßig stark viele der glänzendsten historistischen Stadtbilder: Madrid, Buenos Aires, Bukarest, Riga, Brüssel und besonders das Sevilla der Exposición Iberoamericana 1929, das die architektonische Genialität von Aníbal González Álvarez-Ossorio und José Espiau y Muñoz zur Entfaltung brachte. Es liegt auch keine Vereinseitigung darin, das drei der Städte das Schicksal teilen, im 20. Jahrhundert Teil des sowjetkommunistischen Weltsystems geworden zu sein – was die Entmachtung der gesellschaftlichen Trägerschichten des Historismus, der Aristokratie und des Bürgertums, zugunsten einer »Neuen Klasse« der Parteidiktatur mit sich brachte, wie Milovan Djilas die von der Kollektivierung des Eigentums privilegierte neue Besitzerklasse von Partei- und Staatsfunktionären nannte, als er unterstrich, dass »[i]m Gegensatz zu früheren Revolutionen […] die kommunistische Revolution, die im Namen der Beseitigung aller Klassen gemacht worden ist, zur totalen Herrschaft einer neuen Klasse geführt [hat]. Alles andere ist Betrug und Täuschung.«4 Die gesellschaftlichen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, in denen die multikulturelle Stadtvielfalt dieser Städte schlussendlich zerbrach, in denen aus »multiethnischen, multikonfessionellen, polyglotten Stadtgebilden […] ethnisch, konfessionell, sprachlich homogene Gebilde« wurden, weil Tiflis und Baku ihre russische und armenische, Budapest seine deutsch-österreichische und jüdische Stadtbevölkerung verloren, haben aber natürlich gewaltige kulturelle Verluste mit sich gebracht. Ohne eine Romantisierung der extremen politischen und sozialen Ungerechtigkeiten der Monarchien zu betreiben, ist dennoch mit Karl Schlögel zu konstatieren, dass diese Metropolen – und dieses Schicksal teilen sie mit Odessa, Bukarest, Riga, Vilnius, Lodz, Lemberg, Czernowitz – »ihre soziale und kulturelle Komplexheit und Differenziertheit [verloren haben]. Insgesamt kann man von einer Nivellierung, Primitivisierung, Provinzialisierung der europäischen Städte sprechen.«5
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Djilas, Milovan: Die Neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München: Kindler 1963, S. 48 Schlögel, Karl: Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte, München: S. Fischer 2005, S. 180-181
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Eine Schwierigkeit, das Inauthentische als Faszinosum der Architekturen dieser Städte zu beschreiben, ergibt sich weniger aus dem Umstand, dass es sich bei allen dreien um »alte, traditionsreiche Städte« handelt, »die für Jahrzehnte aus dem europäischen Horizont herausgefallen sind«6 , als vielmehr in den Fällen der beiden KaukasusHauptstädte Tiflis und Baku aus ihrer »Weltabgeschiedenheit«. Denn wenn man den Historismus an den kulturell äußersten Rändern seiner Verbreitung aufsucht, um die hier aufgemachte Argumentationslinie zu illustrieren, dass die ästhetischen Qualitäten der Baukunst des 19. Jahrhunderts in ihrer Künstlichkeit und Inauthentizität liegen, scheint man eine wichtige künstlerische und außerkünstlerische Bestimmtheit des Historismus zu verpassen: die geschichtliche Rückbezüglichkeit seiner Stilimitationen. Zwar veranschaulicht die historistische Architektur natürlich auch in Tiflis und Baku, wie »sich Historismus dem Geschichtlichen gegenüber subjektiv-auswählend«7 verhält. Und natürlich ist sie ein Ausdruck einer Instabilität, eines umfassenden Kulturwandels. Sie markiert ein bewusstes oder unbewusstes geschichtliches Denken, dass »alle Bereiche kultureller Tätigkeit mit einer bis dahin ungekannten Intensität« durchdringt: »Die Überzeugung von der Historizität aller menschlichen Verhältnisse, die Erkenntnis, daß alle sozialen, kulturellen und künstlerischen Zustände, Institutionen, Anschauungen und Werte keine gleichbleibenden Konstanten bilden«8 . Da aber der Historismus als eine unvermittelte Importarchitektur in den Kaukasus kam, die sich repräsentationssemantisch hauptsächlich auf geographisch Entferntes und kulturell Fremdes bezieht, ist sie nur in einem geringen Maße durch Inauthentizitäten einer artifiziellen Rückbezüglichkeit zum künstlerischen und zivilisatorischen Raffinement der eigenen Stadtgeschichte bestimmt – zur Tifliser Altstadt im mittelalterlichen Nationalstil des christlich-orthodoxen Georgiens und zu Bakus islamischer Medina mit Khanspalast und Minaretten. Die Prachtfassaden beider Gründerzeitstädte entflammen ihre Inauthentizitäten als Träume und Halluzinationen eines Hausmannschen Paris, durch ein Nicht-hier-her-passen, weniger darin, »das unwiederbringlich Verlorene noch einmal nachzuvollziehen«9 . Die Inauthentizitäten des Historismus sind daher ungeachtet ihrer typologischen, stilistischen und materiellen Künstlichkeitswirkungen auch danach zu unterscheiden, ob sie in erster Linie zeit- oder ortsbezogene Referenzierungsinkonsistenzen kennzeichnen. In vielen Hauptstädten historistischer Architektur schlagen diese unterschiedlichen Artifizialitätswirkungen teilweise entlang einzelner Straßenzüge unterschiedlich aus. In den außereuropäischen Zentren des Historismus verlagert sich der Künstlichkeitseindruck allerdings fast ausschließlich auf die örtlichen, die Regeln der Konvention nicht beherrschenden Referenzierungsinkonsistenzen ferner Gegenden. Eine andere Irritation mag aus dem Umstand rühren, dass auf der Weltkarte Tiflis und Baku derartig nahe beieinander liegen. Denn dies suggeriert Ähnlichkeiten der diskutierten Architekturphänomene – auch gerade über den Historismus hinaus –, die
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Ebd., S. 17 Klingenburg: 1985, S. 25 Dolgner: 1993, S. 8 Flemming: 1970, S. 113
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es nur partiell stadthistorisch, nicht aber stadtästhetisch, -kulturell und -landschaftlich gibt. Zu unterschiedlich ist beider architektonischer Prachtentfaltung. Dies betrifft nicht allein die mittelalterlichen Altstädte. Es betrifft den Historismus, der in Tiflis viel stärker die Imperialgewalt des zaristischen Russland zum Ausdruck brachte als die auch materiell eigenständigeren, da aus aserbaidschanischen Sandstein gehauenen Prunkpaläste der neureichen Ölbarone Bakus. Tiflis ist seit über tausend Jahren die geschichtsträchtige, auratische Hauptstadt eines altertümlichen Kulturlands, Baku dagegen war bis ins ausklingende 19. Jahrhundert ein kleines, abseits liegendes Wüstenkhanat. Erst durch den Ölboom gewann »das Gerücht festen Boden, daß Baku nicht nur als Verbannungsort zu betrachten sei«10 . Erst das Baku des Fin de Siécle wurde eine Berühmtheit, eine liederliche Stadt in »barbarischem Luxus«, »gespeist durch raschen Reichtum, bemerkenswerte Philanthropie und alberne Geschmacklosigkeit«11 . Eine vulgäre Aufsteigerstadt, für die die Regel galt, »daß jemand, der auch nur ein Jahr unter den Ölmagnaten in Baku gelebt hatte, nie mehr zu einem zivilisierten Menschen werden konnte.«12 Die Unterschiedlichkeit betrifft weiters die Sowjetepoche. Während der stalinistische Klassizismus in Tiflis nur abstrahiert nationale Züge annahm und zum Ziel hatte, »die erste Wirkungsstätte Stalins zu einer italianisierenden klassizistischen Idealstadt umzubauen«13 , entwickelte er in Baku einen regionalen orientalistischen Eklektizismus. Und sie gilt für die aufblühenden Hauptstädte postsowjetischer Transformationsgesellschaften, die Tiflis und Baku nun sind.14 Architekturästhetisch einander durchaus ähnelnde Repräsentationsbauten mit Landmark-Assoziativwert sind mit unterschiedlichen identitätsstiftenden Funktionen und differierenden Selbst- und Fremdverortungen zwischen Orient und Okzident besetzt. Sie stützen unterschiedlich gelagerte Nationalideologien und Staatsgefüge – eine seit der »Rosenrevolution« zu mindestens teilweise verlebendigte Demokratie und verwestlichte Gesellschaft in Georgien, eine Präsidialautokratie in Aserbaidschan, in der der Staat die Mafia und die Mafia der Staat ist. Die ultimativen simulationsästhetischen Welthauptstädte heißen Las Vegas, Orlando und Dubai. Dazu macht sich Macao, die sich themenarchitektonisch versündigende chinesische Glücksspielstadt, daran, sich mit billigen Spekulationen auf Las VegasSimulakren einem Millionenpublikum anzuempfehlen und sich in die erste Reihe zu
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Bey, Essad: Flüssiges Gold. Kampf um die Macht, Berlin: Etthofen 1933, S. 176 Montefiore: 2007, S. 263 Kapuściński: 1993, S. 65 Wackwitz: 2016 Eines der geteilten Transformationsphänomene ist die ethnische Entmischung in den beiden einst so multikulturellen Städten, eine Homogenisierung der jeweiligen Wohnbevölkerungen. Jedoch spielen die Mehrheitsreligionen weiter keine übergeordnete Rolle. Weder die orthodoxe Frömmigkeit der Georgier noch der schiitische Islam der Aserbaidschaner, die man als »Kulturmuslime« bezeichnen kann, die »eingebettet […] in eine grösstenteils säkulare Alltagskultur« leben; Motika, Raoul: »Rückkehr zu sowjetischen Praktiken? Religion und Staat in Aserbaidschan«, in: Jurriaan Cooiman (Hg.), Culturescapes Aserbaidschan. Kultur, Geschichte und Politik zwischen Kaukasus und Kaspischem Meer, Basel: Christoph Merian 2009, S. 94
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katapultieren. Atlantic City und Doha sind demgegenüber zweite Reihe. Die abgehalfterte Casinostadt mit trüber Wirtschaftsaussicht und dem untrüglichen Gefühl, vom Glück gemieden zu sein, mit klar negativer Tendenz (– dass es für Atlantic City in den vergangenen Jahren nicht rund gelaufen ist, das wird man bei nüchterner Analyse sagen müssen). Doha, die neureiche prosperierende Golfmetropole mit deutlich positiver Tendenz. Die Inauthentizität der beiden Städte verdankt sich – über die rein architekturästhetische Faszination der Hyperrealität hinaus, die ihre künstlichen, von ihrer Umwelt abgeschnittenen Bauten auf einen ausüben – zu einem nicht unbeträchtlichen Teil der Sekundarität gegenüber den stadtästhetischen Bildqualitäten von Las Vegas und Dubai. Die Hyperrealität Atlantic Citys ist sekundaristisch im simulationsästhetischen Fiktionsversagen. Hatte sich das einstige Seebad mit der Glücksspiellegalisierung in eine unfertige Nichtstadt verwandelt, die sich irgendwo zwischen Abbruch und Aufbruch befand, eine Abfolge aus hässlichen Themenarchitektur-Spektakelbauten, bei denen sich einem der Magen umdreht, und unbedarft niedergerissenen Abbruchflächen, in eine Nichtstadt, die alles, nur keine Sentimentalität für die eigene Geschichte besaß, ist sie nun in der Überfülle und Schäbigkeit der Realität beinahe wieder da, wo sie bei ihrem ersten Niedergang war. Auch in der medialen Begleitung: »Atlantic City had earned a new sort of renown. The city had become a poster child for urban blight and decay. Journalists […] compared it to bombed-out Dresden and war-torn Beirut.«15 Auch Katars Hauptstadt Doha, dieses jubilatorische Simulakrum einer Weltstadt, ist eine einzige sekundaristische Unwirklichkeit. Die architektonischen Machtdemonstrationen ihres Attraktionsurbanismus, dem hier, in der einen umtanzenden arabischen Wüstenhitze, unter lebensfeindlichen klimatischen Bedingungen, fast zwangsläufig die Unwirklichkeit eines Trugbildes anhaftet, sind allesamt inauthentische Variationen der an sich bereits surreal inauthentischen Stadtästhetik ihres berühmteren Nachbaremirats Dubai. Doha ist ein mit allen Klischees angestrichenes zweiten Dubai. Sekundaristisch im krampfhaft extravaganten Auftrumpfen, im wilden Gerangel um architektonisch Niegesehenes, das zu einer unwirklichen, sinnfreien, aber lustigen Parade von Karikaturen ausartet, in Dubai wie in Doha. Katars strassglitzernder Reichtumskitsch, der einem die Scham ins Gesicht treibt, ist das jüngste Kapitel im gefährlichen Erwartungsspiel eines als »Dubaization« verschlagworteten Spektakelurbanismus über die Medien transportierter superlativischer Machbarkeitsfantasien, neuestes Menetekel der kollektiven Obsessionen einer globalisierten Moderne. Symptomatisch für eine Apotheose dieser Stadtarchitekturen als Schau verschiedenster Inauthentizitäten ist schließlich, dass diese, weil sie von einem Aficionado des Inauthentischen und Künstlichen rezipiert werden, beinahe zwangsläufig ihre Wahrnehmung auf diejenigen Inauthentizitätsphänomene richtet, die laut, brachial, aggressiv sind. Auf das Bauherren- und Künstlertum, das gewagte Kapriolen schlägt, auf die Affektiertheiten der Gewalthaber, bei denen die Fäden zusammenlaufen.16 An Tiflis‹
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Simon: 2004, S. 11 Dies trifft allerdings, wie Braunfels schrieb, generell auf die »großen Leistungen der Stadtbaukunst« zu, die »sich überall dort [ereigneten], wo aus freier Initiative oder unbewußten historischen Zwängen ein Bischof, eine Adelsgesellschaft, eine freie Bürgergemeinde, auch ein absolu-
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stadtästhetischen Inauthentizitäten interessieren zum Beispiel die Bizarrerien des hyperaktiven Präsidenten Saakaschwili, des Reformcholerikers von Georgiens Verwestlichung, der namhafte Westarchitekten für seine wahnwitzigen Ideen eines halbverdauten Vulgärfuturismus einzuspannen verstand, vielmehr als die Inauthentizitäten in der Banalität und Beliebigkeit der Investorenarchitektur oder im Beiläufigen und Geringfügigen des Vernakulären. Ein Architekturästhetik des Inauthentischen schlägt fast unabdinglich in Richtung des Spektakulären aus und spannt damit Architekten mit beachtlicher künstlerischer Begabung in diese Narration ein, die zwar mit ihren vielleicht manchmal drängenden und übermäßigen Bauwerken zu einer als inauthentisch und unwirklich empfundenen Stadtarchitektur beitragen, aber die man keinesfalls als inauthentisch im Sinne einer unzureichenden Gestaltungskraft beurteilen kann. Die brillantesten Baukünstler in Budapests Fin de Siécle um Ödön Lechner, Ignác Alpár, Frigyes Schulek oder Flóris Korb und Kálmán Giergl, die herausragenden Architekten im zaristischen Tiflis und Baku wie Paul Stern oder Viktor Schröter, wie Józef Plośko und Gavril Ter-Mikelov, die Baumeister, die hinter Wiesbadens Glanz als »Weltkurstadt« standen, wie Philipp Hoffmann und Felix Genzmer, oder William L. Price, der für die ikonischsten Bauwerke Atlantic Citys verantwortlich war, deren Eleganz leider nur mehr in den Sepiatönen historischer Fotografien durchscheint, repräsentieren natürlich nicht im geringsten auktoriale Inauthentizität.
tistischer Fürst, nicht zuletzt die Nation als Ganzes ihre Städte zu Spiegelbildern von Herrschaftsformen und Ordnungsidealen ausgestalten konnten.«; Braunfels: 1977, S. 8
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»Noch nie hat die Welt eine solche Lüge auf ihrem Rücken getragen« 1 In der ungarischen Hauptstadt Budapest fügt sich die Architekturgeschichte zu einer glücklichen Symbiose. Im Stadtbild der Donaumetropole verbindet sich ein sich in Verstiegenheiten überbietender, um nationalkulturelles Traditionsbewusstsein ringender Historismus, der die Pluralisierungskraft, den Möglichkeitsreichtum des Eklektizismus zelebriert, mit einen gewagten Jugendstil, der die Last des 19. Jahrhunderts abschüttelte, zugleich aber sich in seinem dynamischsten ungarischen Entwicklungszweig ebenfalls ausgiebig mit der Frage einer nationalen Architektur beschäftigte. Auch wenn die um den Rang der Hauptattraktion buhlende Donau, die im Stadtgebiet Budapests – ihrer zweitgrößten und zugleich flussabwärts letzten beidseitig liegenden Stadt – eine Breite von bis zu 400 Metern einnimmt, mit ihrer überwältigenden Präsenz natürlich einiges unternimmt, Budapests Architektur zu bagatellisieren. Die Donau, die hier an den Ausläufern des ungarischen Mittelgebirges, der bewaldete Hügellandschaft der Budaer Berge, in die große ungarische Tiefebene eintritt, teilt und verbindet die beiden erst 1873, in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, zu einer Stadt vereinigten Stadthälften Buda und Pest. Das hügelige Buda rechts der Donau mit seiner punktuell historistisch überprägten altweltlichen Stadt auf dem Burgberg, seiner mittelalterlichen und mittelalterlich gemachten Urbanität. Und das flache Pest links der Donau mit seinen imperialen Fin de Siécle-Prachtbauten, dem saturierten Prunk der Habsburgerzeit. Einem Triumph gründerzeitlich-bürgergesellschaftlicher Stadtideen, die dem in Entwicklung begriffenen Land grandiose architektonische Aufmerksamkeiten angedeihen ließen. Die Donau vermittelt zwischen den beiden Schwesterstädten, die mit Franz Fühmann »grundverschieden [sind] wie Tiefebene und Mittelgebirge«: »in ihr gespiegelt vereint sich das unvereinbar Scheinende […]. Der Strom vereint, und sein Strömen trennt das von ihm Vereinte; die Brücken klammern zusammen und schieben gleichzeitig die beiden Stadthälften wieder von-
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einander; die grandiosen Bögen der Hängebrücken leiten die Berge ins Flachland, und in den langgestreckten Rücken stößt die Ebene ins Gebirge vor«2 . Aber nicht nur der mächtige Flusslauf im Stadtbild, der bewirkt, »dass die repräsentative Hauptstraße Budapests nicht der Großring, auch nicht eine der Radialstraßen ist, sondern die Donau«3 , ist ein Unterscheidungszeichen in den von synchronen urbanen Wachstums- und ökonomischen Prosperitätsperioden angetriebenen stadtarchitektonischen Parallelentwicklungen der beiden habsburgischen Residenzstädte Wien und Budapest. Eine Eigendirigiertheit Budapests im späten Habsburgerreich liegt auch darin, die bis zum Siedepunkt erhitzten patriotischen Erwartungen der ungarischen Reichshälfte an Architektur auszurichten. Budapest wurde den Ungarn eine nationale Angelegenheit ersten Ranges, die von ihrem ungeahnten Aufschwung und Glanz selbst überraschte Stadt »der Spiegel der Nation, der Gradmesser ihrer Kulturfähigkeit und ihrer Arbeitskraft«4 . Dennoch überfällt einen in Budapest allerdings weniger eine architekturästhetische Adorationsstarre, als eine abgleitende Verwirrtheit. Die sich wie außer sich gebärdenden baulichen Individualitäten der Stadt verursachen mit ihrer pathetischen, imperial strukturierten Stadtarchitektur ein Auf- und Abtreiben der Gedanken. Die Wellenkreise eklektizistischer und secessionistischer Kunstverfeinerungen, die in Budapest auf einen einstürzen, erzeugen eine spezielle Sorte Eindrücke, die einem wertvoll bleiben, weil sie ästhetische Inauthentizitätserfahrungen in sich tragen, die einem nicht nur die Scheinhaftigkeit des Historismus, die bereits das Fin de Siécle mit Klarsichtigkeit betrachtete, gewahr werden lassen, sondern in »die neue, großstädtische Wahrnehmungsform« eintauchen: »die Kontingenzerfahrung, die Erfahrung der Unmöglichkeit der Wahrnehmung und der Darstellung der großstädtischen Umwelt im Großen und Ganzen.«5 Denn auch dem fliegenden Puls des ungarischen Selbstbehauptungstriebs gelang es nicht, die verstärkte Krisenerfahrung des empfindsamen Jahrhundertendes, die wachsenden Gefühlsdissonanzen hinter der Kulturmaske des hauptstädtischen Bürgertypus, niederzuhalten. Das Fin de Siécle, eine Zeit verlorener Illusionen, machte auch in Budapest – wenngleich zeitversetzt zu Paris und Wien – eine Kunst daraus, eine spannungsreiche Ära in ihren Paradoxien zu fassen. Die Übergangssituation nach der Jahr2 3
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Fühmann, Franz: »Buda + Pest = Budapest«, in: Mercedes Echerer (Hg.), Europa Erlesen. Budapest, Klagenfurt: Wieser 2001, S. 71 Vadas, Ferenc: »Die Regulierung der Donau und die Kaianlagen«, in: Peter Csendes/András Sipos (Hg.), Budapest und Wien. Technischer Fortschritt und Urbaner Aufschwung im 19. Jahrhundert, Wien: Deuticke 2003, S. 86 Balogh, Paul: »Die Entwicklung der Hauptstadt«, in: www.pesterlloyd.net; »Wir haben vor dem Ausland erst Bedeutung, seit man dort draußen die Bedeutung Budapests kennt und fühlt. Unsere Hauptstadt ist der Leuchtturm, dessen Lichtstrahlen über die Wellen der Völkermillionen hinweg weithin sichtbar sind und der Welt mitteilen, daß Ungarn existiert, wächst und gedeiht.«; Ebd. Tóth, Benedek: »Alte und neue Städte: Bauprojekte in Wien und Budapest im Feuilleton des 19. Jahrhunderts«, in: Endre Hárs/Károly Kókai/Magdolna Orosz (Hg.), Ringstraßen. Kulturwissenschaftliche Annäherungen an die Stadtarchitektur von Wien, Budapest und Szeged, Wien: Praesens 2017, S. 160; Tóth verweist auf die Entwicklung des Feuilletons als »narrative Strategie« der Kontingenzbewältigung: »Das Feuilleton fand mit der modernen Großstadt zu seinen eigentlichen Themen, und die Stadt wurde erst in dessen Spiegel sie selbst.«, ebd., S. 164
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hundertwende war auch in Budapest eine Phase intellektueller und künstlerischer Apokalypseanfälligkeit. Auch wenn die kulturelle Einzelentwicklung Budapests, wie John Lukács akzentuierte, einen anderen psychologischen Kristallisationspunkt ausbildete: »Das hat sehr viel mit dem ungarischen Temperament zu tun, in dem ein tief verwurzelter (nicht religiöser) Pessimismus von einem plötzlichen Lebenshunger durchbrochen wird, einer Lebensgier, die zwar stärker, aber nicht ganz so fein gewoben ist wie das, was der französische Ausdruck joie de vivre andeutet. Was daraus resultierte, war im Jahre 1900 sichtbar und spürbar. Wien mag neurotisch gewesen sein, Budapest war es nicht. […] Im Pessimismus der Ungarn schwang zwar die traurige Musik von der Vergeblichkeit menschlicher Anstrengungen mit, aber nichts von der germanischen Angst«6 . In den abblühenden Ästhetiken des Späthistorismus und den ästhetizistischen Halbträumen des Jugendstils findet sich das für die letzten Dekaden der habsburgischen Herrschaft prägende »Bild einer Großmacht […], die von Problemen raschen wirtschaftlichen Wandels und unruhiger nationaler Minderheiten bedrängt wird, einer Macht, deren überkommene konstitutionelle Struktur in wesentlichen Punkten unfähig war zur Anpassung an die neuen Erfordernisse einer sich verändernden historischen Situation.«7 Budapests Späthistorismus und Jugendstil spiegelten eine Gesellschaft wieder, in der der Verfall der aristokratischen und die Krise der bürgerlichen Kultur durchscheinen, in der aber zugleich »die Auszeichnungen und überhaupt das Zurschaustellen des Überflüssigen die allgemeine und charakteristische Haltung waren«. Ákos Moravánszky leitet dies aus einer Betrachtung über den backenbärtigen Kaiser Franz-Josef ab, wobei der Backenbart mehr war »als die höchste Demonstration der Überschuß-Ästhetik: Er war ein patriarchalisches Symbol, ein Ausdruck der liebevollen Geste, mit welcher der Vater des Reiches seine Völker zu sich erhob.«8 Dieses Überflüssige und Überschüssige wurde allerdings, in einer geschichtlichen Situation, in der der Liberalismus des gründerzeitlichen Bürgertums unter den Hass anzündenden Agitationskampagnen nationalistischer und antisemitischer Fanatismen zu wanken begann, sich die Abenddämmerung des Kaisertums längst abzeichnete, als Illusion, als etwas Schattenähnliches erfahren. »Das Wien und Budapest der Jahrhundertwende waren in hohem Grade doppelgesichtig, eine Welt des vollendeten Scheins«9 , wie auch Peter Hanáks kulturgeschichtlich rekapituliert: »Der zunehmende Nationalismus auf der einen Seite und der offizielle Staatspatriotismus auf der anderen festigten bei den Bewohnern Kakaniens das Erlebnis des Scheinhaften und Relativen, das immer mehr zu einem konstanten Bewußtseinsfaktor wurde.«10 6 7 8 9 10
Lukács, John: Budapest um 1900. Ungarn in Europa, Wien: Kremayr und Scheriau 1990, S. 44; »Das ungarische Gemüt neigte eher zur Psychose als zur Neurose.«; ebd., S. 44 Janik/Toulmin: 1987, S. 35-36 Moravánszky: 1988, S. 11 Hanák: 1992, S. 102 Ebd., S. 115; Hanák differenziert die intellektuellen Eigenheiten Wiens und Budapests in der Zeit von »Modernität und Sezession«: »Identitätskrise und Beklemmung führten die Wiener hin zum Verständnis der veränderten Bedingungen und existentiellen Gefahren des menschlichen Daseins, die Budapester aber zur Erkenntnis einer Schicksalsgemeinschaft von Ungarntum und Menschheit sowie deren beider Verfall.« (ebd., S. 12) Dieser Unterschied, der Lukács’ Unterscheidung einer Wiener Neurosen- und Budapester Psychosenanfälligkeit ähnelt, hat allerdings im
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Die Illusionismus des späten Habsburgerreichs, die fehlende Wahrheitsbereitschaft der Kultur, an der sich die wichtigsten Intellektuellen der untergehenden Monarchie wie Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Adolf Loos oder Endre Ady erbarmungslos abarbeiteten, zeigte sich speziell in der Heuchelei der Kunst. Der Historismus erschien den Kulturkritikern als in Pathos gekleidete Lüge, die den Schein wahren will, und genau darin die Krankheit der Zeit in sich trägt, die panische Innensicht eines Gesellschaftsgefüges verrät – am klarsichtigsten artikuliert in der aus einer tiefen Verpflichtung gegenüber den Idealen der Integrität und Authentizität entstandenen Kulturkritik von Karl Kraus, die an der Scheinhaftigkeit der habsburgischen Gesellschaft die Pathologie eines Jahrhunderts zu entschleiern versuchte. Der opulente, fessellose Eklektizismus der Belle Époque, die Prallheit der späthistoristischen Architektur Budapests, an der man sich blind schauen kann, erinnert an eine Einsicht Adornos: »Der Bürger wünscht die Kunst üppig und das Leben asketisch; umgekehrt wäre es besser. Verdinglichtes Bewußtsein ruft als Ersatz dessen, was es den Menschen an sinnlich Unmittelbarem vorenthält, in dessen Sphäre zurück, was dort seine Stätte nicht hat.«11 Darin aber, in ihrer sinnlichen Attraktion, wird dem Bürger die Kunst, so Adorno weiter, »zur Ware, die ihm gehört und die er ohne Unterlaß zu verlieren fürchtet. Das falsche Verhältnis zur Kunst ist der Angst ums Eigentum verschwistert. Der fetischistischen Vorstellung vom Kunstwerk als einem Besitz«12 . Dieser Entfremdungsmoment verunsicherte das Bürgertum in seiner zweiten und dritten Generation, mit umschatteten Augen betrachtete es seine Kultur als mehrheitlich korrupt, von der Politik über die Moral bis zum Lebensstil und der Architektur. Das Bürgertum beschlich Selbstzweifel betreffend der Verdorbenheit des eigenen Lebens, die sich nicht nur in den künstlerisch sublimierten Angstübungen des Jugendstils, die Traum und Wirklichkeit zu vertauschen versuchten, äußerte, sondern in einer pessimistischen, untergangsschwangeren Gemütslage, in überanstrengten Nerven, Überempfindlichkeit, und erst Recht in der Gesellschaftsplage des Suizids, der Unzahl biographischer Katastrophen. Und selbst die Optimisten der von Ödön Lechner losgetretenen Bewegung des Magyaros-Stils, die mit dem künstlerischen Sich-Entfesseln des Secessionismus in den Erlebnishorizont der kulturellen Moderne eintreten wollten, mussten ihre Vorstellungen einer lebendigen Zukunft, die grenzenlos sei im Geistigen und Schönen, mit dieser Wirklichkeit in Einklang bringen – mit diesem Gesellschaftsgefühl der Scheinhaftigkeit, des Illusionismus, und schufen sich ihre eigene »erfundene Tradition«. Wie die Wiener Architektengeneration um Otto Wagner und Adolf Loos, für die der als Lügenspiel begriffene »Ringstraßenstil« mit seinen historistischen Rückwärtsträumen eine Schablone für eine allgemeine Kritik bildete, zeigten sich auch die ungarischen Jahrhundertwendearchitekten, die sich mit der Secession an die Zukunft ranwagten, davon überzeugt, »daß es zu einer allgemeinen Annäherung der Formen im Sinne von Funktionalität und Rationalität kommen müsse«13 . Auch für sie war die frivole
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»Bewusstseinsfaktor« des Scheinhaften und Inauthentischen einen entscheidenden gemeinsamen Stressor. Adorno: 1970, S. 27 Ebd., S. 27 Prokop: 1994, S. 58
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und düstere Aura des Historismus nichts weiter als die inauthentische Verpanzerung eines starrsinnigen Kaiserreiches, dass keine Veränderung mehr erlaubte, »der Begriff ›Ringstraßenstil‹ [wurde] zum allgemeinen Schimpfnamen, mit dem eine Generation zweifelnder, kritischer und künstlerisch empfindsamer Söhne ihre Väter als selbstgewisse Emporkömmlinge verwarf.«14 Die pompösen Verlogenheiten sind als Zeichen des kommenden Verderbens zu sehen, als Antizipation auf die Jahrhunderterfahrung, die nun auf Budapest wartete. Denn mit dem Untergang des Kaiserreichs gerieten Budapest und ihr brüchiges bürgerliches Kulturfundament in Havarie. Die beiden Weltkriege, die Judenvernichtung, die Nazideutschland unter Assistenz ungarischer Faschisten betrieb, und der gescheiterte Volksaufstand 1956 gegen den nicht aus eigener Kraft an die Macht gelangten Stalinismus, schlugen tiefe Wunden in die Stadt. Gleichermaßen litt die Stadt aber unter der sich in den unterschiedlichen Diktaturen – den faschistischen bis 1945, den kommunistischen bis 1989 – verlangsamenden Zeit zwischen diesen dramatischen Geschichtsaugenblicken, in denen sich Massenwahn, Katastrophen und Barbarei entfalteten. Das 20. Jahrhundert hinterließ in Budapest eine Kumulation beschädigter Lebensläufe, von Biografien, die sich verlieren. Durch das nationale Gedächtnis ziehen sich Aggression, Hysterie, Autoritätsgebundenheit und Selbstüberschätzung, aber auch Trauma und Melancholie. Wenngleich mit György Sebestyén zu notieren ist, dass »[d]ie Behauptung, die Budapester seien in ihre nationalen Tragödien verliebt, […] eine Lüge [ist]. Dennoch kann eine Regung, die alle paar Jahrzehnte die Seelen fast mit der Heftigkeit einer Epidemie erfaßt, nicht geleugnet werden: Es ist die Sehnsucht, ohne Rücksicht auf Verluste Politik als ernstes Spiel zu betreiben und dabei die Schönheit des Kampfes und der inneren Bewegtheit zu genießen. Diese Sehnsucht – oder Sucht – ist wohl die Kehrseite unserer Neigung zum mißtrauischen Zweifeln und vergnüglichen Zynismus. Beides zusammen beschreibt das eigentliche Wesen dieser Stadt: die ständige Bereitschaft, lieber durch Einfälle zu glänzen als durch kontinuierliche Arbeit, manchmal eher durch List und Tücke etwas noch nie Dagewesenes zu erreichen als durch Ausdauer.«15 Diese in den Enttäuschungstiefen des 20. Jahrhunderts erhärteten schwarzgalligen Mentalitätsmuster flackern auch durch das Budapest der Gegenwart. Zwar agiert dieses seit der gesellschaftlichen Umbruchsituation nach 1989, mit der Ungarn ins marktwirtschaftliche System reintegriert und als kapitalistisches Wirtschaftsterritorium rekultiviert wurde, das architektonisch manifeste Weltstadtflair zumindest in einer Simulation wieder symptomatisch aus – als eine kommerzielle Touristenmetropole mit viel einfließendem Geld. Einer touristifizierten Show zum Herzeigen, die sich zudem immer weniger im Souvenirschrott des Folkloristischem entrollt, in den Ungarnklischees aus »Csárdás-Schmalz, Zigeunerfidel-Wehmut, zuckrige[r] OperettenSeligkeit«16 , sondern sich als gegenwartszugewandte, verhipsterte Trendstadt mit
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Schorske: 1982, S. 50 Sebestyén, György: »Budapest«, in: Mercedes Echerer (Hg.), Europa Erlesen. Budapest, Klagenfurt: Wieser 2001, S. 20 Anonym, »Süchtig nach Schönheit«, in: Die Zeit, 46/1986
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Night-Life-Internationalität zeigt, mit den westlichen hedonistischen Lebensstilen einer offenen Gesellschaft. Dieser Hipster-Budapest-Vibration für das Treiben eines internationalen Party-Publikums steht allerdings das dumpfe Mahlen eines antagonistischen Illiberalismus faschistoider Staatsgefährder, das Heraufziehen autoritärer und nationalistischer Bewegungen gegenüber. Ein Budapest, das sich, gepackt von einer Wirtschaftskrise und der gesellschaftlichen Randangst breiter Schichten, mit zwielichtigen, gemeingefährlichen Gestalten umgibt, die Ungarns Demokratie langsam abräumen. Die 2010er Jahre stehen im Zeichen einer von unheilvollem Pessimismus beherrschten regressiven Sehnsucht, die sich mit der rechtspopulistischen Politik von Ministerpräsident Viktor Orbán dem Westen entfremdet, den gegen Fremdes verschlossenen, schwermütigen Zug des kollektiven Bewusstseins verschlimmert. Seine »illiberale Demokratie« erschafft mit ihrer chauvinistischen Stupidität, ihrer unseriösen, ekeligen Hysterisierung der gesellschaftlichen Debatten, mit ihrem rechtspopulistischen Schließen von Grenzen und Ideen, abermals eine Kultur der Scheinhaftigkeit und Inauthentizität, zusammenmanipuliert wie Ungarn begradigte Medienlandschaft. Aber natürlich ist die Artikulation von Inauthentizitätserfahrungen eine unzulänglich eindimensionale Wahrnehmungsklammer für eine Stadt wie Budapest, und erst recht für die freiheitsfeindlichen, undemokratischen Einhegungsbewegungen des Rechtspopulismus Orbáns und seiner feinen Freunde. Auch, weil dieser einen zynischen, von plumper Hand geführten Autoritarismus praktiziert, einen starrsinnigen, schreihalsigen Nationalismus, keinen mit einem starken Gefühl des Enthusiasmus und der Irrealität behafteten. Eine Beschreibung der architektonischen Inauthentizitätseindrücke im Budapester Historismus, die der Stadt ja eigentlich als Glück zugefallen sind, kann allenfalls den Gedanken stabilisieren, dass der mentalitätsgestaltende Nationalismus der Gegenwart nicht weniger »gemacht« ist als der in Budapests Stadtarchitektur manifestierte des 19. Jahrhunderts, damit dieses Befinden beschädigen, denn wie Jacob Burckhardt feststellte liegt »[d]as deutliche Kennzeichen der Herrschaft über die Kultur […] in dem einseitigen Richten und Stillstellen derselben.«17 Und vielleicht tun auch die kulturlandschaftlichen Eindrücke der pannonischen Weiten, die Budapest umgeben, etwas dazu, diese Inauthentizitätswirkungen zu verstärken. Denn die kunstreiche, vitale Millionenstadt, ist umgürtet von einer »Landschaft, der unser Unterbewusstes immer noch ansieht und abspürt, dass in ihr die große Steppe beginnt«18 . Und eines hat die Verwestlichung Mittel- und Osteuropas, die nirgends so greift wie in den touristifizierten Metropolen, nicht eingeebnet: die landschaftsinspirierte Empfindung einer kontinentweiten eurasischen Ebene. Reisende, die eine Billigfluglinie unvermittelt in Ungarns Hauptstadt abgesetzt hat, haben zwar vielleicht einen Gewinn darin, dass sich Budapest ihnen im »Bewußtsein wie ein[] Virus unter dem Mikroskop isoliert« darstellt, wie Joseph Brodsky die Vorteile des Reisens per Luftweg bezeichnete (um anzufügen, dass, »[w]enn man das ansteckende Wesen jeglicher Kultur in Betracht zieht, […] der Vergleich nicht unverantwortlich«19
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Burckhardt: 2009, S. 105 Wackwitz: 2008, S. 22 Brodsky: 1991, S. 342
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scheint). Sie verpassen dafür allerdings die von Stephan Wackwitz als Verlorengehen der »vertraute[n] Hintergrundstrahlung der Welt«20 beschriebene Wahrnehmungsverschiebung, der man beim Durchfahren der pannonischen Landschaften ausgesetzt ist. Vom Westen kommend setzt sie noch vor der österreichisch-ungarischen Grenze ein, bereits die Felder des Burgenlandes vermitteln auf sanfte Art, dass etwas nicht stimmt: »plötzlich verschwindet ein Gefühl des Bewohnt- und Durchgearbeitetseins aus der Landschaft, von dem man nicht gewusst hat, dass es einem überhaupt abhanden kommen könnte«21 . »Budapest hatte auch in den dunkelsten Zeiten den Ehrgeiz, mit den Spannbreiten des Lebens zu spielen […], aus den abgelegensten Ecken der Welt ergatterte sie sich Bruchstücke und brachte sie in ihrem Panorama unter« 22 Nachdem Tiberius, Feldherr von Augustus und späterer Kaiser, zwischen 12 und 9 v. u. Z. das keltisch besiedelte Pannonien als römische Provinz erobern konnte, wurde im nachmaligen Stadtgebiet Budapests ein Militärlager zur Grenzverteidigung des Donaulimes, der römischen Reichsgrenze zu den transdanubischen germanischen Barbarenstämmen, errichtet. Neben diesem Legionärslager entstand im 1. Jahrhundert eine Zivilstadt, Aquincum, die bis ins Jahr 296 als Hauptstadt der Römerprovinz Pannonia inferior fungierte und über einen Statthalterpalast, Amphitheater, Tempel und Bäder, die mit den an den Berghängen Budas sprudelnden Thermalquellen gespeist wurden, verfügte. Ab der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts litten Aquincum und das auf dem Pester Ufer vorgelagerte Grenzkastell Contra Aquincum an diesem mit unruhigsten Limesabschnitt allerdings unter Einfällen von Germanenstämmen wie den Markomannen, bis im Jahr 430 das Römische Reich gezwungen war, Pannonien gänzlich aufzugeben und den eindringenden Hunnen zu überlassen. Nach der Völkerwanderungszeit besiedelten Hunnen, Goten, Langobarden und Awaren das pannonische Becken, bis schließlich zwischen 895 und 972 die aus den vorderasiatischen Steppen des heutigen Südrussland stammenden Magyaren, ein nicht sesshaftes Reitervolk, über die Karpatengebirgskette eindrangen. Nach der schicksalsbestimmenden »Landnahme« unter Großfürst Árpád, der die bis ins 13. Jahrhundert dauernde Herrschaft der Árpáden-Dynastie begründete, fielen die Magyaren im 9. und 10. Jahrhundert mit ihrem Reiterheer zu den gefürchteten »Ungarnstürmen« aus, zu Plünderzügen, die sie nach Deutschland, Oberitalien, Frankreich, Nordspanien und Bulgarien führten. Erst die Niederlage gegen die Ostfranken in der Schlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg 955 beendete das Brandschatzen dieser »innerasiatischen Gottesgeißeln«, »die aus unerfindlichen Gründen und in unberechenbaren Abständen aus dem Innern des Kontinents hervorbrachen: heulend, gellend, zähneknirschend, niederbrennend, folternd und mordend.«23 Die Magyaren wurden sesshaft, die Fürstensitze der Árpáden lagen in Esztergom und Székesfehérvár, auch als sich im Jahr 1001 Stephan I. zum König des von ihm gegründeten Königreichs Ungarn krönen
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Wackwitz: 2008, S. 9 Ebd., S. 10 Droste: 1998, S. 18 Wackwitz: 2008, S. 20
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ließ. Unter ihm, dem späteren Nationalheiligen, wurden die heidnischen Ungarn zum Christentum bekehrt. 1361 wurde Buda zur Hauptstadt des ungarischen Königsreichs ernannt, nachdem König Béla IV. in den Jahren nach dem Mongolensturm Befestigungsanlagen auf dem Burgberg errichten hatte lassen. Der existenzbedrohende große Eroberungszug des mongolischen Reiterheers nach Westen, der das Land 1241 heimgesucht und mit der Niederlage der ungarische Armee in der Schlacht bei Muhi zur Ermordung der Hälfte der zwei Millionen Magyaren geführt hatte, machte dem geflohenen König deutlich, dass sich sein Königreich nur mit Burgen vor Angreifern schützen ließ. »Allzuwichtig waren [aber auch] die hier gelegenen Donauübergänge und allzu verlockend die Aussicht, von ihnen einen regelmäßigen Strom aus Stapel-, Furt- und Brückenzöllen abzuzweigen.«24 König Béla IV., der selbst noch in Székesfehérvár residierte, hatte zwei Klostergründungen, einen Dominikaner- und einen Franziskanerkonvent, angestiftet, deutsche Händler und eine jüdische Gemeinde siedelten an: »Budas Handel mit Wien, Regensburg, Prag und Belgrad sorgte für schnellen Reichtum bei den ›Gewölb- und Kramherren‹, den Patriziern der Stadt.«25 Eine Blüte erlebte die Königsresidenz Ende des 15. Jahrhunderts unter Matthias Corvinius aus der Adelsfamilie der Hunyadi, der das Ungarische Reich auf Wien und die Adriaküste erweiterte, und in seiner Hauptstadt Bautätigkeiten im Renaissancestil ausführen ließ, italienische Künstler und Humanisten an den Königshof holte: »Da sich die Renaissance – nur wenig früher – in den sechziger und siebziger Jahren in Italien verbreitete, war Matthias der erste, der die neue Kunst außerhalb ihres Ursprungslandes verwirklichte. […] Der Budaer Palast entstand unter dem Einfluß der zweiten, prächtigeren, schmuckvollen Variante des Quattrocento.«26 An Ungarns Südostengrenzen zeichnete sich ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts allerdings bereits die Türkengefahr ab. 1526 fügte Sultan Süleyman I. den Ungarn in der Schlacht bei Mohács eine vernichtende Niederlage zu, bei der auch König Ludwig II. auf der Flucht starb. Noch im selben Jahr fiel Pest an die Osmanen, 1541 Buda. Die Stadt wurde für 145 Jahre zum Sitz eines türkischen Paschas.27 Das Stadtbild nahm eine islamische Gestalt mit Minaretten und Badehäusern an.28 Der ungarische Königshof
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von Müller, Achatz: »Der Berg der Könige«, in: Merian, 6/1988; »So ließ er die Bevölkerung von Pest und Buda auf den Burgberg umsiedeln sowie den Königspalast und die von Stadtmauern umgebene neue Stadt errichten. Diese hieß nun Buda, die alte Stadt und das Gebiet um die römische Siedlung trugen fortan den Namen Óbuda.«; Albrecht, Ute: »Stadtentwicklung in Budapest«, in: Arne Hübner, Johannes Schuler (Hg.), Architekturführer Budapest, Berlin: Dom 2012, S. 41 von Müller: 1988 Dercsényi, Károly: Kunstdenkmäler in Budapest, Budapest: Corvina 1991, S. 25; »Sein Palast mit inkrustierten Gewölben, geschnitzten Kassettendecken, freskierten Wänden, goldgedeckten Kuppeln, Gärten und Höfen, die mit Statuen und Brunnen geschmückt waren, galt als ein Juwel an Pracht und Aufwendigkeit«; von Müller: 1988 »Mit der moslemischen Eroberung im 16. Jahrhundert begann die Entvölkerung und Versteppung Mittelungarns. Der besiegte ungarische Königshof floh in die spätere Slowakei […]. Die fruchtbare Ebene im Süden verfiel und versandete.«; Wackwitz: 2008, S. 157-158 »Die zunehmende Zahl von Moscheen schuf ein eigenartiges, orientalisch geprägtes Stadtbild. Seine Besonderheit bestand darin, daß neben den schlanken Minaretten auch weiterhin die mas-
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musste sich nach Preßburg zurückziehen, die verbliebenen Aristokraten boten Österreich, um es als Verbündeten zu gewinnen, die Krone an: »Die Adligen dachten und hofften, Kaiser Ferdinand […] werde die Türken vertreiben. Er tat es nicht. Er nahm die Königswürde an und half bei der Verteidigung Westungarns – um die Türken von Wien fernzuhalten. Das war alles.«29 Erst mit der österreichischen Gegenoffensive in Folge der Zweiten Türkenbelagerung Wiens konnte Buda von der durch den Papst arrangierten Allianz der Heiligen Liga zurückerobert werden. 1684 war eine Belagerung nach der Einnahme Pests und der Budaer Unterstadt noch durch ein osmanisches Entsatzheer zurückgeschlagen worden, zwei Jahre später, 1686, fiel dann die Budaer Festung, die daraufhin den Plünderungen durch die Belagerungsarmee preisgegeben wurde. Ab nun regierte die Habsburgerdynastie, die sich Ungarn als Erbland einverleibten. Buda und Pest galten ab 1703 als Freie Königliche Städte, ehe 1791 der Sitz des Palatinats nach Buda verlegt wurde.30 In der »Reformzeit« in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der unter Istvan Graf Széchenyi der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit des Landes mit der Einführung moderner Industrie und einer gradualistischen Einschränkung der Adelsprivilegien, die auf der Unveräußerlichkeit des Grundbesitzes und Leibeigenschaft beruhten, begegnet wurde, und in die auch das patriotische »Erwachen« der ungarischen Nation fiel, erfolgte eine gezielte Stadtentwicklung von Buda und Pest. Kaianlagen, Flussregulierungen und der Bau der 1849 fertiggestellten Kettenbrücke als erster permanenten Brücke über die Donauschufen Grundlagen für das weitere Städtewachstum.31 In den 1840ern erreichte Pest 100.000 Einwohner. Das erstarkende ungarische Nationalgefühl ließ Rufe nach Autonomie von der absolutistischen Zentralmacht Wiens allerdings immer lauter werden, bis schließlich im Revolutionsjahr 1848 der Freiheitskampf zu einem Unabhängigkeitskrieg eskalierte, bei dem es der Revolutionsarmee, den Honvéd-Regimentern, unter Lajos Kossuth, der nach einer Unabhängigkeitserklärung zum Reichsverweser des Landes gewählt worden war, fast ein Jahr lang gelang, den Habsburgern die Stirn zu bieten. Erst 1849 konnte mit
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siven Baukörper und die gotischen Türme der mittelalterlichen Kirchen zu sehen waren«; Dercsényi: 1991, S. 27 Lukács: 1990, S. 148 »Pest und Buda begannen erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, unter Maria Theresia, sich zu erholen. Aber selbst zu dieser Zeit waren sie noch provinzielle Kleinstädte, und zwar nicht bloß im Vergleich zur prächtigen Barock-Kaiserstadt [Wien], sondern auch zum stolzen Preßburg der ungarischen Landtage oder gar zum Debrecen der nationalen Traditionen und der Großmärkte.«; Hanák: 1992, S. 19 »Seit 1767 war Buda mit Pest durch eine Pontonbrücke verbunden, die jedoch alljährlich im Dezember abgebaut und erst zum Ende des Winters, nach dem Eisgang, neu aufgebaut wurde.« (Dercsényi: 1991, S. 37) Hochwasserkatastrophen, verursacht durch Eisstöße, hatten Pest immer wieder zugesetzt, besonders die Zerstörungen durch die großen Überschwemmung 1838 führten zu Regulierungen und Eindeichungen: »Die primäre Funktion der Kaianlagen war natürlich der Hochwasserschutz, sie ist es noch heute. Ihre sekundäre, wirtschaftliche Aufgabe war die Schaffung on Anlege- und Verladeplätzen, deren Wichtigkeit heute gesunken ist. Ihre – am Anfang unbedeutende – Rolle bei der Abwicklung des Verkehrs in nordsüdlicher Richtung ist aber enorm gewachsen. Sie haben auch eine weitere Bedeutung von ästhetischer Art: Ihr Beitrag zum Stadtbild«; Vadas: 2003, S. 86
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dem Beistand der russischen Armee, die der österreichische Kaiser Franz Joseph um militärische Unterstützung ersucht hatte, die Unabhängigkeitsbestrebungen niedergeschlagen und Ungarn wieder unter österreichische Oberhoheit gestellt werden.32 Der ungarische Freiheitswille war damit allerdings nicht erstickt, der Widerstand der führenden magyarischen Schichten gegen den absolutistischen Einheitsstaat zwang Österreich, das durch seine militärische Niederlagen gegen Italien 1859 und Preußen 1866 angeschlagen war, zur Nachgiebigkeit. 1867 musste der Kaiser mit dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich weitreichende Zugeständnisse machen, indem er Ungarn zum gleichberechtigten Teilstaat innerhalb einer Realunion, der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie, aufwertete. Für Buda und Pest entstanden dadurch Wachstumsimpulse als Verwaltungssitz, Handelsplatz, Industriestandort und Bankenzentrum. Ihre Hauptstadtfunktion wurde dann 1873 in einem Beschluss zur Vereinigung der beiden Schwesternstädte sowie der Großgemeinde Óbuda unter dem Namen Budapest gebündelt. An der gründerzeitlichen Urbanisierung »ist die Geschwindigkeit, ein gedrängter Nachholkomplex, auffallend, ein fieberhaftes Wachstum, das zahlreiche rein äußerliche Momente besaß«33 . Budapest stieg nach Berlin zu der zweitschnellsten wachsenden Stadt des 19. Jahrhunderts auf, wenngleich die Entwicklung sehr ungleich erfolgte. Denn während sich das aristokratisch geprägte, deutsche Buda nur wenig erweiterte, entstand im bürgerlichen, magyarischen beziehungsweise magyarisierten Pest eine planmäßig angelegte Millionenstadt: »Während Buda konservativ und überwiegend deutschsprachig blieb – eine Erbschaft der österreichischen Herrschaft und des Zuzugs von Deutschen, die nach verschiedenen Invasionen zur Neubesiedlung ins Land gerufen worden waren –, war Pest liberal und nationalistisch ausgerichtet.«34 Durch die repräsentativen Uferbauten wuchs die Stadt allerdings zusammen, nachdem Buda und Pest »architektonisch auch nach dem Bau der ersten stabilen Brücke solange Nachbarstädte« bleiben mussten, bis die Kaibebauungen »als die Seitenwände eines einzigen Wasserweges erscheinen und deren schönster Blickpunkt immer vom anderen Ufer aus zu finden ist«35 . 32
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Auch Pest und Buda wurden zum Kriegsschauplatz. Nachdem die kaiserliche Armee zunächst die beiden Städte kampflos eingenommen hatte, belagerte die Revolutionsarmee nach der Eroberung Pests erfolgreich die Burg Buda, wobei die Verteidiger mit ihrer Artillerie die Palaiszeile am Pester Donauufer zerschossen. Die Befreiung währte allerdings gerade zwei Monate, dann überrannten kaiserliche und zaristische Truppen die Stadt. Als Schlusspunkt des Krieges wurde in Pest Lajos Batthyány, der erste ungarische Ministerpräsident, hingerichtet, in Arad dreizehn ungarische Generäle der Revolutionsarmee. Hanák: 1992, S. 34; Mit der Hauptstadtfunktion entstand über den Hauptstädtischen Rat für öffentliche Arbeiten auch eine staatliche Lenkung der Stadtentwicklung: »Die Investitionen von landesweiter Bedeutung (Flussregulierung, Brücken- und Bahnbau, die Bauarbeiten von Landeseinrichtungen) wurden von der Regierung […] durchgeführt, die Stadtgestaltung blieb aber eine örtliche Aufgabe. Da das Funktionieren des gesamten ›Hauptstadtbetriebs‹ in großem Maße von deren erfolgreicher Lösung abhing, wollte die Regierung auch darauf Einfluss haben. Das Mittel dafür wurde eine besondere Organisation: der Hauptstädtische Rat für öffentliche Arbeiten«; Vadas, Ferenc: »Stadtplanung in Budapest im 19. Jahrhundert«, in: Peter Csendes/András Sipos (Hg.), Budapest und Wien. Technischer Fortschritt und Urbaner Aufschwung im 19. Jahrhundert, Wien: Deuticke 2003, S. 23-24 Heathcote : 1997, 9 Vadas : 2003, S. 86
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Pest erhielt eine radial gegliederte Straßenstruktur mit großen Bahnhöfen und den zwei repräsentativen Stadtaterien Andrássy út, und Großer Ring: »Budapest strebte danach, die Entwicklungen der Reichshauptstadt Wien aufzuholen. Was in der Kaiserstadt schon existierte, musste auch in der Königsstadt aufgebaut werden. Der Traum von Budapest war es, nicht nur eine zweite, sondern die parallele Hauptstadt zu sein.«36 – Was allerdings nicht gelang, denn es blieb »unstrittig […], dass die ›zweite Hauptstadt‹ der Monarchie tatsächlich die zweite blieb, sowohl hinsichtlich ihres politischen Gewichts als auch hinsichtlich ihrer Urbanisierungsentwicklung«37 . Denn zum einen fehlte in Budapest ein direkt investierendes Herrscherhaus als Bauherr, zum anderen verfügte die Stadt anders als Wien über keine Stadtbefestigung, die sich als Bauland hätte erschließen lassen.38 Die wirtschaftliche Dynamik der Stadt kulminierte in der für die nationale Mentalitätsgeschichte gewichtigen Millenniumsausstellung, die 1896 zur Tausend-Jahr-Feier der »Landnahme« ausgetragen wurde. Die Landesausstellung, auf die man in der Hauptstadt jahrelang hingebaut hatte, feierte »damals nicht nur die Geburt einer Nation, sondern ihre symbolische Wiedergeburt. […] Die weitreichende politische Autonomie, die Ungarn innerhalb des Reiches seit einigen Jahren genoß, ermöglichte die Entwicklung Budapests zu einer kosmopolitischen Weltstadt, wie die Stadt es seit der Renaissance nicht mehr gewesen war«39 . Die nationalpatriotische Erhitzung zur Millenniumsausstellung signalisierte, dass dem Unabhängigkeitswillen mit der Realunion nicht genüge getan war, brachte die schwindenden Bindungskräfte der Habsburgermonarchie zum Ausdruck: Denn »[d]ie Dynamik der Errichtung des ungarischen Nationalstaates gelangte zur Jahrhundertwende in eine kritische Phase ihrer Entwicklung, als der Begriff der ethnischen Nation den auf der historischen Tradition des Staates basierenden Begriff von Nation abzulösen begann. Deshalb geriet der Liberalismus gegenüber dem aggressiver werdenden Nationalismus immer mehr in die Defensive«40 . 36
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Tamáska, Máté : Donaumetropolen. Wien – Budapest. Stadträume der Gründerzeit, Salzburg: Müry Salzmann 2015, S. 10; Aber auch für das bürgerliche Pest gilt: »Die moderne bürgerliche Gesellschaft hatte ihren Ursprung in erster Linie im Bürgertum deutscher und jüdischer Abstammung. Die Hälfte der zahlenmäßig geringen Arbeiterschaft war auch fremder – nämlich deutscher – Abstammung. Die schnelle Entwicklung Budapests sowie sicherere Arbeits- und Lebensbedingungen zogen riesige Menschenmassen aus der Provinz in die Hauptstadt.«; Lehne, Andreas/Pintér, Tamás: Jugendstil in Wien und Budapest, Wien: J&V Edition 1990, S. 22 Ekler, Dezső/Tamáska, Máté: »Ringstraßen im Vergleich. Varianten auf eine städtebauliche Idee in Wien, Budapest und Szeged«, in: Endre Hárs/Károly Kókai/Magdolna Orosz (Hg.), Ringstraßen. Kulturwissenschaftliche Annäherungen an die Stadtarchitektur von Wien, Budapest und Szeged, Wien: Praesens 2017, S. 25 »Es bedeutete einen Nachteil, dass Budapest […] kein Herrschersitz war. Vieles, was in Wien vom Herrscher und der Dynastie verwirklicht wurde, musste hier von der Regierung und der Stadt selbst hervorgebracht werden. Der andere Nachteil war, dass um der ungarischen Hauptstadt die Festungslinie fehlte, deren Abbruch sowie die Verbauungsmöglichkeiten eines Glacis in vielen Fällen enorme freie Gebiete der Stadtgestaltung zur Verfügung stellte. In Budapest waren zu jeder Gestaltung teure Enteignungen nötig«; Vadas: 2003, S. 25 Heathcote: 1997, S. 6 Gyáni, Gábor: »Modernität, Modernismus und Identitätskrise: Budapest des Fin de siècle«, in: Károly Csűri/Zoltán Fónagy/Volker Münz (Hg.), Kulturtransfer und kulturelle Identität. Budapest
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Das Überschlagende des intensiven Nationalgefühls hatte einerseits die Magyarisierung Budapests bewirkt, denn innerhalb der zweiten Jahrhunderthälfte hatte sich die mehrheitlich deutschsprachige Stadt in eine ungarische gewandelt, und insbesondere die Assimilierung der jüdischen Minderheit, die bis zur Jahrhundertwende durch starken Zuzug auf zwanzig Prozent der Stadtbevölkerung angewachsen war, hatte sich in einer wirtschaftlichen und intellektuellen Blüte niedergeschlagen: »Die Einwohner der rückständigen ungepflegten Stadt um 1800 waren aus Magyaren, Deutschen, Schwaben, Griechen und Serben zusammengesetzt. Nun sprachen und sangen, aßen und tranken, dachten und träumten alle, einschließlich der zahlreichen Juden, ungarisch.«41 Andererseits radikalisierte sich im Magyarisierungstaumel ein engstirniger Nationalismus, den speziell der in der Regierungsbürokratie verankerte, mit einem ausgeprägten Rangbewusstsein ausgestattete Landadel entfachte, die Gentry, die »sich selbst – mit einigem Recht – als die wahrhaft nationale und historische Gesellschaftsklasse [ansah], als die Bannerträger der ungarischen Unabhängigkeit«42 . Antisemitismus breitete sich aus, der sich gegen den Einfluss des assimilierten jüdischen Stadtbürgertums richtete: »Der fatale Mißton, die Abspaltung der städtischen von der volkstümlichen, der kommerziellen von der agrarischen, der kosmopolitischen von der nationalen, der ungarisch-nichtjüdischen von ungarisch-jüdischer Kultur und Zivilisation zeichnete sich in Budapest bereits um 1900 in Grundzügen ab.«43 Auch, weil Budapest durch die einseitige Urbanisierung dem Land enteilt war, wie Péter Nádas bilanziert: »Die infrastrukturelle Entwicklung Budapests lag zur Jahrhundertwende auf dem Niveau Berlins; aus Budapest war eine menschenfressende Weltstadt geworden. Entwicklungstakt und Machtpotenzial der Hauptstadt verbesserten jedoch nicht die Urbanisierungschancen der zurückgebliebenen ungarischen Provinzstädte. An der zerstörerischen Bürde dieser ungleichen Entwicklung, der Missgunst, […] tragen wir bis heute.«44 Zugleich gärte das Unabhängigkeitsverlangen auch bei den durch die Magyarisierungspolitik diskriminierten nicht-ungarischen Nationalitäten in der eigenen Reichshälfte, bei den Slowaken, Rumänen, Kroaten und Ruthenen, die zusammen mit den Deutschen und Juden die Hälfte der Bevölkerung ausmachten.45 Die verinnerlichte Bedrängnis des späten Habsburgerreichs, die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse, hatte
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und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, Wien: Praesens 2008, S. 17; Bis dahin bildete »der liberale Konstitutionalismus eine unmittelbare Symbiose mit der Ideologie und dem Gefühl des auf historische Grundlagen zurückgeführten nationalen Identitätsbewusstseins, wurde doch der Dualismus durch die spezifische Kombination des Liberalismus und der (staats)nationalistischen Ideologie politisch legitimiert. […] Daher stammt der auffällige (politische) Wille zur inneren Homogenisierung, der jedoch immer nur bis zu dem Punkt durchgesetzt werden konnte, an dem er die innere Beständigkeit des Reiches noch nicht gefährdete.«; Ebd., S. 17 Lukács: 1990, S. 27 Ebd., S. 119 Ebd., S. 121 Nádas, Péter: Leni weint, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2018, S. 205 Denn zugleich »erwachte das Nationalbewußtsein der Slowaken, der Kroaten, der Serben und Rumänen. Der Nationalismus der Ungarn, das ungarische Streben nach Unabhängigkeit, war für sie ohne Bedeutung. Eher galt das Gegenteil. Anzeichen dafür gab es bereits zur Zeit des ungarischen Unabhängigkeitskrieges 1848. Eine kroatische Soldateska erhob sich zusammen mit serbischen
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auch Ungarn erfasst, die Staatsautorität geriet ins Wanken: »Als diese schwerfällige Maschinerie das 20. Jahrhundert erreichte, wuchsen sowohl des Kaisers Starrsinn als auch der Nationalitätenstreit, der das Reich so schwer regierbar machte, bedrohlich an.«46 Der Erste Weltkrieg führte dann zum Untergang der Habsburgerreichs und zur Unabhängigkeit. Mit dem Kriegseintritt nahm allerdings ein Katastrophenjahrhundert seinen Anfang, das gerade in seiner Hauptstadt eine Verdichtung an Gewaltentfaltungen, schuldfähigen Leidenschaften und Traumata des Säkulums durchlief, die Urerschütterungen des 20. Jahrhunderts. Im Angesicht der Kriegsniederlage hatte Ungarn 1918 die Realunion aufgekündigt und nach den Budapester Straßenunruhen der »Asternrevolution« musste die aristokratische Führungsschicht einer bürgerlichen Regierung unter Mihály Károlyi als Ministerpräsidenten weichen, die die Selbständigkeit als Republik ausrief, allerdings nichts gegen die Gebietsverluste, die der Erste Weltkrieg mit sich gebracht hatte, auszurichten wusste. Zwei Drittel des Staatsgebiets, die Länder der Heiligen Ungarischen Stephanskrone, nämlich das Burgenland, Kroatien und Slawonien, die Slowakei, Siebenbürgen, das Banat, die Karpatenukraine und die Vojvodina, waren Nachbar- und Nachfolgestaaten zugefallen. Nach dem dadurch bedingten dem Rücktritt der bürgerlichen Regierung kam es 1919 durch Kommunisten und Sozialisten zur Ausrufung der Ungarischen Räterepublik. In den chaotischen 133 Tagen ihrer Herrschaft machte sich die Räterepublik unter Béla Kun daran, Banken, Industrie, Zinshäuser und landwirtschaftliche Güter zu verstaatlichen, verrannte sich aber zugleich in den Ungarisch-Rumänischen Krieg, ein militärisches Nachspiel zu den Gebietsverlusten in Siebenbürgen. Die ungarische Armee musste kapitulieren, die Kampfhandlungen endeten mit dem kurzzeitigen Einmarsch der rumänischen Armee in Budapest und der Auflösung der Räterepublik. Im Anschluss machte sich die »Nationalarmee« einer konservativen Gegenregierung nach Budapest auf, unter der die Monarchie in Ungarn wiederhergestellt wurde, wenngleich der Admiral Miklós Horthy zum Reichsverweser bestellt wurde, der 1921 zwei Restaurationsversuche der Habsburger unterband. Mit Reichsverweser Horthy ist eine böse Zeit hereingebrochen über Budapest. Ungarn ging in einer Diktatur auf, die alles tat, die autoritäre Gesellschaftsordnung und die Privilegien der ungarischen Aristokratie, ihre Latifundienherrschaft, unversehrt zu bewahren (und damit die Industrialisierung des Agrarlandes vernachlässigte). Zudem drangsalierte der erklärte Antisemit die ungarischen Juden mit antijüdischen Gesetzen. Den Toten des »Roten Terrors« der Revolutionstribunale standen die Opfer des »Weißen Terrors« faschistischer Freischärler gegenüber. Die Kriegsniederlage stand Ungarn in dieser auch wirtschaftlich ungefestigten Zwischenzeit ins Gesicht geschrieben. Die Gebiets- und Bevölkerungsverluste im Friedens-
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und rumänischen Bauernbanden gegen die Ungarn. Der Ausgleich von 1867 änderte nichts an diesen Animositäten, denn er konsolidierte die Herrschaft der Ungarn.«; Lukács: 1990, S. 160 Janik/Toulmin: 1987, S. 47; 1905 spitzten sich die Unabhängigkeitsbemühungen zur »Ungarischen Krise« zu, als bei der Parlamentswahl die seit dem Ausgleich regierende habsburgerloyale Liberale Partei ihre Mehrheit an die Unabhängigkeitspartei verlor, der Kaiser jedoch gegen die Oppositionsmehrheit ein als »Gendarmenregierung« kritisiertes Beamtenkabinett installierte und 1906, als die Spannungen zunahmen, das Parlamentsgebäude durch die Honvéd militärisch besetzen ließ.
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vertrag von Trianon 1920, die in Ungarn als Trianon-Trauma einen Niedergang des Selbstbewusstseins herbeiführten, bestätigten, auch wenn die Entente dem Kriegsverlierer die Bedingungen diktierte, nur längst geschaffene Fakten: »Jeder Staat hat seine Minderheit jenseits der eigenen Grenzen. Durch die Regelungen von Trianon […] hatte Ungarn 1920 […] drei Fünftel der Vorkriegsbevölkerung verloren, und an die drei Millionen Ungarn waren zur Minderheit in den Nachbarstaaten Rumänien, Tschechoslowakei und Jugoslawien geworden. Sie stellten keineswegs nur innere Probleme dar. Überall wimmelte es von irredentistischen und revisionistischen Bewegungen«47 . Den Ungarn war die Rechnung des verlorenen Weltkriegs präsentiert worden und sie bezahlten sie. In den 1930ern näherte sich Ungarn, das nun kleine, enge Land, zuerst dem faschistischen Italien, dann dem nationalsozialistischen Deutschland an. Im Rachedurst für die erniedrigte Würde der Nation machte man sich zum Verbündeten Adolf Hitlers und erklärte seinen Kriegseintritt auf Seiten der Achsenmächte, um seine verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Horthys zweigleisige Politik – deutschfreundlich und rumänenfeindlich – wünschte sich den Krieg herbei, weil man bereits einen zweiten Waffengang um Siebenbürgen im Auge hatte, für die Zeit, nachdem man seinen Beitrag zur deutschen Vernichtungsgeschichte geleistet hätte. Unfreiwillig wurden Rumänen und Ungarn so zu Gefährten im Unglück, und in der Mittäterschaft am Hitlerfaschismus, denn wie sich zeigte, war es nicht Sache der Deutschen (und der Österreicher) allein, Menschen in den Abgrund zu führen. Erst recht, als 1944 die Wehrmacht, um einen Abfall Ungarns vom Achsenbündnis zu verhindern, das Land besetzte und im Laufe des weiteren Jahres die faschistische Partei der Pfeilkreuzler an die Macht brachte. Denn davor hatte die ungarische Regierung 1943 geheime Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten aufgenommen, um einen Separatfrieden auszuhandeln, und den Abtransport der letzten rund 200.000 Budapester Juden eingestellt. Die nationalsozialistische Marionettenregierung unter Ferenc Szálasi nahm auf Anweisung Adolf Eichmanns die Deportation der Juden in die Nazivernichtungslager wieder auf, in Budapest führten Pfeilkreuzler Massenerschießungen durch. Ende 1944 war die Stadt allerdings bereits von den vorrückenden Sowjetischen Streitkräften eingeschlossen. Bei der Schlacht um Budapest fielen 80.000 Soldaten der Roten Armee, 50.000 deutsche und ungarische Soldaten, und starben 38.000 Budapester Zivilisten, bis die Stadt besetzt und das Judenghetto befreit werden konnte.48
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Schlögel: 2001, S. 276; »Aus den Vielvölkerimperien gingen nach den Grenzziehungen in den Pariser Vorortverträgen […] nicht homogene Nationalstaaten hervor, sondern Vielvölkerstaaten mit starken Minderheiten, die als Bedrohung für die Integrität und Souveränität der neuen Staatswesen empfunden wurden.«; ebd., S. 275 György Konrád relativiert die Kollaboration der Horthy-Regierung nicht mit der Präzisierung der Kriegsdynamik: »Das ungarische Volk wurde durch den Zweiten Weltkrieg dezimiert, er verursachte den Tod von annähernd einer halben Million christlicher und einer halben Million jüdischer Ungarn. Man hätte sich freilich nicht heraushalten können. Wären die Ungarn nicht auf deutscher Seite in den Krieg eingetreten, hätten Hitlers Truppen das Land vermutlich besetzt. Die Juden wären dann vielleicht noch früher deportiert worden. Eine kollaborierende Regierung, die Soldaten an die Front schickt, hätte es trotzdem gegeben. […] Die Russen wären trotzdem unsere Befreier gewesen.«; Konrád, György: Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 146
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Die in Jalta ausgehandelte Nachkriegsordnung der Alliierten hätte für Ungarn eine demokratische Verfassung definiert, die Eingliederung in die Interessenssphäre der UdSSR lag allerdings auf der Hand. Der bei den freien Wahlen 1945 abgeschlagenen Kommunistischen Partei unter dem Ersten Sekretär Mátyás Rákosi gelang es aufgrund der stehenden Roten Armee innerhalb dreier Jahre, eine stalinistische Diktatur mit Planwirtschaft zu installieren, die eine Verstaatlichung der Schwerindustrie, der Banken und der Bergwerke sowie eine Bodenreform durchführte. Wie in den übrigen Ostblockstaaten, wo die kommunistischen Regimes nach sowjetischem Modell nicht vom Volk selbst eingesetzt worden waren, ruhte die Gleichschaltung in das stalinistische Herrschaftssystem auf der Interventionshaltung der Partei. Der Unterdrückungsapparat der nach innen durch Militär und Geheimpolizei gesicherten Satellitenregierung führte Säuberungswellen durch, bei denen vermeintliche Abweichler als »Titoisten«, als Parteifeinde und Agenten, vor Gericht geschleift wurden. Die nach Stalins Tod unter dem Reformpolitiker Imre Nagy betriebene zaghafte Liberalisierung führte bereits 1955 zur dessen Absetzung, die aufgestaute Unzufriedenheit entlud sich allerdings 1956 im nationalen Schlüsselereignis des 12 Tage dauernden Volksaufstands, bei dem Massendemonstrationen in Budapest in eine offene Rebellion übergingen. Imre Nagy kam an die Parteispitze zurück, rief die Neutralität seines Landes aus, verkündete das Ende der Einparteienherrschaft, die Einführung der Pressefreiheit und bildete eine Mehrparteienregierung. Dann allerdings marschierte – nachdem die USA der UdSSR ihre Nichteinmischung versichert hatten, um das Gleichgewicht des Kalten Krieges nicht aufs Spiel zu setzen – die Sowjetarmee in Ungarn ein und kämpfte mit militärischer Gewalt die Volkserhebung nieder. 3.000 Tote Freiheitskämpfer forderte die Revolte, hunderttausende Ungarn flüchteten vor der Diktatur in den Westen. Die neue prosowjetische Regierung unter János Kádár ließ das Blut der Ungarn zunächst in ihren Wunden gerinnen. Der entpflichtete Imre Nagy wurde 1958 nach einem Geheimprozess am Galgen aufgehängt. Ein schändliches Urteil. Wie alle, gegen die insgesamt 453 Freiheitskämpfer, die hingerichtet wurden. Nach Restaurationsjahren korrigierte die KP jedoch ihre Politik erwiesener Erfolglosigkeit, indem sie 1968 das sozialistische Wirtschaftssystem mit ihrem Diktat der Planziffern in eine Ökonomie mit partiell marktwirtschaftlichen Zügen umgestaltete und so einen Anstieg des Lebensstandards herbeiführen konnte. Für diesen »Gulaschkommunismus« gewann Kádár an Achtung, erwarb sich den Ruf eines verständigen, vernünftigen Mannes, eines Pragmatikers, der gewisse Dinge gewähren ließen. Reformkommunisten im Politbüro weichten die Halsstarrigkeit der Partei auf, drosselten den Polizeiterror, ließen bei der Einsozialisierung der Menschen in den Kommunismus durch Entpolitisierung die Zügel schleifen und gestanden den Ungarn private Freiheiten und Eigeninitiative zu, die es im Ostblock sonst nicht gab: Nischen privaten Kleinunternehmertums und (selektive) Reisefreiheit in den Westen. Kádár verstand, »sich auf der Bühne einer Gesellschaft, die sich aufgrund ihrer in-
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tuitiven Automatismen gegen die patriarchalische Fürsorge nicht sonderlich sträubte, väterlich zu geben.«49 Kádárs 1962 bei seiner Parteitagsrede zum Ausdruck gebrachte pragmatische Selbstgenügsamkeit, sich mit einer passiven Parteiergebenheit abzufinden, anstatt den Einzelmenschen ideologisch unterwerfen zu wollen (»Während Rákosi […] zu sagen pflegten, wer nicht für uns ist, ist gegen uns, sagen wir, daß wer nicht gegen uns, für uns ist.«), ließ Ungarn im Ostblock zum Modell eines leichtlebigen Sozialismus werden, einer weichen Diktatur, in der das Leben erträglich ist.50 Dieses Budapest wiedererlangte das Flair einer Weltstadt, in deren Namen etwas Abenteuerhaftes mitschwang. Speziell für die Menschen aus der entbehrungsreichen sowjetkommunistischen Satellitenstaaten, die ihr Leben in der trivialen, langweiligen Alltagstristesse der realsozialistischen Mangelwirtschaften dahinziehen lassen mussten, erweckte die von südlichem Licht umgürtete ungarische Hauptstadt mit ihrem Lebensstandard den Eindruck einer erreichbaren Metropole, in der es Westwaren zu kaufen gab und das Balancieren zwischen dem Zulässigen und dem Unzulässigen etwas leichter fiel. Die im Ausland als Improvisationskunst bewunderte Fähigkeit der Ungarn, eine quirlige Schattenwirtschaft auf die Beine zu stellten, etablierte, wie Péter Nádas in luzider Analyse beschreibt, allerdings eine für die spätere Demokratie fatale Gaunermentalität, die man entharmlosen muss, weil sie auf Gewinngier, Ganoventum und Mauschelei basierte: »Mit seiner illegal blühenden Schattenwirtschaft kam Ungarn unter den Staaten des Warschauer Paktes dem kapitalistischen Wirtschaften zwar am nächsten, jedoch nicht dem geordneten, nicht der sozialen Marktwirtschaft, die die kapitalistischen Exzesse des Egoismus durch Gesetze und Institutionen der demokratischen Gewaltenteilung reguliert, sondern dem ungeordneten Wirtschaften, dem gesetzlosen, das eher
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Konrád: 1985, S. 153; »Ihre von leiser Unzufriedenheit bis zu kräftigem Haß reichende Abneigung gegen den Kommunismus konzentriert die Bevölkerung auf die anonyme Parteiführung. Kádár nimmt sie davon aus.«, Ross, Thomas: »Kein Haß gegen János Kádár«, in: Die Zeit, 51/1962 In der gelenkten Öffentlichkeit galt zwar eine Vertuschungskultur sowohl gegenüber dem Volksaufstand, es blieb verboten, das Blut der Märtyrer zu verehren, als auch gegenüber der Repressionspolitik, die der »Konterrevolution« von 1956 folgte – die Hinrichtungen wurden unter dem Mantel des Staatsgeheimnisses zugedeckt. Zugleich gab es jedoch Reuebekenntnisse für die Verfehlungen des Rákosi-Stalinismus und Rehabilitierungen der Opfer der Säuberungsaktionen. Der Kádárismus durchlief allerdings unterschiedliche Phasen der Liberalität. Zwischen 1972 bis 1978 sah sich Ungarn auf Druck der UdSSR gezwungen, die Differenzierung marktwirtschaftlicher Mechanismen teilweise wieder abzuschwächen und durch eine planwirtschaftliche Privilegierung der Großindustrie das bürokratisch-hierarchische System der Wirtschaftslenkung wieder zu stärken. Auch der innenpolitische Liberalisierungsprozess wurde in dieser Zeit durch eine Reideologisierung teilweise rückabgewickelt. Denn die UdSSR befürchtete, dass die »durch die ungarische Wirtschaftsreform besonders geförderte Konsumentenmentalität […] ein Polster gegen ideologische Parolen geschaffen« hätte. Der Reformkorrektur wurde diktiert, diese sei eine »Kleinbürgerlichkeit«: »Die Bemühungen des Sozialismus um die Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen interpretiere der Kleinbürger fälschlich als Übernahme der Normen der Konsumgesellschaft. Der Gegensatz zwischen Sozialismus und Kapitalismus erscheine ihm somit nur konstruiert und nicht als der Grundkonflikt im internationalen Klassenkampf.«; Schmidt-Häuer, Christian: »Das Ende der Ära Kádár«, in: Die Zeit, 22/1974
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den Familien-, Clan- und Stammesegoismus pflegt, in geheimen Abmachungen, im Tauschhandel erfahren ist, […] das Recht nur als Rechtslücke kennt«51 . Das reguläre Wirtschaftswachstum Ungarns war wiederum mit Technologieimport durch westliche Auslandskredite erkauft. Zudem hatte die Maschinerie der Macht unter dem alternden Kádár mit den Fehlern und Unzulänglichkeiten der eigenen Reihen fertig zu werden, mit der Ermüdung und Fahrlässigkeit der Staats- und Parteifunktionäre, die zu wenig unternahmen, um der Gleichgültigkeit, dem Schlendrian und der Unfähigkeit der heruntergewirtschafteten staatlichen Industrie entgegenzuwirken. Ab den mittleren 1980ern wuchs sich auch in Ungarn eine zunehmende Vertrauens- und Legitimitätskrise gegen Partei-, Staats- und Wirtschaftsapparat zu einer Systemkrise aus – es liefen zu viele Dinge gleichzeitig schief: die Auslandsverschuldung war erdrückend, die Abhängigkeit von westlichen Importen führte zu einem fatalen Außenhandelsdefizit, Preisschübe und Austeritätsmaßnahmen lähmten das Land. Das Ritualsystem des Funktionärsjargons war verbraucht, die Nadel lief bereits in der Auslaufrille. Die Ungarn begannen nun »wieder bitterer und nervöser zu spüren, daß ihr Leben mit vielen Freiheiten, guten Geschäften und auf dem großen Fuß scheinbar lässiger Kompromisse eben doch nur ein Treiben auf halben Wegen ist – auf verschlungenen Wegen zwischen den Systemen, auf krummen Wegen zwischen konsumorientierter Selbstverwirklichung und nationaler Identitätssuche.«52 Die Initiative zur politisch-ökonomischen Transformation, zu einer Perestroika, die keine war, ging in Ungarn dann allerdings in erster Linie vom Flügel technokratischer Reformkommunisten selbst aus, die gegen die KP-Politfossilien opponierten. Weniger von den Oppositionellenkreisen, die sich innerhalb der Machtverhältnissen des Alltags und den polizeistaatlichen Mechanismen parallel zur Schattenwirtschaft eine Schattenkultur eingerichtet hatten, deren geistiges Leben scharfe Debatten in und zwischen einem linken, einem liberalen und einem nationalistischen Dissidentenflügel kennzeichnete. Die Dissidenten wurden erst spät zu den Verhandlungen am Runden Tisch in Budapest geladen, als unter dem seit 1987 amtierenden Ministerpräsidenten Károly Grósz der Reformprozess von oben bereits trassiert war. Die Sozialistische Arbeiterpartei Ungarns verzichtete auf ihren in der Verfassung verankerten Führungsanspruch und löste sich noch 1989 auf. Ungarn wandelte sich in eine demokratische Republik um. Der marktwirtschaftliche Wandel markierte einen radikalen Einschnitt für Budapests und Ungarns Gesellschaftsstruktur, der allerdings nicht ausschließlich als Aufwärtsbewegung beschrieben werden kann, da er für die Menschen auch kapitalistischer Daseinskampf heißt, Terror des Geldes. Und weil Ungarn mit der demokratischen Freiheitserfahrung auch nicht immer allzu viel anzufangen wusste – die Transformations-
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Nádas: 2018, S. 184; Nádas` Mentalitätsgeschichte ist allerdings durchaus entgegenzuhalten, dass zumindest der Oppositionsgeist, wie Konrád schrieb, einen effektiven Weg einschlug: »Die Klugheit der Ungarn besteht vielleicht darin, daß sie dort vorangehen, wo es ohne größere Schwierigkeiten möglich ist: in der Schattenwirtschaft und in der Schattenkultur […]. In Privatwohnungen werden Kleinunternehmen und unabhängige Seminare organisiert, Wirtschaftsassoziationen und Samisdatverlage. […] Die Suche nach dem schwächeren Widerstand ist eher eine findige als eine ängstliche Kampfmethode«; Konrád: 1985, S. 188 Schmidt-Häuer, Christian: »Der Charme des müden Kompromisses«, in: Die Zeit, 46/1986
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gesellschaft akzeptierte, wie Nádas schrieb, vielmehr »die Demokratie wie einen ärztlichen Rat, verstand jedoch im Grunde nicht, was die Ärzte von ihr wollten«53 –, gelang es der Gaunermentalität der Schattenwirtschaft, zu einer Art Mafiakapitalismus mit banditischen ausländischen und inländischen Privatisierungsgewinnern aufzusteigen. Die ans Ruder gelangten Parteien, die Ungarische Sozialistische Partei, die Nachfolgeorganisation der KP, und die Jungdemokraten Fidesz, die sich von händeschüttelnd aufsteigenden neoliberalen Karrieristen in Nationalkonservative verwandelten, konnten die Privatisierung des Staatseigentums »im Rahmen eines tödlich schwachen, zur Korrektur oder Kontrolle unfähigen Staates [betreiben], auf der Basis von Stammesund Clandenken, im Geist der Provinz. Gemeinsam wollten die Parteien einen schwachen Staat. Anders wären der vielfältige Diebstahl und die freie Willkür auf Kosten des Gemeinwohls gar nicht vorstellbar gewesen.«54 Der in neoliberalem Umfeld durch Investitionen internationaler kapitalistischer Interessenträger angetriebene städtische Strukturwandel Budapests und die in den Beitritt Ungarn zur Europäischen Union 2004 mündende Westintegration überspielten lange die Tatsache, wie sehr dem Staat durch die Parteienmisswirtschaft das Geld durch die Finger lief, wie sich die Gesamtstaatsverschuldung aufblähte. Bis die internationale Finanzkrise in Ungarn 2008 einschlug: die Budapester Immobilienblase platzte, durch Währungsspekulation setzte ein Kursverfalls des Forints ein, das Land geriet in Zahlungsschwierigkeiten. Ein Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds und der EU verhinderte zwar den Staatsbankrott, der die finanzielle Stützungsaktion flankierende Sanierungsplan bedeutete jedoch eine Austeritätspolitik, die zu einer Massenverarmung in Ungarn führte. Dieser wirtschaftliche Abschwung hat eine Radikalisierung im Land entfacht, die der machtfixierte Ministerpräsident Viktor Orbán der nationalkonservativen FideszPartei seit seinem Sieg bei den Parlamentswahlen 2010 über nationalistische Stimmungsmache für einen systematischen autoritären Umbau der ungarischen Gesellschaft auszunutzen weiß. Mit wässrigen Lächeln bespielt Orbán – selbst vor sich hergetrieben vom fremdenfeindlichen Geseire der rechtsextremen Oppositionspartei Joppik und einer militanten faschistischen Straßenbewegung aus Bürgermilizen und NeonaziParamilitärs, die sich als neue Pfeilkreuzler geben – die Dynamik des Nationalismus, indem er, nicht erst seit Ungarn in der Flüchtlingskrise 2015 auf der »Balkan-Route« zur wichtigsten Durchgangsstation syrischer und afghanischer Kriegsflüchtlinge wurde, die Ängste vor einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft, die es faktisch in Ungarn nicht einmal in Ansätzen gibt, instrumentalisiert und eine homogene »Volksgemeinschaft« beschwört. In faschistoiden Hasskampagnen verbreitet Orbáns rechtspopulistisches Regime kulturfeindliche, antiintellektuelle Demagogie und verschwörungstheoretische Desinformation, die, der völkischen Hetze der Joppik-Extremisten 53 54
Nádas: 2018, S. 165 Ebd., S. 185; »Es ist kein Zufall, dass die reichsten und einflussreichsten Bürger Ungarns, nämlich siebenundsechzig Prozent der Elite und oberen Mittelschicht, aus den Reihen der Nomenklatura des Einparteienstaates stammen. Ungarn unterscheidet sich in der Tat von allen anderen postkommunistischen Ländern: Eine Schattenwirtschalt dieses Ausmaßes hat es sonst nirgends gegeben. Die Polen glänzten im schattenwirtschaftlichen Handel, nicht aber in der schattenwirtschaftlichen Produktion.«; ebd., S. 207
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folgend, mit antisemitischen und antiziganistischen Verdammungsfantasien gegen die Diktatur des Finanzmarktes hausiert, und artikuliert großungarische Ambitionen, die nicht nur das gereizte Minderwertigkeitsempfinden unverbesserlicher Provinzler, sondern Frustrationen und Abstiegsängste der Wirtschaftskrisenverlierer bedient – der angeschlagenen Mittelschicht, des verarmten Kleinbürgertums und der pauperisierten Arbeiterschicht, die sich vor sozialer Deklassierung fürchten.55 Orbáns demokratiefeindliche Ideologie eines »illiberalen Staates«, die sich zunehmend nicht einmal mehr die Mühe macht, ihren manipulatorischen nationalistischen Autoritarismus zu tarnen, betreibt eine schleichende Realitätsverschiebung zu einer nachliberalistischen Gesellschaft. Ihren Ausdruck findet sie in der handstreichartigen, von Kritikern als »Putinisierung« bezeichneten Einschränkung der Pressefreiheit und Gleichschaltung der Medienlandschaft, der unzimperlichen Gängelung der Justiz, einem zur Kulisse degradierten Marionettenparlament und der systematischen Missachtung von EU-Recht, sodass Ungarn in »seiner Staatsverfassung […] heute nicht einmal mehr als Kandidat für EU-Beitrittsgespräche infrage«56 käme. »Auf der Andrássy út zeigt sie sich geschminkt, ehrgeizig, geltungsbedürftig und ruhmversessen. Sie ist die Verkörperung der Idee einer ungarischen Metropole, der Wahrheit so nah und so fern wie die Pose vom Menschen.« 57 Die Hauptwerke der Budapester Architektur des 19. Jahrhunderts sind natürlich Stilbearbeitungen in den Idealen des Historismus. Ihre Meisterbauten unterstreichen allerdings nicht nur die Zentrumsambition der Hauptstadt und ihrer städtischen Gesellschaft, meist liefern sie auch der vaterländischen Gesinnung zu. Denn seit der in der vormärzlichen »Reformzeit« entwickelten Modernisierungspolitik des Grafen Széchenyi flossen im Modernisierungs- und Fortschrittsehrgeiz die Energien eines beharrlichen, die nationale Autonomie einklagenden Patriotismus, wie Nádas ausführt:
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Ein revisionistisches Politikfeld des Orbán-Regimes sind Initiativen, die darauf abzielen, die »Rumänienungarn« an sich zu binden und langfristig an den Trianon-Grenzen zu rütteln. Indem Fidesz ethnischen Ungarn aus Nachbarländern wie Rumänien, Serbien, der Slowakei und der Ukraine die ungarische Staatsangehörigkeit ausstellt, schafft sie sich zudem ein breites Wählerreservoir. In diesem Zusammenhang diktiert Fidesz eine magyarisch-nationalistische Geschichtsschreibung und revisionistische Gedenkpolitik für das Horthy-Regime. Magyar, Beda: »Ungarn ist verloren«, in: Die Zeit, 15/2019; Der unter Pseudonym schreibende Autor streicht auch die Schwäche der EU im Umgang mit Orban hervor, sie selbst »hat selbst dazu beigetragen, den Wahngebilden der Rechtsextremen Leben einzuhauchen«: »Im Namen der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates pumpt die EU-Bürokratie Geld in das Land und sichert damit die Herrschaft eines politischen Führers, der den Kontakt zur Realität verloren hat« (ebd.). Die Wirtschaftspolitik versteht sich gleichermaßen auf Staatsinterventionismus wie Flat Tax-Neoliberalismus, zudem floriert weiter die Korruption. Die FideszKamarilla bedient sich betrügerisch an Staatsaufträgen und EU-Subventionen (– die Skandale der Partei kennt man zur Genüge –), während Ungarn weiter eine katastrophale Wirtschaftsbilanz verzeichnet: der Lebensstandard ist, hinter dem Armenhaus Bulgarien, auf den zweitniedrigsten aller EU-Mitgliedsstaaten abgerutscht, das Gesundheits- und Unterrichtswesen sind durch Unterfinanzierung ausgeblutet. Eine halbe Million Ungarn, davon viele Akademiker, haben das Land verlassen; und auch Budapest schrumpft: von 2 Millionen Einwohner 2000 auf 1,75 Millionen 2019. Droste: 1998, S. 45
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»Der erste Modernisierungsversuch, der des Vormärz, verband […] den Anspruch, die ungarische Industrie und den ungarischen Handel aufzubauen, mit der politischen Idee der Unabhängigkeit. Seitdem sind die Begriffe Vaterland und Fortschritt so eng miteinander verknüpft […]. Unabhängigkeit bedeutet in dieser allemal progressiven Vorstellung nicht Unabhängigkeit des Einzelnen, nicht Gleichheit vor dem Gesetz, nicht persönliche Freiheitsrechte, nicht Souveränität der Person, sondern Unabhängigkeit des Vaterlandes.«58 Budapest brachte sein Anliegen, kulturelle Rückständigkeit zu überwinden und Anschluss an die großen europäischen Metropolen zu finden, zunächst durch Übernahmen der internationalen Stilsprachen des Klassizismus und der Neorenaissance zum Ausdruck. Die Einflüsse Wiens, Münchens und Berlins, in denen die Architekten der ersten ungarischen Historistengeneration ihre Ausbildung erhielten, drücken sich in Stilaufnahmen aus, die den Einfluss der Schulen von Theophil Hansen, Friedrich von Gärtner und Friedrich Schinkels verraten. Denn auch wenn der Klassizismus und die Neorenaissance im Architekturstil griechische und italienische Baugedanken aufgriffen, ist die Vermittlung über die deutsche und österreichische Architektur, die zu einem wichtigen Teil vom deutschsprachigen Stadtbürgertum Budapests59 getragene gedeihliche Beziehung zum Westen entscheidend (»alles Kompliziertere, Verfeinerte und Geschliffene haben wir von dort geholt«60 ). Exemplarisch dafür steht der Schlüsselbau der Budapester Neorenaissance, die 1865 eingeweihte Ungarische Akademie der Wissenschaften, auf die die Kunstmaßstäbe der Berliner Bauakademie äußerst unmittelbar einwirken, entstand diese doch nach Plänen Friedrich August Stülers. Die Details und Zeichen der italienischen Renaissance, die Stüler speziell beim blendsäulengeschmückten Mittelrisalit mit Aufwand setzte, hatten als architektonische Liberalitätsmittel den nationalen Aufbauwillen und eine allgemeine Kulturbegeisterung zum Ausdruck zu bringen. Architekturästhetisch ist es daher nicht unangemessen zu urteilen, dass der bürgerliche Budapester Historismus des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts im Allgemeinen als verschliffen, unakzentuiert wahrgenommen werden kann. Für ihn gilt, was Carl E. Schorske über die Wiener Ringstraße schrieb: »Die erste Etappe in der Assimilation an die adelige Kultur blieb rein äußerlich, nahezu mimetisch. Das vom aufsteigenden Bürgertum […] erbaute neue Wien dokumentiert dies in Stein […], mit gewaltigen Bauwerken, die von einer Vergangenheit, die nicht ihre eigene war, sei es Gotik, Renaissance oder Barock, sich inspirieren ließ«61 . Zugleich haben aber die historistischen Architekten Ungarns bereits früh eine leise Leidenschaft für die Frage der nationalen Identität durchscheinen lassen. Die Säulenverliebtheit des Klassizismus, maßgeblich vermittelt über die Schinkelschule der Berliner Bauakademie, hätte sich eigentlich nicht 58 59
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Nádas: 2018, S. 200 »Die überwiegende Mehrheit des Bürgertums nahezu aller [ungarischen] Städte war deutschsprachig […]. Um 1850 war ein bedeutender Teil der Aristokratie und des Bürgertums, hier vor allem Beamte, Industrielle und Künstler deutschsprachig. Diese Bevölkerungsgruppen bewahrten trotz starker Magyarisierungstendenzen auch in den folgenden Jahren ihre kulturelle Ausrichtung auf den deutschsprachigen Raum.«; Papp, Gábor György: Von Berlin nach Budapest. Aspekte des Historismus in der ungarischen Architektur, Potsdam: Dt. Kulturforum östliches Europa 2007, S. 13-14 Konrád: 1985, S. 141 Schorske: 1982, S. 34
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so passend fühlen müssen in dieser Gesellschaft, angesichts der inneren Verhältnisse während der unruhigen Jahre vor und nach 1848. Architekten wie Mihály Pollack bei seinem äußerlich an einen griechischen Tempel erinnernden Ungarischen Nationalmuseum, zwischen 1837 und 1847 errichtet, arbeiteten jedoch deswegen in »einem soliden, konservativen Klassizismus, [weil] dessen Popularität […] darin lag, daß er gegen das österreichische Barock gerichtet war und nationalistische Untertöne vernehmen ließ«62 . Eine erste Anstrengung zur Schaffung eines ungarisierten Nationalstils, eines Historismus, der nicht bloß fremde, immer schon fertige Ordnungen kopiert, unternahm Frigyes Feszl bei der zwischen 1859 und 1864 erbauten Vigadó Konzerthalle oder Pester Redoute. Ihr »romantische[r] Historismus ist von großer Bedeutung für die ungarische Architektur. Es folgt vorwiegend Einflüssen des Münchener Rundbogenstils, gleichzeitig ist eine Orientierung an der venezianischen Architektur des 16. Jahrhunderts und am orientalischen Baustil unübersehbar.«63 Es ist keine vor Sehnsucht und Verzweiflung übergehende Romantik, keine, die von sich behauptet, sie sei in geweihter Kenntnis, im Besitz eines Geheimnisses. Aber eine, die für sich reklamieren durfte, den unbestimmten Träumen der ungarischen Nationsbildung einen architektonischen Ausdruck zu geben.64 Wenngleich bereits das 1857 errichtete Palais Hercegprímás út 9 von Ferenc Wieser der Pester Redoute zentrale künstlerische Verfahren gezeigt hatte, einen neugotisch orientalisierten Eklektizismus – den man als reizvoll, geradezu als südlich empfinden, den man mit seinem Blendbogendekor aber auch byzantinische Eitelkeit anlasten kann –, setzte erst mit dem Konzerthaus, bei dem man mit widerstreitenden Eindrücken zu kämpfen hat, eine Abkehr von der klassizistischen Akademiegläubigkeit ein. Der in München ausgebildete Feszl zeichnete orientalische Geometrien in die Fensterteilungen, Blendsäulen mit Kronenaufsatz, und »[v]öllig neu daran war, daß im Gegensatz zum allgemeinen Fassadensystem des Klassizismus nicht die Mittelteile, sondern die Eckteile betont wurden.«65 Keine nationalarchitektonischen Ambitionen wurden hingegen bei der Errichtung der Hauptkirche Budapests, der St.-Stephans-Basilika, artikuliert. Der mit seiner 96 Meter hohen Kuppel das Panorama Pests beherrschende Kirchenbau, der typologisch allerdings gar keine Basilika ist, wurde in einem der Sakralität und der Macht huldigenden Neorenaissancestil gehalten, mit dem Miklós Ybl in den klassizistischen Entwurf József 62 63 64
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Heathcote: 1997, 10 Papp: 2007, S. 47 Feszls Versuch eines Nationalstils passte damit in die Zeit nach 1848, die, György Miru schreibt, von einem postromantischen »Illusionsverlust« der Eliten gekennzeichnet ist: »Während in den Jahren davor die Auffassung vom Dasein und von der Gesellschaft von Selbstvertrauen und wirklichkeitsformender Absicht (die vom romantischen Originalitätsanspruch und Berufungsgefühl genährt wurden und deren Ziele im Zeichen der Ausweitung der Freiheit standen) geprägt war, kam es nach der Niederschlagung des Freiheitskampfes zu einer tiefgreifenden Verunsicherung, nicht nur im Bezug auf den Glauben an die göttliche Vorsehung und das Gefühl dieses Mangels als Gemeinschaftsangelegenheit auf die ganze Nation ausgedehnt, sondern auch im Bezug auf die Vorstellung von der zielgerichteten Entwicklung, die Annahme der allmählichen Entwicklung der Menschheit.«; Miru, György: »Politisches Denken in Ungarn in der Zeit des Dualismus«, in: Károly Csűri/Zoltán Fónagy/Volker Münz (Hg.), Kulturtransfer und kulturelle Identität. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, Wien: Praesens 2008, S. 30 Dercsényi: 1991, S. 95
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Hilds nach dessen Tod 1867 und dem Einsturz der Kuppel 1868 korrigierend eingegriffen hatte.66 Das gilt für den mit Sinn für Verhältnismäßigkeit ausgestatteten, allein in seiner Dimension allerdings auf die Gewaltmittel des Übertrumpfens und Einschüchterns zielenden Außenbau mit seiner Zweiturmfassade mit klassizistischem Portikus und der auf einem durchfensterten Tambour ruhenden Kuppel mit Laternenaufsatz. Aber für den Innenraum, den nach Ybls Tod 1891 bis zur endlichen Einweihung 1905 József Kauser mit roten Marmorvertäfelungen, blattvergoldeten korinthischen Kapitellen, vergoldeten Kassettierungen und byzantinisch beeinflussten Goldgrundmosaiken mit Heiligendarstellungen in Apsis und Kuppel zwar bildkräftig, aber ohne nationale Assoziationen gestaltete – im Ausnahme der mit einem Baldachin umfassten Statue des Nationalheiligen St. Stephan am Hochaltar. Zwangsläufig antagonistisch zur Idee einer verbindlichen ungarischen Nationalarchitektur verhielten sich Budapest wichtige Synagogenbauten. Die 1859 eingeweihte Große Synagoge von Ludwig Förster und die 1873 eingeweihte Synagoge Rumbach utca, ein untypisches Frühwerk Otto Wagners. Beide sind in dem für die jüdische Emanzipations- und Assimilationsgeschichte des 19. Jahrhunderts charakteristischen »maurischen Synagogenstil« gehalten, sie suchten einen repräsentationssymbolischen Balanceakt der Juden »zwischen dem Wunsch nach Assimilation und Anerkennung einerseits und dem Willen der Religionsgemeinschaft, Eigenständigkeit und ein unabhängiges Profil zu bewahren, andererseits«67 . Ihr Orientalismus signalisierte Selbstbewusstsein gegenüber den nicht zu beschwichtigenden Ressentiments der Antisemiten, hintertrieb jedoch gleichzeitig die Integration eines willigen bürgerlichen Assimilationsmilieus, in dem er die Exotik und Fremdheit der jüdischen Minderheit hervorstrich. Die Große Synagoge, mit 3000 Sitzplätzen die Größte Europas, errichtete sich die stark wachsende jüdische Minderheit im ethnisch diversen Pest noch ehe ihr 1867 die gesetzliche Gleichberechtigung zuerkannt wurde. Ludwig Förster entwarf sie typologisch als dreischiffige Basilika mit Doppelturmfassade und vorgesetzten Seitenrisaliten, über die er die unbedingten Eindeutigkeiten einer orientalistischen Ornamentik legte, die in einigem dem exotisch-romantischen Eklektizismus des Heeresgeschichtlichen Museums ähnelt, das Theophil Hansen, Försters Schwiegersohn, in diesen Jahren in Wien entwarf. Die mit roten Ziegelstreifen strukturierte beige Klinkerfassade zeigt Rundbogenfenster, die renaissancistisches Maßwerk unterteilt, in Sterngeometrien zerlegte Fensterrosen, Lisenen und Fenstereinfassungen aus Terrakottaelementen mit Sternmotiven, eine Zinnenkrone und Zwiebeltürmchen an den Ecklisenen. Die 40 Meter hohen Türme schließen ebenso mit teilvergoldeten Zwiebelkuppeln ab. Den dreischiffigen Betsaal trennen doppelte Emporen mit gezackten Rundbögen, die mit
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»Doch noch bevor seine Änderungen ausgeführt werden konnten, stürzte […] der Tambour ein und riß auch die Pendentifs, die Gurte und die Pfeiler mit sich. Bis 1875 war man im wesentlichen nur mit dem Abriß beschäftigt. Ybl entwarf inzwischen die modifizierten Baupläne […]. Im Unterschied zu der viertürmigen Konzeption von Hild beließ Ybl in seinem Entwurf nur die beiden Türme über dem Hauptportal und fügte ihnen zwei kleinere ›Fialen‹ am Übergang vom halbrunden Chor zum viereckigen Kirchenraum hinzu.«; ebd., S. 96-97 Landwehr: 2012, S. 175
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Arabesken besetzten Wand- und Deckenflächen in Rosa- und Violetttönen, von der sich der weiße neugotische Thoraschrein abhebt. Die Synagoge Rumbach utca, die für eine Fraktion der jüdischen Gemeinde, die der assimilationsbereiten liberalen Mehrheit ablehnend gegenüberstand, erbaut wurde, prägen an der Hauptfassade maurische Rundbogenfenster mit Arabeskenreliefs und Blendsäulen aus Terrakotta. Wettbewerbsgewinner Otto Wagner schmückte die beigekorallenfarben gestreifte Fassadenverblendung zudem mit Stalaktitenfriesen und zwei minarettartigen Ziertürmchen, die sich aus den Ecken des Mittelrisalits erheben. Den achteckigen Betsaal der Synagoge überspannt ein auf Gusseisensäulen und feingliedrigen Zackenbögen ruhendes Kuppeldach. Alle Wand- und Deckenflächen bespielen rotblaue Arabesken und Kassettierungen. Auch die Synagoge Rumbach utca ist ein Stück gebauter Imagologie islamischer Architektur, die ein katholischer Architekt, von dem überdies antisemitische Einstellungen überliefert sind, für eine jüdische Gemeinde in allerstärkste Ausdrücke fasste. Städtebaulich und -verwalterisch waren diese Sakralbauten allerdings nur ein nachrangiges Phänomen im gründerzeitlichen Wachstumsdruck, mit dem »das zweigeschossige Pest […] dem fünfgeschossigen Budapest weichen«68 musste. Für die zunehmende Bebauungsintensität musste die Stadt ein Haupterschließungssystem schaffen, denn »Pests Wachstum glich eigentlich dem eines Jungen in der Pubertät: jährlich wuchs es aus seinen immer wieder verlängerten Kleidern heraus.«69 Die Ausfallstraße Andrássy út übernahm die kulturelle Repräsentationsfunktion als Boulevard. Im städtebaulichen Eingriffsmaßstab waren es aber zwei die halbkreisförmigen Ringstraßen, die »die Anstrengungen des Urbanisierungszeitalters […] komprimiert repräsentieren«70 : der innere Kleine Ring (Kiskörút), der als Wallstraße das historische Zentrum Pests einfasst, und der äußere Große Ring (Nagykörút). Entlang des Laufs eines versandeten Nebenarms der Donau, der Pest umschloss, wurde zwischen 1872 und dem stadtentwicklerischen Schlüsseljahr 1896 in mehreren Abschnitten der vier Kilometer lange Große Ring errichtet, an dem sich die Gradationen historistischer Architektur abzeichneten. Die Ringstraßenbauten, die so viele Gegenden, so viele Epochen zu beherrschen scheinen, kamen aber natürlich nicht aus der Tiefe der Zeit, sondern waren angestellt beim Zeitgeist, lieferten Augenblicksbilder der Gründerzeit – den Moden, der Treue zum Moment verbunden. Ein Arpeggio unverbundener Einzelbauten, die sich zwar in der detaillistischen Unterschiedenheit veruneinen, aber bei aller Vielgestaltigkeit, und ungeachtet eines in einigen Passagen schwierigen städtebaulichen Passungsverhältnisses, einen Traum miteinander haben. Zwar kann man nicht behaupten, die historistischen Fassaden am Großen Ring bestünden nur aus einem Sammelsurium an abgeschmackten Phrasen, die ornamentale Formenwelt ihres Eklektizismus würde jeglicher Originalität entbehren. Viele Zinshäuser sind allerdings tatsächlich nur mäßig bis mittelmäßig gelungen, alles in allem zu comme il faut, von einem guten Durchschnitt bestimmt. Denn »im Ganzen richtete sich
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Albrecht: 2012, S. 53 Hanák: 1992, S. 13 Ekler/Tamáska: 2017, S. 27
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das Straßenbild nach den Wünschen des spekulativen Mietshausbaus«71 . Genau diesem Wechselspiel in der Reife und Unreife der Stilaneignungen, der Verdickungen und Verdünnungen des Fassadenzierrats im Austarieren der Repräsentations- und der Spekulationsabsichten verdankt man aber die verwirrten Empfindungen, die einem am Großen Ring ergreifen. Das Künstliche und Inauthentische, das einem aus diesen Straßenzügen anweht, rührt aus dem Wechselspiel zwischen den Pathetisierungen eines Habsburgerglanzes, die manchmal auf eine fast liebe, ungeschickte Art aufbauschen, und der Plumpheit einer Spekulantenarchitektur, der man ansieht, das sie mit einer gewissen Überstürzung erledigt worden ist, wie Enzensberger registriert: »Diese doppelte Bestimmung sieht man dem Teil der Straße […] immer noch an: hervorgegangen aus einer Orgie der Selbstdarstellung und der Grundstücksspekulation, sind seine Häuser zugleich Paläste und Mietskasernen. Der Architektur dieses lauten, gewöhnlichen, prosaischen Boulevards haftet etwas Märchenhaftes an. Die rücksichtslose Poesie der Weltstadt lebt von solchen Symbiosen. […] Ausbeutung und Ornament, Schäbigkeit und Prunk, Krach und Idylle [sind] eine Verbindung eingegangen, die man nicht so leicht vergißt.«72 Der herausragendste Einzelbau des Großen Rings ist der 1877 eröffnete Westbahnhof, entworfen von August de Serres-Wieczffinski, dem Ingenieur der Staatseisenbahngesellschaft, der die typische typologisch-stilistische Zerrissenheit des Historismus bei industriezeitalterlichen Gebäudetypologien mit einer angenehmen Unaufgeregtheit bewältigte. Eine den funktionellen Erfordernissen entsprechende Gusseisenkonstruktion mit gläsernen Stirnseiten, Obergaden und Dachfeldern überspannt die Wartehalle und Perrons zwischen zwei zwillingsgleichen repräsentativen Neorenaissancebauteilen mit feingesponnener Detaillierung, bei denen gusseiserne Lisenen die Eckrisalite aus mehrfärbigen Klinkern, die bekuppelten oktogonalen Turmaufbauten und die Loggien einfassen. Anders als bei den allermeisten repräsentationsbedachten Bahnhofbauten des 19. Jahrhunderts wird der gläsernen Industriearchitektur, die das Büro Gustave Eiffel ausführte, allerdings auch straßenseitige Präsenz zugestanden. Dies unterscheidet den Westbahnhof etwa von der 1897 eingeweihten Großen Markthalle von Samuel Petz, die am Kleinen Ring liegt, wo dies den ästhetischen Grunderfahrungen des Historismus gemäß vermieden wurde. Der in Langhaus und Querschiffe gegliederten basilikalen Hallenkonstruktion wurde eine monumentale polychrome Sichtziegelfassade mit Mittelrisalit vorgeblendet, die zwar mit ihren Spitzbogenfenstern nationalromantisch zurück ins siebenbürgische Mittelalter führt, jedoch zugleich bereits in den künstlerischen Vorstellungskreis des secessionistischen Magyaros-Stils Ödön Lechners eingetreten ist. Besonders bei den steilen Dächern und Turmspitzen, die mit grüngelb rautengemusterten Dachziegeln aus der Zsolnay-Keramikmanufaktur gedeckt sind. Die berühmteste und in ihren architekturstilistischen Autoritätsfiguren repräsentativste Prachtstraße Budapests wurde die ab 1870 errichtete Andrássy út, die aus der
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Ebd. S. 36 Enzensberger, Hans Magnus: Ach Europa!, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 138
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Innenstadt ins Stadtwäldchen führt und sich am Oktogon mit dem Großen Ring schneidet. Mit ihr »wollte Ungarn sein tausendjähriges Hiersein feiern, das Millenniumfest, und zugleich sein europäisches Reifezeugnis ablegen. Mehr als zwei Kilometer Pracht und Gloria sollten beweisen, wieviel Glück das ahnungslose Land im Karpatenbecken gehabt hat, ausgerechnet in die Hände der wackeren Ungarn gefallen zu sein.«73 Die mit der Planung des ursprünglich Sugár út (Radialstraße) heißenden, in der kommunistischen Zeit dann mehrmals unbenannten Boulevards beauftragten Architekten Miklós Ybl und István Linczbauer versahen den Straßenzug in einheitlichen Bildkaskaden einer Neorenaissance, die gerade darin das Gesellschaftliche der historistischen Architektur anzeigt, als diese für die Bauherren aus dem Pester Stadtbürgertum gleichermaßen eine ästhetische Attraktivität versprach, einen sicheren Geschmack zu verraten, wie auch die Repräsentationslust der besitzenden Familien anzuzeigen, die Großsprecherei der neureichen Bourgeoisie. Heute ist die ursprünglich mit Holzstöckelpflaster belegte Andrássy út eine Einkaufsstraße, die genau darum als »[e]ine Straße, die die Touristen verstehen, eine Straße, die die Touristen versteht«74 als Sehenswürdigkeit funktioniert, obwohl der Boulevard der Equipagen im 20. Jahrhundert ebenso wie der Große Ring eine Autopiste wurde, deren Straßenlärm sich an den historistischen Prunkfassaden bricht. Nachdem der Gründerkrach ab 1873 die Bauarbeiten zunächst hatte stagnieren lassen, entstanden an der Andrássy út repräsentativer Stadtpalais, die, meist im AufrissSystem italienischer Renaissancepalazzi gehalten, selbstbewusst den steigenden Reichtum der großbürgerlichen Pester Eliten zeigten, geschickt platzierte Winke für die Vitalität und Machtmittel der gesellschaftlichen arrivistes arrangierten. Alles an der Andrássy út scheint ein bisschen manieriert, speziell am imposantesten Bauwerk der Straße, der nach einem Entwurf Miklós Ybls zwischen 1875 und 1884 errichteten Ungarischen Staatsoper. Es ist aber weniger die Ähnlichkeit des Neorenaissancegebäudes mit der 1869 eröffneten Wiener Staatsoper, die die Wirkung des Prunkbaus irritiert, als das sichtbare Missverhältnis der Kräfte, die Differenziertheit des gestalterischen Aufwands: zwischen der plastischen Artikulation der schmalen straßenseitigen Hauptfassade mit ihrer Natursteinwucht, einer mit Blendsäulen konturierten Loggia und säulengeschmückten Balustraden, und den durch Seitenstraßen freigestellten einfacheren Nebenfassaden, die nach einem zäsurhaften Rücksprung Mäßigung zeigen. Schräg gegenüber entwarf Ödön Lechner mit Gyula Pártos das 1884 fertiggestellte Drechsler Palais im Stil einer ungeschliffenen, düsteren französischen Neorenaissance. Lechner, damals am Beginn seiner Architektenlaufbahn und in seiner Werkentwicklung noch weit entfernt von seinem unvergleichlichen, mit Freuden dem Leben gegenüberstehenden Secessionismus, lehnte sich bei den Detaillierungen der Loggia und der Arkatur des wuchtigen Mittelrisalits an die Pracht der Staatsoper an, den Eindruck bestimmen jedoch dunkle, von groben Steinlisenen gefasste graue Sichtziegelfassaden, die das
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Droste: 1998, S. 31; »Die Anlage der nach Pariser Vorbild aufgebauten Andrássy-Straße zog die von der Stadtpolitik zur Verfügung gestellten zentralen Energien ab, weshalb der Nagykörút weniger Dotationen erhielt. Er sollte nicht der Repräsentation dienen, sondern das Funktionieren der Stadt gewährleisten.«; Ekler/Tamáska: 2017, S. 45 Schwerdtfeger, Malin: »Elegant im Fluss der Zeit«, in: Merian, 8/2002
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Bauwerk aus der manchmal allzu weichlichen, allzu kultivierten Neorenaissance Andrássy út herausheben. Freilich zeigt der Boulevard jedoch ebenso eklektizistische Routineentwürfe, bei denen die unternehmerische Perspektive der Bourgeoisie überwog, den Architekten eine sehr geschäftsmäßige Ableistung der historistischen Stilnachahmung abverlangt wurde.75 Am kolonnadengefassten Heldenplatz, zugleich Endpunkt der Andrássy út und Eingang zum Stadtwäldchen, erreicht der Eklektizismus der Epoche jedoch bei der 1896 eröffneten Kunsthalle von Albert Schickedanz und Fülöp Ferenc Herzog noch einen opulenten Höhepunkt. Die tempelartige Hauptfassade der Ausstellungshalle bemüht zwar attische Klassizität, die Sichtziegelfassaden sind jedoch mit farbigen Renaissancereliefs und einem Goldgrundmosaik als Giebelschmuck verziert. »Ihr ägyptischer Grundriß, die antiken Säulen und Cinquecento-Verzierungen – die reinste Eklektik«76 . Budapests architektonische Aufwärtsentwicklung in den Jahren vor und nach der Millenniumsausstellung 1896, in denen die Wirtschaft brummte, die Künste blühten, wiegelte den Gestaltungsimpuls des Späthistorismus, mit einer bewunderungswürdigen Kunstfertigkeit dithyrambische Symboliken auszuwalzen, auf. Und auch das Hereinbrechen des Secessionismus führte weniger zu einer Repräsentationskrise der Stilarchitekturen als zu neuen entwerferischen Entwicklungsformen, zu einem erweiterten Reichtum an Möglichkeiten des Ornamentierens. Die repräsentativen Randbebauungen am Szabadság tér (Friedensplatz) im Pester Zentrum, der in den Jahren nach 1900 anstelle einer Kasernenanlage errichtet wurde, bildeten einen der markanten Schauplätze des Budapester Späthistorismus. Der Bezirk wurde »von Ministerien, Regierungs- und Gerichtsgebäuden sowie von Wohnhäusern der neureichen Bourgeoisie umgeben, alles Bauten, die ein wenig an das Wilhelminische Berlin erinnerten, wären da nicht die vielen Kaffeehäuser und die ganz unpreußische Straßenatmosphäre gewesen.«77 Ignác Alpár, ein Absolvent der Berliner Bauakademie, gewann nach seinem Publikumstriumph mit der Schauburg Vajdahunyad für die Millenniumsausstellung die Wettbewerbe für die beiden Staatsbauten am Szabadság tér, die Ungarische Nationalbank und den Börsenpalast, die beide 1905 fertiggestellt wurden. Alpárs sandsteinernen Bankpaläste ist in ihrem Ausbruch an Unbescheidenheit, in ihrer gierigen Hingabe an die Macht ein typisches späthistoristischen Saturierungsphänomenen eingeschrieben: ein in Größensteigerungen schwelgender Monumentalismus. Die Gewalt der Banken, der Gewinne, die sich den Arbeitern abgeschunden hatten, zeigt sich in Alpárs Architektur allerdings nicht in stilistischer Maßlosigkeit, sondern in einem typologischen Gigantismus, in einer wohlberechneten Ordnung, die mit respekteinflößend steifer Förmlichkeit eine Beugung vor Obrigkeit herstellt. Die Ungarische Nationalbank und der Börsenpalast plündern ihre 75
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Der Feuilletonist Adolf Ágai bezeichnete die Pester Stadterweiterung daher als »sanguinische Großtuerei«: »Die entwerfenden Baumeister haben, nachdem sie der Straße Länge und Breite ausgesondert, kümmerliche Häuser hineingesetzt. Und da es für große Verhältnisse, reiche Gliederung und Quader nicht reichte: wurde der brave Maurer zum Bildhauer befördert, der die korinthischen Kapitäle aus lockerem Mátyásfölder Ziegel in der Hand zurechthämmerte.«; Porzó: »Brief von der Andrássystraße«, in: www.pesterlloyd.net Jahn/Székely: 1999, S. 14 Lukács: 1990, S. 64
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Energien für die Monumentalität des Geformten: für achsiale Risalitgliederungen, Blendsäulen in Kolossalordnung, barockisierte Reliefs. Einzig die vielteilig aus Giebeln und Konsolen geschichteten, fialengefassten Turmaufbauten am Haupteingang des Börsenpalasts individualisieren den Bau – sie sind neben den exotischen Turmhelmen des Sváb-ház von Imre Sváb, dessen Gesims mit kegelförmig bekrönten Ziertürmen und einer Maßwerkbalustrade mit Lilienfriesen verziert ist, der Blickfang des Szabadság tér. Die Affirmation der Macht prägte Budapests Späthistorismus in seiner Gesamtheit. »Streben nach Bedeutsamkeit bestimmte nicht nur die – oft übertriebenen – Dimensionen vieler Bauwerke«, wie György Sebestyén es formulierte, »sondern auch die eigentümlichen Farbschattierungen etlicher Straßenzüge. Verzierungen aus Stein, Gips und Metall lassen noch in ihrer verwitterten Form den grotesken Ehrgeiz spüren, die festlichen Möglichkeiten des eigenen Daseins anzudeuten.«78 Es ist aber gerade die Artifizialität dieser anmaßenden, machthungrigen Riesengebäude, die sie interessant macht. Denn eigentlich hat, wie Andreas Huyssen unterstreicht, Monumentalität wenig Kredit: »Das Monumentale ist ästhetisch fragwürdig, weil es mit dem schlechten Geschmack des 19. Jahrhunderts, mit Spießertum, Kitsch und Massenkultur verknüpft ist. Es ist politisch suspekt als Ausdruck der Nationalismen […] und der Totalitarismen […]. Es ist gesellschaftlich suspekt als privilegierte Artikulationsform von Massenbewegungen und Massenpolitik. Es ist ethisch suspekt in seiner Präferenz für das über- und unmenschlich Große, das den individuellen Betrachter oder Teilnehmer überwältigt«79 . Bei seinem zwischen 1907 und 1910 errichteten Anker Palast, einem Bürogebäude für die Wiener Anker Versicherung, hat Alpár die architektonische Wirkungsstrategie des Monumentalen noch gesteigert. Der Anker Palast, ein einschüchterndes Ungetüm, bei dem, in sattem Nachmittagslicht betrachtet, überdies alle Detailgestaltung hinter dem Gesamteindruck zurückbleibt, zeigt Monumentalismus in Reinform. Mit seinem klobigen Blendportikus, den sich erhebenden kegelartigen Ecktürmen und einem undefiniert keilförmigen Turmaufbau, bringt einen in Verlegenheit, provoziert zu doppelten Verneinungen seiner Derbheit. Die Zentralfigur des machtgeladenen späthistoristischen Repräsentationsbaus war allerdings Alajos Hauszmann, Professor an der Technischen Hochschule, der Miklós Ybl als Hofarchitekt nachfolgte und mit den Erweiterungsarbeiten am Budaer Burgpalast betraut wurde. Hauszmann, auch er ausgebildet in Berlin, und auch er kein Mann des Maßes, perfektionierte die Losgebundenheit eines reifen Eklektizismus, der jedoch weiterhin, ohne eine Ordnung festzusetzen, in forcierter Schöngeistigkeit seine Verehrung für die Historie bezeigte. Sein zwischen 1891 und 1896 errichteter Königlicher
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Sebestyén: 2001, S. 21 Huyssen: 1996, S. 289; Nicht nur eine inauthentizitätsästhetische Betrachtung muss mit Huyssen, »darauf bestehen, daß das Monumentale als ästhetische Kategorie nicht zeitlos, sondern ebenso kontingent und veränderlich ist wie jede andere ästhetische Kategorie. Während das Monumentale zwar immer durch Größe überwältigt und auf sichtbare Permanenz und Dauer in der Zeit abzielt, ist davon auszugehen, daß unterschiedliche Zeiten jeweils eigene Vorstellungen davon haben«; ebd., S. 290
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Gerichtshof, heute das Ethnographische Museum, ist einer aggressiver und machtgetriebener Hoheitsbau, dessen Klassizität zu einer Gefügigkeit vor Autoritäten verleiten, Unterlegenheit und Machtlosigkeit fördern soll. Das langgestreckte Bauwerk schmücken Säulen in Kolossalordnung und auf den Gesimsen platzierte Statuen, den Mittelrisalit ein klassizistischer Portikus, eine bronzene Triga und flankierende Türme mit Laterne. Eine höchste Stufe zügellos eklektizistischer Freigebigkeit erreichte Hauszmann bei dem 1894 fertiggestellten Palais New York, ein seit 2001 als Luxushotels genutztes Versicherungsgebäude für die New York Life Insurance. Was das ausschweifende späthistoristische Gebäude aus ähnlichen heraushebt, ist zwar zuerst die Überstilisierung der aus Renaissance- und Barockpartien arrangierten Prunkfassade, die sich mit ihrem aus dem Mittelrisalit ausragenden Turmaufbau fast unangemessen aufdringlich inmitten des Straßenzugs des Großen Rings ausnimmt. Das Palais New York mitsamt seinem »berühmten, scheußlichen Café« ist ein schönes »Beispiel jenes architektonischen Größenwahns, den die stolzen Bürger von Budapest Eklektizismus nennen.«80 Zugleich allerdings, und das macht den ästhetischen Genuss aus, seine Augen an dem prunkverzauberten Gebäude umherstreifen zu lassen, hatten Hauszmann und seine am Entwurf eingebundenen Mitarbeitern Flóris Korb und Kálmán Giergl scheinbar keine Ambition, das für den Historismus typische Additive der Fassadendetaillierung im Überfluss verlaufen zu lassen. Ihr Ehrgeiz ging nicht darauf, dass die eklektizistische Verfeinerung mit Blendsäulen in Kolossalordnung, Balustraden, Lanzen und Statuen ins Wilde, Unaufhaltsame gerät. Nichts ist ins Leichte hinversetzt, ins Unverantwortliche. Alles ist arrangiert, auch im Neobarock des Café New York, des einstigen Literatencafés im Parterre. Flóris Korb und Kálmán Giergl gründeten danach ein gemeinsames Büro, das mit kreativer, aber auch leicht lächerlicher Galanterie die übermütige Architektur des Budapester Späthistorismus weiter steigerte. Der Initiativgeist, mit dem sie bei ihren frühen Hauptwerken, den beiden 1902 fertiggestellten Klothilden-Palästen und dem ebenso 1902 fertiggestellten Királyi Bérpalota, ihre architektonischen Gedanken ausmaßen, führte sie zu einem energiegeladenen Neobarock, der mit einem Fanatismus der Detaildurchbildung pompöse Kolossalordnungen und opulente Ornamentik eklektizistisch verflocht, ohne jedoch die vornehmen Zeichen in dekorativen Konvulsionen zu verundeutlichen. Die drei Prunkbauten, die allesamt den Platz Ferenciek tere einfassen, prägen neobarocke Turmaufbauten: beim Királyi Bérpalota zwei den Mittelrisalit akzentuierende Türme mit Giebelschmuck und Vasen, bei den Klothilden-Palästen Ecktürme mit lanzenund blendsäulengeschmückte Laternen, und zwiebelförmigen Kuppelabschlüssen mit Voluten und Königskronen. Danach erweiterten Korb und Giergl ihr Repertoire zum Secessionismus, bei der Liszt Musikakademie noch von den Bauherren in ihrer Veränderungsbereitschaft eingefangen, später beim Király-Bazár und dem Warenhaus Luxus dann nicht mehr zu halten, aber zur Eleganz erstarrt. Einem Prunkbau am Ferenciek tere gelang es jedoch, die zügellose Freigiebigkeit des sich hier zu Höhen erhebenden Eklektizismus noch zu steigern. Dem Pariser Hof, dem großen Meisterwerk des aus Hamburg stammenden Architekten Henrik Schmahl. Das
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erst zwischen 1909 und 1913, zu einer Zeit, in der bereits die Entwöhnung vom Ornament zur Losung erhoben wurde, geplante Gebäude besticht mit den Ergötzlichkeiten eines »verwegenen Eklektizismus«, der durch eine unspezifische orientalische Tönung den Eindruck leichter Verdrehtheit erweckt. Henrik Schmahl hatte sich bereits bei dem 1893 als Nachtclub Alhambra eröffneten Kino Urania in exotischen Milieus herumgetrieben. Dort konturieren enge Loggien, die ebenso wie die Fenster feinzahnige Zackenbögen einfassen, zusammen mit Steinbalustraden und Giebelfriesen die Fassade, ehe im Inneren, im Foyer und im Festsaal, – passend für einen den flüchtigen Genüssen der Welt zugewandten Nachtklub bürgerlicher Habitués – einen ein opulenter Orientalismus zur Glut treibt. Beim Pariser Hof verfeinerte und intensivierte er diesen »verwegenen Eklektizismus« noch: »[d]ie einzelnen Teile wirken, als wären sie aus einer gotischen Kathedrale, einer maurischen Moschee, einem venezianischen Palast oder einem marokkanischen Basar zusammengestohlen worden. Trotzdem sind die überquellenden und erfindungsreichen Details in eine vereinheitlichende Ordnung gebracht«81 . Ja, die zwei trapezförmig auf eine erkergefasste Eckfassade zulaufenden Längsseiten des Pariser Hofes haben an sich Balancen in ihrer inneren Gliederung. Horizontal durchgehende Blendbalustraden trennen nach unten zu den beiden feingliedrigen, fensterreichen Ladenetagen, Spitzbogenfriese nach oben zu Blendgiebel und neugotisch gezeichneten Dachbrüstungen. Vertikal gliedern Lisenen, Vorsprünge und Erker. Das Bild machen sie aber nicht klar, da über sie irritierende Detaillierungen flimmern, die zwar eine ungebändigte künstlerische Unbedingtheit auszeichnen, zugleich aber in ihrer enttraditionalisierten Akzentuierung künstlich, inauthentisch wirken, als seien sie einer unverarbeiteten Historie entrissen. Die mit Nonnenköpfen versehenen, sich vom beigen Sichtziegel abhebenden grünen rundbogigen Fenstereinfassungen, die Krabben an den Giebeln, den Fialen und den beiden Eckturmlaternen, das reliefierte Terrakottamaßwerk – all das lässt einem ein Schwindelgefühl verspüren. Ein Empfinden, das man auch in die atmosphärisch prächtige Ladenpassage des Pariser Hofs mitnimmt, bei der sich zudem ein unwirkliches milchiges Licht trüb über das Zierrats lagert. Eigentlich schweres, dunkles Holz ist durch neugotische Schnitzarbeiten zu einem Geflecht aus Nonnenköpfen, Vierpassverblendungen und Balustraden zergliedert, darüber erhebt sich ein raffiniertes Glasdach mit Maßwerk und zackenbogigen Rippen, die kleinteiligen Glasfelder der mittigen Kuppel zieren gelbstichige Secessionsgeometrien. »In Budapest geht die Zeit nicht verloren, sie umgibt einen in all ihrer Schönheit und Hässlichkeit.« 82 Der Enthusiasmus um die Millenniumsausstellung schlug sich in Budapests Stadtarchitektur allerdings nicht nur in dem Epochengeist eines modernen Metropolenbewusstseins nieder, den ein in unterschiedlichen Verwandlungsgraden zusammengewürfeltes Gemisch internationaler historistischer Baustile schürte. Denn das glühende Nationalbewusstsein der Ungarn führte zu einer Kritik an der »unpatriotischen« Vernachlässigung nationaler Traditionen und Überlieferungen in der Entwurfspraxis des Historis81 82
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mus. Dahinter stand eine sich ändernde Mentalität kultureller Identifikation, die sich von den nationalstaatlichen Institutionalisierungsanstrengungen des bürgerlichen Liberalismus abwandte und in »neueren Nationalcharakterologien […] die traditionellen Elemente eindeutig ausschlaggebend [werden ließ], entweder durch die Assimilation einer adeligen Tradition oder durch die Herausbildung eines idealisierten Bildes des Bauerntums. Der Nationalismus dieser Epoche folgte der Spurlinie der kulturellen Definition der Nation.«83 Eine Entwicklung, die auf ein zunehmend krisenhaftes Allgemeinbefinden zurückging, die nun verstärkt in Liberalismusfeindlichkeit ausschlug, zu einem »Entfachen einer immer hysterischer werdenden städte- und judenfeindlichen Stimmung« führte und das Bündnis zwischen Liberalismus und Nationalismus aufkündigte. Das Prunkende und Übertriebene des Budapester Späthistorismus wurde in Urteilsschlüssen dieser Art mit dem ungenügenden Kulturniveau der arrivistes zusammengebracht, etwa beim Schriftsteller Franz Ferdinand Baumgarten, der sich polemisch gehen ließ, als er die »Edelbauten« des Klassizismus gegen die »Parvenübauten« des Historismus ausspielte und gegen die kosmopolitische und zugleich provinzielle »Kolonialstadt« stritt, in der »die Instinktlosigkeit des freigelassenen Gettos und die Jahrmarktphantastik der ungarischen Prärie Orgien feiert«: »Gewiß, es hat ursprünglichere und leidenschaftlichere Kulturen gegeben als die des Klassizismus, aber er ist die letzte Kulturepoche Europas, nach ihm kam die Barbarei. Nirgend in Europa ist der kulturelle Zusammenbruch so grausam hoffnungslos gewesen wie in Budapest, nirgend ist er in sichtbaren Wahrzeichen so sichtbar verewigt wie hier, wo neben den feinen klassizistischen Bauten der Bürgerstadt Pesth die gespenstisch häßlichen Ausgeburten der Kolonialstadt Budapest stehen. […] Das vormärzliche Pesth war […] eine der reizvollsten klassizistischen Städte Europas. Das moderne Budapest übertrifft in aufdringlicher Häßlichkeit sogar Berlin.«84 Ungarns mit dem Nationalismus ausgestattete Architekten suchten freilich den Ausweg in »Magyarisierung«, in einem Nationalgemeinsamen, in mythisch aufgeladenen Bezugnahmen auf das trübe Blut des alten Magyarentums. Nach baulichen Repräsentationen der nationalen und nationalreligiösen Gefühle, die von der chauvinistischen 83
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Miru: 2008, S. 39; Miru streicht dabei hervor, dass »in der konsolidierten Periode des Dualismus« allerdings auch der Liberalismus selbst zunehmend pragmatisch wurde und sich inhaltlich entleerte, »obwohl er die Marktprozesse und das Wirtschaftswachstum wirksam forderte«. Er wurde selbst konservativ, immer stärker lag sein Akzent »auf dem Bau der Institutionen und nicht auf der Orientierung an Ideen. Die politische Pragmatik wurde als Wert gesetzt, verwies aber zugleich auch auf den Mangel an umfassenden Ideensystemen; der Liberalismus büßte ebenfalls an geistiger Offensivkraft ein.«, ebd., S. 37 Baumgarten, Franz Ferdinand: »Pesth«, in: www.pesterlloyd.net; In Baumgartens Elitarismus liegt die Kulturgüte des klassizistischen Pest darin begründet, dass sie ein »östlich vorgeschobener Posten von deutschem Bürgergeist, eine deutsche Pionierstadt [gewesen sei]. Sie hatte eine altansässige Bürgerbevölkerung mit spärlichem Zuzug, der ganz überwiegend aus dem Westen kam.« (Ebd.) Es folgte jedoch eine »Invasion der ungarischen Prärie und des östlichen Gettos«: »Die alten Kulturträger: ungarische Aristokratie, deutsches Bürgertum und westliches Judentum, wurden majorisiert, dann verdrängt. Mit Gewissen und generösen Instinkten erblich belastet, mußten sie dem östlichen Ansturm hemmungsloser Lebensgier weichen.«; ebd.
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Nationalitätenpolitik angestoßen wurden, die das Königreich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert betrieb, um die Umgestaltung des Feudalstaates zu einem Nationalstaat durchzusetzen, indem sie »auf sprachlich-kulturelle Homogenisierung des Landes drängte und gegenüber den Nationalitäten mit Assimilationsansprüchen auftrat«85 . Während die rasche Industrialisierung und Urbanisierung die traditionelle ungarische Ständegesellschaft unterminierte, und zugleich der Jugendstil wiederum die imperiale späthistoristische Hauptstadtarchitektur in Frage zu stellen begann, fing viele ungarische Architekten der Jahrhundertwende die Gravitation der nationalistischen Ideologie ein und ließ sie der bereits anachronistischen Idee einer stildefinierten Gemeinschaft nachhängen – Späthistoristen wie Secessionisten. Die Einen versuchten den mit sich selbst zerfallenden Späthistorismus durch zerquälte Anspielungen auf eine unassimilierte magyarische Vergangenheit in eine veränderte innere Verfassung zu bringen, um eine metaphysische Dimension zu bereichern. Die Anderen, die Secessionisten um Ödön Lechner, kreierten eine Nationalästhetik ohne Sentimentalismus, die zwar einen Kernbestand an Tradition umspielte, jedoch keine folkloristische Evidenzbeziehung erzeugen wollte, kein Scheinleben in fernen Sehnsuchtszeiten beschwor, sondern jenseits des bereits schweren romantischen Erbes neue Deutungshorizonte eröffnete, in deren Entkonkretisierung ihre Modernität betonte. Diesem künstlerischen Antagonismus unter den dem nationalen Andenken sich verpflichtenden Architekten scheint vordergründig eine politische Zuteilung in eine konservative und eine progressive Kohorte zu entsprechen. Die Späthistoristen werden einer Restaurationsideologie zugerechnet, die mit unguten Ahnungen erfüllt, willentlich oder unwillentlich versuchte, in einen undurchdringlichen nationalistischen Dämmer einer immergegenwärtigen Illusion zu tauchen. Die Secessionisten hingegen wird progressive Modernität »in einer Umgebung eines platten und prahlerischen, oft erzkonservativen Kulturnationalismus«86 beschienen, weil sie entgegen der politisch eher grob gestrickten Rückorientierung der Historisten Tradition als einen bereits abgeschiedenen Teil ihrer Kultur begriffen, der künstlerisch zu einer zeitgemäßen Nationalästhetik transformiert werden müsse. Die auf Istvan Graf Széchenyi zurückgehende, weiterhin vorherrschende Fortschrittsideologie der »Reformzeit«, die Modernisierung mit nationaler und nationalkultureller Unabhängigkeit verknüpfte, weicht diese Zuteilung allerdings auf. Denn auch die späthistoristischen Architekten der nationalgeschichtlich stilisierten Repräsentationsbauten verstanden sich nicht als aus der Zeit gefallene, reaktionäre Anwälte eines zähflüssig Althergebrachten, die sich gegen den Fortschritt sperren. Im Gegenteil, der monumentale Heroismus, den die illustre Runde aus Matthiaskirche, Fischerbastei, der Schauburg Vajdahunyad und dem Parlament ausbildete, sollte die
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Miru: 2008, S. 39; Ursprünglich eine Reaktion des ungarischen Adels auf die Reformbestrebungen des Josephinismus, der Deutsch als Amtssprache in der gesamten Habsburgermonarchie dekretierte, umrissen die Magyarisierungsgesetze Maßnahmen zur Assimilation der nichtmagyarischen Minderheiten. Nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich institutionalisierten die Ministerpräsidenten Kálmán Tisza ab 1875 und Dezső Bánffy ab 1895 Magyarisierungsmaßnahmen, verbunden speziell mit Repressalien gegen die Slowaken. Jahn/Székely: 1999, S. 20
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Tradition auf den Stand der Gegenwart bringen, sollte vollenden, was sie als Geschichtsauftrag des Ungarntums begriffen. Und das eigentlich Interessante an diesen Nationalmonumenten ist ja gerade das Überspannte, das Fantastische, manchmal auch fast Fratzenhafte einer sich in allegoristischen Überzeichnungen verausgabenden Architektur, das Inauthentische ihrer Illusionskunst. Im Budaer Burgviertel Vár baute Frigyes Schulek, der in Wien bei dem Neugotiker Friedrich von Schmidt studiert hatte, zwischen 1873 und 1896 die Matthiaskirche, die Krönungs- und Vermählungskirche der ungarischen Könige, in der auch 1867 die Krönung des ungarischen Königspaares Franz Joseph I. und Elisabeth stattfand, nach den ästhetischen Gesichtspunkten der Nationalromantik aus.87 Die katholische Kirche war, nachdem sie König Béla IV. im 13. Jahrhundert als Teil der Burg von Buda errichten ließ, ursprünglich eine romanische Basilika, ehe sie im 14. Jahrhundert zu einer gotischen Hallenkirche ausgebaut, und dann mit der Invasion der Türken 1541 zur Hauptmoschee der Stadt umgenutzt wurde.88 Bei der Rückeroberung Budas 1686 durch die Heilige Liga wurde die Kirche weitgehend zerstört und daraufhin vom Jesuitenorden in einen Klosterkomplex integriert, bis sich schließlich Frigyes Schulek an eine intensive Überarbeitung machte, in die typische neugotische Purifizierungsvorstellungen festgeschrieben sind. Schulek stellte die Matthiaskirche wieder frei. Der nach seinem Erbauer Matthias Corvinus benannte Matthias-Turm wurde mit einer maßwerkverzierten Laterne und einer Turmspitze mit Krabbenschmuck und Kreuzblume auf 80 Meter erhöht, die Spitzbogenfenster mit Wimpergen und Fialen nachgezeichnet. Der gedrungene Béla-Turm, der kaum höher ist als das Kirchenschiff, ist stilistisch eine siebenbürgisch inspirierte Eigenerfindung Schuleks, bei der die Turmspitze und die vier Ecktürmchen mit gemusterten Ziegeln aus der Zsolnay-Keramikmanufaktur gedeckt wurden. Neben den neugotischen Maßwerkfenstern, Fialen und Giebeln, die an die Detaillierung des Marientors, ein nach der St. Lorenz-Kirche in Nürnberg geschaffenes Gewändeportal, das die Jahrhunderte überdauerte, anschließen, ist es die mit Rautenmustern versehene Dachdeckung mit roten, orangen, grünen, braunen und weißen Zsolnay-Schindeln, die der Matthiaskirche ihre Wirkung verleiht. Das Kircheninnere geht in Schuleks neugotischer Devotion auf. Das Kreuzrippengewölbe und die mit Kapitellen verzierten gotischen Bündelpfeiler sind mit reichen, von Gold- und Ockertönen dominierten Ziermalereien überzogen, die vom Geist und Feuer der Neugotik beseelte geometrische und vegetabile Ornamentiken zeigen. Bei Hauptaltar und Kanzel sowie den Kapellen und Fresken schuf Schulek zusammen mit dem
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Als Krönungskirche ist die Matthiaskirche ein ungarisches Nationalsymbol, in der städtischen Wirkung ist sie allerdings eher unakzentuiert. Markiert beispielsweise der Wiener Stephansdom »die strukturelle Mitte der Stadt«, so übernimmt die »kaum halb so große Matthiaskirche […] lediglich die Obhut des zu ihren Füßen liegenden Platzes mit der Dreifaltigkeitsstatue«; Tamáska: 2015, S. 28 »Entsprechend den Zeremonien der islamischen Religion legte man an der in Richtung Mekka liegenden Kirchenwand eine Gebetsnische mit Stalaktitgewölbe, den Mihrab, an. […] Die Kirchenwände wurden gekalkt und mit Koransprüchen verziert. Vom Kirchturm rief der Muezzin zum Gebet.«; Dercsényi: 1991, S. 27
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Bildhauer Ferenc Mikula und den Malern Bertalan Székely und Károly Lotz ein mit patriotischen Affekten und christlichen Transzendenzbezügen geladenes, mythisierendes Geschichtsnarrativ, das Erhebendes und Bedeutendes der Historie in pathetische nationale Empfindungen überführt. So Károly Lotz’ Fresko zur Schlacht von Belgrad, dass Feldherr Johann Hunyadi und seinem Sohn, König Matthias, huldigt, Ferenc Mikulas Steinbaldachin der Dreifaltigkeits-Kapelle, die als Ruhestätte des überführten König Béla III. dient, und Károly Lotz’ Ladislaus-Kapelle mit Wandbildern zur Heiligsprechung von Königs Ladislaus. Unterhalb der Matthiaskirche fasst die neumittelalterliche Fischerbastei, Frigyes Schuleks zwischen 1895 und 1902 gebaute neoromanische Nachbildung der ursprünglichen Burgbastion, die an der Stelle des mittelalterlichen Fischmarkts von Buda errichtet wurde, den Burgberg ein und gibt ein Panorama auf Pest, auf den Donaukai, frei, das dazu einlädt, das Auge in die Weite zu tauchen und dabei Gedanken zu haben. Das Fantastische, Unwirkliche der pittoresken sandsteinernen Treppen-, Arkaden- und Turmanlagen, die mit ihren konischen, kegelartigen Spitzen an die Zelte der Magyaren erinnern sollen, lässt die Fischerbastei allerdings weniger als verbindliche, authentische Nationalarchitektur erscheinen, denn als eine kleine Travestie darauf. Ihre Bilder wirken gekünstelt, trügerisch. Und das Faszinierende an ihr ist, dass man zwar nicht auf sie heranfallen muss, aber man auf sie hereinfallen will.89 Mit ihrer an die nationale Empfindungsfähigkeit appellierenden Architektur unterscheiden sich die Matthiaskirche und die Fischerbastei vom übermächtigen Prachtbau Budas, dem zwischen 1880 und 1903 zunächst von Miklós Ybl, dann von Alajos Hauszmann ausgebauten Burgpalast, der ausgedehnten Palastanlage, die die Südhälfte des Burgberges einnimmt. Zwar war auch der Burgpalast »eher ein Ergebnis nationaler Legitimation als das einer Herrscherintention«90 , die dieser eigentlich entgegenstehende Reichsidee habsburgischen Kaisertums spielte aber allein über die Architektur hinein, die sich des zeitüblichen Neobarocks der Staatsmacht mit dem längst sinkenden Legitimitätsniveau bediente. Der geschichtsträchtige Ort der einstigen Königsresidenzen erhielt keine national gefasste Architektursemantik, und dabei macht es keine Unterschied, dass die zentrale Barockkuppel, die wie der gesamte Palast bei der Schlacht um Budapest 1944 massiv beschädigt worden war, später in einem reduziertem klassizistischen Stil wiedererrichtet wurde, auch wenn John Lukács von »einer sonderbar häßlichen, mit Steinwarzen verzierten Kuppel« sprach, »die an den barbarischen Helm eines alten ungarischen Kriegers erinnerte – repräsentativ nicht so sehr für den Habsburger Barock als für den neuen ungarischen Nationalstil.«91 Als Repräsentationsarchitektur erfüllt sie allerdings ihre Funktion, denn obwohl sie »trotz aller Pracht von den Habs-
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Auch wenn der Gesamteindruck durch das die Matthiaskirche und die Fischerbastei beengende Hilton Budapest torpediert wird, einem 1977 eröffneten, überdimensionierten sozialistischen Hotelklotz mit goldeloxierten Fenstern und burgunden geschindeltem Mansarddach, bei dem Architekt Béla Pintér donauabgewandt die Renaissancefassade einer alten Klosteranlage wiederaufrichtete, donauzugewandt allerdings eine herbe spätfunktionalistische Rasterfassade mit ungelenken postmodernistischen Verweisen entwickelte. Tamáska : 2015, S. 26 Lukács : 1990, S. 52
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burgern weitgehend ungenutzt [blieb], […] steht sie bis heute nützlich über der Stadt, als Burg einer staatstragenden ungarischen Fiktion.«92 Einen Hauptakt patriotischer Selbstdarstellung bildete die Millenniumsausstellung selbst, die in der Budapester Parkanlage Stadtwäldchen (Városliget) veranstaltet wurde. Den Mittelpunkt der Landesausstellung nahm dabei die malerisch an einem künstlichen Teich platzierte Schauburg Vajdahunyad ein, die als »ein extended remix mehrerer mittelalterlicher Burgen anlässlich der Feiern […] in die boomende Millionenstadt hineingebaut«93 wurde. Für die Millenniumsausstellung ursprünglich als Attrappenbau in unbeständigen Baumaterialien aufgerichtet, erhielt sie zwischen 1904 und 1908 eine dauerhafte Materialität. Ignác Alpár orientierte sich an der eindrucksvollen gotischen Festung Hunedoara im heute rumänischen Siebenbürgen, die in Ungarisch Vajdahunyadi heißt, mit der Budapester Schauburg also nicht nur eine romantische, gotisch gezeichnete Erkerreihe teilt, sondern auch den Namen. Mit Hunedoara verband die historientrunkene Nationalbewegung den gegen die Osmanen erfolgreichen Heeresführer und Reichsverweser Johann Hunyadi, der sie als Stammburg seiner Adelsfamilie errichten ließ, und mit dessen Sohn König Matthias Corvinus. Sein Repetitorium der Geschichte erweiterte Ignác Alpár jedoch, ohne dass das malerische Gesamtbild in seine Bestandteile zerfallen wäre, zu einer auf Massenwirkung ausgerichteten Abgötterei eines magyarischen Historienpanoramas. In ihrer Erscheinung und Eigenheit wurde die Schauburg Vajdahunyad, wie die Fischerbastei auch, über den unbestreitbaren Einfallsreichtum ihres Eklektizismus hinaus, aber längst ein Denkmal eigenes Rechts, bei dem, wie Alois Riegl schrieb, das historisch Eingetrübte dann, wenn das »Interesse, das an den gewollten Denkmalen mit dem Hinwegfall der daran interessierten Generationen zu schwinden pflegt«, durch die inszenierte Herkunft aus einer mythischen Identität »nun für vorläufig unabsehbare Zeiten dadurch perpetuiert wird, daß eben ein ganzes großes Volk die alten Taten längst dahingeschwundener Generationen als Stück der eigenen Taten, die einstigen Werke der vermeintlichen Vorfahren als Stück der eigenen Werktätigkeit an[sieht]«94 . Das Erstaunliche an der Vajdahunyad, das, was irgendwie eine Ergriffenheit veranlasst, sind aber nicht ihre allfälligen Authentizitätsfiktionen durch detailgenaue Zitate des geschichtlichen Fundmaterials, der schweren Zeichen, die um ihre geschichtliche Bedeutung wissen. Obwohl diese meisterlich imitiert sind, Beispiel dafür sind, wie eine »Fälschung ›typischere‹ Züge des Originals als dieses selbst« enthalten kann, worauf, so Bentmann, »die Publikumswirksamkeit, die Popularität der Verfälschung«95 beruht. Das Erstaunliche ist der Inauthentizitätseindruck, der sich allein durch das verdichtete Arrangement an Nachbildungen, die mit pathetischer Attitüde über einen ausgekippt werden, einstellt – durch die grandiose, in ihrer zwangsläufigen Willkürlichkeit verwirrende Überlagerung an historischen Paraphrasierungen, die darin, den Zauber einer anderen Zeit zu bemühen, Gezwungenes, Gekünsteltes mit sich führen.
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Droste : 1998, S. 60 Groebner: 2018, S. 84 Riegl: 1903, S. 12 Bentmann: 1988
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Der Teichlandschaft zugewandt zeigt die Vajdahunyad, mit feiner Zeichnung, die Breite der magyarischen Geschichtslandschaft. Die betürmten, maßwerkverzierten Fassadenerker und der Njeboisa-Turm der Burg Hunedoara sind eingefasst von einer Nachbildung des mittelalterlichen Stundturms im siebenbürgischen Sighișoara/Schäßburg und einem mit Ecktürmchen konturierten Torturm. Zudem wächst ein Fragment der gotischen Zápolya-Grabkapelle aus dem heute slowakischen Spišský Štvrtok aus dem Festungsbau. Den Innenhof teilen sich eine Kapelle, für die Alpár das skulpturengeschmückte romanische Portal der Klosterkirche St. Georg in Ják übernahm, nachgebaute Partien der Matthias-Loggia der Hunedoara und der schlossartige Gebäudeteil im Barockstil, mit einer wenig vollendeten Form der Erinnerung an das Karlstor der Festung von Alba Iulia/Karlsburg und einer Nachbildung des mittelalterlichen Katharinentors von Brașov/Kronstadt. Budapests gewaltigstes Nationaldenkmal aus dem Kunstverständnis des Historismus ist allerdings Imre Steindls Parlament: Das auch in seinen politischen Entstehungsmühen komplexe, mit einer grandiosen städtebaulichen Wirkung am Pester Donaukai lagernde Bauwerk, das zwischen 1885 und 1905 errichtet wurde, »verkörperte die Sehnsüchte und den Stolz des partiell unabhängig gewordenen ungarischen Staates.«96 Mit flackernden Augen blickt man auf ein aufsehenerregendes Gebäudemassiv, das selbst nach den Maßstäben des Späthistorismus eine Ausnahme bildet, auf eine ultimative Allegorie der nationalen Wiedergeburt. Das Parlament, ein magyarischer Palace of Westminster, ist aber kein träumerischer Bau, und das macht ihn so dramatisch. Bei allem Stilwillen hat er etwas Abweisendes, zerbirst an seinen Ansprüchen, majestätisch und auch arrogant. Der Wettbewerbssieger Imre Steindl, auch er ein Schüler Friedrich von Schmidts, schuf ein 268 Meter langes, an der Flussluft der Donau sich ausbreitendes, unerreichtes Großwerk der Neugotik. Ein »monströses Gebäude«, wie Enzensberger es ausdrückte, »halb Windsor-Schloß, halb Petersdom, ist eine feudal-religiöse Imitation, ein steingewordenes Digest der ungarischen Geschichte, die, wenn man den Staatskünstlern, welche hier am Werke waren, Glauben schenkt, aus einer endlosen Folge von Ruhmestaten besteht.«97 Diese späthistoristische Mittelalterfantasie ist ein auf intensive Wirkungen ausgerichtetes Inszenierungsmeisterwerk, das sich nichts anderes vornimmt, als ihre Betrachter in Staunen zu versetzen, ein »Non-Plus-Ultra aller bildhaft, nicht architektonisch gedachten neugotischen Bauwerke«98 . Speziell in jener leichten Düsterkeit, die der matte Lichtschein eines verhängten Himmels über die zur Donau gerichtete Längsfassade legt. Steindls Parlament verpflichtete sich mit seiner Ganzheit, seinem Temperament, seiner Eigenart dem Patriotismus, doch Doppeldeutigkeiten des historischen Kostüms, der zur reichspolitischen Selbstprofilierung eingesetzten Symbolik, waren durch seine Stilwahl unvermeidlich, denn in Ungarn galt die Gotik ausdrücklich als deutsche Baukunst.99 Ohne sich in zu konkreten Vergleichen zu verheben, ist der 96 97 98 99
Papp: 2007, S. 91 Enzensberger: 1987, S. 146 Baur: 1981, S. 210 Sisa weist darauf hin, dass in Ungarn die Betrachtung der Gotik als Nationalstil nicht existierte. »Hier galt die Gotik immer als ein deutscher Stil, was […] bei dem Bau des Parlaments, eine heftige Polemik auslöste. Als Mitte des 19. Jahrhunderts offenbar wurde, dass die Gotik in Île-de-France
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Einfluss Friedrich von Schmidts doch deutlich zu erkennen, speziell von dessen Wiener Rathaus und der Kirche Maria vom Siege. Die Neugotik ist ernst und deutsch, wie Gurlitt registrierte, der schrieb, Steindl habe »trotz seiner Anlehnungen an Barry, Scott, Waterhouse und andere Engländer nicht mit einem Zug seine Herkunft verleugnet. Pest erweist sich in jedem Zug künstlerisch als deutsche Stadt, trotz allem magyarischen Sporenrasseln und Schnauzbartstreichen.«100 Allein die Maßlosigkeit und Übertreibung des sandsteinernen Riesengebäudes in seiner symmetrischen Massenkonfiguration, die zu dem zentralen 96 Meter hohen Kuppelbau hinführt und es wie ein geschichtsverlorenes, weltenthobenes gotisches Kirchenschiff wirken lässt, verleihen ihm etwas unwirkliches.101 Aber auch der täuschende Machtschimmer der Detaillierung mit Strebebögen, Arkadengängen, Turmhelmen und Statuen ungarischer Könige, Fürsten und Heerführer »trägt zur malerisch bewegten, fast vibrierenden Wirkung der Hauptfassade bei, wie auch die allein an dieser Seite mit Kriechblumen und Kreuzblumen reich geschmückte Fensterreihe des Obergeschosses. […] Sämtliche Dachfirste des Gebäudes sind mit künstlerisch ausgeführten schmiedeeisernen Gittern gekrönt, was die scharfen Konturen gewissermassen wesenlos macht. Diese Wirkung wird durch die unzähligen kleinen Türme, Fialen und Steinspitzen des Daches weiter gesteigert.«102 Auch in der Betrachtung der inneren Zustände dieses Riesenbaus erstarrt man zunächst vor dem Eindruck, dass ganz falsche Sinne einen betrügen. Erst nach und nach reimen sich einem die neugotischen Konturierungen, die Deckenmalereien, die Wandvertäfelungen, die lichtbringenden Kirchenfenster, die Einrichtungsgegenstände zusammen. In durchgreifender Organisiertheit besorgte Steindl einerseits eine Scheinordnung szenischer Monumentalität. In dieser »dominieren die Hohlräume: funktionslose Treppenaufgänge, Wandelhallen, Säle, die nur durch ihre Leere Eindruck machen.«103 Andererseits sensationalisieren sich die Prunkräume, in denen sich eigentlich nirgends die geboren wurde, wandte sich die Aufmerksamkeit in den einzelnen Ländern auf die nationalen Varianten der Renaissance. […] In Ungarn konnte kein großer historischer Stil oder dessen Variante als speziell ungarisch betrachtet werden. Sie blieben für die Ungarn ausländische oder eben internationale Stile.«; Sisa, József: »Assimilation oder Emanzipation? Wien und die ungarische Baukunst im ausgehenden 19. Jahrhundert«, in: Károly Csűri/Zoltán Fónagy/Volker Münz (Hg.), Kulturtransfer und kulturelle Identität. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, Wien: Praesens 2008, S. 230-231 100 Gurlitt: 1969, S. 104; So wurde zwar das Ziel der Wettbewerbsordnung, eine Ähnlichkeit mit Theophil Hansens Wiener Parlament zu vermeiden erreicht, »die Absicht, wonach sich das ungarische Parlament vom österreichischen unterscheiden müsse, hat sich zwar verwirklicht, aber der Architekt konnte sich nicht völlig von der Inspiration durch Wien befreien.«; Sisa: 2008, S. 231 101 Die Verweise auf Sakralarchitektur sind allerdings ähnlich ausgestellt wie das Christentum der ungarischen Nationalisten, dass, wie John Lukács ausführte, keine gesteigerte Religiosität bedeutete: »Das Adjektiv ›christlich‹ wurde um 1900 sehr populär. Doch die mitschwingenden Bedeutungen waren vor allem negativ, bedeuteten so viel wie nichtjüdisch, nichtkosmopolitisch, nichtmarxistisch.«; Lukács: 1990, S. 238 102 Sisa, József; »›Das Vaterland hat bereits sein Haus‹. Das ungarische Parlament in Budapest«, in: Anna Minta/Bernd Nicolai (Hg.), Parlamentarische Repräsentationen. Das Bundeshaus in Bern im Kontext internationaler Parlamentsbauten und nationaler Strategien, Bern: Peter Lang 2014, S. 178 103 Enzensberger: 1987, S. 146
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Linie des Ganzen verliert, über die nobilitierenden Bezüglichkeiten eines neugotischen Dekors, das wie Geschmeide scheint und doch zugleich, unromantisch und weihelos wie es ist, dem Geheimnisvollen der Gotik entbehrt. Das Prunkstiegenhaus zeigt blattvergoldete Friese, Kapitelle und Kreuzrippe, Deckenmalerei und Fresken. Die beinahe identen Sitzungssäle der beiden Kammern, des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses, sind mit blattvergoldeten Wimpergen an den Galeriebögen, Maßwerkeinfassungen, die an den Oberlichten über Konsolen und Bögen in eine renaissancistische Kassettendecke übergehen und Historienmalerei beladen.104 Und im beeindruckenden Kuppelsaal, in dem die Stephanskrone mit den Reichsinsignien aufbewahrt wird, erheben sich über einem spitzbogigen Arkadenumgang eine Galerie mit blattvergoldeten Nonnenkopfmaßwerken und ein Sternengewölbe mit vergoldeten Rippen. »In solchen Stunden verschwimmt das Bild von Budapest, und man sieht die Stadt auf einmal doppelt: als Metropole im ewigen Streben nach Lebensfülle und zugleich als Kulisse des steten Scheiterns der eigenen Maßlosigkeit.« 105 Die Zeitgedanken des architektonischen Entwicklungsgangs um 1900 fanden allerdings auch in Budapest ein verständiges bürgerliches Milieu. Das Gefühl, der Historismus sei seiner Aufgabe künstlerisch nicht länger gewachsen, ließ den Jugendstil Fuß fassen, der mit den Gestaltungsmitteln des von einer internationalistischen Gesinnung geprägten Art Nouveau arbeitete, aber auch mit hellem Interesse Stilvorstellungen der Wiener Secession übernahm. Wie in Wien, wo die Gesamtsituation des Fin de Siécle ein tiefes Krisenbewusstsein ausgebildet hatte, die »von der Problematik des einzelnen in einer zerfallenden Gesellschaft«106 gezeichnete Intelligenz mit der Vätergeneration des liberalen Bürgertums brach, charakterisierte der Jugendstil, bei aller Zukunftszugewandtheit, die dieser übersprudelnde Ästhetizismus ausstrahlte, aber auch in Budapest eine kulturelle Unsicherheit. Denn auch wenn seine Parteigänger meinten, innerlich bereits in einer neuen Welt zu stehen, und sich zu Experimenten treiben ließen, repräsentierte der Jugendstil im östlichen Europa, wie Schlögel hervorhebt, »einen in gewisser Weise seiner selbst nicht ganz sicheren Kapitalismus, eine Bourgeoisie mit einem kurzen Stammbaum und ganz Herbst […], kurzum: die Form einer von Anfang an prekären und gefährdeten Blüte und damit auch einer gewissen Übernervosität.«107 Den Jugendstil grundierten auch in Budapest die Weltuntergangsfantasien des 1900-Gefühls, denn auch wenn bereits im Namen »Blüte und Aufbruch mitschwingen, bleiben Tod und Vergehen stets eingewoben, weil der todessehnsüchtige Finde-siècle-Symbolismus die Nährmutter des neuen Stils ist«108 . Er wurde für eine herrschende Klasse mit Zylinderhut und Champagnerglas zum veredelnden Faktor ihres
104 Nationalgeschichtliche Empfindungen schürt auch das Monumentalgemälde »Die Landnahme Ungarns« von Mihály von Munkácsy, dem historistischen Malerfürsten, der im Pariser Salon zur internationalen Berühmtheit avanciert war. Es zeigt Landeseroberer Árpád auf weißem Hengst, wie er von seinem Heer gehuldigt wird. 105 Sebestyén: 2001, S. 21 106 Schorske: 1982, S. 30 107 Schlögel: 2005, S. 100 108 Trinks, Stefan: »Jugendstil – eine Avantgardebewegung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.7.2019
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dekadenten Ästhetizismus, wie Clough und Amabel William-Ellis die Kritik an der in der Art Nouveau triumphierenden Intellektualität sarkastisch zusammenfassten, als sie schrieben, der Jugendstil sei ein Architekturstil, »[i]n einem Café geboren und auf nichts so sehr bedacht wie zu erschrecken«, der »einen an eine verkaterte Geschichte in Esperanto erinnert.«109 Parallel zu diesem internationalistischen Art Nouveau-Esperanto entstand in dem ästhetischen Freiraum allerdings auch eine nationale ungarische Architekturbewegung. Dem katalanischen Modernisme nicht unähnlich entwickelten ihre religiös ergriffenen und nationalistisch andächtigen Künstler mit dem Anliegen nationalkultureller Selbstbehauptung eine Art künstliche Tradition, die sich auf stilisierte Filiationen eines mythologisierten Magyarentums stützte: den Magyaros-Stil. Diese von der Nationalromantik gespeiste Reformbewegung um Ödön Lechner, Lipót Baumhorn und das Büro Marcell Komor und Dezső Jakab »begann[] mit den architektonischen Eigenheiten der ungarischen Volkskunst beziehungsweise des als Urheimat der Ungarn betrachteten Osten zu experimentieren.«110 Die Secessionisten operierten sehr konkret mit volkstümlich-folkloristischen Formen und Ornamentiken, um deren seit der Entdeckung der Volkskunst in der Romantik betriebenen Katalogisierung sich besonders József Huszka mit seinen Mustersammlungen verdient gemacht hatte. Die Stickmuster der cifraszűr, der Trachtenmäntel der ungarischen Schafhirten, wurden künstlerisches Symbol der nationalen Besinnung.111 Denn »so wie man zur Zeit der Spracherneuerung erkannte, daß die ungarische Sprache nur noch auf dem Lande gesprochen wurde, weil sich die höheren Schichten der Gesellschaft der kultivierten westlichen Sprachen oder des Lateins bedienten, so schien auch hier die Bauernschaft in Bezug auf die nationale Formensprache und die nationale Ornamentik der Hüter der nationalen Werte zu sein.«112 Die subjektiven ästhetischen Fantasien der Secessionisten sind, wie Ödön Lechner, der große Meister der Bewegung, freimütig bekannte, allerdings eine selbstbewusste »Erfindung der Tradition«: »Die ungarische Formensprache gab es nicht, aber sie wird sein!«113 Das Glück seines Daseins, seine Einzigartigkeit vielleicht, verdankt der Magyaros-Stil der Ambition, aus dem Herkunftsmaterial ungarischen Brauchtums einen historisch versäumten Baustil nachzuziehen. Hierzu passt, dass die oft mit floralem Dekor verzierte Baukeramik aus der Zsolnay-Keramikmanufaktur, die zum Markenzeichen des ungarischen Jugendstils wurde, ebenfalls ein abgewandeltes traditionel109 William-Ellis/William-Ellis: 1980, S. 26 110 Györ, Attila: »Architektur der Jahrhundertwende 1896 bis 1919«, in: Arne Hübner/Johannes Schuler (Hg.), Architekturführer Budapest, Berlin: Dom 2012, S. 67 111 Wie John Lukács festhielt, bestand allerdings »[z]wischen der Entwicklung der ungarischen Kleidermode und der ungarischen Architektur […] keine Verbindung. So dominierten in der Zeit vor 1850 Neoklassizismus und das Biedermeier in der Architektur und in der Frauenkleidung, während die Männerkleidung oft ausgesprochen national und ungarisch war. Als nach 1900 an den Gebäuden deutlich erkennbare Elemente eines ungarischen Nationalstils auftauchten, war die bürgerliche Einförmigkeit der Kleidung in Europa ubiquitär geworden.«; Lukács: 1990, S. 270 112 Moravánszky: 1988, S. 140 113 In: Jahn/Székely: 1999, S. 18; Dabei ist es auch bezeichnend, dass diese national gesinnten Intellektuellen vielfach nichtungarische Familienhintergründe aufwiesen: »Lechner stammte […] aus einer alten ungarndeutschen Familie, und praktisch waren ist alle Architekten des betont nationalen Jugendstils in Ungarn entweder deutscher oder jüdischer Herkunft.«; ebd., S. 15
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les Baumaterial darstellt, das der Pécser Fabrikant Vilmos Zsolnay, ein Freund Lechners, aus dem von seiner Firma patentierten Pyrogranit, einer frostbeständigen glasierten Keramik, herstellen ließ. Ödön Lechner, bei dem die Kunstgeschichte nie so recht weiß, wo man ihn hintun soll, ob man ihn als einen ungarischen Antoni Gaudí114 würdigen oder unter dem Etikett verpeilter Exot einordnen sollte, ist zweifelsohne ein Secessionist gewesen, ein Überwinder des Historismus, jedoch eigentlich kein Jugendstilkünstler, obwohl ihm »immer wieder die Zwangsjacke des Jugendstils angelegt [wurde], wie sehr er sich sein ganzes Leben lang auch dagegen gewehrt hatte.« Wie Moravánszky hervorstreicht, »stehen nicht nur seine symmetrischen Baukörper und Grundrisse dem Jugendstil fern, sondern auch seine Ornamente […] [, die] wenig Verwandtschaft mit den sich schlängelnden, dynamischen Ornamenten des Jugendstils«115 aufweisen. Erste Blinzelzeichen seines geheimnisvollen Secessionsstils zeigte Lechner bei dem 1893 zusammen mit seinem Mitarbeiter Gyula Pártos entworfenen Rathaus Kecskemét und bei der zwischen 1891 und 1897 errichteten Ladislauskirche in Budapest. Bei beiden überwiegt noch der Eklektizismus jener Zeit – beim Rathaus Kecskemét Barockgiebel und Renaissancegliederungen, bei der Ladislauskirche eine schön gezeichnete Neugotik –, doch geben sie die Richtung an, in die es geht. In ihnen brennen bereits, wie ein inwendiges Feuer, Lechners von einem gutmeinenden Weltbild zeugenden Form- und Stilideen in Gestalt der zu einem markanten Schuppengewand arrangierten bunten keramischen Dachziegeln der Zsolnay-Keramikmanufaktur. Das 1896 eröffnete Museum für Kunstgewerbe ist Lechners erster bedeutender Monumentalentwurf, der dann, in Zusammenarbeit mit Gyula Pártos, willentlich aus der Umlaufbahn der historistischen Stilarchitektur ausbricht und bei seinem auf einen zustürzenden Fassadenzierrat die kunstreich archaischen Züge eines imaginierten Magyarentums zu einer inspirierten, schwierigen Verbindung von Unwahrscheinlichem ausgestaltet. Es ist jedoch nicht unbedingt so, dass Lechners Genie den Entwurf ganz durchdringt, ihm immer die Elemente seines Werks gehorchen würden. Vielmehr entwickelt das Museum für Kunstgewerbe eine definierte, und doch leicht unsortierte Wirrnis, was dazu führte, dass der Bau »von den Pestern, die in ihrer Boshaftigkeit den Wienern kaum nachstanden, als ›Palast des Zigeunerkaisers‹ verhöhnt wurde.«116 Der Blick bricht sich an der burgartigen Fassadengestaltung, deren auf die Traufenfriese zulaufende Gliederungen durch zackenbogige Fenster und flächigem Dekor aus Jugendstilkeramiken mit Pflanzenbemalungen irritiert werden. Darüber türmt sich eine steile, mit Kuppeln gegliederte Dachlandschaft aus keramischen grünen Biberschwanzziegeln mit zitronengelben Rautenmusterungen auf, die gelbe Palmettenverzierungen, Lanzen und ein Laternenaufbau als Abschluss der Hauptkuppel veredeln.
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Obwohl Lechner selbst politisch dem Konservativismus zuneigte, und ihm »dieselbe ›mittelalterliche‹ Lebensbetrachtung wie de[m] weit berühmtere[n] Katalane[n]« zugeschrieben wird, zeigte er sich ebenso, mit Parallele zum historistischen Renegaten Otto Wagner, als moderner Metropolenbewohner. »Gaudi war bekannterweise streng religiös, Lechner dagegen ein Bohemien, der als alter Herr auf der Caféterrasse gern mit den Straßenmädchen plauderte.«; ebd., S. 14 Moravánszky: 1988, S. 145 Ebd., S. 7
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Was dabei ambivalente Gefühle im Betrachter aufsteigen lässt sind die zu einer wirkungsstarken Ganzheitlichkeit verbundenen widerstreitenden Materialwirkungen. Eine mittelalterliche steinerne Archaik und Rauheit, die Lechner ja bereits bei seinem historistischen Frühwerk, dem Drechsler Palais, zu inszenieren verstand, auf der einen. Jugendstilistische Linien und Muster mit weichlichem Wesen auf der anderen – eine »textilmäßige Materialbehandlung«, bei der die Verzierungen an cifraszűr-Bauernmäntel und das »zeltartige[] Dach und d[ie] Kuppeln aus bunten emaillierten Ziegeln an die Teppichzelte des Orients«117 erinnern. Im Inneren des Museums für Kunstgewerbe bezog Lechner seine kulturellen Reserven hingegen aus dem Orientalismus, wollte »[e]twas Orientalisches dem Volk, das vor 1000 Jahren aus der Welt des Ostens nach Europa einwanderte.«118 Hinter den mit stilisierten Pflanzendarstellungen bemalten Keramikfliesen, die als »[s]ternförmige Bogen […] die teppichartige Decke des äußeren Foyers«119 rahmen, erinnern die zweietagigen Arkadengänge um die glasüberdachte Ausstellungshalle an einen indischen Hindu-Tempel mit Zackenbögen und wie Steinintarsien wirkenden Reliefs und Balustraden. Was Lechner allerdings mit dramatischer Farbigkeit gestaltete, wurde nachträglich übertüncht, um den Museumsflächen ihre Wucht zu nehmen. Das 1899 fertiggestellte Geologische Museum, Lechners zweiter staatlicher Repräsentationsbau, erscheint im Vergleich dazu nicht kalkulierter, aber harmonisierter. Dem Barock entlehnte Schweifgiebel, mit Klinkerummauerungen eingefasste Fenster mit Karniesbögen, geklinkerte Lisenen, die sich von den sandfarbenen Putzflächen abheben, fließende jugendstilistische Fensterteilungen und in den Putz eingelassene blaue Pflanzen- und Schneckenkeramiken, die auf die Gebäudefunktion verweisen, machen aus dem Geologischen Museum einen extravaganten, artifiziellen, aber weniger disharmonischen Bau. Wiederum ragt eine imposante Dachlandschaft auf, über »eine überaus bewegte, an die oberungarische Renaissancearchitektur erinnernde Attika. Hier erschien zum ersten Mal in endgültiger Form die von den Epigonen am meisten nachgeahmte Eigenheit des Lechnerschen Stils, die dekorative Backsteinbandornamentik, wodurch die verputzte Fläche so gegliedert wird, daß sie wie aus einem konstruktiven Skelett und ausfüllenden Feldern bestehend erscheint.«120 Die hexagonalen Dachziegel in Rautenmuster sind hell- und dunkelblau, akzentuiert mit steilen Pyramidendächern, die Zinnenkränze und eine von Atlanten getragene Erdkugel schmücken. Ödön Lechners drittes Budapester Meisterwerk ist die 1901 fertiggestellte Postsparkasse. Da die innerstädtische Kubatur kaum Spielraum einräumte, »widmete er sich […] noch stärker den zahlreichen architektonischen Details: So sind alle Fenstereinrahmungen geschmückt und ähneln Riesenschlangen aus dem südamerikanischen Ur117 118
Ebd., S. 142 Jahn/Székely: 1999, S. 15; Es haben die »indisch-persischen Wurzeln der Lechnerschen Architektur […] allerdings auch eine politische Komponente.« Er trotzte so der offiziellen ethnologischen Lehrmeinung, die Magyaren stammen aus dem Ural und seien mit den Finnen und Esten, damals Untertanen des Zaren, verwandt, was »von vielen als eine Demütigung der stolzen ›Hunnennachfahren‹ aufgefaßt [wurde]; eine morgenländische Tradition schien dem Publikum viel sympathischer als die der Tundrajäger und Ostseefischer.«; ebd., S. 57 119 Lehne/Pintér: 1990, S. 99 120 Moravánszky: 1988, S. 144
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wald. Bienen und Bienenstöcke sind eine Allegorie auf die Funktion des Hauses.«121 Bei den Verzierungsmotiven aus geschwungenen gemauerten Lisenen, und auf die Putzflächen gemalten Blumenranken und -sträußen erreichte Lechner die weitreichendsten Affinitäten zu seinen textilen Inspirationen aus cifraszűr-Stickmustern. Die repetitiv geschwungenen Dachkanten sind, wiederum in Anlehnung an Schweifgiebel, skulptural in markanten ockerfarbenen Zolnay-Keramiken eingefasst: »Die Giebelkeramik besteht aus einer Verschlingung von gewundenen Elementen reicher Phantasie, und einige tierköpfige Trinkschalen aus dem Schatz von Nagyszentmiklós spielen in ihr eine wesentliche Rolle. Denn die zwei als ›altbulgarisch‹ geltenden Tischgeschirre wurden in Ungarn für ›Attilas Schatz‹ gehalten.«122 Und an den Steildächern, die sich zu markanten Keilen und Pyramiden aufbauen, verschwimmen die typischen farbenprächtigen dunkelgrün glasierten Dachziegel mit gelben Rautenziermuster mit ockergelben Giebelschmuck aus Schlangenformen und Stierköpfen.123 Nach diesen Hauptwerken fielen Lechner und die Magyaros-Bewegung allerdings bei den staatlich-institutionellen Bauherren in Ungnade. Bei der 1907 fertiggestellten Liszt Musikakademie beispielsweise mussten Flóris Korb und Kálmán Giergl ihren an Lechner orientierten Erstentwurf zurückziehen und einen konservativeren Eklektizismus vorlegen.124 Dieser platziert lediglich einige jugendstilistische Details auf das traditionale barocke Palastschema mit übermächtigen Mittelrisalit, etwa zwei Genien des Bildhauers Géza Marótis als Dachskulpturen, die stark an die von Othmar Schimkowitz entworfenen Engelsfiguren an Otto Wagners Postsparkasse erinnern. Ein secessionistischer Oppositionsgeist herrscht einzig im Inneren der Liszt Musikakademie, das einen fantastischen Materialienprunk aus der Zsolnay-Keramikmanufaktur präsentiert. Zwar wurde im Blattgold der Friese und Zierleisten, der Opulenz der Marmorvertäfelungen nicht jeder schwere Baugedanke leicht, veränderte seine Gestalt, das Foyer mit dem bewunderungswürdigen Jugendstil-Mosaik »Die Kunst ist die Quelle des Lebens« von Aladár Körösföi-Kriesch und der Konzertsaal gehören jedoch zweifelsohne zu den »schönsten architektonischen Schätze[n] der Stadt […]. Jeder Zentimeter der Oberfläche wurde mit kostbarer Verzierung«125 versehen. Der internationalistische Jugendstil war in Budapest weniger Antipathien ausgesetzt, auch weil er zunehmend die Begierden, die sich in den Fin de SiécleGefühlshaushalt eingeprägt hatten, mäßigte, in ein Zartgefühl guter Manieren sublimierte, in eine generelle Wendung ins Dekorative, wie Schorske betonte: »Die Künstler, die sich in den neunziger Jahren unter dem Namen der ›Secession‹ tatenfroh an die Erkundung der neuen Wahrheit des Triebes gemacht hatten, wandten sich nun von
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Jahn/Székely: 1999, S. 68 Ebd., S. 19 »Mitten in der Stadt krallen sich Greifvögel, aus Steppenerde gebrannt, an den Dächern fest, Schlangen kriechen die Fliesenwände hoch, und noch sonst allerlei Getier der magyarischen Arche Noah erzählt von den Anfängen«; Templ, Stephan: »Jugendstil Ost«, in: Merian, 8/2002 124 »Die ersten Entwürfe für die Musikakademie zeugen noch vom Lechnerschen Geist, mußten jedoch geändert werden, als Lechner die Gunst staatlicher Kreise verlor. Das Kultusministerium, Auftraggeber der Musikakademie, weigerte sich, ein Bauwerk zu finanzieren, dessen Stil an Lechner erinnerte«; Jahn/Székely: 1999, S. 74 125 Heathcote: 1997, S. 144
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ihren beunruhigenden Entdeckung hinweg der bescheideneren und einträglicheren Aufgabe zu, das tägliche Leben und die häusliche Umgebung der Elite zu verschönern.«126 Ästhetischer Libertinismus – wie bei der weichen plastischen Art Nouveau, die Emil Vidor für das Bedő Haus aus Paris importierte, bei Istvän Nagys Lechner-Esprit beim Wohnhaus Szenes, bei dem die gusseisernen Geländer in den Laubengängen des Innenhofs als Schmetterlinge gestaltet sind, oder bei der metropolitanen Eleganz des Modern & Breitner Gebäudes von Sámuel Révész und József Kollár –, der zuvor weitgehend unwidersprochen als nonkonformistische, trotzige Geste durchging, wurde nun als kulturelles Distanzierungsmittel zum Statusträger einer bürgerlichen Distinktionsintelligenz. Er fügte sich in die Heuchelei und Verdorbenheit des Lebens, das ihn umgab. Feine jugendstilistische Verrücktheiten schmückten nun Bank- und Versicherungsgebäude. Etwa bei der Fassade des von gegensätzlichen Leidenschaften zerrissenen Bankhaus Török von 1906, bei der Henrik Böhm und Àrmin Hegedüs über einer Rasterfassade mit zeittypischen »Bay-Windows« ein feuerglühendes Jugendstilmosaik platzierten, Miksa Róths »Verklärung der Hungaria«, ein von Gesimseschwüngen, Girlanden und Maskeronen gerahmtes allegorisches Bildnis der von einem Ritterheer umringten mythischen Nationalheldin vor goldener Sonne. Grandiosität und Kitsch, Architektur und Skulptur »verschmelzen in der hohen Bekrönung der Fassade«127 . Auch Zsigmond Quittners Gresham Palast verfügt über die Fähigkeit, die stilistischen Gegensätze eines Entwurfs, der sich in der Gebäudegliederung im Umkreis der besten Traditionen des Historismus befindet, in seiner Detaillierung aber eine aufgeputschte jugendstilistische Stimmungslage ausdrückt, verhandelbar zu machen. Das 1907 als Firmensitz der britischen Versicherungsgesellschaft Gresham fertiggestellte Bürogebäude, das in der Nachkriegszeit zu einem Appartementgebäude umgenutzt wurde, und dabei langsam verfiel, bis zu seiner endlichen Wiederentdeckung als 2004 eröffnetes Luxushotel der Four Seasons-Kette, bezieht seine bewegende Energie aus Zsigmond Quittners eklektizistischer Koexistenzwerbung einer imperialen späthistoristischen Repräsentationstypologie, die im Gesamthabitus eine blasierte aristokratische Passivität auszeichnet, und jugendstilistischen Feinstrukturen, die nicht im Stande sind, autoritär zu wirken. Und aus der Trumpfkarte seiner städtischen Lage am Pester Donauufer, in der Achse der Kettenbrücke, dass der sandsteinerne Palastbau, dessen Mittelrisalit und Ecktürme mit all ihren vergoldeten Zierleisten und Mosaiken, Friesen, Maskeronen und Girlanden nicht nur in mildem Gegenlicht weich, verschliffen, fließend wirken, grandios ausspielt. Als »[e]in Gebäude, das wie ein Gebirge wirkt. Es schließt den Blick von der Kettenbrücke ab, als wollte es den Hügeln auf der anderen Seite antworten«128 . Auch beim Hotel Gellert und dem Gellertbad, zwischen 1912 und 1918 von Ármin Hegedüs, Artúr Sebestyén und Izidor Sterk geplant, wird der eklektizistische Monumentalismus einer konventionellen Großform durch das Ungezügelte, das der Jugendstil verspricht, bereichert. Wenngleich nur der Mittelrisalit der durchgearbeiteten Nordseite
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Schorske: 1982, S. 322 Lehne/Pintér: 1990, S. 76 Heathcote: 1997, S. 98
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mit seinen archaisch steinernen Kuppeln dem orientalistisch-romantischem MagyarosStil des Erstentwurfs entspricht, und man der reduzierten Donaufassade beinahe die Bitterkeit darüber ansehen kann, hier die eigenen Ideale vernachlässigt und gekränkt zu haben. Das Gellertbad wurde zur Institution, das mit berühmteste Jugendstilbad der Welt war hauptverantwortlich, dass das mit mineralisch angereicherten, heilkräftigen Thermalwasser untergrabene Budapest die einzige Millionenstadt ist, die auch als Bäderstadt bezeichnet wird. Die mit plastischen Zierstücken gestalteten türkisblauen Zolnay-Keramiken an den Wänden und Decken der Warmwasserbecken sind eine letzte Großleistung des Secessionismus und seiner Rebellion des Empfindens, bevor diese dem rationalistischen Geradsinn des Neuen Bauens wich. Die visionären Entwürfe Béla Lajtas der frühen 1910er hingegen zeigten bereits die Metamorphose des späten Jugendstils hin einer mit Adolf Loos und Josef Hoffmann vergleichbaren Protomoderne, die Eleganz, Rationalismus und Mäßigung zeigt. Sein 1911 eröffnetes Kabaret Parisiana vereint eine reduktionistische Gliederung, die etwas an eine Tempelfassade erinnert, mit konzentrierten secessionistischen Ornamenten. Es legt, wie Moravánszky betont, mit seiner »aus glattpolierten Marmorplatten gefugte[n] Fassadenverkleidung […] den Gedanken an die zeitgenössischen Wiener Strömungen nahe […]. Doch zieht sich hier quer über die Stirnwand ein schweres, reich ornamentiertes Bronzegesims, auf dem man zehn geflügelte Genien erblickt«, sodass »die geschlossene Fassadenfläche und die orientalisierenden Details den Eindruck einer eigenartig düsteren, nahezu bedrohlichen Zeitlosigkeit erwecken.«129 Allgemein schuf der Budapester Jugendstil kein Aposteltum. Im Unterschied zu den Wiener Secessionisten gruppierten sich die ungarischen Jugendstilarchitekten auch nicht um einen Künstlerverein oder eine Zeitung, und verfügten auch nicht über maßgebliche publizistische Unterstützer. Ein Art Zusammenschluss bildete lediglich die nächste Architektengeneration der nationalromantischen Fiatalok-Gruppe (»Die Jungen«) um Károly Kós, Dénes Györgyi, Dezsö Zrumeczky und Lajos Kozma. Auf diese Absolventen der Budapester Technischen Universität, die weniger weltläufig eingestellt waren als die im Ausland ausgebildeten Architekten vor ihnen, wirkte zwar der Emanzipationshorizont der Arts and Craft-Lebensreformbewegung, sie verpflichteten sich allerdings weit unmittelbarer der traditionellen Architektur Siebenbürgens, des magyarischen Stammlandes. Gegen eine perspektivische Öffnung der Volkskunst zur Moderne opponierten sie und »brachten als (ungerechtes) Argument gegen das Werk Ödön
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Moravánszky: 1988, S. 112; Erst 1919 wurde der Nachtclub in ein Kabarett umgebaut, József Vágó schuf hierfür ein zeittypisches Art Déco-Interior. Der mit Loos befreundete Lajta operierte bei dem Rózsavölgyi-Geschäftshaus und der Handelsschule, beide 1912 fertiggestellt, bereits sehr deutlich mit den Ideen der Protomoderne. Die Verbindung von Loos und Lajta und einige Parallelentwicklungen in Wien und Budapest dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass »die frühmoderne Baukunst in beiden Hauptstädten gleichzeitig und wesentlich unabhängig voneinander geboren wurde […]. [D]ie früher vorhandene asymmetrische Beziehung zwischen Vorbildgeber und Nachfolger hörte auf zu existieren: Nunmehr blickten sich zwei gesonderte Kulturen an.«; Sisa: 2008, S. 233
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Lechners vor, daß dieser seine Ornamente aus den Büchern József Huszkas, sozusagen aus zweiter Hand, nahm.«130 Die Fiatalok-Architekten verband mit dem Jugendstil allerdings keine ästhetischen Gemeinsamkeiten, sie teilten lediglich den reformerischen Geist und die entwerferische Fertigkeit, aus einer eindringlichen Konzentration von Form und Stoff Bilder von ungewöhnlicher Deutlichkeit zu kreieren. Wenngleich ihr bereits damals anachronistischer Rückgriff auf vorindustrielle Zeiten, ihre Paraphrasierungen einer niemals wiederkehrenden vernakulären Bautradition eine Historie prätendierten, die teilweise nicht weniger künstlich und inauthentisch wirkt wie die vom Gegenteil überzeugten FolkloreNeuformungen Lechners.131 Die lauernde Bedächtigkeit, die Károly Kós mit gaubenverzierten Steildächern, dunklen hölzernen Laubengängen und Rustika akzentuierten Wohnbauten in der Budapester Gartenstadt Wekerle-Siedlung ausstrahlen, wirkt wie viele andere nationalromantische Traditionalismen dieser Jahre arrangiert – inauthentisch. »Jede Stadt hat ein Geheimnis. Das von Budapest ist seine Falschheit. Etwas wie ein übler Schleier liegt auf dieser Stadt, als wäre sie eine drittklassige Tänzerin« 132 Der geschichtliche Umschlagspunkt des Ersten Weltkriegs führte auch in der Budapester Architektur zu einem Einschnitt. Die bereits zu einem neuen Leben, einer neuen Welt gehörenden Moderne konnte in den 1930ern, obwohl sie vom erzkonservativen Horthy-Regime wegignoriert wurde, ihre Vorstellungen, die Welt durch Funktionalität und Technik zu befreien und den Puls der Metropole weiter zu beschleunigen, bei einigen avantgardistischen Bauwerken verwirklichen. Wenngleich die Fortschrittsfreude der Moderne ökonomisch und politisch freilich an empfindliche Grenzen stieß, da die von der reaktionären Staatsmacht unbegriffen gebliebene künstlerische Avantgarde des Radikalismus beschuldigt und schäbig behandelt, im besten Fall widerstrebend geduldet wurde. Angesichts der Unfähigkeit der Reaktionäre, die Realität aufzunehmen, ihrem anachronistischen, nicht einmal schön angeratenen Neobarock, mit dem sie zur grimmigen Befriedigung ihrer verwirrten Restaurationsideologie weiterbauten, wurden die optimistisch orientierten Modernen wenn nicht versehentlich, so doch unvermeidlich zu Revolutionären, die mit ihren Innovationen auf den Gebieten der Form, der 130 Moravánszky: 1988, S. 18; Die Fiatalok-Architekten »verstanden nicht, daß es gar nicht in Lechners Absicht lag, die volkstümliche Architektur in die Stadt hinüberzuretten, daß er vielmehr unter Verwendung der Ornamente der Volkskunst eine moderne und großstädtische, aber nationale Architektur schaffen wollte. Die Verwendung farbiger Keramikverkleidungen begründete er mit praktischen Motiven, mit ihrer Widerstandsfähigkeit gegen verschmutzte Großstadtluft«; ebd., S. 157 131 Die Artifizialität des Verweises ist das eine, das andere, Templ streicht dies hervor, allerdings die unmittelbarere nationalistische Zuschreibung altsiebenbürgischer Architekturzitate: »Der [Lechnersche] Stil der Fabeltiere und Zeltdächer erzählt von den Träumen nationaler Herkunft, kann eine nahezu religiöse Dimension annehmen, aber auch als bildungsbürgerliches, entpolitisiertes Steckenpferd gesehen werden. Siebenbürgen und seine Geschichte hingegen sind klar politisch besetzt: […] Bis zum heutigen Tage ist Siebenbürgen den Ungarn Synonym und Platzhalter für Freiheitsbestrebungen.«; Templ: 2002 132 Esterházy, Péter: »Le città invisibili (Die unsichtbaren Städte)«, in: Wilhelm Droste/Susanne Scherrer/Kristin Schwamm (Hg.), Budapest. Ein literarisches Porträt, Frankfurt a.M.: Insel 1998, S. 97
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Technik oder des Materials der Unbesonnenheit und Verlogenheit des Horthy-Regimes tatsächlich etwas entgegenzusetzen hatten. Nicht zuletzt, weil die Moderne von den Kümmernissen der Zeit, von der Stimmung tiefer Niedergeschlagenheit, die sich seit der Trianon-Erfahrung in die nationale Mentalität eingegraben hatte, nicht umkreist und begleitet gewesen zu sein scheint. Im Gegenteil, ein heftiges Sehnen liegt in der Reinheit der Formen. Die argumentationstragende »Ehrlichkeit, Gesundheit und Geradlinigkeit wurden die Ideale, die [auch] die schwülen Träume der Jugendstil-Ästheten verdrängten«133 , wie es bei Pevsner heißt. Die ungarischen Pioniere des Neuen Bauens wie József Fischer, Farkas Molnár, Lajos Kozma oder János Wanner entwarfen ikonische Häuser im Stil der Internationalen Moderne. Mit wenigen Ausnahmen allerdings hauptsächlich Villen außerhalb des Stadtzentrums. József Fischers Villa Zenta, ein mit einem halbzylindrischen Treppenhaus und einer eleganten Glasfläche akzentuierter Kubus, Gyula Rimanóczys Villa Szakáts mit ihrer zungenartig auskragenden Terrasse, die geschwungene, leicht an die Art Deco angelehnte Pensionskasse Manfréd Weiss von Béla Hofstätter und Ferenc Domány oder der Purismus des Appartementblocks Fenyö von Máté Major und Pál Detre zeigen mit am eindrücklichsten, wie es dem ungarischen Funktionalismus gelang, auch in diesen Zeiten einer verschärften Krise die Dinge zu Ende zu denken. Die Staatsarchitektur lebte hingegen weiter in gestrigen Zeiten, auch wenn sie vereinzelt den für ihre Herrschaftssicherung favorisierten autoritätsgläubigen Neobarock mit Gewinn heranzuziehen verstand. Speziell bei der Erweiterung des palastartigen Széchenyi-Heilbads im Stadtwäldchen. Bereits das 1913 eingeweihte, nach Graf Széchenyi benannte Badehaus, das Thermalwasser aus einem beinahe 1000 Meter tiefen artesischen Brunnen speist, war ein architektonischer Rückständler. Im Entwurf des Späthistoristen Győző Czigler schwingen verschiedene Begabungen zu einem Mischtemperament aus Neobarock und Neorenaissance zusammen, die den Bäderarchitekturen Karlsbads und Marienbads ähnelt. Bei der wirkungskräftigen Hauptfassade wird der Blick durch drei akzentuierte barocke Kuppelbauten von Detail zu Detail getrieben – Cziglers eklektizistische Konzentration der Formen zeigt Blendportiken, türkis patinierte Reiterstatuen, jugendstilbeeinflusste Tambourfenster und dunkelgraue Barockkuppeln mit Laternenaufsatz und Girlandenschmuck. Der Ton ist gesetzt, und doch leicht, selbst bei den unlebendigeren Stellen vorgeformtes Dekor. Auch das dann zwischen 1924 und 1927 errichtete Freibad, das Imre Francsek gestaltete, weist jede künstlerische Ungewissheit von sich. Francsek umfasste das Bestandsbad und die gewaltigen Außenbecken dreiseitig mit einer Spange aus verglasten Arkaden mit Balustraden-Abschluss und einer Tribüne, die ebenfalls überdachende neoklassizistische Rundbogenarkaden und Balustraden ausbildet. Diese für die Kurbäder des 19. Jahrhunderts typischen palastarchitektonischen Repräsentationsstrukturen, die in ihrer Wirkung überdies durch den Fassadenputz in Habsburgergelb (Schönbrunnergelb) verstärkt werden, bilden in ihrer Rückwärtsgewandtheit einerseits eine versuchte und gelungene Übung, die Zeit anzuhalten. Andererseits ist Francseks Umgang mit den absolutistischen Stilhypotheken aber viel zu bewusst, ist das Széchenyi-Heilbad viel zu
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imperial, weltstädtisch, um dem vom Horthy-Regime verfestigten provinzialistischen Weltbild zu entsprechen, ihrer in Antisemitismus gehüllten Städtefeindlichkeit. Generell ließen sich die ungarischen Reaktionäre bei Staatsaufträgen allenfalls auf eine Halbdistanz zur Moderne ein. Etwa über den Umweg des italienischen Rationalismus, deren Bauideen sich aufgrund ihrer ideologischen Verbundenheit mit dem Faschismus Mussolinis anboten. So bei dem 1938 fertiggestellten Madách Wohnblock von Gyula Wälder, einem mit expressionistisch gegliederten Klinkerfassaden gestalteten Monumentalbau mit Ehrenhof, Arkaden und einem triumphbogengleichen Tor. Ebenso nistete sich Modernes in den vordergründig konservativen Eigenwilligkeiten der Nationalromantik ein. Wie bei István Medgyaszay, einst Mitarbeiter Otto Wagners, der nach 1900 in einem leicht orientalisierten Secessionsidiom (die Petőfi-Theater in Sopron und in Veszprém) begonnen hatte, zugleich aber auch traditionale Architektur in Stahlbeton nachbildete (Kirche Rárósmulyad in Mulá, Slowakei). Bei Medgyaszay lebten MagyarosImpulse fort. Sein Budapester Baár-Madas Gymnasium von 1928 ist so nur im ersten Eindruck »konservativ und angemessen für seine konservative Zeit, […] bei näherer Betrachtung wird die Exzentrik der Details, der Anlage der Volumina und Formen deutlich«134 Den kulturellen Immobilismus und Provinzialismus der Horthy-Epoche konterkarieren die von Lechner übernommenen Zackenbögen und mit Zwiebelkuppeln verzierten Gauben gleichermaßen wie industrielle Betonfertigteile, die Medgyaszays künstlerische Bewegungsfreiheit bezeugen. Es ist wohl diese gewitzte Inkonsequenz, sich irgendeiner Ordnung einzufügen, gewesen, die Klaus Mann, der sich 1937 in der Stadt aufgehalten hatte, dem »sozial rückständigen, korrupt und terroristisch regierten Budapest« gegenüber nachsichtig sein ließ. Er beschrieb in zupackenden Betrachtungen »eine lustige, belustigende Stadt, greller Balkan mit Resten altösterreichischer Kultur; […] nicht ohne provinziell-idyllische und ehrwürdig-pittoreske Züge; reich an Gegensätzen, mit krasser Armut neben anrüchiger Eleganz, orientalisch wirkende Bettlergestalten neben blendend zurecht gemachten Kokotten und Komtessen;«135 Eine Stadt, in der katholische, landadelige Reaktionäre eine faschistische Diktatur betrieben, die viel auf alte aristokratische Manieren hielt136 , in der sich zugleich aber ein »verbuhlter Pfuhl« ausbreitete, ein »OperettenBabel«137 .
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Heathcote: 1997, S. 56 Mann, Klaus: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 501 »[E]in Proust müsste kommen, um diesen mondänen Betrieb mit seinen Reizen und mit seinen Lächerlichkeiten, mit seinen Intrigen, seiner Etikette, seinem verspielten Ernst im großen Epos zu schildern. Nirgends scheint sich die herrschende Schicht so sicher er ihrer Situation zu fühlen wie hier, in einem verarmten Lande, dessen feudaler, klerikaler und industrieller Reichtum von ein paar hundert Familien mit einer Zähigkeit ohnegleichen gehalten wird.«; ebd., S. 90 Ebd., S. 502; Der aus Nazideutschland geflüchtete Klaus Mann unternahm in einer Budapester Klinik einen Versuch, von seiner Opiatsucht wegzukommen: »Es war Faschismus, nichts anderes was ich in Ungarn an der Herrschaft fand […] Aber irgendwie neigte man dazu, eben die Greuel, um derentwillen man Deutschland verlassen hatte und Italien mied, in Budapest nicht ganz ernst zu nehmen. Läßt solche Toleranz auf die essentielle Frivolität meines Charakters schließen oder erklärt sie sich vielleicht aus dem frivolen Charme, dem Operetten-Klima der ungarischen Kapitale?«; ebd., S. 501
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Der Zweite Weltkrieg hat Budapests Stadtstruktur dann schlimme Verwundungen zugefügt: »70.000 Gebäude waren beschädigt, die Brücken von den abziehenden deutschen Truppen gesprengt, der Königspalast ausgebrannt, die Innenstadt ein Ruinenfeld.«138 Die diskretionäre KP-Nachkriegsdiktatur betrieb den Stadtwiederaufbau und -umbau allerdings sehr phlegmatisch, bis in die 1960er herrschte in Budapests Straßen »eine Atmosphäre des stillen, schrecklichen Verfalls; gerahmt war das Ganze von pockennarbigen Wänden der Wohnhäuser aus anderen Zeiten, die immer häufiger zusammenbrachen. Den einst herrlichen Blick auf die palastähnlichen Bauten und Hotels entlang oder Donau gab es nicht mehr. Die Kais wiesen statt dessen leere Häuserzeilen und mit Trümmern übersäte Grundstücke auf.«139 Die wenige Neubauten wurden in der Ästhetik des stalinistischen Klassizismus ausgeführt, mit dem die kommunistische Politisierungsdoktrin einer totalitären Durchsetzung der sozialistischen Lebensnorm, die den Marxismus-Leninismus als eine mit Ausschließlichkeitsanspruch diktierte Weltanschauung auswies, durchgesetzt hätte werden sollen. Parallel gab es seit in den 1940ern Weiterführungen des Funktionalismus der Zwischenkriegszeit, Vorboten einer generellen technokratischen Entideologisierung in den 1960ern, auch wenn die Bauten weiterhin die Embleme von Staat und Partei schmückten. Der Kádárismus »stülpte Ungarn die Narkosemaske der Entpolitisierung über«140 , sein Geschick bestand genau darin, sich aus pragmatischen Überlegungen heraus zu mäßigen und eine teilprivatisierte Wirtschaft und eine teilpluralisierte Gesellschaft zuzulassen. Mit ihm wurde in den von der Partei gelenkten staatlichen Planungsinstituten der Funktionalismus zum baubürokratischen Maßstab. Und dies zeigte sich nicht nur in den Verdrießlichkeiten der Plattenbausiedlungen, die sich nach den typischen funktionalistischen Baustandards in den Stadtperipherien ausbreiteten, und in einer Westästhetik aus zweiter Hand. Einer provinziellen Moderne und einer Konsumgüterproduktion. In dem, was Enzensberger als »Farbenblindheit der Diktatur« bezeichnete, also »die Ostblockmöblierung der Kioske, Amtsstuben und Hotelhallen, der brutale Ersatz, die kasernierte Sturheit, die unterentwickelte sowjetische Ästhetik, das Schäbige einer Gesellschaft, in das Neue immer schon als greisenhaftes Edikt zur Welt kommt.«141 Stilsicher wie die Staatssicherheit in der Kunstlederjacke. Bei einzelnen staatlichen Repräsentationsbauten der 1960er bis 1980er gelang Budapest durchaus eine Art architektonisches Embargogeschäft, das die üblichen Primitivverschnitte international gängiger Architekturmuster hinter sich ließ. So setzen nicht wenige Vorzeigeentwürfe dieser Ostmoderne – wie Zoltán Boross‹ Wohnhochhaus Lottóház, István Czeglédis Metro Station Mozkwa tér oder die bereits sehr späte, erst 1990 fertiggestellte Nachrichtenagentur MTI, bei der Csaba Virag sich die Technomoderne eines Richard Rogers bediente – heute retrofuturistisch besetzte Reize eingelöster Fortschrittlichkeit. Dies gilt auch für die spätmodernistischen Großhotels, die am Pester Donaukai platziert wurden. Diese hatten zwar sicher keine die Zukunft usurpierende Ästhetik anzubieten hatten, nicht einmal nach dem bescheidenen Geschmack der 138
Györ, Attila: »Architektur zwischen 1945 und 1990«, in: Arne Hübner/Johannes Schuler (Hg.), Architekturführer Budapest, Berlin: Dom 2012, S. 93 139 Lukács: 1990, S. 261 140 Jaenecke, Heinrich: »Als Ungarn brannte«, in: Merian, 8/2002 141 Enzensberger: 1987, S. 139
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Diktatur, aber immerhin transportierten sie eine Internationalität, für die westliche Hotelketten wie Hilton oder Intercontinental standen. Die Bauten dieser unideologischen Schule zeigen eine Ostmoderne, die die Kurve zum Optimismus, zum Positiven bekommt. Die Großformen des 1969 eröffneten Duna Intercontinentals, heute Marriott, und des 1981 eröffneten Forum Hotels, heute InterContinental Budapest, beide von József Finta, gliedern zeittypisch strukturierte funktionalistische Fassadensysteme mit von Glasbalustraden beziehungsweise Metalleinfassungen geführten Fensterbändern. Der Kubus des 1982 eröffneten Hyatt Atrium Hotels, heute Sofitel, von Zalaváry Lajos, das im Inneren ein ansehnliches John Portman-Atrium aufweist, ist durch technisierte BayWindow-Elemente gerastert. Wahrscheinlich blieben die Staatsbauten im Kádárismus aber im Ganzen auch darum verhältnismäßig unspektakulär, weil die Selbstherrlichkeit und Verkommenheit der herrschenden Eliten im Ostblock-Vergleich in Ungarn wenig ausschlug. Die Privilegiensysteme der Zentralverwaltungswirtschaft, die Milovan Djilas als Funktionärsdiktatur beschrieb, da »diese Bürokraten sich unweigerlich zu einer neuen Klasse von Eigentümern und Ausbeutern entwickelten«142 , blieben vergleichsweise unausgeprägt. Diesseits der politischen Ideologie der doktrinären Blocktreue gelang es der kádáristischen Machtelite, sich zu mäßigen. Es gab, wie György Konrád, der als illusionsloser Dissident mit Publikationsverbot die Schuldadditionen der Diktatur nirgends unterschlug, zugestand, »zwischen der Lebensweise der Elite und der gesellschaftlichen Mehrheit keinen skandalösen Unterschied«143 . Er sah dies im kleinbürgerlich-kleinbäuerlichen Habitus der Apparatchiks begründet: »Der Charakter der ostmitteleuropäischen Führungsschicht wird durch die volkstümliche Intelligenz der ersten Generation bestimmt. Die Angehörigen dieser Führungsschicht sind zu linkisch, um einen schillernden Luxus zu entfalten, alles Besondere betrachten sie mit dem Widerstreben des kleinen Mannes. Für ihr Verbalten ist eher die Bauernschläue charakteristisch als der Herrendünkel. […] Die Straßen sind voll von Bauern in städtischer Kleidung.«144 Im Kádárismus hat Budapest »auf einzigartige Weise glitzernde Kreativität mit grauem Konformismus verbunden«, wie Christian Schmidt-Häuer 1986, drei Jahrzehnte, nachdem russische Panzer den Volksaufstand erstickt hatten, schrieb. »Goldverzierte Folklore-Geschäfte, neue Kandelaber – aber in den gigantischen Hinterhöfen, den bröckelnden Filialen des Feudalismus, wo heute die Privatunternehmen nisten und 142 Djilas: 1963, S. 51; Der Partisanenkommandeur und spätere Minister im kommunistischen Jugoslawien, der für seine Analysen der Machtanwendungen der neuen Besitzerklasse wegen »parteiwidrigen Verhaltens« insgesamt neun Jahre in Gefängnissen seines einstigen Kampfgefährten Marschall Tito verbrachte, beschrieb, wie mit der Aufhebung des kapitalistischen Eigentumsbegriffs die Besitzprivilegien in die Gewalt der Parteifunktionäre fielen: »Das Monopol, das die neue Klasse im Namen der Arbeiterklasse über die ganze Gesellschaft errichtet, ist hauptsächlich ein Monopol über die Arbeiterklasse selbst.«; ebd., S. 54 143 Konrád: 1985, S. 68; »Die politische Bürokratie läßt eine maßvolle Bereicherung der Technokratie sowie der übrigen gesellschaftlichen Gruppen zu, die an der Schattenwirtschaft beteiligt sind. […] Die kommunistische Führung erreicht – toleriert – damit eine gewisse bürgerliche Entwicklung. Es ist ihr gelungen, den Großteil der Intelligenz unter Wahrung des Rechts auf Murren in die Atmosphäre des moralisierenden oder akademischen, jedoch unbedingt vorsichtigen Reformismus einzubeziehen.«; ebd., S. 68-69 144 Ebd., S. 145
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werkeln, zerfallen die Engel, wachsen die Schutthaufen, lockern sich die Gitterstäbe im losen Sandstein, erblinden die Fenster, verblassen die Schaukästen.«145 Diese Spuren städtischen Verfalls fügten sich zu einem melancholischen Gesamtbild. Die lustgewährende Fin de Siécle-Stadtästhetik lag in Agonie, aus Prunkbauten wurden Depressionsfiguren. Enzensberger: »Die Kreuzblumen und Fialen der Neogotik, die Pfauen und Lianen des Jugendstils: alles bröselt, zeigt Risse, schwärzt sich mit Ruß. Die Weintrauben und Füllhörner aus Gips, die Harfen und die Löwenköpfe sind zerbrochen, die Engel und die Jungfrauen stehen als Torsen da. Aber sie stehen da. Der Fortschritt, dieser große Bulldozzer, hat sie nicht fortgeräumt.«146 Das Budapest unter dem Sowjetstern war einfach wirtschaftlich zu schwach auf der Brust und ideologisch zu gleichgültig, um sich seiner Fin de Siécle-Architekturjuwelen anzunehmen. Sei es, um sie zu sanieren, oder um sie, wie unter dem Investitionsdruck der Wirtschaftswunderaufbaujahre des Westens, abzureißen, um Kaufhäusern und Stadtautobahnen Platz zu machen. Der kommunistischen Funktionselite, die Logik und Gesetzlichkeit der Geschichte auf der eigenen Seite zu wissen meinte und in den Kunstschöpfungen der Belle Époque nur Verschwendungsexzesse der überkommenen Bourgeoisie – »der Inbegriff des Bürgerlich-Dekadenten, des Verfalls, der Kraftlosigkeit, des Ästhetizismus. Die Todsünde wider Realismus, Optimismus, Heroismus schlechthin«147 – erkennen wollte, fehlte politischer Wille und ökonomische Möglichkeit. Budapest blieb im Kádárismus eine ambivalente Stadt. Einerseits verharrend in kränklicher Ruhe, denn der Sozialismus bedeutete, wie Schlögel konstatiert, »ein halbes Jahrhundert Abschluß nach außen, Demoralisierung, Verlangsamung aller Lebensprozesse«, da der Sozialismus »unterforderte«, das lethargische Staatshandeln die Stadt herunterwirtschaftete und eine verhärmte Wirklichkeit hinterließ. Andererseits trieben die Schattenwirtschaft und -kultur nicht nur eine Gaunermentalität an, sondern ebenso die Kunst, sich in Improvisation zu üben, widerständig zu denken, innere und äußere Widerstände zu überwinden.148 Diese zeigte sich auch an einem von der Parteilinie abweichenden, als Signal einer Liberalisierung interpretierten ungarischen Architekturphänomen, das nicht unterschlagen werden darf, auch wenn es in Budapest selbst nicht Fuß fasste: die völlig isoliert in der Zeit stehende Organische Moderne um Imre Makovecz. Ein regionalistischer Expressionismus, der sich gegen den als Zeichen einer durchherrschten und entfremdeten Ordnung gedeuteten sowjetkommunistischen Modernismus wendete, und dementsprechend von diesem im Jargon der Diktatur als ein perfides, feindliches Element betrachtet wurde.
145 Schmidt-Häuer: 1986 146 Enzensberger: 1987, S. 128 147 Schlögel: 2005, S. 90; »Die dogmatische Ignoranz grob gestrickter Kommunisten hat seltsamerweise mehr Geschichte vor dem Verschwinden bewahrt als die ignorante Herrschaft des dynamischen Geldes in den westlichen Ländern, wo blinder Bauboom jeden Blick zurück haushoch vermauert hat.«; Droste, Wilhelm: »Ungarn, offenes Land«, in: www.pesterlloyd.net 148 Budapest war, so Schlögel, »zum Ort der Subversion geworden. Von dort waren die Klopfzeichen ausgegangen, die man überall in Europa nach und nach vernahm. Budapest war wieder zur mitteleuropäischen Metropole geworden, noch bevor es Hauptstadt eines souveränen Landes geworden war.«; Schlögel: 2005, S. 248
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Die das Erbe der Nationalromantik weiterführende, jedoch ebenso die Rudolf Steiners Esoterik rezipierende Organische Moderne, die in den 1980ern im Kontext der Postmoderne als geschichts- und materialbewusster Regionalismus auch internationale Beachtung fand, schuf eine ähnlich unparteiliche Architektur wie einst der MagyarosStil, und verfügte mit Imre Makovecz über eine mit Ödön Lechner vergleichbare geniale Alleingängerfigur. Bei seinen Meisterwerken wie der Heiligen Geist Kirche in Paks, der Kirche St. Stephan in Százhalombatta oder dem Ungarischen Pavillon der Expo 1992 in Sevilla fand Makovecz zu seiner Individualsprache, die Holztragwerke zu bauchigen, faltenschlagenden Dach- und Turmplastiken mit schwarzen Schieferschindeln skulpturierte, die gleichermaßen an vernakuläre siebenbürgische Bautraditionen und Antoni Gaudi erinnern. In Budapest baute Makovecz, sieht man von einigen Privathäusern ab, allein die Aufbahrungshalle des Friedhofs Farkasrét, bei der geschwungene hölzerne Gewölberippen anthropomorphisierend einen menschlichen Brustkorb formen. Das war 1975. Erst zwanzig Jahre später, in der scheinbar ideologiefreien Unbestimmtheit der 1990er, konnte Ervin Nagy, einer seiner Mitarbeiter, mit der Wohnhausanlage Hattyú ház ein größeres Werk der Organischen Moderne in Budapest errichten, bei dem sich über einem archaischen kalksteinernen Burgfragment und artifiziell gefügten plastischen Steinarkaden verzeihliche, weil kunstvolle Pervertierungen des ungarischen Jugendstilerbes aufrichten – mit Holzverkleidungen gegliederte Erker- und Fenstervertikalen, die mit wuchtigen Gauben in die typischen schalenartigen Schindeldeckungen treiben.149 Darüber hinaus gelang es der Organischen Moderne jedoch nicht, sich in dem von kapitalistischen Impulsen getragenen städtischen Strukturwandel, den die Ausweitung des Marktes in Budapest nach 1989 einleitete, zu etablieren und an dem immensen Zuwachs an Planungsaufträgen für die nun aus dem Klammergriff des Staates und der Partei befreite ungarische Architektenschaft zu partizipieren. Sie eignete sich einfach wenig für nun hochgezogenen Developerprojekte im Zeichen neoliberaler Spekulation, die nicht selten entweder zu kommerzmodernistischen »Nicht-Orten« degenerierten, die den systemischen Eigensinn des Ökonomischen ebenso wie die Lebenslügen der neuen Konsumentengesellschaft bloßstellen, oder zu postmodernen Überdrehtheiten, die sich so geben als sei die Metropole mit ihrem Geschick versöhnt, wenn die Belle Époque zitiert werde. Die nicht nur stadtästhetische Kehrseite der kapitalistischen Investitionsdynamik, die unerträgliche Banalisierung urbaner Räume durch Citytainment-Infrastrukturen, 149 Makovecz selbst entwarf, außerhalb der Stadtgrenzen, in Piliscsaba, das 2001 eingeweihte Bildungshaus Stephaneum am Campus der Katholischen Universität. Hier erschien Makovecz allerdings wie einer, der kein Ende findet. Er wechselte in einen eher genierlichen Postmodernismus, der wie Moore oder Venturi ironische Verfremdungsgesten setzt, indem er klassizistische Kuppeln ankippt, Lisenen und Giebel verschneidet und künstliche Mauerrisse inszeniert. Als Einbruch des Irrationalen bleibt das aber ähnlich unverständlich wie die Launigkeit der gläsernen Eingangshalle, in die Sagrada Familia-Zitate in Gestalt skulpturaler Baumkronen eingestellt sind. Ein anderer später Entwurf von Makovecz im Budapester Umland zeigt hingegen die typologischen Zerreißpunkte seiner Architektur: das 2014 fertiggestellte Fußballstadion Pancho Arena des subventionierten Retortenvereins in Felcsút, der Heimatgemeinde Viktor Orbáns, wo sich eine geschwungene Dachkonstruktion aus kelchförmigen Holzträgern und Schieferschindeln über die Tribünen spannt.
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durch ortsbezogen indifferente, homogenisierte Shopping- und Touristenofferte, durch die nun auch in Budapest die Verschandelung ein westliches Ausmaß erreicht, läuft freilich parallel zu einem zu mindestens stadtästhetisch günstigen Restaurierungsungestüm der historischen Stadtsubstanz. Man sieht, wie »die Mechanismen der freien Marktwirtschaft ihr Werk verrichten, […] auch hier Geschichte saniert ist, […] Budapest sich reduziert auf die Andrássy út und Meineide schwört auf die Echtheit all ihrer Posen.«150 Auch wenn diese Musealisierungsmaßnahmen, die pittoresk aufgehübschten Quartiere einen touristisch resonanten »Ausstellungscharakter« verleihen, mit Ada Louise Huxtable dazu führen, dass »the authentic, noncommercial commodity – objects, activities, or images – becomes commodified indirectly through absorption into the commercial setting where everything else is for sale.«151 Budapests Fin de Siécle-Stadtpalais wurden saniert, man sieht der Stadt die Inventionen, auch die Subventionen an. Internationale Markenware staffiert die Schaufenster der Einkaufsstraßen. Hippe Partymeilen sind entstanden für die Invasion an ausländischen Urlaubsgästen, die sich in der Tiefe jener Nacht verlieren, die in der Clubkultur der Abbruchhäuser im früheren Judenviertel des 7. Bezirks auf sie wartet. Als ausländischer Besucher ist es – nicht nur mitternachtswärts, wenn der Aperol der Happy Hour seine Arbeit tut – daher leicht, sich der Stimmung im Land zu entziehen, das Leben der Stadt nicht von innen zu betrachten. »Die Abendsonne taucht die Schöne in ein mildes, alles verzeihendes Licht. An der Oberfläche ist hier alles tolerant, multikulturell.«152 Dabei kann man am Ungarn der 2010er Jahre eine fatale Entwicklung festmachen. In der Beschneidung von Parlamentarismus und Rechtstaatlichkeit, ihrer Degradierung zum Marionettenspiel einer anmaßende Regierung, im Wiedererstarken eines minderheitenfeindlichen Nationalismus, eines alten Arsenals faschistischer Ideologien und in der fortschreitenden Deformation der politischen Diskurse durch Populismus und Hetze zeigt sich, dass eine Demokratie nicht alles aushält. Wie schnell sich ein demokratischer in einen autoritären Staat verwandeln kann. Wie schnell ein autoritäres Klima eingerichtet ist, in dem durch Einschüchterung und Entmutigung engagierter Milieus die deliberativen Reste der politischen Öffentlichkeit erodieren. Ungarn hat »eine Art Gramscianismus von rechts« etabliert, bei dem von der Gegenwart enttäuschte Reaktionäre verbissen um Restauration kämpfen und an das patriotische Temperament eines in Demokratie ungeübten Landes appellieren, »um so die Bereitschaft zu fördern nationale Schließung, autoritäre Unterordnung und ethnische Homogenität hinzunehmen.«153 Die Demokratiefähigkeit der ungarischen Nation wird am Widerstand der Vertreter liberaler Gesinnung hängen, die sich gegen den Herrscherhochmut Viktor Orbáns und seiner von korrupten Emporkömmlingen beherrschten Clique, gegen den intellektuell in seiner Kleinheit und Primitivität triumphierenden Fidesz-Nationalismus und das engherzige Provinzlertum des Joppik-Extremismus stellen. Nicht nur Péter Nádas
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Droste: 1998, S. 47 Huxtable: 1997, S. 96 Follath, Erich: »Hauptstadt der Alpträume«, in: Der Spiegel, 41/2010 Brumlik, Micha: »Altes Denken, neue Rechte«, in: Jungle World, 31/2018
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zeigt, wenn er sich zu bangen Fragen der Nation äußert, jedoch wenig Optimismus. Denn die Bevölkerung tut sich schwer, in ihre demokratischen Pflichten hineinzufinden, sie verkriecht sich lieber im Milieugefühl eines kleinmütigen Spießertums, dass hinter dem politischen Rechtsschwenk Empörtheit und Opportunismus verbindet: »Die ungarische Gesellschaft braucht die Gereiztheit auf‹ den verschiedensten Ebenen. Auf Gereiztheit basiert die Kultur der Entrüstung, der Unzufriedenheit, des Jammerns und Nörgelns […]. In Wahrheit gibt es keine Regierung, mit der die ungarische Bevölkerung nicht auskäme, Opportunismus hat in Ungarn keine Grenzen, und deshalb gibt es auch keine ungarische Regierung, die sie nicht hassen, hintertreiben, sabotieren, durch geheime Bewegungen demontieren und funktionsunfähig machen würde«154 . Und die innere Zerrissenheit, die Identitätssuche, die sich hinter dieser Leidensmiene der Gereiztheit und Agonie auftut, wird wahrscheinlich nicht geringer, wenn man um ihre Alltagssymptome ein Narrativ markierender Inauthentizität spannt, die eine Entgarantierung der nationalistischen Staatsbildungsideologie und des ungarischen Hurra-Patriotismus anstiftet, eine rezeptionsseitige Begreifensmöglichkeit von depotenzierender Kontingenz und Opposition eröffnet. Jedoch ist eine solche Politik anti-essentialistischer Dekonstruktion, eine Authentizitätskritik im emphatischen Sinn, dennoch eine progressive Möglichkeit, um sich gegen den gereizten Rechtpopulismus zu wehren, der Empörungen und Gegenempörungen in forcierten Wellenbewegungen immer schneller kreisen lässt und alle Artikulationsskrupel für Chauvinismus und Feindseligkeit kassiert.
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Nádas: 2018, S. 175
8 Tiflis
»Ein russisches Marseille ohne Wasser: das wilde graue Tor des Südens« 1 Tiflis oder Tbilisi, wie die Hauptstadt der Kaukasusrepublik Georgien in der Landessprache heißt, ist eine Stadt, die sich nicht in reinen Umrissen zeichnet. Sie ist eine sybaritische Kulturkapitale mit Meisterwerken der Architektur, einer Kunst, die in ihrem eigenen reichen Licht erstrahlt. Sie liegt malerisch, in landschaftlich begünstigter Lage, ist eine Stadt für leichtbeschwingte Empfindungen. Gleichzeitig ist ihre palimpsestähnliche, mit Unruhe gestrafte Stadtarchitektur durchdrungen von unterschiedlichen Zeitschichten, unterschiedlichen Kulturen, unterschiedlichen Fähigkeiten. Tiflis durchziehen Widersprüchlichkeiten und Unschärfeflimmern, da in ihr »alles dicht nebeneinander existiert: Schönheit und Schlamperei, Großzügigkeit und Prunksucht, Kultiviertheit und Primitivität«2 . Ihre die Geschichte durchschweifende, mit Schicksal beladene Architektur ist, wie der russische Schriftsteller Andrej Bitow die Missverhältnisse zusammenfasste, »groß und ist klein. Darin liegt vielleicht ihr besonderer Reiz. Einerseits hat sie all das, was jede Krakenstadt hat: eine Million Einwohner, Untergrundbahn, Traffic, Industrie am Stadtrand […]; andererseits hat sie das alles nicht. […] Und um die Ecke herum erinnert diese Stadt an einen Baum, ein Nest, einen Bienenstock oder einen Weinberg, eine Etagere, eine efeuumrankte Wand.«3 Tiflis vereint urbanes Rauschen, das Adrenalin und die Atmosphäre einer pulsierenden Hauptstadt, mit Ruralitätseinschüben und intensiver Landschaftswahrnehmung – der gallertigen, grünlichen Kura, die durch das Tal von Tiflis mäandert, und der trockenen, öden Berge, die die Sonne zurückwerfen, den »sizilianisch kahle[n] Höhenzüge[n], nur mit Nadelbäumen, Macchia und Hochspannungsmasten bestanden«4 . Jener den Talkessel umringenden »erhitzten Berge«, von denen, wie Konstantin Paustowskij
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Wegner, Armin T.: Fünf Finger über Dir. Aufzeichnungen einer Reise durch Rußland, den Kaukasus und Persien 1927/28, Wuppertal: Peter Hammer 1986, S. 132 Engelbrecht, Helga: »Moskau ist weit und Mensch sein ist alles«, in: Geo Magazin, 9/1984 Bitow: 2003, S. 35 Wackwitz: 2014, S. 9
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schrieb, Tiflis im Sommer »geradezu unheimlich anzusehen war. Es schien zu glühen, zu rauchen, als würde es jeden Moment in Flammen aufgehen.«5 Tiflis verbindet Metropolität und Provinzverlorenheit. Die äußere und innere Urbanisierung der Tifliser bestimmt die Simultanwahrnehmung einer »hupen- und stimmenreichen«6 , verlärmten Stadt und ihres Gegenteils. Mit einem zappeligen, menschenwimmelnden Riesengebilde aus starkbefahrenen Hauptstraßen und PlattenbauUngetümen auf der einen Seite und der durchgrünten Ruhe der verwunschenen, im Verfall begriffenen Altstadtviertel mit ihren Gärten, lichtdurchfluteten Innenhöfen und schattenspendenden Platanen und Akazien auf der anderen Seite, einer Stadt, die keine Häuserschluchten kennt. »Die Luft ist mit betäubenden südlichen Düften – wie mit Klängen – gesättigt«7 und zugleich mit Benzingestank, aufsteigendem Kanalisationsdunst und Rasierwassergeruch durchmischt. Auch in ihren Architekturdenkmälern zeigt sich Tiflis vielgestaltig. Ihre Stadtarchitektur ist erhaben und kunstgewaltig, zugleich aber auch schmutzig und abgewirtschaftet. Ausdruck für »[d]as Irrationale, die Litanei der Gegensätze im Kaukasus […]: Wildheit und Gravität, West gegen Ost, Europa und Asien in einem, Muslime und Christen, Zivilisation und Barbarentum«8 . In ihr werden die Zwiespältigkeiten einer kulturräumlichen Randlage und Gefährdetheit ausgetragen, die das Land immer prägten und überprägten. Als ein mythologisch beladenes Randgebiet der antiken Welt, als östlichster Vorposten des Christentums, als islamisches Kalifat, als annektierte Südflanke des Zarenreichs und der UdSSR, als ungeschützte und in sich fragile unabhängige Republik: »An irgendeinem Rand befindet sich Georgien immer.«9 Dieser kulturund geschichtsreiche Gabelungspunkt wichtiger Handels- und Heerstraßen vom Mittelmeerraum nach Zentralasien war, wie der georgienreisende Schriftsteller Clemens Eich schrieb, immer schon Scheitel von Orient und Okzident: »Schnittstelle, Nahtstelle, Kreuzung zwischen Ost und West, auch zwischen Nord und Süd, Grenzland also, Durchgangsland, Anfang und Ende. Kein einfaches Land, ungeeignet für Kategorien und klare Verhältnisse. Wir glauben, etwas wiederzuerkennen in Georgien, ein jahrhundertealtes Déjà-vu verschwimmt vor unseren Augen, vielleicht ein Teil unserer Wurzeln, inneren Wunden. In Wirklichkeit hat es vermutlich gar nichts mit uns zu tun, nur mit unserer diffusen Sehnsucht.«10 Nicht nur Tiflis besitzt die Begabung, einen für sich zu gewinnen. Die russische Literatur inspirierte seit der Romantik Georgiens Schönheit. Sie huldigte die Landesnatur in vor Begeisterung flirrenden Reisebildern, Die Sprache über diese Vielzahl an Kulturlandschaften kippt dabei fast zwangsläufig ins Phrasige, so sehr ist die perorierende Schönheit Georgiens selbst schon Klischee. Die palmengesäumte Schwarzmeerküste.
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Paustowskij, Konstantin: Sprung nach dem Süden, München: S. Fischer 1983, S. 192 Endler, Adolf: Zwei Versuche, über Georgien zu erzählen, Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 1976, S. 17 Pasternak, Boris: Briefe nach Georgien, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1989, S. 14 Bernath, Markus: »Der unfertige Rand Europas«, in: Der Standard, 15.2. 2009 Becker, Daniel: »Saufen oder ab ins Bett«, in: Jungle World, 13/2001 Eich: 1999, S. 20
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Das mediterrane Licht, die durchdringende Helligkeit des blauen Himmels. Die wildzerklüfteten, gletscherüberhangenen Gebirgslinien des Kaukasus und ihre wilden Sippen. Die babylonische Sprachenvielfalt in der Abgeschiedenheit der Kaukasusschluchten, diesem zivilisatorischen Urraum mit seinen mittelalterlichen Kultur- und Sprachinseln, den in den Gebirgszügen hängen gebliebenen Ethnien. Dieses Land ausschweifender Gastfreundschaft, der Gelage und mitternächtlichen Tänze. Das Lebensblut der feurig blutroten georgischen Rotweine. Die Georgier als ein stolzes, poetisches Volk mit einer so eindrucksvollen Historie, einer eigenständigen Kultur, die ihre Blüte in der Kunst, Dichtung und Architektur im 11. und 12. Jahrhundert erfuhr, und einem eigenen, graphisch sinnlichen Alphabet aus 33 Buchstaben. Russischen Dichtern wie Boris Pasternak wurde Georgien »zur großen Entdeckung«11 eines Ortes mit einer »abgründig und überall ringsum erschütternde[n] Schönheit« und einer Intensität, die »auf der ganzen Welt zur Seltenheit geworden ist«, weil »Georgien in viel allgemeinerer Beziehung ein Land ist als jedes andere, ein Land, das in wunderbarer Weise in seiner Existenz keine Unterbrechung erlitt, das es noch jetzt der Erde gibt, das nicht in die Sphäre des Abstrakten übertragen wurde, ein Land mit unverfälschten Farben und vierundzwanzigstündiger Wirklichkeit, wie groß auch seine jetzigen Verluste sein mögen.«12 So »erstand Georgien in der russischen poetischen Imagination […] als ein Ort zwischen Verbannung und Paradies, Freiheit und ungebändigter Wildheit, auf den unterschiedliche Sehnsüchte, imperiale wie antiimperiale Affekte projiziert wurden, der aber dennoch unerreichbar blieb«.13 Ossip Mandelstam nannte diese die Impressionen der russische Literatur und das russische kulturelle Selbstverständnis beherrschende mythopoetische Konstruktion den »georgische Mythos«. Denn »Georgien verführte die russischen Dichter mit seiner ihm eigenen Erotik, einer Liebeskunst, die zum georgischen Nationalcharakter gehört, und seinem leichten, lauteren Geist des Berauschtseins, einem bestimmten melancholischen Festtagsrausch, in den Seele und Geschichte dieses Volkes getaucht sind. Der georgische Eros: Das ist es, was die russischen Dichter so anzog […]. Seine uralte Kunst, die Meisterschaft seiner Baumeister, Maler und Dichter ist durchdrungen von dieser verfeinerten Liebeskunst und heroischen Zärtlichkeit. Ja, die Kultur berauscht.«14 Mandelstam unterstrich die Bewahrung der mittelalterlichen Kultur, versinnbildlicht an dem in Tonamphoren gelagerten georgischen Wein, der zur Reife in die Erde einge-
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»Das Leben der armen Leute, aus den Höfen hinausgetragen auf die Gasse, war kühner, nicht so verstohlen wie im Norden; es war bunt, leuchtend, offen. Die volle Mystik und messianistische Symbolik der Volkstradition bereichert das Leben mit jener Phantasie, die […] jeden zum Dichter macht. Die hohe Kultur der Gebildeten, ihr geistiges Leben, war in diesem Ausmaß jenen Jahren [um 1930] eine Seltenheit.«; Pasternak: 1989, S. 11 Ebd., S. 20-21 Maisuradze, Giorgi/Thun-Hohenstein, Franziska: Sonniges Georgien. Figuren des Nationalen im Sowjetimperium, Berlin: Kadmos 2015, S. 14 Mandelstam: 1991, S. 94-95; »Wenn unsere Dichter des vorigen Jahrhunderts von Georgien sprechen, bekommt ihre Stimme eine besondere weibliche Sanftheit und der Vers taucht gleichsam in eine milde feuchtwarme Atmosphäre«; ebd., S. 94
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graben wird, als »Urbild der georgischen Kultur«: »Die Erde hat die engen, doch vornehmen Formen ihrer künstlerischen Tradition bewahrt, hat das von Gärung und Aroma erfüllte Gefäß versiegelt.«15 Die dickflüssige Durchdringung von Kultur und Natur begründet nicht nur die russische Schwärmerei für »das pistaziengrüne Tiflis«, wie es bei Mandelstam heißt, der in seiner eigenen dichterischen Kaukasusapotheose diese Bewunderung der Archaik uralter Kultur unter mediterranem Himmel beispielhaft mit einer geschärften Naturwahrnehmung verband.16 Eine Idealisierung, die zwar der dirigistisch verwaltete Literaturbetrieb der UdSSR bei Mandelstam mit einer Diskreditierungskampagne denunzierte, die sich im Bewusstsein der Sowjetmenschen jedoch verfestigte. Denn Georgien entwickelte sich zu ihrem bevorzugten Ferienziel und Erholungszentrum, zu einem bukolischen Sehnsuchtsort.17 Ein paradiesischer Fluchtpunkt, ein russisches Italien, unter dem strahlenden Blau des Südens. Die Italien-Assoziation ist die geläufigste, allerdings nur eine von vielen, die Tiflis bereithält – ungeachtet dessen, dass sich, wie Adolf Endler festhielt, diese Vielfalt der Ländervergleiche ohnehin »nicht allein aus der Vielgliedrigkeit des Landes« erklären lässt: »Es ist die Überraschung, die sich mit Vergleichen vorderhand aus der Affäre zieht, und zuweilen die Übermanntheit vom Neuen, in dem etwas undefinierbar
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Ebd., S. 95; Mandelstam nannte die georgische Kultur wegen ihrer Beharrungsfähigkeit »ornamental«. Diese nehmen von fremden Einflüssen »vor allen Dingen dessen Zeichenmuster in sich auf und leisten gleichzeitig dem ihnen innerlich feindlichen Wesen der Nachbargebiete erbitterten Widerstand«; ebd., S. 96 Mandelstam, Ossip: Armenien, Armenien. Prosa, Notizbuch, Gedichte 1930 – 1933, Frankfurt a.M.: 2005, S. 68; Mandelstam, der sich in seiner Kultur- und Naturbewunderung gegen den propagandistisch indoktrinierten Sowjetfortschritt von Kollektivierung und Elektrifizierung stellte und sich damit in den 1930ern einer Hetzkampagne durch die SU-Kulturfunktionäre aussetzte, richtete seine Schwärmerei allerdings auf Armenien. Programmatisch heißt es: »Der sozialistische Aufbau wird Armenien gleichsam zur zweiten Natur. Doch mein Auge, versessen auf alles Seltsame, Flüchtige und schnell Verfließende, hat auf der Reise nur das lichtbringende Zittern der Zufälligkeiten, das Pflanzenornament der Wirklichkeit eingefangen.«; ebd., S. 64 Dies registrierte beispielweise John Steinbeck bei seiner Russlandreise: »stets fiel der magische Name Georgien. Menschen, die niemals dort gewesen waren und die wahrscheinlich niemals würden dorthin gehen können, sprachen von Georgien mit einer Art Sehnsucht und mit großer Bewunderung. In ihren Erzählungen waren die Georgier Übermenschen, große Trinker, große Tänzer, große Musiker, große Arbeiter und Liebhaber. Und sie sprachen von dem im Kaukasus und am Schwarzen Meer gelegenen Land als einer Art zweitem Himmel. […] Es ist ein klimatisch begünstigtes Land, mit sehr fettem Boden, und es besitzt ein eigenes, kleines Meer. Große Verdienste um den Staat werden mit einer Reise nach Georgien belohnt.« (Steinbeck, John: Russische Reise, Zürich: Unionsverlag 2013, S. 198). Steinbeck sollte diese Begeisterung selbst bis zur »Überreizung« teilen, schließlich fühlte er seinen »Geist in Eindrücken ertrinken, von Anblicken überwältigt«: »In diesen Georgiern hatten wir unseren Meister gefunden. Sie schlugen uns beim Essen, beim Trinken, beim Tanzen, beim Singen. […] Alles, was sie taten, taten sie stilvoll. Sie unterschieden sich ziemlich von den Russen, die wir getroffen hatten, und es ist nur zu verständlich, warum sie von den Bürgern der anderen Sowjetrepubliken bewundert wurden. Ihre Energie übersteht das Tropenklima nicht nur, sondern gedeiht darin. Und nichts kann ihre Persönlichkeit oder ihren Geist brechen. Das wurde viele Jahrhunderte lang versucht, von Invasoren, von der zaristischen Armee, von Despoten, von ansässigem Kleinadel. Aber keiner der vielen Schicksalsschläge konnte ihren Geist brechen.«; ebd., S. 252-253
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Vertrautes mitschwingt, lange vermißt und entbehrt«18 . Denn inmitten des Spitzengewirks der geschnitzten Balustraden und Veranden der malerischen Altstadt, die terrassenförmig die Berghänge besiedelt, meint man sich weiterhin im Orient, obwohl das multikulturelle asiatische Viertel der Karawanserei, der Straßenhändler und Kaufleute in Kaftanen und Pelzmützen, Turbanen und Fezen natürlich längst verschwunden ist. Und mit ihm die Wildheit des »asiatischen« Kaukasus, die Gassen der »Perser, Tscherkessen, Georgier, Armenier, Osseten, ein boshafter und blinkender Pfuhl, in dem der Abschaum aller Völker zurückblieb«19 , wie der missmutige Armin T. Wegner, ein orientreisender deutscher Expressionist, schrieb, als er dieses »alte vergangene, das schon sterbende Tiflis« durchstreifte. An den historistischen Prachtstraßen des Zarenimperiums glaubt man sich zwar nicht unbedingt in Paris, wie die Tifliser im 19. Jahrhundert behaupteten, aber in einer Stadt aus dem Bildergedächtnis der abendländischen Baugeschichte. Tiflis ist eine der stilistisch reichsten und besten entwickelten Metropolen des Historismus. An den Triumphstraßen der Adeligen und des Bürgertums, der Rustaweli Avenue und der Agmaschenebeli Avenue, entfalten sich die Treibhausblüten des gesandtschaftlichen Historismus des Zarenreichs: die stuckgeschmückten Fassaden einer Repräsentationskunst, die dem Geburtsadel und dem Geldadel gleichermaßen zur Selbstdarstellung diente und eine üppige Eigenmacht der Fantasie in den Symbolen, Details und Winzigkeiten entwickelte. Der importierte Tifliser Historismus verschärft dabei gerade in seiner Importiertheit und seinem architektonischen Arpeggio unterschiedlicher Stile das ästhetisch Interessante der stilimitierenden Architektur des 19. Jahrhunderts: ihre Gemachtheit, ihre Künstlichkeit, ihre Inauthentizität in der Authentizitätsanrufung. Sie veranschaulicht, wie sehr es »[g]egenüber den Stilepochen der Vergangenheit, wo sich Stil im Objektiven des Kunstverlaufs allein verwirklichte, […] der Subjektivität des Künstlers, Auftraggebers und vor allem des Betrachters [bedarf] […] um voll wirksam werden zu können. Im Historismus des 19. Jahrhunderts verliert die Architektur weder ihre Herkunft aus der romantischen Frühzeit noch ihren romantischen Anspruch, der über den gesamten Zeitraum aufrecht erhalten bleibt. Sie bleibt eine symbolische Architektur. […] Daher kann der ›Stil‹ nach den Regeln einer Stilpluralität gewählt werden, die symbolisch determiniert sind.«20 Inmitten des UdSSR-Betons der Chruschtschowka-Mikrorayons, die dem hässlichen funktionalistischen Baustil der Nachkriegszeit verpflichtet sind, wähnt man sich wiederum weiterhin unter dem roten Sowjetstern. Wenngleich die Sowjetisierung Georgiens nicht nur die Monotonie bröckelnder Wohnsilos bedeutete, Trabantensiedlungen schlampig ausgeführter Plattenbauten aus Massenfertigung, deren Griesgrämigkeit die
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Endler: 1976, S. 66; Wenngleich, wie Endler weiter schreibt, die Reisebüros weiterhin darauf »verweisen, daß der Vergleich mit Italien sich eingebürgert habe, nicht zu Ungunsten des Geschäfts.«, ebd., S. 67 Wegner: 1986, S. 138; Hier fand Wegner den »Geruch des Südens wieder, jene Mischung von Staub, Kot, Blütengeruch, Schmelzwasser, eine wollüstige Fäulnis, herb und süß wie Wein.«; ebd., S. 131 Klingenburg: 1985, S. 11
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der Diktatur wiederspiegelte. Denn zunächst schuf der stalinistische Klassizismus beachtliche Herrschaftsarchitekturen, deren unbeabsichtigter Anreiz in ihren differenten architektursymbolischen Amalgamierungen liegen. Einem Repräsentationspathos, das »gezielt auf eine kulturpolitische Instrumentalisierung überlieferter nationaler Symbole und rhetorischer Figuren setzte, ohne aber imstande zu sein, das Nachleben der in ihnen transportierten Semantiken und Affekte gänzlich zu unterbinden.«21 Später kreierten die Sowjetbehörden in Tiflis bedeutende Meisterwerke der Moderne, architektonische Stimulantien wie das avantgardistische Transport-Ministerium, die eher als Irritationen denn als Erzeugnisse des so schwer beweglichen Sowjetreichs erscheinen. Gerade die von Hinfälligkeit geprägte, stagnative späte Breschnew-Epoche bildete in Tiflis die »interessanteste Ära […] [der] spätsowjetische[n] Tendenz zu Megastrukturen in expressiver Sprache«22 . Denn besonders in den nichtrussischen Teilrepubliken entwickelte sich eine um Regionalreferenzen bereicherte Sowjetmoderne, die heute von einer romantisierten westlichen Retro-Rezeption in ihrer zerschlissenen Würde wiederentdeckt wird. Die Assoziationen, die schließlich das gegenwärtige Tiflis liefert, sind diffus. Die unausgeglichene städtebauliche Hyperaktivität des ambitiösen Präsidenten Saakaschwili ließ die Stadt in den späten Nuller-Jahren – in einem ästhetisch nicht unriskanten Spiel – an der internationalen Architekturgegenwart partizipieren. Die in der selbstgewählten Einsamkeit stadtstruktureller Maßstabssprünge ruhenden, riesenhaften Einzelarchitekturen haben etwas Insularisches und dem Blick nicht Eingepasstes an sich. Iconic landmarks wie Michele De Lucchis geschwungene Glasüberdachung der Friedensbrücke, die über dem spiegelstillen Wasser der Kura ausgebreitet »aussieht wie ein gezähmtes Seeungeheuer aus Glas und Stahl«23 und das futuristische Bürgerhaus von Massimiliano und Doriana Fuksas, ein gläsernes Amts- und Dienstleistungsgebäude mit einer Dachlandschaft aus bauplastisch skulpturierten »Blütenblättern« kündigen das 21. Jahrhundert an – und werden dafür auch mit vergifteten Blicken bedacht. Wo sich dieses unbestimmte, in Wandel begriffene Tiflis der Saakaschwili-Jahre befindet, ist nicht entschieden. Mit der historischen Stadt hat es allerdings nichts zu tun. Wie auch die jähen stadtästhetischen Zäsuren davor, der importierte Historismus der Zarenzeit und die technisch-poetische Sowjetmoderne mit ihren stolzen Versprechungen von Fortschritt und einem besseren Leben Einschnitte bedeuteten, die nicht in den »georgischen Mythos« passen, in das sublime Bild Mandelstams einer durch »Beharrungsfähigkeit« geprägten Kultur, in der die Tradition – wie der georgische Wein in seinen Tonkrügen – in einem »von Gärung und Aroma erfüllte[n] Gefäß versiegelt« ist. Genau darum aber ist es auch weit weniger abseitig und affrontierend als es zunächst erscheint, sich gerade einer derart kultur- und geschichtsbeladenen Stadt wie Tiflis mit dem Begriff des Inauthentischen anzunähern. Und das nicht nur, weil
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Maisuradze/Thun-Hohenstein: 2015, S. 14 Stiller, Adolph: »Tiflis. Architektur am Schnittpunkt der Kontinente«, in: ders. (Hg.), Tiflis. Architektur am Schnittpunkt der Kontinente, Salzburg: Müry Salzmann 2016, S. 26 Schmitt, Peter-Philipp: »Il Maestro und sein Bleistift«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.11.2016
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Inauthentizitäten jüngerer stadtästhetischer Figurationen vor dem Hintergrund einer mit Authentizitätsmythologisierungen befrachteten Nationalkultur drastischer strahlen. Weil diese Artifizialitäten und Inauthentizitäten auf den romantisches »georgischen Mythos« des Echten und Intensiven prallen, wie Pasternak schwärmerisch schrieb, »jenem Erstaunlichen und Zauberischen, […] das nicht allein durch den Süden zu erklären ist, durch die Berge, den weiten georgischen Charakter, […] durch die Begeisterung und das Gefühl des Erhobenseins […]; es ist noch etwas Geheimnisvolles, Tieferes in all diesen Bestandteilen […], das noch auf seine eigene Definition wartet. Und gerade diese Erwartung beunruhigt es, wie ein aufgegebenes und noch nicht gelöstes Rätsel oder wie ein in der Luft hängendes, seiner Ausführung harrendes Signal.«24 Denn dieses laute, südliche, sinnliche Andere als mythopoetische Essentialisierung von Kultur kompromittiert sich selbst in seiner Konstruiertheit, wenn es gegen seine eigentliche Intention erloschene Leben und Zeiten hervorhebt, die sonst in der Ferne einer vereinheitlichten, legitimierten Geschichte verloren scheinen, die Stadt gegen ihre identitätsbestimmenden kulturellen Eigencharakterisierungen in ihrer historischen Gemachtheit demaskiert wird – in einer Interpretationslinie, die architektonische Inauthentizitäten in Einsichten in die Geschichtlichkeit der Wirklichkeit verwandelt, zeigt, wie Monumentalbauten für Herrschaftsformen werben, indem diese die metaphysischen Legitimierungsprinzipien der Echtheit, der Zeitlosigkeit und der Vorgegebenheit der Dinge einsetzen, um »in ihrem Erscheinungsbild eine Definition der politischen Ideologien« zu geben und »kraft ihres Ranges als Kunstwerke in die Zone der Idealität« erheben. Denn so bezeugt die »Baugestalt der Kirchen, der Stadtpaläste oder Rathäuser […] deren Sinn.«25 Was Bitow stadtkulturell befürchtet, dass Tiflis »[b]ald, sehr bald […] in drei Teile zerfallen, in Tortenstücke zerbrechen« wird und es dann „nicht mehr schwer sei[], jedes Tortenstück in lauter winzige Keile zu zerstückeln«26 , muss daher stadtästhetisch nicht unbedingt fatal sein. Denn vielleicht lassen sich die Teile, die multiplen Identitäten, ja durch eine gemeinsame Betrachtung ihrer Architektur immerhin narrativ weiter zusammenhalten: als eine Erzählung bauästhetischer Authentizitäten und Inauthentizitäten, die ihre geschichtlichen Bedingungen widerspiegeln. »Könnte die Toskana sein, nein, Umbrien, auch nicht ganz, am ehesten Süditalien, dort, wo es am kaputtesten ist. Das ist Georgien. Vielleicht.« 27 Tiflis ist ein Abbild der Unwägbarkeiten der Historie. Als würde die Stadt Unheil anziehen, wurde sie in ihrer prächtigen und gleichzeitig so leidvollen, in Gewitterlicht gesetzten fünfzehnhundertjährigen Geschichte vierzigmal verwüstet. Fremde Eroberer reizte seit jeher die »schöne Beute Georgien. Es kamen die Achämeniden und Sassaniden aus Persien, es kamen Römer, Araber und Mongolen, es kamen die Heerscharen
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Pasternak: 1989, S. 106-107 Braunfels: 1977, S. 10 Bitow: 2003, S. 45 Eich: 1999, S. 101
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des Tamerlan und dann über Jahrhunderte in fast ununterbrochener Folge islamische brandschatzende Türken und Perser«28 , die der Stadt übel mitspielten. Als Tiflis in die Geschichte trat, hatte dieses alte Kulturland bereits eine prächtige Vergangenheit hinter sich. Die Mythenwelt der Antike verbindet das Land mit der Argonautensage und dem Goldenen Vlies, die Geschichtsschreibung mit den Königreichen Kolchis im westlichen und Iberien im östlichen Georgien, die beide »zu einem strategischen Glacis befreundet-abhängiger Klientelstaaten rings um das Römerreich […] [gehörten]. Was wir heute Georgien nennen, war jahrhundertelang ein selbstverständlicher und selbstbewusster Teil der griechischen und römischen Welt.«29 In der Spätantike lavierte Iberien als Vasallenstaat zwischen den Einflussmächten Byzanz und dem persischen Sassanidenreich, das im 4. Jahrhundert dann am Scheitel des Stadtbergs des späteren Tiflis, an dieser strategisch- und handelsgünstigen Lage der Karawanenstraße längs des Flusstales der Kura eine Festung anlegte, die dann wiederholt verwüstete und wiederaufgebaute Zitadelle Narikala, deren Ruinen noch heute majestätisch die halb nackten, halb gesträuchbewachsenen Felsen über der Tifliser Altstadt auf ihren Rücken tragen. Die eigentliche Stadtgründung erfolgte jedoch erst im 6. Jahrhundert unter dem iberischen König Wachtang I. Gorgassali, der seine Residenz aus dem nahen Mzcheta, der alten Hauptstadt am Zusammenfluss von Kura und Aragwi, an die über heißen Schwefelquellen liegende Siedlung bei der Perserveste verlegte. 736 riefen die bereits ein halbes Jahrhundert früher in den Kaukasus eingefallenen Araber in Tiflis ein islamisches Emirat aus, dass bis 1048 Bestand haben sollte. Die Handelsstadt wurde muslimisch, während das restliche Georgien, das im 4. Jahrhundert, eingeleitet von den Bekehrungen der Heiligen Nino, das Christentum als Staatsreligion angenommen hatte, seine Nationalidentität auf der Georgisch-orthodoxen Kirche stützte und eine frühfeudalistische Blütezeit erlebte, die einen von religiösen Überzeugungen geleiteten nationalen Kunststil ausbildete. Diese Entfaltung einer eigenständigen christlichen Nationalkultur, für deren von Schönheit und Schöpfertum gekennzeichnete Kunst die Kathedrale Sweti-Zchoweli in Mzcheta, das auch nach dem Aufstieg von Tiflis das religiöse Zentrum Georgiens und der Sitz des Katholikos-Patriarchen geblieben war30 , steht, begründete die beglückende »Herausbildung eines Gefühls der na-
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Engelbrecht: 1984 Wackwitz: 2014, S. 23 »Große patriotische Bedeutung hatte […] im ersten Viertel des 11. Jahrhunderts der Bau der neuen Kathedrale des Katholikos von Sweti-Zchoweli in der alten Hauptstadt Mzcheta, sozusagen direkt unter den Augen des immer noch im nahen Tbilissi residierenden arabischen Emirs.«; Beridse, Vachtang/Neubauer, Edith: Die Baukunst des Mittelalters in Georgien, Berlin: Union 1981, S. 109
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tionalen Würde«31 , aus der die georgische Königsfamilie der Bagratiden den Kampf um Unabhängigkeit ableitete.32 Doch vollenden sollte diesen Prozess einer Einigung Georgiens erst eine Rückeroberung von Tiflis, die vorerst noch von einer Besetzung durch die türkischen Seldschuken vereitelt wurde. Erst 1122, nach über 400 Jahren in islamischer Hand, wurde Tiflis unter David II., dem Erbauer, dem wichtigsten Staatsmann des mittelalterlichen Georgiens, zur Hauptstadt eines befreiten und vereinigten Königreichs, einer Feudalmonarchie, die in ihrem »Goldenen Zeitalter«, den 120 Jahren von David bis zur Regentschaft seiner Urenkelin Königin Tamara, eine bedeutende Weiterentwicklung und Vertiefung der georgischen Nationalkultur erreichte und ihre Herrschaft von dem heute nordtürkischen Tao-Klardshetien bis zum Kaspischen Meer erweiterte. Militärische Stärke verband sich mit einem wirtschaftlichen Aufschwung, zu dem die mit Privilegien ausgestatteten muslimischen Tifliser Händler beitrugen, und einer frühhumanistischen Staatsidee, die zwischen den Ethnien, Standes- und Kulturidentitäten vermittelte. Danach brach eine vielhundertjährige dunkel verschattete Unbeständigkeit über Tiflis. Die kultur- und kriegsgeschichtlichen Verhältnisse der Stadt bestimmten ein vielmaliges Belagern, Verwüsten, Brandschatzen und Wiederaufbauen. Wiederkehrend geriet das unsäglich leidende Tiflis in die beutegierigen Finger fremder Okkupanten. Die Choresmier, die Mongolen, Timur, die Osmanen und die Perser verheerten Georgien.33 Die Nationalkultur litt ab dem 14. Jahrhundert aber nicht nur unter den kriegeri31
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Ebd., S. 108; »Die Georgier hatten unter den Arabern ihre Sprache und die bereits tief verwurzelte christliche Religion bewahren können – in der damaligen Zeit war das gleichbedeutend mit der Wahrung der nationalen Eigenständigkeit. […] Die Araber, deren Anwesenheit schriftliche Dokumente und Werke der Literatur widerspiegelten, hinterließen faktisch keinerlei Spuren in der georgischen Kunst, diese entwickelte sich vielmehr auf eigenem Wege weiter. Der Kampf gegen die […] Araber drängte Georgien zu einer stärkeren Annäherung an das dem gleichen Glauben anhängende Byzanz und seine Kultur, deren Einfluß in der orthodoxen Welt immer umfassender wurde. Aber Georgien erlebte keine Bilderstürmerei«; ebd., S. 108 »Das Christentum, das der Legende nach vor allem durch die Predigten der heiligen Nino verbreitet wurde, war die Ideologie des Widerstandes, war Ausdruck nationaler Befreiungs- und Vereinigungsbestrebungen. Es diente den politischen und ökonomischen Interessen der herrschenden Klasse. Der Monotheismus der christlichen Religion erleichterte den notwendigen Zusammenschluß der georgischen Stämme und forcierte die Herausbildung der Feudalordnung im zentralen Georgien.« (ebd., S. 11) Mit der Staatskirche und ihrer Hagiographie entwickelte sich eine bis in die Gegenwart »nachwirkende Verzahnung von religiösem und nationalem Messianismus« in Georgien: »Die von den Kirchen proklamierte Idee einer Auswähltheit von Gott verlieh den Nationalismen der orthodoxen Völker besondere messianische Züge. Die autokephale Kirche, die de facto der staatlichen Gewalt unterstand, kleidete die nationalen Ideen in ein mystisches Gewand.«; Maisuradze/Thun-Hohenstein: 2015, S. 34 Die mittelalterliche Blütezeit Georgiens endete 1225, als Dschalal ad-Din, der letzte Schah des von den Mongolen zerstörten Choresm-Großreichs in Tiflis einfiel, die Stadt verwüstete und viele Tausende Ungläubige massakrieren ließ. Die zwischenzeitliche Rückeroberung 1227 hielt nur kurz, die verzweifelten georgischen Verteidiger ließen Tiflis vor dem zurückkehrenden Heer der Choresmier niederbrennen. Zwar begann mit deren endgültigen Vertreibung der Wiederaufbau, dieser mündete aber 1238 abermals in Flammen, diesmal zündeten die Tifliser ihre Stadt an, bevor sie die Mongolen bei ihrer Eroberung Ostgeorgiens einnehmen konnten. Dann wütete Timur in Georgien. Zwischen 1386 und 1403 führte er sein Heer zu acht Eroberungszügen. Tiflis zerstörte er gleich bei seiner ersten Invasion und noch einmal 1400, um den zähen Widerstand der Bagrati-
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schen Leidenserlebnissen. Mit dem Untergang des byzantinischen Reiches wurde das einzig verbliebene christliche Bollwerk im Orient kulturell isoliert.34 Auch schwächte sich die Feudalaristokratie durch Kleinstaaterei, die Zersplitterung in die Einzelkönigreiche Kacheti, Kartli und Imereti. Die »innere Einheit [blieb] Episode: die Dynastie der Bagratiden herrschte nie unumschränkt, sondern fand sich dauernd von starken Lokalfürsten […] herausgefordert.«35 Den terrritorialen Integrations- und Zentralisierungsversuchen des Königsgeschlechts standen mächtige Fürstenfamilien (tavadni) mit ihrem Allodialbesitz, ihrem Klerus und nichttitulierten abhängigen adligen Vasallen (aznaurni) im Weg.36 Gegen die ewige Bedrohung durch das Osmanische Reich und Persien ging Georgien schließlich 1793 über einen Beistandspakt ein Klientelverhältnis zu Russland ein. Der scheinbar verlässliche Verbündete gleicher Religionszugehörigkeit garantierte über eine Schutzerklärung militärische Sicherheit, ließ aber zuerst zwei Jahre später das Land im Stich, als einfallende Perser wieder einmal Tiflis niederbrannten. Und dann wurden die Russen selbst zu Invasoren: ihr expansiver Drang nach Süden ließ sie den Kamm des Kaukasus überschreiten und führte 1801 zur Annexion des Königreichs Georgien. Die jahrhundertealte Bagratidendynastie wurde zur Abdankung gezwungen, die Autokephalie der georgisch-orthodoxen Kirche aufgehoben und die Autonomie der Fürsten in die Autoritätshierarchie des russischen Dienstadels überführt, was diese als herrschende Schicht der segmentären Agrargesellschaft Georgiens entmachtete. Das patriarchalische Gesellschaftssystem wurde durch das Zarenreich in einen Territorialstaat mit Behördenverwaltung transformiert. Das Land unterstand nun einer zaristischen Militäradministration, die Tiflis zur Hauptstadt eines wilden Vizekönigreichs zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer kürte, das den russischen Imperialismus jahrzehntelang mit Militärkampagnen in schwer zugänglichen Terrain gegen die ungestümen, widerständigen muslimischen Bergvölker der Tscherkessen und Tschetschenen beschäftigte. Tiflis, das um 1800 in Folge der persischen Zerstörung nur mehr 10.000 Einwohner zählte, wuchs unter russischer Verwaltung im 19. Jahrhundert auf 160.000 Menschen – zu je einem Drittel Georgier, Armenier und Russen. Dazu kamen Juden, Per-
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den zu bestrafen. Die timuridische Armee verwüstete das Land unwiederbringlich, massakrierte die Bevölkerung und ließ Klöster und Kirchen niederreißen. »Ein Ereignis, das die georgische Kultur des 14. bis 18. Jahrhunderts mit prägte, war die Einnahme Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 […]. Damit wurde Georgien von der westeuropäischen Welt, zu der es über Jahrhunderte hinweg in Kontakt gestanden hatte, praktisch abgeschnitten. […] Vom türkischen Einfluß auf die georgische Kultur braucht nicht gesprochen zu werden, da er nicht zur Wirkung kam.«; Beridse/Neubauer: 1981, S. 220 Reisner, Oliver: Die Schule der Georgischen Nation. Eine sozialhistorische Untersuchung der nationalen Bewegung in Georgien am Beispiel der ›Gesellschaft zur Verbreitung der Lese- und Schreibkunde unter den Georgiern‹ (1850-1917), Wiesbaden: Reichert 2004, S. 26 »Das 15. Jahrhundert, die Zeit unmittelbar nach den Verheerungen Georgiens durch Tamerlan, ging in der Wiederherstellung von Zerstörtem auf, so daß keine Kräfte für die Schaffung von Neuem blieben. […] Während Westeuropa in die glänzende Epoche der Renaissance eintritt, die eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit einleitete, hatten die politischen Umstände in Georgien seine natürlichen Entwicklungsmöglichkeiten gehemmt. Das Spätmittelalter vom 15. bis 18. Jahrhundert wird immer noch vom Feudalismus beherrscht.«; Beridse/Neubauer: 1981, S. 233
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ser und Aserbaidschaner, strafversetzte Offiziere und religiöse Sektierer sowie deutsche Kolonisten.37 Tiflis ist wie so viele Städte in der Peripherie des russischen Einflussgebietes – sei es im Baltikum, in Zentraleuropa oder im Kaukasus –, »eine Stadt, die nur aus großen Minderheiten besteht, und das wird sie prägen.«38 Ab 1846 ließen Vizekönig Michail Woronzow und sein italienischer Stadtarchitekt Giovanni Scudieri die historischen Stadtmauern abtragen und Stadterweiterungen um die Hauptarterien des Golowin Prospekt, heute Rustaweli Avenue, und des Michail Prospekt, heute Agmaschenebeli Avenue, anlegen. Unter dem Zarenadler entstanden städtische Verwaltungs-, Repräsentations- und Kulturbauten russischen Zuschnitts in den Spielarten der historistischen Stilarchitektur.39 Gesellschaftlich schuf der russische Autokratismus eine fragile Machtdynamik zwischen Adel und Wirtschaftsbürgertum – »die Reichen und Mächtigen der Stadt bestanden aus armenischen Magnaten, georgischen und russischen Fürsten sowie russischen Bürokraten und Generälen, die am Hof des zaristischen Vizekönigs zusammenkamen.«40 Die städtischen Armenier, Kaufleute und Industrielle, bildeten die Wirtschaftselite, die Russen die Verwaltungselite. Die ethnischen Georgier blieben ökonomisch wie politisch zurückgestellt, obwohl der imperiale Staatsapparat versuchte, durch eine herrschaftsstabilisierende indirekte Assimilation die von Statusunsicherheit geprägte Adelsschicht zu binden (»Petersburgisierung«41 ). Die georgischen Edlen 37
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In der zaristischen Kaukasusarmee dienten »gewöhnlich solche, welche sich irgendeines Vergehens schuldig oder verdächtig gemacht haben; unruhige Köpfe, die das Herz auf der Zunge tragen, liberal gesinnte Leute, welche nicht gelernt haben, leise zu denken, und mit der bestehenden Ordnung – oder damaligen Unordnung – der Dinge in Rußland nicht zufrieden waren; junge und alte Polen der verschiedensten Stände und Ansichten finden hier zweites Vaterland.«; Bodenstedt: 1992, S. 239-240 Schlögel: 2001, S. 82 »The old town […] was rebuilt from its ashes, but it did not attract much interest from the new administration – the density was too high, the road pattern and spatial structure too distinct and ›unreasonable‹ for Imperial town planning. The old town was also perceived as potentially hostile to the Russian ruling elite […]. Therefore, the new administration turned its back to the old city, ignoring the river as a natural axis of growth, and started building a second city, in mostly a neoclassical fashion.«; Van Assche, Kristof/Salukvadze, Joseph: »Tbilisi reinvented: Planning, Development and the unfinished Project of Democracy in Georgia«, in: Planning Perspectives, 1/2012 Montefiore: 2007, S. 104 »Reichsbewusstsein und Zarenglaube hatten als imperiale Integrationsideologie die notwendige politische Loyalität einer ethnisch heterogenen Bevölkerung zu gewährleisten, die vorrangig dem Machterhalt nach innen wie außen diente. Dazu verfolgte man überwiegend eine pragmatische und flexible Politik gegenüber den Nichtrussen, indem man den sozialen status quo der unterworfenen Völker möglichst unverändert ließ und maßgebliche Teile nichtrussischer Eliten zur Kooperation mit dem Staat zu gewinnen versuchte.« (Reisner: 2004, S. 32). Auch wenn das russischsprachige Verwaltungssystem wiederholt den Wiederstand des Landadels und der Bauern provozierte, speziell 1832 bei der gescheiterten »Adelsverschwörung« einer aristokratischen Geheimgesellschaft und beim Bauernaufstand in Gurien 1841, schuf die zaristische Administration einen neuen assimilierten Typus, die »mobilen Persönlichkeiten einer neuen Funktionselite«. Dieser Typus »war besser ausgebildet und nach europäischen Kulturmustern erzogen, seine Verdienste hingen vom Erfolg im Staats- oder Militärdienst mit entsprechender Rangerhöhung sowie Russischkenntnissen und nicht mehr vom persönlichen Ansehen der Familie, ererbten Ämtern oder der Anzahl der Vasallen ab.«; ebd., S. 64
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kultivierten in den Salons das Russische und ließen sich »in Kleider und Handschuhe von französischem Zuschnitt hinein[]zwäng[en] […] auf Kosten ihres malerischen Nationalkostüms«, ohne dass das Zarenreich allerdings eine tiefere kulturelle Bildung anzubieten verstand, wie Friedrich von Bodenstedt bemerkte: »Die landestümlichen Sitten und Gebräuche, welche seit Jahrhunderten die Stelle der Gesetze vertraten, verschwinden vor den fremden Eindringlingen, ohne daß etwas Besseres dafür geboten würde. […] [Die Russen] können die ureinwüchsigen Übel und Laster der Völker nur vermehren, ohne ihnen ein sittliches Gegengewicht zu geben. Das einzige, was sie mitbringen in die eroberten Länder, sind neue Zwangsmittel des alten Zwangsstaates, neue Formen des Betruges, der Lüge und des Mißbrauchs der Kirche zu polizeilichen Zwecken.«42 Die Industrialisierung und der Transithandel zwischen Europa und Asien bildeten Ansätze einer Plutokratie der städtischen armenischen Kaufmannschaft aus: »Die städtischen traditionsgebundenen Zünfte […] gewannen nach der Inkorporation nicht nur größere Sicherheit für einen ökonomischen Aufschwung, sondern mit der Aufhebung der Monarchie […] und die Auflösung aller erblichen Ämter in den Städten auch politische Macht.«43 Letztlich blieben diese Einflussmöglichkeiten der reich gewordenen Bourgeoisie jedoch gegenüber den russischen Bürokraten und Militärs ebenso vergleichsweise bescheiden wie die der georgischen Edlen und Gutsbesitzer. Beide Schichten kompensierten dies kulturell. In der georgischen Nationalromantik konservierten sich die »antimonarchistischen Mentalitäten des freiheitsliebenden Adels«, der »dem Druck der Autokratie als Heroismus der Künstler und Intellektuellen«44 standhielt. Die bürgerliche Kultur wurde gleichzeitig glücklich und unglücklich in den Insignien ihres kulturellen Kapitals. Hinter der Silberschicht einer aristokratischen Ästhetik wurde auch in Tiflis in der historistischen Prachtarchitektur die gesellschaftliche Relationsbestimmung zwischen Aristokratie und Bourgeoisie ausgehandelt und gewissermaßen auch pazifiziert. Der Historismus ist auch in Tiflis ein Kind architektursemantischer Überschwängerung.
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Bodenstedt: 1992, S. 221-222, Die »Gute Gesellschaft« des Tiflis der 1840er, die russischen Militärs und Beamten und die georgischen Edelleute, schilderte Bodenstedt als weitgehend europäisiert: »hier war das Französische die vorherrschende Sprache und der schwarze Frack oder die Uniform die vorherrschende Tracht. Auch die Toilette der Damen war ganz den strengsten Pariser Anforderungen entsprechend. Einzelne in den engeren Zirkeln heimische Damen aus georgischen Fürstenhäusern […] hatten sich […] so in europäische Tracht und Sitte hineingelebt, daß man sie nur durch ihre orientalische Schönheit von den übrigen unterscheiden konnte.«; ebd., S. 150-151 Reisner: 2004, S. 53; Die armenischen Kaufmänner waren die Gewinner des aufblühenden Transithandels. »So konnte in ostgeorgischen Städten eine nur durch die bürokratische Zarenherrschaft beschränkte armenische Kaufmannschaft aufsteigen. Sie wurde schneller als der georgische Hochadel in das Zarenreich integriert, indem sie ihre Sicherheit, ökonomischen Wohlstand, Prestige und politischen Status mit dem Zarenreich identifizierte. […] Als neue Wirtschaftselite wurde sie zur Konkurrentin des georgischen Adels um politische Macht und ökonomische Stärke in den Städten.« (ebd., S. 53) Diese Machtverschiebung drückte sich auch darin aus, dass viele verarmte Adelige gezwungen waren ihre Landgüter bei reichen städtischen Armeniern aus Tiflis zu verpfänden. Wackwitz: 2014, S. 104
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Der indolente, ausglühende Adel fand darin eine ästhetische Palliation und gleichermaßen wurde die Bewusstseinsbildung des aufsteigenden, zunehmend ästimierten Bürgertums manifest, die Selbstbesinnung der Kaufmanns- und Industriellenklasse, die eine gestalthafte Partialbefriedigung ihres Ringens um Wohlstand und gesellschaftliches Ansehen erfuhr. Beides waren nun »nicht mehr gottgegebene Prädestination, sondern individuelle Lebensziele […]. Der hart erarbeitete kaufmännische Erfolg wurde zur Messlatte gesellschaftlicher Wertschätzung, während der vornehme, notwendigerweise müßige-aristokratische Lebensstil immer mehr an Akzeptanz verlor. […] Immer stärker regierte das Kapital den liberalisierten Markt – wer es besaß, wurde zweitrangig.«45 Aber nicht nur aufgrund der ursprünglichen Wildheit und aufrührerischen Tradition der Kaukasier, den archaischen Bandenkriegen und Sippenrivalitäten46 , begann die Autorität des Zarenreichs zur Jahrhundertwende unter dem heißen Tifliser Himmel langsam zu zerlaufen. Junge Radikale, champagnisierende Adelige und freiheitlich gesinnte Schriftsteller machten sich allesamt zu Appellanten eines Umsturzes. Die »kosmopolitische Reichsstadt mit ihren Theatern, Hotels, ihrer Karawanserei, ihren Basaren und Bordellen bebte bereits vor georgischem Nationalismus und internationalem Marxismus«47 . Die Spitzel der zaristischen Geheimpolizei Ochrana registrierten gleichermaßen in den Palästen der wenigen Reichen wie in den Arbeiterslums die Diskussion nationalistischer, sozialdemokratischer, sozialrevolutionärer und anarchistischer Ideen. Es gärte unter Intellektuellen und Aristokraten wie unter Fabrik- und Eisenbahnarbeitern: »Alle kommenden Tendenzen des zwanzigsten Jahrhunderts waren 1901 in Tiflis prophetisch versammelt: Erotizismus und Verzweiflung, Schönheitskult und Todessehnsucht, Machtwahnsinn, Umsturzbegierde und esoterische Menschheitsbeglückung. Boheme und Bürgertum«48 . Fürst Ilia Tschawtschawadse repräsentierte die politische Rechte, die Bewegung des romantischen Nationalismus. Er führte die Intellektuellengeneration der tergdaleulebi, Adelige, die »das Wasser des Terek getrunken haben«, das heißt den nordkaukasischen Grenzfluss Terek überquert haben, um in Russland Universitäten zu besuchen, die es in Kaukasien nicht gab. Ihre nationale Identitätsfindung entwickelte sich zwischen den unterschiedlichen integrativen und desintegrativen Kräfte des Zarenreichs, das »eine neue, russisch gebildete und sozialisierte Primärgruppe generierte, die aus der Struktur der traditionellen Agrargesellschaft Georgiens herausfiel, ohne in der zarischen aufzugehen. […] Aus ihrem persönlich erlebten Kulturkontakt und der folgenden Statusund Standortunsicherheit speiste sich ihr Impetus, ein neuartiges Nationalbewusstsein
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Landwehr: 2012, S. 62 Es ist eine äußerst undifferenzierte Betrachtung, die Ryszard Kapuściński liefert, sie beschreibt aber den Verlauf der wiederkehrenden kaukasischen Gewalteruptionen passend: »Die hier lebenden Menschen sind auch gekennzeichnet durch verblüffende und oft nur schwer nachvollziehbare emotionelle Schwankungen und plötzliche, unberechenbare Stimmungswechsel. Im Allgemeinen sind sie gutmütig und gastfreundlich und leben jahrelang friedlich zusammen. Bis dann plötzlich, ganz unerwartet […] Blut fließt. […] Dann beruhigt sich mit einem Mal alles, kehrt zurück zum status quo ante, die Alltäglichkeit hält wieder Einzug, die Gewöhnlichkeit und, ganz einfach, die provinzielle Langeweile.«; Kapuściński: 1993, S. 142 Montefiore: 2007, S. 104-105 Wackwitz: 2014, S. 168
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zu entwickeln.«49 Die tergdaleulebi verstanden sich als aufgeklärte Träger der nationalen Idee, sie schufen in Georgien einen »unverwechselbaren sozialen Typus«, der sich »in den östlichen Randgebieten des kontinentaleuropäischen Imperialsystems von 1815« ausbildete und »aus einem internationalistisch-antiautoritären Bündnis von Boheme und Salon, von Künstlern, bürgerlichen entrepreneurs und progressiven Intellektuellen«50 entstand. Die vorrevolutionäre Politik der Linken bestimmten die reformorientierten Menschewiki Nikolos Tschcheidse und Noe Schordania, beide sozialdemokratische Fraktionsführer in der russischen Staatsduma. Die »alte Adelselite mit ihrer nationalen Ideologie [bekam] durch die sozialdemokratischen Menschewiki einen letztendlich erfolgreichen Herausforderer um die Führung der Georgier. Die aus dem depossedierten, niederen Adel stammenden Intellektuellen machten sich zu Fürsprechern der Interessen der breiten Bevölkerung, indem sie den Marxismus als Befreiung von Ausbeutung durch georgische Grundbesitzer, armenische Kaufleute und russische Beamte interpretierten und damit außer sozialen implizit auch ethnische und konfessionelle Spannungslinien erfassten.«51 Den Menschewiki gegenüber in der zweiten Reihe blieben die georgische Sektion der Bolschewiki. Unter dieser kleinen Gruppe verschwörerischer Sektierer befand sich ein junger Extremist aus dem mittelgeorgischen Gori, Josef Dschugaschwili, der sich später Stalin nennen sollte.52 Ein relegierter Priesterschüler, der sich am Tif49
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Reisner: 2004, S. 12; In St. Petersburg erfuhren die tergdaleulebi eine zweite Sozialisation: »Die Studenten wurden sich der Unterschiede zwischen den Möglichkeiten moderner Wissenschaft und Kunst für Staat und Gesellschaft einerseits und dem unter dem georgischen Adel vorherrschenden Traditionalismus andererseits bewusst. Sie gerieten zwischen zwei unterschiedliche Sinngebungsinstanzen«, ebd., S. 76-77 Wackwitz: 2014, S. 93; Die Generation der tergdaleulebi bildete die erste bestimmende Geistesströmung der georgischen Nationalbewegung. Ihr folgten ab den 1880ern Narodniki, SozialFöderalisten und marxistisch geprägte Nationalisten: »Die führenden Vertreter der tergdaleulebi waren in den 1890er Jahren nicht mehr jene streitbaren Radikalen, welche die traditionellen Lebenswelten ihrer Landsleute grundlegend verändern wollten. Sie hatten sich ihren Platz in der Gesellschaft als gebildete Honoratioren und Symbolfiguren einer Bewegung etabliert, die für eine nationale Renaissance und den Ausgleich unter den sozialen Ständen eintrat.«; Reisner: 2004, S. 191 S. 271-272; Die Menschewiki dominierten als so bezeichnete »Dritte Gruppe« (mesame daselebi) die Politik der Sozialdemokratischen Partei Georgiens. Innerhalb der georgischen Intelligenz verteidigten sie wie die Rechte zwar die nationale Kultur gegen die zaristische »Russifizierung«, aufgrund der multiethnischen Zusammensetzung der Arbeiterschaft verwarfen sie allerdings den Nationalismus und erst recht den Separatismus als Hemmnis einer Arbeiterbewegung und desavouierten die »Versuche einer standesübergreifenden nationalen Einheit« der Parteigänger Tschawtschadses »als Klasseninteresse« (ebd., S. 197). Dass der Separatismus aber nicht nur von den Menschewiki kritisiert wurde, hatte jedoch noch einen weiteren Grund: »Die Ambivalenz der gesamten georgischen Intelligenz […] zur Frage der Selbstbestimmung resultierte auch aus dem Bewusstsein aller Georgier, dass die zarische Militärmacht Schutz vor der Bedrohung aus Persien und besonders dem Osmanischen Reich bot«; ebd., S. 269 Stalin erwies sich in seiner Gewalttätigkeit als typischer Goreli, als Kind einer Stadt, die für Bandenkriege und den Brauch allgemeiner Stadtschlägereien »nach speziellen Regeln, doch mit uneingeschränkter Brutalität« berüchtigt war: »Die Besäufnisse, die Gebete und Kämpfe waren alle miteinander verknüpft, und betrunkene Geistliche fungierten als Schiedsrichter.« (Montefiore: 2007, S. 74) Die Brutalität der Verhältnisse war prädestiniert für einen Untergrundkämpfer und
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liser Seminar, das »die einzigartige Leistung [vollbrachte], der Russischen Revolution einige ihrer unbarmherzigsten Radikalen zu liefern«53 , zum atheistischen Marxisten entwickelt hatte und aus der Illegalität wie ein aggressiver Gangsterpate agierte, brandschatzte, Attentate verübte und Banken überfiel. 1905, als die zaristische Autokratie bei der gescheiterten Revolution unter Generalstreiks, Bauernaufständen und terroristischen Aktionen gefährlich wackelte, kämpfte auch der junge Radikale Stalin mit seinen »Mauseristen« in Tifliser Seitenstraßen und in der westgeorgischen Bergarbeiterstadt Tschiatura, wo er die Manganindustriellen entweder erpressen oder töten ließ, während menschewistische Milizen bewaffneter Arbeiter nach einer ersten erfolgreichen Streikwelle kurzzeitig die Tifliser Vororte einnahmen, die Waffenarsenale der Stadt plünderten und sich der Hass zwischen Armeniern und Aserbaidschanern auf dem Markt von Tiflis in blutigen Scharmützeln entlud, ehe die zaristische Reaktion den Umsturz gewaltsam niederdrückte. Als das Zarenreich und seine alles andere als bewahrenswerten Verhältnisse 1917 dann in sich zusammenfielen, erlangte Georgien als Demokratische Republik die Unabhängigkeit. Die populären Menschewiki bildeten in ihrer Hochburg mit Schordania als Premierminister und Tschcheidse als Präsidenten der Nationalversammlung eine sozialdemokratisch-bürgerliche Regierung, die sich politisch einem westlichen Entwicklungsweg verschrieb und sich gegen die bolschewistische Oktoberrevolution positionierte. Die Menschewiki besorgten eine Bodenreform und setzten eine fortschrittliche Sozialgesetzgebung durch. Den Kapitalismus ließen sie aber unangetastet. Und so blieb die von der kommunistischen Weltbewegung so positiv kommentierte Demokratische Republik ein in ihrer Gestaltungsfreiheit von äußeren kapitalistischen Diktaten beeinträchtigtes »sozialistisches Experiment« der liberalen Bourgeoisie, dass eine schlimme Währungskrise im Griff hielt, wie Mandelstam festhielt: »Tiflis zuckt wie ein Bajazzo an einem Faden, der in Konstantinopel gehalten wird. Es hat sich in eine Abteilung der konstantinopolischen Börse verwandelt.«54 Anfang 1921 marschierte die Rote Armee ungeachtet eines ausgehandelten Friedensvertrags in Georgien ein und vertrieb die Menschewiki ins Exil, verdrängte sie aus der Geschichte. Bolschewistenführer Sergo Ordschonikidse exekutierte die Eingliederung in die Sowjetunion. Ein 1924 von der georgischen Exilregierung initiierter Volksaufstand gegen die sowjetische Besetzung, der »August-Aufstand« wurde, nachdem die Macht einige Tage unter den landesweiten Angriffen der Guerillaeinheiten getaumelt hatte, blutig niedergeschlagen und zehntausend Widerstandskämpfer bei Massenexekutionen hingerichtet.55 Das Land blieb paralysiert zurück.
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Diktator: »Eine georgische Erziehung war die ideale Ausbildung für den terroristischen Gangster, denn sie beruhte auf der heiligen Loyalität gegenüber Angehörigen und Freunden, kämpferischem Geschick, persönlicher Großzügigkeit und der Kunst der Vergeltung – und all das war Stalin in den Nebenstraßen von Gori gehämmert worden.«; ebd., S. 137 Ebd., S. 97 Mandelstam, Ossip: Das Rauschen der Zeit. Gesammelte ›autobiographische‹ Prosa der 20er Jahre, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1989, S. 159 Essad Bey strich die Rolle von Henry Deterding, dem Öl-Industriellen der Royal Dutch Shell und »gefährlichsten Bekämpfer der roten Welt«, bei der Revolte hervor. Deterding, dessen Ölfelder in Baku in die Hände der Bolschewiki gefallen waren, sah Georgien als »geographischen und politi-
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Die Georgische SSR festigte sich als Südbastion des Sowjetimperiums politisch durch die Repression und Terror, kommunistische Volkserziehung und weil sich im planwirtschaftlichen »Aufbaustaat« durch die Industrialisierung die Zahlen der wirtschaftlichen Fruchtbarkeit und die Lebensbedingungen der Menschen schließlich doch verbesserten. Das heißt, die Lebensbedingungen jener Menschen, die nicht deportiert oder ermordet wurden von den beiden Georgiern an der Spitze des Sowjetreichs, Diktator Josef Stalin und Geheimdienstchef Lawrenti Beria, die beide in ihrer Heimat besonders blutrünstig wüteten. Der Große Terror, dieses monströse verordnete Morden jenseits jedweden Vorstellungsvermögens, hinderte viele Georgier jedoch nicht daran, den messianische Hoffnungen des semireligiösen Personenkults zu erliegen und den georgischen Kremlherrscher wie eine Gottheit zu verehren. Dementsprechend wurde die Entstalinisierung unter Chruschtschow als eine nationale Demütigung empfunden, die 1956 gar in einer antisowjetischen Erhebung eruptierte. Der Handlungsimpuls des Widerstands unterschied sich von den Freiheitskämpfen im Ostblock der 1950er, da er keine Massenaktion der Arbeiter gegen die diktatorischen staatskapitalistischen Mangelverhältnisse darstellte, sondern damit begann, dass Tifliser Studenten die unvermittelte Reputationsbeschädigung Stalins anfichten, da sie »die Entweihung des Stalinkultes auch als eine Verletzung ihrer nationalen Gefühle verstanden«56 . Als bei Kundgebungen dann Rufe nach Unabhängigkeit laut wurden, ließ die Parteiführung Milizionäre im »Massaker von Tiflis« die Versammelten niederschießen, über 100 Menschen verloren ihr Leben. Das Tauwettter der Entstalinisierung brachte Georgien aber natürlich partielle gesellschaftliche Freiheiten. In Tiflis erstand eine international gebildete Intellektuellenschicht wieder auf, die es nach Berias Säuberungsaktionen gar nicht mehr hätte geben dürfen. Mit einem dissidenten Nationalbewusstsein und einem künstlerischen Geist des Experimentierens, der sich mit Giorgi Chachawas Transport-Ministerium auch in der Stadtarchitektur mit einem Idealismus niederschlug, der die Jammerwirtschaft der Planbürokraten dementierte. Im Ganzen blieb das Sträuben der Tifliser gegen das abgewrackte System aus Bürokratismus und Schlamperei, aus ideologischer Starrheit und Plattenbau-Tristesse allerdings ambivalent, da sie ihre lebensweltlichen Freiheitsbedürfnisse mit Korruption und Günstlingswirtschaft finanzierten.57
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schen Schlüssel zu den Ölquellen des Kaukasus« (Bey: 1933, S. 227) und unterstützte die »mittellose, von der Welt vergessene« georgische Exilregierung bei ihrem Aufstand. Die Weltpresse habe nach dessen Niederschlagung »einstimmig [erklärt], daß georgisches Blut für das Öl Deterdings gefloßen ist«, ebd., S. 228 Maisuradze/Thun-Hohenstein: 2015, S. 251 Georgien wurde in der Sowjetunion zu einem Symbol für Korruption und Ineffizienz. Die Schmucksammlung von Viktoria, der Frau von Parteichef Wassil Mschawanadse, wurde zum Sinnbild für die Geschäftemacherei in der Partei, für eine Funktionärskaste, die in die eigene Tasche wirtschaftete und illegale Fabriken zur eigenen Bereicherung betrieb. In Tiflis traf Mangel auf Ausschweifung, die Stadt spiegelte »alle Gegensätzlichkeiten des Landes. In dieser Metropole südlichen Charmes mit ihrer liebevoll restaurierten Altstadt gibt es viele schlampig hochgezogene Neubauten die schon bei der Fertigstellung mit ihren bröckelnden Fassaden und dreckigen Treppenhäusern wie Slums aussehen. Hinter den Türen allerdings tun sich zuweilen unerwartet palastartige Wohnungen voller Geschmack und Kultiviertheit auf; nur: In jeder tropft der Wasserhahn. Neben Schön-
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Die verzweifelten Modernisierungsoffensiven von Gorbatschows Perestroika erreichte Georgien nicht mehr wirklich. Die Desintegration der Randrepubliken der UdSSR war angesichts der immer katastrophaleren Wirtschaftslage und immer lauterer Nationalismen für das überlastete Imperium nicht aufzuhalten. Seit 1988 brodelte es offen in Georgien. Dissidentenkreise organisierten Großdemonstrationen, die sich gegen die Versorgungsmisere und die Sowjethegemonie richteten. Kritische und liberale Intellektuelle der oppositionellen Volksfront optieren noch für eine demokratisierte Konföderation. Doch die »Blutnacht von Tiflis« 1989, als Fallschirmjäger des sowjetischen Innenministeriums unter Giftgaseinsatz zwanzig Demonstranten massakrierten, brachte der Agitation radikaler Nationalisten den entscheidenden Auftrieb, die das separastische Ziel eines eigenständigen Kleinstaats artikulierten und dabei die eigenen ethnisch definierten Minderheiten anfeindeten. 1991 erklärte sich Georgien unabhängig. Erster frei gewählter Präsident wurde einer der ultranationalistischen Brandstifter. Den Schriftsteller und Dissidenten Swiad Gamsachurdia, einen irregeführten Hysteriker, »der über den Weltmarkt nichts, aber über die Weltverschwörung gegen Georgien alles weiß« und den unabhängigen Staat »statt in die Befreiung in die Besessenheit, statt in die Unabhängigkeit in die Unzurechnungsfähigkeit«58 führte, trug eine affektgeladene antiimperiale Stimmungslage ins Amt. In einem instabilen Klima des Machtgerangels und Barrikadenbaus putschten 1992 die Nationalgarde und die paramilitärische Kriminellenbande Mchedrioni. Ein bluttriefender Bürgerkrieg in der Innenstadt von Tiflis gipfelte in der Flucht Gamsachurdias. Die Mchedrioni verhalfen daraufhin dem langjährigen Ersten Sekretär der KPdSU in der Georgischen SSR und letzten Außenminister der Sowjetunion Eduard Schewardnadse ins Präsidentenamt, um das Land durch eine apokalyptisch dysfunktionale Übergangszeit zur Marktwirtschaft zu führen. Schewardnadse schlug 1993 einen bewaffneten Aufstand des gestürzten Gamsachurdia nieder, überlebte Attentatsversuche und hielt sich als Garant eines wackeligen Friedens an der Macht, indem es gelang ihm, die fragmentierte Milizen- und Parteienlandschaft auszubalancieren und zu verhindern, dass sich die junge Nation als Ganzes in einen »zweiten Libanon« verwandelte. Jedoch entluden sich die Identitäts- und Interessenskonflikte zwischen der georgischen Mehrheitsbevölkerung und den nichtgeorgischen Bevölkerungsteilen in Sezessionskriegen in Südossetien und Abchasien, die die territoriale Integrität des Landes destruierten: bereits seit 1992 verfügt Georgien über keine Kontrolle über Südossetien, seit 1993 ist Abchasien quasi unabhängig. Die militärische Auseinandersetzung endete mit der Vertreibung der georgischen Truppen und Bevölkerung. Die 1990er wurden ein düsteres, apathisches Jahrzehnt. Das Land wanderte durch einen langsamen Alptraum aus Armut und Krieg. Der allgemeine Lebensstandard sank gegenüber der Zeit des Sowjetkommunismus, der zwar die Freiheit der Menschen in jeder Hinsicht unterdrückt hatte, aber immerhin Arbeit und Stabilität garantierte. Den
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heitssinn und Eleganz findet man allerdings auch – weit mehr als anderswo in der Sowjetunion – Prunksucht und Raffertum […]. Der real existierende Sozialismus in Georgien trägt unverkennbar orientalische Züge«; Engelbrecht: 1984 Schmidt-Häuer, Christian: »Erst befreit, dann besessen«, in: Die Zeit, 1/1991
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neuen Kapitalismus überlagerten klientilistische und mafiöse Strukturen. Schmugglerringe und Banditen schufen eine diffuse Sicherheitslage. Nach manipulierten Parlamentswahlen rief 2003 die übervorteilte Opposition um den jungen, international gewandten früheren Justizminister Micheil Saakaschwili zu friedlichen Protestkundgebungen auf und zwang mit der unblutigen »Rosenrevolution« Schewardnadse zum Rückzug. Die »Rosenrevolution« führte eine junge, urbane Tifliser Intelligenz, die eine funktionierende staatsbürgerliche Nation einverlangte und das heruntergewirtschaftete System aus Patrimonialismus und Klientilismus, Schattenwirtschaft und Ämterkauf nicht länger akzeptierte. Der charismatische, aber ungestüme und impulsive Präsident Saakaschwili leitete eine ökonomische und gesellschaftliche Modernisierung und Westorientierung Georgiens ein. Sein Reformkabinett bekämpfte Beamtenfilz und die Mafia, zerschlug den Schwarzmarkt, besorgte konsequente Besteuerungen und eine Polizeireform. Allerdings nahm der in seine eigene Ausstrahlung verliebte Staatschef selbst zunehmend autoritäre Züge an, indem er 2007 Massenproteste niederknüppeln ließ und eine eigene Machtvertikale für die Partikularinteressen seines Apparats schuf. Auch fing Saakaschwili an, sich und seine Macht zu überschätzen. Zwar gelang ihm, den von Schewardnadse geduldeten Mafia-Kleinstaat der Autonomen Republik Adscharien wiedereinzubinden und eine Blüte der Hafenstadt Batumi als Schwarzmeer-Las Vegas anzukurbeln. Seine Eingliederungsambitionen der übrigen abtrünnigen Gebiete scheiterten aber 2008 mit desaströsem Ergebnis im fünftägigen Kaukasuskrieg mit Russland.59 Nach zwei Amtszeiten musste der machtbewusste Saakaschwili 2013 als Präsident ausscheiden.60 Seitdem bestimmt ein Parteienbündnis um den Multimilliardär Bidsina Iwanischwili, das 2012 bereits die Parlamentswahlen entschieden hat, die georgische Politik. Die Sammlungsbewegung des in den russischen Privatisierungsraubzügen aufgestiegenen Bankers und Industriellen vereint marktwirtschaftlich eingestellte Liberale, Nationalisten und Religiös-Konservative, die die intoleranten Werte der Orthodoxen Kirche verbreiten. Den prowestlichen Reformkurs führt das für den europäischen Energiekorridor strategisch wichtige Transitland für Erdöl- und Erdgas aus dem Kaspischen Meer und Zentralasien jedoch trotz konservativerer Wert- und Ordnungsvorstellungen fort. 59
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Wiederholte Artillerie-Scharmützeln mit Freischärlern veranlassten die georgischen Streitkräfte zu einer wahnwitzigen Militäraktion gegen die südossetische Hauptstadt Zchinwali, die auch die mit internationalem Mandat stationierte russische Friedenstruppe traf. Die längst aufmarschbereite russische Armee trat daraufhin über die Grenze, sicherte Zchinwali und entschied den Krieg, der 850 Todesopfer forderte, militärisch rasch für sich, indem sie kurzzeitig, bis zu einem international vermittelten Waffenstillstand, weit in kerngeorgisches Gebiet vorrückte. Zwar verstand Saakaschwili daraufhin, diese russische Invasion in patriotische Glut zu transformieren und innenpolitisch die Deutung der Ereignisse festzuschreiben, dass Russland den Krieg begonnen habe, der Verlust der abgedrifteten Republiken war damit allerdings besiegelt und auch die angestrebte Eingliederung in die atlantischen Sicherheitsstrukturen des Nato-Militärbündnisses versandete. Saakaschwili emigrierte daraufhin, da die Justiz der neuen Regierung wegen Amtsmissbrauch und Unterschlagung einen Haftbefehl gegen ihn ausstellte. 2015 nahm er die ukrainische Staatsbürgerschaft an und wurde von Präsident Poroschenko bis zu einem Zerwürfnis als Gouverneur von Odessa eingesetzt.
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»Aber noch nie hatte ich eine so verworrene, bunte, schwerelose und großartige Stadt wie Tiflis gesehen« 61 Tiflis bildet einen »Kreuzweg der Welten«, wie es Armin T. Wegner ausdrückte, der an der Kaukasusstadt allerdings keinen Gefallen fand (»O Tiflis, mit deinem Schmutz, deiner Gesinnungslosigkeit, deiner Habgier«62 ). Wie gegen die vielen schmeichelten Wörterleuchten der georgienbegeisterten Poeten gewendet verglich Wegner die das Stadtbild bestimmenden, malerisch auf dem Gebirgskamm ausgebreiteten Ruinen der Perserfestung Narikala mit einem »abgebrochene[n] Stumpf eines hohlen Zahnes« und bezeichnete die Felsrücken der Kura-Schlucht als »[z]wei kahle Kiefer, im Süden zusammenstoßend, […] zwischen denen die Stadt mit ihren blaßroten Dächern wie eine welke Zunge liegt.«63 Mit dieser Stadtschmähung ist der Literat aber natürlich alleine geblieben. Denn der Anblick der terrassenartigen Tifliser Altstadt, die unterhalb der Festungslinie, den felsenflankierten, von Kiefern und Sykomoren umwucherten zinnenbewehrten Ruinen der Zitadelle und der in den einst geschlossenen Verteidigungskomplex gesetzten Narikala-Kirche aus dem 12. Jahrhundert lagert, ist ein überwältigender. Unterhalb der Narikala wuchert ein vielgestaltiges Ganzes. Die Festung gibt den Blick auf ein erhabenes Stadtpanorama frei, das in einer Mannigfaltigkeit architektonischer und landschaftlicher Gestaltungen auseinanderfließt: »gerahmt von Pinienzweigen, […] [zeigt sich] undeutlich die große, verwirrende, lebendige und vollkommen improvisiert wirkende Stadt«64 . Die unzähligen Türme der steinernen mittelalterlichen Kuppelkirchen mit ihren emporstrebenden Kuppeltambouren und Kegeldächern akzentuieren zwar, aber sie gliedern nicht eine unübersichtliche, terrassenartige Staffelung bunter, galerieumwundener Häuser mit filigranen holzgeschnitzten Balkonen und Veranden und einem intensiven roten Ziegelkolorit. Eine persisch beeinflusste Stadtarchitektur mit Bädern und Gärten, die noch im 19. Jahrhundert in ihrer »orientalische[n] Farbe […] kaum in dieselbe Welt zu gehören [schien] wie St. Petersburg«65 . Die Altstadt ist ein verschlungenes Gebilde aus intimen Stimmungen: »Gäßchen, in denen das Wasser rinnt und rieselt, Sträßchen, die durch ein System von Innenhöfen zu führen scheinen, Häuser[n] wie Nester, in Nester geschachtelt – […] Echo des Echos der letzten Seufzer an etwas Sterbendem, nun Gestorbenem, dessen Todesdatum so recht
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Paustowskij: 1983, S. 182 Wegner: 1986, S. 154 Ebd., S. 131; Wegners Abneigung gegen Tiflis füllt ein ganzes Kapitel seines Buchs: »Dies ist eine Stadt der Verworfenheit, der Gesinnungslosigkeit und der Leidenschaften, in der die Mehrzahl nur unschwer verbergen kann, daß sie im Grunde von allem anderen als der Lehre gegenseitiger Hilfe erfüllt ist und nur Zeit hat, an den eigenen Vorteil, die Pfründe eines Amtes für sich oder seine Verwandten zu denken, noch immer voll verstecktem Haß gegen die anderen und einer großmännischen Eitelkeit für das eigene Volkstum. Inmitten der schönen Boulevards verkommen die prächtigen Häuser, nun nicht mehr zärtlich gepflegt, weil sie nicht mehr einem selber, sondern – allen gehören. In den Klubs, im Parkett der Theater noch immer ein engstirniges, beutelüsternes Kleinbürgertum und die grell geschminkten Münder von Frauen, die giftig wie Fliegenpilze leuchten.«; ebd., S. 132-133 Wackwitz: 2014, S. 19 Montefiore: 2007, S. 34
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keiner weiß.«66 Auch an der linken Flussseite, am Steilufer der Kura-Klippe, hängen die Balkone, wie Bitow literarisch ausdrückt, über dem »breiten, seifigen Flusses tatsächlich wie ein Nest: Balken und Balkons ragen wie die Reiser eines Nests über den Rand. Am rechten, flachen Ufer kriecht sie geschmeidig und unaufhörlich aufwärts, umwindet die nahgelegenen Hänge wie eine Weinrebe, […] und dieser gesamte Teppich ist zuletzt – die Stadt. Von oben stellt sie sich als Etagere dar, als wildwuchernde Zündholzschachtel: Brettchen, Terrassen, Treppchen und Galerien scheinen Haus mit Haus zu verbinden […] Alles wuchert, hat sich verheddert, ist verwachsen – alles ist lebendig.«67 An den heißen Schwefelquellen, im Altstadtviertel Abanotubani mit seinen Thermalbädern, ist Tiflis in Architektur und Stadtstruktur am stärksten durch die persische und zentralasiatischen Kulturgeschichte beeinflusst, was speziell zwei Einzelbauten aus dem späten 19. Jahrhundert zum Ausdruck bringen. Zum einen das 1893 erbaute Orbeliani-Bad in der Gestalt einer lasurblau gekachelten persischen Madrasa, dessen Portal mit eingezeichnetem Hufeisenbogen von Arabesken durchwirkte, türkise und kobaltblaue Keramikfliesen und zwei kleine minarettartige Türme verzieren. Zum anderen die 1895 errichtete Jumah Moschee, ein Ziegelbau, dessen mit einem laternenartigen Turmabschluss akzentuiertes Minarett sich über das Abanotubani-Viertel erhebt. Hier blieb Tiflis das ganze 19. Jahrhundert eine multiethnische asiatische Stadt. Der »Kreuzweg der Welten« selbst wurde jedoch erweitert: ein abruptes Umschlagen führte nun ins neugeschaffene zaristische Stadtzentrum, dass sich an die Hauptstraße Rustaweli Avenue, die in der Zarenzeit Golowinski Prospekt hieß, als urbane Gravitationsachse verlagerte. »Der Golowinski-Prospekt erinnerte durch seine Eleganz an Paris. […] Grandhotels und die Paläste georgischer Fürsten und armenischer Ölbarone säumten die Straße, doch doch wenn man das Militärhauptquartier hinter sich ließ, ging der Jerevan-Platz über in ein asiatisches Sammelsurium. Exotisch gekleidete Straßenhändler […] [,] Wasserträger, Höker, Taschendiebe und Gepäckträger belieferten oder bestahlen den Armenischen und den Persischen Basar, deren Gassen eher denen eines levantinischen Souks als einer europäischen Stadt ähnelten. Kamel- und Eselkarawanen, beladen mit Seidenstoffen und Gewürzen aus Persien und Turkestan sowie mit Obst und Weinschläuchen aus den üppigen georgischen Landgebieten, schoben sich durch die Tore der Karawanserei.«68 Die triumphale Allee der Rustaweli Avenue macht mit ihren historistischen Repräsentationsbauten und üppigen Platanen einen imposanten Eindruck und veranschaulicht die Kraft und Würde der Architektur dieser Zeit. Der Historismus der Rustaweli Avenue ist keine Kunst der Plagiatoren und Diebe, aber er schafft gerade auch in seinem künstlerischen Gelingen ästhetische Erfahrungen architektonischer Artifizialität und Inauthentizität. Denn das Wandlungsübermaß dieser vielzüngig nacherzählenden Architektur
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entfacht natürlich auch im Tiflis des 19. Jahrhunderts eine Dämonie des Inauthentischen, eine trunken machende Artifizialisierung und Entnaturalisierung der überdies importierten geschichtlichen Stile in einer Zeit, in der »das Bedürfnis nach dem Opium der Bilder […] glühender geworden [ist] denn je.«69 In der verwirrenden ästhetischen Vielgestaltigkeit fast zwangsläufig veräußerlichender und verhärtender Aneignungen ausländischer Kunstvergangenheiten findet sich dann zwar keine der kulturellen Trägergruppen der parfümduftenden und geschminkten zweiten Jahrhunderthälfte zur Gänze architektursemantisch wieder, dafür aber symbolisieren diese Bauten in ihrer Gesamtheit das Bewusstsein einer Übergangsund Krisenzeit, speziell die allgemeine kulturelle Ambivalenz des Tifliser Fin de Siécle, das die intellektuellen und gebildeten Schichten einerseits in krisenhafte Zustände ästhetizistischer und (kunst)mystischer Ausschweifungen versinken ließ, andererseits zu alternativen gesellschaftlichen Gemeinschaftsentwürfen zwischen Nationalismus und Marxismus verleitete.70 Die Rustaweli Avenue veranschaulicht damit unbeabsichtigt, »daß die Architektur des 19. Jahrhunderts nur so wie sie war der damaligen Übergangsgesellschaft ihren typischen Existenzraum und adäquaten ideell-ästhetischen Ausdruck zu schaffen vermochte – […] [sie] symbolisierte […] die Gesellschaftsstruktur, das menschliche Leben und die geistig-kulturelle Befindlichkeit.«71 Denn der Eklektizismus verkörperte eine Epochenzerrissenheit, ebenso einen Zeitdegout bürgerlicher Entfremdungserscheinungen. Eine gesteigerte gesellschaftliche Polarisation, die den Menschen, wie Hans Sedlmayr schrieb, »einerseits in die Vergangenheit, andererseits in die Zukunft [reißt]. In Historismus und Futurismus wird die wahre Gegenwart zerspalten. Dem Kult der Vergangenheit und der Zukunft werden die größten Opfer gebracht. Alles behalten, alles konservieren – alles aufgeben, alles von neuem anfangen sind die Parolen, eine so lebensfeindlich wie die andere.«72 An der Rustaweli Avenue mit ihrer russifizierten Geschäftigkeit, der abendländischen Ungeduld und Arbeitsbegierde, den Theatern und Salons, hatten die führenden Tifliser Schichten nach der Jahrhundertmitte ihre Kaviartage. Die russische Verwaltungs- und die armenische Wirtschaftselite sowie die politisch wie ökonomisch zurückgesetzten georgischen Edelleute, die lange nur Verachtung für die über gehabt hatten, die arbeiteten und daher wirtschaftliche Aktivitäten dem handeltreibenden armenischen Stadtbürgertum überlassen hatten, verhandelten hier ihre stadtkulturelle Gewichtung mit historistischer Repräsentationsarchitektur. Sie schufen eine Stadt »mit Bäumen und Gebäuden ausgesprochen europäischer Architektur, die das Herz auf Petersburger Art beunruhigt, nicht mit der Unrast der Begeisterung oder Leidenschaft, sondern mit einer neugierigen Unruhe, der Unruhe einer halb schon erratenen Erzählung«73 , wie es Pasternak beschrieb. 69 70
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Baur: 1981, S. 218-219 »In Russland sympathisierte der Kaufmanns- und Mittelstand, der keinen Zugang zur politischen Macht hatte, häufig mit den Revolutionären, doch in Georgien konnten diese sich auch auf den Lokalpatriotismus und auf ein Clansystem stützen, das bis in den Hochadel reichte.«; Montefiore: 2007, S. 126-127 Dolgner: 1993, S. 138 Sedlmayr: 1956, S. 115 Pasternak: 1989, S. 51
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Der Historismus als importierter Baustil der russischen Imperialmacht musste als architektonisches Akkumulationsinstrument kulturellen Kapitals auch jenen Georgiern dienen, die eigentlich mit der romantischen Nationalbewegung einen emphatischen Geschichtsbegriff entwickelten, der sich der weit zurück liegenden ruhmreichen Vergangenheit des Landes erinnerte und die Herausbildung eines Nationalbewusstseins als eine über ihre Sprache, Kunst und Geschichte bestimmte »Kulturnation«74 anstrebte. Was für Traditionalisten der patriarchalischen Lebens- und Repräsentationsweisen der alten Adelskultur allerdings in sich widersprüchlich geblieben wäre, versuchte die Generation der tergdaleulebi, die ein zukunftsfähiges »Nations- und Vaterlandsverständnis nach europäischem Muster zu entwerfen [bestrebte], auf dessen Grundlage sich eine neue nationale Identität, ein neues kulturelles Gedächtnis aufbauen ließ«75 , inhaltlich auszutarieren. Für diese Idee stand der Schriftsteller und Publizist Fürst Ilia Tschawtschawadse, der wichtigste georgische Intellektuelle des 19. Jahrhunderts. Ein romantischer Nationalist, der das ländliche Georgien idealisierte, sich aber im Angesicht seiner russischen Bildungserfahrung eine »nationale Wiedergeburt« unter einer Regierung aufgeklärter Aristokraten wünschte – gleichermaßen gegen den rückständigen Feudalismus und die Russifizierung des Landes gewandt, in »heftige[n] Auseinandersetzungen mit dem assimilationsbereiten Teil des Adels, der zur Aufgabe ethnischer Eigenheit bereit schien«76 . Tschawtschawadse zählte zu den Gründern vieler Kultur- und Bildungseinrichtungen in Tiflis, bewirkte ein Erstarken der nationalen Emanzipationsbewegung.77 Anders als die nächste Intellektuellengeneration, die zwischen sozialrevolutionären Separatismus und menschewistischen Internationalismus schwankte, suchte Tschawtschawadse auch als
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Diese identitätsbildende Idee einer über die kulturelle Einheit begründeten »Kulturnation«, den das 19. Jahrhundert entwickelte, instrumentalisierten später die Sowjetideologen, um Georgien »als das älteste Kulturvolk der Sowjetunion mit einer tief in die Geschichte zurückreichenden Staatlichkeit und als Nachkommen einer prähistorischen Zivilisation zu inszenieren. Die in der Gegenwart fehlende Nationalstaatlichkeit wurde vollständig durch die Kultur überdeckt« (Maisuradze/Thun-Hohenstein: 2015, S. 205) Allerdings wurde das patriotische Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts nicht mehr im Sinne »der Selbstbestimmung des georgisches Volkes als einer Nation, der Erweckung seines nationalen Gefühls« genutzt, sondern diente den Sowjets als ein »spezifisches Machtinstrument […], um unterschiedliche ›ethnopolitische Mythen‹ zu etablieren, die in innen- wie außenpolitische Entscheidungen der imperialen Macht legitimieren sollten.«; ebd., S. 288 Ebd., S. 50 Reisner: 2004, S. 99; »Keine andere Nation im Kräftefeld von Persern, Türken und Russen hat die Traditionen des Kaukasus so eng mit der europäischen Kultur verbunden, mit dem Völkerfrühling des 19. Jahrhunderts, mit dem polnischen Freiheitskampf, mit dem italienischen Risorgimento.«; Schmidt-Häuer, Christian: »Das Menetekel von Tiflis«, in: Die Zeit, 18/1989 Ein entscheidender organisatorischer Träger der georgischen Nationalbewegung war dabei die 1879 gegründete »Gesellschaft zur Verbreitung der Lese- und Schreibkunde unter den Georgiern«, die Alphabetisierungsgesellschaft, die bis 1922 Schulen betrieb, Bibliotheken aufbaute, Künstlerund Studentenstipendien stiftete und georgische Bücher und Unterrichtsmaterial herausgab. Tschawtschawadse stand bis zu seiner Ermordung 28 Jahre lang als Vorsitzender an der Spitze der Alphabetisierungsgesellschaft. Ein weitere wichtige Institution, die Tschawtschawadse 1874 mitgründete und als Direktor leitete, war die private Landbank des georgischen Adels, die die Verarmung und Marginalisierung des niederen Adels in Folge der Bauernbefreiung verhindern sollte.
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Pamphletist einen Interessenausgleich mit der zaristischen Bürokratie und versuchte den Klassenkampf zu vermeiden. Er beschränkte und wandte seinen Patriotismus nach innen: »Kein politisch-militärischer Widerstand gegen das russische Imperium, sondern Kompromisse mit der Staatsmacht; Stärkung der nationalen Sprache und Schrift; Volksbildung; Förderung von Literatur und Kunst; […] Jugendstil und Bürgerboheme.«78 Diese nicht als Katzbuckeln gegenüber den russischen Administratoren betrachtete Haltung der tergdaleulebi fand sich nur indirekt in den Gründerzeitbauten an der Rustaweli Avenue wieder, und das nicht nur, weil ihre Bauherren hauptsächlich nicht georgische Erbadelige, sondern russische Beamte und armenische Millionäre waren. Die an Mitteilsamkeit und äußerlicher Unterhaltsamkeit üppigen Palais- und Theaterfassaden drückten zwar die Ideen, Belange und Auffassungen dieses Halbjahrhunderts aus – das Aufeinandertreffen zweier Gesellschaftsklassen, deren Stärke in der äußeren Haltung lag –, die Entwicklung eines aufgeklärten nationalen Gedächtnisses stimulierten sie in ihrer stilistischen Inauthentizität allerdings nur partiell. Denn speziell die staatlichen Auftragsbauten blieben entweder in einer indifferent internationalen Architektursprache des Historismus gehalten oder exotisierten Georgien zur Befriedigung romantischer Sehnsüchte wie bei den freilich von großem Gefühl und einem Geist des Schöpfertums zu konzentrierten Stimmungen veredelten Orientalismen des Nationaltheaters und des Rathauses. So kennzeichnet das Sakaria Paliaschwili Nationaltheater, benannt nach dem georgischen Nationalkomponisten, ein eklektizistischer Orientalismus, der in geistiger Heiterkeit und romantischen Sehnen die Schwelle zu Großem überschreitet. Der Entwurf des deutsch-baltischen Architekten Viktor Schröter, der als Hauptbaumeister der Kaiserlichen Theaterdirektion beachtliche Bühnenhäuser in Russland realisierte, beeindruckt mit der Opulenz seines Exotismus. Er besitzt sehr viel Entschiedenheit und schöne komplizierende Einzelheiten, er konzentriert die Illusion eines Orients, wie er als romantisches Gegenbild nur in den Leidenschaften eines Europäers existieren konnte. Der Stil ist verführerisch und sittigend zugleich, verursacht in seiner ganz auf sich gerichteten Intensität der Detaillierung ein unerwartetes Glänzen in den Augen. Zu einem nicht geringen Maße fasziniert das Nationaltheater allerdings natürlich auch durch die Irritation seiner charmanten Schwindeleien. Denn sein mit leichter Hand verdichteter Orientalismus ist zu deutlich, zu projiziert: als Illusion der abendländischen Fantasie, die lediglich eine entlegene Gegend der georgischen Seele streift. Bei der Eröffnung 1896 eignete er sich dementsprechend wenig für eine politisch-symbolische Neugeburt des gleichkonfessionellen Georgiens und veranschaulicht unabsichtlich – indem er das Phantasma des Historismus in seiner ganzen Lächerlichkeit der Inszeniertheit erstrahlen lässt – gerade darin die Unhaltbarkeit des imperialen Arrangements.79 78 79
Wackwitz: 2014, S. 93-94 Eine auch unmittelbar gesellschaftlich aus dem Ruder gelaufene kulturelle Figuration des Zarenreichs hatte das erste Tifliser Opernhaus, das Vizekönig Woronzow 1851 hatte errichten lassen, mit sich gebracht. Wie bei den vielen anderen kulturellen Initiativen Woronzows auch stand hinter dem Theaterbau zwar einerseits der liberal-aufklärerische Idealismus des Fürsten, andererseits aber die kalkulierende Absicht, eine Assimilierung der einst rebellischen, russophoben Oberschicht Georgiens zu Vasallen des Zaren zu erwirken. »Previously Russophobic Georgians
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Was wie eine misslungene Kunst wirkt, wie die Imagination einer »Antithese westlicher Zivilisation« als »Ausdruck von Defiziten und Obsessionen der europäischen Psyche«80 , entfesselt beim Nationaltheater jedoch jene höhere Schönheit opulenter Künstlichkeit, die unversehens Bereitwilligkeit erzeugt, sich hinreißen zu lassen. Ein im räumlichen Aufbau den europäischen Bautypus ausführendes Theatergebäude, bei dem sich in einer komplexen Komposition ein dreibogiger Portikus mit Gesimsen und zwiebelartigen Turmaufsätzen gegen ein überhöhtes Entree und niedrigere Seitenschiffe zeichnet, schmückte Viktor Schröter mit in spielender, gelassener Überlegenheit entstandenen ästhetischen Gebilden der islamischen Architekturgeschichte, die erfrischende, tiefe Empfindungen schaffen. Alabasterhafte, mit zarten Muqarnas, den persischen Stalaktitenfriesen, und Arabesken reliefierte weiße Bögen und Gesimse sind in eine opulent rot-gelb gestreifte Fassade gesetzt. Und auch im Inneren des schuf Schröter in der wändefüllenden Pracht allen Schmucks eine schwärmerische Fantastik aus golden-weißen Stalaktitenfriesen und freskierten Arabesken, die in sattes Blau und Violett austreiben – Räume, die blühen. Auch der zweite nach den künstlerischen Maßstäben des 19. Jahrhunderts grandiose Theaterbau an der Rustaweli Avenue, das 1879 errichtete Rustaweli Theater, berichtigte das Bild Transkaukasiens als eine Region kultureller Rückständigkeit und Verschlamptheit. Anders als das Nationaltheater versuchte seine Gebäudegestaltung dies allerdings nicht über einen eklektizistischen Orientalismus, der über seinen Kunstreichtum Exotismen legitimiert, sondern über höfische Rokoko-Ornamente St. Petersburger Provenienz. Die kräftige, plastisch ausgearbeitete Fassade des Rustaweli Theaters, die der polnische Architekt Aleksander Szymkiewicz zusammen mit Cornell K. Tatishchev entwarf, bemüht das Gewicht und die Autorität zaristischer Repräsentationsarchitektur über eine geschickte Handhabung der Details – zauberzarte Gipsverzierungen in Elfenbeinteint, adlig verschliffen und mit Schwulst umwickelt, die auch St. Petersburgern, die in Tiflis ihre Geschäfte trieben oder ihre Gesundheit kurierten, Achtung abgerungen haben dürften. Der vom armenischen Magnaten Alexander Mantashev, dem reichsten Ölbaron der Stadt, gestiftete Theaterbau, ein Haus der Muße und Eleganz der Tifliser KaviarKaste, für die Tändeleien und das Nichtstun der Reichen, ist ein Höhepunkt des
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pinned Russian medals and decorations upon their chests and came to believe, unquestioningly, that the foundation of a series of publishing houses and theatres in Tbilisi and across the rest of Georgia was a clear sign of the Russian Tsar’s ultimate benevolence with regard to their country. The rare exceptions, who refused to exchange their Georgian Chokhas for Russian uniforms and insignias, immediately got a taste of Vorontsov’s deceitful designs […] to pull the wool over the eyes of those Georgians, who had fought selflessly to keep off the Russian yoke.« (Turashvili, Dato: »There Was Once a City…«, in: Modi to Georgia, 8/2011) Scudieri entwarf eine Italienische Oper im Renaissancestil, die bald das gesellschaftliche Nabel der Stadt wurde. Bereits 1874 brannte dieses Opernhaus allerdings ab. Aller Wahrscheinlichkeit nach aufgrund einer durch eine auf Geheiß der russischen Stadthalter betriebenen Brandstiftung. Das Theater war der Imperialmacht als Zentrum eines neuen georgischen Selbstbewusstseins unheimlich geworden. Die zaristische Administration hielt darum auch lange einen Wiederaufbau zurück, den nach einem Wettbewerb Viktor Schröter aus Sankt Petersburg gewann. Koppelkamm: 1987, S. 26
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Neurokoko, der die Einzelformen seiner Ornamentik in »Kontraposition zur hieratischen Strenge, zur Wuchtigkeit und Dunkeltonigkeit der Renaissance« in einen geschwungen vegetabilen und teigigen Zierrat überführte, in »Phantasiereichtum, spielerische Leicht(leb)igkeit und Hellfarbigkeit«81 . Rocailleumschlungene Rundbogenund Rundfenster, kannelierte Lisenen, volutenverzierte Sprenggiebel und ein bauchiges Mansarddach in Rautendeckung und mit weitergespielten Oculi vereinen das Reichhaltige und Leichte des Rokokos, mit Sedlmayr »rationalen Verstand und irrationale Triebe […] in geistreichem Gegeneinanderspiel beider Sphären«82 . Weiter stadteinwärts schließt das 1915 errichtete, mit renaissancistischen Fensterverdachungen, Gesimsen, Pilastern und Blendbalustraden aufwendig bespielte Hotel Majestic an. Das Nobelhotel, dass im Bürgerkrieg 1992 niederbrannte und 2001 als Marriott wiedererrichtet wurde, entwarf der zu beachtlichen künstlerischen Leistungen befähigte armenische Architekt Gavril Ter-Mikelov, mit seinen frischen, vielseitigen und unabhängigen Schaffen eine der prägendsten Gestalten des blühenden Fin de Siécle in Baku, in einer unüblichen, an die sich biegende Straßenführung angepassten geschwungenen Fassade.83 Hier führt die Rustaweli Avenue in den zentralen Stadtplatz über, den Freiheitsplatz, den einstigen Jerewan Platz. Der Schauplatz des »Massakers von Tiflis«, der Großdemonstrationen der »Rosenrevolution« und des berühmten Überfalls auf die Bank von Tiflis 1907, verübt durch eine Brigantenbande, die dem jungen Stalin unterstand und mit ihrem revolutionären »Räuber-und-Kosaken-Spiel« die Auslandspartei Lenins finanzierte.84 Das Tifliser Rathaus, ein markantes, wirkliches Kunstwerk des Historismus, bereicherte hier würdig jene Zeit. Bei seinem Entwurf, dem 1886 abgeschlossenen Umbau
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Stalla: 1996, S. 230 Sedlmayr: 1956, S. 145-146 »The rounded façade of the corner perfectly suited the space. Ter-Mikelov also developed another significant innovation to match the imperfect nature of the avenue, which is crooked. Here, he contoured the façade to correspond with the street. ›The Majestic‹ was the only building in the Russian Empire, which had a rounded façade corner.«; Amashukeli, Tamar: »A long Way from the ›Majestic‹ to the Tbilisi ›Marriott‹«, in: Modi to Georgia, 1/2011 Mit Handgranaten überfielen die waghalsigen Banditen in dieser Weltstunde der Revolution einen Geldtransport der Staatsbank und ließen 40 tote Kosaken und Gendarmen auf dem mit Glassplittern und Pferdeleichen übersäten Platz zurück. »Die Ereignisse jenes Tages sollten überall auf der Welt Schlagzeilen machen, Tiflis in den Grundfesten erschüttern und die ohnehin zerbröckelnde Sozialdemokratie vollends in sich bekriegende Fraktionen spalten. Jener Tag sollte sowohl Stalins Karriere festigen als sie beinahe zerstören« (Montefiore: 2007, S. 34). Der Banküberfall bildete den Grundstein für Stalins Aufstieg in der Partei und in der Gunst Lenins, aufgrund seines Zuwiderhandelns gegen die sozialdemokratische Verurteilung des Terrorismus, musste er jedoch das menschewistisch dominierte Georgien verlassen und in seiner späteren Biografie seine Beteiligung an der Gewalttat herunterspielen. Den Angriff führte Stalins psychopathisch gewalttätiger Handlanger Kamo Ter-Petrosjan, ein gefürchteter Brigant armenischer Abstammung, der im Namen des Marxismus jahrelang Überfälle, Brandstiftungen und Morde verübte. Auch die übrigen Bankräuber, eine Schar »schwindsüchtiger junger Männer«, vereinten wie Stalin marxistisches Eiferertum mit kaukasischem Banditentum: »Einige waren Gangster, andere gewöhnliche Schurken und manche, für Georgien typisch, verarmte Fürsten aus dach- und mauerlosen Schlössern in den Provinzen. Ihre Taten mochten kriminell sein, aber sie machten sich nichts aus Geld, denn vor allem waren sie Lenin, der Partei und Stalin, ihrem Strippenzieher in Tiflis, ergeben.«; ebd., S. 37
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einer Polizeikaserne, erwies sich der Deutsche Paul Stern als ein Architekt, der seinen Verstand und seinen Geschmack benutzt und sich nicht mit nebensächlichen Erwägungen quält. Sein orientalistischer Eklektizismus ist eine Kleidung in reserviertem Schnitt, jedoch beseelt von einem Feuer des Geistes und der Hochherzigkeit. Stern verausgabte seine Kraft zu einer mit Inhalt gesättigten Stilarchitektur, die in gedämpfter Pathetik und in einer Wirkung, als wäre sie in lavierten Tuschefarben gemalt, Attribute islamischer Baukunst, genial und tief detailliert, auf einen breit lagernden, zartfarbig rosa-weißen Bau aufträgt. Florale Arabeskenreliefs fassen fein gezackte Spitzbogenfenster ein, Lisenen mit rosa kanellierten Putzstreifen und Stalaktiten- und Akanthusfriese ziehen über die Fassade, über die sich axial eine flache islamische Kuppel mit gefächerter Deckung und dahinter ein gestaffelter minerettartiger Turm mit stalaktitenverzierter Laterne erhebt. Wie beim Nationaltheater und dem von dem Architekten Ghazar Sarkisian für den Händler Ahverdi Kalantarov ebenso eindrucksvoll mit arabeskengeschmückten Hufeisenbögen und Stalaktitenfriesen besetzten Kalantarov Haus, weitet hier ein eklektischer romantischer Orientalismus das Gefühl einer Illusionsgrandiosität ins Unermeßliche. »Hier werden Sie nicht den Verstand verlieren, hier paßt auch auch Ihre Verrücktheit rein. In dieser Stadt ist noch Platz für einen Stadtverrückten […]. Diese riesige Stadt wird unendlich für Sie in Erfüllung gehen.« 85 Auch an der zweiten zaristischen Prachtstraße der Stadt, der Agmaschenebeli Avenue, entfaltet die Idiomatik des Historismus eine fiebrige, heiße Blüte. Auch hier werden stilistisch viele Fäden abgewickelt, wird die Ideenverschiedenheit hinter den historistischen Stilaneignungen veranschaulicht. Die Agmaschenebeli Avenue repräsentiert die stilistische Dissonanz, Vielstimmigkeit und Uneinigkeit des Späthistorismus, seine verschiedenartigen geistigen Zugänge und unterschiedlichen Architektentemperamente. Der »in der theoretischen Reflexion häufig unversöhnlich erscheinende Dualismus von klassischer und mittelalterlicher Architekturrezeption« im frühen Historismus ist auch hier einem »Anspruch auf die freie Verfügbarkeit über alle von der Geschichte bereitgestellten Formenmittel [gewichen]. Das Streben nach einem Einheitsstil hatte sich als Fiktion erwiesen, die Stilsuche wurde gegenstandslos, der Stilpluralismus allgemein akzeptiert.«86 Die Agmaschenebeli Avenue kennzeichnet ein exzellierter Eklektizismus, der einer schnell verwöhnten und verdorbenen nouvelle richesse die Reputierlichkeit der geschichtlichen Stile verleihen will, die Gereiztheit verdorbener Nerven. Die dekorsüchtige Zeit des Historismus schuf sich einen Boulevard der Theater, Bordelle und Schenken, der sich in ein stilistisches Übertreibungsfest steigert, einen hektischen Verschleiß der Formen, eigenrhythmisch in seiner Regellosigkeit. Als würden die Gebäude in einem Schwall blühender architektonischer Fantasie und Selbstverliebtheit durch auftrumpfende Fassaden ihre Nachbarn tilgen wollen. Gleichzeitig entwickelte sich jedoch eine Freiheit und Eigenwilligkeit, die der kaukasischen Tradition des Geschichtenerzählens
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Bitow: 2003, S. 40 Dolgner: 1993, S. 13
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und Fabulierens entspricht. Denn »die Menschen im Kaukasus sind Meister in so vielen Dingen, nur das wahrheitsgetreue Berichten, das ist nicht ihre Stärke.«87 Die Agmaschenebeli Avenue, die damals Michail Prospekt hieß, entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Dorfweg einer deutschen Kolonistensiedlung, Neu-Tiflis, die auf die Einwanderung württembergischer und badischer Pietisten zurückging. Zunächst hatte Neu-Tiflis noch ein deutsches Erscheinungsbild, eine weitere exotische Note in dieser buntfarbigen Stadt ständigen Sprachen-, Sitten- und Trachtengewirrs, wie Friedrich von Bodenstedt festhielt, der »[a]us dem Gewühl des armenischen Basars und des persischen Karawanserei, aus den Speichern der Schätze des Orients, belebt von Menschen mit feinen, sonnenverbrannten Gesichtern und langen, faltenreichen Gewändern und umlagert von lasttragenden Kamelen und Dromedaren« kommend, »urplötzlich in eine neue Welt« überwechselte: in »ein rechtschaffen Stück Schwabenleben«.88 Dann aber wurde aber auch Neu-Tiflis vom städtischen Aufschwung mitgerissen.89 An der heute Agmaschenebeli Avenue heißenden Hauptstraße finden sich abgegriffene Bauideen des Historismus, und doch ist das hier Geleistete und Erreichte nicht unbedeutend. Auch – und gerade – weil ihr gegenwärtiger Farbreigen nach überhasteten, unbedarften Restaurierungen der Saakaschwili-Regierung ausdrücklich auch in denkmalpflegerisch inauthentischen Missgestalten wie ein eigenes Widerspiel des Historismus erscheint. Ein Schwindel ergreift einen angesichts der in allen Farben spielenden, herausgeputzten Fassaden. Die Pracht falscher Geschichtsaneignungen, die unbeabsichtigten Infantilismen und stilistischen Abschweifungen einer hysterischen, geschwätzigen Zeit geschäftiger, halbgebildeter Bürger und dünnblütiger Aristokraten verstärken sich in den Saakaschwili-Stadtaufhübschungen: Mangel an Takt und gutem Geschmack, kulturelle Unruhe und tiefe Verwirrung. Denn diese gutgläubige »Beautification« bestimmt wie den Historismus ein Mangel an Mäßigung. Sie ist durch viel Trügerisches, Irreführendes, Vages verunklart, die Stilund Stimmungsnuancen sind geplättet. Sie prägt die nicht kleine Gaucherie, beim Wiedererzählen noch zu übertreiben. Die Fassadenfarben sind übersatt aufgetragen und es wird erklärt, wie herrlich und in Freuden die Geschichte lebt, ohne sich zu kümmern, ob den historischen Formen und Stofflichkeiten noch irgendeine Bedeutung verbleibt: »The common feature of all state-supported projects is their virtuality: fake facades with decaying interiors; […], homogenised and sterile public spaces with cheap old-style street installations. The kitschy glamour of the new Georgian reality presents a wider
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Reiss, Tom: Der Orientalist. Auf den Spuren des Essad Bey, Berlin: Osburg 2008, S. 57 Bodenstedt: 1992, S. 67-68 Die Zahl der Deutschen, die hauptsächlich als Handwerker und, mit einer administrativen Landzuteilung bedacht, als Bauern arbeiteten, wuchs bis zur Jahrhundertwende auf um die 2.500 Menschen. »Als symbolisches Zeichen der neuen Zeit wurde die örtliche Hauptstraße […] nach dem russischen Fürsten Michail Romanov benannt. […] Neue städtische Gebäude wie Hotels, Geschäftshäuser und großzügige, private Villen wurden errichtet und die Gegend entwickelte sich zu einem peripheren Zentrum von Tiflis.« (Tschogoschwili, Nino: »Deutsche Siedler im Tiflis des 19. Jahrhunderts«, in: Iran & the Caucasus, 1/2004). Die deutsche Geschichte endete erst in den 1940ern auf Anordnung Stalins mit der Verschleppung der Tifliser Bürger deutscher Herkunft nach Sibirien und Kasachstan und dem Abriss der Evangelisch-lutherischen Kirche.
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picture of the political immaturity of the ruling elites and points out the fact that such a superficial approach is present in every aspect of state affairs«90 . Von der Tifliser Intelligenzija als restaurativer Kitsch gebührend beklagt, prägt die Altstadtsanierungen der Saakaschwili-Ära Artifizialität und Inauthentizität.91 Auch durch den Umstand, dass die Sanierungen immer nur bis zu den Eckgebäuden reichen und an den Seitenstraßen dann bereits wieder verwunschene, derangierte Gestalten warten. Diese Inauthentizität entspricht der grundsätzlichen Verfasstheit historistischen Bauens und dem zeittypischen Krisenbewusstsein hinter der architektonischen Champagnergischt der plutokratischen Paläste.92 Die Künstlichkeit ist Kennzeichen und Kriterium ihrer selbst. Denn gerade damit drückte der Historismus die Erfahrung eines Traditionsbruchs, eines alle Lebensbereiche umfassenden Wandels aus (– sowie in elegischen Untertönen ein Vorgefühl des eigenen Endes). Die Architektur ist »in allererster Linie Symptom des sich vollziehenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umbruchs, in welchem die Adaption überlieferter, durch Tradition geheiligter Formen als Mittel der Selbstbehauptung, der Selbsttäuschung und Manipulation eingesetzt wurde, aber auch der Vermittlung großer Ideale und damit der Entfaltung produktiver Kräfte dienen konnte.«93 Und das nach der Saakaschwili-Sanierung nun die unbekümmert übertünchten Fassaden aufgrund zu stark verarbeiteter Farben aussehen wie ein Aquarell – unwirklich, überkünstelt –, heißt nicht, dass die Schauseiten nicht länger ihre Zuweisungsfunktion erfüllen würden. Denn weiterhin ist die »einem an sich schmucklosen Gebäude zur Straße hin vorgeblendete Repräsentationsfassade, Charakteristikum der Stadtbaukunst des 19. Jahrhunderts, […] legitimiert, nicht nur durch historische Vorbilder […], sondern vor allem dadurch, daß sie für die Urbanität der Stadt eine wirkliche Aufgabe erfüllt.«94 Zwei der bildkräftigsten Repräsentativbauten des Tifliser Historismus finden sich in Seitenstraßen der Agmaschenebeli Avenue. Das Gebäude der Wirtschaftsvereinigung Kaukasischer Offiziere des Polen Aleksander S. Rogojski von 1912, inzwischen der Hauptsitz der TBC Bank, ist ein saftiger Neobarockbau, dessen mit Lisenen, Friesen, Rocailles und Blendgiebeln verzierte Fassaden auf eine ausgerundete, zurückgesetzte und kuppelflankierte Gebäudeecke zusammenlaufen, die Blendbalustraden, ein uhrengeschmück-
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Asabashvili, Levan: »Lived Transitions«, in: Joanna Warsza (Hg.), Ministry of Highways. A Guide to the Performative Architecture of Tbilisi, Berlin: Sternberg 2013, S. 134 »Do not expect rousing applause for any of this, however. For all their charm, Georgians can be maddeningly querulous. Tbilisi’s facelift has gotten many of them particularly riled up. […] The preservationists accuse the government of handing out inducements to private developers, who favored slapdash commercialism over historical authenicity in restoring Old Tbilisi.«; Levine, Joshua: »In Tbilisi, Georgia, Bold New Buildings Rise From the Ruins of Dead Empires«, in: The New York Times, 1.11. 2013 Die Künstlichkeit der Sanierung unterstreicht, »dass die historistische Architektur, die hier dran glauben musste, zu ihrer Entstehungszeit selber nichts ›Authentisches‹ gewesen ist, sondern in genau dem undurchdachten Stilmix bestand, durch den sie jetzt ersetzt worden ist. Irgendwie gebiert sich der Historismus immer wieder aus sich selbst. Und auch das Schnelle und Unsolide der zu beobachtenden Bauart scheint man aus dem neunzehnten Jahrhundert zu kennen.«; Wackwitz: 2014, S. 185 Dolgner: 1993, S. 8 Onsell: 1981, S. 32
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ter Volutengiebel und eine mächtige Barockkuppel mit Laternenaufsatz akzentuieren. Nichts ist karg und blass ausdrückt, alles Wirkungsspiel. Die bereits im Barock angelegte Autonomisierung der Kunst, wie sie Peter Bürger beschrieb, verschärft sich im Neobarock als Inauthentizität. Denn »[n]och die Gegenreformatoren, die die Kunst als Wirkungsmittel einsetzen, befördern damit paradoxerweise deren Freisetzung. […] Ihre Wirkung zieht diese Kunst nicht vornehmlich aus dem Sujet, sondern aus Form- und Farbreichtum.«95 Der 1895 von Paul Stern entworfene Palast des Herzogs von Oldenburg ist ebenso schwelgerisch in romantischer Neugotik überdekoriert. Das kleine Stadtpalais in seinen fast miniaturhaft gegliederten Bauteilen staffieren Spitzbogenfenster, die in Holz Nonnenköpfe, Vierpässe und Fensterrosen zeichnen, ein ziergiebelgeschmückter Turm, Gurt- und Dachgesimse, Zierzinnen und beige Putzstreifen in einer ungewöhnlichen Freiheit und Leichtigkeit zu einem »Geklingel mit Formen, die in einem verhängnisvollen Irrtum für ›Architektur‹ genommen wurden«96 . Man wird nicht ganz schlau, ob Sterns Petitessen und Höflichkeiten zur gotischen Formenwelt ein plötzliches Begehren zu Herben und Unreinen haben hinreißen lassen, das zeigt, zu welcher Plattheit dieser Stil fähig ist. Ist der Tifliser Historismus im allgemeinen durch eine leidenschaftliche Umgestümheit charakterisiert, durch eine künstlerisch zupackende Theatralisierung imaginierter Atmosphären, gilt dies speziell für die wenigen Erprobungen der Neugotik: aufgrund der allein stilistisch überstark wirkenden kulturellen Deplatziertheit, aber auch aufgrund einer ästhetisierten Zitation »aus dem Blickwinkel des Bildhaften, dass Empfindungen veranschaulicht«97 . Beispielsweise beim Mädchengymnasium Nr. 3, einem düsteren Klinkerbau, dessen auf die Blickachse einer Straßenflucht ausgerichteter Mittelrisalit fünf neugotische Spitzbogenfenster mit Dreischneuß-Maßwerk, wuchtigen Wimpergen mit Giebelblumenabschluss und krabbenbesetzte Fialtürmen gliedern. Diese Neugotik ist keine einer inneren Durchformung eines geographisch ohnehin fremden Stils, sondern bezieht sich »nur noch auf das Sehen, auf den optischen Eindruck […]. Deshalb sind Wände kein Gewebe aus Licht und Steindurchschüssen mehr, sondern Schnitt und Koordinatenangabe, und aller Schmuck ist ohne nährenden Grund«98 , wie es Kamphausen ausdrückte. Aber gerade daraus zieht der Tifliser Historismus seine Blitze: aus der Inauthentizität seiner Stilaneignungen. Nicht in seinem zartesten Empfinden, sich im Schatten vergangener, entfernter Zeiten zu bewegen, entzündet er sich, sondern im Widerschein seiner eigenen Artifizialität. Dies trifft auch auf die Tifliser Versuche im Jugendstil zu. Einem gesellschaftlich bereits entkräfteten Zarenreich gelang damit zumindest architektonisch der Versuch, in die Halluzination einer jubilierenden Vitalität zu entrinnen, indem man in der Kunst die eigene Zeit annahm. Der Import des Jugendstils, der auch in Tiflis vieles auf einmal will, passte mit seiner zauberkünstlerhaft arrangierten Schwärmerei für das Raffinierte
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Bürger: 1974, S. 56 Muthesius: 1902, S. 48 Baur: 1981, S. 28 Kamphausen: 1952, S. 32
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und Allegorische gerade als der weitgreifende, sich metaphysisch aufladende Kunstentwurf, als der er sich verstand, in die Zeit: als eine in unvernünftiger Spannung wartende Architektur repräsentierte sie eine in unvernünftiger Spannung wartende Ära. Aber auch der Tifliser Jugendstil drückte keine geschichtliche Zäsur aus, die sich an den Saum des Unbekannten klammert. Er war auch hier »ein legitimes Kind der Gründerzeit und nicht ihr Außenseiter, sondern sozusagen ein Sohn mit Ödipuskomplex, der sich gelegentlich gegen […] seinesgleichen richtete«99 . Die mit mystischen Ideen gesättigte Architektur durchbrach zwar die zunehmende Glaubwürdigkeitskrise des Historismus in der Inflation der Stilzitate, der Lähmung des ästhetischen Gefühls, entwickelte sich »[g]leichzeitig mit diesem Eklektizismus […] gegen die beliebige Verwendung historischer Formen und gegen die Äußerlichkeit der Stilbildung.«100 Der Jugendstil blieb aber einem bürgerlichen Standpunkt verpflichtet, drückte die Gefühls- und Gedankenwelten dieser Menschenklasse aus. Seine gesellschaftlichen Träger blieben liberal gesinnte, kunstaffine bürgerliche Milieus, die Architektur eine nur im Bildschmuck und den Gebäudelinien gewandelte, sich dem ausländischen Tagesgeschmack angepasste Spielart bürgerlicher Kunst, die neueste Mode der westlich beeinflussten Eliten. Die Art-Nouveau-Villen zeigen letztlich auch in Tiflis, wie Max Onsell schreibt, »was der Jugendstil im Grunde ist: der hoffnungslose Versuch, kurz vor dem Sieg der Gegenseite in der industriellen Revolution doch noch eine Wende zugunsten des intellektuellen Bürgertums herbeizuführen. Der Warenfetischismus, wo er nun schon einmal da ist, soll wenigstens etwas Großes, Hehres, ja Heiliges sein.«101 Als bürgerliche Selbstdarstellungskulissen investierten die Tifliser Jugendstilvillen in diese neue Bewegung der angewandten Kunst immer mit Blick auf ihre Distinktionskraft, kultiviertes Westlertum zur Schau zu stellen. Darum schlingert der kaukasische Import-Jugendstil bei all seiner architektonischen Geschicklichkeit immer in Richtung einer identifizierbaren Nachahmung. Für sein Gelingen und seine Authentizität garantierte weniger die eigenständige, treibende Kraft der architektonischen Kreation und ein durchgeistigtes künstlerisches Erfinderfieber als die Verpflichtung zur stilistischen Allgemeinverständlichkeit. Man weiß es nicht – ist das sichtlich über Fantasie und Eleganz verfügende Marjanishwili Theater des Polen Stefan S. Kryczynski nun ein ideal verwirklichter Künstlertraum des Jugendstils, der in hyperbolischen Metaphern zeigt, dass die Tage des alten Jahrhunderts gezählt sind, oder nur ein angeeignetes, leicht verspätetes Klischeebild, ein Fußfall vor einem ausländischen Geschmack? Das Marjanishwili Theater ist beides: die vertikal durchfensterte Fassadensymmetrie aus rundbegiebelten Mittel- und betürmten Eckrisaliten reiht stiltypische Galanteriewaren wie gewundene Gusseisenvordächer, Kraggesimse und Flachreliefs aneinander, arrangiert allerdings mit fulminanter Gestaltungskraft. Eine freiere Inkarnation des Jugendstils ist das Melik-Asarjanz Haus. Der polnische Architekt Nikolay Obolonski entwarf das in einer tiefgründigen architektonischen Sprache gehaltene Palais, das eine fast lyrische Gestrafftheit und Dichte der Ideen ausmacht,
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für den armenischen Industriellen Alexander Melik-Asarjanz, einem Besitzer von Kupfermienen. Sein kluges, nirgends leichtes Fassadenspiel in gemsenfellfarbenem Naturstein entfaltet sich um zwei mit Metallkuppeln akzentuierte Risalite. »Die stark rustizierte Fassade des Erdgeschosses kontrastiert mit den glatten Wandflächen der beiden Obergeschosse, die durch Erker mit Figurenreliefs gegliedert sind. Die bewegte Trauflinie steht im Gegensatz zur einheitlichen, symmetrischen Fassadengliederung«102 Am wirkungsstärksten geriet der Tifliser Jugendstil allerdings bei Simon Kldiashvilis Haus Vartsikhe Straße, einem kleinen, in der architektonischen Aussage subjektiv verschlüsselten Stadtpalais mit zwei asymmetrisch ausgerundeten Gusseisenbalkonen. Dieser Einfall allein, der durch geniale Unabhängigkeit und Frische Veränderung erahnt, macht aus dem inzwischen seit Jahrzehnten vernachlässigten und restaurierungsbedürftigen Haus Vartsikhe Straße eine Ikone, die gerade in der eigenen, erhebenden Würde ihres Verfalls ihre Wirkung intensiviert.103 Die geschwungenen Balkone sind Sinnzeichen für die Hoffnung jener Zeit, dass eine schöne und wohl bessere Kunst vor ihr liegt. Für den künstlerischen Idealismus der internationalistischen Tifliser Intellektualität, deren kulturelle Zündschnüre aus Jugendstil-Architektur, symbolistischer Dichtung und Sozialismus hin zur Aufbruchstimmung der Unabhängigkeitsjahre brannten. Zwar lag dann über den neuen gesellschaftlichen Freiheiten der menschewistischen Demokratischen Republik eine massive Währungskrise, das intellektuell-künstlerische Klima aber schuf »[i]n Tiflis […] nach 1918 eine einmalige kunstgeschichtliche Gemengelage […]. Die Stadt war zu einem Begabungsakkumulator geworden, einem Brennpunkt kultureller Beschleunigung und Innovation. Der Exodus der Futuristen aus Sowjetrussland traf im Südkaukasus […] auf die angestammten Bohèmemilieus, die sich seit der Jahrhundertwende dort entwickelt hatten. Explosionsartig differenzierten sich die unwahrscheinlichsten künstlerischen Syndikate, Kneipen, Freundschaften und Einflusssphären aus.«104 Diesen Hauptsammelpunkt künstlerischer Avantgarden führte die symbolistische Dichtervereinigung der Blauen Hörner um Grigol Robakidse, Tizian Tabidse, Paolo Iaschwili und Galaktion Tabidse an, die eine Rezeption der westlichen Moderne mit georgischen Kulturnationalismus verbanden.105 Ihnen hatte allerdings der Stalinismus 102 Kurtishvili, Irini, »Ausgewählte Projekte«, in: Adolph Stiller (Hg.), Tiflis. Architektur am Schnittpunkt der Kontinente, Salzburg: Müry Salzmann 2016, S. 90 103 »The art nouveau that was once immensely popular throughout Georgia has been forgotten, neglected and the conservation of Tbilisi’s art nouveau heritage has become a serious problem. Ever since the Soviet Regime, which considered the style bourgeois, art nouveau was condemned as ›a crime of ornamentation‹. For this reason ›stil modern‹ was never considered an important part of Georgia’s heritage, letting damp, poor maintenance and age erode these buildings until they fall into disrepair, ruin and are eventually pulled down or become subject to poor renovation work, where frescoes are erased by paint and ornamental plaster details are lost.«; Walker, Jennifer: »Exploring Tbilisi’s Endangered Art Nouveau«, in: www.huffingtonpost.com, 22.7.2013 104 Wackwitz: 2014, S. 100 105 »Indem sie die ausschließliche europäische Zugehörigkeit der georgischen Kultur behaupten, übernehmen sie von der europäischen gleichsam deren ›orientalistische‹ Perspektive auf den Orient […]. Besonders deutlich zu spüren war diese Auseinandersetzung in der Hauptstadt Tiflis, die
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als Dekadenzler, Abweichler und Verräter schlimme Schicksale zugedacht. Unter den beängstigenden geistigen Bedingungen verdunkelte sich nicht nur ihre Kunst und Leidenschaft, ihre Vertreter wurden zu Opfern des Großen Terrors: sie wurden in den Suizid getrieben, in der Haft umgebracht, sackten in Alkohol und Wahnsinn ab. »[M]ir schien, Tiflis sei eine geheimnisvolle und fesselnde Stadt, eine Art orientalisches Florenz« 106 1921 erfolgte die oppressive Eingliederung Georgiens ins Sowjetreich, die so viele Jahrzehnte erschütterte und unglücklich machte. Ideologisch sollte in dieser vom Tod umwehten Epoche jedoch die Korenisazija-Politik einer Minderheitenförderung der vermeintlich gleichberechtigten nichtrussischen Völker des Sowjetimperiums eine Anerkennung nationaler Eigenständigkeiten suggerieren. Im Vergleich mit dem Zarenreich, dass durch seine Russifizierungsmaßnahmen einen Assimilationszwang bei den nationalen Minderheiten ausübte, betrieb die UdSSR eine zwar de facto nicht minder imperiale und dirigistische Nationalitätenpolitik, die Korenisazija forcierte jedoch eine Ethnisierung der Teilrepubliken, die sich in einer nationalen Ämtervergabe, einer Ausübung der Landessprachen und einer Instrumentalisierung der landestümlichen Traditionen und nationalen Gründungsmythen niederschlug: »Die reale wie symbolische Entmachtung der alten Eliten verschiedener […] Nationalitäten auf dem Territorium der Sowjetunion ging einher mit der Etablierung einer Reihe von nationalkulturellen […], der sowjetischen Ideologie entnommene[n] ikonographische[n] oder rhetorische[n] Figuren.«107 Den Traditionsabbrüchen und Tabuisierungen wie dem Zurückdrängen der Kirche stand die Übernahme eines »vielschichtige[n] Arsenal[s] an Symbolen, Metaphern und Figuren« entgegen, die in die kommunistische Diesseitslehre ideologiekonform umcodiert, »in den Sowjetisierungsvorgängen ideologisch überformt wurde[n]«108 . Architektonisch drückte sich dies im Tiflis der Stalinzeit in einem abstrakt italianisierenden Klassizismus aus, der zugleich eine ideologisierte nationale Selbstmystifizierung umspielte. Die stalinistischen Prunkbauten am Marjanischwili-Platz, das Regierungsgebäude und die Akademie der Wissenschaften trägt aber bei aller Ausrichtung auf Massenagitation eine balladische Architektur, bei aller kämpferischer Gesamtaussage eine verzauberte Entrücktheit, angesiedelt zwischen Fantasie und Wirklichkeit, Erinnerung und Ahnung. Die unter Stalins späterem Geheimdienstchef Beria als KPGeneralsekretär eingeleitete »letzte jener periodischen Neuerfindungen von Tiflis«, die »im Gegensatz zu der heutigen zentral geplant und über Jahrzehnte mit allen Ressourcen eines mächtigen Staats ins Werk gesetzt« wurde, machte sich zum Ziel, eine klassizistische Idealstadt zu erschaffen, wie Stephan Wackwitz zusammenfasst: »Die Traditisich traditionell durch ihre kulturelle Pluralität auszeichnete und stark von der orientalischen Kultur beeinflusst war.«; Maisuradze/Thun-Hohenstein: 2015, S. 59 106 Paustowskij: 1983, S. 181 107 Maisuradze/Thun-Hohenstein: 2015, S. 10 108 Ebd., S. 13; »Das ständige Lavieren zwischen Inszenierungen der jeweiligen (ideologiekonform präparieren) ethnisch-nationalen ›Eigenheiten‹ und der Verurteilung ›nationalistischer Abweichungen‹ führte zu deutlichen Verschiebungen in den diskursiven Konstruktionen des Nationalen, die immer mehr zu einem Kanon formelhafter rhetorischer Figuren gerannen.«; ebd., S. 99
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on war als Figurenschmuck zugleich entmachtet und hineingenommen in den gebauten Selbstausdruck des proletarischen Weltreichs. Mit ihren Statuen, Säulen, Architraven, Freitreppen und Zypressenhainen sehen die Ensembles der vierziger Jahre […] wie ein Traum von Italien aus. Im Gegensatz zu ihrer soziologischen Rezeptur bestand die georgische Stadtbaukunst der Stalinzeit aus Traumarchitekturen.«109 Dieser Baustil versuchte nicht, mit einer städtischen Tradition zu brechen, die eine gute ist. Er lieferte dabei aber natürlich wie der Historismus auch eine prätentiöse Erinnerung an die Geschichte, subtile Unaufrichtigkeiten. Und wie das gesamte stalinistische Kunstdiktat war diese Architektur kulturell restaurativ, ein Ausdruck eines erlahmenden Enthusiasmus, einer massenpsychologischen Agonie, wie Milovan Djilas schrieb, denn »[u]nter Stalin wurde die Partei eine Masse ideologisch desinteressierter Leute, die ihre Ideen von oben geliefert bekamen, die aber mit dem ganzen Herzen und in vollster Einmütigkeit dabei waren, wenn es darum ging, ein System zu verteidigen, das ihnen unantastbare Privilegien garantierte.«110 Das zwischen 1947 und 1949 von dem Architekten Mischa Melia in neoklassizistischer Überladenheit errichtete Monumentalensemble am Marjanischwili-Platz, wo »Bestarbeiter, Akademiemitglieder, Parteifunktionäre und Ballerinas einziehen durften«111 , drückt die widersprüchliche, inauthentische Imperativität der stalinistischen Staatssymbolik gut aus. Der neue Adel der Planbürokraten, die Führungskader der Parteihierarchie, machten es dem alten Patriziat nach und bauten sich Paläste, um in epischer Größe zu schwelgen. Hier zeigt sich mit Djilas der »Irrtum, daß die Industrialisierung und die Kollektivisierung in der UdSSR im Verein mit der Vernichtung des kapitalistischen Eigentums eine klassenlose Gesellschaft herbeiführen würden. […] Tatsächlich waren die kapitalistische und andere Klassen des alten Regimes vernichtet worden, dafür hatte sich eine neue Klasse gebildet, wie die Geschichte sie früher nicht gekannt hatte.«112 Mischa Melias mit Effekten vollgepfropfter Entwurf entwickelte hierzu eine bildlich deutliche, jedoch in der symbolischen Intention undeutliche, weil ungereimte Evokation: Venedig. Obendrein ein schwer gewordenes Venedig, das Fett angesetzt hat. Bei den drei palastartigen Gebäuden, die einen Platz an der Agmaschenebeli Avenue umschließen, gliedern wie bei einem italienischen Palazzo über der Rustika des Erdgeschosses weiß gehaltene Fensterkassettierungen, mit Säulen und Lisenen gerahmte Balkone, mit Filialen geschmückte Ziergiebel und lanzenbestückte Turmaufbauten als belebende und veredelnde Elemente die rosafarbenen Fassaden. Demgegenüber wirkt das von 1933 bis 1953 errichtete Regierungsgebäude von Kokorin, Lejava und Nasaridze in seiner untergründigen Herbheit wie eine steingewordene kommunistische Gelöbnisformel. Eine klassizistische Tempeltypologie erhält hier durch eine wuchtige steinerne Pfeilerarkade und einem nur mit einem zarten Fries und einem kleinen reliefierten Dreiecksgiebel ausgestalteten Gebälk eine strenge römische Noblesse. Der Imperativ ist in seinen künstlerischen und dramatischen Qualitäten ganz
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Wackwitz: 2016 Djilas: 1963, S. 60 Wackwitz: 2016 Djilas: 1963, S. 49
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den Kampfzielen angepasst, und gerade die dramatische Kraft des Baus, der erhabene durchsäulte Achsialblick in die rückwärtigen Trakte, lässt in seinem ganzen Pathos den Humanismus der klassizistischen Architektur hinter sich. Der »Stalin-Empire« ist hier ganz aufs Martialische ausgerichtet, das kulturelle Gedächtnis weicht reinem Tatendrang. Die 1953 gebaute Akademie der Wissenschaften von Micheil Chkhikvadze und Konstantin Chkheidze ist die architektonisch erstaunlichste Einzelleistung des stalinistischen Klassizismus in der Stadt. Die falben sandsteinernen Details des palastartigen Gebäudes scheinen über viele Dinge unterrichtet, die die Geschichte aufgewiesen hat, und vereinen in einer unbestimmten Italianität an und für sich nicht minder martialische Allüren zu einem wuchtigen, aber nicht übermäßigen Triumphalismus. Ein feingliedrig gezeichneter Eckturm mit Klangarkaden, Attikafriesen und einem säulengetragenen Laternenaufsatz stipuliert eine malerische Wirkung. Die mächtige, massige Längsseite an der Rustaweli Avenue gliedert eine lange Arkadenflucht in düsterer Majestät, darüber ragen mit Blendsäulen und Friesen umkranzte Eckrisaliten und Erkerloggien aus, dazu ein abschließender Zinnenkranz, die venezianische Eindrücke wecken. Mit der Akademie der Wissenschaften erlangt der stalinistische Klassizismus ästhetische Würde und Klarheit. Die wie in ein Verhängnis verstrickte, mit der eigenen Einbildung beschäftigte Architektur zwingt zur Suggestion. Gleichzeitig ist es jedoch wohl so, wie Wackwitz schreibt, dass dieser verschwenderisch mit seiner Energie umgehende poetische Sowjetmonumentalismus erst genossen werden kann, seit die affektgeladenen Architektursemantiken des Stalinismus, die Brutalität und Unflätigkeit seiner Ideologie, nicht mehr als staatliche Machtmittel reale gesellschaftliche Verhältnisse überspannen. Erst »nachdem der Sozialismus in der Realität hier niemanden mehr gefährlich werden kann, tritt seine ideologische Ausgedachtheit als poetische Kraft hervor. […] Noch zu Beginn der achtziger Jahre […] wäre [man] zu beschäftigt gewesen mit berechtigtem inneren Protest gegen Elend, das sie beherbergte und hervorbrachte.«113 Für die riesige Kartlis Deda-Statue des Bildhauers Elguja Amashukeli, der zwanzig Meter hohen »Mutter Georgiens«, die 1958 zur Tausendfünfhundert-Jahr-Feier der Stadt am Hügelgrad der Narikala errichtet wurde, gilt dies nicht. Die Statue, bei der die UdSSR unmittelbar nationale Symbole benutzte, lässt sich zu einfach nationalistisch überführen. Eine in Landestracht gewandete Frauenfigur aus Aluminium, die ein Schwert für die Feinde ihres Volkes in der Rechten und eine Schale mit Wein für Gäste in der Linken hält, und damit den Nationalcharakter symbolisiert, denn »[i]n ihrer bewegten Vergangenheit haben die Georgier gelernt, mit Fremden zu leben und zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Immer wieder mußten sie sich fremden Herren beugen, doch verleugnet haben sie sich nie.«114 Kartlis Deda warnt martialisch Eindringlinge, gleichzeitig geht von ihr eine Verführung aus wie von lebendigem Fleisch – Frauen, die sich zusammen mit ihr abbilden lassen, tun sich damit keinen Gefallen.115 113 114 115
Wackwitz: 2014, S. 183 Engelbrecht: 1984 »The local feelings towards the figure are mixed. The standing female in national dress is represented in quite a masculine manner. Georgia, on the one hand, is a country with the proven existence of a strong ancient matriarchal culture, on the other hand, in last few centuries patriarchy has been the dominate hegemony. The Sovietised Mother Georgia reintroduces a new, socialist
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Die Entstalinisierung machte dann allerdings auch in Tiflis dem Klassizismus als bestimmenden Baustil der Sowjetunion ein Ende und leitete eine Moderne industriell vorgefertigter Betongroßblöcke ein. Die Ära Chruschtschow lancierte allein auf Funktionalität ausgerichtete »Typenbauten« in Plattenbauverfahren, bar alles Individuellen und jeglichen ästhetischen Gehalts, die zu Mikrorayon-Satellitenstädten gefasst wurden. Denn planwirtschaftliche Industrieansiedlungen ließen Tiflis ab den 1950ern zur Millionenstadt anwachsen, wie erstmals der Zensus von 1979 festhielt. »[W]ie die übrigen südlichen Regionen des Imperiums hat auch Georgien einen für die gesamte Dritte Welt typischen Weg der Entwicklung genommen, gekennzeichnet durch den rapiden, künstlichen Ausbau der Hauptstadt auf Kosten der Provinz, die vernachlässigt wird und immer mehr verarmt. Zwischen der Hauptstadt und dem übrigen Land entstehen […] monströse Disproportionen.«116 Doch nicht minder monströs gerieten die neuen Lebenswelten der zu Sowjetmenschen gewordenen Georgier in den monotonen Wohnblöcken der Vororte, den Plattenbau-Trabantensiedlungen, in denen, wie Karl Schlögel schreibt, ein »neuer Menschenschlag« heranwuchs: »Die ganze nachstalinsche Sowjetunion ist nichts anderes als die Beruhigung und Konsolidierung einer von Hypermobilisation und Krieg erschöpften Gesellschaft, nichts anderes als die Verwandlung von Abermillionen entwurzelter Migranten […] in Stadtbewohner, nichts anderes als die Demobilisierung einer Gesellschaft nach Jahrzehnten ekstatischer Turbulenzen und Mobilität.«117 Dabei materialisierten die serialisierten Chruschtschowka-Batterien – ungeachtet der lausigen Bauausführung als fast karikaturhafte Ansammlung von Baumängeln wie undichten Dächern, leckenden Installationen und schallübertragenden Wänden – allerdings all die Pathologien eines traditions- und gestaltungsindifferenten Funktionalismus. Diese architektonischen Armesündergesichter zeigen nicht nur in ihrer untertreibenden bauwirtschaftlichen Sachlichkeit auf, dass es unerfüllbar blieb »auf der schmalen Basis einer maschinengebundenen Ästhetik eine neue Architektur zu errichten, die nicht sehr bald in Verarmung, Verödung und Reduktion enden mußte. […] Außerdem sind Standardisierung und serielle Produktion so eng an das Arbeitsprinzip der Maschine gebunden, daß mit fortschreitendem Optimierungsprozeß begründbare Formvariationen immer seltener werden mit der Konsequenz einer Angleichung nicht nur der verschiedenen Bauaufgaben, sondern auch der Gesichter unserer Städte – bis hin zur völligen Identitätslosigkeit. Die ästhetische Basis des Funktionalismus war zu schmal.«118 Die Mikrorayons erzählen die Misere der »arbeitstechnologischen Rationalisierungsbemühungen« der funktionalistische Planungs- und Bauideologie. »Konsequenzen der
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role for women in a masculine society […]. For many Mother Georgia was an alienated figure that Tbilisians eventually got used to – a sister of Mother Armenia, Mother Ukraine and Mother Russia erected elsewhere in the former Soviet Union.«; Warsza, Joanna: »Mother Georgia«, in: dies. (Hg.), Ministry of Highways. A Guide to the Performative Architecture of Tbilisi, Berlin: Sternberg 2013, S. 10 Kapuściński: 1993, S. 139 Schlögel: 2001, S. 306 Fischer: 1987, S. 19-20
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neuen Fertigungstechniken hießen Anonymisierung und Veränderung des Maßstabs. Das Ziel war die exakt planmäßige Bewältigung großer Bauvolumen unter minimalen Herstellungskosten.«119 Mit ihnen hat sich, wie nicht nur Alexander Mitscherlich diagnostizierte, die »hochgradig integrierte alte Stadt […] funktionell entmischt. Die »Unwirtlichkeit«, die sich über diesen neuen Stadtregionen ausbreitet, ist niederdrückend.«120 Die präfabrizierten »Typenbauten« zwingen den »Trabanten-Städter« »in eine[] Umwelt, deren Signale und deren Aufbau kaum noch etwas mit der Welterfahrung zu tun haben, in der sich bisher dem Menschen Wirklichkeit bekannt machte. Noch nie zuvor in der Geschichte hat eine so bedenkenlose […] Traditionsvernichtung stattgefunden, wo immer das von Erfordernissen der technischen Entwicklung nahegelegt wurde.«121 Die Sowjetzeit besteht jedoch nicht nur in den endlosen Schrecklichkeiten einer entkörperten Moderne. Denn für repräsentationswichtige Einzelbauten wurden die antlitzlosen bauwirtschaftlichen Planungsstandards suspendiert. Diese Architekturen waren zwar auch dann verpflichtet, den eigenen ästhetischen Willen der vorgegebenen Weltsicht des Sozialismus unterzuordnen, sich der in Fragen der Kultur und Kunst nie neutral verhaltenden Partei zu fügen. Ihnen gelang es aber, einerseits den längst abgehalfterten staatsideologischen Industrialisierungspathos der Traktoren und Ehrenkränze hinter sich zu lassen und futuristische Bauten zu schaffen, die tatsächlich für alles Künftige bereit zu sein schienen, und andererseits gerade in dieser expressiven Fortschrittlichkeit eine genuine Widersprüchlichkeit nicht nur des Modernismus im sowjetkommunistischen Dienst, sondern des Modernismus selbst ungewollt zu kennzeichnen. Das bemerkenswerteste Meisterwerk einer solchen expressiven Sowjetmoderne ist das Transport-Ministerium, ein Glanzstück der Weltarchitektur des 20. Jahrhunderts. Ein bilddramaturgisch fantastisches Raumgerüst länglicher gekreuzter Gebäuderiegel, die über einen bewaldeten, verstrüppten Steilhang an der Kura lagern: »Eine grazile, nur an zwei Stellen überhaupt den Boden berührende Architekturmaschine aus übereinandergestapelten zweigeschossigen Gebäudebalken wird von Pylonen in der Luft gehalten, durchlässig für Wind, Licht und Landschaftsformen. […] Man fragt sich, wie ein so intelligenter, geschmackvoller und international konkurrenzfähiger Bau im standardisierten Umfeld architektonischer Planwirtschaft in den sowjetischen siebziger Jahren überhaupt hat entstehen können.«122 Seine bloße Existenz im erschöpften Imperium, errichtet gegen die Verordnungen, Dekrete, Rundschreiben eines versteinerten Regimes, erscheint verwunderlich. Gerade in den späten Breschnew-Jahren, als die Stagnationserscheinungen eines ineffektiven Wirtschaftssystems, die Lähmung der Schlüsselindustrien und die Ausuferung einer mafiösen Bürokratie nicht nur in diesem Gliedstaat der UdSSR längst augenfällig geworden waren – wie zum Beweis der These, dass »nicht nur […] unterentwickelte Gesellschaften sozialistische Regimes hervorbrin-
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Blomeyer/Tietze: 1980, S. 18 Mitscherlich: 1965, S. 9 Ebd., S. 47 Wackwitz: 2014, S. 152
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gen«, wie es bei Hans Magnus Enzensberger heißt, sondern »umgekehrt sozialistische Regimes unterentwickelte Gesellschaftsformen hervor[bringen]«123 . Das Transport-Ministerium, dieser »utopische Fiebertraum eines Ingenieurs an den äußeren Rändern des statisch noch Vertretbaren«124 , ist in seiner Planungs- und Baugeschichte aber nicht im geringsten als ein Ausrutscher eines irgendwie dissidentisch künstlerischen Frühlingsrauschs hinter den Rücken der Partei-Apparatschiks zu betrachten, sondern ein Produkt der spezifischen soziologischen Feinstruktur des Sowjetreichs, nämlich einer weltläufigen, technokratischen Planungsbürokratie wissenschaftlicher Funktionseliten, die sich als Maschinisten der Macht gerade auch in der »Zeit des Stillstandes« unter Breschnew der Innovation, Lenkung und Administration annahmen, der Freiheit der Erkenntnisgewinnung, »innerlich angetrieben von der Utopie einer ideologisch neutralen Industriegesellschaft.«125 Die Architekten des Transport-Ministeriums, Giorgi Chachawa und Zurab Jalaghania, waren zwar mit den Ideen der japanischen Metabolisten zu flexiblen, dynamischen Megastrukturen vertraut. Ihr Gebäude ähnelt diesen allerdings nur architekturtypologisch und -ästhetisch, teilt aber nicht die urbanistischen Handlungsprämissen und -bedürfnisse, die Stadtvision der Metabolisten, da sich die japanischen Fragen zu städtischem Hyperwachstum, Raumknappheit und Funktionswandel in Tiflis nicht stellten.126 Chachawa und Jalaghania, die sich genau so wenig wie die Metabolisten als Maschinenanbeter verstanden, sahen ihr erweiterbares Raumgerüst einfach als synergetische Integration der Natur und Landschaft in die Architektur – eine selbstgewählte Aufgabe allerdings, immerhin hatten sie sich ihren schwierigen Bauplatz bewusst ausgesucht. Das Transport-Ministerium ist aber auch gerade darin ein Ausnahmebau, stimmt man der Einschätzung zu, dass »[j]edes Werk […] nachfunktionalistischer Architektur […] daran zu messen [ist], inwieweit es bereits in der Lage ist, all jene architekturbegründenden Dimensionen zu reintegrieren, die der Funktionalismus deformiert hat, auf wievielen Ebenen es Anknüpfungspunkte aufweist und Perspektiven eröffnet.«127 Das Transport-Ministerium beschwört mit seiner technizistischen Bedeutungsproduktion begeisterte Interjektionen westlicher Modernisten. Nicht nur zur Zeit seiner Entstehung, sondern ebenso heute, wo eine Retro-Rezeption128 in der Morbidität eines ver123 124 125 126
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Enzensberger: 1982, S. 60 Novotny, Maik: »Tiflis: Hauptstadt der Hingucker«, in: Der Standard, 17.4.2016 Wackwitz: 2014, S. 156 »[W]hile the Ministry of Highways can be considered in line with the work of the Metabolists, it had nothing to do with the ideas that form the basis of that movement, born of a country where rapid growth and expansion meant that population and land surface were made disproportionally dense and uncomfortable. […] [T]he impulse to build came from a desire to challenge gravity and to pursue structural complexity on this site. This building was a statement and gesture towards the civilised world.«; Japaridze, Niko: »Dream West – Imagine Soviet, Imagine West – Dream Soviet«, in: Joanna Warsza (Hg.), Ministry of Highways. A Guide to the Performative Architecture of Tbilisi, Berlin: Sternberg 2013, S. 138 Fischer: 1987, S. 13 Retro ist ein »wesentliches Charakteristikum der Popkultur«, jedoch nicht nur, wie Simon Reynolds urteilt, »die unausweichliche Flaute, die auf eine vorhergehende stürmische manische Phase folgt«; Reynolds: 2012, S. 195
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lebten Fortschritts die Romantik der Sowjetmoderne erschließt.129 Die Neigungsgruppe westlicher Sowjetmoderne-Romantiker bestimmt freilich nicht eine zehrend brennende Wehmut für den (oder nur eine existentielle Vorstellung von dem) real existierenden Sozialismus und den in der Diktatur stillgestellten Menschen, sondern eine Begeisterung für die verwehten Zeichen eines revolutionären Fortschritts, eines futuristischen Traums, über dessen Unerfüllbarkeit man sich im Klaren sein musste, der Handlungsspielräume zeichnete, die mit der Realität nichts zu tun hatten. Die Sowjetmoderne in den nicht-russischen Unionsrepubliken überhöht einen solchen Retro-Romantizismus noch durch ein vormodernes Kolorit landeskultureller Traditionalität. Denn Georgien erschließt sich dem Westler als ein zweites, vergessenes mediterranes Italien gleichermaßen zeitlich. Es bietet, wie Wackwitz schreibt, die Möglichkeit zu einem Wiedererleben einer »flüchtige[n] und heute fast vergessene[n] Poesie der frühen sechziger Jahre«130 . Das »von der Vormoderne noch gestreifte« Georgien bedient die Suche der westlichen »Bürger der vollständig ausdifferenzierten Moderne« nach ihrer »heroisch-romantische[n] Vorstufe«131 . Gegen dieses mythische Bild geblendet, in dem »grandiosen georgischen Licht und der Deutlichkeit des georgischen Horizonts«132 , erscheint die poetisch-technizistische Fortschrittlichkeit der bedeutenden Großprojekte der Sowjetmoderne noch deutlicher als eine sonst nicht erlebte Freiheit, die Fesseln sprengt und sich für das Entbehrte schadlos hält. Und genau darin, in diesem wagemutigen Futurismus und seinem archaischen alltagsweltlichen Gegenteil, den aufmüpfigen Schlampereien und Gaunereien an der südlichen Peripherie des Sowjetreichs, bestätigt sich Ryszard Kapuścińskis Einschätzung, dass es »[t]rotz des steifen, soldatisch-strengen Korsetts der sowjetischen Staatsmacht […] den kleinen, aber uralten Nationen gelungen [war], sich etwas von ihren Traditionen, ihrer Geschichte, ihrem zwangsläufig versteckten Stolz und ihrer Würde zu bewahren. […] [E]inen in der Sonne ausgebreiteten Teppich, der an vielen Stellen noch die alten Farben zeigte und durch die Verschiedenartigkeit seiner originellen Muster auffiel.«133
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Diesen Futurismus als romantische Projektion sieht beispielsweise Wackwitz nicht, der schreibt, »die Stalinzeit, so entsetzlich sie in Wirklichkeit gewesen ist, mobilisierte in ihrer Selbstdarstellung Antike und Renaissance als Formeln einer freien, vernünftigen und schöneren Welt. In den siebziger und achtziger Jahren dagegen ist dem Sozialismus architektonisch offenbar nichts Vernünftigeres und Schöneres mehr eingefallen als zu zeigen, wie unerschütterlich atombombensicher er stand.«; Wackwitz: 2014, S. 134 130 Ebd., S. 44; Georgien wird zum Objekt eines romantischen Empfindens, dass »der Prozess weltgeschichtlicher Rationalisierung, den wir mit dem Wort ›Moderne‹ bezeichnen, […] ästhetisch, biographisch-lebensgeschichtlich und politisch-utopisch nie so fruchtbar gewesen [ist] wie zu den Zeiten, als er noch nicht vollständig gesiegt hatte. Solange die vormodernen Traditionsbestände noch mächtig waren oder sind. […] An dieser weltgeschichtlichen Nahtstelle wandelt Modernisierung Dumpfheit in Poesie. Gezähmter Terror wird als suspense in ästhetische Dienste genommen. Idiotie des Landlebens wird als poetische Unschuld im Gegenstand nostalgischer Sehnsucht.«; ebd., S. 21 131 Ebd., S. 21-22 132 Endler: 1976, S. 21 133 Kapuściński: 1993, S. 47
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Eine solch bemerkenswerte Leistung der Sowjetmoderne ist beispielsweise der Tifliser Hauptbahnhof, 1982 anstelle eines stalinistischen Bauwerks von einer Planungsgruppe um Rezo Bairamashvili, Ilo Kavlashvili und Givi Shavdia in einem zeitgemäßen spätfunktionalistischen Stil errichtet. Ein breitlagernder Bau, dessen gläserne Fassade ein dynamisch angerundetes und rhythmisch durchfugtes Flugdach überspannt, über das sich wiederum eine wuchtige, würfelartige Verwaltungseinheit wie ein FlughafenTower erhebt, die in der durchgestalteten Kantigkeit durchlaufender Parapetbänder noch jene Eleganz vermittelt, die das längst angejahrte Gebäude einst auszeichnete. Gleiches gilt für die 1986 fertiggestellte Technische Bibliothek von Garry Bitshiashvili, ein weiteres Großwerk der georgischen Sowjetmoderne in stiller, modriger Stimmung. Denn wie viele Prestigeobjekte der Zeit, viel Verehrungswürdiges und Schönes, trägt auch dieses Gebäude bereits zerquälte Züge. Der Bibliotheksbau ist eine verspätete Glanztat des im Westen längst abgelegten Brutalismus. Ein mit einem plastischen Betonkranz umrandeter langgestreckter Riegel, dessen Fenster durch eine endlose Repetition fächerartiger Betonschwerter eingefasst sind.134 Viele weitere Monumente der Sowjetmoderne vegetieren ebenso ihrem Ende zu. Und anders als die verwunschen-verfallenen Stadtviertel der Zarenzeit entwickelt die bröckelnde Moderne nur bedingt eine Ruinenromantik, wie Andreas Huyssen schreibt. Denn es »fehlt diesen Trümmern […] jene geschichtsphilosophische Dignität, die der klassischen Ruine der Postrenaissance zukam.«135 Die Moderne legitimiert sich »als historisch authentisch im Verwenden von Stahl, Glas, und Eisenbeton als zeitgemäße Materialien« und verweigert so bereits rein stofflich in ihrem Verschleiß »ein Kernmoment traditioneller Ruinenimagination: die Rückkehr von Kultur in Natur. […] Rein funktionale Bauten altern nicht, sie zerfallen und werden abgerissen. […] [Sie] eignen sich nicht als Ruinen. Sie markieren bestenfalls die Kurzlebigkeit modernistischer Utopien.«136 Eine Ausnahme bildete das Hotel Iveria der Architekten Otar Kalandarishvili und Irakli Tskhomelidze, dass ein dramatisches Schicksal erfuhr. Das 1968 eröffnete 22geschossige Luxushotel der Nomenklatura, das in alternativer Schreibweise des antiken Königreichs »Iveria« und nicht »Iberia« genannt wurde, um nicht im Falle eines Ausfalls des ersten Neonbuchstabens »Beria«, den Namen von Stalins massenmörderischen Geheimdienstchef, über Tiflis flackern zu lassen137 , war einst ein reduktionistischer vertikaler Rechtkant mit elegant umlaufenden Balustraden. Bis im Bürgerkrieg das Gebäude in ein Flüchtlingsquartier für abchasische Binnenvertriebene umgewandelt wurde und dann über ein Jahrzehnt lang als mit improvisierten Sperrholzverschlägen und blauen Plastikplanen verunstaltete Armenunterkunft ein in ganz Tiflis sichtbares Symbol einer nationalen Tragödie blieb, einer Landkarte mit »an Georgien grenzenden Länder[n] und […] Länder[n], die in Georgien an Georgien grenzen.«138
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Weitere hochwertige, jedoch bereits schwer zugerichtete Einzelleistungen der Sowjetmoderne in Tiflis sind die Wohnhausanlage Nutsubidze von Otar Kalandarishvili und G. Potskhishvili oder der Busbahnhof Autovagsai von Shota Kavlashvili, Vladimir Kurtishvili und R. Kiknadze. Huyssen: 2006, S. 233 Ebd., S. 244 In: Kurtishvili: 2016, S. 136 Eich: 1999, S. 102
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Vielen ausländischen Besuchern schien das humanitäre Unglück der Flüchtlinge allerdings hinter der schaurigen Erhabenheit des mit Wäscheleinen umspannten, ungebändigten Gebildes aus Bretterkoben zu verschwinden, mit fasziniert gebundenen Augen betrachteten »foreigners […] the hotel-turned-refugee-camp […] as a species of aesthetic object, the picturesque. A specific kind of picturesque to be sure, a post-modern ruin, a hybrid of original modernist architectural intention and the bricolage of architectural adornments and modifications […] at once ugly and strangely beautiful. An unwitting palimpsest of the transition […], the hotel exhibits plenty of unintentional historical irony.«139 Und diese Ironie ging weiter: die Saakaschwili-Administration verkaufte das Hotel Iveria 2004 an private Investoren, die die Flüchtlinge ausquartierten und das Gebäude bis aufs Skelett entkernten. Umgebaut heißt das Luxusresort nun Swiss Radisson, hat eine glänzende Glasfassade und Fünf Sterne.140 Nur: Nichts rührt, nichts prägt sich hier mehr ins Gedächtnis.141 »So, what does neoliberal governance with a selection of design magazines by your side actually look like?« 142 Der Zusammenbruch der UdSSR und die Unabhängigkeit 1991 brachten der Stadt zunächst keinen Aufwind. Die instabile, anarchische Transformationsphase schuf in Tiflis desaströse Verhältnisse. Kriegsgewalt und Pauperismus, Brigantentum und Stromausfälle prägten die düsteren 1990er. »Capitalism, it has become clear, is a more sophisticated mechanism than anybody realised. Just as the absence of war hasn’t meant peace, so the end of communism hasn’t meant capitalism. […] Not only is the cake now smaller, but the slice that goes on health, education and social services has shrunk proportionally«143 . Im Winter hieß es in der Millionenstadt Frieren und im Dunkeln sitzen: »Vier Stunden Strom am Tag, ratternde Notaggregate, die Trübsinn verbreiten, aber kein Licht, irgendwann gehen auch sie aus, hören auf zu rattern, lassen sich nicht mehr in Gang bringen, eiskalte Räume, stinkende Ölöfen, brennende Autoreifen auf den Stra-
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Manning, Paul: »The Hotel/Refugee Camp Iveria: Symptom, Monster, Fetish, Home«, in: Kristof Van Assche/Joseph Salukvadze/Nick Shavishvili (Hg.), City Culture and City Planning in Tbilisi: Where Europe and Asia Meet, Lewiston, NY: Edwin Mellen Press 2009, S. 320 140 »As a visible symptom of the problems of Tbilisi, an exception to the utopian claims of the Rose Revolution, a ›holdover‹ from the hated past(s) (both soviet and post-soviet), its cure, the building of an exemplary Western luxury hotel on its carcass, could transform the hotel and its environs instead into a fetish, a monumental embodiment of the political fantasy of the Rose Revolution.«; ebd., S. 330 141 Schade ist es auch irgendwie um die ebenfalls von Kalandarishvili errichteten und ebenfalls von Saakaschwili geschliffenen Andropovs Ohren, auch wenn der Abriss der für Militär- und Parteiparaden genutzten Tribüne sicher keine unvernarbbare Wunde in der Stadt hinterlassen hat. Aber in die 1983 für einen Staatsbesuch des damaligen Generalsekretärs der KPdSU, Juri Andropov, betonierten Bogenreihen aus übereinander gelappten, dünnschaligen Betonschlaufen ließ sich immerhin eine lyrische Idee imaginieren. 142 Hatherley, Owen: »Saakashvili didn’t need interesting architects to design the New Georgia«, in: www.dezeen.com, 19.11.2015 143 Delahaye, Michael: »Coping with Capitalism – in Georgia«, in: The Financial Times Magazine, 11.11.2000
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ßen, um die herum Männer stehen«144 . Der Bürgerkrieg und die postsowjetische Verelendung führten zu einem Bevölkerungsverlust und einer ethnischen Homogenisierung, einer »Georgisierung« der multiethnischen Metropole. Während das russische und armenische Stadtbürgertum Tiflis den Rücken kehrte, nahm man Flüchtlinge und Armutsmigranten aus den ländlichen Gebieten auf.145 In Tiflis entstanden Barackensiedlungen. Die jahrzehntelang in disparaten Zustand belassene Altstadt war zwar in den späten 1970ern restauriert worden.146 Der Bürgerkrieg 1992 hinterließ jedoch nicht nur zerschossene, sterbende Leiber. Vieles »[w]as sich heute dem Besucher als gewachsenes Ensemble präsentiert, ist in Wahrheit [daher] großteils ein Wiederaufbau«147 . Denn nicht wenige der scheinbar in authentischem Zustand erhaltenen historischen Einzelgebäude, speziell an der unter Artilleriebeschuss geratenen Rustaweli Avenue, erlitten massive Kriegsschäden. Zudem führte der Pauperismus der Transformationsjahre zu einer Vernachlässigung der Bausubstanz und ein Erdbeben 2002 tat ein Übriges, um unbändige Wunden in die alte Stadt zu schneiden.148 Einzelne verwunschene Stadtviertel past its prime bieten allerdings weiterhin ein bestürzendes Antlitz. Die früher prächtigen Palais und Bürgerhäuser der Zarenzeit, die nun zu dahinsiechenden, zerlumpten Kummergestalten verfallen sind, überziehen Craquelierungen. Zugeschmutzte, abblätternde Putzfassaden, zerkrümelnde Stuckaturen und schief herabhängende Balkone mit rostenden Gusseisengeländern gewähren einen traurigen Anblick. 144 Eich: 1999, S. 8-9; Der georgienreisende Schriftsteller Clemens Eich beschrieb ein Nachkriegsland: »Kaum wo sind Zeichen des Aufbruchs, des Aufbaus, des Neubeginns zu sehen, außer an wenigen exponierten Stellen der größeren Städte, und die wirken dann fehl am Platz, aufgemotzt, protzig und unpassend, als wollte man Elend und Armut noch tiefer in den Dreck treten.« (ebd., S. 61) Seine Depressionsbilder leben von seinem »immoralistischen Eingeständnis der Lust am Desolaten« der postsowjetischen Korrosion. Er betreibt eine literarische »Verwirklichung antizivilisatorischer Sehnsüchte«: »Landschaften der Apokalypse empfindet der gnostische Erlösungswille als heimatliches Terrain. Georgien […] war für ihn solch eine Topographie.«; Medicus, Thomas: »Dunkle Tage in Tiflis«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6. 1999 145 »Tbilisi experienced a dramatic 15 % population reduction. This was due to a mass outflow of population, mostly to Russia […]. However, the population growth reversed to positive in the 2000s, fuelled by migrants from rural Georgia. The city has consequently undergone ›Georgianization‹ – the acceleration of […] the replacement of its once multinational composition by ethnic Georgians, due to a disproportional outmigration of Russians and Armenians.«; Salukvadze, Joseph/Golubchikov, Oleg: »City as a geopolitics: Tbilisi, Georgia – A globalizing metropolis in a turbulent region«, in: Cities, 52/2015 146 »In 1978, with a growing attention to heritage protection, a largescale reconstruction of the old town was launched. Old Tbilisi had remained largely untouched in the Soviet period […] and therefore preserved its historic unity and ambience. […] [I]t had a positive effect on the pre-Russian sections of the city and boosted tourism. The project also enhanced the urban environment of Old Tbilisi and prolonged the lifespan of many buildings.«; Ebd. 147 Stiller: 2016, S. 28 148 »Much economic, social and intellectual capital disappeared. Due to the rapid privatization of apartments and the emergence of a new actor, the developer, small projects started to mushroom fairly quickly. In the 1990s, development was largely unregulated, small-scale and marked by low construction quality, shady financial deals and hit-and-run strategies.«; Van Assche/Salukvadze: 2012
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Dabei entwickeln diese angekränkelten, manchmal halb in Trümmern dastehenden Straßenzüge allerdings allein in ihrer mürben Farbigkeit eine auratische Erhabenheit des Verfalls. Ihr beklagenswerter Zustand veranlasst zu Ruinenimaginationen, evoziert romantische Empfindungen (– wenngleich wohl eher bei westlichen Touristen denn bei den Bewohnern). Die Fäulnis eines Jahrhunderts erwirkt bei diesen verwunschenen Stadtvierteln eine intensivierte Sinnlichkeit und Wirklichkeitserfahrung. Die ursprünglich belassenen und nun verfallenden Häuser wirken authentisch, gerade in dem Missverhältnis zur unsachgemäßen Sanierungsbetriebsamkeit der Nuller-Jahre mit ihren bildlich verdichteten Ausschmückungen und Erfindungen, bei denen nicht nur die allerunzulässigsten Veränderungen ein nicht wegzudiskutierendes Missbehagen und Unverständnis hervorrufen. War das städtische Laissez-faire in den dunklen 1990ern allein dem Staats- und Wirtschaftsversagen eines taumelnden Krisenlandes geschuldet, wurden behördliche Deregulierungen und eine nicht-interventionistische Stadtplanung unter Präsident Saakaschwili im Namen seines neoliberalen »Entrepreneurialismus« dann zur Handlungsdirektive, um ein unternehmerattraktives Wirtschaftsumfeld zu bieten.149 Wie in anderen neokapitalistischen Stadttransformationen der früheren UdSSR ging zwar zunächst auch »um die symbolische Inbesitznahme der Stadt durch die Bürger«, nun aber, so formuliert es Schlögel, »um die faktische durch jene, die über genügend Geld oder Rücksichtslosigkeit oder beides verfügen.«150 Auch Saakaschwilis staatlich teilfinanzierte Stadtviertelsanierungen blieben auf das Kapital privater Investoren angewiesen und mussten daher unternehmerische Interessen berücksichtigen. Es bildete sich eine Allianz von »mutually exclusive, traditionally sworn enemies«, wie Ada Louise Huxtable es ausdrückte, »united in the profitable and exemplary restoration, remodeling and reuse of the distinguished older structures that enrich the quality and character of the present […]. Strange bedfellows, preservation and development, but with a little nudging from the tax laws and other incentives, the marriage works.«151 So erlebt Tiflis eine typische Gentrifizierung nach DeveloperVerwertungsgesetzen. Denn die Interessenslagen gewinngetriebener Investoren sind überall die gleichen, wie Huxtable lakonisch ausdrückte: »real estate people tend to think and operate like real estate people anywhere. The merchants of cities form a watertight society. If land value ever got too high to keep the Sistine Chapel they would, of course, remove the frescoes first.«152 149 »[T]he powers profess a neoliberal ideology, but meanwhile impede the full application of free market principles and democratic principles. Whereas the neoliberal recipe […] has problematic features wherever applied, the Georgian selection of ingredients is particularly harmful.« (Kristof Van Assche, Joseph Salukvadze, »Tbilisi reinvented: Planning, Development and the unfinished Project of Democracy in Georgia«, in: Planning Perspectives, 1/2012) Die Autoren weiter: »The suitability of real estate development for money laundering increased the flow of money to the sector, and accelerated the rise of the developers as a professional class. In most places, both planners and citizens were relegated to a relatively marginal position in the planning game, a marginality further increased by the general distrust of citizens in planning and an overly optimistic view of the free market and its heroes«; Ebd. 150 Schlögel: 2001, S. 152 151 Huxtable: 1986, S. 10 152 Ebd., S. 69
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Die naheliegende Ausverkaufsklage, die Anschuldigungen der Unglaubwürdigkeit und der Lüge, die Kritiker an den Sanierungsmaßnahmen der SaakaschwiliAdministration artikulieren, betrifft die denkmalpflegerische Inauthentizität unsachgemäßer Restaurierungen, die meist gar keine sind, da havarierte Bausubstanz entweder nur hastig übermalt oder aber rabiat abgerissen und mit Stahlbeton-Replikaten ihrer ursprünglichen architektonischen Beschaffenheit substituiert wird: »Natürlich sehen auch andere renovierte mittelalterliche Städte […] anders aus als deren überlieferte Baugestalt. Der Unterschied zu […] gelungenen Beispielen, findet das architekturkritische Räsonnement in georgischen Intellektuellenkreisen, besteht in Tiflis nur eben darin, dass sich die öffentlichen Bauherren hier gleichsam besser zu wissen anmaßten, wie eine mittelalterliche Altstadt auszusehen hat, als es die mittelalterliche Stadt selber gewusst hat, solange sie noch stand.«153 Saakaschwilis Sanierungsaktivismus schuf ein inauthentisches, den geschichtlichen Gang der Dinge in freier Bearbeitung manipulierendes Stadtbild, urbane Artifizialitäten mit unausweichlichen Sinnverfälschungen, die nicht unbedingt mit feinen Nerven zu genießen sind. Auch, weil die allgegenwärtige Dubai-Ästhetik nun den unvermeidlichen »architekturgeschichtliche[n] Quellpunkt der neuesten Tifliser Baugesinnungen«154 bildet. Am fantastischsten wirken die Artifizialitäten nachts. Denn dann flutet gleißendes Licht die sternenbeschienene Finsternis. Der attraktionsurbanistische Lichtkult einer nächtlichen Stadtilluminierung, den auch speziell die aufschneiderische Nachbarkapitale Baku mit Aufwand betreibt, wird in Tiflis übererfüllt. Die Stadt unternimmt alles, damit sie die tintentrübe Nacht nicht verschluckt. Dieses Tiflis im Licht strahlt mit weißlich illuminierten Rustaweli Avenue-Fassaden, einer gelblich flackerten Sameba Kathedrale, einer türkisblau funkelnden Friedensbrücke und einer effektvoll sich gegen den dunklen Fels erhebenden beleuchteten Festungssilhouette der Narikala, die wirkt, als wären ihre Mauerfundamente auf Flammen gebaut. Diese wahrnehmungsrichtende Illuminierung der städtischen Einzelwahrzeichen ist eine Präferenzverschiebung des unter Präsident Saakaschwili betriebenen Landmark-Städtebaus der Nuller-Jahre. Doch bereits vor der »Rosenrevolution« geriet das kleinteilige Tifliser Weichbild in Präludien dieses ausschließlich mit sich selbst beschäftigten Attraktionsurbanismus städtebaulicher Schamwidrigkeiten, hinter denen aber ironischerweise Saakaschwilis späterer Widersacher, der lange Jahre unsichtbar gebliebene Milliardär und Philanthrop Bidsina Iwanischwili stand. Bereits die Iwanischwili Villa, die martialische High-Tech-Residenz des Superreichen, und die riesige Sameba Kathedrale, die sich Schewardnadse von Iwanischwili finanzieren ließ, um die patriotische Identitätsstiftung der jungen Nation durch die gottergebene 153
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Wackwitz: 2014, S. 168; »It also causes the criticism of heritage professionals, because buildings are normally not repaired but demolished and ›rebuild‹ creating replicas of traditional houses, but destroying the original authenticity of the neighborhoods«; Salukvadze/Golubchikov: 2015 Wackwitz: 2016; Wackwitz resigniert am »internationalen Stil des Südens. Zumindest die georgische Ausführung dieser Mischung aus gemäßigt bauhaushaften Anmutungen und Luxusprätention wirkt allerdings schon im baufrischen Zustand irgendwie brüchig. Man wird den Eindruck nicht los, das werde alles nicht sehr lange halten«; ebd.
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georgische Orthodoxie letztzubegründen, wirken in ihren Maßstabssprüngen wie Augentäuschungen. Die dämonisch auf einen der Tifliser Hügel ruhende Iwanischwili Villa ist ein Hauptwerk des kryptopoetischen Techno-Postmodernisten Shin Takamatsu, der eine für ihn typische futuristische Fabriksästhetik aus geometrischen Rotationskörpern entwickelt. Ganz aus Glas, Stahl und Edelstahlröhren, die sich als bandartige Fassadenverkleidungen um siloartige Glastürme wickeln, in die rotierende Stahlkugeln und beleuchtete Kegel eingeschrieben sind. Die Sameba Kathedrale nach Plänen des Architekten Archil Mindiashvili, der größte Sakralbau Transkaukasiens, hingegen beschwört eine göttliche Vermittlung in den irdischen Ereignissen durch eine überdimensionale mittelalterliche Kuppelkirche, im Verweis auf das providentielle Georgien religionskräftigerer Zeiten. Während aber die Sameba Kathedrale in ihrer nations- und identitätsstifterischen Intention immerhin dem nationalen Kulturbestand verpflichtet blieb und den landestypischen Kirchenbaustil lediglich ins Riesenhafte skalierte, versuchte später Saakaschwili, der Charismatiker mit autoritären Anwandlungen und kurzer Lunte, als städtebaulicher Arrangeur mit einer Zufuhr unbelasteten Bluts Tiflis geistig umzuparken und mit Gewalt ins 21. Jahrhundert zu hieven. Im ganzen Land platzierte der hyperaktive Präsident unverschämt brachiale »piece[s] of luxurious bureaucratic sci-fi surrounded by third world conditions of poverty and dilapidation«155 . Die Landmark-Bauten, für die Saakaschwili immer wieder die gleichen internationalen Architekten, nämlich seine Favoriten Jürgen Mayr H., Michele De Lucchi und Massimiliano und Doriana Fuksas beauftragte und auch alle deren Entwürfe selbst freizeichnete, haben allesamt den Symbolisierungsauftrag, mit modernistischen Freiformgeometrien Georgiens Einschwenken in die fortschrittlichen Weltvektoren des Westens zu symbolisieren. Der gefeierte Held der »Rosenrevolution« und extrovertierte PolitHeißsporn, der sich so energiestrotzend der georgischen Korruptionsseuche entgegenstellte und einen europaorientierten Modernisierungsprozess initiierte, wollte mit unkonventionellen, expressiven Formen ebenjene Modernität und Westöffnung demonstrieren. Lässt man einmal die fundamentale und natürlich einen Nachgeschmack hinterlassende Frage außer Acht, inwiefern es dem Haushaltsbudget eines armen, kleinen Landes zuzumuten ist, all diese kapriziösen Gebäude zu finanzieren, wäre dieses präsidiale Mäzenatentum in seinem Idealismus ja nicht grundsätzlich zu missbilligen. Doch letztlich bleibt diese eigentümlich extemperierte Moderne ortsunsensitiver Großformen ebenso ungereimt wie das politische Projekt für das sie stehen soll – Saakaschwilis überhasteten Atlantizismus, der affirmativ Marktwirtschaft und Liberalismus verspricht. Der unsanft ins Stadtbild geschütteter Parcours singularisierter, spektakelhafter Gegenwartsarchitekturen, die es allesamt zu publizistischer Bekanntheit gebracht haben, bleibt nicht nur in der Repräsentationsymbolik erratisch. Ein Inszenierungsverdacht schwingt mit, diese Apotheose eines fast gewaltsamen Gegenwartsbezugs wirkt gekünstelt und unglaubwürdig – inauthentisch. Und diese Kritik wurde an der Saakaschwili-Administration ja auch immer lauter: dass die vielen Architekturinitiativen in erster Linie eine Ästhetisierung einer Agenda 155
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anbieten würden, nicht jedoch eine echte Einlösung der progressiven Reformversprechen der »Rosenrevolution«. Die Zeichen der Demokratisierung seien nichts anderes als der wunschgeleitete Illusionismus eines übernächtigten Präsidenten, der nicht stillsitzen kann, an Selbstüberschätzung leidet. Die Bauten trägt kein philosophisch durchgearbeiteter Wille, sie sind »ein politisches Nervositätssymptom. Ihr Sturmzentrum hatte es in den Seelenzuständen des schon habituell von Ungeduld, Geltungsgier, schlechtberatenem Schaffens- und Entscheidungsdrang […] umgetriebenen Präsidenten […] [, der] offenbar unfähig war zu [ei]nem ruhigen und strategisch überlegten Regieren«156 . Wahrscheinlich sind die Saakaschwili-Bauten für Tiflis einfach nur eine Beleidigung, die die Stadt ertragen kann. Aber an dieser unvermittelten Inszeniertheit, dieser flirrenden, irritierenden Ästhetizität, entlud sich ein symbolischer Kulturkampf, bei dem die Tifliser Intelligenzija eine unreflektierte, unsensible Modernisierungseuphorie und eine übertaktete Wandlungsgeschwindigkeit verurteilte, die zur Entgeisterung neigenden Konservativen eine scheele Verneinung des georgischen Erbes in Harnisch brachte. Beide Lager tangierten dabei eine Kardinalfrage der Gegenwartsarchitektur: die Tarnung gesellschaftlicher Implikationen in spektakulärer Ästhetizität.157 Batumi, Saakaschwilis städtebauliches Liebkind, fasst dieses Zeitphänomen einer auf die Bildwirkung fixierten Ästhetisierung der Architektur weit drastischer zusammen, bauscht es zu einem unersättlichen Spiel auf. Aber auch die herumgenialisierenden Tifliser Repräsentationsbauten der Saakaschwili-Präsidentschaft wirken wie eine prätentiöse Wirklichkeitsausklammerung durch ein ausdrucksintensiv Ästhetisches. Mit ihnen gab der Architekturliebhaber im Präsidentenamt Erklärungen zur Zukunft seines Landes ab, nach denen ihn eigentlich niemand gefragt hatte. Saakaschwilis Lieblingsillusionist des staatlich dekretierten Zukunftsaufbruchs wurde der Mailänder Architekt und Designer Michele De Lucchi. Er baute unter anderem das Innenministerium mit einer bandartig gewellten Glasfassade, die institutionelle Transparenz zu symbolisieren hat, und eine 150 Meter lange Fußgängerbrücke über die Kura, über die sich ein parabolisch gekrümmtes türkisfarbenes Glasdach spannt, das ansichtskartentaugliche Zauberbilder seines stählernen Tragwerk-Ungetüms ins Wasser wirft.158 De Lucchis futuristischer Baugedanke darf dabei nicht gegen die eigene 156
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Wackwitz: 2014, S. 165-166; Wackwitz fasst die Irritation der Tifliser zusammen, die kritisieren, »Saakaschwilis ästhetische Moderne sei […] abstrakt, ausgedacht und abgeleitet davon, was der Autokrat im Ausland gesehen hat, dazu ästhetisch verzerrt durch die engen Grenzen seines Geschmacks und seiner visuellen Bildung, ungeduldig und ignorant gegenüber den Erfahrungen und Bedürfnissen seiner Wähler. […] [N]icht in einer Gefühls- und Gedankenwelt verankert, die wirklich existierende Georgierinnen und Georgier bewegt. Ihnen ging das alles zu schnell (und zu schnell wieder kaputt), ihnen war zu unüberlegt, schlecht gemacht, aufgesetzt, protzig und irreversibel. Sie erkannten, sagten sie, ihr eigenes Land nicht wieder.«; ebd., S. 169 Diese Kritik muss für die Saakaschwili-Administrationsbauten bejaht werden: die der Funktionalität der gebauten Symbole. Denn natürlich funktionieren, wie Gerhard Matzig hervorstreicht, sämtliche »intellektualisierten Kunstversuche« »auch als Raum gewordene Symbole […] nur so lange, wie die Bedeutungsträger selbst funktionieren: also in ihrer profanen Existenz«; Matzig: 2011, S. 19 Obwohl die einst wilden Gebirgswässer der Kura durch Staudammanlagen längst gezähmt wurden und die leichten »Wellen heiter, milchkaffeebraun […] [erscheinen,] nicht blau wie ihn die Farbpostkarten«; Endler: 1976, S. 79
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Intention verfahren und muss eine Präfiguration des Zukünftigen, der Veränderung und der Freiheit ausarbeiten, die prächtiger und spektakulärer ist als der städtische und (der publizitäre) Ist-Zustand. So werden seine Entwürfe, speziell die Friedensbrücke, zu schroffen, selbstbezogenen modernistischen Expressionsereignissen. Und die Frage ist dabei weniger, inwiefern ein Bauwerk ein friedliches Bild liefern kann, dass sich derartig aufreizend dem Stadtbild und diesem einen Kulturwandel aufdrängt? Sie betrifft vielmehr das Verständnisverlangen für ihre Symbolik. Denn das wirbelsäulenhaft gekrümmte Tragwerk bleibt in seiner ästhetischen Halbverständlichkeit ein architektursymbolisches Epiphänomen, was die irritierten Tifliser insinuieren lässt, De Lucchis Dachschale hätte eine Always ultra-Damenbinde inspiriert. Der Friedensbrücke architektursprachlich nahverwandt sind die nicht minder gewaltsam das Stadtgefüge belästigenden futuristischen Stahl-Metall-Glas-Zylinderbauten der Musiktheater- und Ausstellungshalle, die Massimiliano und Doriana Fuksas in den am Kura-Ufer angelegten Rike Park wuchteten. Die zwei rückwärtig miteinander verschränkten, umgebungsignorant daliegenden Riesentrichter mit zeitgemäß triangulierten Fassadensimplizes aus Metall und Glas, wie sie das italienische Architektenpaar bei ihrer Mailänder New Trade Fair zu einer bauplastisch ausdrucksstarken Glanzleistung der Gegenwartsarchitektur skulpturierte, entfalten einen zwar symbolhaften, aber symbolisch ebenfalls unklaren architektonischen Abstraktionseinfall als Art »Periskop der Stadt […] Richtung Fluss, […] [dass] es den historischen Kern der Altstadt rahmt«159 . Auch hier ist keine Philosophie im Spiel, nur Imponierabsicht. Die Musiktheater- und Ausstellungshalle ist aber nicht nur ein Paradebeispiel für den bildgetriebenen Ikonizitätsimperativ einer funktionsbefreiten Stararchitekten-Architektur, sie ist tatsächlich funktionsbefreit, das heißt funktionslos – weil die Iwanischwili-Administration mit ihrem Regierungsantritt in einer Mischung aus Revanchismus und Budgetvernunft den weiteren Innenausbau aussetzte. Zusammen mit dem fahnenüberflatterten Präsidentenpalast – einer ungeschlachten neoklassizistischen Polizeikaserne, deren Umgestaltung bereits Schewardnadse bei dem Architekten Giga Batiaschwili beauftragt hatte, Saakaschwili nach politischer Intervention dann allerdings Michele De Lucchi überantwortete – bilden die beiden leerstehenden Röhren ein Ensemble fehlvergeistigter Symboliken, Zeichen der Überheblichkeit der georgischen Reformregierung. Der stadtstrukturellen Lage des Präsidentenpalastes auf einem Hügelplateau an der Kura würde an sich ja Erhabenheit anhaften, aber der Bau spielt diesen Trumpf ungeschickt aus. In dem architektonisch banalen Abklatsch des Berliner Reichstags inklusive einer bläulichen Glaskuppel mit Wandelspirale, der verabsäumt, ein erträglicheres Verhältnis zum historischen Stadtbild einzunehmen, verbindet sich Saakaschwilis Selbstverliebtheit mit seinem nachdrücklichen Nationalismus.160 Das im Assoziationsverhältnis plump und naiv wirkende Aufbruchspathos der Reichstags-Symbolik kam jedoch ohnehin zu spät, als der Zauber des Umsturzau-
159 Kurtishvili: 2016, S. 204 160 Und das nicht nur, weil über der Glaskuppel das Jerusalemkreuz weht, die mittelalterliche Flagge, die Saakaschwilis Nationale Bewegung als Parteiwappen nutzte und mit der Machtergreifung zur Nationalflagge wurde.
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genblicks der »Rosenrevolution« längst nicht mehr wirkte. Der Bau wurde erst 2009 bezugsfertig, sechs Jahre nach dem Sturz des Alt-Patriarchen Schewardnadse, als sich über Saakaschwili, dem selbsternannten Künder einer neuen Zeit, längst Enttäuschung breit gemacht hatte. Die anhaltende Armut und Arbeitslosigkeit, Restriktionen gegen Oppositionelle und das Demonstrationsrecht, Reptilienfonds, Justizwillkür und schließlich ein Gefängnisskandal hatten den nach unzähligen machiavellistischen Winkelzügen und Zerwürfnissen mit Mitstreitern längst abgekapselten Saakaschwili diskreditiert. Antithetisch zur symbolbeladenen Vulgarität des Präsidentenpalastes verhält sich der ultimative architektonische Glaubensartikel der Saakaschwili-Administration und das unbestreitbare Vermächtnis dieser Präsidentschaft: das Bürgerhaus von Massimiliano und Doriana Fuksas. Das riesige, am Kuraufer liegende Verwaltungsamt, das neben der Nationalbank und dem Energieministerium ein serviceeffizientes Meldezentrum untergebracht hat, gliedert um ein Atrium einen Cluster schachtelartiger, etagenweise gestaffelter Gebäudekubaturen mit symbolhaft transparenten Glasfassaden, die ein strukturell unabhängiges, bauplastisches Dach aus elf überdimensionalen »Blütenblättern« überragt, die von filigranen, baumstammartig verästelten Stahlsäulen getragen werden. Diese wahrzeichenhafte, im internationalen Wettkampf der aufmerksamkeitsheischenden Landmark-Architekturen tatsächlich singuläre Dachlandschaft aus kurvenreichen, einander überlappenden weißen »Blütenblätter«-Schalen – in Größe und Geometrie unterschiedlich modellierte Großformen aus Stahl, die mit fugenlosen Glasfaserpaneelen verkleidet wurden – ist unbestreitbar beeindruckend. Sie teilt allerdings mit der Friedensbrücke die Schwierigkeit, über ihre gebäudeskulpturale Assoziation mit Blütenblättern oder Pilzen eine Zeichenhaftigkeit zu schaffen, die sich als symbolischer Sinn nicht erschließt, Epiphänomen bleibt. Sind viele andere Futurismen der Saakaschwili-Ära aber nicht viel mehr als eine flache Klischeesammlung mit verunklarter Bildhaftigkeit, die als Leitbauten einer zeitgemäßen Architekturentwicklung untauglich sind, gelingt dem Bürgerhaus immerhin, Saakaschwilis atlantische Agenda architektonisch und funktional stringent zu materialisieren. Unstrittig ist die administratative Funktionalität der Verwaltungsabläufe im gläsernen Gateway-Chic des Bürgerhauses, nicht nur im Vergleich mit der schikanösen, die Hand aufhaltenden Apparatschik-Bürokratie alter Tage. Hier steht ein reformiertes One-Stop-Shop-Georgien, dass im globalen Korruptionsindex vor Ländern wie Italien und Griechenland platziert ist. Unbestreitbar fassen Saakaschwilis architektonische Hamsterkäufe aber – auch gerade darin, dass »das Lächerliche und vielleicht sogar irgendwie Liebenswerte der georgischen Panikarchitektur dieser Jahre umschlug in etwas Schlimmeres, Böses und […] irgendwie Dämonisches«161 – die geistige Situation der Gesellschaft zusammen, nicht nur die Gegenwartsgläubigkeit des Präsidenten. Sie drücken Zeitumstände aus, sie bestätigen, vereinfachen und verstärken sie. Sie repräsentieren eine schnelllebige, erfolgreiche Zeit, ein (zumindest) von der Tifliser Mittel- und Oberschicht erlebtes westliches, ichzentriertes Lebensgefühl, mit einer im Westen bestellten Hip-Urbanität der Boutique Hotels und Coffee-to-go-Shops, der Emo-Jugendlichen, Skater, Gallerinas und 161
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Hipster-Bärte, mit Straßenmusikern, die an der Rustaweli Avenue Indie-Tracks nachspielen. Und einen einsetzenden Konsumhedonismus, der zeigt, »daß die Bewußtseinsbildung in einer extraversiven Konsumkultur wahrscheinlich nicht gerade Einsichten fördern wird, die ihre spezifischen Illusionen antasten.«162 Eine städtebauliche Ruhekur hat Tiflis daher auch die vergleichsweise leisetreterische Iwanischwili-Partei keine verschrieben und man kann der Stadt weiterhin zuschauen, wie sie sich wandelt. Die alten, sattsam bekannten Feinde historischer Architektur, die Investoren, reißen weiterhin alte Bausubstanz ab und errichten Malls und Appartementtürme. Sie bauen weiter an dem »verrückt gewordenen Fantasieunternehmen […], das sich von den realen Bedürfnissen, Einkommensverhältnissen und kulturellen Traditionen des wirklich existierende Tiflis wahnhaft abgekoppelt hat«163 . Tiflis ist weit entfernt, seine Bedächtigkeit wiederzugewinnen. Das ist das Drama dieser katastrophisch veranlagten Stadt, mit ihrem leichtfertigen und anarchischen Verhältnis zu grundsätzlich allem, den Architekturen der eigenen patriotisch gestützten Nationalkultur und der ausländischen Gesandtschaften. Aber natürlich verdankt die Stadt dieser Haltung, bei allen Verlusten, die sie damit an ihrer einmaligen Historie verursacht, auch ihre zwiespältigen Attraktionen urbaner Inauthentizität: die sich im Fiktionalen einrichtenden, abrupt in die geschichtliche Baugestalt getriebenen Prachtgebäude des zaristischen Historismus, die expressiven Großmonumente der Sowjetmoderne und gegenwärtig der natürlich unangenehme Fragen manisch anziehende, mit fatalen Illusionen zusammenhängende Saakaschwili-Futurismus.
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Mitscherlich: 1965, S. 82 Wackwitz: 2016
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»Baku, das täuschend echt erscheinende Abziehbild einer Metropole« 1 Die Ölmetropole Baku, die Hauptstadt der Südkaukasusrepublik Aserbaidschan, ist nach allen gängigen Klassifizierungskriterien keine Weltstadt. Außer in der nichtamtlichen Kategorie architektonischer Prächtigkeit. In Baku, dieser »vielschichtige[n] Stadt am Rande westlichen Bewusstseins«2 , entfaltet sich nicht nur eine in tiefen Zügen zu atmende Urbanität. Die Geschichte hat eine Vielzahl überwältigender Architekturjuwelen in ihrer Bucht platzieren lassen. An dieser landschaftlich nicht einmal unbedingt attraktiven Küstenniederung an der Südflanke der Halbinsel Abscheron, einem von der Sonne verzehrten Ort, der in das unduldsame, »völlig gesichtslose, bleierne und unergründliche Kaspische Meer«3 hineinragt. An der zwar die Terrassen einiger Hügelzüge »ein regelrechtes Amphitheater [bilden], wie für eine Stadt geschaffen«4 , aber über die immerzu die fallenden Winde peitschen, denen Baku seinen Namen verdankt. Ihre geschichtsträchtige und vielgestaltige Architektur allerdings adelt Baku, die »Stadt der Winde«, in den Rang einer – dem Westen noch nicht endgültig entborgenen – Weltmetropole, deren inneres Bild Dinge miteinander vereint, »die der westlichen Imagination ganz unvereinbar vorkommen: Paris, den Ozean und mittelalterliche islamische Architektur. Denn Baku gleicht einer kleineren Ausgabe von Paris, die am Meer liegt und deren maurische Innenstadt aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammt.«5 Dabei gliedert sich Bakus Stadtbild in Wachstumsphasen nach ihren zäsurhaft erfahrenen Geschichtsabschnitten, die sich als aneinander lagernde repräsentative Baukulturen erhalten haben: »Hier findet man alle Stile nebeneinander, in einer großen Revue architektonischer Moden und Epochen. Es gibt einfach alles! Pseudogotik und Pseudobarock, einen postmauretanischen Stil und die Schule von Le Corbusier, den Konstruktivismus der zwanziger Jahre […]. Eine einzigartige Ausstellung. Man hat hier alles bei der Hand«6 . 1 2 3 4 5 6
Marcus Latton, »Die Verachteten von Baku«, in: Jungle World, 27/2014 Teske, Knut: »Baku? 12 points!«, in: Hamburger Abendblatt, 21.05.2011 Said, Kurban: Ali und Nino. Eine kaukasische Liebesgeschichte, München: Goldmann 1992, S. 9 Agajew, Emil: Baku, Moskau: Raduga 1987, S. 6 Wackwitz: 2014, S. 74 Kapuściński: 1993, S. 63
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Innen liegt die sandsteinerne islamische Altstadt İçəri Şəhər, eine Medina mit Moscheen, Karawansereien und Minaretten, einem verwinkelten Gassenlabyrinth, erhaltenen Passagen der mittelalterlichen Stadtmauer und beachtlichen Baudenkmälern. Wie dem archaischen Jungfrauenturm, Bakus mysteriösen Stadtturm unbekannten Alters und ungeklärter Funktion mit einem Grundriss in Form der Ziffer Sechs. Dem Synyk-Kala-Minarett aus dem 11. Jahrhundert mit seinem von einem Stalaktitenfries getragenen musterverzierten Steingeländer. Und dem an der Hügelkuppe der mittelalterlichen Festungsstadt gelegenen Palast der Schirwanschahs, dem herrschaftlichen Ensemble von Palastbauten der Khansdynastie aus dem 15. Jahrhundert mit facettierten Kuppelbauten, Arkadengängen und sandsteinernen Pischtaks, den Eingangsportalen, die mit fein eingeschnittenen Muqarnas, den islamischen Stalaktitengewölben, und schattentief gehauenen Arabesken verziert sind. Erhabene Bauwerke, gefasst durch »[g]relles Sonnenlicht und Schatten, die die präzise Linienführung der Steinschnitzereien zur Geltung bringen, de[n] blaue[n] Himmel, unter dem sich die Kuppeln und das Minarett, die goldene Ockerfarbe des […] herrlich bearbeiteten Steins und die Lichträume zwischen den Säulen, Spitzbogenarkaden und Türaussparungen schön abheben«7 . İçəri Şəhər äußerlich entfaltet sich die grandiose Fin de Siécle-Stadt des ersten Ölbooms. Das gründerzeitliche Baku mit den zwar überzüchteten, aber unsaturierten Prachtpalästen der reich gewordenen Erdölindustriellen, der Ölbarone. Mit den schmachtenden, ins Äußerste drängenden Aufdringlichkeiten eines Historismus, der wunderbare Gaukelbilder schafft, mit starker Sinnlichkeit, Pathos, und chimärischer Künstlichkeit. Der sich in den üppigen Versuchungen seines ästhetischen Raffinements und der architektonischen Überspanntheit seiner Details in den eigenen Scharaden verfängt. In den köstlichen Zierden eines protzigen und dennoch ewiglich glorreichen eklektizistischen Historismus, dessen sonnenübergossene Bilder der Schönheit um dich herum ein Spiel treiben. Der faszinierende Qualitäten des Unwirklichen ausbildete – in teils sinnlichen, teils obszönen »Entblößungen«, die den Endpunkt der historistischen Kunstentwicklung bedeuteten. In der »die monarchischen Hoheits- und Würdeformen im Konkurrenzkampf der Mächte verschlissen, da sich die Bourgeoisie […] derselben Formen bedient[e], wie der Staat und die Krone […] [und so] das Stilkleid mit den Würdezeichen zu Verschleiß und Sinnentleerung«8 verrutschte. Außerhalb der Gründerzeitstadt lagern dann die Sowjetrelikte, die teilweise in einem orientalistischen Neohistorismus, teilweise in den Konventionen der Sowjetmoderne gezeichnet sind. Wenngleich viele der Plattenbauten inzwischen mit dem billigen Schwindel eines neueren Neohistorismus drapiert wurden und einen leider meist nur leidlich gelungenen Beaux-Arts-Aufzug verpasst bekamen, der sich in den glamourösen Bilderhaushalt des gegenwärtigen Bakus einfügen kann. Da wie immer in den vielen Umwälzungen Bakus auch nun viel unbenannt, abgerissen und überbaut wird. Denn »[w]ie alle Städte, die wechselnden Herrschern unterstanden, verwischt Baku unaufhörlich die Spuren seiner Geschichte. […] Die moderne Stadt überliefert und verrät die alten Städte.«9 Sie planiert ihre Geschichte für die architektonischen Aktualitätshei-
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Agajew: 1987, S. 98 Lemper: 1985, S. 69 Rolin, Olivier: Letzte Tage in Baku, München: Liebeskind 2013, S. 9-10
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schereien des jüngsten, mit ihren Augen verzaubert auf Dubai gerichteten Bakus. Mit den Spektakelbauten des zweiten Ölbooms, die wie beim ikonenhaften Wahrzeichen der Flame Towers abermals »die kathartische Kraft der Brennstoffe [nutzen], um Baku als Kulturmetropole […] heller leuchten zu lassen.«10 Die Faszination Bakus ist auch die seiner Multikulturalität, architektonisch wie gesellschaftlich. Denn hier rieben und reiben sich die Kulturkreise des Orients und Okzidents. Speziell die Ölmetropole des Fin de Siécle war eine zwar zutiefst gewalttätige und klassenantagonistische, dafür aber äußerst multikulturelle Stadt: »Its streets pulsed with a dazzling mix of people – turbaned Azeris with red hennaed beards, Dagestanis in long robes, […] Russians in furlined caps, and Swedes and Germans in stylish suits.«11 Aserbaidschaner, Armenier, Juden und viele weitere Kaukasusstämme fanden hier mit den Russen der zaristischen Besatzungsmacht und einer europäischen Ölschickeria zusammen. Die islamische Tradition traf auf die westliche und verwestlichte Lebensweise der Erdölreichen. Jahrhundertealte islamische Baukultur traf auf Variationsdimensionen eines Importhistorismus im Stil des Hausmannschen Paris. Es wirkten »unvorstellbare Extreme von Reichtum und Armut aufeinander, hier standen Gaslicht und Telefon in krassem Kontrast zu Kamelkarawanen und zoroastrischen Mönchen.«12 Der kaukasusreisende Schriftsteller Knut Hamsun brachte damals diesen multikulturellen Zusammenprall in der Feststellung auf den Punkt, »die Stadt [sei] so persisch, daß sie nicht europäisch ist, und so europäisch, daß sie nicht persisch ist.«13 Eine Einschätzung, die zwar auch auf das Baku und die Bakuwiner der Gegenwart zutrifft. Allerdings nur mehr in Bezug auf die kulturellen Bezugnahmen einer inzwischen fast ausschließlich aserbaidschanischen Stadtbevölkerung. Denn während noch in der Sowjetzeit diese Multikulturalität zu einer »internationalistischen« Stadtidentität, dem Milieu der »Bakintsi«, verbunden wurde, hat das gegenwärtige Baku seine multikulturelle Urbanität nicht nur faktisch eingebüßt – in den Wirren der Unabhängigkeit und in den Kriegswirren um Berg-Karabach, als der Hauptteil seiner urbanen Bewohner, die Armenier, Juden und Russen Baku abhandenkam –, es versucht sie auch ideologisch abzuschütteln. Selbst ihre »Dubaization« wird nämlich nationalistisch instrumentalisiert, die mit den Architektur-Landmarks suggerierte internationale Anbindung geschieht immer im Namen der aserbaidschanischen Nation. Bakus Gegenwartsarchitektur befindet sich natürlich überhaupt zwangsläufig in einer ungesunden Nähe zum repressiven Regime des Ilham Aliyev. Ihr Schicksal, in das sie einwilligt, ist, mit funkelnden Architekturbildern einen autoritär regierenden Präsidenten am nationalen Image feilen zu lassen. Der Kunst der Verschlagenheit, die Armut hinter einer Fassade des Reichtums zu überpudern, bildgewaltig zuzuarbeiten, um die Wirklichkeit dieses Unterdrückungsstaats und seine Schiebergeschäfte aus den Augen zu verlieren. Sie ist antidemokratisch, antiliberal funktionalisiert für die heile Welt des Regimes, soll eine Vision von globalem Prestige verfestigen – »ohne lästige Kritik und 10 11 12 13
Holm, Kerstin: »Stadt auf großer Flamme«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.5.2011 LeVine, Steve: The Oil and the Glory. The Pursuit of Empire and Fortune on the Caspian Sea, New York: Random House 2007, S. 28 Reiss: 2008, S. 14 Hamsun, Knut: Im Märchenland. Erlebtes und Geträumtes aus Kaukasien, Berlin: Rütten & Loening 1990, S. 205
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unappetitliche Details über Verstöße gegen die Menschenrechte«14 , die Missstände im Land: die Korruptheit der kleinen reichen Oberschicht, die den Ölreichtum einstreift, die Verhärtungen des autoritären Herrschaftssystems, die Inhaftierungen von widerständigen Bürgern, unabhängigen Stimmen und kritischen Aktivisten, die zu Dutzenden Aserbaidschans Gefängnisse auffüllen. Denn »[s]o gut es einigen wenigen geht, so elend ist vielen anderen zumute, die im Leben nach mehr und anderem streben als nach Öl und Geld.«15 Aber auch wenn klagetrunkene Zeitungsartikel im Westen Bakus internationale Auftritte in PR-Desaster verwandeln, schafft Aliyevs Glitzerstadt dessen ungeachtet eine Bildmächtigkeit, die kritische Berichterstattung zunächst einmal in Relativsätze verwandelt – relativ zur ästhetischen Faszination Baku. Da Präsident Aliyev in diesem schimpflichen Schauspiel natürlich die zugkräftigste aller Karten ausspielt: die der finanziellen Mittel; dass es sich das autoritäre Regime »leisten kann, Attraktivität zu kaufen. […] [P]raktisch hilft es doch sehr, wenn eine Stadt, die blenden will, auch blendend aussieht.«16 Die avantgardistischen Fassadenschwünge des Heydar Aliyev Center der Zaha Hadid sind dafür ein Fanal. Nicht wenigen erscheint der Bau als ein Skalptanz der architektonischen Integrität. Aber nicht nur Bakus gegenwärtige Baukunst schafft Repräsentations- und Authentifizierungsmuster, die sich zwar in flagrante Widersprüche verstricken, in Inauthentizitäten der Symbolisierung, der Materialität und des Traditionsbezugs, aber die Kraft ihrer architektonischen Ausdrucksstärke diese Attribute zu überspielen wissen, beziehungsweise in ihnen diese Attribute gar als Attraktion einer spektakulären Widersprüchlichkeit zur Wirkung gelangen, indem sie die Authentizitäts- und Plausibilitätsansprüche in ihren eigenen Bildern verglühen lassen. Daher drängt sich die Kategorie des Inauthentischen als begriffliches Scharnier einer architekturkritischen Interpretation der Wirksamkeiten und Wahrheiten Bakus auf. Einfach, weil ihre Architekturen in der Glut ihres fantastischen Gefühls aufreizend inauthentisch sind – und das ist nicht als Verdammungsurteil verstanden. Ihre Inauthentizitäten nimmt man als ungleichen, wirren Faden auf, der einen durch die Straßen führt. Auch wenn die architekturästhetische Kategorie des Inauthentischen natürlich unzulänglich ist, um die reiche Sprache dieser Stadt umfänglich zu entziffern. Speziell Bakus flamboyante Gründerzeitbauten umhaucht ein Flair der Inauthentizität, sie prägt eine die Sinne weit machende Artifizialität. Zwar sind sie unbestreitbar authentisch als Manifestationen einer (architektur)geschichtlichen Ära. Sie repräsentieren gleichermaßen die allgemeinen Bedingungen der Baukunst des 19. Jahrhunderts, die kulturelle Erfahrung eines Traditionsbruchs, wie auch Bakus singuläre Stadtgeschichte als exzessiv ihren Reichtum zelebrierende Weltmetropole des Petroleums, die
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Grimm, Oliver/Raabe, Julia: »Aserbaidschan: Kaviardiplomatie und Daumenschrauben«, in: Die Presse, 10.6.2015 Gross, Andreas: »Am Schnittpunkt verschiedener Welten – Aserbaidschan zwischen Ölreichtum und Demokratiearmut«, in: Jurriaan Cooiman (Hg.), Culturescapes Aserbaidschan. Kultur, Geschichte und Politik zwischen Kaukasus und Kaspischem Meer, Basel: Christoph Merian 2009, S. 63 Niggemeier, Stefan: »Baku – blendend«, in: Der Spiegel, 22/2012
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Delirien ihres Ölbooms. Ihr prunkendes Gebärdenspiel zeigt fragilisierte Stilzuweisungen in einem Zeitalter verwischter Standesunterschiede, die »viele[n] Gesichter« der historistischen Architektur, die »dem Zugriff des legitimistischen Selbstverständnisses ebenso ausgesetzt [war] wie dem Repräsentationsbedürfnis und Imponiergehabe der bürgerlichen Aufsteiger; […] der bürgerlichen Umwälzung ebenso wie der restaurativen Vergangenheitsnostalgie.«17 Bakus Historismus überträgt die manifest tyrannische Situation eines ungezügelten Industriekapitalismus, den Parvenügeschmack seiner Blitzaufsteiger, der Ölbarone, und die schicksalsschwangere Stimmung des Fin de Siécle, das ahnte, sich zu versündigen, in eine blühende Kunst. Diese ist allerdings in ihren Willensbetätigungen immer immanent inauthentisch. Nicht nur, weil Bakus Historismus importiert ist und Pariser Stadtansichten nachahmt. Sondern weil der Historismus, diese abenteuerliche Liebschaft unterschiedlicher Stile, in seinen wesentlichsten Eigenheiten grundsätzlich inauthentisch ist. Mitunter in Baku fast unwirklich, wie Lichterscheinungen in kranken Augen. Gleiches gilt für den orientalistischen Neohistorismus der Sowjetzeit, der die Integration der muslimischen Aserbaidschaner über das geschichtliche und religiöse Empfinden eines architektonischen Traditionsbezugs zu stimulieren versuchte und dabei nicht nur in der Materialität und Typologie inauthentisch blieb, sondern ebenso im ideologischen Widerstreit mit den bolschewistischen Heilsversprechungen. Und auch das gegenwärtige, dubaistische Baku ringt mit dieser Zwiespältigkeit, einem nationalistischen Ruhmeshymnus, den eine internationale Architekturikonologie nicht immer schlüssig bebildert. »The overall scene invoked the image of Marseille merged with Jersey City – nineteenthcentury architecture with an oil refinery in the center.« 18 Die unruhige Stadtgeschichte Bakus spielt auf unruhigem Grund. Wobei die geologische Unruhe die historische mitbedingte. Denn erste wie letzte beruht auf Erdöl, das auf Abscheron aus den Steppenfeldern trieft. Pathetischer bei Essad Bey: »Die Wüsten am Ufer […] zittern und beben. Wie ein zu Tode verwundetes Tier zuckt die ausgetrocknete Erde. […] Dunkler, übelriechender Schlamm entquillt […]. Beginnt das Erdinnere zu beben, dann birst auch die harte Kruste der Oberfläche. Dann ergießt sich über die Erde klebrig und dunkel und fettig eine Flüssigkeit.«19 Bereits seit vielen Jahrhunderten dienten die leicht entzündlichen Ölfontänen auf der Halbinsel Abscheron nicht nur als religiöses Heiligtum feuergläubiger ZarathustraAnhänger, die die züngelnden Flammen zu leuchtenden Altären ihrer Feuertempel erhoben. Das kleine Khanat Baku, ein Vasallenstaat des Persischen Reichs, förderte Erdöl über handgegrabene Schächte, füllte es in Schläuche aus Schafsfell und exportierte es mit Kamelkarawanen nach Persien. Bis sich das zaristische Russland über den Kaukasus ausbreitete. Das Khanat wurde 1806 annektiert.20 Weiter Interesse zeigten die 17 18 19 20
Dolgner: 1993, S. 9 US-Diplomat Robert Finn; in: LeVine: 2007, S. 145 Bey: 1933, S. 12 Im Jahr davor war bereits der russische General Fürst Zizianow vor den Toren des alten Palastes gestanden, um die Kapitulation des letzten Khans Hassan Kuli zu verhandeln. Als Zizianov dann
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Russen allerdings zunächst nicht. Weder am Öl, noch an der kleinen Gouvernementshauptstadt Baku, die für sie »entlegenste, häßlichste und überflüssigste Stadt im ganzen Zarenreiche. Die Ernennung zum Kommandeur dieses Nestes war nichts weiter als eine kaum maskierte Verbannung.«21 Erst langsam, mit Beginn der industriellen Entwicklung fand in Russland die Betrachtung Eingang, die Ölfontänen seien mehr als nur ein merkwürdiges Naturwunder, das Öl mehr als nur eine unnütze, stinkende Tunke. Die industrielle Petroleumherstellung beginnt bereits früher, doch erst mit einer 1872 erfolgten Verteilung privatwirtschaftlicher Konzessionen setzte ein Ölboom ein, eine neue Zeitrechnung. Innerhalb einiger weniger Jahrzehnte wurde aus der kleinen islamischen Medina eine prosperierende Metropole – westlich orientiert, polyglott, multiethnisch. Ein gewaltiges Städtewachstum ließ Baku, dass 1872 gerade mal 15.000 Menschen innerhalb der mittelalterlichen Altstadtmauern zählte, und das immer eine kleine »Stadt des Transithandels [geblieben war], die mehr Durchreisende hatte als Einwohner«22 , bis zur Jahrhundertwende auf 125.000, bis 1915 dann bereits auf 250.000 Einwohner anwachsen. Die Altstadt İçəri Şəhər umkranzte bald eine westlich anmutende Stadt des 19. Jahrhunderts, die orientalische eine okzidentale Kultur. »In fact, the fortress wall provided a sort of geographical, cultural, and architectural cleavage between Asia and Europe within Baku. While inside the wall Baku was still a dormant Oriental fort, outside the wall it was a bustling town often compared to American cities in its scale and pace of growth.«23 Der Schriftsteller Essad Bey, der eigentlich Lev Nussimbaum hieß, als Sohn eines reichen russisch-jüdischen Ölkommissionärs in Baku aufwuchs, und den sein Talent damit belud, diese, seine kulturelle Zerrissenheit bis zur Erfindung einer Fantasieidentität als islamischer Kaukasusfürst zu treiben, beschrieb diese innerstädtische Scheidelinie aus der Sicht eines feindseligen Eindringens der Außenwelt. Als Verlusterfahrung heimatlicher islamischer Überlieferung im schändlichen Gewühl der »Ungläubigen«. Zwar lässt Bey in seinem Roman Ali und Nino, der Liebesgeschichte zwischen einem Muslim und einer Christin, eine Figur schwülstig fabulieren, »[a]uf dem Amboß von Baku […] [werde] die Rasse des befriedeten Kaukasus geschmiedet«24 , was er an der leichenübersäten Geschichte Bakus jedoch eigentlich vermittelt, ist keine positive Verschmelzung von Ost und West, sondern die Gewaltförmigkeit der Transformation der feudal-islamischen Gesellschaftsstrukturen unter der hereinbrechenden Moderne sowie ihrer Verheißungen des Fortschritts. Die Fatalität der kulturellen Unvereinbarkeiten. Verursacht weniger durch die russischen Besatzer, als durch das ohne Mühe
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allerdings dessen Audienzzimmer betrat, »lächelte ihn Hassan Kuli liebenswürdig an, erhob sich von seinem Platz, schritt dem Fürsten entgegen, zog plötzlich seinen Degen aus der Scheide und trennte dem frechen General mit einem wuchtigen Hieb den Kopf vom Rumpf ab. Den Kopf ließ der Chan einsalzen und schickte ihn mit der nächsten Ölkarawane an den Hof seines Souveräns, des Kaisers von Persien.«; ebd., S. 21 Ebd., S. 22 Agajew: 1987, S. 6 Akhundov, Fuad: »Europe Outside the Fortress Walls«, in: Nicolas V. Iljine (Hg.), Memories of Baku, Seattle: Marquand 2013, S. 21 Said: 1992, S. 104
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erworbene Ölgeld, das auf die Stadt stürzte, sich in ihrer Architektur verfing und die islamischen Traditionen hintertrieb. »Eigentlich waren es zwei Städte, die eine lag in der andern wie die Nuß in der Schale. Die Schale, das war die Außenstadt […]. Die Straßen waren dort breit, die Häuser hoch, die Menschen geldgierig und lärmend. Diese Außenstadt entstand aus dem Öl, das aus unserer Wüste kommt und Reichtum bringt. Dort waren Theater, Säulen, Krankenhäuser, Bibliotheken, Polizisten und schöne Frauen mit nackten Schultern. […] In der Außenstadt begann die geographische Grenze Europas.«25 In diesem Baku der Außenstadt vermischten sich eine gründerzeitliche Aufbruchstimmung mit der Dekadenz des Fin de Siécle. Man huldigte nicht nur architektonisch westlichen Ausschweifungen, im Casino des Baku Club, der späteren Staatlichen Philharmonie, verspielten die Ölindustriellen bei russischem Wodka und französischem Cognac beim Kartenspiel gewaltige Summen. Man wartete mit allem auf, was Allah verbietet.26 Und auch die Vergänglichkeitsbewusstheit des Fin de Siécle, sein tragisches Kulturgefühl, war diesem Baku nicht unbekannt, denn in der Stadt schwelten religiöse und ethnische Differenzen, brodelten politische Revoltbewegungen. Das Leben war erfüllt »von Streiks, Pogromen, Gemetzel und anderen Kundgebungen menschlichen Geistes, der besonders bei sozialen Umwälzungen erfinderisch ist. In Baku brachte sich der größte Teil der Bevölkerung […] [gegenseitig] um. […] So kamen alle auf ihre Kosten, außer jenen zahlreichen Opfern, die dabei unglücklicherweise ihr Leben lassen mußten.«27 Aus Baku wurde eine Industriestadt mit drastischen Klassenantagonismus. Ihre Herrscherklasse, die Ölbarone, praktizierten einen ungebändigten Räuberkapitalismus gepaart mit orientalischem Feudalismus. »Östliche und westliche Betrugsmethoden wurden zu einer raffinierten kommerziellen Taktik verbunden. Man scheute vor nichts zurück; man brauchte sich auch vor nichts und niemandem zu scheuen; man war ja [noch immer] im Orient, wo Recht und Unrecht seit jeher dehnbare Begriffe sind«28 , wie Essad Bey lakonisch die Geschäftsmentalität der Magnaten schildert. Es hätte, so Bey,
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Ebd., S. 17; Bey begreift die »geographische Fragwürdigkeit der Stadt Baku« kulturalistisch, als »Frage des Bluts«, er lässt aber immerhin einen (russischen) Lehrer die Europäisierung als Folge gesellschaftlichen Fortschritts deuten: »Während manche Gelehrte das Gebiet südlich des kaukasischen Bergmassivs als zu Asien gehörig betrachten, glauben andere, auch dieses Land als Teil Europas ansehen zu müssen. Zumal im Hinblick auf die kulturelle Entwicklung. Es hängt also gewissermaßen von eurem Verhalten ab, meine Kinder, ob unsere Stadt zum fortschrittlichen Europa oder zum rückständigen Asien gehören soll.«; ebd., S. 5 Die Schriftstellerin Banine fasste diese Entwicklung ihrer Heimatstadt prägnant: »Der Islam war nicht mehr echt, und damit war ihm der Kern seines Wesens genommen. Da er vom modernen Leben überschwemmt wurde, gab er der Seele nicht mehr den Frieden, sondern war nur noch Zwang, den man ohne Gewissensbisse abschüttelte. Glücksspiele waren vom Koran verboten, ganz Baku spielte Karten, und dabei wurden ungeheure Summen durcheinandergewirbelt. Der Wein, der vom Propheten verdammt war, wurde durch starken alkoholischen Verschleiß an Wodka und Kognak ersetzt […]. Verflucht war auch die Wiedergabe des menschlichen Antlitzes, aber die Photographen waren von Kunden überlaufen.«; Banine, Kaukasische Tage, Berlin: Wedding 1949, S. 78 Ebd., S. 5-6 Bey: 1930, S. 34
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»[u]nter den zweihundertachtzehn Ölbesitzern […] höchstens zehn [gegeben], die man zu betrügen sich scheute, weil sie mächtig genug waren, den Betrug mit dem Tod zu bestrafen, die es selbst aber nicht nötig hatten, jemanden zu betrügen. […] Nach europäischen Anschauungen war die Mehrzahl der Ölfürsten reif für das Zuchthaus. Aber das sind Zustände, die überall in der Welt da herrschen, wo eine kurze Anstrengung zu schnellem Reichtum gelangen läßt. […] [Überall] herrschten […] dieselbe Brutalität, Betrug und List, mit denen ein Häuflein Abenteurer ihren eben errafften Reichtum zu schützen wußte.«29 Die größten Ölbarone Bakus stellte die schwedische Industriellendynastie Nobel, die als Waffenlieferanten des zaristischen Russlands im Krimkrieg zu Reichtum gelangt war. Eigentlich auf der Suche nach Walnussholz für Gewehrschäfte, registrierten Ludvig und Robert Nobel, die beiden Brüder Alfred Nobels, dem Erfinder des Dynamits, die einsetzende Ölförderung im Südkaukasus und gründeten 1873 ihr Ölunternehmen Branobel. Mit diesem stiegen sie, und in der nächsten Generation Ludvigs Sohn Emanuel, zu den reichsten Industriellen ihrer Zeit auf, indem sie entscheidende technische Entwicklungen in der Raffinierung sowie der Beförderung in Pipelines und Tankerschiffen einleiteten.30 Internationale Abnehmermärkte ließen sich erschließen, indem zunächst eine kaukasische Eisenbahn für den Öltransport zum Schwarzmeerhafen Batumi, die der in Paris ansässige Familienzweig der Bankiersdynastie Rothschild finanzierte, errichtet wurde. Später, ab 1906, durch eine erste Pipeline nach Batumi.31 1901 kam die Hälfte der weltweiten Ölproduktion aus der »Stadt der Winde«. Baku avancierte zum Nabel der Welt. Ausländisches Kapital, neben den Nobels und Rothschilds speziell die Royal Dutch Shell und der armenische Magnat Alexander Mantashev, kontrollierte die Ölförderung.32 Auf Bakus gründerzeitliche Stadtentwicklung nahmen allerdings die wenigen aserbaidschanischen Ölbarone stärker Einfluss, da sie als Bauherrn und Philanthropen in der Stadt wirkten. Die schillerndsten einheimischen Tycoons hießen Zeynalabdin Taghiyev, Agha Musa Naghiyev, Murtuza Mukhtarov, Shamsi Asadullayev und Nuri Amiraslanov. Ihre Stadtpalais und Latifundien übertrumpften
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Ebd., S. 34-35 Robert Nobel betrieb den Einstieg in die Ölindustrie, ebenso eine chemische Verbesserung in der Raffinierung, die wichtigsten Entwicklungsleistungen sind allerdings Ludvig Nobel zuzuschreiben. Mit diesen ist der Erfinder des ersten Öltankers auch über John D. Rockefeller einzuordnen: »While Rockefeller mostly bought, rented, or adapted existing technology to build Standard Oil, Ludvig designed, built, and, through his Company, operated every pipeline, ship, and barge in the Nobel empire himself Rockefeller depended on others; Ludvig Nobel relied on no one – because he had no one on whom to rely.«; LeVine: 2007, S. 26 Die Nobels und Rothschilds erkannten wir vor ihnen John D. Rockefeller und seine Standard Oil, dass nicht der Besitz der Ölquellen und Fördertürme entscheidend ist, sondern der Besitz der Rohrleitungen, Eisenbahnen und Öltanker. Diese diktieren den Preis des Öls: »Die Frage des Transportes […] ist die schwierigste, wichtigste und gefährlichste Frage der Ölindustrie. Es ist wirklich kein Zufall, daß der erste Ölkaiser der Welt, der alte John D. Rockefeller, nicht der Herr über die Bohrtürme, sondern der unumschränkte Beherrscher aller Transportmittel war.«; Bey: 1933, S. 131 Die Royal Dutch Shell von Henry Deterding übernahm 1911 sämtliche Unternehmungen der Rothschilds, die »sich in den verwirrten und unübersichtlichen kaukasischen Verhältnissen nicht zurechtfinden« (ebd., S. 162) konnten.
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die vergleichsweise nüchterne Villa Petrolea der Nobel-Familie bei weitem. Sie stifteten Moscheen, Bildungseinrichtungen und Theater. Sie bauten repräsentative Paläste und legten breite Allen an: »Ein regelrechter Bauwettstreit brach los. Noch heute stehen maurische Paläste neben neugotischen Herrenhäusern und byzantinische Kuppeln neben mit Edelsteinen besetzten Rokokopavillons. Die Einheimischen gaben sich als kultivierte Europäer und ›moderne Muslime‹«33 . Bakus Multimillionäre, die fast alle aus ärmsten Verhältnissen stammten, als Eselstreiber, Karawanenplünderer oder Schmuggler angefangen hatten, und wie Zeynalabdin Taghiyev Zeit ihres Lebens Analphabeten blieben, zeigten ihren Reichtum stolz in der Öffentlichkeit, sie prahlten mit ihrem Luxus, tändelten mit der Kunst.34 Die Ölbarone schufen sich eine gefallsüchtige, flamboyante Stadt aus Prunk und Dekadenz. In fiebriger Aufbruchstimmung packten sie auf der Suche nach prahlerischer, gravitätischer Würde alles, was zu kriegen war – wirtschaftlich wie kulturell. Wie Knut Hamsun an der »seltsamen Kleidung« der Bakuwiner schildert: »wir sahen Damen in Kleidern aus handgestickter Seide, aber oft behängt mit greulichem Berliner Flitterkram. Herren in persischen rohseidenen Gewändern prunkten mit bunten deutschen Kattunschlipsen. Im Hotel lagen kostbare persische Teppiche […], aber Sofas und Stühle selbst waren sogenanntes Wiener Fabrikat, ebenso der Toilettenspiegel mit Marmorplatte. Und der Wirt hatte eine goldene Brille auf der Nase …«35 Ein erfinderischer Beaux Arts-Historismus mit Pariser Einfluss und fleißig studierter Jugendstil gewandeten dieses blasenschlagende Sieden ästhetisch. In den Händen gewandter Architekten wie Gavril Ter-Mikelov oder Józef Plośko, denen mit stilistischer Verfügungsfreiheit glückte, nicht das Gemeine, sondern das Edelste der imitierten Stile zu ergreifen, entwickelten sich festliche Steigerungen historistischer Kunst. Ein von unterirdischen Melodien durchdrungener, exotischer und exotikbegeisterter Eklektizismus, der jedoch bei allem Kunstraffinement immer auch die Ungenügsamkeit und Unkultiviertheit der mit ihrem vielen Geld klimpernden Ölbarone transportierte, »die barbarische Lebenshaltung, die Unfähigkeit, etwas mit ihrem Geld anzufangen, und […] die vollkommene Degeneration der unter dem goldenen Druck aufgewachsenen zweiten Generation.«36 Der Untergang des russischen Zarenreichs riss sie dann alle mit sich. Denn das in der Hausse in den Jahren vor und nach 1900 rasant wachsende Baku wurde nicht nur zum Anziehungspunkt für reiche Kapitalisten, es wurde zum Anziehungspunkt für alle – alle Nationalitäten und Klassen. Die Industrie brauchte Ingenieure und Arbeiter. 33 34
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Reiss: 2008, S. XII-XIII Die Versteigerungen von 1872 verteilten die Ölfelder zwar zunächst auf die lokale Oberschicht reicher Händler und zaristischer Günstlinge, der Ölboom schuf aber dann viele Aufsteigerbiografien: »Ordinary people began digging in their yards, and some discovered that they, too, were wealthy. […] It seemed that everyone had become a refiner, too. People converted their homes into distilleries, and Baku became a fog of black smoke.«; LeVine: 2007, S. 10-11 Hamsun: 1990, S. 205 Bey: 1930, S. 35; Denn auch dieses Dekadenzphänomen gesellschaftlicher arrivistes grassierte in Bakus Magnaten-Dynastien, das der verdorbenen Söhne: die »[a]nalphabetische[n] schwerreiche[n] Väter, im Grunde genommen gutmütige Barbaren, hatten Söhne, die schon in der Wiege lebensmüde waren […] und Dinge auszuführen versuchten, die möglichst irgendein Verbot übertraten.«; Ebd., S. 35
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Glücksritter, Gangster, Schmuggler versuchten Fuß zu fassen: »Neben ernsten Unternehmern gab es Diebe, entlaufene Sträflinge, Banditen und Schwindler. Die alte schläfrige Stadt bekam ein neues Gesicht. Armenier, Mohammedaner, Russen, Polen, Juden und Schweden, ehrbare Kaufherren und gerissene Schieber bildeten eine neue Kaste, die sich gierig auf den neuen Reichtum stürzte.«37 Nichts von diesem Reichtum sahen freilich die vielen Tausendschaften geschundener Industriearbeiter aus allen Teilen des Kaukasus, die in Armut und im Schmutz der Bohrtürme und Raffinerien dahinsiechten, die die Luft verdunkelten, die Straßen mit Staub eindeckten. Aserbaidschaner, Osseten, Daghestaner, Perser und Russen schufteten und starben auf den Ölfeldern, und letztere sollten schließlich jene politische Revolution herbeiführen, die das Baku des Fin de Siécle niederrang. Da sich die russischstämmigen Arbeiter, wie Essad Bey schrieb, »als Halbeuropäer […] nie an die orientalischen Verhältnisse gewöhnen konnten, die einheimischen Arbeiter verachteten, das doppelte Gehalt für die halbe Arbeit verlangten und ständig mit Streik drohten.«38 Die reichen Industriellen und Bankiers, die sich nur in Begleitung bewaffneter Leibwächter, den Ölgarden der »Kotschis«, auf die Straßen wagten, wandelten daher auf einer dünnen Kruste. Spätestens seit 1905, dem Jahr der ersten, schließlich niedergeschlagenen russischen Revolution, lag Unheil in der Luft. Wie überall im Zarenreich kam es 1905 auch in Baku zu Aufständen und Plünderungen. Die Öltürme brannten ab, was die ganze Industrie Jahre zurückwarf, und an der armenischen Minderheit wurde ein blutiges Massaker mit über 2000 Toten verübt.39 Baku fühlte sich mit Jahr zu Jahr unbehaglicher: »Räuber, Verbrecher und Diebe stellten Forderungen, Mord und Plünderung, die bis dahin ein Vorrecht weniger waren, wurden nun allgemein üblich. Völker begannen einander zu hassen, ein barbarischer Nationalismus schoß überall üppig auf«40 . Es gärte gleichermaßen unter den Nationalitäten wie unter den Klassen. Ethni37 38
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Bey: 1933, S. 172 Bey: 1930, S. 19; Bey betont die Nationalitätsunterschiede auf den Ölfeldern: »Der Russe war lebenslänglich nur ein Arbeiter, der die Öltürme und ihre Besitzer aufs erbittertste haßte und, wo es nur ging, bekämpfte. Der Orientale dagegen, der direkt vom Land stammte, fühlte sich auf den Ölfeldern als ein Mann in gehobener Stellung. Die Arbeit […] bedeutete für ihn die erste Fühlungnahme mit der europäischen Zivilisation«; ebd., S. 18-19 »In fünf langen Tagen töteten die Aseri-Banden jeden Armenier, den sie finden konnten, mit jenem rasenden Hass, der sich auf religiöse Spannung, wirtschaftliche Eifersucht und nachbarschaftliche Nähe gründet. Während überall im Russischen Reich antisemitische Pogrome ausbrachen, kam es in Baku zu einer Orgie der ethnischen Morde, Brandstiftungen, Vergewaltigungen, Schießereien und Messerstechereien. Der Gouverneur […] und sein Polizeichef griffen nicht ein. Kosaken lieferten orthodoxe Armenier zur Ermordung an Aseri-Mobs aus«; Montefiore: 2007, S. 188 Ebd., S. 58; Banine veranschaulichte in ihren Kindheitserinnerungen diesen Rassenhass in der Schilderung des Kinderspiels »armenisches Massenmorden« – »ein Spiel, das wir allen anderen vorzogen. Von Rasseleidenschaft berauscht, opferten wir Tamara [eine Spielgefährtin mit armenischer Mutter] auf dem Altar unserer Ahnen. Wir klagten sie eigenhändigen Mordes an Tataren an und […] fesselten sie, stießen sie auf die Erde, schnitten ihr einzeln die Glieder, Zunge und Kopf ab, rissen ihr Herz und Eingeweide aus und warfen es den Hunden zu, um dadurch unsere Verachtung vor dem armenischen Fleisch zu bezeugen.« (Banine: 1949, S. 61-62). Ein wesentlicher Aspekt dieses ethnischen Konflikts war dabei wiederum der Klassenantagonismus. Denn: »The Armenians were, to a large degree, members of the wealthy establishment of industrialists, merchants, and managers and of the local leadership of Lenins Bolshevik revolutionaries. The native Azeris, often
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sche Spannungen zwischen den muslimischen Aserbaidschanern, Russen und Armeniern entluden sich in der multinationalen Stadt. Archaische Stammesfehden unter den Sippen flammten immer wieder auf. Gleichzeitig entfachten Arbeiteraufstände und der revolutionäre Terror radikaler Linksgruppierungen.41 Die Industriearbeiter, die von den Milizen der Ölbarone daran gehindert wurden, die Stadt nur zu betreten, ließen sich in ihrer bitteren Daseinserfahrung in den schmutzigen Slums vom Bolschewismus aufwiegeln – von Trommlern der Revolution wie dem jungen Josef Stalin, der hier, in der gewalttätigsten Stadt Russlands, als Agitator zündelte, in den »undurchschaubarsten Jahre seiner gesamten Karriere«42 die Partitur seiner späteren Tyrannei einübte, indem er zur Geldbeschaffung mit Gangstersyndikaten und bestechlichen Polizisten gemeinsame Sache machte, in Banditenmanier Banken überfiel, Sabotage verübte, Schutzgeld erpresste und Ölbarone kidnappte. In Folge der Oktoberrevolution bildete sich 1917 ein kurzlebiger lokaler Sowjet der Arbeiterdeputierten, die »Kommune von Baku«, unter Beteiligung von Sozialrevolutionären, armenisch-nationalistischen Daschnaken und Bolschewiki. Diese leitete eine Verstaatlichung der Erdölwirtschaft ein, hatte 1918 aber auch die »März-Ereignisse«, einen durch armenische Freischärler betriebenen bestialischen Massenmord an der muslimischen Bevölkerung, mitzuverantworten, bei denen die Daschnaken mehr als 15.000 Aserbaidschaner massakrierten, sich die Leichenberge in den Straßen stapelten.43 Im Angesicht heranrückender Osmanischer Streitkräfte zerfiel die »Kommune von Baku« jedoch noch im selben Jahr und die Stadt wurde nach dem Intermezzo der »Zentralkaspischen Diktatur«, einem durch ein britisches Expeditionskorps gestützten Konstrukt verbliebener nichtbolschewistischer Kommunarden, vom osmanischen Heer eingenommen. Wobei die eingegliederten aserbaidschanischen Truppenverbände gegenüber der Armeeleitung erwirkten, »nach orientalischer Sitte« die Stadt als Rache über das März-Blutbad plündern zu dürfen und sich mit dem nicht minder grausamen »Armenierpogrom« revanchierten.
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far less educated, filled many of the jobs in the oil fields, railroad yards, and factories.«; LeVine: 2007, S. 30 Baku wurde ein Sammelbecken für Sozialrevolutionäre, Bolschewiki, Menschewiki: »Über Baku fielen sie alle her, alle nur erdenklichen Schläger, Eiferer, Banditen und Terroristen, denn diese Stadt, der Vorposten des Kapitalismus, zog sie alle an. Die Linken […] raubten Banken und Geldinstitute aus, um ihre neue Bewegung zu finanzieren. Und die Rechten, die Kosaken, attackierten, um die Aufstände niederzuwerfen.«; Reiss: 2008, S. 16 Montefiore: 2007, S. 261; »Zwischen den Ölfeldern und der Stadt lagen verstreut einige kleine Siedlungen, in denen Diebe, Leprakranke, Vagabunden und andere schwer definierbare Leute hausten. […] [K]einer ahnte, daß dort zwischen den feuchten, klebrigen Ruinen unbekannte verdächtige Leute eine Druckerei angelegt hatten. Dort wurde jede Nacht eine Zeitung gedruckt […]. Die Zeitung hieß ›Der Arbeiter von Baku‹ und ihr Chefredakteur war ein Georgier, ein ehemaliger Priesterschüler […] aus Tiflis, der damals erst kürzlich aus dem sibirischen Zuchthaus entflohen war. Er hatte eine niedrige Stirn, eine Hakennase und kleine, böse Augen, die viel Mord und viel Blut gesehen haben.«; Bey: 1930, S. 23. In den Straßenschlachten der Märztage dividierten sich die Muslime und Christen endgültig auseinander – um von dem einen Stadtteil in den anderen »zu gelangen, […] [hatte] man [von nun an] entweder die Weltanschauung [zu] ändern oder eine Armee besiegen müssen«; Said: 1992, S. 174
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Mit dem Abzug der türkischen Truppen zum Ende des Ersten Weltkriegs durfte sich für dann für kurze Zeit eine Demokratische Republik entfalten. Aserbaidschan wurde zum ersten Mal unabhängig – in Gestalt der ersten funktionierenden säkularen Demokratie der islamischen Welt. Mit einem liberalen, mehrparteilichen Parlament, einem Kabinett aus gebildeten Bürgerlichen und einem allgemeinen Frauenwahlrecht: »Die alte Stadt schien in ein maskenballartiges Leben getaucht«44 . Diese Republik war allerdings nicht nur ein kurzer Sprung in die Freiheit, zugleich war sie ein letzter Restaurationsversuch der scheidenden bürgerlichen Ära. Ein Abschiedsgeleit für Bakus Industriellenklasse, die an diesem Staatsaufbau partizipierte. 1920 geriet das Land dann unter Sowjetherrschaft: »Dauerokkupationen unter wechselnden Fahnen – das schien das Schicksal der kleinen Republik zu sein«45 . Die Rote Armee marschierte in Aserbaidschan ein, um sich die Ölquellen hinsichtlich des gesamtrussischen Bedarfs zu sichern und errichtete eine sozialistische Teilrepublik. Die Sowjetisierung bedeutete einen Epochenwechsel: die Enteignung und Vertreibung der Ölbarone und die Zerschlagung des Bürgertums als gesellschaftliche Klasse, die Kollektivierung der Produktionsmittel und des Eigentums, sowie die Verschleppung und Ermordung echter oder vermeintlicher politischer Feinde. – Denn mögen Verbrechen der Preis der Revolution sein, so überstieg dieses Wüten jegliche »orientalische« Despotie zurückliegender Zeiten doch bei weitem; »der rote Umsturz [kostete] […] mehr Menschen das Leben […] als die beiden letzten Blutbäder zusammen«46 . Mit dem Triumph der kommunistischen Idee verfügte nun ein Revolutionskomitee und der Sowjet der Volkskommissare über die erdölgewinnenden und erdölchemischen Betriebe. Das Baku des Fin de Siécle gab es von nun an nur mehr als Architektur und im literarischen Schaffen der Exilanten. Bei dem mysteriösen literarischen Aufschneider Nussimbaum alias Essad Bey, der zum Islam konvertierte, als kaukasischer Krieger verkleidet durch die Emigrantenzirkeln Berlins stolzierte und zu einem auflagenstarken deutschsprachigen Autor aufstieg.47 Ein Exzentriker und Monarchist, der lieber vor der Moderne gelebt hätte, die feudale Ordnung des Orients glorifizierte und sich
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Ebd., S. 228 Teske: 2011 Bey: 1930, S. 217 »Während die meisten Juden in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg alles daran setzten, sich so gut wie irgend möglich zu assimilieren, tat Lev alles in seiner Macht Stehende, um sich als exotischer Außenseiter darzustellen und präsentierte sich mit Fez und in wallenden Roben in den Cafes Berlin und Wien. […] [S]ein wahres Genie lag darin, sich selbst eine proteische Identität zu schaffen« (Reiss: 2008, S. XXVI). Es folgten eine Jetset-Existenz, eine Ehe und eine Scheidung, viele Reisen, viele Adressen, ein unstetes Leben. 1942 starb Essad Bey mit nur 36 Jahren im süditalienischen Exil in Positano, von der Welt vergessen, morphiumsüchtig und bankrott. Nachdem er Nazideutschland, als »jüdischer Geschichtsschwindler« diffamiert, verlassen musste, paradoxerweise aber versuchte, sich im faschistischen Italien anzubiedern: »Dieser Nussimbaum Essad Bey Kurban Said war nicht sehr sympathisch. Seine Mythomanie, seine Gefallsucht verbunden mit der Lust zur Verschleierung sind abstoßend. […] Dennoch liegt etwas Faszinierendes in seinem Schicksal als radikal Staatenloser, in diesem irrwitzigen Paradox, Jude, Muslim und Mussolini-Anhänger zu sein, in der Kürze seines Lebenswegs, in diesem einsamen und grausamen Tod.«; Rolin: 2013, S. 79-80
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in eine arabische Welt träumte, deren Teil er außer während seiner Flucht mit einer Kamelkarawane durch die Wüsten Turkestans nie war. Und bei Banine, eine als Umm-El-Banine Asadullayev geborene Enkelin des Ölbarons Shamsi Asadullayev, einer dieser Bakuwiner Aufsteiger, der »als Bauer geboren wurde, und dank dem Petroleum, das auf seinen Feldern quoll, als Millionär starb«48 . In ihrer Biographie beschrieb sie die bis zu ihrer unfreiwilligen Verheiratung und der Flucht nach Paris hellen, glücklichen Jahre ihrer privilegierten Kindheit in »der besten, reichsten und angesehensten muselmanischen« Plutokratenfamilie, die sie allerdings als scheinheilige »Halbprimitive« blamiert. Da Banine ihr kindliches Urteil, »daß Baku eine prächtige Stadt, unsere Familie makellos und unser Leben beneidenswert war« bald durch die Unkultiviertheit ihrer Verwandten relativiert sah und »schließlich Baku trotz seiner Millionäre als ein schmutziges kleines Loch, unsere Familie als bedenklich barbarisch«49 einschätzte. Nun trieb der Sowjettrust die Ölproduktion weiter.50 Baku betankte Stalins Fünfjahrespläne, beschaffte Westdevisen und mitermöglichte mit seiner Treibstoffproduktion den militärischen Sieg im Zweiten Weltkrieg. Erst in den Nachkriegsjahrzehnten büßte die Stadt ihren Status als Zentrum der sowjetischen Ölproduktion zunehmend ein: »The grand old mansions decayed, and the city became a seedy backwater that stank of oil fumes and garbage.«51 Planwirtschaftliche Industrieansiedlungen, die einhergingen mit dem Bau infrastrukturell meist unterausgestatteter Chruschtschowka48 49
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Banine: 1949, S. 5 Ebd., S. 77; Banine beginnt ihre Schilderungen gleich mit dem Hinweis, sie stamme »nicht wie allerlei Leute vom Rang aus armem, aber gutem Hause, sondern bei mir war das Gegenteil der Fall. Unser Reichtum war so unermeßlich, daß man Anstoß daran nehmen könnte« (ebd., S. 5). Die kulturelle Zerrissenheit Bakus in Folge seiner Europäisierung veranschaulicht sie an zwei Antagonistinnen ihrer Familie. Einerseits der muslimischen Großmutter, die in den »Russen, den Kulturbringer, […] lediglich den Kolonisator [sah], den hundertjährigen Störenfried, den Menschen fremder Rasse, fremder Religion, kurz, den Ungläubigen, den sie mit einer Art Verachtung haßte. Da das Leben, wie sie es liebte, sich allmählich um sie veränderte […]. Ihre Töchter, die sie für ein Leben gleich dem ihren erzogen hatte, legten sofort nach ihrer Verheiratung den Schleier ab, kleideten sich europäisch und sprachen in einem erstaunlichen Kauderwelsch russisch-tatarisch.« (ebd., S. 19) Andererseits in ihrer weltläufigen Stiefmutter, die nach Jahren in Paris die Familie ihres Mannes verachtete, denn »[j]ung und an Freiheit gewöhnt, sah sie sich von verschleierten Frauen, scheelsüchtigen Schwägerinnen und wüsten Schwagern umgeben […] Was konnte ihr unter diesen unmöglichen Verhältnissen das Petroleum nützen, das sich in Edelsteine, Kleider, Pelze und anderen Luxus umsetzen ließ? […] [D]a ein solcher Besitz in diesem an sich geschmacklosen Milieu der reinste Hohn war? Sollte sie ihre Pariser Modeschöpfungen für die bärtigen Schwägerinnen anziehen und sich für die verdächtigen Schwäger schminken?«; ebd., S. 73 »The modern-day equivalents of the barons were the Communist Party functionaries whose control over the oil industry had made them moderately wealthy even by western Standards. They enriched themselves by pilfering oil and chemical products and selling their take on the side or pocketing the funds they budgeted for nonexistent work projects. […] The Soviets maintained a budget category for ›spillage‹, meaning oil lost to leaky pipes and other routine mishaps. But the size of the estimated loss was absurd – seven hundred thousand barrels a year, 10 percent of total production. That amount of oil would create pools around the city, even be ›visible from space‹«; LeVine: 2007, S. 146 Ebd., S. X; Nach 1945 verlagerte die UdSSR zunehmend die Prioritäten ihrer Mineralölwirtschaft. Die Investitionsverschiebungen begründeten sich durch neue Ölfunde in Kasachstan, im Ural und
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Mikrorayons, ließen Baku jedoch dennoch weiter stark wachsen. Mit dem Zensus von 1970 überschritt sie erstmals die Marke einer Millionenstadt. Der Zuzug russischstämmiger Arbeitskräfte transformierte die Stadtkultur und schuf in den poststalinistischen 1960ern ein multikulturell eingestelltes Milieu: die »Bakintsi«, wie sich die russische Bezeichnung für die Bakuwiner zu einer Stadtidentität verselbständigte, die ihre Urbanität und Internationalität herausstrich. Die Sowjetunion selbst idealisierte die multiethnische Stadtgesellschaft als »Internationalität«, wobei »[d]ieses ideologische Konstrukt […] nicht die kosmopolitische Mischung […] [bezweckte], sondern eine Vermengung der Kulturen«, aus der der »neue Sowjetmensch« hervorgehen sollte. Entsprechend gefördert wurde sie. Die Behörden betrieben »eine eindeutige Migrationspolitik: Facharbeiter aus anderen städtischen Zentren der Sowjetunion wurden ungelernten aserbaidschanischen Zuwanderern vom Lande vorgezogen, […] die Bildungs- und Kulturpolitik [wurde] darauf ausgerichtet, Baku in eine russischsprachige Stadt zu verwandeln.«52 Noch vor dem Ende der Sowjetunion ging dann die symbiotisch-multikulturelle Stadtkultur der »Bakintsi« im »Schwarzen Januar« 1990 blutig zugrunde, als anti-armenisch eingestellte Fraktionen der oppositionellen Volksfront, der nationalistischen aserbaidschanischen Befreiungsbewegung, ein neuntägiges Pogrom an der armenischen Minderheit mit 100 Toten verübten, ohne dass sich die in Baku stationierten Truppenverbände der Roten Armee dem Pöbel entgegengestellt hätten. Erst dann verhängte der Kreml den Ausnahmezustand, ließ Schützenpanzer die Barrikaden der Aufständischen durchschlagen, evakuierte die Armenier und »pazifizierte« unter Waffeneinsatz die Stadt gegen die Unabhängigkeitsbewegung, die sich dem bereits berstenden Sowjetreich entgegenstellte. Als die malade UdSSR ein Jahr später zusammenbrach, erlangte Aserbaidschan 1991 seine Unabhängigkeit. Das erste Jahrfünft der jungen Nation erwies sich allerdings als schwierig. Es stand im Zeichen staatlicher und wirtschaftlicher Instabilität mit markanten Failed-State-Symptomen: Regierungskrisen, inneren Unruhen und Putschversuchen, einem rauen Übergang zu Markt- und Privatwirtschaft mit Massenarbeitslosigkeit und Hyperinflation53 und der militärischen Niederlage im Krieg mit Armenien um die sezessionistische, weil hauptsächlich armenisch besiedelte Enklave Berg-Karabach. Zwischen 1992 und 1994 starben in dem Krisenherd über 45.000 Menschen, seither halten die armenischen Streitkräfte die labile Waffenstillstandslinie zu Aserbaidschan. Das
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in Sibirien sowie durch geopolitische Bedenken, denn durch den türkischen Nato-Beitritt 1952 war Baku in die Reichweite westlicher Mittelstreckenraketen geraten. Sayfutdinova, Leyla: »Baku und Aserbaidschan. Ein schwieriges Verhältnis«, in: Bauwelt, 36/2009 Wirtschaftlich hatte sich Aserbaidschan allerdings bereits in den letzten Jahrzehnten der Sowjetherrschaft in ein Armenhaus verwandelt: »By the end of the Soviet era, Baku produced less than 3 percent of the Soviet Union’s oil and its derricks looked like part of a museum exhibition from the time of the Nobel brothers. […] In the later Soviet years, the Azerbaijani oil industry was thrown into deep decline, and the country found itself left with an underdeveloped infrastructure, a low standard of living, and inefficient and ecologically harmful alternative industries. Underlying all of this was the widespread but relatively hidden high level of unemployment, which affected roughly one-fifth of the labor force.«; Swietochowski, Tadeusz: »Baku – The Oil City and its People«, in: Nicolas V. Iljine (Hg.), Memories of Baku, Seattle: Marquand 2013, S. 117-118
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Sezessionsgebilde Berg-Karabach ist zwar von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt, befindet sich aber in »de facto Selbstständigkeit«.54 Bakus Stadtleben erfuhr auch dadurch eine tiefgreifende Umwälzung. Nachdem der »Schwarze Januar« die armenisch stämmigen Bakuwiner zur Flucht gezwungen hatte und die russischstämmigen Facharbeiter mit der postsowjetischen Deindustrialisierung die Stadt verließen, in Summe mehr als eine halbe Million Einwohner Baku den Rücken kehrten, siedelten in gleicher Zahl Kriegsflüchtlinge aus Berg-Karabach und aus ländlichen Gebieten stammende Armutsimmigranten an, die auf eine ihnen meist unbekannte Urbanität stießen.55 Über die ethnische Entmischung hinaus ließen daher auch Desurbanisierungsphänomene die städtische Identität der »Bakintsi« zerfallen.56 Aus der Krise führte eine Renaissance der Erdölindustrie, die der 1994 unterzeichnete »Jahrhundertvertrag«57 einleitete: ein Produktionsbeteiligungsabkommen mit in54
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Beide Kriegsparteien stilisierten und stilisieren die »Karabach-Frage« im Namen einer nationalen Wiedergeburt, sie wurde »zum entscheidenden Katalysator der nationalen Identitätssuche und der organisatorischen Formierung einer Opposition sowie der Massenmobilisierung« (Auch, EvaMaria: »Zwischen Orient und Okzident – Aserbaidschan, Land des Feuers«, in: Jurriaan Cooiman (Hg.), Culturescapes Aserbaidschan. Kultur, Geschichte und Politik zwischen Kaukasus und Kaspischem Meer, Basel: Christoph Merian 2009, S. 17) gegen die UdSSR. Dies gilt für viele der hinsichtlich der territorialen Zugehörigkeit heiklen ethnischen Mischgebiete im Kaukasus. Präsident Aliyev spielt natürlich aufgrund der Gebietsverluste weiterhin auf der Nationalismusklaviatur. »Die ersten waren natürlich die Armenier, die fast alle aus Baku flohen. Ihnen folgten viele Juden und Russen, dann die Familien mit gemischten ethnischen Wurzeln – mit anderen Worten, der kulturelle Kern der Bakintsi verließ die Stadt. […] [A]uch das Ende der sowjetischen Planwirtschaft Anfang der neunziger Jahre war ein wichtiger Grund für die Stadtflucht.« (Sayfutdinova: 2009). Literarisch bei Verena Mermer: »bilder der leere gesellten sich zu den klagebildern: auf dem markt der leere standplatz, dessen Inhaber verschwunden war. […] die leeren felder im klassenbuch – was er mit abgängigen schulkindern machen solle, die nicht wiederkommen würden, wusste der lehrer schließlich auch nicht […], die leere fläche, wo einmal eine kirche gestanden war. ›andernorts sind es die moscheen, die nun fehlen‹, hat mein vater einmal gesagt […] … baku war weniger buntgeworden […]. dazu passend wurde schwarz zur modefarbe erklärt, als trüge die Stadt trauer, die grellbunten farben der 80er hätten verlogen gewirkt«; Mermer, Verena: Die Stimme über den Dächern, Salzburg: Residenz 2015, S. 24-25 Diese Hunderttausende Neubakuwiner »stehen der städtischen Kultur völlig fern und halten mehr oder weniger notgedrungen, aber fast störrisch an ihrer traditionellen, ländlichen Lebensweise fest. Wenn sie sich auf Dauer aus dem Kontext der Stadtgesellschaft Bakus ausschließen, sind die Flüchtlingsfamilien ein sozialpolitischer Sprengstoff für das ganze Land.« (Muratov, Alexei: »Baku: Eine Stadt und ihre Zeit«, in: Bauwelt, 36/2009). Die ethnische Entmischung Bakus führte daher zu den für ethnischen Vertreibungsprozesse typischen gesellschaftlichen Konsequenzen. Karl Schlögel: »Die Angehörigen der ›Herrenvölker‹ von einst waren außer Landes getrieben worden. Dadurch öffneten sich nicht nur Karrierewege nach oben, sondern es folgte auch eine Nivellierung und Primitivisierung der sozialen Struktur. Kurzum: Das entmischte Europa ist nicht nur weniger spannungsreich, sondern auch weniger komplex, weniger reich an Differenz und Struktur, ärmer in fast jeder Hinsicht.«; Schlögel: 2001, S. 284 Der »Jahrhundertvertrag« leitete die Offshore-Erschließung des Azeri-Chirag-Güneshli-Ölfelds und des Gasfelds Shah-Deniz durch ein von BP und SOCAR geführtes internationales Konsortium ein, dem Aserbaidschan sein nun immenses Wirtschaftswachstum verdankt. Die neu errichteten Pipeline-Arterien in den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan – die 2005 fertiggestellte BakuTiflis-Ceyhan-Ölpipeline (Transkaukasische Pipeline) und die 2006 eröffnete Baku-Tiflis-Erzurum-
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ternationalen Ölkonzernen über die noch ungehobenen Rohstoffressourcen im Kaspischen Meer: »The country has transformed itself from a failing state in the early 1990s to a rich and corrupt oil economy […] [spending] cash […] on infrastructure, weapons and ostentatious follies«58 . Die neuen Förderfelder und die damit generierten Einnahmen aus den Energiesektor entfachen in Baku seither eine Wirtschaftsblüte als eine Art »kaukasisches Dubai«. Mit der Petro-Ökonomie gibt es wieder viel leichtes Geld – und mit ihm Verstrickungen, Intrigen und Korruption. Seitdem »dreht Baku auf, wandelt sich sowohl vor als auch zurück zur Weltstadt, zur Metropole. Eine Stadt der unfertigen Hochhäuser – noch, die aber schon wie Giraffen neugierig über die Art-NouveauResidenzen der ersten Ölmillionäre hinausragen.«59 Öl und Selbstbewusstsein sprudeln nun wieder gleichermaßen. Alles läuft wieder nach altem Muster: »[d]as Öl macht[] die Stadt reich und einzelne Personen noch viel reicher.«60 Die Erdölressourcen werden wie seinerzeit von einer kleinen geschlossenen Elite kontrolliert, die Korruptheit des Regimes ist wie institutionalisiert: mit Schmuggel, Schmiergeld, Schattenwirtschaft. Der mafiöse Machtfilz der Präsidentenfamilie hat die staatliche Ölgesellschaft Socar fest im Griff, mischt an den Staatsbetrieben, Telefongesellschaften, Banken und in der Bauwirtschaft mit und verschiebt ihre Einkünfte in Briefkastenfirmen nach Panama. Installiert wurde die Vetternwirtschaft der First Family durch Heydar Aliyev, dem jahrzehntelang mächtigsten Drahtzieher der Aserbaidschanischen SSR, dem KGB-Chef, Ersten Sekretär ihres ZK und Mitglied des Politbüros der KPdSU, der mit der Unabhängigkeit unvermittelt zum Nationalisten umschwenkte und 1993 im Umwelt eines Staatsstreichs an die Macht kam. Bis 2003 regierte Aliyev Aserbaidschan mit harter Hand.61 Der korrupte Breschnew-Protegé, dessen Seilschaft die Aseri-Mafia und Schmugglerkartelle umfasste, betrachtete bereits zu Sowjetzeiten das Land als Privatbesitz und vermachte daher naheliegenderweise, im Sterben liegend, seinem Sohn das Präsidentenamt: »In a world where blatant nepotism is a disappearing skill, Heydar Aliyev […] is keeping old traditions alive«62 .
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Gaspipeline (Südkaukasus Pipeline) – sind für Westen energie- und geopolitisch gleichermaßen wichtig, da sie die westliche Abhängigkeit vom Erdgaslieferanten Russland mindern. Anonym, »Baku to the future«, in: The Economist, 21.5.2016; Teske: 2011 Akhundov, Fuad: »Die Ölbarone von Baku«, in: Bauwelt, 36/2009 Gorbatschow hatte Aliyev als Stellvertretenden Ministerpräsidenten geschasst, da sein Ruf als Mafia-Pate von Baku die Glaubwürdigkeit der Perestroika diskreditierte: »His years of close association with Azerbaijans oil, cotton, and caviar barons had tainted Aliyev irreparably; […] for Gorbachev’s supporters he exemplified the privilege, nepotism and corruption of the Brezhnev era« (LeVine: 2007, S. 178). Nach seiner Rückkehr bestimmten seine Präsidentschaft die »Zielkonflikte zwischen Stabilitätswahrung und Transformation«. Er festigte das Staatsgefüge und das Gewaltmonopol sowie eine »multivektorale« außenpolitische Balance zwischen Russland und dem Westen. Aliyev ließ die Mehrzahl der Staatsbetriebe privatisieren, insbesondere die Kolchosen und Sowchosen, deren Nutzflächen auf die Beschäftigten aufgeteilt wurden. Nur: »Mit dem Befund politischer Transformation sieht es anders aus: Da rangiert Regimekontinuität vor demokratischem Wandel, realer Gewaltenteilung und politischer Partizipation der Gesellschaft.«; Halbach, Uwe: »Ein europäischer Blick auf Aserbaidschans politische Entwicklung«, in: Jurriaan Cooiman (Hg.), Culturescapes Aserbaidschan. Kultur, Geschichte und Politik zwischen Kaukasus und Kaspischem Meer, Basel: Christoph Merian 2009, S. 55 Anonym, »Azerbaijan’s succession: Kim Jong-Ilham«, in: The Economist, 7.8.2003
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Die Aliyev-Diktatur kann ihre Macht dabei auf eine gleichermaßen apathische wie ungezügelte Kultur stützen, eine »zur Dualität von Willfährigkeit und Simulation erstarrte[] Selbstorganisation«63 der Gesellschaft, die sich aus der deduziblen Dynamik des Sowjetsystems ableitet. Aus der niederdrückenden Selbsterfahrung der Generationen, denen einerseits, gerade auch in den äußerlich beruhigten Zeiten, nichts anderes übrigblieb, als sich irgendwie mit der institutionalisierten Gewalt der Bürokratie zu arrangieren, ohne sich bis zur Erstarrung des ganzen Seins auf die Diktatur einzulassen (»Wie sie einst den Sozialisten mimten, mimen sie heute den Demokraten«64 ), und die andererseits abseits des administrativen Gestrüpps mit findigen Selbsterhaltungswillen die unterirdischen Aktivitäten einer Schattenwirtschaft betreiben, trübe Geschäfte, Schmuggel, Diebstahl von Staatseigentum. Die eine wie die andere Diktatur ruht auf einer Mentalität, die eingesunken ist in eine Wirklichkeit aus Willfährigkeit und Simulation, wie Péter Nádas diese Parallelrealität beschreibt: »Die sozialistische Willfährigkeit bemäntelte die fortwährende Sabotage, den dauerhaften Boykott, die stabile Schattenwirtschaft, den geheimen und gemeinschaftlich verübten Raub, das wechselseitige Augenverschließen, das als defensiver Reflex funktionierende spontane Lügen, das als Verteidigungsstrategie eingesetzte Jammern und Lamentieren, den ständigen Missbrauch von Tatsachen und Daten, die ungerechtfertigte und sich auf jedes Detail erstreckende Über- und Untertreibung, Irreführung, Fälschung, Bestechung und das durch die Kanäle der Korruption gespeiste illegale Netzwerk, das auf familiären Bindungen und Clanbeziehungen aufgebaut war.«65 Seit der dynastischen Herrschaftsübertragung führt Ilham Aliyev den väterlichen Autokratenstaat und dessen Clanwirtschaft weiter, die stalinistische Unterdrückung und die Intelligenzfeindschaft. Auch wenn seine tapsige Erscheinung leicht über den Tyrannen in ihm hinwegtäuscht. Doch bekommen, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung treffend schreibt, »[d]ie unbeholfenen Fotomontagen, die Aliyev junior mal vor Berglandschaften, mal vor futuristischen Stadtkulissen zeigen, […] durch ihre Weichzeichner-Optik [dennoch] etwas Bedrohliches: Der gütige, etwas abwesend-schläfrige Blick des Potentaten, das feiste Gesicht mit dem flaumigen Oberlippenbart – unwillkürlich fragt man sich, wie wohl die Rückseite von so viel freundlichem Phlegma aussehen mag.«66 Aserbaidschanische Journalisten würden für derartige Unverschämtheiten im Gefängnis landen – und sie landen auch regelmäßig im Gefängnis. Meist für Tatsachenberichte über Schiebereien und Missmanagement der Aliyev-Administration. Aber nicht nur weil des Präsidenten spendable »Kaviardiplomatie«67 ihren Teil leistet, praktiziert der Westen über kritische Berichterstattung hinaus bilaterales Appeasement auf dem
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Nádas: 2018, S. 124 Ebd., S. 59 Ebd., S. 118-119 Tarmas, Olaf, »Aserbaidschan. Feuer und Phlegma«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.5.2008 So bezeichnet Gerald Knaus von der European Stability Initiative den Aliyevs Lobbyismus in Brüssel, Washington und Houston, der Welthauptstadt der Ölindustrie. Über Socar und diverse Wohltätigkeitsorganisationen werden Geschenke an einflussreiche Freunde Aserbaidschans verteilt: Lustreisen nach Baku, Seide, Teppiche, Kaviar; in: Grimm/Raabe: 2015
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internationalen Parkett, hat bisher keine Sanktionen über seine »Lieblingstankstelle«68 verhängt. Zu wichtig sind die Energieinteressen Europas wie die geopolitische Bedeutung Aserbaidschans, das sich längst als Akteur auf der internationalen Bühne ankündigt, in dieser sensiblen Weltregion. Menschenrechtsverletzungen, Einschränkung von Presse- und Versammlungsfreiheit, Wahlfälschungen, Kontrolle und Einschüchterung von Oppositionellen, politische Gefangene, Zwangsräumungen für Prestigebauten, der Nationalismus, mit dem der Hass auf den Erzfeind Armenien angeheizt wird – all das hindert den Westen nicht, mit ihrem Wirtschaftspartner Aliyev glänzende Geschäfte zu machen. Der Westen verteidigt seine Nachsichtigkeit natürlich auch als Pragmatismus, immerhin handelt es sich bei Aliyevs säkularer Variante eines schiitisches Staats um ein tatsächlich fanatismusfreies islamisches Land mit westlichen Lebensgewohnheiten (– Dinge, die auch die saudischen und iranische Urlauber schätzen).69 Auch darum lässt man sich des Diktators liebste Visitenkarten antragen: die zugekauften Sport-Großereignisse wie den seit 2016 veranstalteten Formel 1-Grand Prix, der sich spektakulär, an den Altstadtmauern vorbei, durch die Prachtstraßen zwängt und der Weltöffentlichkeit »zumindest einige der bereinigten Lebensbereiche in Aserbaidschan zu präsentieren«70 weiß, während das übrige Land in Armut und Rückständigkeit zurückgelassen wird. »When it comes to architecture, Azerbaijan has always found unique ways to bypass the ordinary.« 71 Ständiger Wandel unter dem ideologischen Druck unterschiedlicher Einflusskräfte kennzeichnet die jüngere Geschichte des Landes. Am charakteristischsten veranschau68
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Bernath, Markus: »Aserbaidschan: Ilham macht mürbe«, in: Der Standard, 12.11.2013; »So as the United States goes looking for as many friends as it can find in the post-Soviet world – especially those with energy resources – Baku’s influence in Washington is only poised to grow. And if the West is ever ungrateful or unreceptive to these overtures, the Azerbaijani lobby passive-aggressively intimates, then the Aliyev regime always has the option of turning toward Moscow or Tehran, both of which are eagerly knocking at its door«; Weiss, Michael: »The Corleones of the Caspian. How Azerbaijan’s dictator woos the United States and Europe«, in: Foreign Policy, 10.6.2014 Die gilt allerdings natürlich nicht für die Staatsführung des schiitischen Iran, wo 15 Millionen ethnische Aseris leben. Aserbaidschans religiösen Freiheiten sind vielmehr »dem Iran, dem gestrengen Nachbarn, ein Dorn im Auge und so versucht er, Aserbaidschan durch Einschleusen radikaler Kräfte zu destabilisieren. […] [D]as Fluchtpunkt-Syndrom vieler Iranerinnen, die ihren Besuch in Baku dazu nutzen, um in der Freiheit endlich einmal ohne Tschador, geschminkt und in eleganten Sommerkleidern herumzulaufen, irritiert die Mullahs in Teheran.« (Knut Teske, »Baku, die Stadt des Lichtes und der Flammen«, in: Die Welt, 22.5.2012) Aserbaidschan ist säkularisiert, die Verfassung garantiert volle Religionsfreiheit und enthält keine Privilegierung der Mehrheitsreligion Islam. Nationalideologisch wird dieser freilich ausgespielt, den »[l]assen sich, wie im Fall der Aserbaidschaner und Armenier, eindeutige ethnoreligiöse Trennlinien festlegen, spielt die Religion in den Konflikten stets auch eine gewisse Rolle. […] Das heisst nicht, dass es sich beim Konflikt um Berg-Karabach um einen Religionskrieg handelt, sondern nur, dass die jeweilige Religionszugehörigkeit bei der Konstruktion des Selbst und der Abgrenzung vom Feind eine wichtige Rolle spielt.«; Motika: 2009, S. 102 Williamson, Hugh: »Kritik hat keine Stimme in Aserbaidschan«, in: Die Zeit, 34/2014 Rzayeva, Camilla: »Baku Metro. Soundtrack to the Underground«, in: Visions of Azerbaijan, 6/2015
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lichen lässt sich dies an der aserbaidschanischen Schriftsprache, deren Alphabet im 20. Jahrhundert gleich dreimal geändert wurde – eine weltweit einmaliger Umstand: zunächst wurden 1929 die jahrhundertelang gültigen arabischen Schriftzeichen durch lateinische Buchstaben ersetzt, bereits 1939 allerdings wiederum das kyrillische Alphabet der UdSSR eingeführt.72 Seit der Unabhängigkeit 1991 wird die Landessprache schließlich wieder im lateinischen Alphabet verschriftlicht, ergänzt um Zusatzzeichen wie dem markanten »Ə«.73 Mit Bakus Architektur verhält es sich ähnlich. Auch die unterschiedlichen Baustile sind Signa der Systeme, ihr Wandel ist Ausdruck sich veränderter Machtverhältnisse. Und auch sie bestehen durchaus vergleichbar mit dem lateinischen Schriftbild des Aserbaidschanischen zwar überaus vertrauten Buchstaben, die aber dann um für Westmenschen exotische Sonderzeichen angereichert wurden: um unverständliche, aber allein typographisch faszinierende »Ə«. Speziell Bakus Gründerzeitstadt außerhalb der Altstadtmauern ist in Architektursprachen geschrieben, die zwar geläufig erscheinen, zugleich aber mit unbekannten »Ə« verwirren. Und genau diese architektonischen Analoga zum Zusatzbuchstaben sind es, die mit jeder Silbe weite Kreise in einem erzeugen. Die das Baku des Fin de Siécle so einzigartig machen, zu einem der weltweit fantastischsten Sammelsurien historistischer Baukunst erheben. – Und man tut Bakus Gründerzeit Unrecht, wenn man sie nur als eine architektonische Harlekinade narrativiert. Als wäre hier alles gänzlich verrückt und hinüber. Als hätte sich hier ausschließlich der sagenhafte Reichtum und die Unkultiviertheit der Ölgewaltigen manifestiert, die ästhetischen Narrheitsanfälle »eine[r] Kaste, die an barbarischem Luxus, an Ausschweifungen, Despotismus und Verschwendungssucht nichts zu wünschen übrig ließ«74 . Zwar trifft man hier natürlich durchaus auf architektonische Zweitklassigkeiten, auf einen pupertierenden Historismus, der erbärmliche Grimassen liefert, in seiner Willkürlichkeit verwirrt. Auf Gebäude, die aussehen, als suchten sie Streit. Auf grobe, ungelenke Erscheinungen. Denn das »leichtverdiente Geld brannte in den Taschen der neuen Reichen«, wie Essad Bey schrieb, und »[d]iese Neureichen waren Orientalen. Sie gaben ihr Geld auf orientalische Weise aus. In der Stadt wurden Paläste erbaut, die die barbarische Phantasie ihrer Besitzer widerspiegelten.«75 Im Ganzen aber sind Bakus Jahrhundertwendebauten einfach viel zu gelungen, um an ihnen eine angebliche künstlerische Misere des Historismus anzuprangern. Selbst noch dort, wo sie unbewusst ins Unreine reden oder sich in übersteigerte Formulierungen und poetische Tongebungen verrennen. Einerseits hinsichtlich der intentionalen
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»So sollte der Kontakt zwischen den sowjetischen Turk-Republiken und der Türkei verhindert und die Entwicklung von Allianzen, die die Autorität der Sowjetunion hätten unterwandern können, unterbunden werden. Russisch wurde zur Lingua Franca und war für Karrieren in Kultur, Politik und Wirtschaft unerlässlich.«; Kraemer, Orianna: »Die Stadt, wo der Wind sich dreht«, in: Bauwelt, 36/2009 Seit 2001 gilt die Verbindlichkeit des lateinischen Alphabets in der Bürokratie und in der Straßenbeschilderung: »This third change to the country’s alphabet proved incomparably more complex than the reform of the 1920s, when the majority of the population had been illiterate.«; Swietochowski: 2013, S. 119 Bey: 1930, S. 41 Bey: 1933, S. 179
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architektonischen Kriterien der historistischen Baukunst: ihrer ausdrucksstarken Repräsentation, ihrer abgestimmten Stilzitation, ihrer raffinierten Detaillierung. Andererseits aber auch hinsichtlich der nicht-intentionalen Qualitäten des Historismus: der ausschweifenden Überspanntheit und Widersprüchlichkeit seiner Architektursemantik, dem Hang zur Übertreibung der zitierten Baugedanken, die »durch Überfütterung zugrunde gerichtet«76 werden, wie Gurlitt schrieb, schließlich seiner irritierenden Inauthentizität. Das Baku des Fin de Siécle entfaltete einen schwelgerischen Epochenreigen, der den Historismus und seine Fantasien wie mit Champagner aufschäumte. Bakus Hauptschlagader des Historismus, die landzugewandt entlang der Altstadtmauer geführte Prachtstraße Istiglaliyyat, die im Zarenreich Nikolayevskaya hieß, unter den Sowjets Kommunisticheskaya, ist allein in ihrer Illustrierung geschichtlicher Bedingungen beeindruckend – als Versuch der historistischen Architektur, »die gesellschaftliche Instabilität durch Kultur auszugleichen, den wachsenden Traditionsverlust im Gefolge des Industriekapitalismus aufzufangen und den Zerfall traditionaler Werte durch eine Orientierung an der Geschichte zu kompensieren.«77 Die Bauten an der Istiglaliyyat sind ein Tableau für das, was der Schriftsteller Hermann Bahr als die Charakteristika der Wiener Ringstraße beschrieb. Das sich mit ihr »eine neue Gesellschaft im voraus Quartier bestellt[e], die selber um eben diese Zeit erst anfing, in aller Hast improvisiert zu werden« – und die darum gerade in ihrer Künstlichkeit einen wahrhaften Ausdruck fand. Man sagen muss, »daß, wenn dieser Ringstraßenzauber durchaus, selbst in seinen schönsten Teilen unwirklich, unglaubhaft und insgeheim irgendwie sozusagen ungereimt wirkt, ja geradezu schwindelhaft, so […] eben darin gerade seine Echtheit [besteht]. Er ist ein vollkommener Ausdruck seiner Zeit.«78 Gerade weil sich in Bakus Gründerzeitbauten viele allgemeine Grundzüge des Historismus radikalisierten – speziell seine repräsentationssemantische Inauthentizität, die durch den Umstand verursacht ist, dass im 19. Jahrhundert zunehmend »[d]ie kulturelle Führung, die auch die Funktion als Auftraggeber für künstlerische Selbstdarstellungen beinhaltete, […] von den Adels- und Fürstenhöfen auf eine relativ breite, durchgliederte, sich stetig verändernde bürgerliche Klasse über[ging]«79 – liegt das Hauptmerkmal ihrer Architektur nicht einfach nur im unkultivierten Prassen einer ParvenüMillionärsschicht, die in ihrem sich distinguiert dünkenden Genuss ermüdete. Ja. Das ist das eigentlich Faszinierende, das, was einem an der gründerzeitlichen Architektur Bakus die Sinne verwirrt. Das diese anders als ihre Bauherrn nicht im Geringsten »unkultiviert« ist. Auch wenn sie »kulturlosen Zuständen entsprungen« ist, aus dem ja nicht nur in Baku als allgemeines Bedürfnis der Zeit ausgemachten, »mit der Jugend unserer neubürgerlichen Kultur zusammenhangenden Zuge« des Historismus entstanden ist, so Muthesius, »möglichst viel zu scheinen, dem Nebenmenschen zu imponieren, durch prunkvollen Aufwand nach aussen zu glänzen.«80 Dabei aber, und das 76 77 78 79 80
Gurlitt: 1969, S. 89 Brix/Steinhauser: 1978, S. 201 Bahr: 1981, S. 110 Syndram: 1991, S. 20 Muthesius: 1902, S. 63
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ist das Beachtliche, Grazie entfaltete, theatralische Qualität, sinnliche Üppigkeit und eine interessante Inauthentizität, die einen mit spannenden Irrlichtern umringt. Einem eine von Architekten in der Fülle ihrer Kraft und ihrer Leidenschaft geschaffene Stadt die süße Anmut der Dinge empfinden lässt. Und die übliche kunstgeschichtliche Litanei über den Nachahmungstrieb des Historismus, die »Grundsatzlosigkeit und Willkürlichkeit des ›Stilmachens‹, die keinem geistigen Prinzip folgt, sondern sich nur aus der Kulturlosigkeit der neuen Bauherren und der Willfährigkeit sogenannter Künstler ergibt, die jenen dienen«81 bei ihr ins Leere greift. Das Erstaunliche am Fin de Siécle-Baku, diesem der Sinneslust preisgegebenen Leib, ist dann schließlich die augenscheinliche Diskrepanz zwischen seiner »barbarischen« städtischen Kultur und der ästhetischen Anmut seiner Prachtbauten. Wie gekonnt diese Zeit der Übertreibung, das Üppige, Sinnlich-Reiche und das Schwüle, durch feine, empfindliche Prismen gebrochen ist. Denn die zwar aufschneiderischen, aber dabei kunstreichen Architekturmeisterwerke, die sich in gewählten Wendungen des Historismus und des Jugendstils versuchten, finden sich allein in ihrer architekturästhetischen Filigranität im Widerstreit zur »barbarischen« Gewalttätigkeit, die Baku prägte – zu den wie beiläufig veranstalteten Massakern an Minderheiten, den Gangstersyndikaten und dem buchstäblichen Räuberkapitalismus des feudalen Ölherren, der »die feudalen Regierungsmethoden auch in sein Geschäft übernommen«82 hatte, seine Ölgarden, die »Kotschis«, aufmarschieren ließ. Denn diese dienten natürlich nicht nur zur Bewachung der Paläste, Ölquellen und Magnatenfamilien, »die Kotschis [fanden] nicht nur bei der Verteidigung Verwendung. Sehr oft mußten sie auch angreifen. Denn wer in Baku nicht angriff, der wurde angegriffen.«83 Ein Faszinosum des gründerzeitlichen Baku liegt in der erstaunlichen Diskrepanz zwischen der Grazie einer Architektur, ihrem Schönen und Bedeutungsvollen, der man den Wahnsinn der Zeit nicht aufsteigen fühlt, und der sie umhüllenden städtischen Unwirtlichkeit. Eine Unwirtlichkeit, die sich im Baku des Fin de Siècle ja auch nicht ausschließlich durch Gewalttätigkeit ausdrückte. Denn die Stadt wurde überdies durch eine gewaltige Verschmutzung malträtiert – gleichermaßen verursacht durch Wüstensande, die durch die »Stadt der Winde« geblasen wurden wie durch den Ruß der Raffinerien.84 Knut Hamsun bezeichnete Baku bei seinem Besuch als eine staubüberzogende 81 82
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Sedlmayr: 1956, S. 63 Bey: 1933, S. 182; Diese feudalen Regierungstechniken des Orients wurden selbst in der Börse praktiziert, wie Bey ausführt: »Stiegen gegen Ende des Monats die Preise, so […] griff [man] dann oft zu einem bewährten Börsenmanöver: Die Angestellten der Großabnehmer verkauften einander, natürlich fiktiv, zu einem niedrigen Preis, ungeheure Mengen Öl. Das verursachte einen allgemeinen Preissturz, der sich dann in der monatlichen Preisbestimmung auswirkte. […] Sobald der Preissturz begann, riefen die Ölgewaltigen ihre Kotschis zum Börsengebäude. […] Wenn die Preise weiter fielen, dann drangen die Kotschis, zur allgemeinen Freude, in das Börsengebäude ein und verprügelten die Großabnehmer so lange, bis die Kurse eine ausgesprochene Tendenz nach oben verzeichneten. […] Es würde wohl kaum an einer europäischen Börse gelingen, einen Preissturz durch Prügelei zu verhindern, im feudalen Baku war aber die Faust als Börsenfaktor nicht zu unterschätzen.«; ebd., S. 183 Ebd., S. 181 »Large, sandy canyons with no trace of vegetation surrounded Baku. Violent winds from the north brought penetrating dust, which, despite sealed double windows, still managed to cover furniture
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»verwünschte Stadt«, vom Sand »derartig kalkweiß, daß man ganz geisteskrank davon werden kann.85 In seiner Schilderung lag Baku »in einer einzigen großen Wolke weißen Staubes. Alles hier ist weiß oder grau, der Kalkstaub lagert sich auf Menschen und Tiere, Häuser, Fensterscheiben und auf die paar Pflanzen und Büsche im Park. Es sieht aus wie eine ganz verrückte Welt, in der alles weiß ist. Ich schreibe Buchstaben in den Staub auf der Tischplatte im Hotel, aber nach einem Weilchen sind sie schon wieder von neuem Staub überweht und ausgeglichen.«86 Die Bohrtürme und Raffinerien hinterließen apokalyptische Landschaften mit ölverpesteten Böden. Selbst das Kaspische Meer war mit einem Ölfilm überzogen, der immer wieder in Flammen aufging: die Flut war »mit perlmutterschimmernden Flecken von Petroleum bedeckt, schillernd von goldgrünen Augen wie der riesenhaft ausgebreitete Schweif eines Pfaues.«87 Und schließlich hing der beißende Geruch des Öls unablässig in der sandigen, verrusten Luft. Auch Hamsun klagte über den Ölgestank, der in der gesamten Stadt in der Luft klebte: »Er ist Überall, auf den Straßen und in den Häusern: Öl mischt sich in die Luft, die man einatmet, und ehe man einigermaßen an die Luft gewöhnt ist, muß man unaufhörlich husten. Das Öl mischt sich auch mit dem Staub der Straße, und wenn es windig ist, was hier fast immer der Fall ist, so macht der ölgetränkte Staub Fettflecke auf die Kleider. Baku ist von allen Orten, die wir besucht haben, der ungemütlichste«88 . Aber nicht nur als Art träumerische Übermalung der Realität wirkt die historistische Außenstadt leicht unwirklich. Einen Anschein des Künstlichen und Inauthentischen, der einem am gründerzeitlichen Baku in den Bann zieht, entfacht allein die geographische Lage, die örtliche Fremdheit der europäischen Prachtboulevards mit Pariser Mansarddächern, klassizistischen Fassaden und Fischschuppenmuster an der Straßenpflasterung der prächtigen Flaniermeile der Nizami Straße im exotischen Sonnengold des Orients. Die Entscheidung der Ölbarone, in den fremden Dekorationen des Westens zu leben, erzeugt eine intensivere Exotik als die einzelnen Orientalismen. Es ist jedweder historistischen Kunst, die Geschichte »kopiert und mehr oder weniger frei rekonstruiert«, unvermeidlich, dass sich »das erzielte Ergebnis […] fundamental vom Vorbild unterscheiden muß: Ein neugotischer Bau ist in allererster Linie neu und dann erst sind alle übrigen Abhängigkeiten und Bedingungen ablesbar. Die zeitliche Kategorie ist die bestimmende, unabhängig davon wie gelungen oder ›überzeitlich‹ das Werk ausfällt.«89 Zu dieser zwingenden zeitlichen Bezüglichkeit, die die Stilverweise des Historismus immer definiert, kommt hier, »wo Asien und Europa unmerklich ineinander übergehen«90 , jedoch ebenso zwingend immer noch eine örtliche. Dieser Historismus rief seine romantische Sehnsucht in eine zeitliche und eine örtli-
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inside houses. In the summer, heat waves often reached over 120 degrees. Rains seldom feil, but every time they did, water flowed in from the surrounding canyons and flooded the city.«; Swietochowski: 2013, S. 105 Hamsun: 1990, S. 203 Ebd., S. 193 Wegner: 1986, S. 257 Hamsun: 1990, S. 193 Baur: 1981, S. 61 Said: 1992, S. 242
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che Ferne hinein, wenn er mittelalterliche Bauweisen Frankreichs ans Kaspische Meer überführte. Einen Anflug des Künstlichen erhält Bakus Gründerzeitstadt auch durch ihre fast übermäßige Sauberkeit und Saniertheit. Die Straßenzüge präsentieren sich nämlich inzwischen dermaßen herausgeputzt, dass man sie für Kulissen halten kann, einfach weil man die intuitiv erwarteten Alterungsspuren und Verschmutzungen vermisst. Diese wirken in unserer Wahrnehmung des Städtischen aber als ein »Authentizitätsmarker«: »Das Authentische, das einerseits das Heilige ist und das Reine […] ist andererseits auch das Schmutzige. Das Zu-Saubere ist das Inszenierte, das Unnatürliche, während der Gestank in Indiz dafür ist, dass […] nicht alles perfekt ist. Genau in dieser Natürlichkeit kann das Authentische gesehen werden, so dass sich das Unreine als eigentlich Reines erweist«91 . Darin wirken Bakus Fin de Siécle-Straßenzüge inauthentisch. Die Prachtstraße Istiglaliyyat, die Nizami Straße und der Neftchilar Prospekt, wo Prada, Tiffany, Gucci, die üblichen Verdächtigen der weltweit gleichgeschalteten Fashion-Distinktion, ihre Nobelboutiquen in gediegenen Beaux-Arts-Palästen auffädeln; »hier, wo kleidung in schaufenstern und an körpern den westen verspricht und selbst die fußgängerzonen sich schön gemacht haben wie männer und frauen vor einem fest«92 . Bakus Gründerzeitbauten wirken wie reingewaschen, als würden sie auf ihre eigene Einbalsamierung warten. Abgeschüttelt ist das vernachlässigte Bild früherer Tage, als sie »etwas Verlassenes und Unheimliches an[genommen hatten], […] dem Besucher [es] so vorkommen [sein] mag, als sei er in ein ungewöhnlich verrußtes Viertel am Rive Droite in Paris geraten, das aus irgendeinem Grund von seinen Bewohnern verlassen wurde.«93 Künstlich wirkt Baku speziell nachts. Denn da bannt einen Aserbaidschans Hauptstadt mit einer mirakulösen Illuminierung, die sie abermals wie Kulissen inszeniert. Dabei sind es nicht allein die schieren Lichtquantitäten, die Bakus nächtliche Grazie bestimmen, es ist die indirekte Fassadenbestrahlung, die die Straßenfluchten in der linden Nachtluft zu einer unnatürlich wirkenden Attraktion machen: »Baku ist nachts […] die hellste Stadt der Welt und abends, zwischen Tag und Traum, illuminiert wie keine andere. […] Es ist das Licht, das einen fertig macht, im wahrsten Sinn entzückt – ein weiches, ruhiges, unaufgeregtes Licht, gleichwohl von überwältigender Pracht. Es wird abgeleitet von der indirekten Beleuchtung, die jedes Haus, jede Villa, ob privat oder öffentlich gleichmäßig verschwenderisch beleuchtet.«94 91 92
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Schäfer: 2015, S. 13 Mermer: 2015, S. 26; »It seemed funny to stumble across this amalgam of the Avenue Montaigne, Sloane Street and Fifth Avenue in a place where the traditional fashion statement is a huge shaggy sheepskin hat. But Baku is the fashion frontier: Azeris have seen fashion speeding across the sky, and whatever it is, they want it. Yet globalization doesn’t just standardize desire from place to place; it also makes it vaguer and more diffuse.«; Levine, Joshua, »Big in Baku«, in: The New York Times, 15.8.2012 Reiss: 2008, S. XIII Teske: 2012; Daher der Eindruck, man wandle durch eine »lichtdurchflutete, schattenfreie Märchenwelt. […] Haus für Haus wird millionenfach von weichem, ockerfarbenem Licht angestrahlt […]. Mit wachsendem Staunen rollt man über breite Boulevards, vorbei an majestätischen Häuserzeilen, an monumentalen Gebäuden, Theatern und Villen vergangener Tage – alles erhellt, friedlich, wie von Walt Disney verzaubert.«; Teske: 2011
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Diese Kulissenhaftigkeit, dieses Flair der Inauthentizität, verfälscht dann den eigentlich gegenteiligen Befund, nämlich die Tatsache, dass sich Bakus Gründerzeitarchitektur in ihrer baulichen Materialität vom Historismus anderer Länder durch verhältnismäßige Materialauthentizität unterscheidet. Ist der Historismus generell durch ein versiertes Hantieren mit imitativen Surrogatmaterialien wie Gips und Stuckmarmor gekennzeichnet, prägen Bakus Gründerzeitbauten aufwendige Steinmetzarbeiten in dem typischen hellen, weichen aserbaidschanischen Sandstein, mit dem die Fassaden verblendet sind. Dies ist zwar der handwerklichen Tradition der islamischen Baukunst geschuldet, der Verfügbarkeit an einheimischen Steinmetzen, mehr jedoch noch der Nichtverfügbarkeit anderer Baumaterialien: »[which] forced the local artisans to make the most of virtually the only building material to which they had access: the famous Baku limestone«. Man kann die mandelfarbenen Sandsteinfassaden dann zwar angesichts ihrer stilistischen Importiertheit weiter als inauthentisch betrachten, materiell sind sie aber authentischer als ihre Schablonen: »In fact, the architecture of oilboom Baku boasts a certain advantage over that of a number of European cities in terms of its unusual and striking decorative stonework. Architectural elements that were plastered or molded in Europe were carved and hewn into stone in Baku, imbuing their structures with a greater sense of permanence and monumentality.«95 »If Paris and Dubai had a lovechild it would certainly be Baku.« 96 Multikulturell und international wie das gründerzeitliche Baku waren seine herausragendsten Architekten. Die beiden Polen Józef V. Goslavski und Józef Plośko und die beiden Armenier Gavril Ter-Mikelov und Nikolai G. Bayev schufen die für das Stadtbild des Fin de Siécle brillantesten Einzelarchitekturen. An ihrer flamboyanten Baukunst sieht man zwar die Maßlosigkeit der neureichen Ölbarone, die »den Zugriff auf eine Architekturtypologie und auf eine Formenwelt [einforderten], die über Jahrhunderte Adel und Klerus vorbehalten gewesen war.«97 Und doch meint man einem edlen Wettstreit der Formen, Feinheiten, Empfindungen beizuwohnen. Man trifft auf einen Historismus, der architekturstilistisch frappierende Fähigkeiten zu bemühter Abbildgenauigkeit und findigen, ungebundenen Einfällen gleichermaßen aufweist, der reich ist an semantischen wie syntaktischen Varianten, keine in ein Leichentuch gehüllte Architektur. Goslavski, Plośko, Ter-Mikelov und Bayev bilden eine ungewürdigte Weltelite des Historismus. Sie schufen Prachtbauten, die einen Stil haben und ihn genießen – dabei allerdings immer auch in tiefe Verwirrung geraten, ungelöste Konflikte und Widersprüche in sich führen. Die das Leben einer Welt streifen, dass nicht das ihre ist, sei es geographisch oder gesellschaftlich. Nicht, weil ihnen der historische Sinn fehlte, sondern weil in der Zeit des Historismus generell die »Dynamik der Geschichte […] keine bleibende Legitimierung durch Stile« mehr zuließ und »Entscheidungen über das Stilgepräge der Architektur […] miteinander ringenden Kräfte«98 überlassen wurden. 95 96 97 98
Akhundov: 2013, S. 23 Farley, David: »Baku To The Future. The Empty Capital Of Azerbaijan Really Wants You To Visit«, in: www.gadling.com, 29.3.2013 Landwehr: 2012, S. 20 Lemper: 1985, S. 51
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Dieser Grundzug der historistischen Architektur manifestiert sich in ganzer Dramatik im unübertroffenen Meisterwerk des Erdölfiebers, dem in Pracht aufblühenden Baku Club von Gavril Ter-Mikelov. Der Baku Club diente als Casino der Stadt und als Schauplatz der Festbanquette der Ölbarone, der feinen Pinkel, die sich in dem majestätischen Neorenaissancebau auf Tuchfühlung mit dem Okzident fühlten. In seiner Repräsentationsgewaltigkeit und Kulturbeflissenheit weiß das palastartige Gebäude, dessen Putzfassade in einem kräftigen Barockgelb gehalten ist, von dem sich in betonter Schönlinigkeit weiße Blendgiebel, Gesimse, Lisenen und Balustraden abzeichnen, alle seine Karten auszuspielen. Sie ist eine Architektur ambrosischer Nächte. Gavril Ter-Mikelov staffelte das 1912 eingeweihte, terrassenartig lagernde Gebäude, das dann 1936 unter den Sowjets zum Sitz der Aserbaidschanischen Staatliche Philharmonie umgewandelt wurde, in renaissancistischer Symmetrie. Zwei mit Risaliten akzentuierte Seitenflügel, die nach außen hin an islamische Maschrabiyyas angelehnte hölzerne Fensterbänder aufweisen, und zwei minaretthafte Türme mit filigran besäulten Laternenaufbauten fassen oberhalb eines Sockelbaus einen barock befensterten Haupttrakt, der eine Rotunde mit goldener Kuppel verblendet. In dieser durchartikulierten Architektursprache glänzt Bakus Ambition. Speziell in der goldenen Kuppel, die schon wie mit der Beklemmung eines Vorgefühls die verschwindende Zeit der Erdölreichen zu beweinen scheint. Und am malerischen Prachtbrunnen, hin zur mittelalterlichen Festungsmauer, die Bakus Altstadt umgürtet, mit seiner Nachbildung der Kolonnade von Versailles. Gegenüber liegt ein weiterer Bau Gavril Ter-Mikelovs, die Stadtvilla der Ölbarone Sadikhov. Bei der Sadikhov Residenz hat Ter-Mikelov nach den gleichen Prinzipien des Pittoresken die Zierden islamischer Architektur in eine süße, sentimentale Stimmung überführt. Die rosa geputzte, mit Erkern und Loggien gegliederte Fassade garnieren weiß gehaltene Kielbögen und Stalaktitenfriese, dazu in dunklen Hölzern ausgeführte Maschrabiyya-Erker und Gesimse. Speziell der mit Stufenzinnen und Arabesken geschmückte Eckturm befriedigt die Gelüste orientalistischer Romantik. Und auch von einem dritten Gebäude Ter-Mikelovs müsste die Kunstgeschichte mit vorzüglicher Ehrfurcht sprechen. Denn bei der 1901 erbauten Tifliser Handelsbank glänzt Neobarock in Lieblichkeit und zarter Rührung, eine weiche, geschmeidige Formbildung mit Schnörkelzier ahnt den auch bereits langsam in den Kaukasus ausstrahlenden Jugendstil. Das Hauptwerk des früh, mit nur 39 Jahren an Tuberkulose verstorbenen Józef V. Goslavski, der an der St. Petersburger Kunstakademie ausgebildet worden war, ist das 1904 fertigstellte Rathaus von Baku, die Duma, in einem opulent komponierten, zu höchster Vortrefflichkeit geführten Neobarock, dessen mit eigens aus Italien importierten roten Klinkern und Marmor geschmückte Fassade sich barocken Harmonie- und Symmetriegedanken gemäß auf ein Zentrum hin, zu einem dem Mittelrisaliten vorgestellten mittelachsigen Turm sammelt. Seine Karriere im Fin de Siécle-Baku verdankte Goslavski – den der Auftrag zur Bauleitung der riesigen, stadtbildprägenden, 1936 allerdings im Auftrag Stalins gesprengten russisch-orthodoxen Alexander-Newski-Kathedrale, die Robert Marfeld in Anlehnung an die Moskauer Basilius-Kathedrale entworfen hatte, in die Stadt verschlagen hat – dem legendären Ölbaron Zeynalabdin Taghiyev, zu dessen Leibarchitekten er avancierte. Den aus ärmsten Verhältnissen stammenden Aseri Taghiyev hatte sein Analphabetismus nicht daran gehindert, zu einem der reichsten
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Männer des gesamten zaristischen Russlands aufzusteigen und »ohne je im Feld gewesen zu sein«99 mit einem Generalsrang geschmückt zu werden. Nach seinem beharrlichen Aufstieg als Ölindustrieller investierte Taghiyev in Textilfabriken, Reedereien und Elektrizitätswerke, gründete eine Handelsbank und wurde als Stadtrat ein mächtiger Strippenzieher.100 In Aserbaidschan verehrte man ihn wie einen Nationalheiligen, da er sich als Bakus wichtigster Philanthrop einen Namen machte, den Ausbau der bis dahin unzureichenden städtischen Wasserversorgung, Moscheen, Stipendien und islamische Bildungseinrichtungen finanzierte. Taghiyevs architektonisches Vermächtnis bilden sein eigenes, inzwischen als Geschichtsmuseum dienendes Stadtpalais, die Muslimische Mädchenschule und das Opernhaus – philanthropische Leistungen, die den »kapitalistischen Blutsauger« selbst für die Sowjets unantastbar machten. Zwar enteigneten diese den bereits greisen Ölmagnaten, doch verschonten sie das Leben des »Klassenfeindes«.101 Die Muslimische Mädchenschule war Taghiyevs aufsehenerregendste Tat. Eine gegen die Opposition des konservativen Klerus durchgesetzte, in der muslimischen Welt der damaligen Zeit einzigartige Institution einer säkulären Erziehungseinrichtung für Mädchen, mit der der Wohltäter, der selbst nie eine Schulausbildung erfahren hatte, den isolierten, weltabgewandten Status der muslimischen Frau in der Gesellschaft langfristig durch Bildung überwinden wollte. Józef V. Goslavski entwarf die Muslimische Mädchenschule als einen mit Tudor- und Schulterbögen orientalistisch versetzten, in einer Sprache feiner Distanz gehaltenen Neorenaissancebau, dem das Licht die Linien der Zinnen und Stalaktitenfriese reich macht.102 Im Gebäudeinneren sind Goslavskis maurische Details direkter, speziell im pastellfarbenen Prachtsaal, den andalusisch beeinflusste Stuckarbeiten und mit Zierrat beladene Innenbalkone mit geschnitzten Maschrabiyya-Fensterläden ausstaffieren. Ebenfalls von Goslavski stammt Taghiyevs Stadtpalais, dass ein ganzes gründerzeitliches Karree einnimmt. Dessen Fassaden kennzeichnet eine kleinteilig gezeich99 Bey: 1930, S. 34 100 Essad Bey schildert Taghiyev in Ali und Nino als Fatalisten, der seinem Glück nicht traute. Seit seinen Ölfunden »brauchte [er] von nun ab weder geschickt noch klug zu sein. Er konnte dem Geld einfach nicht mehr entrinnen. Er gab es aus, freigiebig und verschwenderisch, doch das Geld nahm zu und lastete auf ihm, bis es ihn zermürbt hatte. Irgendwann mußte ja diesem Glück auch die Strafe folgen, und […] [er] lebte in Erwartung der Strafe wie ein Verurteilter in Erwartung der Hinrichtung. Er baute Moscheen, Krankenhäuser, Gefängnisse. Er pilgerte nach Mekka und gründete Kinderasyle. Aber das Unglück ließ sich nicht bestechen.« (Said: 1992, S. 32) Schließlich widerfuhr ihm das Unglück nicht nur in Form seiner Enteignung. Bereits davor »entehrte« ihn seine zweite, erst 18-jährige Frau, die er im hohen Alter geheiratet hatte, durch eine Affäre. Er musste sich der juristischen Aufarbeitung seines blutigen Racheakts unterziehen und den Selbstmord seines Sohnes beweinen. 101 Auch weil Taghiyev der Stifter nicht weniger Stipendien war, die den neuen Machthabern eine Ausbildung verschafft haben: »Many of the leaders of Baku’s new order were beholden to him despite their allegiance to Lenin and Stalin. When they were young men without resources, he had put them through college. Now, in an act of deference, they allowed him to choose from among all his properties the home in which he would live out his years.«; LeVine: 2007, S. 35 102 Heute beherbergt die Mädchenschule das Institut für Handschriften von Aserbaidschan der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Der ersten Aserbaidschanischen Republik diente das Gebäude als Parlament, der SSR als Präsidium ihres Obersten Sowjets.
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nete Neorenaissance mit Pariser Einschlag. Das Innere des heutigen Nationalen Geschichtsmuseums ist jedoch in höchster Exquisitheit zur Hälfte orientalisch und zur Hälfte abendländisch eingerichtet, wobei der maurische Teil den im Stil italienischer Renaissance gehaltenen aussticht: mit dem kleinen Damenzimmer, das spiegelgläserne Stalaktitenfriese zieren. Und dem Ballsaal, einem flackernden Widerschein andalusischer Baukunst, filigran verziert und goldüberzogen. Eine reine Entrückung umspielt einen zwischen den goldgerandeten Hufeisenbögen, den goldenen Rautenpaneelen an den Wänden, die sich an andalusische Sebkas anlehnen, den goldenen Friesen mit grazilen Muqarnas-Assoziationen und den fantastischen Stuckausschmückungen mit vegetabilischen Blütengeometrien an der Decke, auch diese in Gold, auf teilweise weißen, teilweise auf roten und blauen Grund. Die frappanteste Architekturleistung im Zusammenhang mit Zeynalabdin Taghiyev ist das Staatliche Akademische Opern- und Balletthaus, auch wenn er bei diesem Gebäude erst nachträglich als Finanzier ins Spiel kam. Denn er übernahm die Baukosten als Wettschuld gegenüber den opernbegeisterten Brüdern Mailov, Ölbaronen und Kaviarhändlern, die einer Opernsängerin, die einen weiteren Auftritt in Baku an die Errichtung einer adäquaten Bühne knüpfte, diese Spielstätte versprachen. Taghiyev bezweifelte die Ambition der Mailovs, dass ein derartiger Prachtbau innerhalb eines Jahres realisierbar sei und wettete zu seinen Ungunsten um die Errichtungskosten. Denn es gelang, im Schichtbetrieb nach zehn Monaten, und Taghiyev zahlte. Bakus Opernhaus ist ein freisinniger Jugendstil-Bau des armenischen Architekten Nikolai G. Bayev. Wobei dessen mit diffusen Erinnerungen an eine ferne, exotische Herkunft gezeichnete Front eine eindeutige Zuordnung verweigert – dem Schriftsteller Olivier Rolin recht zu geben ist, dass man den Stil dieses »seltsame[n] Gebäude[s] […] nicht bestimmen könnte, wenn es denn einen hat«, um dann richtigerweise zu präzisieren, dass es »unbestreitbar […] einen [hat], der [eben] darin besteht, nichts anderem Bekannten zu gleichen: Einzigartigkeit, die in der Literatur den ›Stil‹ ausmacht, nicht in der Architektur«103 . Bayevs Oper ist eine wuchtige, sich wie ein Tempel formierende selbstsichere Erscheinung voller hintergründiger, feinstimmiger Einzelheiten. Die fernöstlich beeinflussten konvexen Turmhelme in dunklem Blei, die düsteren Reliefs zürnender Götter und die unorthodoxen Friese, die gleichermaßen aztekisch wie balinesisch wirken, verleihen der Oper »eine barbarische Schönheit, ebenso der Kontrast der dunklen Grautöne (Blei, Schiefer, Sturm) zu den hellen Rottönen der Ziegel, die seine Fassade unterteilen«104 . Baute Goslavski hauptsächlich für Taghiyev, diente Józef Plośko als Leibarchitekt von Agha Musa Naghiyev, Bakus reichstem Ölmagnaten und Immobilienbesitzer. Naghiyev erfüllte sämtliche Klischees über geizige und habgierige Millionäre, denn selbst bei seiner eigenen Entführung durch Stalin soll er noch erfolgreich um die Lösegeldforderung gefeilscht haben.105 Doch der Tuberkulosetod seines einzigen Sohnes erweckte 103 Rolin: 2013, S. 55 104 Ebd., S. 55 105 Weniger dramatisch ist die Anekdote, dass Naghiyev bei einer Gala im Anschluss an eine großzügige Spende seines Sohnes selbst nur wenige Rubel aus der Tasche kramte und sich geistreich rechtfertigte: »My son is supposed to do that because of whose son he is. He’s the son of a millionaire. But whose son am I? I’m the son of a poor peasant!«; Akhundov: 2013, S. 32
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schließlich einen Philanthropen in ihm. Der Multimillionär, der als Werftarbeiter angefangen hatte, stiftete der Stadt den von Plośko entworfenen Ismailiyya Palast für den Muslimischen Wohlfahrtsverband. Einen opulenten Palazzo in venezianischer Gotik, der als Erinnerungsstätte für seinen Sohn dienen sollte. Zwar macht den Ismailiyya Palast bereits seine reine Existenz als venezianischer Palazzo am Kaspischen Meer zu einem einzigartigen Ereignis. Ihn allerdings lediglich als architektonisches Kuriosum abzuqualifizieren, wird der Majestät seines Angesichts, der eklektizistischen Leidenschaftlichkeit Józef Plośkos, nicht gerecht.106 Einem genialen Arrangement aus venezianischen Vierpassmaßwerken, gegliederten gotischen Spitzbogenfenstern, vorgeblendeten Spiralsäulen, Freskenmalereien in akzentuierten Eckrisaliten und einem dem Dogenpalast entlehnten Zinnenkranz. Von den vielen mehr oder weniger tiefsinnigen historistischen Elegien über Venedig – sei es Carl Caufals Dogenhof in Wien, William Leipers Templeton’s Carpet Factory in Glasgow oder Dwight James Baums Ca’ d’Zan Mansion in Florida – ist der Ismailiyya Palast wohl die schönste. Wie es überhaupt »[i]n ganz Baku […] kein Bauwerk [gab], das diesem an Schönheit glich.«107 Noch eklektizistischer ist der Schmuckreichtum seines Inneren, wo das Treppenhaus und der Festsaal barock, die Atriumarkaden klassizistisch und der Speisesaal maurisch gestaltet sind – beziehungsweise: waren. Denn der Ismailiyya Palast, heute das Präsidium der Aserbaidschanischen Akademie der Wissenschaften, ist nicht nur eine Rekonstruktion venezianischer Gotik, er ist inzwischen eine Rekonstruktion seiner selbst. Da während der »März-Ereignisse« 1918 brandschatzende Daschnaken den Bau in Flammen aufgehen ließen und erst die Sowjets eine Wiederherstellung besorgten, die weniger üppig geriet und sie ihnen nicht genehme Dinge wie die Koranverse an der Fassade entfernten und stattdessen Sowjetsterne platzierten. Józef Plośkos zweites historistisches Meisterwerk ist der neugotische Səadət Palast. Der Ölindustrielle Murtuza Mukhtarov, der durch die Entwicklung von Bohrköpfen zu
106 Der deutsche Journalist Ingo Petz begreift Aserbaidschan als ein »Land für all diejenigen, die den Glauben an ein lebenswertes Leben ohne Pasta- und Chianti-Romantik noch nicht aufgegeben ha[b]en« (Petz, Ingo: Kuckucksuhren in Baku. Reise in ein Land, das es wirklich gibt, München: Knaur 2006, S. 248), wie er überhaupt seine Reise in die für den Westen verhältnismäßig ungeläufige Nation, die »die Mehrheit der Deutschen […] wohl eher für ein untergegangenes Kreuzfahrtschiff halten als für einen real existierenden Staat« (ebd., S. 92) als Möglichkeit zu einer nonkonformistischen Erlebnisintensivierung begreift (»Ich behaupte: Der Osten ist ein gutes Terrain für Rebellen, weil er einem viel abverlangt. Da geht es ans Eingemachte. Wenige anständige Hotels, fragwürdiges Essen, schlechte Straßen, schräge Biografien. […] Eine solche Reise muss man erst mal aushalten. All das Kaputte – kaputte Länder, kaputte Häuser, kaputte Seelen. Der Osten ist so echt, dass es schmerzt.«, ebd., S. 10). Mit Bezug auf die Fin de Siécle-Architektur ist allerdings seinem Urteil zu widersprechen, Baku sei »auf den ersten Blick des verwöhnten Westlers, […] keine sonderlich poetische Stadt. Jedenfalls nicht im italienischen Sinne. Baku ist eher was für die postmoderne Poesie.« (ebd., S. 31). Denn es ist ja gerade das erstaunliche, das Bakus Gründerzeitstadt überraschenderweise in einem »italienischen Sinne« zu Gefallen weiß. Petz selbst notiert in einer seiner wenigen Bemerkungen über die Architektur Bakus das »Operetten-Flair, das den Besucher hier umwehte« und sieht selbst in den Stadthäusern der Ölbarone »ein Stück mediterrane Sehnsucht ans Kaspische Meer geholt«; ebd., S. 40 107 Akhundov: 2009
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Reichtum gelangt war, beschenkte mit diesem Gebäude seine Frau, die sich bei einer Italienreise von gotischer Baukunst begeistert gezeigt hatte.108 Den Səadət Palast kennzeichnet ein leichter, witziger Stil. Seine Neugotik wirkt pompös, gleichzeitig dennoch romantisch, edelgliedrig und gebrechlich. Plośko zeichnete feines Blendmaßwerk in den Sandstein, gruppierte verzierte Erker, mit Fialen und Maßwerkgiebeln geschmückte Dachgauben, Wimperge und spitzbogige Loggien zu einer großen Geste historistischen Kunstwollens, die wie fast alle fulminanten Bauten dieser Ära immer auch in Überladenheit ausufert, in eine Unmäßigkeit der stilistischen Aneignung. Darum lässt sich auch am Səadət Palast die Kritik der Neugotik im Vergleich zur geschichtlichen Gotik gut veranschaulichen. Mit Alfred Kamphausen lässt sich die künstliche »Arrangiertheit« seiner Bauglieder und -zier anklagen: »Kein neugotisches Bauwerk […] hat solchen Grad von Durchwachsenheit, immer wieder erneuter Bindung und von Sättigung wie ein hochgotisches des Mittelalters. […] Die neugotische Wand ist weder fühlbares Äußeres eines substantiellen Mauergeschehens oder klare Interpretation einer in sich stehenden stereometrischen Körperlichkeit noch sich um und zwischen Kraftlinien spannende und sich nährende Epidermis […]. Strebepfeiler können ihr vorliegen, diese wirken entweder wie angelehnt oder wie Durchstechen der Wand. […] Auch die Bauzier wächst nicht aus der Wand, sie ist ihr vielmehr angefügt«109 . Nur: in all dem liegt ja gerade die Attraktivität des Səadət Palast. In seiner Inauthentizität des geschichtlichen Zugriffs. In einer unbefangenen Zitation. Józef Plośkos opulente Stilreproduktionen wirken wie ein letztes erfolgreiches Entgegenstemmen gegen die unvermeidliche »Stilentwertung« zum Ende der historistischen Kunstepoche. Mit dem Ismailiyya Palast und dem Səadət Palast verweigert sich der Historismus – ohne die Option zu ziehen, sich in die Freiheiten eines kreativen Eklektizismus zu retten – noch einmal erfolgreich gegen die von Kritikern wie Hermann Muthesius formulierte Erkenntnis, dass das 19. Jahrhundert, »das sich in der Architektur am deutlichsten als das des chaotischen Durcheinanders aller Stile der Vergangenheit kennzeichnet, […] wenigstens das Eine mit sich gebracht [hat]: eine völlige Entwertung dieses Stiltreibens, sodass wir heute bereits dahin gekommen sind, dass die blosse schulmässige Anwendung eines geschichtlichen Architekturstils nicht mehr als Verdienst gilt«110 . 108 Plośko entwarf für Mukhtarov noch ein weiteres faszinierendes Gebäude, in Wladikawkas, Nordossetien – und auch dieses war seiner Frau geschuldet. Denn mit der nach ihm benannten Sunnitische Moschee warb Mukhtarov in der Heimatstadt seiner adeligen Frau um die Gunst ihres Vaters, eines Generals. Denn: »the highbom family was reluctant to forge ties with a rich oil magnate of such lowly background. Infuriated by the refusal, Mukhtarov responded with an extraordinary gesture. He paved his way to the family’s door by erecting a stately mosque on the bank of the Terek River.« (Akhundov: 2013, S. 35) Mukhtarov lebte im Səadət Palast bis zu seinem Freitod 1920, den er beging, nachdem er zuvor in das Gebäude eindringende Rotarmisten erschossen hatte, die ihn im Zuge des Sowjeteinfalls festsetzen wollten. Anders als die meisten Ölbarone verweigerte er sich einer Flucht in den Westen und verbarrikadierte sich mit den Worten »Solange ich lebe, kommt kein Barbar in Schaftstiefeln über meine Schwelle« vor den Bolschewiken in seinem Palais; Akhundov: 2009 109 Kamphausen: 1952, S. 67 110 Muthesius: 1902, S. 64
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In weiterer Folge jedoch drehte Plośko, der so gekonnt das Eigene und Große fremder Werke übertrug, ganz dem Zeitgeschmack gemäß in Richtung Jugendstil ab. Wiederum für Naghiyev entwarf er anmutige Art Nouveau-Bauten an der Jafar Jabbarli Straße und an der Straße 28. Mai, die ihrem Publikum glänzende Bilder aufdrängen. Die Zwillingsgebäude an der Jafar Jabbarli, die sich über eine Seitengasse zublicken, sind ganz in Bakuer Sandstein ausgeführt, der die Rundungen ihrer bauchigen Erker aufnimmt und sich mit floralen Reliefs behauen ließ. Der Jugendstil an der Straße 28. Mai ist als Bauplastik fast katalanisch angehaucht, mit Türmchen, die sich wie Flossen ausrunden, dazu gibt es geschwungene Linienführungen bei Fensterteilungen und Gusseisengeländern. Schließlich hatte auch der Jugendstil als Statusinsigne den Kaukasus erreicht. Wie die Aufsteigerästhetiken des Historismus rehabilitiert er sich allerdings nicht nur Kraft seiner Geschichtlichkeit und angesichts einer im Mittel dürftigen Gegenwartsarchitektur, die die alten Paläste »heute unter den Hochhausbauten wie gestrenge Tanten [wirken lassen], die auf Traditionen achten«111 . Die Fin de Siécle-Stadt überwältigt einen, weil sich in ihr das ästhetische Drama der Architektur des 19. Jahrhunderts in ganzer Breite entfaltete. Ihre Kunst der Inauthentizität. Ihre Willensleistung zur freien Verwendung vermeintlich erstorbener Formen der Geschichte nach dem Prinzip: »Was liebt der Reiche? Prunk! Und der Neureiche? Den Prunk des Reichen. Der Nachahmungszwang, der keine Standes-, Klassen- und Kastenunterschiede […] kennt, […] besteht unbeirrbar auf Erfüllung.«112 So ist bezeichnenderweise eines der eindrucksvollsten und zugleich jenseitigsten Monumente dieser Epoche, der Hajinski Palast, die Residenz eines Hochgeborenen, des aristokratischen Ölbarons und Kaviarhändlers Isa Bey Hajinski. Ein Geniestreich des romantischen Eklektizismus, der es meisterlich versteht, Kleinigkeiten mit Bedeutungen zu beschweren. Der repräsentationsdürstende Hajinski Palast in Nachbarschaft zum Jungfrauenturm ist in der »lightness and airiness of its shape, […] the brilliantly designed corner façade, with its colourful tower and rich architectural décor carried out in the best traditions, and mosaic works in the style of ancient Assyria […] a fantastic impression and take you to a fairytale world.«113 Seine Schaufassaden bieten altdeutsche Treppengiebel, neugotische Spitzbogenfriese und lombardische Rundbogenfenster dar, deren Parapete und Stürze allerdings assyrische Fassadengemälde mit goldenen Palmenund Löwendetails auf blauen Grund erhielten. Und der so reich verzierte Eckerker geht in einen Turm über, der wiederum an einen indo-islamischen Chhatri, einen auf Säulchen getragenen Zierpavillon im Zwiebelkuppe erinnert. Und all das schuf sich der Aristokrat Hajinski, um sich im Baku der arrivistes seiner adeligen Kultiviertheit zu versichern und seinen Eigensinn zur Geltung zu bringen. Nur die Reichsten der Ölindustriellen, die Nobel-Dynastie, ignorierten diesen Rivalenkampf ikonischer Architektur. Sie hinterließen dem Stadtzentrum nicht einen repräsentativen Prunkbau. Ihr Familiensitz, die Villa Petrolea, lag nicht nur weit außerhalb, im düsteren Schleier der rußenden Raffinerien und der Arbeitersiedlungen »mit ihren
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Teske: 2011 Linnenkamp: 1976, S. 27 Akhundov, Fuad: »The Drama of the Hajinski House«, in: IRS Heritage, 3/2010
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Häusern gleich von Rauch verdunkelten und von Fäulnis zerfressenen Zähnen«114 . Er ist aufreizend unscheinbar. Die 1884 errichtete Villa, deren Stil allgemein als byzantinisch beschrieben wird, ist ein karger, nur mit unaufdringlichen Gußeisenbalustraden und Rustizierungen verzierter Steinbau. Auch die Geschäfts- und Wohnräumlichkeiten entsprechen nicht dem »Horror vacui« des Historismus, bei dem der »Zusammenhang von Wänden und Fußboden […] unter der Fülle der Möbel- und Einrichtungsgegenstände« verschwand, »Wandteppiche, Vorhänge, Portieren und andere Draperien« die Wandflächen »zerstückelten« und auch »[d]er Fußboden […] als zusammenhängende Fläche kaum noch in Erscheinung«115 trat. Der Luxus der Villa Petrolea lag allein in der aufwendig angelegten Parkanlage des Anwesens, für die nicht nur Pflanzen aus Tiflis und Batumi importiert, sondern zunächst eigens fruchtbares Erdmaterial in die unwirtliche, vom Kaspiwind malträtierte Halbwüste Abscherons gebracht werden musste, indem man, wie für alle Parks Bakus, die Bäuche der Öltanker bei ihren Leerfahrten aus Persien mit Erde befüllte.116 Dieser Park ist allerdings inzwischen verfallen und man muss einen später errichteten und wieder aufgelassenen, daher schaurigen Rummelplatz passieren, wenn man die Villa Petrolea besichtigen will. Die unvermittelte Wahrnehmungszäsur, die der üppig bepflanzte Park für die sand- und rußgeplagten Bakuwiner einst bewirkt haben muss, schafft nun der Eintritt in die gediegenen Räumlichkeiten der Villa Petrolea mit ihren Tapeten und Intarsien, nachdem man im Grusel-Archetypus eines verwaisten Rummelplatzes kurz irrationale Ängste leidet. »One spends a lot of time in Baku looking for clues to ascertain a building’s age, rather like checking for facelif t scars behind the ears« 117 Nach der Eingliederung in das Sowjetimperium mit militärischen Mitteln betrieb die Kommunistische Partei zwar einerseits eine Russifizierungspolitik und ein gesellschaftliches Zurückdrängen islamischer Tradition, andererseits versuchte man mit der Integrationsideologie der Korenisazija, die ethnischen Minderheiten in der UdSSR explizit zu fördern und einzubinden.118 Für das islamische Aserbaidschan hieß das, die baulichen Ausdrucksmittel der Schirwan-Abscheron-Architektur in Stilzitaten aufzugreifen, um nationalen Autonomie- und Unabhängigkeitsideen das Wasser abzugraben.119 Der Palast der Schirwanschahs, die »cremefarbenen, scharfgeschnittenen 114 115 116 117 118
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Wegner: 1986, S. 257 Lehmbruch: 1970, S. 80 In: Akhundov: 2009 Sinclair, Charlotte: »Baku to the Future«, in: Financial Times, 20.2.2013 »Recognizing Baku’s distinct character, Moscow decided to implement the policy of korenizatsia (indigenization), a form of social contract offering the use of native language, growth of education, and native bureaucracy. As a method of achieving the harmonious coexistence of nationalities within the Soviet regime, korenizatsia called for the full equality of minority languages and Russian.«; Swietochowski: 2013, S. 110 Die wichtigste städtebauliche Leistung war der Ausbau des Baku Boulevard, der in Ansätzen bereits seit 1909 bestand. »Die amphitheatralische Bucht von Baku wurde [so] zu einer Bühne mit einer atemberaubenden Kulisse. Am Hafen verschwanden Lagerhäuser, Docks und andere Zweckbauten. Mit einem weiten Boulevard wandte sich die Stadt dem Kaspischen Meer zu.«; Muratov: 2009
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Mauern des islamischen Spätmittelalters«, blieben in der Weise der ästhetische Bezugspunkt stalinistischen Bauens, wie dessen »Farben und kristalline Oberflächen« bereits »zum Muster der balustradenüberhäuften, karyatidenreichen ›französischen‹ Bakuer Ringstraßen geworden«120 waren. So folgte einer kurzen Episode des sowjetischen Konstruktivismus in den 1920ern, einer kontextlosen Moderne, die einem wie bei Semen Pens Pressepalast Lehren des Fortschritts erteilen will, ein erneuerter orientalistischer Eklektizismus. Einen solchen wie ihn beispielsweise bereits 1899 der Pole Eugeniusz Skibiński mit der Agha Bala Guliyev Residenz, der heutigen Aserbaidschanischen Architektenkammer, errichtet hatte. Dieses Meisterwerk des Orientalismus verzierte seine Fensterstürze im Erdgeschoß mit feingesponnenen, floral dekorierten Zackenbogen und die Eckrisalite im Obergeschoß in ingeniöser Zeichnung mit Stalaktitengewölben des Palasts der Schirwanschahs. Weil Skibiński jedoch die komplexe Optik persischer Dekorationen einer in Barockprinzipien gehaltenen Massengliederung auftrug, mischt sich wie so oft im Orientalismus »in die angestrebte phantastische Wirkung […] ein Zug von akademischer Pedanterie. Nicht nur die detaillierte Kenntnis der Vorbilder hinderte den Architekten an einem freizügigeren Umgang mit seinem Material, sondern auch seine erklärte Absicht, ›den ausschweifenden Geschmack der Orientalen‹ durch […] ›prüfenden Geschmack‹ zu bändigen.«121 Um Mikayil Huseynov und Sadikh Dadashov, die umfangreiche Studien zu dem Palast der Schirwanschahs zu einer stilistischen Verarbeitung mittelalterlicher aserbaidschanischer Architektur veranlasste, baute sich eine tragfähige Anhängerschaft auf, die »Schule von Baku«, mit der »die Architektur in der Sowjetrepublik eine radikale Wende nahm und sich dem Historismus zuwandte. Der Einsatz exotischer Ornamentik und Kompositionen, die hinsichtlich Rhythmus und Proportionen klassischen Vorbildern folgten, […] war, der Doktrin gemäß, wie überall in der Sowjetunion ihrer Form nach ›national‹, ihrem Gehalt nach ›sozialistisch‹.«122 Mit diesen Paraphrasierungen der Schirwan-Abscheron-Architektur war dank ihrer Kraft des Bildhaften und ihrer wirkungsästhetischen Leichtigkeit eine (auch kulturell) hungernde Zeit zu speisen. Dabei lieferten aber natürlich auch die Bauten der »Schule von Baku« ein Schimmerbild des Inauthentischen. Einen Orientalismus, der wie Fieberbilder an einem vorüberfliegt. Und es bleibt als Gewissheit nur der Augenschein einer historistischen Symboltapete, die nicht weniger als jene der Fin de Siécle-Palais artifiziell bleibt. Erst recht, als die ideologische Konstruktion der Korenisazija eine zögerliche gesellschaftliche Einstellung bloßstellt, die den sozialistischen Fortschritt mit Insignien einer überkommenen religiös-feudalen Ordnung herrlich kleiden wollte. Eines dieser Gebäude ist das Nizami Literaturmuseum, ein ehemaliges Hotel, dass Huseynov und Dadashov 1939 zu einem klassizistisch gehaltenen »weißen Zuckerpalast« umbauten, »den Statuen von schnauzbärtigen Herren bewachen, Schriftsteller aus vergangenen Zeiten unter persischen, mit blauen Mosaiken herausgeputzten Bö-
120 Wackwitz: 2014, S. 76 121 Koppelkamm: 1987, S. 71 122 Muratov: 2009
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gen.«123 Seine Schauseite gliedert nämlich eine mit blauen und türkisfarbenen arabeskengeschmückten Majolikafliesen gekachelte Spitzbogenarkade, in die Skulpturen bedeutender aserbaidschanischer Dichter zwischen die Pfeiler eingestellt sind und durch die »das Gebäude wie eine Art Pantheon«124 wirkt. Direkten Bezug auf die Schirwan-Abscheron-Architektur nahmen Huseynovs und Dadashovs Haus der Wissenschaftler und das Wohnhaus Buzovnineft. Beide sind in verschwenderischer Fülle beladen mit den unterschiedlichsten, ganz dem Anekdotischem verfallene Verzierungen islamischer Baukunst. »Spitzbogenarkaden, schattenspendende Loggien und insbesondere die kleinen, mit Zacken gekrönten Türme erinnern an das Wohnhaus der Brüder Sadikhov. An der Architektur der Häuser erkennt man das Streben nach Außengestaltung […] im nationalen Baustil in einer neuen Entwicklungsetappe.«125 Auch die beiden Bahnhofsgebäude zeigen sich von exotischem Blut, romantisieren den Orient. Schließlich bedeutete den »Russen aus dem Norden […] der Kaukasus das, was für den Pariser Marokko war: ein fernes exotisches, etwas geheimnisvolles Land.«126 Der ältere Hauptbahnhof des Architekten Bruni von 1880 ist noch von einer imperialen orientalistischen Romantik geleitet, die weitschweifig wie undifferenziert das mamlukische Kairo und das maurische Andalusien zitiert. Den langgestreckt lagernden Prachtbau mit Mittel- und Eckrisaliten überziehen mamlukische Stufenzinnen, die Fenster in Hufeisenbögen mit farblich alternierenden Steinen sind andalusisch inspiriert. Der Orient, der den Reisenden hier in Empfang nimmt, ist eine romantische Uneindeutigkeit, aber genau darin, in seiner Diffusität, gleichsam auch ein passender Empfang für alle, die dieses kulturelle Pulverfass betraten, das das alte Baku war, »in dem Tataren, Armenier, Perser und Juden […] gemeinsam mit den Russen ein ethnisches Mosaik [formten], das von Zeit zu Zeit in blutigen Massakern explodierte.«127 Bakus zweiter Bahnhofsbau, der 1926 fertiggestellte Sabunchi Bahnhof Nikolai G. Bayevs, ist die durchdringendere Imagination. Mit seinem minarettähnlichen Eckturm und seinen Pischtaks, den Eingangsportalen persischer Palastarchitektur, ist das in der entsättigten Farbe des aserbaidschanischen Sandsteins gehaltene Bauwerk scheinbar eine schlüssige Traditionsübertragung. Doch gleichzeitig entdeckte Bayev wie bereits bei seinem großen Entwurf der Oper, wo er sich ebenso wenig als Meister der leisen Töne zeigte, die künstlerische Freiheit des Eklektizismus und verfiel ins Gezierte kleiner Jugendstil-Flachreliefs, schmückte sein Minarett gar wider die islamische Bilderfeindlichkeit mit fletschenden Tierschädeln. Diesen Glutschein eines romantischen Eklektizismus beeinträchtigt allerdings nun seit einigen Jahren in seinem geschichtlichen Assoziationswert eine komische Globalisierungsgroteske: denn der Sowjetorientalismus mit Jugendstil-Einsprengsel, der einen so schöne Illusionen vorspielt, beherbergt seither die größte Kentucky Fried Chicken-Zweigstelle der Welt und diese eine schreiende Ungereimtheit des KFC-Logos am persischen Hauptportal des Sabunchi Bahnhofs trübt
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Rolin: 2013, S. 7 Agajew: 1987, S. 127 Ebd., S. 134 Banine: 1949, S. 157 Kapuściński: 1993, S. 63
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den Blick für die vielen kleinen Ungereimtheiten der neohistoristischen »Schule von Baku«. Wie ein riesenhafter Festungspalast eines untergegangenen mittelalterlichen Seidenstraßen-Khanats wirkt die mächtigste Einzelarchitektur dieser Ära, das zwischen 1936 und 1952 errichtete Regierungsgebäude, »ein[] stalino-venezianische[s] Bauwerk von geradezu fantastischen Ausmaßen.«128 Lev Rudnev, der Meisterarchitekt des Stalinistischen Neoklassizismus, schuf zusammen mit Vladimir Muntz eine mächtige sandsteinerne Herrschaftsarchitektur, die den stalinistischen Zuckerbäckerstil in eine unbestimmt byzantinische Gewandung überführte. Das elfetagige Regierungsgebäude ist ein stilistisch singulärer Bau, der mit der tragischen Kraft seiner Erhabenheit die Empfindungen zarter Augenlieder strapaziert, einschüchtert und vielleicht mit seiner Martialität anwidert, sich auf alle Fälle aber mit unvergänglichen Linien in die Erinnerung gräbt. Zwei symmetrisch angelegte Seitenflügel und ein rückseitiger Mitteltrakt gruppieren sich zu einem meerseits orientierten Ehrenhof, der von vier turmartig ausgebildeten Eckrisaliten eingefasst ist, aus denen das Regierungsgebäude seine Überfülle an Wucht bezieht. »[S]eine ausgesprochen dekorative Fassade spielt fast frivol mit exotischer Ornamentik und Art decó und erscheint beinahe wie ein zu groß geratener venezianischer Palazzo.«129 Drei Lagen gestapelter Pfeilerarkaden in Kolossalordnung, die teilweise wie dreitorige Triumphbögen gegliedert sind, schmücken die Risalite zusammen mit umlaufenden Attikazinnen, die wie spitze Lanzen in das blaue Tuch des Bakuer Himmels ragen. Mit dem Machtantritt Chruschtschows kam dann die mit der Vergangenheit liebäugelnde »Schule von Baku« allerdings zum Erliegen. Wie überall in der UdSSR wurden nun rein auf Funktionalität ausgerichtete, teilpräfabrizierte »Typenbauten« in Mikrorayons zum Baustandard – »die Wucht der Versprechungen einer Moderne, die vielleicht das Wannenbad und die Zentralheizung mit sich gebracht, aber die Welt häßlich und grau gemacht hat.«130 Mit dem Resultat, dass um »Baku und andere Städte herum gigantische Siedlungen schlampig gebauter Armen-Wohnblocks wuchern, die billig und achtlos an den Stadtrand gestellt wurden. In diesen Blocks funktioniert nichts. Türen und Fenster schließen nicht ordentlich, nichts paßt zusammen.«131 Auch Mikayil Huseynov wandte sich ab den 1950ern einer sozialistischen Moderne zu, die abseits der Chruschtschowkas in den nächsten Jahrzehnten einige extravagante Gebäude in Baku realisierte, die den verschiedenen Kapricen der internationalen Nachkriegsarchitektur verpflichtet sind. Das Staatsarchiv von Yuzef Kadimov und Safiga Zejnalova ist ein expressiv komponierter Kubus in der façon des Brutalismus. Das Kongresszentrum Gulustan Palast eines Planungsstabs um Hafiz Amirkhanov und Teodor Shcharinsky kennzeichnet seine monolithische Großform, die wie eine Flunder in der bewaldeten Hanglage platziert, die spezifisch modernistische Rhetorik einer Repetition gleicher Fensterelemente exerziert. Vadim Shulgins Passagierterminal am Hafen
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Rolin: 2013, S. 27 Muratov: 2009 Schlögel: 2001, S. 97 Kapuściński: 1993, S. 140
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zeigt eine »semi-historistische« Moderne mit Säulenarkade, die ein mächtiges ausgerundetes Flugdach trägt. Und sein Cafe Zhemchuzhina wiederum krümmt einen Pavillon als dünnschalige hyperbolische Paraboloide, es ist eine kaspische Variation von Felix Candelas Schalengewölben. Während sich aber gegenwärtig für die Bauten der »Schule von Baku« die Umstände günstig fügen, diese liebgehalten werden, auch weil man sie architekturästhetisch im Stadtbild ungefragt dem Fin de Siécle-Gepränge zuschlagen kann, sie unser Empfinden für Vergangenes anrühren, scheinen im Baku des zweiten Ölbooms, das sich mit seinem Geld leisten kann, die eigene Garderobe zu prüfen, die Würfel für die Sowjetmoderne bereits gefallen. Ihre Gebäude befinden sich, wenn sie nicht bereits abgetragen wurden, meist in einem vernachlässigten Zustand, sind abgewittert, mit Parabolantennen und Klimageräten verunstaltet. Sie ziehen quasi nur mehr ihren Abschied in die Länge. Dies betrifft unter anderem die erstaunlichste Bauleistung dieser Zeit, die längst unwirtschaftliche und darum dem Verfall preisgegebene »schwimmende Stadt« Neft Dashlari, eine gigantische aufgeständerte Siedlung an einem Riff im Kaspischen Meer. Diese erste und größte Offshore-Ölplattform der Welt wuchs in den 1950ern zu einer Industriestadt mit 5000 Bewohnern, die über Brückenviadukte geführt um die 2000 Ölplattformen miteinander verband.132 Weite Teile Neft Dashlaris sind inzwischen nur mehr verlassene Industrieruinen, die im Meer versinken.133 Auch die einst elegante Markthalle Şərq Bazari der Architekten Revazov und Yarinovski, ein Beispiel einer Moderne mit reflektierten regionalen Reminiszenzen von 1983, ist leider inzwischen massiv abgetakelt, mit Planen und Verschlägen eingehaust und verunstaltet. Aus dem Ensemble unterschiedlicher, wie geschlossene Blütenblätter geteilte Schalengewölbe mit Rautenstruktur, die vage an orientalische Palastkuppeln anlehnen, wurde eine verratene, geschundene Gestalt, die sich für ihre schmähliche Behandlung
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Ideologisch überhöht heißt es in einer Sowjetpublikation über Neft Dashlari: »Hier wohnt man in mehrgeschoßigen Häusern, lernt in der Abend-, ja sogar in der Fachschule, einer Filiale der Bakuer Erdölfachschule, ißt frisches Brot aus der eigenen Bäckerei, Mandarinen und Zitronen aus dem eigenen Gewächshaus, trinkt Limonade aus dem eigenen Werk, schenkt den Mädchen Blumen aus der eigenen Gärtnerei. Hier erscheint eine eigene Zeitung. Es gibt einen Kulturpark, ein Filmtheater und vieles andere. Das einzige, was es hier praktisch nicht gibt, das sind kriminelle Delikte und Trinksucht (es herrscht Alkoholverbot) sowie schlechte und streitsüchtige Menschen. Solche duldet man hier nicht. In dieser Stadt auf Pfählen im offenen Meer arbeiten und erholen sich alle gemeinsam, hier wird […] alles gemeinsam erlebt: Freude und Leid, Feste und Unannehmlichkeiten, das Unwetter, das mitunter Tage anhält, bei dem das Kaspische Meer stürmt […]. Kameradschaft, Geselligkeit, Erfahrung und Können, Humor und Ehrlichkeit werden hier ebenso geschätzt wie Mut, Ausdauer, Gewissenhaftigkeit und Pflichtgefühl, die für die Arbeit auf See so unerläßlich sind.«; Agajew: 1987, S. 171-172 »Von den ehemals 5000 Arbeitern sind 2500 geblieben, die meisten Bohrtürme liegen brach oder sind wegen eingestürzter Brücken nicht mehr zu erreichen. Von dem früher 300 Kilometer langen Streckennetz sind nur noch baufällige 45 Kilometer übrig, und als vor ein paar Jahren der Wasserspiegel des Kaspischen Meere dramatisch anstieg, waren der Park und viele Wohnungen bis hinauf in den zweiten Stock überflutet.«; Frank, Arno: »Stalins Atlantis. Schwimmende Stadt Neft Dashlari«, in: www.spiegel.de, 12.11.2012
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nun mit Hässlichkeit rächt. Im Gegensatz zu vielen weiteren Sowjetprojekten steht Şərq Bazari jedoch wenigstens noch.134 Viel Sowjetmoderne wurde in neohistoristische Verkleidungen gesteckt. Denn der Neohistorismus kennzeichnet auch das Baku des 21. Jahrhunderts. Die »›alten Kleider‹, in die sich der neue Staat hüllt«, transportieren die »Sehnsucht der Eliten Bakus nach der blühenden Stadt des ersten Ölbooms und des frühen Sozialismus«135 . Während alte, gemischt genutzte Innenstadtquartiere verfallen und auf den Abriss warten, man beklagen muss, dass »[d]ie Stadt, ungeübt in Schutzmaßnahmen, […] viel zu viel mit sich machen«136 lässt, bindet sich Baku gleichzeitig ständig die Traditionskrawatte, trägt Farben der Vergangenheit auf. Dieser Neohistorismus ist als sentimentale Verstrickung in die eigene Stadtgeschichte eigentlich alles andere als unsympathisch, in vielen Fällen aber aufgrund unzulänglicher Detaillierungsqualitäten untauglich, auch nur annähernd die Freigiebigkeit und Pracht der mischstiligen Bau- und Bildideen des Fin de Siécle einzufangen. Nicht sein grundsätzlicher Anachronismus und seine grundsätzliche bauliche Inauthentizität sind an sich beklagenswert, auch nicht die Tatsache allein, dass man im gegenwärtigen Baku neohistoristische Fassadenapplizierungen aus industrieller Fertigung zur Stadtaufhübschung auf abruchreifen Altbestand aufpappt, sondern wie ambitionslos dies in der Detailbehandlung geschieht, wie selten es dieser Neohistorismus es zu Früchten bringt. Meist gärt der Mischmasch aus allürenfreien Beaux Arts-Paris und nichtssagendem Palladio-Stil nicht einmal zu einem übelgefärbten Getränk agressiven Kitschs auf, dass Irritationsqualität entfalten würde. Am Fuß der Flame Towers, bei den über İçəri Şəhər ragenden Appartementtürmen, in die Heydar Aliyev einst eigenhändig seine Verwandten und ihm gefügige Apparatschiks einquartierte137 , sind diese neohistoristischen Blendfassaden allerdings Bakus 134
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Der Abriss des 1974 von Mikayil Huseynov entworfenen 17-etatigen Hotel Absheron, dass 2009 einem Neubau der Marriott-Kette Platz machen musste, erfuhr immerhin eine literarische Nachbearbeitung. Nachdem den französischen Schriftsteller Olivier Rolin eine Nächtigung im Hotel Absheron 2003 auf die Idee gebracht hatte, in einer Erzählung eine Figur gleichen Namens im Jahr 2009 im Zimmer 1123 des Hotels mit einer 9mm Makarow in den Selbstmord zu schicken, animierte ihn schließlich diese literarische Fantasie, die noch in der Autorenbiografie im Einband dieses Buchs als vorweggenommenes Sterbedatum Eingang fand, dazu, dass er »2009 auf jeden Fall nach Baku reisen und dort lange genug bleiben sollte, um der Fiktion von meinem Tod am Ufer des Kaspischen Meers […] eine vernünftige Chance zu geben, Wirklichkeit zu werden.« (Rolin: 2013, S. 23). Zu seiner Überraschung war da das Hotel Absheron allerdings gerade abgerissen worden. Muratov: 2009 Valiyev, Anar: »Die Geschäftemacher von Baku«, in: Bauwelt, 36/2009 Ryszard Kapuściński erlebte die Vetternwirtschaft beim Besuch eines dieser luxuriösen Wohnblocks, die Heydar Aliyev »für seine Kamarilla erbauen ließ. […] [E]ine[] Gruppe, die tiefe Korruption, Vorliebe für jeden erdenklichen Luxus und überhaupt Sittenverderbnis auszeichneten. Sie trug diese Korruption provozierend offen, ohne die geringste Scham, zur Schau. Diese Appartementblocks […] können als Beispiel dafür gelten. Alijew verteilte die Wohnungen persönlich, nach einer von ihm selbst erstellten Liste […]. Die besten Wohnungen bekamen die engsten Verwandten, dann folgten Cousins und höhergestellte Persönlichkeiten des Alijew-Klans. In diesen Breiten sind, wie vor tausend Jahren, nach wie vor Stammesbande am wichtigsten. Ich habe eines dieser Appartements von innen gesehen. Der Wohnungsbesitzer war im hiesigen Parlament beschäftigt, doch wichtig war nur, daß er Alijews Cousin war. Dieser Mann […] hatte an den Wanden ganze Bat-
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Stadtbild überaus zuträglich. Anstelle einer reizlosen Sowjetmoderne zeigen sie – nach dem Prinzip: »what oil doesn’t pay to fix, it pays to hide«138 – jetzt orientalisierende Zinnenkränze und klassizistische Tempelfronten mit Blendsäulen und Gebälk nach Art des Caesars Palace in Las Vegas, die bei aller Banalität der Fassadengliederung einerseits gut mit den qualitätsmächtigen Beaux Arts-Bauten am Neftchilar Prospekt harmonieren, andererseits den Auftritt der Flame Towers an der Hangkuppe dramatisieren. Allerdings ist das auffallendste Beaux Art-Gebäude in dieser Sichtachse selbst eine neohistoristische Kreation. Das 2012 an den Neftchilar Prospekt aufgeschlagene Four Seasons Hotel des britischen Architekten Reardon Smith ist ein gar nicht mal unbedingt misstrauisch machendes Grand Hotel-Zitat mit garnierenden Paris-Assoziationen wie einer gesimsverzierten Sandsteinfassade, gusseisernen Balkonen und einem türkisenen Mansarddach. An diesen Stadtaufhübschungen nun Fassadenentlarvungen im Namen einer architektonischen Authentizität anzustellen, ist prinzipiell eine unergiebige Übung. Einfach nur zu kritisieren, dass »[d]er Schein der Historizität trügt«, sich hier »[h]inter dem vielen Schmuck und Stuck […] bisweilen moderne Hochhäuser aus Stahlbeton […] verbergen«, hinter den »maschinell gefertigten Sandsteinfassaden heruntergewirtschaftete Plattenbauten«, denen »[e]in halb europäischer, halb orientalischer Touch […] Glanz und Glorie verleihen [soll], die es hier so niemals gab«139 , verpasst außerdem die eigentliche ästhetische Schwäche von Bakus Neohistorismus. Denn auch das luxuriöse Stadtquartier Baku White City, ein neohistoristisches Fertigteil-Paris der britischen Architekturdienstleister F+A Architects und Atkins, beide erfahrene Dubai-Veteranen, ist nicht deshalb ein »Baku im Bleichwaschgang«140 , weil baulich inauthentische Simulationen, wie Wojchiech Czaja sarkastisch schreibt, »eine kunstgeschichtliche Unschärfe [bilden], die hier niemanden zu kümmern braucht«. Sondern weil die halbgare Paris-Simulation der Baku White City im Vergleich mit der Artikulationsfähigkeit und Assoziationsfülle der Paris-Simulationen an der Nizami Straße nicht einen Augenblick mithalten. Sich aus ihnen keine prächtigen Sünden der Inauthentizität, und keine fruchtsamen Säfte spannender Simulakren-Multiplikationen fließen. »The Baku which was built by the First Oil Boom is being destroyed by the Second Oil Boom« 141 Das Baku des 21. Jahrhunderts bedient sich der Hysterieschaukel einer »Dubaization« – einer spektakulären Markttypisierung im internationalen Wettstreit der Städte. Abseits gewisser architekturästhetischer und urbanistischer Nachahmungsversuche und dem Umstand, das auch Bakus Bautätigkeiten der Geldwäsche dienen, ist der Vergleich mit Dubai allerdings ein Missverständnis. Stadtentwicklerisch vergleichbar ist nämlich eigentlich nur der Primat autokratischer staatlicher Initiative und der präsidiale terien elektronischer Geräte stehen […]. Nicht einmal als Rubel-Millionär hätte er diese Dinge im Laden kaufen können, die sind dort gar nicht zu bekommen. […] Von allen Seiten blinzelten ihm die elektronischen Geräte mit ihren bunten Augen zu.«; Kapuściński: 1993, S. 159-160 138 Levine: 2012 139 Czaja, Wojchiech: »Feuerzungen-Bowle in Baku«, in: Der Standard, 4.12. 2014 140 Czaja, Wojchiech: »Baku im Bleichwaschgang«, in: Der Standard, 21.3. 2014 141 Fuad Akhundov; in: Goltz, Thomas: »Building Boom – The New Baku: A Disaster in the Making«, in: Aserbaijan International, 3/2005
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Durchgriff. Denn wie Dubais Königsfamilie Al Maktoum kontrolliert der Aliyev-Clan die Developer, Holdings und Konsortien eines gelenkten Wettbewerbs: »As in Dubai, Azerbaijan’s government, not the private sector, has taken the lead. […] Governmentled development and no public involvement, make decision-making in Baku as rapid as in Dubai.«142 Darüber hinaus ist die »Dubaization«-Ambition aber einem Unverständnis für die unterschiedlichen Ausgangslagen beider Städte geschuldet, wie Stadthistoriker Anar Valiyev präzisiert: zu einem global city-Kandidaten fehlt Baku der globalisierungslogistisch notwendige Weltmeeranschluss, dem Erdöl-Rentierstaat Aserbaidschan eine ausreichende wirtschaftliche Diversifizierung, schließlich ein vergleichbarer Zufluss von ausländischem Kapital in Bakus weltwirtschaftlich antizyklischem Bauaspirationen inmitten einer Finanzkrise.143 Die vorherrschende »perception of urban development among the city elites […] that Dubaization of Baku is the fast shortcut toward becoming a […] global city« beruht auf Fehldeutungen der »geographical situation, financial resources, as well as historical moment, [that] enabled Dubai to emerge as a world city. In contrast, Baku, unfortunately, lacks all three major components.«144 Rein architektonisch ist eine »Dubaization« Bakus aber natürlich vielfach auszumachen. Nicht nur bei der megalomanischen Seifenblase Khazar Islands, der unmittelbarsten dubaistischen Superlativ-Schlagzeile. Mit ihr imaginiert(e) sich der Multimilliardär Ibrahim Ibrahimov, ein Günstling aus der Seilschaft Heydar Aliyevs, eine futuristische künstliche Inselstadt ins Kaspische Meer, die mit dubaihaftem Übertrumpfungsanspruch die Attraktion Palm Jumeirah mit einem auf die Weltrekordhöhe von 1050 Metern einjustierten Azerbaijan Tower und ästhetisch leicht angejahrten Science FictionMatte Paintings verquickt. Die Khazar Islands werden allerdings nicht nur im Angesicht des Palmeninsel-Desasters im Irrealis der Unfinanzierbarkeit verbleiben, auch wenn die Landgewinnungsarbeiten und der Bau erster Appartementtürme angelaufen sind. Eine Chimäre nach dem Dubai-Attraktionsprinzip, bei der alle Zahlen viele Nullen haben und marktschreierische Visualisierungen kleine Medienkarrieren hinlegen.145 142 Valiyev, Anar: »Baku«, in: Cities, 21/2013 143 Während Dubai durch die Weltwirtschaftskrise krachte, begann man in Baku in den späten Nullerjahren anzufahren: »Baku’s rapid development began during a period of world financial and economic crisis, when excess capital rushed to save the economies of Europe and other states. Thus, the only investment that spurred development in Baku was government money received from oil sales.« Die Weltwirtschaftskrise traf Baku nur indirekt über die einbrechenden Rimessen der Auslandsaserbaidschaner: »the financial crisis did not have a great effect on the Azerbaijani economy since it is heavily dependent on oil and gas export. It also did not affect the purchasing power of the Azerbaijani population. Nevertheless, the prices [of real estate] went down because the financial crisis hit Azerbaijani citizens living in Russia«; Anonym, »Baku to the future«, in: The Economist, 21.5.2016 144 Valiyev: 2013 145 »The vision behind Khazar Islands, after all, is not a vision so much as a simulacrum of a vision. The fake islands, the thousands of palm trees and the glass and steel towers […] are all emblems of the modern Persian Gulf petro-dictatorship.« (Savodnik, Peter: »Azerbaijan Is Rich. Now It Wants to Be Famous«, in: New York Times Magazine, 8.2. 2013) Die Aliyevs sind allerdings auch der Palm Jumeirah verbunden. 2010 erwarben sie neun »Waterfront Mansions« für 75 Millionen Dollar, die Fragen zu den geheimen Einkünften der Präsidentenfamilie aufwarfen. Denn: »Ilham Aliyev’s annual salary as president is the equivalent of $228,000, far short of what is needed to buy even the
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Wie Dubais Bauästhetik prägt allerdings auch das neokapitalistische Baku nicht nur das Gigantistische und Glamouröse, sondern es teilt mit den neureichen Golfmetropolen deren Protzigkeit und Kitsch. Vieles versinkt in architektonische Trivialitäten, die zu den »schimmernden Polyesteranzüge[n passen], die hier mit Würde getragen werden«146 . Man findet Allerwiderwärtigstes. Vieles taugt nichts, weniger als nichts. »Die Gegenwartsarchitektur in Baku reicht [fast] nirgends an die besten Bauten der vielen Vorgängerepochen […] heran, sondern bleibt [meist] in tristem Bauwirtschaftsfunktionalismus und Profitmaximierung stecken. So erscheint die Gegenwart als das düstere Kapitel der Architekturgeschichte von Baku.«147 Der Azadliq Platz, der frühere Lenin Platz, ist hierfür ein derbes, die Würde von Lev Rudnevs Regierungsgebäude beleidigendes Beispiel. Mit dem verunglückten MallUngetüm Park Bulvar des britischen Büros Burrows Cave, bei dem sich ein brachiales metallenes Flugdach ungeschickt über eine Kubatur wirft, in die Billig-Imitationen von Norman Fosters Swiss Re Building, der »Gurke« mit triangulierten Gläsern, eingerammt sind. Und dem Baku Hilton der türkischen KM Architecture, einem Eloxal-PostmoderneMonstrum in Tiefblau, das architektonisch dürftig bleibt, aber immerhin ein must-have für den internationalen Auftritt abhakt, denn »no new country dares to think that is has got going until it has a seat at the UN, a national airline, and a Hilton hotel.«148 Abseits dieser missratenen Ambitionsarchitekturen sieht man der aktuellen Bauwut wiederum an, dass es ihr nun um Geld und seine Vermehrung geht. Hunderte hässliche Appartementtürme belagern nun das Weichbild der Stadt, tun ihm Gewalt an. Denn »[a]nders als die Ölbarone von Baku um 1900, die philanthropisch dachten und die Hauptstadt kulturell bereicherten, handeln die Geschäftemacher […] [der Gegenwart allein] nach dem Prinzip der persönlichen Bereicherung«149 .
smallest Palm property. […] The Dubai properties registered in the names of three people with the same names as President Aliyev’s children cost roughly 330 times his annual salary.«; Higgins, Andrew: »Pricey real estate deals in Dubai raise questions about Azerbaijan’s president«, in: Washington Post, 5.3.2010 146 Tarmas: 2008 147 Muratov: 2009; Akhundov liegt angesichts der meist sehr bescheidenen Bauqualität gegenwärtiger Investorenarchitektur und der ineffektiven städtischen Administration richtig, wenn er dem gründerzeitlichen Baku und ihren Ölbaronen nachtrauert: »Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit Wehmut auf die Zeiten des großen Ölbooms zurückzublicken, in denen selbst Leute wie Musa Naghiyev, die primär ihre eigenen Interessen im Kopf hatten, der Bürgerschaft von Baku so viele eindrucksvolle Zeugnisse ihrer Zeit als Geschenk und Inspiration hinterlassen haben.«; Akhundov: 2009 148 Haden-Guest: 1972, S. 127 149 Valiyev: 2009; Für Gebäude wie die unvermittelt in den Beaux Arts-Glanz der Nizami Straße platzierte ISR Plaza des türkischen Architekturbüros Dizayn Grup, eine gnadenlos wuchtige Kubatur im Stil des Postmodernismus von Michael Graves. Bakus Gründerzeitstadt »is now under massive assault by short-sighted, greedy members of the new-moneyed elite of post-Soviet Azerbaijan, who have become so detached from the society at large as to be oblivious of the fact that they are engaged in the willful destruction of the city of Baku by burying it under tons of hideous concrete.« (Goltz: 2005) Die Hässlichkeit dieser Bauten ist dabei aber verhältnismäßig nachrangig gegenüber den baulichen Mängeln: »The most damning – indeed, the most criminal – aspect of the new building boom, however, is the fact that many of the structures thrown up […] are being built of substandard concrete, thanks to the admixture of seashore sand that contains corrosive
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Prächtige Ausnahmen dazu sind die beiden ultimativen Wahrzeichen der Dubaization-Ära, das Heydar Aliyev Center und die Flame Towers. Beide sind international wirkende Stadtmarketing-Landmarks und zugleich Aufbruchssymbole für Aserbaidschans neokapitalistische Transformationsgesellschaft, diastolische Kraftgebärden in »Aliyev’s dream […] to give Baku the surface sheen of a world capital without passing through any of the stages normally required to be one.«150 Die drei Flammenzungen nachempfundenen, 190 Metern hohen Flame Towers, die ikonisch auf Bakus westlicher Hügelflanke platziert, über die gesamte Bucht ragen, veränderten mit ihrer Präsenz nicht nur das Gesicht der Stadt. In der skulpturalen Wucht und intensiven Symbolhaftigkeit der kurvigen »Drillingstürme, die wie eine Flammenkrone über der Stadt lodern«151 , gelingt es, Aserbaidschans Nationalidentität als »Land des Feuers« allegorisch zu stilisieren und zu einem architektonischen Nationalsymbol zu verdichten. Speziell in der nächtlichen Fassadenilluminierung, wenn gesteuerte Lichtspiele mal die Farben der aserbaidschanischen Landesflagge flackern lassen, mal mit rotgelben Flammenschlagen der zoroastrischen Feuerverehrung eine Reminiszenz erweisen. Die 2012 eröffneten, vom amerikanischen Architekturunternehmen Hellmuth, Obata + Kassabaum (HOK), einem marktfähigen internationalen Lieferanten für Mainstream-Gegenwartsarchitektur, unter Leitung von Barry Hughes entworfenen gewundenen Türme wirken als hätte Bakus berüchtigter »Chasri«, der zudringliche Kaspiwind, ihre Flammengestalt angefacht. Und an ihrer architekturästhetischen Kraft ändert grundsätzlich nichts, das dieses Nationalsymbol gegenwärtig einem fiesem, sich byzantinisch gebärenden Autokraten und seiner kriminellen Clique in die Hände spielt, deren Bemühen um europäische Profilierung befeuert. Schade ist nur, dass den Flame Towers das Hotel Moskva Platz machen musste. Ein einst gehobener Hotelkomplex im Idiom der Sowjetmoderne, bei dem Neohistorist Mikayil Huseynov zum »Internationalen Stil« überwechselte. Dass auch für die Errichtung von Zaha Hadids Heydar Aliyev Center ein halbes Stadtviertel planiert und seine Bewohner zwangsenteignet wurden, hat die westliche Architektenschaft dagegen intensiv diskutiert. Wie überhaupt das Heydar Aliyev Center in der Westrezeption als ein Huldigungsbau für einen Diktator angeprangert wird, mit dem sich die Stararchitektin die Hände schmutzig gemacht hat. In der Feuilletonkritik steht dieses Meisterwerk einer die Sinne phosphoreszierenden Freiform-Moderne stellvertretend für den Opportunismus einer »Oligarchitecture«, für die Willfährigkeit der Architekten des internationalen Star-Betriebs, sich zahlungskräftigen Tyrannen anzudienen. Architektonisch ist das Heydar Aliyev Center wahrscheinlich Zaha Hadids nachdrücklichste Realisierung. Wie sie dieses gewaltige, mit gekrümmten weißen Fassadenpaneelen behangene Raumfachwerk zu einer vielfach geschwungenen, Lappen und Kie-
salts. Whole beaches along the Absheron Peninsula have now become quarries exploited by contractors more interested in quick profits than the long-term structural integrity of the buildings (or the people living inside them).«; Ebd. 150 Levine: 2012 151 Czaja: 2014
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men ausbildenden auratischen Skulptur arrangierte, ist ein triumphales Finale ihres algorithmisierend plastischen Spätwerks um das Guangzhou Opera House und den Dongdaemun Design Plaza in Seoul, für das Büropartner Patrick Schumacher die Bezeichnung »Parametrismus« bereithält. Die korrelierend-komplex organischen Freiformen sind eindrucksvollste postdekonstruktivistische Moderne. Wie diese Palme architektonischer Avantgarde allerdings über die faktische Realisationsmacht hinaus zur Ikonisierung des Präsidenten und zur Mythologisierung Heydar Aliyevs als den »Vater der aserbaidschanischen Nation« beiträgt, ist eine schwierige Frage – und wahrscheinlich ist sie auch eine nachrangige gegenüber der faktischen Realisationsmacht an sich. Natürlich ist in der kritischen Diskussion Zaha Hadids als Säuslerin der Diktatoren, darüber, wie ihre expressiven Formfindungen herrschaftslegitimierend eingesetzt werden, eine substantialistische Verteidigungslinie, die das Heydar Aliyev Center allein aufgrund architekturimmanenter Charakteristika als antiautokratisch freispricht, gänzlich unhaltbar. Ganz so als würden gewisse Gestaltungsprinzipien an sich Freiheit beweisen und sich der prinzipiellen ideologischen Indifferenz jedweder Architektur entziehen. Man kann wie Peter Cook die Brillanz des futuristischen Baus bewundern, als »something of a shock to the system. […] [T]he challenge of this building is that you must forget all those reassuring conditions of scale, context, materiality and even – dare one say – normal human experience. It is a unique object that confounds and contradicts the reasonable.«152 Daraus erwächst aber selbstverständlich nicht eine Art Autoimmunität gegen eine ideologische Inanspruchnahme – genauso wenig wie sich beispielsweise Oscar Niemeyers Planstadt Brasilia qua Ästhetik irgendwie hätte verweigern können, auch als Sitz einer Militärjunta zu funktionieren. Man kann immer nur auf eine nichtsubstantialistische Weise die Authentizitätswirkung einer architektonischen Repräsentationsabsicht debattieren, Gelingensbedingungen der ideologischen Zuweisung. Und aus Hadids Stück gebauter Science-Fiction quillt immerhin ein fasslicher Authentizitätsmakel, nämlich die unaufhaltsame ästhetische Diskrepanz zwischen der »Parametrismus«-Avantgardearchitektur und dem Patronat der Präsidentendynastie – gouvernemental wie habituell. In gewisser Weise werden die eigenen Limitationen ersichtlich: die Hadid-Ästhetik und Heydar Aliyev, der Patriarch alter Schule, dem kein Historiker nachsagen kann, dass er sich an die Macht gelächelt hätte, passen nicht zusammen. Die Argumentation muss auch nicht zynisch sein, wenn man die Macht des Faktischen gewinnen glaubt und damit schließt, »[that] we may assume that time is on the builders‹ side. How many visitors to Paris today, so many years after Haussmann’s violent remaking of its urban center, recall the less grand neighborhoods that came before it?«153 Schließlich ist das diktatorische System, in dessen Diensten Baron Haussmann Schneisen durch die französische Hauptstadt schlug, auch längst untergegangen. Das lindert nicht die Tragödien der Zwangsenteignungen, weder im Paris des 19., noch im Baku des
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Cook, Peter: »Zaha Hadid’s Heydar Aliyev Centre in Baku is a shock to the system«, in: Architectural Review, 20.12.2013 Grant, Bruce: »The Edifice Complex: Architecture and the Political Life of Surplus in the New Baku«, in: Public Culture, 26/2014
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21. Jahrhunderts, lässt einen aber immerhin die Aussicht, dass die Brachialmaßnahmen eines Präsidenten unter Faschismusverdacht in der Zukunft ein demokratisches Baku verzieren, dass nicht länger Heydar Aliyev als Stadtheiligen führt. »Baku’s regeneration has been flamboyant. The city has thrown up more glitz and glass than the opening credits of Dallas.« 154 Stefan Niggemeier liegt richtig, wenn er schreibt, dass sich »über weniges […] in diesem Land, in dieser Stadt so ausgiebig philosophieren [lässt] wie über das Wesen und Wirken von Fassaden«155 . Baku ist und war eine Stadt dick aufgetragener Fassadenillusionen, die wirken »als hätte sie jemand gerade erst aus der Verpackung geholt« – und das nicht nur bei den Chruschtschowka-Plattenbauten, auf die klassizistische Sandsteinfassaden, die Repräsentationsinsignien alter kapitalistischer Bürgerlichkeit, geklatscht werden. Und Niggemeier ist auch zuzustimmen, dass »es vielleicht der beste Fassadentrick des Landes [sei]: dass es sich so wenig autoritär anfühlt.«156 Man glaubt in den gentrifizierten, herausgeputzten Flaniermeilen durchaus gut gelaunte Bakuwiner um sich zu haben, nicht die schmerzverschmierten Gesichter einer Diktatur. Man fühlt sich in einer heiteren Stadt mit einer für ein islamisches Land erstaunlich freizügigen Alltagskultur, nicht in einem schikanösen, überregulierten Polizeistaat. Auch wenn man sich zusammenreimen kann, dass die augenscheinliche Sicherheit in Baku nicht nur der allgegenwärtigen Polizeipräsenz geschuldet ist, beziehungsweise nicht allein ihr, da in Regimen wie dem der Aliyevs der Anzahl an Uniformierten all die Polizisten in Zivil aufzuaddieren sind, und dann die Inlandsgeheimdienstler, die die Bakuwiner bespitzeln, einschüchtern, inhaftieren.157 Man meint in der ästhetischen Internationalität der Architektur-Landmarks eine antizipierte Westanbindung zu erblicken, nicht eine nationalistische Lauthalsigkeit, die einen Zaha Hadid-Avantgarde-Bau einfach als Distinktionskapital benutzt und eine mit ihm signalisierte Zukunftsverheißung zur Machtstabilisierung der Aliyev-Präsidialautokratie instrumentalisiert. Und man meint, wenn man entlang der Nobelboutiquen des Neftchilar Prospekt spaziert, vielleicht einige unbedachte Augenblicke lang gar, die Stadt würde in all dem Luxus-Lifestyle nur mehr eine Frage übriglassen: »Could the Kardashians enter Baku even if they really wanted to?«158
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Illis, Ben: »Baku, Azerbaijan: Dubai of the Caucasus«, in: The Telegraph, 24.5.2012 Niggemeier: 2012 Ebd. Die säkulare Verfasstheit der aserbaidschanischen Gesellschaft ist dessen ungeachtet selbstverständlich ein Gewinn. Sie muss allerdings auch als das begriffen werden was sie ist, eine laizistische Einschränkung islamischer Sittlichkeitsverpflichtungen, nicht eine liberale Variante des Islam, wie beispielsweise eine alberne Äußerung Olivier Rolins nahelegt. Er schreibt, dass, »[w]enn alle islamischen Länder wie dieses hier wären, […] wo die Mädchen mit offenem Haar und beinfrei herumlaufen, wo man in jedem schäbigen Lokal Wein und Wodka serviert bekommt, wäre ich bereit, Muslim zu werden.« (Rolin: 2013, S. 10) Ohne recht zu merken, dass er nach Dingen giert, die der Islam auch in Aserbaidschan nicht im Geringsten gutheißt, hier aber nicht einfach verbieten kann wie im Iran. Savodnik, Peter: »Could the Kardashians Enter Baku Even If They Really Wanted to?«, in: New York Times Magazine, 14.2.2013
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Nein. Natürlich fällt die ganze Geschichte auseinander. Natürlich lässt einen das jüngste Baku mit seinem Anspruch auf Grandiosität, mit den transmittierenden Landmark-Architekturen, die aus den Magazinen lächeln, und der dubaistischen Plattitüdengala allein in der Funktion als gebaute Staatsapotheose, als Ausdruck eines aserbaidschanischen Nationalchauvinismus und eines neokapitalistischen Klassenwiderspruchs einen fahlen Geschmack auf der Zunge fühlen und die Gedanken verdunkeln. Es ist anmaßend, mächtig, gleichgültig – ein Spektakel nach Guy Debord, das zeigt, dass an der Wurzel des Spektakels […] die älteste gesellschaftliche Spezialisierung [liegt], die Spezialisierung der Gewalt […], die für alle anderen Tätigkeiten spricht. Es ist die diplomatische Repräsentation der hierarchischen Gesellschaft vor sich selbst, wo jedes andere Wort verbannt ist. Hier ist das Modernste auch das Archaischste.«159 Allerdings lässt sich gleichzeitig einfach auch nicht behaupten, Bakus LandmarkSkyline wären ein Trumpf, der nicht sticht. Die Flame Towers und das Heydar Aliyev Center sind Schlüsselbauten des frühen 21. Jahrhunderts, architektonische Glanzstücke. Nicht weniger als Bakus achtungsgebietende, nachts lichtbetäubte Baudenkmäler des Fin de Siécle mit ihrem historistischen Stilenthusiasmus und ihrem fantastischen und unwirklichen Charakter. Die stadtästhetische Pracht Bakus bringt einen daher zwangsläufig in eine Gewissensmalaise, der man vielleicht nur dadurch ausweichen kann, indem man Baku als das affirmiert, was es nicht sein mag, aber immer ist: eine Stadt der Phantome, Attrappen und Maskeraden. Eine bewusste Schauspielerin, erfüllt von widerstreitenden Kräften.
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»Krause Fassade, das wilhelminische Steingefältel, das nicht aussieht, als sei es entworfen worden, sondern habe sich gebildet unterm Druck eines prunksüchtigen Traums.« 1 Die Kurstadt Wiesbaden erfuhr im 19. Jahrhundert eine einzigartige internationale Blüte. Ihr Bade- und Spielbetrieb machte aus dem unauffälligen Kleinstädtchen, das es am Jahrhundertanfang war, eine der Glanzadressen der feinen Gesellschaft der Belle Époque. Die Residenz des kleinen Herzogtums Nassau, dass 1866 Teil des preußischen Königreichs geworden war, avancierte zum Kurbad der deutschen Kaiser und zur Rentierstadt der Begünstigten des Wilhelminismus. Wie ein Huldigungsbeweis an ihre Zeit entwickelte Wiesbaden in ihren architektonischen Allotrias eine Verfallenheit an die Gefühle, Bedürfnisse und Lüste der wilhelminischen Ära. Zwar liegt der Charme der Stadt Wiesbaden auch an ihrer landschaftlichen Gunst, platziert im Hinterland des rechten Rheinufers, in einer weiten Talmulde zwischen den sanft ins Rheinland abfallenden Südausläufern des bewaldeten Taunusgebirges – dort, wo jene heiße Quellen liegen, die bereits von den Römern für Thermen erschlossen worden waren. Wiesbaden ist eine um- und durchgrünte Stadt, mit Parkanlagen und Alleen, eine »Platanenstadt«, wie Martin Walser sie bezeichnete.2 Weit stärker allerdings fasziniert Wiesbadens maniakalisch repräsentationsbedachte, finassierende Stadtarchitektur, ganz in den unterschiedlichen Papageiensprachen des Historismus gehalten. Sie wirkt wie ein brütendes Gedächtnis der Baugeschichte, geschaffen durch den veränderlichen und überspannten Geist des Historismus, in dessen Zeit der griffbereiten geschichtlichen Imponierästhetiken die Kurstadt ihre den eigenen Triumph bekakelnde architektonische Gestalt fand. Einhundert Jahre später erblickt man zwar weiterhin mit »wachem Auge […] ganze Straßenzüge, aber auch viele herausragende Einzelbauwerke, die an die große Zeit Wiesbadens als Weltkurstadt erinnern. […] Hier ist vieles zu sehen von dem Flair der Stadt, die im 19. Jahrhundert eine Ausnahmestellung in Europa hatte.«3 Wiesbaden ist 1 2 3
Walser, Martin: Finks Krieg, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 299 »Wo gibt es noch eine Stadt, in der die Sonne sich mit so viel Grün beschäftigen kann!«; ebd., S. 299 Diehl, Hildebrand/Weichel, Thomas: Spaziergang durch das alte Wiesbaden. Die Stadt des Historismus, Gudensberg, Hessen: Wartberg 2007, S. 5
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zu einer Viertelmillionenstadt gewachsen und zudem seit 1945, wenngleich wirtschaftlich und kulturell klar im Schatten des nahen Frankfurt a.M., die Landeshauptstadt des Bundeslandes Hessen. Das bundesrepublikanische Wiesbaden hat sich dabei in eine Angestellten- und Beamtenstadt verwandelt. Die parfümiert wirkende Stadtarchitektur umspülen die ästhetischen Bana- und Miserabilitäten der BRD-Massengesellschaft. Die frühere Kurstadt, die einmal ganz in der Kunst aufging, die Verhältnisse beiseite zu schieben, als gäbe es keine Realität, ist zwangsläufig längst ein Bündnis mit dem ästhetischen Realismus eingegangen ist, den kein breitgetretenes Klischee auslassenden Mittelmäßigkeiten der Gegenwartskultur. Die in der Blasiertheit ihres Auftrittes berühmte Wiesbadener Stadtästhetik wird kleininszeniert, indem sie mit jenen Schönheitsindifferenzen kollidiert, die den kontemporären Lebensvollzügen der Deutschen die Form verleiht. Es existiert nur mehr ein verschwommenes »Operettenbild«: »mit Auftritten des Kaisers im Hoftheater, mit Hoteldienern und Pagen in den zur Sommerzeit überfüllten Nobelhotels, mit Kurkonzerten in weiten, alten Parkgeländen. Dazu gehörte eine durch Sekt und Champagner angeheizte Stimmung, etwas manieriert Schlüpfriges […]. Alle dachten an ein leichtes Amüsement, […] unerwartete Spielbankgewinne und gefällige Temperaturen. Eine Stadt mit Treibhausklima, dunstig, vegetativisch, mit zahllosen Quellen, deren heißes, dampfenes Wasser sich in kleine Brunnen ergoß, in deren Nähe sich ein Geruch von gekochten Eiern breitmachte, ein Geruch von trüben, abgestandenen und mineralhaltigen Essenzen. […] Aus Tanzsaalpalästen, von milchigem rosa Licht ummantelt, klangen Spielwalzen-Cancans, und aneinandergeschmiegte Paare verschwanden flüsternd in plüschigen Absteigen, wo die dunkelroten Samtportieren den ganzen Tag zugezogen blieben.«4 Hanns-Josef Ortheil, der in seinem nicht weiter faszinierenden, flattrigen BRD-80erJahre-Roman Agenten den zeittypischen hedonistisch-egoistischen Yuppie-Lebensstil dekuvriert, seinen Karrierismus aus einem Geist der Langeweile und des Zynismus, bezeichnet das damals gegenwärtige Wiesbaden, in dessen verblichenen Fin de SiécleAmbiente er passenderweise das Geglitzer einer Yuppie-Schickeria und das betäubtes Dasein ihrer einzelkämpferischen Aufsteiger und Selbstdarsteller matt strahlen lässt, als Stadt, die, zumindest ästhetisch, weiterhin in vergangenen Zeiten spielt. Als eine »Stadt ohne Jugend, ein verschlafen mondänes Exil für alle, die […] nach einem unterhaltsamen Leben ohne Ekstasen verlangten«5 . Nur mehr die stadtästhetischen Resultanten des überspannten Repräsentationsbeharren des Historismus erinnern an das Wiesbaden, das bereits 1852 »erstmals mit dem Zusatz ›Weltkurstadt‹ [warb], einem Titel, den man sich mehr oder weniger selbst verliehen hatte«6 , der in Anbetracht ihres illustren internationalen Publikums, der luxuriösen kurstädtischen Infrastruktur, der Bäderarchitekturen, der Spielbank und der Grand Hotels aber eine nicht unangebrachte Selbsteinschätzung darstellte. Die Übernachtungsbilanzen der späten Kaiserzeit nannten 200.000 jährliche Kurgäste. Im Amü-
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Ortheil, Hanns-Josef: Agenten, München: Btb 2010, S. 32-33 Ebd., S. 33 Gerber, Manfred: Himmlische Türme. Die Marktkirche Wiesbaden, Bonn: Monumente Publikationen 2012, S. 44
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sementbetrieb des Kurbezirks verbrachten mit den Kaisern Wilhelm I. und Wilhelm II. Teile der nationalen Aristokratie die Saison, die Kurlisten verzeichneten aber auch französischen und russischen Adel. Speziell um die führenden Familien des Zarenreichs bildete sich damals, als der »Reiseführer nach Westen […] noch keine Grenzen [kannte], es sei denn die des Geldes«7 , in den deutschen Kurstädten eine russische Bädergesellschaft heraus. Um diese aristokratische Kristallisation der Gesellschaft scharte sich das durch Liberalismus und Industrialisierung erstarkte, an seiner Spitze zu Reichtum gelangte Bürgertum, das aus der tieftrüben Luft der industriezeitalterlichen Städte an die grünen, klimatisch milden Taunushänge flüchtete. Die kaiserliche »Gunst war ein Wirtschafts- und Wachstumsfaktor ersten Ranges.«8 Wobei Wiesbaden seine Anziehungskraft für ostelbische Pensionäre, russische Großfürsten, rheinländische Industriemagnaten und amerikanische Tycoons, »die so gichtbrüchig nicht waren«, natürlich weniger den heilsamen Bädern in den Kuranstalten verdankte, als der Elfenbeinkugel in der Roulettetrommel, den vortrefflichen Hotels, der feinen Gesellschaft und der Kaiserstandarte, die man jährlich im Mai, wenn seine Majestät die Kurstadt besuchte, über den Prachtgebäuden hisste.9 Die international attraktive und international geprägte Bade- und Rentierstadt nahm im 19. Jahrhundert eine nicht nur für Deutschland einmalige Entwicklung – und das nicht nur im Vergleich zu den mit Wiesbaden um die zeittypische zahlungskräftige und vergnügungslustige in- und ausländische Reisegesellschaft rivalisierenden Kurstädten mit luxuriöser Strahlkraft: den gesellschaftlich exklusiven europäischen »Modebädern« im belgischen Spa, in Karlsbad und Marienbad, in Baden-Baden, Bad Kissingen und Bad Homburg. Denn Wiesbaden wandelte sich seit der Errichtung des Kurhauses 1810 von einem unansehnlichen Landstädtchen mit nur 2.500 Einwohnern, einer provinziellen Residenzstadt ohne Residenz (– denn die nassauischen Fürsten regierten noch in ihrem Barockschloss im nahen Briebrich am Rhein), bis 1900 in eine Großstadt mit 100.000 Einwohnern. Die stürmische Bautätigkeit – »Wiesbaden war bis 1914 eine permanente Baustelle, denn die Stadt wuchs um immer neue Straßenzüge«10 – brachte die Stilvielfalt des Historismus in allen seinen unterschiedlichen Phasen und künstlerischen Entwicklungen zur Ausbildung, lässt die Kurstadt seither wie ein Stil- und Variantenverzeichnis der Baukunst des 19. Jahrhunderts erscheinen. Wiesbaden war nicht nur die heimliche Lieblingsstadt von Kaiser Wilhelm II., sie wurde ein architektonisches Lieblingskind dieser widersprüchlichen Zeit, die in der in Lächerlichkeit ausartenden Militärund Geschichtsverliebtheit des deutschen Kaisers, der sich mit seinem säbelrasselnden Schwadronieren und den Briefen, die nicht gerade dufteten, regelmäßig auf dem internationalen Parkett blamierte, ihr Mentalitätsmuster fand und deren Nachgeschichte in 7 8 9
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Schlögel, Karl: »Als in Ems der Rubel rollte«, in: Die Zeit, 30/1984 Gerber, Manfred: Kurhaus Wiesbaden. Kaleidoskop eines Jahrhunderts, Bonn: Monumente Publikationen 2007, S. 18 »Zu den Annehmlichkeiten der Wiesbadener Brunnenkur zählten wie selbstverständlich Opernabende, Roulette, Einkaufsbummel und die Heckenwirtschaften im benachbarten Rheingau.«; Boller, Wolfgang: »Gestörtes Ideal. Das Heilbad spielt eine Nebenrolle«, in: Die Zeit, 40/1977 Diehl/Weichel: 2007, S. 54
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die unverhüllte, unvergleichliche Barbarei des Nationalsozialismus führte. Einer Zeit, die wie Volker Ullrich bilanziert, die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« als Hauptcharakteristikum bestimmte: »Neben einer überaus dynamischen, innovativen Industriewirtschaft finden wir die monströse Spätblüte einer neoabsolutistischen Hofkultur; neben erstaunlichen Leistungen in Wissenschaft und Technik eine weitverbreitete Uniformgläubigkeit, die Vergötzung alles Militärischen; neben Tendenzen zur Parlamentarisierung und Demokratisierung […] das Liebäugeln mit der Militärdiktatur; neben einer lebendigen avantgardistischen Kulturszene die plüschigste Salonkunst; neben einer erstaunlichen kulturellen Liberalität die kleinlichsten Zensurschikanen und eine harte Klassenjustiz«11 . Nachdem das preußische »Steinerne Berlin«, die späte Hauptstadt des spät aus seinen dynastischen Partikularismen vereinten Deutschen Kaiserreichs, mit den Kriegsverlusten 1945 seine Baugestalt des 19. Jahrhunderts eingebüßt hat, nimmt Wiesbaden mit seinem dichten Bestand an historistischen Prachtbauten, seiner reich mit Inhalt gesättigten, vielsinnigen Architektur, die allein in ihrer Fülle übertäubt, den Rang der stadtbaukünstlerisch wichtigsten erhaltenen deutschen Stadt der Gründerzeit und des Wilhelminismus ein. Sie ist eine grandiose Gesamtschau der künstlerischen Variationen historistischer Baukunst, die als eine Architektur der Causeure auch in Wiesbaden darauf brannte, sich mitzuteilen – und was sie mitteilte, waren nicht nur überstarke ästhetische Empfindungen für die Künste vergangener Jahrhunderte, hinter denen sie sich als architektonische Fantasiewirklichkeiten in einem Schleier verführerischer kultureller Allegorien verpalisadierten. Wiesbadens nachmittelalterliche städtische Entfaltung kleidete sich zunächst in antikisierender Gediegenheit, in einer »selbstverständliche[n] Bindung an den heimischen und gleichwohl bädertypischen Klassizismus […]. Der ungeahnte Aufschwung durch ein finanziell unabhängiges […] Bürgertum verschaffte dem akademischen Klassizismus der Berliner Schule, ebenso […] [wie] der Renaissance in Wiesbaden ungehinderten Zugang«12 , was Berthold Bubner in deren Reichtum an »symbolisierender Baugliedern« wie Säulen, Architraven und Gesimsen festmachte, die in die parkähnliche Umgebung malerisch eingepasst wurden. Zwar nicht ausschließlich als schwanenweiße Ästhetik der Distanz, jedoch von Selbstbeherrschung gekennzeichnet. Neben einzelnen Schönheiten des romantischen Historismus, der mit seiner sich in die Nacht der Zeitalter verlierenden Kunst Ahnungslandschaften für von Unbegreifen erfüllte Augen schuf, ist es aber in erster Linie der kaiserzeitliche Späthistorismus, der Wiesbadens Stadtarchitektur bestimmt. Dieser entsprach der »Leichtigkeit kurstädtischen Seins«13 , übertrug allerdings zugleich Geistes- und Gemütszustände der Wilhelminischen Zeit in pathetisch symbolkräftige Selbstdarstellungsarchitekturen. Denn »[d]as Kaisertum kaprizierte sich zur Verdeutlichung seines Machtanspruchs bei Reichs- und Staatsneubauten auf die Nachbildung friderizianischer Barockarchitek-
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Ullrich: 2010, S. 14 Bubner: 1983, S. 71-72 Gerber: 2012, S. 42
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tur« gleichermaßen wie das »Großbürgertum mit seinen zu Reichtum gekommenen Parvenüs«14 . Der Wiesbadener Späthistorismus ist eine beifällige, Frieden mit den Verhältnissen schließende Architektur, der wilhelminischen Nationalidee und dem steigenden Adrenalinspiegel verpflichtet. Der Festtagsprunk der »Kaisertage« bestimmte seine Gestalt. Nicht nur im Zweifel, sondern in der Regel, entschied sie sich entgegen der eigenen Vergänglichkeitserfahrung, die das 19. Jahrhundert ein geschärftes Empfinden der geschichtlichen Situation und der geschichtlichen Gemachtheit entwickeln ließ, für die diffusen Verheißungen einer im historischen Rückgriffen gefüllten Repräsentativität. Die ästhetische Inauthentizität des Historismus ist daher immer eine der architektursymbolischen Autoindoxinationen, der illusionären, fiktiven Bemühungen, die irrlichternd gegen die eigene Geschichtsbetrachtung verstießen, bei denen alles wankte und wackelte. Die febrilen Beschwörungsformeln von Größe und Herrschaft entwickelten hierbei ihre poetischen Möglichkeiten letztlich oft gegen ihr eigenes Kriterium und Prinzip, in völliger Verkehrung dieser, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wenn die »latente Legitimationskrise der Monarchie im Zeitalter der entstehenden Massengesellschaft […] in den trutzigen und einschüchternden Staatsdenkmälern der wilhelminischen Ära ihren anschaulichen Ausdruck«15 fand. Als ein halbaufrichtiges, halbbewusstes, ein über die Stränge schlagendes Pathos, das karikatural wird. Und das nicht nur bei den aufgefädelten Üblichkeiten der späthistoristischen Fassadenfluchten, dem inflationären Spiel stilarchitektonischer Stapelware mit ihren eingeschliffenen Ungenauigkeiten und einem plumpen Materialismus, der den bürgerlichen Aufsteigern in ihrer natürlichen Ungeduld verziehen ist. Akzentuiert werden diese ästhetische Inauthentizitätserfahrungen in der Gegenwart durch eine an und für sich triviale Tatsache: die Banalität der bundesrepublikanischen Alltäglichkeiten der nunmehrigen Verwaltungsstadt Wiesbaden, einer alles in allem bedächtigen Stadt, deren innerstädtische Straßenzüge nicht gerade zappeln wie Bazillen. Mit diesem städtischen Gestaltwandel, der Annullierung der Titulatur der »Weltkurstadt«, ist die Realität eingefallen. In den Caféhäusern der Innenstadt sitzen nun Ministerialbeamte, die sich auf Staatskosten gegenseitig zum Mittagessen einladen, »gekleidet nicht ohne Ambition, aber eben doch von Karstadt«16 . Im Kurpark flanieren Pensionistengruppen in Reisebusstärke mit den unvermeidlichen Gesundheitsschuhen und Velourswesten in Altherrenbeige, diesmal C&A. In der Spielbank riskieren nun übermütige Angestelltenexistenzen beim Roullette ihre teilabbezahlten Doppelhaushälften. Das Geld zeigt sich in den marbellaverbrannten Gesichtern graumelierter Cabriofahrer in Barbourjacken samt Gattinnen mit Piccolöchen. Eine derartige, kursierende Allgemeinplätze an sich ziehende Beschreibung scheint jenseits der Ressentimentschwelle, sie wirkt despektierlich und wie eine leichtfertige Relativierung der schreiend ungerechten, illiberalen Klassengesellschaft des gewalt-
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Schabe, Peter: Felix Genzmer. Architekt des Späthistorismus in Wiesbaden, Wiesbaden: Historische Kommission für Nassau 1997, S. 282 Brix/Steinhauser: 1978, S. 253-255 Walser: 1996, S. 11
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und autoritätsfixierten deutschen Kaiserreichs gegenüber der weit weniger ungerechten, viel liberaleren Klassengesellschaft der Bundesrepublik. Wie konservativ-kulturpessimistische Genreszenen einer modernen, der höheren Werte entkleideten Welt, die ihr Erbe an eine vulgarisierte, hässliche Massengesellschaft verspielt hat. Das ist natürlich nicht damit gemeint. Auch ästhetisch will die Beschreibung nicht abwertend sein. Denn die weltkurstädtische Wiesbadener Stadtarchitektur erfährt durch diesen Einbruch alltagskultureller Mittelmäßigkeiten mitunter eine Schärfung ihrer Wirkungsqualitäten. Nicht nur, weil die eingelösten Schönheitsversprechen des Historismus im Angesicht der massenkulturellen ästhetischen Halbheiten deutlicher leuchten. Der überstrapazierte, deklamatorische Repräsentationslack des Historismus wird dadurch in seiner illusionistischen Inauthentizität markiert. »[E]ine Stadt voller Menschen mit überzüchteten Sinnen, eine mit den Jahrzehnten weltfremd gewordene Insel für guten Geschmack, an dem man mit distinguierter Langeweile festhielt, ein leicht verlotterter Jungbrunnen mit Badehäusern aus der weichen Epoche des Jugendstils« 17 Die Stadtgeschichte Wiesbadens beginnt in der Antike mit dem Römerkastell Aquae Mattiacorum, einem rechtsrheinischen Vorposten der Legionsstadt Mainz. Aus einem ersten Militärlager in augustinischer Zeit entwickelte sich eine Zivilsiedlung, die Thermalbäder über den heißen Quellen errichtete (– drei Thermenkomplexe im Stadtgebiet sind archäologisch fassbar). Nachdem die Germanen im 4. Jahrhundert den rechtsrheinischen Limes überrannten, wurde in den Umwälzungen der Völkerwanderungszeit aus dem antiken Aquae Mattiacorum das frühmittelalterliche Castrum Wisibada des fränkischen Königreichs. Zwar wurde das dem Erzbistum Mainz zugehörige Castrum unter den Stauferkaisern 1232 kurzzeitig zu einer Reichsstadt erhoben, bis es die Grafen von Nassau verstanden, sich Wiesbaden anzueignen, doch blieb die kleine Ackerbürgerstadt, für die eine Wiederaufnahme des Badebetriebs für das 13. Jahrhundert belegt ist, über das ganze Mittelalter im Dunkel versunken, es gibt wenig Überlieferung. Die Reformation erreichte Wiesbaden 1540 unter Graf Philipp II. von NassauIdstein, der das lutherische Bekenntnis einführte. Zwar bekundete die Grafschaft ihre Neutralität im Konfessionskonflikt, Wiesbaden geriet aber dennoch zunächst in den Schmalkaldischen Krieg, dann in den Dreißigjährigen Krieg hinein und wurde beim Versuch der kaiserlichen Truppen, das Nassauer Land zu rekatholisieren, mehrmals geplündert und gebrandschatzt.18 Zum Zeitpunkt des Westfälischen Friedens 1648 lag die Stadt längst in Trümmern, die Kriegshandlungen »ließ[en] vom mittelalterlichen Wiesbaden nur noch Name und Verlauf einiger Gassen in der Altstadt übrig und erst
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Ortheil: 1989, S. 33 Im Schmalkaldischen Krieg zwischen dem Kaiser und den protestantischen Landesfürsten verwüsteten die durchziehende kaiserliche Armee 1547 ganz Wiesbaden in einer Brandschatzung. 1561 folgte eine weitere Feuersbrunst. Im Dreißigjährigen Krieg fiel zunächst 1620 Soldateska des spanischen Generals Spinola ein, 1623 Truppen der katholischen Liga, 1627 wütete der WallensteinObrist Adam von Görzenich mit seinen Banden. 1639 rückten bayerische Landsknechte ein, 1644 und 1645 die Franzosen. Dazu wütete die Pest.
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die Verlegung der Residenz der Nassauer Fürsten in das 1744 fertiggestellte Biebricher Schloß verhalf der Stadt zur weiteren Entwicklung«19 . Im Jahre 1806 vereinigten sich die Fürstentümer Nassau-Usingen und NassauWeilburg im Napoleonischen Rheinbund zum Herzogtum Nassau, einem französischer Satellitenstaat, der 1813 mit den Befreiungskriegen gegen Napoleon allerdings seine Unabhängigkeit durch einen Übertritt ins Lager der Alliierten wahrte. Wiesbaden wurde zur Hauptstadt ernannt, ihr Wachstum mit fürstlichen Baugnaden, der Errichtung des Kurhauses und der Spielbank, bald wichtigster Wirtschaftsfaktor, stimuliert. Wenngleich erst 1839 Herzog Adolf vom Biebricher Schloss in die junge Hauptstadt übersiedelte, nahm das Kleinstädtchen Wiesbaden urbane Züge an: »Als die Gassenreinigungsordnung von 1805 bestimmte, daß kein Vieh mehr frei auf den Straßen umherlaufen dürfe […] und 1811 das Baden, Waschen und Bleichen im Großen Weiher hinter dem Kurhaus streng verboten wurde, befand sich der Bade- und Bauernort […] auf dem Wege, städtische Gepflogenheiten anzunehmen.«20 Ein berühmter früher Kurgast hieß Johann Wolfgang von Goethe, der in den Saisonen 1814 und 1815 die Heilbäder aufsuchte, hier Gedichte schrieb, Einladungen des Fürsten wahrnahm, Ausflüge in den Rheingau unternahm. Sein auf die nahen Napoleonischen Kriege gemünzter Satz, Wiesbaden sei »ein ganz eigener schöner Platz, indem alle Radien der jetzigen Weltbewegungen hier zusammenlaufen«21 , ließ sich bald auf die aufblühende Bäderstadt selbst beziehen. 1866 erfolgte, provoziert durch Herzogs Adolfs Bündnispolitik mit Österreich im preußisch-österreichischen Einigungskrieg, die Okkupation des Herzogtums durch Preußen. Die Eingliederung in das preußische Königreich erfolgte ohne Gegenwehr. Der Regent, der später im Alter Großherzog von Luxemburg werden sollte, und seine Regierung mussten das nun von der Landkarte verschwindende Nassau verlassen. Das grundsätzlich nur schwach ausgeprägte Landesbewusstsein der Nassauer, das zudem durch ein seit dem Revolutionsjahr 1848 angespanntes Verhältnis der Untertanen zu ihrem Fürsten belastet war22 , war da bereits durch den Zuzug unter- und wurde bald durch ein reichsdeutsches Identitätsgefühl überspült, nicht zuletzt durch die jährlichen Aufenthalte Wilhelms I. in Wiesbaden entwickelten sich die Verhältnisse auf diesen zu.23 19 20
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Bubner: 1983, S. 14 von Hase, Ulrike: »Wiesbaden. Kur- und Residenzstadt«, in: Ludwig Grote (Hg.), Die deutsche Stadt im 19. Jahrhundert. Stadtplanung und Baugestaltung im industriellen Zeitalter, München: Prestel 1974, S. 129; »In Wiesbaden fand sich um 1800 kaum eine Attraktion, ja nicht einmal eine Gelegenheit zum Hasardspiel, dessen Faszination die Modewelt derartig überwältigt hatte, daß sie während eines Kuraufenthaltes nicht darauf verzichten wollte.«; Ebd., S. 129 Goethe, Johann Wolfgang von: Weimarer Ausgabe, IV. Abteilung, Band 26: 24. Mai 1815 – 30. April 1816, Weimar: H. Böhlau 1887, S. 30 Im Revolutionsjahr 1848 richteten die Bürger »Neun Forderungen der Nassauer«, darunter nach Presse- und Versammlungsfreiheit und nach einer Parlamentarisierung, an ihren Herzog. Adolph musste seinen Untertanen die Bürgerrechte zugestehen – »[u]nter dem Druck einer wütenden, teilweise bewaffneten Menge, die sich auf dem Schloßplatz versammelt hatte. Schritt für Schritt, wie es die Lage zuließ, nahm der Herzog die Reformen [jedoch] wieder zurück.«; Gerber: 2012, S. 19 »Das wirkte sich bis in die jüngste Geschichte aus, als das 1946 gegründete Bundesland lediglich Hessen genannt und der Bestandteil Nassau weggelassen wurde. Nahezu alle anderen, durch die
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Mit der deutschen Reichseinigung unter preußisch-hohenzollerischer Hoheit, die dem Kaiser die Funktion einer Integrations- und Symbolfigur in der inneren Nationsbildung zuwies, wuchs über den Reichsnationalismus auch der Rang Wiesbadens als nun kaiserliches Kurbad. Die dreißigjährige Regierungszeit Wilhelms II. von 1888 bis 1918 brachte der »Weltkurstadt« dann ihren Zenit. Ausschlaggebend waren die jährlichen Mai-Aufenthalte Wilhelms und seines wie aus der Zeit gefallen wirkenden spätabsolutistischen Hofstaats. 29 Besuche zwischen 1890 und 1914 sind belegt. »Wilhelm II. war Veranstalter, Huldigungsobjekt und ranghöchster Zuschauer in Personalunion. Ein zu spät gekommener Barockherrscher.«24 Eine Liaison, die sich im Nachhinein auf dunkle, sich selbst gefährdende Gründe stützte, fand der für seine Selbstüberschätzung und Präpotenz berüchtigte, aber auch auf Kriechertum absehende Kaiser doch in den Unmäßigkeiten der entschieden machtbejahenden Architektur des Neobarock, den Wiesbaden, vor Gold und Purpur strotzend, für ihn und seine Kamarilla als gebaute Kaiserverehrung bereithielt, ideale Bestätigung. Wilhelm fand sich in den Gefühlen dieser Inszenierung wieder, traf sie doch seine weiche Stelle, seine eigene Inszenierungslust, die »Historiengemälden des 19. Jahrhunderts [glich]: überladen mit schwülstigem Symbolismus, in dem sich Stürme mit Strahlen erlösenden Lichts abwechselten, wo alles ringsumher dunkel war und erhabene Gestalten über den kleinen, alltäglichen Streitigkeiten schwebten«25 . Die prächtige, dem wilhelminischen Kunstgeschmack verpflichtete Kurstadt ließ den bei Fest- und Militärparaden wie seinen Lust- und Spazierfahrten mit Hurrarufen bedachten Wilhelm glänzen wie auch umgekehrt Wilhelm mit seiner integrativen Kraft ihr Glanz verlieh. Denn »[d]er Kaiser wirkte wie ein Magnet auf die deutsche Elite […]. In diesem Kraftfeld lag Wiesbaden. Vor allem, wer seine Karriere schon hinter sich hatte, fand hier das Milieu, um mit Seinesgleichen zu verkehren. Pensionäre und Rentiers, Leute, die mit ihren Kapitalerträgen einen ruhigen Lebensabend genießen wollten«26 . So erhielt Wiesbaden die Bezeichnung »Pensionopolis«. Die Obsessionen hinterherrennende Größenforderung des Deutschen Reichs, seiner von Geltungs- und Profilierungssucht zerfressenen Gesellschaft, die sich in der offensiven Weltpolitik mit Flottenrüstung und Kolonialerwerb zeigte und zunehmend eine politische Selbstisolierung herbeiführte, ebenso jedoch im gespreizten Gerede Wilhelms, den einem königlichen Protokoll so peinlichen rhetorischen Entgleisungen seiner vielen Zornreden, und seinem Wiederbeleben eines spätabsolutistischen Hofzeremoniells, materialisierte sich auch in Wiesbadens Stadtplanung und Architektur. In der Prunkhaftigkeit der Repräsentationsbauten und sogar im Ausbau der städtischen Kanalisation, die man »gleich für doppelt so viele Einwohner an[legte] wie die Stadt besaß. Wiesbaden befand sich in einem Schwebezustand zwischen kluger Voraussicht
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Alliierten künstlich geschaffenen Länder […] führen dagegen einen historisch begründeten Doppelnamen«; Kiesow: 2005, S. 23 Gerber: 2007, S. 34 Clark, Christopher: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München: Pantheon 2008, S. 217-218 Gerber: 2007, S. 42
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und Größenwahn. Aber schließlich war man ja die größte und nobelste Kurstadt des Reiches.«27 Die verzerrte Selbstbespiegelung der Wilhelminischen Zeit, ihre innere, unter dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungsdruck knirschende Klassenspannung28 , und ihre hasadeurhafte Außenpolitik, dieses diffuse und gefährliche »Mit- und Gegeneinander von offiziösem, gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Imperialismus«, der sich in »bramarbasierenden Kaiserreden, […] hektischen Aktionismus, der auf schnelle, im Inneren ummünzbare Erfolge aus war, […] [einem] Hang zu politischen Allein- und Sondergängen«29 zeigte, fand sich in Kaiser Wilhelm II. wieder. In seinen narzisstisch allürenhaften Zügen, die seine Einfühlungsgabe und Urteilsfähigkeit beeinträchtigten, in seinem Militarismus und seiner Geringschätzung alles Zivilen, seinem Hass auf die Juden und seinen ausufernden Weltmachtfantasien, die nicht vergaßen, die alte Feindschaft mit den Franzosen zu verzinsen, vertrat Wilhelm Haltungen und Ideen, die zwar immer wieder in einen Skandal gerieten und ihn international lächerlich machten, im Ganzen allerdings die labilen Stimmungslagen seiner Untertanen trafen und daher »die Tendenz [festigen], den Kaiser als die Symbolfigur größerer, historischer Zwänge zu betrachten.«30 Das wilhelminische Deutschland, diese Zeit überzogener Selbstinszenierungen und depressiver Verstimmtheiten, war seinem Kaiser, diesem aufbrausenden Kleinkrämer, durch und durch mentalitätsverbunden – bis hin zur Manie seiner Untertanen, sich einen Kaiser-Wilhelm-Bart zu zwirbeln.31 Auf singuläre Weise verbanden sich Nationalbewusstsein und Architektur in der dämonischen Figur Wilhelms, »eine[r] narzißtisch gestörte[n] Persönlichkeit, die ihre Unsicherheit durch Kraftmeierei zu übertönen suchte, gehemmt und unbeherrscht. Unstet und taktlos, für Schmeicheleien stets empfänglich, getrieben von einem ganz unpreußischen Hang zum Theatralischen und zur donnernden Rhetorik, dabei erfüllt von einem starken monarchischen Sendungsbewußtsein«32 .
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Ebd., S. 39; »Die Typhusepidemie von 1885 hatte deutlich gemacht, wie notwendig eine Schwemmkanalisation für Wiesbaden war. Schon allein der Ruf, dass auch in der Kurstadt eine Seuche denkbar war, bedeutete eine Gefährdung der wirtschaftlichen Grundlagen Wiesbadens.«; Diehl/Weichel: 2007, S. 73 Die inneren Widersprüche waren freilich bereits durch Reichsgründer Bismarck in diese angelegt: »vieles, woran das Kaiserreich nach 1890 laborierte, war bereits in Bismarcks Schöpfung enthalten […]: die Illiberalität der inneren Zustände, der Antiparlamentarismus, die Neigung, gesellschaftliche Gruppen als Reichsfeinde auszugrenzen, das Liebäugeln mit dem Staatsstreich«; Ullrich: 2010, S. 143 Ullmann: 1995, S. 159 Clark: 2008, S. 10 »Der junge Kaiser verkörperte in der Tat in einem ganz ungewöhnlichen Maße die widersprüchlichen Befindlichkeiten einer Nation, die innerhalb kurzer Zeit zur führenden Wirtschaftsmacht in Europa aufgestiegen war: Er war unsicher und arrogant, intelligent und impulsiv, vernarrt in die moderne Technik und zugleich verliebt in Pomp und Theatralik.«; Ullrich: 2010, S. 144 Ebd., S. 112; Wilhelm gründete sein Kaisertum »auf die feste Überzeugung von der transzendenten Qualität seines Amtes. Wilhelm machte kein Hehl aus seiner erstaunlich sakralen Auffassung von der Kaiserkrone […]. Wilhelms Glaube, er sei der von Gott berufene Vermittler zwischen Gott und seinen Untertanen, war von absolut zentraler Bedeutung für seine Ansicht, es sei die ureigenste
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Auch wenn Wilhelm, der in der berüchtigten »Rinnsteinrede« seinen reaktionären Kunstgeschmack zum Ausdruck gebracht hatte, in Wiesbaden nicht als unmittelbarer Bauherr auftrat, findet sich das arrogante und zugleich bestätigungsbedürftige kaiserliche Naturell im kurstädtischen Späthistorismus wieder. Die Machtverbissenheit, der Aggressionstrieb und der muffige Traditionalismus, der in monarchischem Monumentalismus seine selbstbesessene Reichsvorstellung zeigte. Nicht von ungefähr präferierte Wilhelm bei Staatsbauten neben plastisch-schwülstigem Neobarock eine den hohenstaufischen Pfalzarchitekturen entlehnte Neoromanik, um durch ihre »sinnbildliche Kraft […] die zeitgenössische Kaiserherrlichkeit, die hohenzollerische Monarchie eine Bestätigung erfahren [zu lassen]. Die Neuromanik wurde zum Ausdrucksmittel des eigenen Machtgefühls, zum Mittel der Repräsentation und der Suggestion gegen das Volk […] [um] die vaterländische Gesinnung und die Treue zu Kaiser und Reich zu befestigen.«33 Wilhelms reaktionäre Abwehr der ihn umgebenden Verhältnisse über einen neuabsolutistischen architektonischen Herrschaftsanspruch musste allerdings natürlich zwangsläufig artifiziell und inauthentisch bleiben, denn die »Vorherrschaft der freien Stilkonkurrenz […] wird auch dort bestätigt, wo man die Baukunst auf einen nationalen Charakter festlegen wollte«, wie Brix und Steinhauser unterstreichen. Sie geriet zu einem »ohnmächtigen Versuch, im Bereich offizieller Staatskunst der Architektur ihre einstige normative Verbindlichkeit zurückzugewinnen«34 . Schließlich lief aber dann 1914 nicht nur der Symbolismus der wilhelminischen Baukunst heiß. Bereits in dem nationalistischen Überschwang des Kriegsausbruchs schlug der wirtschaftliche Niedergang Wiesbadens an, denn das Militär ließ »aus paranoider Angst vor Spionen unmittelbar nach der Kriegserklärung sämtliche Kurgäste, selbst die aus dem neutralen Ausland, […] ausweisen. […] Es dauerte nicht lange, da war aus der mondänen, weltläufigen Kurstadt eine enge, beklemmende Lazarettstadt geworden«35 . Und nach der Kriegsniederlage 1918 rückte die Französische Armee in Wiesbaden ein. In den Waffenstillstandsbedingungen war die Stadt als Brückenkopf für das besetzte Rheinland definiert worden. Bis 1930 patrouillierten zuerst französische, dann britische Regimenter. Die Rheinlandbesatzung, Putschisten einer separatistischen »Rheinischen Republik«, gekappte Zugverbindungen und Einreiseschikanen ruinierten die Wiesbadener Kurwirtschaft. Niederbrüche und Krisen bestimmten wie überall in der Weimarer Republik die 1920er: »Viele der Wiesbadener Rentiers, die vor allem von Zinseinkünften lebten, verloren ihr Geld während der Inflation, falls sie die nicht schon zuvor
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Aufgabe des Kaisers, in seiner Person die auseinanderlaufenden Interessen der Regionen, Klassen und Konfessionen zu konzentrieren und miteinander zu versöhnen.«; Clark: 2008, S. 87 Dolgner: 1993, S. 105; Wie der Wilhelm-Biograf Clark unterstreicht, ist allerdings die Mehrheitsfähigkeit der künstlerischen Auffassungen des Kaisers nicht zu unterschlagen: »Wilhelm konnte mit vielen aktuellen Entwicklungen in der Kultur des fin-de-siécle mit Sicherheit überhaupt nichts anfangen. Er verabscheute die Werke der Berliner Secession […]. Aber wenn Wilhelms freimütige (und häufig ignorante) Schmähungen der Avantgarde der kulturellen Intelligenz als lächerlich und rückwärtsgewandt erschienen, so kamen sie doch der großen Mehrzahl der Kulturkonsumenten ganz vernünftig vor.«; Clark: 2008, S. 240 Brix/Steinhauser: 1978, S. 268 Gerber: 2012, S. 68
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in ›Kriegsanleihen‹ gesteckt hatten«36 . Bankrotte Hotels gingen, sofern nicht von den Besatzern requiriert, in den Besitz ausländischer Kriegsgewinnler.37 Dann dunkelte das Dritte Reich auch Wiesbaden für 12 Jahre ein. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 kam der Zivilisationsbruch, in den der Militarismus, Nationalismus und Antisemitismus der Wilhelminischen Zeit ideologisch hineintrug. Im pathologischen Furor rassischer Suprematie brannten die Nazi-Schergen die Wiesbadener Synagoge nieder, arisierten den jüdischen Besitz und ließen 1200 jüdische Wiesbadener in den Vernichtungslagern umbringen. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht ins entmilitarisierte Rheinland wurde Wiesbaden wieder zu einer Garnisonsstadt, in den Kriegsjahren wiederum Lazarettstadt. Anfang 1945 verwüsteten dann Luftangriffe der Alliierten, bei denen 500 Wiesbadener umkamen, Altstadt und Kurviertel gravierend, bevor die US-Streitkräfte einmarschierten und Deutschland befreiten. Die amerikanische Besatzungsmacht bestimmte Wiesbaden, den Hauptstützpunkt ihrer Luftstreitkräfte mit zeitweise bis zu 30.000 Stationierten, zur Hauptstadt des neugeschaffenen Bundeslands Hessen.38 Der Wiederaufbau und die Entnazifizierung durch die Alliierten, der die Bundesrepublik ihre nun zunehmend zivilisierte Identität verdankt, ließ nach einer Latenzphase der Westanbindung und Vergangenheitsbewältigung in den kulturell miefigen, den Hals schnürenden Adenauer-Jahren, in der die Restauration kapitalistischer Verhältnisse Priorität hatte, ab den 1960ern liberale, kritische und auch linke Mentalitätshintergründe, zumindest in den intellektuellen und kulturellen Milieus, zur Entfaltung bringen; eine nationale Selbststabilisierung über eine nichttraditionale, verfassungspatriotische Affirmationsbereitschaft, die eine Aufarbeitung mit der historischen Haftung für den Faschismus einleitete.39 Aus der kaiserzeitlichen Kurstadt, in der ausländische Fürstlichkeiten in Beschaulichkeit durch die Saison lustwandelten, wurde eine Behörden- und Kongressstadt. Als Sitz der Landesverwaltung und einiger Bundesämter wie dem deutschen Bundeskriminalamt, von dem aus Horst Herold mit seinen Großrechnern der »polizeilichen Daten-
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Diehl/Weichel: 2007, S. 78; »Die Stadt druckte Notgeld. Tausende Arbeitsloser, Hunderte Kriegsversehrter, -witwen und -waisen mussten von der Kommune versorgt werden. Kriegsinvaliden und Kriegsblinde gehörten zum Stadtbild. War Wiesbaden vor 1914 die Stadt mit der höchsten Zahl von Millionären, so beherbergte es jetzt den höchsten Prozentsatz an Fürsorgeempfängern im Reich.«; Gerber: 2012, S. 78-79 »Eine verrückte Zeit. Arbeitslose Engländer reisten nach Wiesbaden, um im Nassauer Hof im Luxus zu schwimmen. Der Wechselkurs machte es möglich. Eine Provokation. […] Allein im Jahr 1921 gingen 17 Hotels […] an ausländische Besitzer über, 18 Hotels beschlagnahmten die Franzosen.«; Gerber: 2007, S. 72 In den Nachkriegsjahren wurden die US-Streitkräfte »größte[r] Arbeitgeber in Wiesbaden und beschäftigten mehr Deutsche als Stadt, Land, Bahn und Post zusammen« (ebd., S. 109). Von Wiesbaden aus wurde die 1948-1949 die Berliner Luftbrücke koordiniert und auch viele der Transportflüge gestartet. 1973 verlegte die US Airforce schließlich ihr Hauptquartier ins pfälzische Ramstein. Wenngleich natürlich auch in Wiesbaden manche Belastete des Dritten Reichs bald zu Mitläufer herabgestuft wurden und zweite Karrieren machten. Erich Mix, NSDAP-Mitglied und SSStandartenführer, in der NS-Zeit Oberbürgermeister, wurde zwischen 1954 und 1960 für die FDP abermals zum Rathauschef gewählt und 1963 sogar Vorsitzender der hessischen FDPLandtagsfraktion.
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verarbeitung« nach den Terroristen der Roten Armee Fraktion rasterfahndete, erlangte die Stadt bürokratische Betriebsamkeit und bürokratisches Phlegma, Durchschnittlichkeit.40 Auch der für dieses Wiesbaden der Beamtenkarrieren längst nicht mehr substantiell einnahmeträchtige Heilbäderbetrieb wird inzwischen bürokratisiert abgewickelt, richtet sich nicht mehr an russische Großfürsten, sondern an deutsche Kassenpatienten.41 Wiesbaden wurde eine Stadt durchgesackten Angestelltenmiefs und lauernder Bürokratenpassivität. Eine Stadt »gerade richtig für dieses betäubte Dasein«42 , wie Hanns-Josef Ortheil ätzte. Wiesbaden wurde zugleich aber auch eine um Geld, Karriere und rheingauische Weine kreisende Yuppie-Infamie und der Alterssitz reicher Industriekapitäne. Eine Stadt mit beachtlicher Millionärsdichte, mit viel altem und neuen Geld. Wobei die Reichen der Gelderwerbsgesellschaft BRD, speziell die Kapitalisten des Wirtschaftswunderdeutschland, jedoch vergleichsweise in Deckung blieben – auch aus einem im Funktionalismus sublimierten Halbverständnis der Nazi-Barbarei, wie Enzensberger die Hemmnis der vordem zerbomten Deutschen, den neuen Erfolg und Reichtums zu zeigen, notierte: »Der eigene Wohlstand scheint den Bürgern der Bundesrepublik wie ein stummer Vorwurf auf der Seele zu liegen. […] Daß die Deutschen, wenigstens im Westen, nach ihren faschistischen Verbrechen, nach einem verheerenden Krieg, den sie angezettelt hatten, gewissermaßen als Belohnung, erstmals in ihrer ganzen Geschichte reich sein sollten, das war in der Tat schwer zu fassen«43 . Der Titel »Pensionopolis« ist Wiesbaden daher geblieben. Wenngleich die Stadt einmal, in einer nicht unbedeutenden Episode bundesrepublikanischer Politik- und Mentalitätsgeschichte, jugendlich sein durfte: 1985, als der spätere Außenminister Joschka Fischer als erster Grünenpolitiker in Regierungsfunktion zum Hessischen Umweltminister in weißen Nike-Turnschuhen vereidigt wurde.
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»Durch die Eingemeindung verschiedener Orte ergab sich eine höchst vielseitige wirtschaftliche Struktur: im Osten Landwirtschaft, im Westen Weinbau, im Norden große stadteigene Waldbestände, und im Süden Industrieanlagen, vor allem die chemischen Fabriken am Rhein. Über dem allen wölbt sich nun die administrative Sphäre einer Landeshauptstadt. Aus der einstigen nassauischen Residenz, dem Weltbad und preußischen Regierungssitz wurde der Verwaltungskopf eines neuen Bundeslandes.« (Petersen, Jürgen: »Quellen, Wein und Wälder«, in: Die Zeit, 11/1958). Mit 270.00 Einwohnern liegt Wiesbaden auf Rang 24 in der Liste der größten deutscher Städte. Wiesbaden partizipierte allerdings nicht über Gebühr an dem bis zu einer einschneidenden Gesundheitsreform in den späten 1990ern freigiebig durch die deutschen Krankenkassen finanzierten »kassenärztlichen« Kurwesen, dass in den Nachkriegsjahrzehnten ein milliardenschweres konjunkturpolitisches Modell von Provinzregionen bildete. Ortheil: 1989, S. 8; Wiesbaden hat, so beschrieb es Ortheil, erst in den 1980ern »viel Jugend angezogen. Aufsteiger aus dem Frankfurter Umland, die hier ihre Nächte verbrachten, Unternehmer, die ein passendes Ambiente suchten, kleine Geschäftemacher, die Boutiquen und Kneipen eröffneten. Das Operettenflair des letzten Jahrhunderts erwies sich als Marke, man brauchte die Szenerien nicht erst zu erfinden […]. Die verplüschten Absteigen wurden gekonnt renoviert, und aus alteingesessenen Weinstuben wurden Probierlokale mit ausgefallenen Sorten.«; ebd., S. 168 Enzensberger: 1982, S. 181
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»Das Ganze ist imposant, für jeden der nicht mit allzureinen architectonischen Forderungen einhertritt« 44 Wiesbadens wichtigster Architekt und Stadtplaner war der nassauische Baubeamte Christian Zais, ein Schüler des badischen Klassizisten Friedrich Weinbrenner. Mit dem Bau des Kurhauses und seinem ambitionierten gesamtplanerischen Stadtentwurf prägte er die städtebauliche Entwicklung bis zum Ende des Herzogtums maßgeblich. Die weitreichendste Stadtaufwertung unter Bauinspektor Zais gelang mit dem Kurhaus, dessen Name eigentlich »irreführend ist, als hier keine Kurmittel wie Thermalbäder oder Brunnenwasser verabreicht wurden. Vielmehr ging es um Freizeitgestaltung, vor allem für das Glücksspiel.«45 Zais passte das 1810 eröffnete Kurzentrum mit Absicht nicht in das beschauliche, bäuerlich geprägte Gefüge des altstädtischen Bäderviertels ein, sondern betrieb eine »systematische Ausschaltung des mittelalterlichen Stadtkerns aus dem Badebetrieb. Dabei mochte er weniger dessen Konkurrenz gefürchtet haben, was er gefährdet sah, war die Exklusivität seines Baugedankens, die Ausschließlichkeit seines der Ästhetik geweihten Tempelbezirkes.«46 Diese bewusste Distanzierung zu den bereits von den Römern genutzten 26 heißen Quellen am Kochbrunnen und Kranzplatz brachte Zais den Widerstand der Wiesbadener Bade- und Gastwirte ein. Die Aktienfinanzierung des Kurhauses scheiterte an der unwilligen Bürgerschaft, die Anteilsscheine musste das Herrscherhaus aufkaufen. Doch erst die Errichtung dieses autarken Kurbezirks, durch eine breite Allee, die Wilhelmstraße, abgetrennt, begründete den Aufstieg Wiesbadens zu einer Kurstadt mit Weltruf, zu einem »jener im 19. Jahrhundert so oft beschworenen künstlichen Paradiese, das – in der Illumination sinnbetörender Reize erscheinend – ›le beau monde‹ und ›les maudits‹ gleichermaßen faszinierte und alle Welt ihren Ennui in der Phantasmagorie eines immer wieder anders kostümierten Glücks vergessen ließ«47 . Das Gesellschaftshaus des Kurbezirks verpflichtete Zais ganz dem vom philosophischen Idealismus getragenen Geist der Klassik. Er fädelte bei seinem antikisierenden Bau achsensysmmetrisch um einen mittigen ionischen Säulenportikus seitliche Säulengänge und abschließende Eckpavillons auf und glaubte, wie Gurlitt anmerkte, wie alle Klassizisten seit Palladio »echt antik zu bauen. Ihr Werk war aber jedesmal ein solches, daß sich in ihm der Stil der eigenen Zeit stärker ausdrückte als der der nachgeahmten Römer.«48 Und so schuf der durch zwei Säulenreihen mit vergoldeten korinthischen Kapitellen und einer kassettierten Voutendecke geschmückte Kursaal, der sich als Spielbank und Veranstaltungsort für Bälle, Soireen und Konzerte zum Nabel des Wiesbadener Kurbetriebs entwickelte, wie für die Spa- und Bäderarchitekturen des 19. 44 45 46 47
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Goethe, Johann Wolfgang von: Weimarer Ausgabe, IV. Abteilung, Band 25: 28. Juli 1814 – 21. Mai 1815, Weimar: H. Böhlau 1887, S. 8 Kiesow, Gottfried: Architekturführer Wiesbaden. Durch die Stadt des Historismus, Berlin: Monumente Publikationen 2006, S. 14 von Hase: 1974, S. 134 Steinhauser, Monika »Das europäische Modebad des 19. Jahrhunderts. Baden-Baden, eine Residenz des Glücks«, in: Ludwig Grote (Hg.), Die deutsche Stadt im 19. Jahrhundert. Stadtplanung und Baugestaltung im industriellen Zeitalter, München: Prestel 1974, S. 95 Gurlitt: 1969, S. 120
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Jahrhunderts allgemein typisch, ein auf die müßigen Tagesabläufe der Kurgäste ausgerichtetes, »isoliertes, in ländliche Umgebung versetztes städtisches Zentrum en miniature, das einem internationalen Publikum verschiedener Stände als Versammlungsort diente. Stadt und Land wurden im Modebad nicht antagonistisch aufgefaßt; das Publikum wechselte nur den Schauplatz, für den Natur die Kulissen stellte.«49 Denn Zais Pietäten galten architektonisch nicht nur gegenüber der Vergangenheit, sie galten gegenüber dem Städtischen selbst. Er abstrahierte sich ein typisch klassizistisches Arkadien, einen feinen Äther der Stille, eine ungestaltete, unhistorische Kultursphäre in Idealität – und gerade in dieser inauthentischen Gekünsteltheit liegt die architektonische Kraft des Klassizismus, wie Onsell schreibt: »Natürlich war das, was die Klassizisten beim Anblick der antiken Tempelruinen so begeisterte, nicht zuletzt das Weiß des Marmors, das aber weiter nichts ist als eine Verwitterungserscheinung. Deshalb nun zu sagen, der Klassizismus beruhe auf einem Irrtum, ist sicher falsch. Denn, daß die antike Stadt in Wirklichkeit bunt und laut war, unordentlich und nach Knoblauch stinkend, dafür hat es schon immer Belege gegeben. Die Stärke der Klassizisten beruht aber eben darauf, daß sie die wirkliche Antike nicht interessiert. Sie sind die ersten, die sich ganz bewußt vom historischen Vorbild frei machen. Besser gesagt, das historische Vorbild nach ihren eigenen Wünschen erfinden, sich einen Ismus schaffen.«50 Die stadtästhetische Unnahbarkeit des Bade- und Gesellschaftslebens im distanziert liegenden Kurhaus abseits der schmutzigen Kleinstadt, die Nobilitierung eines exklusives, eines erhöhtes Lebens im vornehmen Erholungsort, entsprach der restaurativen Mentalität der nachnapoleonischen Zeit, in der eine abgemühte Gesellschaft einen Ausbruch aus der Tageswirklichkeit suchte, »auf der Flucht aus einer aus den Fugen geratenen Welt ein Reservat des Heils [suchte] […]. Nur dort begegnete man seinesgleichen, und Unterhaltung und ein ästhetisch befriedigender Rahmen versprachen Trost und Heilung. Die im ›Kurreservat‹ lebende, in ihren Bedürfnissen – Speisen, Spielen, Theatersehen, Promenieren – nahezu autarke Welt feierte ihre eigene Existenz.«51 Einige Jahre später wurde die von britischen Kurgästen Bowling Green getaufte Grünanlage des Kurbezirks, die Zais ursprünglich an seinen Längsseiten durch parallel verlaufende Platanenreihen umsäumt hatte, wie bei einer griechischen Agora durch Arkadengänge eingefasst und damit an die Altstadt angebunden. Beide atmen »durch die straffe Reihung der einzeln stehenden Säulen, das schlichte Gebälk und die flachgeneigten Satteldächer ganz den Geist des Klassizismus.«52 Sie sind inzwischen die alleinig
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Steinhauser: 1974, S. 97 Onsell: 1981, S. 65 von Hase: 1974, S. 134 Kiesow: 2005, S. 129; 1826 errichtete Baurat Heinrich Jacob Zengerle die nordseitige Kurhauskolonnade, eine 129 Meter lange zwischen zwei Eckpavillons aufgefädelte Säulenhalle. Ein südliches Gegenstück wurde durch Baurat Carl Faber ab 1839 gebaut, die später Theaterkolonnade genannt wurde, da sie als repräsentativer Eingang zum dahinter errichteten Hessischen Staatstheater fungiert. Diese Kolonnaden waren »[n]icht im Sinne von Zais«, obwohl sie »den Kurhausprospekt in städtebaulich durchaus überzeugender Form vollendeten. Zais wollte bekanntlich Distanz und Abgehobenheit und nicht eine mit überdachten Fußwegen erfolgende Anbindung an die Stadt.«
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verbliebenen Einzelstücke der nassauischen Klassik im Kurbezirk, denn wie Zais‹ Kurhaus nach 1900 einem den imperialen Repräsentationsgelüsten adäquaten Neubau Platz machen musste, wurde auch die klassizistische Platzgestaltung des Kaiser-Friedrich-Platz gegenüber des Bowling Greens in einem späthistoristischen Prunken überprägt.53 Die klassizistische Gesinnung der statuarisch ruhenden Kuranlagen, ihre eine allgemeine Idee illustrierende Marmorkühle, prägte auch den Wiesbadener Stadterweiterungsplan, den Zais 1818 präsentierte. Wie Ulrike von Hase festhält, hat der Architekt dabei an die Umgestaltung des historischen Stadtkerns »weder Gedanken noch Planpapier verschwendet«54 . Stattdessen sah sein Generalbebauungsplan ein Straßenfünfeck vor, dass den mittelalterlichen Stadtkern hinter einer Ummantelung mit einheitlich gestalteten herrschaftlichen Stadthäusern im klassizistischen Stil verbirgt. Die Parzellen für diesen einfassenden Kranz antikisierender Bauwerke wurden für Beamte und Militärs reserviert, um den Kurgästen, den promenierenden vornehmen Schichten, ästhetisch befriedigende Stadtansichten zu garantieren. Diese die Wiesbadener Altstadt umschließenden Alleen, deren Häuserreihen diese quasi umhüllen, zeichnen ein Fünfeck. Die Bebauung außerhalb dieser Marken setzte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, als an den Taunushängen ausgedehnte Villenquartiere entstanden, seither spricht man vom Historischen Fünfeck. Nach dieser ersten stadtbildprägenden Wiesbadener Wachstumsphase im Zeitalter des manchmal allzu anständigen und zu gezwungenen Klassizismus, die auch den Luisenplatz, den repräsentativen Stadtplatz mit der abschließenden Bonifatiuskirche und seinen sparsam-haushälterischer klassizistischen Fassaden italienisierenden Charakters umfasst, befreiten die veränderten künstlerischen Eindrücke und Ideen der Romantiker die zurückgenommenen Emotionen. Das von 1837 und 1841 errichtete Stadtschloss, das Georg Möller, ein weiterer Weinbrenner-Schüler, entwarf, bildete das Finale des attischklassizistischen Wiesbaden. Mit diesem Fürstenpalais in innerstädtisch eingebundener Lage auf einem ungünstig stumpfwinkelig zugeschnittenen Grundstück, an das beidseitig Stadthäuser anschließen, beabsichtigte das aufgeklärte nassauische Fürstenhaus bewusst Bürgernähe zu bekunden. Mit dem Umzug ließ Herzog Adolf Biebrichs absolutistischen Barock hinter sich.55 Den heutigen Sitz des Hessischen Landtags definieren
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(Russ, Sigrid: »Weltkurstadt Wiesbaden. Vom Ackerbürger- und Badestädtchen zum internationalen Luxus- und Modebad«, in: ICOMOS – Hefte des Deutschen Nationalkomitees, 1/2012) Auch die ursprünglich nicht bepflanzte, mit Klee begrünte Karree des Bowling Green wurde dem Zeitgeschmack angepasst. Zwei 1856 gebaute Wasserbassins mit dreischaligen Kaskadenbrunnen wurden angelegt und der Rasen mit Blumenrabatten und Broderien üppig ausgestaltet. Erst seit den 1920ern präsentiert sich das Bowling Green wieder als nüchterne Rasenfläche. Den Kaiser-Friedrich-Platz rahmten von Zais geplante klassizistische Gebäude. Neben dem ersten Hoftheater von Eberhard Friedrich Wolff, zwei luxuriöse Hotels. Der Nassauer Hof und das von Zais privat gebaute luxuriöse Hotel und Badehaus Vier Jahreszeiten, mit dem der Architekt zwar wirtschaftlich beinahe seine Familie ruiniert hätte, aber immerhin dem Kurbezirk eine therapeutische Badeeinrichtung andachte. von Hase, S. 134 »Der Entschluß der Herzöge, in Wiesbadens Innenstadt Residenz zu beziehen, war Folge einer zunehmend demokratisierten Lebensweise und Politik dieses Herrscherhauses. Als Zais 1812 seine Vorschläge für eine neue Residenz in der Abgeschlossenheit des Kurviertels machte, hatte er nicht erkannt, daß er den Herzögen damit wenig Neues bot. Abstand und Abgeschlossenheit kannten
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zwei klassizistisch-kubische, weiß verputzte Gebäudefassaden mit Kranzgesimsen, die sich über die Eckbetonung eines umsäulten zylindrischen Haupteingangs, der einer Diagonalerschließung dient, einklinken. Auch die hellenische Würde der klassizistischen Architektur des Christian Zais und der sie durchdringende Geist des Verzichts und der Distanziertheit durchwirkte den Wiesbadener Kurbezirk bald weit weniger als die fieberheiße Atmosphäre der Spielbank, die ab 1841 im Kurhaussaal das Amüsement bestimmte.56 Mit ihr nutzte Wiesbaden, wie den anderen deutschen Casinostädten auch, die Gunst der Stunde, als die französischen Spielbanken 1837 durch die Deputiertenkammer verboten wurden. Bis zum reichsweiten preußischen Glücksspielverdikt 1872 beherrschte die Roulettekugel im Moment zwischen den Möglichkeiten des Gewinns und Verlusts »Leben und Denken der herbeigereisten eleganten Welt, die, vom Zauber jener Leidenschaft des Unbeständigen hingerissen, weniger denn je an eine Badekur dachte.«57 Wenngleich die gesellschaftliche Etikette unter den anmutigen Kristalllustern und Samtdraperien des Kurhauses natürlich die Frackbekleideten, ein internationales Publikum mit viel französischer und russischer Aristokratie, auch im Taumel der Spielleidenschaft zur Sittsamkeit zwang, wie einer der manischen Spieler, Fjodor M. Dostojewskij, schrieb: »Ein Gentleman darf, auch wenn er sein ganzes Vermögen verspielt, keine Aufregung zeigen. Das Geld muß so tief unter seiner Würde als Gentleman sein, daß es kaum seiner Sorge wert ist.«58 Dostojewskij verarbeitete seine eigene Spielsucht, die ihn bei seinen Deutschlandaufenthalten in die Spielbanken Wiesbadens, Baden-Badens und Bad Homburgs trieb, in dem autobiographisch beeinflussten Roman Der Spieler. Wiesbaden lässt darin als fiktive Kurstadt »Roulettenburg« seine Figuren, tragische Gestalten einer karikaturhaften feinen Gesellschaft, ins Unglück stürzen.59 Einem von seinen Gläubigern belagerten und durch die Liebe zu einer Hochstaplerin aufgeriebenen russischen General, der
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sie aus ihrem Biebricher Schloß […]. Die nassauischen Herzöge aber waren für dieses Konzept viel zu liberal.«; ebd., S. 141 Die erste Lizenz zum »Hazzardspiel« hatte der nassauische Fürst eine Wiesbadener Gasthaus 1771 erteilt. Den Ruf des Wiesbadener Glücksspiels etablierte der Spielbankpächter, der französische Geschäftsmann Anton Chabert, der bereits als Konzessionär in Baden-Baden beteiligt war. Wie in Baden-Baden auch verhängte der nassauische Fürst allerdings ein »Residenzverbot«, mit dem seinen Untertanen und Beamten das Spiel verboten wurde. Ebd., S. 142; »Nach zehn Uhr bleiben an den Spieltischen nur die echten, eingeschworenen Spieler, diejenigen, für die in den Bädern nichts existiert außer Roulette, die einzig seinetwillen angereist sind, die kaum darauf achten, was um sie her geschieht, und sich während der ganzen Saison für nichts Weiteres interessieren, als nur vom Vormittag bis in die Nacht hinein zu spielen, sogar die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen, wenn es erlaubt wäre.«; Dostojewskij, Fjodor M.: Der Spieler. Aus den Aufzeichnungen eines jungen Mannes, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2011, S. 169 Ebd., S. 24 Seine Hauptfigur lässt Dostojewskij, der Wiesbaden 1865 und 1871 aufsuchte, sagen: »Ich kann diese Lobhudelei der Feuilletons […] nicht leiden, in denen die Journalisten fast jedes Frühjahr von zwei Dingen berichten: erstens von der unerhörten Pracht und dem Luxus der Spielsäle aller Roulette-Städte am Rhein, und zweitens – von den Bergen an Gold, die angeblich auf den Spieltischen herumliegen. Sie werden dafür nicht bezahlt; es wird einfach geschwafelt aus uneigennütziger Beflissenheit. Von Pracht kann in diesen schäbigen Sälen nicht die Rede sein, und was das Gold betrifft – es ist kaum zu sehen«; ebd., S. 20
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auf die Hinterlassenschaft einer reichen Erbtante wartet, um seine Schulden zu begleichen. Eine alte Familienpatriarchin, die nicht stirbt, sondern plötzlich in »Roulettenburg« erscheint, wo sie mit ihren gewaltigen Verlusten an der Spielbank »ihre Familie kompromittier[t]e, als skandalöse Erscheinung die ganze Stadt beschäftig[t]e« und, wie der düpierte General klagte, »den russischen Namen in Verruf«60 brachte. Und den der Spielsucht verfallenen Erzähler, den unglücklich liebenden Hauslehrer des Generals, der sich im Bewusstsein, dass in »[s]einem Schicksal unbedingt etwas Radikales und Endgültiges eintreten würde«61 , derart ins Spiel verliert, dass man über den Gestrauchelten schließlich urteilt: »Sie haben nicht nur auf das Leben verzichtet, auf Ihre öffentlichen Interessen, auf die Pflichterfüllung des Bürgers und des Menschen, auf den Umgang mit Ihren Freunden […] Sie haben nicht nur auf jedes Ziel, welches auch immer, außer dem Gewinn, Sie haben auf Ihre Erinnerungen verzichtet.«62 »Im die Überfülle liebenden Geschmack der Gründerzeit verwandelte sich nun alles ins Üppige, Gesteigerte, Aufgeschmückte« 63 Das nachmärzliche Wiesbaden überwand den zunehmend verkrustenden Klassizismus in der heißnervigen Begeisterung des romantischen Historismus. Mit großen Meisterleistungen wie der in den Jahren 1853 bis 1862 am Schlossplatz errichteten vieltürmigen Marktkirche von Carl Boos, die als »Nassauer Landesdom« fungieren sollte – mit Blick auf den linksrheinischen Bischofssitz Mainz. Ein besonders in sonnengelben Morgenund Abendstunden in ziegelsteinrotem Feuer weltenthoben leuchtender Backsteinbau im neugotischem Stil, bei dem sich geschichtliche Erinnerungen und poetische Erfindungen treffen.64 Nachdem 1850 Wiesbadens mittelalterliche Stadtkirche durch einen Brand zerstört worden war, hatte man Carl Boos, der sich als Architekt des florentinisch-renaissancistischen Ministerialgebäudes ausgezeichnet hatte, den Bau einer neuen evangelischen Hauptkirche anvertraut, die er als eine dreischiffige Basilika ohne 60 61 62
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Ebd., S. 154 Ebd., S. 21 Ebd., S. 211; Dostojewskijs Hauptfigur rechtfertigt das Spiel – wie gegen die Russen gewendet, die sich in den deutschen Kurstädten in einer Assimilierung westlicher Kultiviertheit übten, was hämisch »Baden-Badenertum« genannt wurde – als eine dem russische Naturell entsprechende Ausschweifung, die er gegen »die deutsche Methode, Reichtümer zusammenzusparen« stellt. Er wolle »lieber auf russische Art über die Stränge schlagen oder mich am Roulette bereichern. Ich will nicht fünf Generationen später [das Bankhaus] Hoppe & Co. Sein. Das Geld brauche ich für mich selbst, und ich halte mich keineswegs für eine obligate Zugabe zu dem Kapital.« (ebd., S. 40). Kulturell verständlich ist beides, das »Baden-Badenertum« und die russische Maßlosigkeit der Spieler, denn »[n]ur in einem Land, das seine gebildeten und vermögenden Stände ausschloß aus dem politischen Leben, konnte eine regelrechte Bewegung ›à l’etrangere‹ entstehen, um so zeitweise und vorübergehend jedenfalls etwas von der bürgerlichen Freiheit für sich zu antizipieren: eben im Ausland, im ausländischen Badeort. Der Badeort ist zugleich ein Sammlungspunkt für die charakteristische Figur des russischen 19. Jahrhunderts: die des ›überflüssigen Menschen‹, dessen Energie, Tatkraft oder Talent zu Hause stillgelegt sind.«; Schlögel: 1984 Russ: 2012 Auf einen speziellen Assoziationswert des Backsteinbaus verweist Gerber: »Wenn an lichten Sommerabenden die Sonne auf die ziegelsteinrote Fassade scheint, leuchten die Kirche und der blaue Himmel geradezu symbolhaft für das untergegangene Herzogtum Nassau mit seinen orangeblauen Landesfarben.«; Gerber: 2012, S. 9
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Querschiff mit fünf schlanken, feingegliederten Türmen entwarf: in »vorwiegend gotische[m] Detail, dieses […] jedoch klassisch proportioniert und von straffer Zierlichkeit der Formen«65 . Gotisches Höhenstreben in den spitzauslaufenden, fialenbeflankten Türmen, die sich in scharfgeschnittenen Zügen gegen einen tiefhängenden Himmel richten, gotische Spitzbogenfenster mit Maßwerk und Strebepfeiler vereinen sich mit einem Baumassengefühl und einer Präzision der Details, in denen der Klassizismus nachwirkt. Großen Einfluss auf den für die Region ortsfremden Backsteinbau, es war der erste reine Ziegelbau im Herzogtum Nassau, übte die Berliner Friedrichswerdersche Kirche von Karl Friedrich Schinkel aus, dem Klassizisten, dem »selbst in Italien klargeworden […] [ist], daß die Antike nicht ausreiche, allen Kunstanforderungen der Zeit zu genügen.«66 Wenngleich Carl Boos mit seinem 98 Meter hohen Westturm, der die Marktkirche zum höchsten Gebäude der Stadt macht, und den vier über dem basilikalen Langhaus spitz sich verschlankenden Flankentürmen weit stärker vertikalisierte, verrät ihn sein klarer, an der Westfront nahezu quadratischer Kubus, ebenfalls als Klassizisten: »Im Baukörper der Basilika selbst lebten […] noch die kubischen Gestaltungsprinzipien des Klassizismus weiter. Man erkennt dies an der Unterdrückung der Dächer, die in der mittelalterlichen Gotik besonders steil und voluminös waren, hier aber als flache Pultund Satteldächer weitgehend hinter den Maßwerkbrüstungen verschwinden.«67 Und wie Schinkel verwendete Boos industriell hergestellte Terrakotta-Formsteine zur Entwicklung der Schmuck- und Gliederungsmittel. Fialen, Krabben, Kreuzblumen und die Säulenkapitelle mit Weintrauben stammen aus einer Fayence-Manufaktur. Der Kirchenraum entfaltet seine hieratische Getragenheit ebenfalls aus seinen gleichermaßen gotischen wie klassizistischen Baudetails. Ein steil aufsteigendes gotisches Kreuzrippengewölbe, mit einem blaugrauen Sternenhimmel ausgemalt, trifft auf klassizistische steinerne Emporenbrüstungen und eine Christus- und EvangelistenFigurengruppe im Chorraum, die Herzog Adolph stiftete und der Wiesbadener Bildhauer Emil Hopfgarten aus weißen carrarischen Marmor schuf. Ein zweites ehrfurchtgebietendes Meisterwerk des romantischen Historismus ist die in erhabener Lage auf dem Neroberg, dem Wiesbadener Stadtberg, weithin sichtbare Griechische Kapelle, wie die Russisch-Orthodoxe Kirche weiterhin fälschlicherweise genannt wird, was auf die damals übliche Bezeichnung für orthodoxe Kirchen zurückgeht. Die mit fünf feuervergoldeten Zwiebelkuppeln im Lichtschimmer die Wiesbadener Stadtsilhouette überstrahlende Grabeskirche ist in ihrer stilistischen Fantastik wie in ihrer zeichenhaften Platzierung an den bewaldeten Ausläufern des Taunus, die zur Dramatisierung des weißen sandsteinernen Baus mit dunklen Fichten hinterpflanzt wurden, »eine romantische Inszenierung, wie die ganze Stadt. Auf dem Neroberg liegt sie einem […] zu Füßen. Nur fern am Horizont rauchen ein paar Schlote, aber das muss schon Mainz sein.«68
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Bubner: 1983, S. 60 Gurlitt: 1969, S. 21 Kiesow: 2006, S. 61 Wiethoff, Tobias: »Kulisse ohne Kaiser«, in: Welt am Sonntag, 02.02.2003
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Die Grabkapelle stiftete der in Traurigkeit versunkene Herzog Adolf von Nassau, der 1845 den frühen Tod seiner Gemahlin beklagen musste, der erst achtzehnjährigen russischen Großfürstin Jelisaweta Michailowna, einer Nichte des Zaren Nikolaus I., die ein Jahr nach ihrer Hochzeit bei der Geburt ihres ersten Kindes starb. »So sind es gerade die geistigen Kräfte der Romantik, die zwischen Todessehnsucht und Lebensfreude nach Vollendung in Schönheit suchen und den Bau der Griechischen Kapelle erst verständlich machen. Romantischer Geist strahlt vom Marmorbild der jugendlichen Herzogin aus, deren […] Anblick von Schönheit und Vergänglichkeit nachdenklich werden läßt«69 . Für die 1856 geweihte Grabeskirche, in deren Krypta die Prinzessin und der Säugling in einem von Emil Hopfgarten geschaffenen Sarkophag mit marmornem Bildnis der wie schlafenden Jelisaweta beigesetzt wurden, verwendete der nassauische Regent die Mitgift des Zarenhauses. Herzog Adolf beauftragte Hofbaumeister Philipp Hoffmann, einen Schüler Friedrich von Gärtners, der eigens dafür nach Russland geschickt wurde, um die russische Kirchenbauweise und Liturgie zu studieren. Inspiriert wurde dadurch eine tief in Gedanken hängende Architektur, bei der Renaissancegestaltungen mit altrussischen und byzantinischen Beimischungen frei überspielt werden.70 »Der in der Gesamthaltung völlig unklassische, fast exotische Bau orientiert sich zwar in seinem dekorativen Reichtum an der italienischen Frührenaissance, die sich jedoch im Detail zu der eigenwilligen Formenfülle russisch-orthodoxer Bauten wandelt. Die Griechische Kapelle ist damit ein eindrucksvolles Zeugnis für die Zeitgleichheit unterschiedlicher Geschichtsepochen im Historismus«71 , wie Bubner resümiert, und zudem eine geheimnisvolle wie elegische Erscheinung, die die beklommenen Seelen der Romantiker in Ergriffenheit stürzte. 69
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Jesberg, Paulgerd: »Katalog«, in: Nassauischer Kunstverein Wiesbaden e.V. (Hg.), Philipp Hoffmann (1806-1889). Ein nassauischer Baumeister, Wiesbaden: WBG Theiss 1982, S. 100; »Die Weihe der Griechischen Kapelle erhält nicht nur ein kirchlich-religiöses Gewicht durch die einmalige Entfaltung orthodoxer Prachtfülle. Auch die Rückwirkungen auf das kulturelle Leben in Wiesbaden, auf seine Gäste und den wachsenden Zustrom russischer Neubürger sind ebenso nachhaltig wirksam. Hier geht es letztlich nicht mehr um die verstorbene Herzogin, sondern um die Verdeutlichung einer romantischen Idee, die mit ihrem Tode weiterlebt.«; ebd., S. 114 Die Verbindung altrussischer und byzantinischer Sakralbaukunst mit der Renaissance ist dem Stil Alexander Thons, des Lieblingsarchitekten des Zaren Nikolaus, verwandt. Eine direkte Vorbildwirkung von Thons Moskauer Erlöserkirche ist jedoch zweifelhaft. Kiesow erhebt berechtigte Bedenken, denn »die Ähnlichkeit zwischen beiden [ist] nur allgemeiner Natur, das Erscheinungsbild durch das abweichende Verhältnis der Hauptkuppel zu den vier Nebenkuppeln ganz unterschiedlich.«; Kiesow: 2006, S. 259 Bubner: 1983, S. 63; Denn der italienreisende und -begeisterte Hoffmann war »zu sehr ›Italiener‹, als daß er sich vorurteilslos der modischen Stilrichtung einer Neorenaissance bedient hätte.« (Jesberg, Paulgerd: »Gesetz und Freiheit«, in: Nassauischer Kunstverein Wiesbaden e.V. (Hg.), Philipp Hoffmann (1806-1889). Ein nassauischer Baumeister, Wiesbaden: WBG Theiss 1982, S. 38). Wie Jesberg hervorhebt, fand Hoffmann speziell »in den Übergangssituationen von einem zum anderen Stil, bei dem noch nicht ganz vollendeten oder dem noch nicht fertig ausgebildeten Stil die Möglichkeiten zur Freiheit eigener gestalterischer Entfaltung. Das offene und unausgesprochene Zukünftige von Bauten, Bauformen und ihrer künstlerischen Durchbildung aus frühchristlich-byzantinischer Zeit um 500, der spätromanischen Zeit um 1200 und der frühitalienischen Renaissance um 1400 bieten die Freiheit der Aneignung, um im eigenen Gestalten Neues daraus zu schaffen. Immer aber ist es Italien und der mediterrane Raum«; ebd., S. 34
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Aus dem Grundriss der Griechischen Kapelle, einem aus der Spätantike bekannten quadratischen Zentralbautypus mit eingeschriebenen griechischen Kreuz, »erheben sich eine zentrale und vier begleitende Kuppeln, die vergoldet sind und sich jeweils durch einen Tambour zum Unterbau vermitteln. Die vier gleichartig ausgebildeten Fassaden sind durch Pilaster und gekuppelte Säulen gegliedert, welche die Anschlussbögen der Risalite tragen.«72 Die feuervergoldeten Kuppeln in vertikal gerillter russischer Zwiebelform mit schmalen vertikalen Fenstern und Blindfenstern in den runden Laternentürmen bestimmen die Pracht des Äußeren, die Andachtsatmosphäre des Inneren byzantinisierte Kuppelfresken auf goldenem Flächengrund, korinthische Säulen und filigrane Reliefs aus carrarischem Marmor, ein sich an Details berauschender dekorativer Reichtum. »Aus der altrussischen Ikonostasis machte Hoffmann ein Renaissance-Retabel. […] Die reiche Ausstattung […] sowie die Malereien des Emil Alexander Hopfgarten zeigen, wie weit sich die Baukunst des Romantischen Historismus schon von der Kargheit des Klassizismus entfernt hatte.«73 Die herausragende Gesamterscheinung der Griechischen Kapelle verdankt sich der Singularität einer triumphalen künstlerischen Behandlung zueinander disparater Stilversatzstücke, die als Künstlichkeit erfahren wird, wie Jesberg allerdings substantialistisch dramatisiert, wenn er schreibt, der Kirchenbau sei »anspruchsvoll in Maßstab und Künstlichkeit. […] Die Künstlichkeit legt sich in übereinandergeschobenen Schichten über den Bau und verschleiert auf geheimnisvolle Weise ein Wesenhaftes, das kraftvoll aus dem Mittelbau in einer Kuppel empordrängt […]. Die Erfahrungen der Vergangenheit aus der Vorstellungswelt russisch-orthodoxer Gläubigkeit und der Schönheit italienisch-byzantinischer Kunst verdichtet Philipp Hoffmann kraft seiner künstlerischen Phantasie zu einem Bauwerk voll reicher Poesie, hinter dessen vordergründig erster Wirklichkeit immer neue Wirklichkeiten sichtbar werden«74 . Seinen romantischen Geist und seine meisterliche Beweglichkeit und Leichtigkeit in den Gesten hatte Philipp Hoffmann bereits bei seinem ersten großen Entwurf gezeigt, der zwischen 1845 und 1866 errichteten Kirche St. Bonifatius. Im Vergleich mit Boos‹ Marktkirche ist die neugotische St. Bonifatius, die katholische Hauptkirche Wiesbadens, sicher eine weniger vollkommene Schönheit. In ihr liegt mehr Konjunktiv. Doch zeigt sich Hoffmanns künstlerische Empfindsamkeit in der Ornamentik, die gewichtet und ordnet.75 So erreicht die dreischiffige Hallenkirche auf dem Grundriss eines lateinischen Kreuzes bei der den südlichen Luisenplatz abschließenden, plastisch differenzierten Zweiturmfassade, die in verputztem Bruchsteinmauerwerk gehalten ist, für Gliederungs- und Zierelemente jedoch roten Mainsandstein und Terrakotten einsetzte, 72 73 74 75
Bubner: 1983, S. 62 Kiesow: 2006, S. 259 Jesberg: 1982, S. 116 Hoffmann beherrschte »Zusammenschlüsse von Grund- und Hauptformen zu klären, deren Aufbau und strukturelle Gliederung in seinen Wertigkeiten zu deuten, die Vielschichtigkeit der Stilformen mit Bedeutung zu erfüllen. Immer an den baukörperlichen Übergängen, den strukturellen Verknüpfungen und formalen Überschneidungen entwickelt das Ornament seine besondere Fähigkeit«; ebd., S. 24
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eine vielschichtige Inszenierung. Bei den 68 Meter hohen Türmen, die mit ihrem nach oben offenen, mit Kreuzblumen bekrönten Maßwerkturmhelmen vom Freiburger Münster beeinflusst sind und den »stacheligen Fialenaufwand der neugotischen Kirchen«76 betreiben, sowie beim dreibogigen Eingang, der »in der Zweischaligkeit des Mittelfeldes mit der Maßwerkrose, der filigranen Balustrade darüber, dem schon relativ steilen Dreiecksgiebel […] ganz von gotischen Gestaltungsformen durchdrungen«77 ist. Philipp Hoffmann zeigte sich weiters bei seiner 1868 fertiggestellten Synagoge am Michelsberg als Eklektiker der schönen Formen. Mit architektonischer Einfühlsamkeit wies er der Synagoge, die in der Reichspogromnacht 1938 durch Brandstiftung der Nationalsozialisten vernichtet wurde, einen ausdrucksstarken »maurischen Synagogenstil« zu. Es ist keine gewöhnliche Leistung gewesen, wie Hoffmann seinen mit farbigen Fayencen verkleideten Zentralbau auf dem Grundriss eines griechischen Kreuzes um einen überhöhtem Mitteltrakt mit Hauptkuppel, zinnenbekranzte Mittelrisaliten mit Türmchen und Fensterrosen, und Seitentürme mit Kuppelaufsätzen gruppierte.78 »Die wilhelminische Epoche entlud auf die Stadt ein Füllhorn von Glanz, Reichtum und Wohlleben; es ist, als wäre sie jenem berlinischen Deutschland wie eine Geliebte gewesen, die man mit Schmuck überlädt.« 79 Nach den Stagnationsjahren, die den Gründerkrach ausbadeten, nahm Wiesbadens Wachstum in der scharfmacherischen Wilhelminischen Ära eine stürmische Aufwärtsentwicklung. Das Werden und Sein des Modebads beherrschte das ungestüme Tosen einer durchgehenden Hochkonjunkturepoche bis 1914, die sich die politischen Obsessionen jener Zeit, jenes heroisch leere Getöse borussischer Weltgeltung, in pathetische Prunkästhetiken übertrug. Nicht nur die in der ersten Jahrhunderthälfte in biedermeierlicher Bescheidenheit gehaltene Wilhelmstraße, genannt »die Rue«, wurde für die triumphierende Augen der kaiserzeitlichen Kurgäste mit späthistoristischen Prachtfassaden umtypisiert, die das abenteuerliche Selbstvertrauen dieser Zeit einfingen. Fritz Hildners Hotel Bellevue und Wilhelm Boués Café Kunder zeigten sich mit ausschweifenden Neobarock als Impulsvermittler einer städtischen Atmosphäre, die versuchte, das Treiben der Welt fühlen zu lassen. Auch das altstädtische Gefüge wurde um neobarocke Prachtbauten bereichert, die einiges an architekturstilistischem Adrenalin haben einschießen lassen und dazu beitrugen, im Getümmel und Treiben der wilhelminischen Kurstadt ein weltstädtischeres
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Kamphausen: 1952, S. 53 Kiesow: 2006, S. 75; Wie bei der Marktkirche, darin liegen ihre verwandtschaftlichen Beziehungen, durchdringen allerdings auch bei St. Bonifatius die neogotische Stilistik klassizistische Ideen: »Die weit auseinanderstehenden Türme […], die betonten Horizontalen der umlaufenden Gesimsbänder zeigen den klassizistischen Einfluß auf, der die mittelalterlichen Stilformen verändert und dadurch eigenständig Neues schafft.«; Jesberg: 1982, S. 32 »Vier Eckkuppeln und eine hohe, mächtige Mittelkuppel überragen den Bau. […] [D]ie Eckpunkte der nach außen in Erscheinung tretenden Kreuzform [sind] turmartig herausgearbeitet und tragen kuppelartige Knäufe. Die äußere Erscheinung ist strukturiert durch senkrechte Pilaster und horizontale gleichartig ausgebildete Gesimse und Lisenen. […] Zwei- und dreifach gekoppelte Fenster, Fensterrosen und Rundfenster schneiden die Wandflächen auf«; ebd., S. 85 Paquet, Alfons: »Meine Meinung über Wiesbaden«, in: Wiesbadener Fremdenblatt, 03.09.1927
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Bewusstsein zu entwickeln. Die Partizipanden dieser späthistoristischen Selbstumarmungen inszenierten sich inmitten klassizistischer Stadtbildharmonie als eine Steigerungsgeschichte Wiesbadener Reputation, zeigten sich festlich, sprühend, vulgär. Beispielhaft bei Wilhelm Rebholds und Wilhelm Gerhards Hotel zum Adler und Fritz Hildners Eckhaus Friedrichstraße 51, dass mit seiner »abgerundeten, durch ein großes Fenster und die bekrönende Kuppel betonte[n] Ecke […] in großstädtischer Weise die Straßenkreuzung« prägt. Seine »durch alle Geschosse reichende Pilastergliederung hat bereits etwas von der Straffheit späterer Rasterfassaden, das schmückende Ornament verharrt [jedoch] im Stil des Neobarock.«80 Markant in altstädtischer Insellage in Nachbarschaft zur Marktkirche wurde von Georg von Hauberrisser zwischen 1883 und 1887 das Neue Rathaus errichtet. Der Architekt, den beim Bau des Neuen Rathauses in München die flämisch-brabantische Gotik inspiriert hatte, artikulierte für Wiesbaden die Nordische Renaissance zu erinnerungsträchtigen Empfindungen aus. Denn den Historisten galt der Renaissancestil »als Ausdruck der humanistischen Bildung, einer weltlichen, heiteren Geisteshaltung, der wissenschaftlichen und künstlerischen Blüte, der bürgerlich-städtischen Unabhängigkeit und der individuellen Freiheit.«81 Mit dieser in den Anreizungsmitteln der Baudetails zum Ausdruck gebrachten Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit, dem Verweis auf eine die Befreiung des Menschen einleitende Epoche »trug das ambitionierte Weltbad Wiesbaden diesem Gedanken nationaler Rückbesinnung und bürgerlicher Selbstverwaltung an zentraler Stelle im Stadtgefüge wie selbstverständlich Rechnung«82 . Von Hauberrissers platzseitige Hauptfassade wurde allerdings nach Bombentreffern im Zweiten Weltkrieg leider schlichte Kubatur wiederaufgebaut, ohne den flandrische Giebel des mit Flankentürmen eingefassten Mittelrisalits und ohne Mansarddach. Die sentenziöse weserrenaissancistische Werksteinfassade blieb nur an den Nebenfronten bestehen. Auch das mittelalterliche Bäderquartier, das Quellenviertel um den Kochbrunnenplatz, wurde umgestaltet, da sich das betuchte Publikum der Kurstadt zwar in der Saison mit »Narren- oder Russenpreisen«83 tief in ihre Taschen greifen ließ, aber mit den alten Badehäusern nicht länger zufrieden gab. Nachdem mit dem Initialdatum für den Aufstieg Wiesbadens zur »Weltkurstadt«, dem Bau des Kurbezirks, das Quellenviertel deutlich entwertet worden war, sollten zuerst ein Trinkbrunnen und eine grazile gusseiserne Wandelhalle die verlorene Bedeutung wiedergewinnen, dann die von Wilhelm Bogler entworfene, 1888 eröffnete Kochbrunnenkolonnade. Mit der von Semper beeinflussten neurenaissancistischen Kurhausarchitektur, ein platzgreifendes, wirkungsstarkes Arrangement aus gliedernden Pavillons mit französischen Hauben und Wandelgängen mit feingliedrigen gusseisengefassten Arkadenverglasungen, »erhielt der historische Platzraum, der immer von der Zufälligkeit seiner Erscheinung beeinträchtigt 80 81 82 83
Kiesow: 2006, S. 101 Dolgner: 1993, S. 48 Bubner: 1983, S. 13 Turgenjew, Ivan: Frühlingsfluten, Frankfurt a.M.: Insel 2000; Das Finale von Turgenjews leichter Schwebenovelle Frühlingsfluten spielt in Wiesbaden, der Schauplatz bleibt aber bis auf eine kurze Erwähnung des Kurhauses unerfasst. Lediglich in einem kurzen Dialog wird der Hauptfigur, die allerdings kein Hazard spielt, geraten, den Spielsaal aufzusuchen und die »Physiognomien« zu betrachten, diese seien die »allerdrolligsten«; ebd., S. 148
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und durch den Bau des Kurhauses […] als gesellschaftlicher Mittelpunkt in Frage gestellt worden war, endlich ein eindeutiges, städtebauliches Gewicht.«84 Zudem besorgten die beiden letzten großen Hotelneuerrichtungen der Epoche, für die einige der alten Badehäuser geschliffen wurden, ein die Ära beschließendes Finale. Das 1905 eröffnete Palasthotel von Paul Jacobi, in dessen neoklassizistischer Gesamterscheinung sich bereits Jugendstil-Details finden lassen, und das neue Hotel Rose von 1911, dessen französisch geprägte »langgestreckte Fassade [allerdings] […] nur in der Schrägansicht die Plastizität des Neobarock zu Ausdruck kommen [lässt], frontal wirkt sie wegen der übergroßen Länge flach und spannungslos«85 . Heute weiß der Ort jedoch nur mehr leider wenig von seiner einstigen Größe. Die Kochbrunnenkolonnade wurde in den 1960ern ohne zwingenden Grund bis auf einen Seitenflügel und den Quellen-Tempietto abgerissen und kriegsbedingte Baulücken mit Banalitäten gefüllt, denen der Geist der einstigen Ereignisse entflogen ist. Ganz rund wird die Sache nie, auch den verbliebenen Geschichtsträchtigkeiten tut nicht gut, die Bühne nun für sich allein zu haben. Südlich des Historischen Fünfecks entstanden nun ganze Stadtviertel im Späthistorismus. Und mag diese Stadtarchitektur auch künstlich und inauthentisch wirken, ein erstarrtes, aus einer unzulänglichen Wahrnehmung der Wirklichkeit verfälschtes Innenbild des Wilhelminismus in inflationär aufgewärmte, blasierte Leidenschaften für architektonische Vergangenheiten überführen – Wiesbaden ist hier am faszinierendsten. Die serienmäßig fabrizierten, artifiziellen Bilder der Mietshausfassaden am und in den Seitenstraßen des Kaiser-Friedrich-Rings entfachten eine aufregende Eigendynamisierung historistischer Affektqualitäten. Das kunstgeschichtliche Urteil, das architektonische Facettengebilde des Historismus wäre in seiner Spätphase in den seichtesten Gestaden gestrandet, hätte aus Gedächtnisschwäche die Geschichtsstile mit ermüdeter Hand in läppische und unschickliche Details verhaspelt und mit der verdächtigen Leichtigkeit, mit der er geschichtszitierende Repräsentationsfassaden aufreihte, de facto eher eine Abstumpfung als eine tiefere Auseinandersetzung mit der eigenen architektonischen Wirkung bewirkt, ist nirgendswo falscher als in Wiesbaden. Auch dank der in der Kurstadt beschäftigten ausgezeichneten auswärtigen Architekten wie Friedrich von Thiersch aus München und Helmer und Fellner aus Wien, die eine Kunst schufen, die ihre Zeit ausfüllt. Der Eklektizismus, in dem seine Kritiker eine künstlerische Verlorenheit dokumentiert sehen, ist speziell als Existenzmittel der Neureichen in seiner Schönheit nie leuchtender gewesen als dort, wo ihn koloristische Meister besonders pompös und opulent zu Emblemen der wilhelminischen Hegemonie emporhoben. Obwohl jene »Entwicklungstendenzen, die […] als Terrainspekulation das Wachstumsschicksal der großen Städte des 19. Jahrhunderts weitgehend bestimmten«86 , natürlich auch die kapitalinduzierte Stadterweiterung Wiesbadens handlungsantreibend
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Bubner: 1983, S. 90 Kiesow: 2006, S. 121; Ein altes zum Hotel Rose gehörendes Gebäude, das den Kochbrunnenplatz und vom dahinter liegenden Kranzplatz getrennt hatte, wurde abgerissen, seither gehen beide Plätze zäsurlos ineinander über. Bubner: 1983, S. 56
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diktierten, führten die vielen Spekulationsbauten zu keinen Qualitätseinbußen, was in Wiesbaden natürlich auch eine Frage des zirkulierenden Reichtums war. Die Gesellschaft, die bis dahin jedem einzelnen seinen bestimmten und unverrückbaren Platz angewiesen hatte und nun Geburts- und Geldadel um die Macht ringen ließ, spielte in Wiesbaden nicht nur an der Spielbank mit immensen Einsätzen. Was Nierhaus als »Mehrdeutigkeit« der Wiener Ringstraße beschrieb, gilt auch für Wiesbadens KaiserFriedrich-Ring – stadtästhetisch und kulturell: »hier trafen alter und neuer Adel, in Jahrhunderten erworbene und über Nacht entstandene Vermögen, aristokratischer Standesdünkel und neureiche ›Aufsteiger‹-Allüren scharf aufeinander. […] Man könnte so weit gehen zu behaupten, die Ringstraße habe das hohe gesellschaftliche Konfliktpotenzial der alten und neuen Eliten des Reiches architektonisch sublimiert.«87 Die prätentiösen, überladenen Miethaustypologien der südlichen Stadterweiterung ließen im Wiederauftauchen architektonischer Vergangenheiten unterschiedliche stilistische Einflussfaktoren greifen, aber allesamt suggerierten sie eine Abstammung patrizischen Geblüts. Der statusbedachte städtebauliche Ausgangsgedanke, die »Promenade[n] gleichermaßen großzügig als Bereiche der Selbstdarstellung zu gestalten«, übertrug sich in die Pracht des späthistoristischen Miethausbaus, in »die Architektur, die mit ihren vielfältigen Fassadenlösungen, insbesondere der Eckbauten als Repräsentations- und Kulissenarchitektur gedacht war.«88 Entlang und um den Kaiser-Friedrich-Ring und die Rheinstraße entstand ein Gewiege aus farbendünnen, aber intensiven Eindrücken, eine konzentrierte eklektizistische Ensemblewirkung, in die sich jeder hineinprojizieren konnte und die sonderliche Stimmungen in einem hervorruft. – Nicht zuletzt auch der nach über hundert Jahren nicht verschwundene Eindruck von Künstlichkeit, dass hier alles Schminke ist. Den Hauptbau der südlichen Stadterweiterung und Abschluss der Sichtachse der aufwärtssteigenden Rheinstraße bildet die Zwillingsturmfassade der zwischen 1892 und 1894 errichteten evangelischen Ringkirche, für die Kirchenbauer Johannes Otzen Monumentalformen der Spätromanik mit frühgotischen Elementen wie Rosetten und Rippengewölben zu einem staufischen »Übergangsstil« verband, den der nationalbewusste Wilhelminismus für sich als deutschen Stil deklarierte. Auch mit seiner Materialität, einem hellgelben Sandstein aus der Rheinpfalz, blinzelt die Ringkirche der deutschen Vergangenheit zu, bannt die Kirchenbautradition der rheinischen Dome in Speyer, Worms und Mainz. Dabei entwickelt die Ringkirche mit ihrer differenzierten Überlagerung räumlich-funktioneller Ideen durch zuwiderlaufende stilistische Erscheinungen ihr architektonisches Gewicht aus einer unklaren Empfindung zwischen Schein und Sein, die gänzlich der stilzitierenden »mittelalterlichen Bildauffassung« widerspricht, die Ernst Ullmann als Bild beschreibt, dass »sich nicht mit der Wiedergabe eines Augeneindrucks [begnügt], sondern […] dem Gesehenen das Gewußte hinzu[fügt].
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Nierhaus: 2014, S. 189 Bubner: 1983, S. 98; Ein allgemeines typisches Gestaltungsmerkmal der Wiesbadener Etagenhäuser sind die »stark hervortretenden, einst wohl durchweg offenen Veranden«: »Pate für die Vorbauten standen die Ausluchten der nordeuropäischen Renaissance, die im Unterschied zum Erker bereits vom Boden aus aufsteigen«; Kiesow: 2006, S. 190
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[…] Dienste und Rippen wollen keine Illusion schaffen, sondern machen das spezifische gotische Konstruktionssystem ästhetisch erlebbar.«89 Bei der Ringkirche überlagern sich einerseits die äußere und innere Gebäuderichtung. Angesichts des Bauplatzes, einer Kreuzungsinsel am westlichen Ende der Rheinstraße, ließ Johannes Otzen zugunsten der städtischen Wirkung eine östliche Schaufassade mit den 65 Meter hohen Zwillingsturm ausbilden, entschied sich gleichzeitig jedoch gegen eine innere Westorientierung, behielt die traditionelle Oststellung von Kanzel und Altar bei. So liegt die westliche Eingangshalle in einer Apsis, nicht unterhalb des Hauptturms. Andererseits wandelt sich die Ringkirche typologisch von einer Basilika mit Trikonchos im Äußeren zum Inneneindruck eines quadratisch aufgebauten, auf den vier Seiten durch Konchen erweiterten Zentralbaus, der ein festliches Versammlungshaus schafft, dessen stärkste Partien die großen Fensterrosen und eine sandsteinerne Kanzelwand bilden, die über einer bläulich-golden ausgemalten Nische mit einem fialengeschmückten Giebel aufragt. Außerhalb dieser im Späthistorismus überarbeiteten, verdichteten Stadt entstanden natürlich auch in Wiesbaden die für das 19. Jahrhundert zeittypischen Bebauungstypologien der Landhäuser und Villen als Darstellungsmittel einer verfeinerten Lebenskultur der geldschweren Schichten. Denn allein 300 Millionäre sollen um die Jahrhundertwende in »Pensionopolis« gelebt haben. Diese gepolsterten Existenzen zeigten in einem Kranz ausgedehnter Villengebiete, die sich zwischen viel Grün an den mittägigen, zum Kurbezirk gerichteten Hanglagen der hügelgetragenen Stadt entfalteten, wie sehr das Schicksal sie liebte. Das durch den wirtschaftlichen Aufschwung begünstigte Bürgertum machte hier mit Machtvergnügen in den historistischen Geprägen alter erhabener Stile Anspruch auf die architektonischen Privilegien der Aristokraten, nahm für ihre Urlaubs- und Ruhestandsfantasien die weltflüchtige Renaissance-Idee der »Villegiatura« wieder auf, des Rückzugs der begüterten Städter in ein Arkadien ländlicher Abgeschiedenheit. Im Nerotal und am dunkelbelaubten Bierstadter Hang, dem wichtigsten Villenviertel Wiesbadens, der bald »Millionärshügel« genannt wurde, breiteten sich ab den 1840ern zunächst klassizistische Villenbauten aus, bis sich langsam auch hier die historistischen Stilstufen oder Stilphasen zu überschichten begannen. Architekturstilistischer Hauptfundus des palladianisch inspirierten Wiesbadener Villenbaus, für dem die gereiften geldgierigen Instinkten von Spekulanten eine mitantreibende Kraft bildeten, blieb allerdings lange die Antike. Wie Bubner schrieb, wurde die renaissancistische »Villegiatura« eines antikischen Villenideals in gärtnerischer Weitläufigkeit »in dem Maße zur Rezeptur, wie sich der Gebrauch ästhetisch gesicherter Symbole als das Verlangen nach Sicherung des großbürgerlichen Eigenanspruchs enthüllte.«90 Erst im letzten Vierteljahrhundert unterlag diese Harmonie »in der Reinheit seiner vorzugsweise griechischen und römisch-republikanischen Formen […] im Kampf um den stärkeren Ausdruck der ideologischen Paraphrase. Der prunkende Hellenismus und die römisch-kaiserzeitlichen Stile wurden
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Ullmann: 1987, S. 62 Bubner: 1983, S. 46
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Sinnbilder und Metaphern von Reichsgründung und imperialer Macht und die mittelalterliche Wehr von Erkern, Zinnen und Türmen bedeutete gleichsam den Rückzug auf die gesicherten Positionen der eigenen, aufs neue verinnerlichten Geschichte.«91 Eine erste Abkehr vom Klassizismus, der bis dahin die Bauaufgabe Villa als palladianischer symmetrische Kubus prägte, gelang der berühmten Villa Clementine, die Georg Friedrich Fürstchen im Stil der italienischen Hochrenaissance errichtete und eine »Vorstellung von der Geisteshaltung in der Übergangszeit von der Tradition des Spätklassizismus zu den ausdrucksstärkeren Stilen«92 vermittelt. Die nach der noch vor der Fertigstellung 1882 verstorbenen Ehefrau des Bauherrn, eines Mainzer Fabrikanten, benannte Villa bildet einen asymmetrisch gestaffelten Baukörper aus, Risalite mit portikusartigen Loggien, cinquecentistische Gesimse, Scheinsäulen und Terrassenbalustraden verraten eine gute Schule, stehen im Einfluss von Gottfried Sempers Neorenaissance.93 Eine grundsätzlichere Entsagung vom apollinischen Wiesbadener Villenbautypus des symmetrisch-kubischen Klassizismus leitete dann das neugotische Solmsschlösschen ein, dass der Hannoveraner Architekt Ferdinand Schorbach zwischen 1890 und 1892 für den Prinzen Albrecht zu Solms-Braunfels am Scheitel des Bierstadter Hangs in einem die mittelalterliche deutsche Fachwerkarchitektur karessierenden Landhausstil errichtete, der bald Nachahmung fand. Vermittelt wurde diese altertümelnde Haltung durch das mittelhessische Schloss Braunfels, Stammsitz des Grafengeschlechts, der von Edwin Oppler, dem Lehrer Schorbachs, »von einem nüchternen mittelalterlich-barocken Bau zu einem weit in die Landschaft wirkenden romantischen, sehr malerischen Werk des Historismus umgestaltet wurde.«94 Dieser dynastisch sich versichernde Traditionsbezug ist allerdings nicht nur in einem regressiver Konservatismus begründet, sondern ebenso in der Rheinromantik, die als Spiegel bestimmter poetischer Empfindungen »vor allem Dunkelheiten in der Gotik suchte«95 . Das neugotische Solmsschlösschen, ein pittoresker Bau auf unregelmäßigen Grundriss, zeigt vergessene Posen deutscher Burgen: »Er folgt keiner starren Symmetrieachse mehr. Additiv werden um den turmartigen hochgezogenen zentralen Baukörper Flügelbauten, Ecktürme und Erker gruppiert. […] [D]azu kommt die Belebung durch das Fachwerk, das jetzt eine Wiedergeburt erlebte, nachdem es von der Mitte des 18. Jahrhunderts an unter Putz verborgen wurde, weil es zu Unrecht als Bauweise der armen Leute verschrien war.«96 Der Lebensstil des großbürgerlichen Milieus wechselte nun zu mehr Pomposität, die nur in einer zeitbedingt entfremdeten Rezeption wie mehr Leichtigkeit, mehr Heiterkeit erscheint. Die Selbstbeherrschung des Historismus wurde hier nicht selten überfordert, zur Verfestigung der Herrschaft der neuen Privilegierten eine hemmungslose Selbstverschwendung gefeiert: eine Heuchelei der Schönheiten in den geborgten 91 92 93
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Ebd., S. 46 Ebd., S. 84 »Zwar zeigt sich in einzelnen Baugliedern noch das hellenische Pathos eines Theophil Hansen, doch folgte die Architektur als Ganzes in ihren Durchdringungen, in der plastischen Gliederung und der Begrenzung von Dekor und Fläche in hohem Maß Sempers Prinzip.«; Ebd., S. 84 Kiesow: 2006, S. 218 Kamphausen: 1952, S. 26 Kiesow: 2006, S. 218
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Existenzen einer neu entdeckten, hinreißenden Welt der Historie. Die vielbeschäftigten Wiesbadener Villenarchitekten des Späthistorismus wie Alfred Schellenberg, Christian Dähne, Stanislaus Wojitowski und das Büro Josef Kreizner und Friedrich Hatzmann arrangierten sich in ihren buntgewürfelten, durchartikulierten Architektursprachen in individuierten künstlerischen Aneignungen mit den Geschmacksneigungen ihrer Bauherren. Christian Dähne präsentierte sich beispielsweise bei der 1903 errichteten Villa Uhlandstraße 4 mit ihren in roten Sandsteinmaßwerk akzentuierten Türmen, Balkonen, Erkern und Zwerchhäusern als Anhänger eines pittoresken Mittelalters, der sich in die innere Welt dieser Zeit vertiefte, während seine mit Eckturm und stufengiebelverzierten Risaliten gestaltete Villa Lessingstraße 5 von 1897 die deutsche Renaissance in plastischen weißen Sandsteingliederungen auf Backsteinflächen zur Entfaltung brachte. Die Wiesbadener Villenarchitekten entwickelten mal einen Renaissancismus nach altem maremminischen Blut, mal einen mit starkem deutschem Selbstgefühl durchdrungenen Nationalstil, der die Vaterlandsliebe der wilhelminischen Hurra-Patrioten beflügelte. Mal geriet der Neobarock französisch, in Zärte und Weichheit, mal zur Wassersucht der architektonischen Glieder. Die eher seltene Neugotik zeigte sich meist in einem romantischen Sehnsuchtsverhältnis deutsch, bei der Villa Emser Straße 47 hingegen als eine kleine Venedig-Eloge mit gotisches Maßwerkfenstern und gelb-rot wechselnden Klinkermustern, die sich an das zweifärbige Rautendekor des Dogenpalast anlehnt. Die 1906 fertiggestellte Villa Söhnlein-Pabst wiederum heißt nicht von ungefähr »Weißes Haus« und wurde auch nicht von ungefähr nach 1945 von der USMilitärverwaltung als Hauptquartier des Stützpunkts gewählt. Der Wiesbadener Sektfabrikant Söhnlein hatte sie auf Wunsch seiner amerikanischen Frau Emma aus der Brauereidynastie Pabst in Anlehnung an das Weiße Haus erbauen lassen. Wie bei der palladianischen Südfassade des amerikanischen Präsidentensitzes prägt ein segmentbogiger Mittelrisalit mit Kolossalsäulen und Balustradenbändern die Villa Söhnlein-Pabst. Geplant wurde sie von den beiden Schweizer Architekten Otto Pfleghard und Max Haefeli, die, ehe sie zu Schlüsselfiguren des Zürcher Späthistorismus aufstiegen, beide im Wiesbadener Büro des Alfred Schellenberg gearbeitet hatten. Allgemein, allein die Summe an illusionsverhafteten historistischen Villenbauten entlang des Nerotals und am Bierstadter Hang veranlasst zu Entzücken. In der Fülle und Pluralität. Als stilistisches Stimmendurcheinander, bei dem sich im Drang zur Übertrumpfung abgerundete Manieren und parvenühafte Züge, die ihre Stilzitat zu diabolischen Grimassen verfälschen, abwechseln. Die kurstädtischen Villengebiete bilden flimmernde Felder unterschiedlichster künstlerischer Verfeinerungsbedürfnisse, die allerdings immer auch, mehr Schein als Sein, das rohe Kolorit dieser Zeit zeigen, den Historismus in seinen Hemmungen, seinen Widersprüchen im Hintergrund greifbar machen. Wiesbadens Stilarchitekturen blieben allerdings natürlich nicht ein ausschließlich quantitativ faszinierendes Architekturphänomen – als eine ganze Stadt im Stilpluralismus des Späthistorismus, oszillierend »zwischen der eklektischen Nachahmung von Formen und dem ernsthaften Versuch, sich in die als mustergültig empfundenen Stile vergangener Epochen einzuführen; zwischen der zufällig wirkenden Ausbildung eines
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Stil-Pasticcio, dem […] Mangel an eigenen Impulsen anhaftet, und der Entwicklung eines eigenständigen Stiles, der […] ausreichend synthetisierende Kräfte besaß, um die historischen Stilphänomene an die Gegenwart zu binden.«97 Neben schematisierten Stilübernahmen mit geringer künstlerischer und dramatischer Qualität, die durch langweilige Variationen ihres Themas oder durch Nachlässigkeit und Ungeschicktheit im Zitat auffielen, gelangen dem Wiesbadener Späthistorismus herausragende Einzelarchitekturen, deren vieldeutige Stilreminiszenzen weitverzeigte, tiefreichende Wurzeln zurück in die Zeit trieben und damit dem Selbstdarstellungs- und Prinzipalitätseifer der eigenen, der Wilhelminischen Zeit materialisierten. Um 1900, künstlerisch eigentlich bereits die Überwindungsphase des Späthistorismus, fanden die Ideen und Gedanken, aber auch das Eigengewicht des Ästhetischen in der historistischen Architektur in Wiesbaden zu einem finalen kunstwürdigen Ausdruck. Während das nahe Darmstadt in Antagonismus zu den kaiserzeitlichen Verhältnissen in der mäzenatischen Künstlerkolonie Mathildenhöhe um Joseph Maria Olbrich bereits das Faszinierende und Dämonische des lästerlichen, sich einem Kulturwandel verschreibenden Jugendstils zur Entfaltung brachte, widerstand Wiesbaden den Einflüsterungen der secessionistischen Versucher und appretierte den späten Triumph einer auf das Gedächtnis einstürmenden, anspielungsreichen Stilbaukunst. In dem Eklektizisten Felix Genzmer, der jeder seiner einsichtsvoll und gelehrt zwischen Stilisierung und Erfindung pendelnden Formideen den Unterton einer fremden, romantischen Bedeutung beizufügen schien, fand die Bäderstadt als Stadtbaumeister »einen Mann mit schönheitlichem Empfinden und zugleich praktischem Sinn«, der mit »seinen beachtenswerten baulichen Leistungen […] maßgeblich zum Ruf Wiesbadens als hochelegantem Modebad«98 beitrug. In seiner zehnjährigen Stadtbaumeistertätigkeit von 1894 bis 1904, die fast über seine Kräfte ging, weitete Genzmer mit seiner malerischen, auf farbige architektonische Wirkung bedachten Bauweise den Möglichkeitshorizont des Historismus durch sensible Konventionslosigkeit. Ein Eigensinniger von ungewöhnlicher Größe kreierte Eindrücke, die die Sinne treffen – »vorzugsweise eklektizistisch. Für die Schaffung von Gestaltungsdetails bediente er sich der gesamten Stilbandbreite […], wiewohl er mit frei angewendeten niederländisch-flämischen und deutschen Renaissance- und Gotikformen das Gesamterscheinungsbild […] bestimmte.«99 Die von der Kunstgeschichte oft zu einer Entfremdungsepoche triumphierender Borniertheit erniedrigte letzten Entwicklungsstufe des Historismus erreichte mit Genzmer einen heimlichen Höhepunkt eklektizistischer Freiheit. Leider existieren bedeutende Werke Felix Genzmers, die seine polystilistische Geisteskonstitution und -konzentration in konkreten Mobilisierungen historischer Zierformen und Gliederungen zeigen, nicht mehr. Besonders die Zerstörung der Höheren Mäd97 98
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Herzog, Hans-Michael: »Neorenaissance«, in: Klaus Heise/Liselotte Heise (Hg.), Stilversuchungen. Historismus im 19. Jahrhundert, Bielefeld: Bielefelder Kunstverein 1991, S. 37 Schabe: 1997, S. 14; »Wiesbaden brachte Genzmer den seiner Persönlichkeit angemessenen Wirkungskreis und gab ihm […] die beste Möglichkeit zur vielseitigen Entfaltung seines architektonischen Könnens. Genzmer hatte damit das Glück, eine so umfang- und abwechslungsreiche Tätigkeit entfalten zu können, wie dies einem Kommunalbaumeister seiner Zeit nur selten beschieden war.«, ebd., S. 295 Ebd., S. 292
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chenschule am Schlossplatz durch Bombentreffer im Zweiten Weltkrieg wiegt schwer. Bei dem 1901 eingeweihten Schulgebäude, das mit seinem beiden sandsteinernen Schaufassaden eine imposante zweiseitige, mit Arkaden gefasste Platzwandung zur Marktkirche ausbildete, schuf Genzmer eine malerische Qualität über den Gesamteindruck der historischen Stilanleihen aus der Brabanter Spätgotik und der Weserrenaissance. Belgische gotische Staffelgiebel mit Kreuzblumenfialen und Kielbogenbekrönungen und eine Maßwerkgalerie am Traufgesims fügte er zu einem konzentriert und ensemblegerecht komponierten, dem preußischen Zeitvordergrund entsprechenden Monumentalismus. 1989 durch Brandstiftung vernichtet wurde das bereits aufgelassene Neroberghotel, ein mit einem Aussichtsturm ausgestattetes Ausflugscafé mit Blick auf die Stadt, dass Genzmer bis 1902 in einem späthistoristisch »altdeutschen« Stil zu einem zweiflügeligen Luxushotel mit Saalwirtschaft erweiterte.100 Eine verdichtete Wahrnehmung schuf dieses Wiesbadener Wahrzeichen durch »die Bewegtheit der Gebäudesilhouette, […] die malerische Bauweise mit fachwerksichtigen Baubestandteilen, die Ausprägung der Decken- und Dachkonstruktion mittels auf Sicht gearbeiteten Balken- und Zimmererwerks«101 – speziell in der Diagonalansicht der beiden Hauptschauseiten, wie Peter Schabe hervorhebt. Die »altdeutschen« Assoziationen der fränkischen Fachwerkpartien mit verputzdten Gefachen und der vielgestaltigen Schieferdachlandschaft ließ Genzmer im nun mit einer Spitze versehenen Aussichtsturm kulminieren: der »quadratische Ziegelturm hatte von Genzmer über seiner auf Rundbogenkonsolen auskragenden Aussichtsplattform einen exotischen hölzernen Aufsatz erhalten. Der Umgang des quadratischen Helmuntergeschosses war gedeckt, das schlanke Turmoktogon darüber mit minarettartiger Aussichtsterrasse und Laterne ausgestattet.«102 Erhalten geblieben ist die 1897 eröffnete Blücherschule, bei der Genzmer seinen polychromischen Eklektizismus ins Verwegene wechselte. Er konturierte den rechteckförmigen Riegel, dessen mit Rund- und Vorhangbögen fensterreich gegliederte Fronten über einem Erdgeschoß aus grauem Naturstein mit roten Klinkern und Sandsteinreliefs verblendet sind, mit Mittel- und Seitenrisaliten, die Kreuzdächer mit niederländischflämischen Renaissance-Giebelbauten abschließen. Zusammen mit einem verschiedenfarbig gemusterten Dach aus glasierten Falzziegeln, wie sie die burgundische Renaissance ausbildete, einer Dachlaterne, Turmbauten und die Firste bekrönenden Kreuzblumen geben die geschweiften Ziergiebel mit barockisierenden Knäufen und Vasen der Blücherschule »durch ihre vielgiebelige und -türmige Dachlandschaft ein märchenschloßartiges Aussehen«103 .
100 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Neroberghotel von der amerikanischen Besatzungsmacht als Offizierscasino beschlagnahmt. Nach der Rückgabe an die Stadt scheiterte ein erneuter Hotelbetrieb in den 1960ern. Einer Nutzung durch das Bundeskriminalamt in den 1970ern, die am Turm riesige Funkantennen anbrachten, folgten erfolglose Neunutzungsprojektierungen der Politik. 1986 gerieten Teile des Neroberghotels in Brand und mussten abgerissen werden. Ein weiteres, gelegtes Großfeuer 1989 zerstörte die übriggebliebenen, bereits stark beschädigten Trakte. 101 Ebd., S. 131 102 Ebd., S. 129 103 Ebd., S. 100; Speziell bei der »durch ein ständiges Auf und Ab der Baufluchtlinie« gekennzeichneten Rückseite mit ihren Turmanbauten, bei der, wie Schabe schreibt, der Späthistorismus be-
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Ebenso romantisch belegt ist Genzmers Römertor, ein Straßendurchbruch durch die spätantike Heidenmauer, eine halbverfallene römische Befestigungsanlage in der Altstadt. In diese Bresche setzte Genzmer über Torpfeilern und einem zinnenbesetzten Durchgangsbogen in Bruchstein eine hölzerne Bogenkonstruktion in altrömischer Technik, die der Trajansbrücke über die Donau im rumänischen Drobeta Turnu Severin nachempfunden ist, und einen überdachten Wehrgang mit Aussichtserker, der an die Luzerner Stadtbrücken erinnert, aber verrät, »daß es sich hier nicht um ein antikes Befestigungsbauwerk, sondern um eine Schöpfung des Späthistorismus handeln muß.«104 Neben diesem vom Idealismus ihrer Verfasserschaft erfüllten Werken Felix Genzmers, die in ihrer gestalterischen Aspiration, eine Vielzahl mittelalterlicher Stildetails einander ergänzen und ausbalancieren zu lassen, aufgingen, ragen speziell zwei Prachtbauten, die den Zenit des späthistoristischen Wiesbadens als von Selbstvertrauen und Überschwang erfülltes »Weltkurbad« zum Ausdruck brachten und die Träume, die das deutsche Kaiserreich verkaufte, symbolisierten, in ihrer erstaunlichen Architekturbehandlung aus dem allein an sich quantitativen Faszinosum, das Wiesbaden als Gesamtkunstwerk des Historismus ist, heraus: das Hessische Staatstheater und das Neue Kurhaus. Beides erstrangige Werke, mit ihren Bedingungen und in ihren Bedingungen, die gewaltig in ihrem Anspruch und gewaltig in ihrer Diktion, das Prunkbedürfnis und den Eskapismusanspruch einer lunatischen Gesellschaft in tiefgründige Architektur übertrugen. Diese wilhelminische Berauschtheit, durch die der Architektur die Zunge geläufig wurde, entfachte bei dem kaiserlich initiierten Hessischen Staatstheater, das bei seiner Eröffnung 1894 noch Neues Königliches Hoftheater hieß, einen opulent schwelgerischen Neobarock, der die Festtagsatmosphäre der jährlichen Kaiserempfänge in gelblichen Heilbronner Sandstein übertrug. Der Theaterneubau ersetzte das bis dahin bespielte, aber längst als zu klein und unrepräsentativ empfundene klassizistische Hoftheater. Die Architekten des zwischen 1892 und 1894 errichteten neobarocken Prachtbaus, der durch seine ausladende Massenverteilung einen unerschütterlichen Eindruck macht, während die detailsicheren Kunststückchen in der Fassadengestaltung mit sich selbst im Fieber tanzen, waren Ferdinand Fellner und Hermann Helmer. Ihr gemeinsames auf Bühnenhäuser spezialisiertes Wiener Atelier realisierte in Wiesbaden den 23. ihrer insgesamt 48 Theaterneubauten, einen preiswürdigen Wettbewerbsentwurf, der den Neobarock restlos in den kleinsten Feinheiten versteht und jedes Detail als Wirkungsmittel im riesenhaften Ganzen seinen Widerhall findet lässt. Außergewöhnlich ist an dem südlich des Zaisschen Kurbezirks platzierten Gebäude, dass die als Bühnenraum dienende Theaterrückseite als Schaufassade mit einem korinthischem Säulenportikus ausgeführt wurde, während sich der Haupteingang zurückhaltend in die klassizistischen Theaterkolonnaden einpasste, die als Wandelhalle anstelle eines repräsentativen Foyers fungierten. Damit gelang Hermann Helmer, bei dem
weist, wie »Gebäudeteile mit unterschiedlicher Funktion und Gestaltung spannungsreich in Beziehung gesetzt und dennoch zu einem einheitlichen Fassadenerscheinungsbild addiert werden konnten.«; ebd., S. 100 104 Ebd., S. 209
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die Planung des Staatstheaters lag, eine städtische Anbindung an den Kurhausplatz herzustellen und gleichzeitig kompensatorisch »dem Bauwerk dennoch ein Eigengewicht zu verschaffen, […] [indem] die Rückfront zur großen Schaufassade ausgestaltet [wurde]. Dies haben die Architekten des Funktionalismus im 20. Jahrhundert mit Genuss als einen Verstoß gegen die Einheit von Funktion und Form gerügt«105 . Die funktionalistische Anklage der Gekünsteltheit entkräftet die »Aufwertung der Bühnenhausseite und deren Drapierung mit wirkungsmächtigen Architektursymbolen wie Axialität, Säulen und Giebel«106 allerdings allein ästhetisch über den reichen architektonischen Schmuck. Die pompöse große Form rechtfertigt sich so selbst. Bei dem aus gräulichem Savonnières-Kalkstein geschaffenem Giebelrelief des falschen Eingangs, das Bildhauer Hermann Volz als Figurengruppe um eine weibliche Verkörperung der Poesie am Thron und figürlicher Symbolisierungen von Tragödie und Lustspiel als Sterbender und umschlungener Liebender theatralisch auflud, fängt die ästhetische Wahrnehmung gleichermaßen zu spielen an wie bei den Panther-Quadrigen von Bildhauer Gustav Eberlein, dem Hauptschmuck der Seitenfronten, über denen ein kuppelartiges Haubendach mit abgefasten Kanten ruht, das den aus der Kubatur ragenden Bühnenturm kaschiert.107 Auch im Zuschauerraum des Staatstheaters ist der Neobarock ganz bei sich. Die drei Ränge sind mit üppigen figürlichen Schmuck und Reliefs bestückt, das um den zentralen Messingkronleuchter ausgebreitete stuckgerahmte Deckengemälde des Wiesbadener Malers Kaspar Kögler belädt das Plafond mit allegorischen Darstellungen der Kurstadt: »Im Kult kostbarer Materialien, in Pomp und plastischem Überschwang war das Neubarock, zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch als Verirrung empfunden, damit erneut an die Grenzen des stilistischen Ausdrucks gekommen […] [und] signalisierte[] die Abkehr von der zeitbedingten Realität.«108 Speziell die 1902 seitlich an das Zuschauerhaus angebaute Foyererweiterung von Felix Genzmer, mit der den Repräsentationsbedürfnissen der Theatergäste während der Kaiserbesuche nachträglich mit einem prachterfüllten Pausenaufenthaltsraum genüge getan wurde, beförderte die eskapistische Selbstbegeisterung der feinen Gesellschaft. Genzmer, der auch hier als eine eigenständige, treibende Kraft des Wiesbadener Späthistorismus in Erscheinung trat, entlehnte beim Äußeren einen weichen, süddeutschen Barock für die ovalförmige Zentralkuppel und den mit Wappenkartusche verzierten Portalvorbau109 , im Inneren des elliptische Foyers beseligende Rokokoformen der Würzburger Residenz und des Brühler Schlosses Augustusburg Balthasar Neumanns.
105 Kiesow: 2005, S. 176 106 Bubner: 1983, S. 106 107 Ebenso festlich sind die Seitenfronten: »Die Gebäudemasse wird an der langgestreckten Seite zur Wilhelmstraße durch die Ausbildung von Risaliten und terrassenförmigen Rücksprüngen stark zergliedert, dazu kommen die Kolossalordnung der durch beide Obergeschosse reichenden Wandsäulen, die Gesimse und Fensterbekrönungen wie auch das starke Dachgebälk und die darüber liegende Attika«; Kiesow: 2005, S. 177 108 Bubner: 1983, S. 12 109 »War der Hauptbau hinsichtlich der Gliederung und der Massigkeit seiner Erscheinung noch von der Idee barocker Körperform geleitet, so zeigte das Foyer von Genzmer im Spiel der Achsen wie in den weicheren süddeutschen Formen die Kontrapunktik des Neubarock.«; Kiesow: 2006, S. 106
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Eine von Pfeilerkränzen eingefasste doppelläufig geschwungene Freitreppe mit floralen Gusseisengeländern führt zu balustraden- und draperiengesäumten Wandelgängen mit goldenen Stuckapplikationen und pastellfarbenen Scheinsäulen: »Architektur, Dekoration und Ornamentik wurden von Genzmer so aufeinander abgestimmt, daß ein von äußerster Harmonie geprägtes, spiegelsymmetrisches Raumgefüge entstanden ist. Grün marmorierte, schlanke Doppelsäulen mit vergoldeten korinthischen Kapitellen, mit Satyrn und Mänaden geschmückte Hermenpilaster […] und eine üppige Wandornamentik in Form von goldstuckierten Rocaillen und Kartuschen […] verleihen dem Foyer ein besonders festliches Aussehen.«110 Für den Prachtraum gilt der Titel, den Kaspar Köglers mit Rokokostuck gefasstes Gemälde der Kappengewölbedecke trägt: »Die Beglückung und Erhebung der Menschheit durch den vom Himmel herabgestiegenen Genius der Kunst«. Da auch das Kurhaus den steigenden Besucherzahlen der blühenden »Kaiserstadt« nicht mehr gewachsen war und in seiner klassizistischen Nüchternheit den selbstgewählten Repräsentationsansprüchen des Wilhelminismus und dem Vergleich mit den rivalisierenden Kurstädten Baden-Baden und Bad Homburg nicht mehr genügte, entschied sich Wiesbaden nach jahrzehntelanger Diskussion auch hier für einen Neubau, den Friedrich von Thiersch, nachdem er als Jury-Mitglied alle eingesandten Entwürfe eines Wettbewerbs verworfen hatte, zwischen 1905 und 1907 realisierte.111 An der Stelle des bei den Wiesbadenern beliebten Zaisschen Kurhauses, dessen Abbruch dem intervenierenden Kultusminister nach einem Entscheid der Kaisers, der sich hinter den Kulissen auch immer wieder in Thierschs Planungen einmischte, nicht zu verhindern gelang. Den über den Verlust ihres städtischen Wahrzeichens und gesellschaftlichen Mittelpunkts bestürzten Bürgern wurde nur ein kleines Fragment des Festbaus als Erinnerung belassen: zwei der Säulen, auf denen ein Stück des Architraven ruht, wurden – allerdings der Wahrheit zuwider – im Kurpark aufgestellt. Friedrich von Thiersch, ein Virtuose des späthistoristischen Renaissance- und Barockkultes, übernahm für das Neue Kurhaus dafür den klassizistischen Baugedanken des Christian Zais und überführte ihn zu einem prächtigeren Neoklassizismus, der zwar an dem Vergangenem nicht rüttelt, aber aus seiner nachdrücklichen Repräsentationskraft eine Spannung erwachsen lässt, die zugleich Unnahbarkeit und Leidenschaft ausdrückt. »Da man mit dem neobarocken Staatstheater […] den Geschmack des prunksüchtigen Kaisers getroffen hatte, verwundert es, dass hier am Kurhaus der Klassizismus gewählt wurde, der doch sonst im Oeuvre von Thiersch nicht vorkommt. Er selbst nennt dafür [jedoch] zwei Gründe: die Rücksichtnahme auf die klassizistischen 110
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Schabe: 1997, S. 230-231; »Die Neorokokoornamentik verselbständigt sich nicht, sondern ist dem ordnenden Rhythmus der Wandgliederung unterworfen. […] Die Farben Nilgrün, zartes Rosa, reines Weiß, Eifenbeinweiß und auch Gold dienen dazu, den Gestaltungsformen ihre letzte Bedeutung zu geben und den Raum, der in seiner Gliederung auf der Stufung aller Teile beruht, heller sowie noch ganzheitlicher erscheinen zu lassen.«; ebd., S. 231 Zum Nachteil des lange mit dem Kurhausneubau befassten Stadtbaumeisters Genzmer, der daraufhin Wiesbaden gekränkt den Rücken kehrte. Der Enttäuschte wechselte als Professor an die Technische Hochschule Berlin, protegiert von Wilhelm II., der den Erfolg des Theaterfoyers bei Schinkels Schauspielhaus wiederholt wissen wollte und Genzmer den Umbau in friderizianischem Barock anvertraute.
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Kolonnaden und die Erinnerung an das römische Wiesbaden«112 . Wie der schwindelmachende Neobarock des Hessischen Staatstheaters entfaltet auch die pathetische und intensive Beziehung zur Klassik, die Thiersch bei seinem Neuen Kurhaus einging, einen Historismus in seiner eigentlichen Stärke, Erinnerung und Erfindung zu vereinen und auch Falschtöne in der Wiedergabe in aufregende ästhetische Erfahrungen zu verwandeln – »noch einmal entstand in der sich auf dem Gipfel des gesellschaftlichen und finanziellen Glanzes befindlichen Stadt ein Zentrum äußerster Prachtentfaltung.«113 Die gestaffelte Hauptfassade aus präzise gefügten Sandsteinquadern akzentuieren ein wuchtiger ionischer Säulenportikus, dessen Gebälk unter dem Stadtwappen mit den drei Lilien mit der Inschrift »Aquis Mattiacis« auf das einstige Römerkastell verweist, und eine 21 Meter aufragende Glaskuppel über der zentralen Wandelhalle. Bei der aufwendigen, assoziationsstarken Innenarchitektur des Neuen Kurhauses durchdringen sich die Zeitschichten in vielseitigen Ausgestaltungen. Thiersch inszenierte, sicher in seinen Mitteln, das Eingangsfoyer ebenso in der pompösen Monumentalität römischer Thermen mit farbigen Natursteinverkleidungen, aus Bronze gegossenen Säulenkapitellen und einem kassettierten Tonnengewölbe, ehe er in einem stimmungs- und assoziationsbestimmten Stilpluralismus in der »geschichtliche[n] Vielfalt der Formen […] den Mythos von der idealen Einheit [zersprengt], der dem Klassizismus zugrunde liegt«114 , wie Mignon das Signum des Historismus beschrieb. Dieser die Fähigkeit zur Entsagung einbüßende späthistoristische Stilpluralismus zeigt unbeabsichtigt die Ambivalenz der Kaiserzeit auf, wie Manfred Gerber festhält. Darin, wie Thiersch »[z]weieinhalbtausend Jahre weltliches Abendland […] in seinem Kurhaus eingefangen« hat. Denn das Wiesbadener Kurhaus ist steht als »Schatztruhe der abendländischen Kultur« in der »Weltläufigkeit seiner Architektur in geradezu groteskem Kontrast zur nationalistischen Borniertheit der wilhelminischen Politik«115 . Im Südflügel der beiden symmetrisch lagernden Bauteile liegt der Friedrich-vonThiersch-Saal, ein säulenbestandener Festsaal mit Parkett und erstem Rang in goldstrotzendem Neobarock (– wobei für den preziösen Goldreichtum eine Messinglegierung eingesetzt wurde). Die umlaufenden Friese seiner goldverzierten kassettierten Gewölbedecke tragen dominante rotbraune Marmorsäulen mit goldenen korinthischen Kapitellen, die mit Wandvertäfelungen aus rötlichem Mahagoni und einem violett schimmernden Apsisfries über der Kaiserloge, dass in schmeichlerischer Geste den Kaiser als goldgezeichneten Sonnengott Helios im Streitwagen zeigt, ins beherrschende Goldleuchten eindrehen. Die klassizistischen Ideale des jungen 19. Jahrhunderts hatten sich in diesem die Pracht des Augenblicks in sich hineintrinkenden Neobarock verbraucht: »Man wollte wieder das Rauschende, Pompöse, mit machtvollen Akzenten Arbeitende, nicht mehr das Zierliche und Leichte, sondern das Schwere und Wuchtige. Nicht 112 113
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Kiesow: 2005, S. 186 von Hase: 1974, S. 147; Wiesbaden hatte lange auf eine Beteiligung des Kaisers an den weit überhöhten Baukosten gehofft, dieser bedankte sich jedoch mit der Kopie einer Bronzegussfigur von Wilhelm von Oranien: »Mit Wiesbaden hatte sein Namensvetter freilich nie etwas zu tun, und die Stadtväter hätten den kaiserlichen Dank für den Bau des Kurhauses auch lieber in barer Münze als in Bronze gesehen.«; Gerber: 2012, S. 66 Mignon: 1994, S. 18 Gerber: 2007, S. 8
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die Harmonie schön proportionierter Flächen, sondern die Massenwirkung plastisch ausladender Teile waren gefragt. Nicht mehr die Helligkeit klassizistischer Räume war modern, sondern der schwere, auf Gold und Rot dunkel getönte Prunk.«116 Im Nordflügel ließ Thiersch hingegen beim zweiten, kleineren Festsaal, dem Christian-Zais-Saal, unter der Wirkung vergangener Gefühle und Erinnerungen den alten Kursaal wiederauferstehen, ein Zugeständnis an die Wiesbadener Bürger. Die originalen Empireleuchter wurden elektrifiziert wiederverwendet, ebenso neupolierte Spolien – die bläulich schimmernden Schäfte der marmornen Säulen, die eine umlaufende Galerie ausbilden, entstammen dem Alten Kurhaus. Durch Thierschs Bedachtsamkeit »bewahrte der Raum seinen klassizistischen Charakter durch seine sparsame Dekorierung mit korinthischen Kapitellen und Basen aus Bronze und einem bronzefarbenen Fries aus Greifen, Vasen, Säulchen und Akanthusranken«117 . Die mit flachen Reliefs kassettierte Voutendecke ergänzte Thiersch um eine grazile elliptische Glaskuppel. Beim Weinsalon, in dem die seit 1948 wiedereröffnete Wiesbadener Spielbank untergebracht ist118 , wechselte Thiersch wiederum zum herberen Stil der nordischen Renaissance mit Wand- und Deckentäfelungen aus dunklem Kirschbaumholz, ausladenden Kristallluster, gedeckten Fresken und einem grünbraunen Brokatteppisch mit dem Liliensymbol des Wiesbadener Stadtwappens. Damit hat das Neue Kurhaus bei seinen stilpluralistischen Prachträumlichkeiten eine umfassende Rekapitulation der verfügbaren Kunststile der Vergangenheit ausgebreitet. Nur den Jugendstil hat Thiersch unberücksichtigt gelassen. Einzig den Südflügel abschließenden steinernen Muschelsaal, eine barocken Sala terrena, entzieht sich der obrigkeitlichen Etikette bei den düster nordischen Wandgemälden des Jugendstilkünstlers Fritz Erler. Bezeichnenderweise verweigerte bei der Einweihungszeremonie Kaiser Wilhelm II., bekannt für Taktlosigkeiten und direkt ausgetragene Injurien, wegen der Vorbedeutung dieser Zeichen demonstrativ ein Betreten des Muschelsaals. »Angeblich wollte er die nackten Gestalten der Kaiserin nicht zumuten. In Wirklichkeit sah er in Erler zu Recht einen Vertreter der aufmüpfigen, republikanisch gesinnten Jugend.«119 »Als Weltkurstadt schreibt Wiesbaden sich inzwischen selbst in Anführungszeichen.« 120 Die Ära des Historismus lief dann allerdings auch in Wiesbaden nach 1900 langsam aus, die Zeit arbeitete nun nicht mehr für die Stilarchitekturen. »Die Gestaltungskräfte einer im nachklingenden Rausch des fin de siécle schwelgenden Gesellschaft […] harrten
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Blanchebarbe: 1991, S. 46 Kiesow: 2006, S. 19 Mit der »Spielbankaffäre« beherrschte das Casino das Wiesbaden der Nachkriegsjahre auch politisch, da hinter der erfolgreichen Konzessionsbewerbung des später zum Ehrenbürger ernannten langjährigen Spielbankdirektors Carol Nachman, einem Rumänen, der mit falschem Grafentitel als einschlägiger Falschspieler und Geldfälscher aufgefallen war, Schmiergeldzahlungen vermutet wurden. 119 Kiesow: 2005, S. 188; Der Kaiser fand Erlers Malerei »geschmacklos«: »›Ostentativ‹ überging er den Saal. Den armen Erler hatte man kurz vor der Ankunft des Kaisers wieder ausgeladen, um weiteren Verstimmungen vorzubeugen.«; Gerber: 2007, S. 20 120 Boller, Wolfgang: »Gestörtes Ideal. Das Heilbad spielt eine Nebenrolle«, in: Die Zeit, 40/1977
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einer ideellen und handwerklichen Reform, die sich in einer allmählichen Verwandlung und Stilisierung des architektonischen Details zu regen begann«121 . Weniger durch eine nachlassende Publikumswirksamkeit begründet, als durch die Selbstirritation jener Architekten, die eine künstlerische Überwindung des Grundwiderspruchs der Stilarchitekturen in Angriff nahmen, des Kennzeichnenden des Historismus: »die Zerspannung und das Zerreißen des Verhältnisses von Zweck und Absicht, Funktion und Repräsentation«, die, wie es Lemper notierte, die Entwicklungstendenzen »zu Typenvermengung und Sinnentleerung [führte], weil der historisch belehnte Typus von vornherein mit einem ideellen und funktionellen Programm überfordert wurde, dessen Bestandteile nicht in Übereinklang standen.«122 Zwei diese Krise verarbeitende Architekturentwicklungen, die zu mindestens einen gefühlten geistigen Riss auftaten, betraten nun die Bühne. Zum einen ein genügsamer, alibidonöser Neoklassizismus, ein Stil pythischer Aura im Übergang zu einer und der Neuen Sachlichkeit, bei der die Stimme des Verzichts stärker und stärker wurde. Zum anderen das künstlerische Heilsverlangen des Jugendstils mit seinem vielverheißenden und dabei nichts versprechenden Anfang. Auch wenn die wenigen ausgeprägten Jugendstilbauten der Stadt sich in der »nervenfeinen Kunst« einer »absichtlich geistreichen Verneinungen des alten Geschmackes«123 nur in floraler Ornamentik Neuheit erdreisteten, Flachreliefs mit verschlungenen Blattranken, ausgerundete Friese, Girlanden und Masken auf bewährte gründerzeitliche Bautypen appliziert wurden, die »eigentlich lediglich in anderer Form eine durchaus verbreitete Bauweise [repräsentierten]: in Villenform gekleidete Mietshäuser mit großzügigen Wohnetagen«124 . Wie Kiesow hervorhebt, verhinderte die kulturelle Hegemonie des Wilhelminismus in Wiesbaden eine stärkere Ausbreitung. Das »der Monarchie in Treue ergebene Großbürgertum« blieb in seinen geschmacklichen Präferenzen dem Neobarock verhaftet, der dem »Herrschaftsanspruch und Prunkbedürfnis der dem Untergang zutreibenden Monarchien« entsprach und beäugte den ästhetisch in unbekannte Gefilde entschwebenden Jugendstil als Kunstartikulation einer »republikanisch gesonnenen jungen, künstlerisch progressiven Generation«125 mit Argwohn. Die Beamten- und Pensionärsstadt, der als Kurbad der kaiserlichen Kamarilla Byzantinismus nicht nur als Architekturstil der Griechischen Kapelle vertraut war, zeigte sich betont preußisch und konservativ, teilte ihres Kaisers Indigniertheit über die neue Kunst und verspürte kein Verlangen, an der aristokratisch-bürgerlichen Scheinparität des gesellschaftlichen Gefüges zu rütteln, wie auch Landwehr urteilt: »Der erworbene Luxus und die damit verbundene Saturiertheit machte das ehemals so fortschrittliche und wagemutige Bürgertum, das seine ganze Energie in die Überwindung der erblichen Adelsherrschaft und der damit verbundenen Besitzstandswahrung investiert hatte, so konservativ wie sein früheres Feindbild. Mehr noch: Man wollte nun
121 122 123 124 125
Bubner: 1983, S. 102 Lemper: 1985, S. 66 Gurlitt: 1969, S. 135 Diehl/Weichel: 2007, S. 39 Kiesow: 2005, S. 207
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so sein, wie der Adel gewesen war und sich […] den Traum von einem Leben verwirklichen, das man früher als zutiefst ungerecht betrachtet hatte.«126 Bezeichnenderweise beschränken sich die beiden innenräumlich prächtigsten Jugendstilbauten in Wiesbaden, die Lutherkirche und das Kaiser-Friedrich-Bad, daher in ihrem Äußeren auf den diszipliniert wirkenden, Kältemetaphern strapazierenden Neoklassizismus der 1910er. Die 1910 fertiggestellte evangelische Lutherkirche von Friedrich Pützer, einem gemäßigt traditionalistisch veranlagten Architekten, der Jugendstilversatzstücke bei einzelnen seiner Bauten nur in Brisen einarbeitete, bestimmt die nüchterne Wuchtigkeit eines riesigen steilen Walmdachs und eines 50 Meter hohen, reduziert ausgestalteten Kirchturms mit Spitzdach. In düsterem Dunkelgrau akzentuierte sie Pützer gegen die weißen Putzfassaden des Kirchenschiffs und seiner angebauten Pfarrgebäude und Treppenhaustürmchen, und greift nur sparsam überlieferte Bauideen auf, beispielsweise bei der als Giebel ausgebildeten Nordfassade, die mit ihren mit Muschelkalk eingefassten Fenstern »stark an ein Bürgerhaus des 16. Jahrhunderts [errinnert], denn über der kleinen Apsis für die Taufkapelle erhebt sich ein Erker, der eigentlich an einem Sakralbau keinen Sinn macht.«127 Die Innenwirkung der Lutherkirche kippt in ihrem Flirren der Farben und Verzierungen dazu ums Ganze. Auf ein mit byzantinischen Mosaikarbeiten des Bildhauers Augusto Varnesi verschönertes neoromanischen Eingangsportal folgen eine Taufkapelle, deren goldene Kacheln und Schmiedeeisengitter Varnesi mit Spiralsymbolen schmückte, und der durch seine aufreibende Farbdramaturgie gekennzeichnete elliptische Kirchenraum, den Pützer gemeinschaftlich mit Varnesi und dem Kirchenmaler Otto Linnemann entwickelte. Braune, ornamentverzierte Holztäfelungen verkleiden diesen bis zu umlaufenden Emporenbrüstungen, die beim Kanzelaltar in eine Stufenanlage zu Sängertribüne und Orgel übergehen. Darüber spannt sich über vier in sattem Grün mit vegetabiler Ornamentik bemalten Pfeilern ein neugotisches Kreuzrippengewölbe mit gebusten Kappen auf, das eine festliche, sich allen stilistischen Kategorisierungen entziehende gelb-weiß definierte Bemalung erhielt, die einem zwar in ihrem vitalen Farb- und Linienreichtum eine konzentrierte Feierlichkeit erzeugt, gleichzeitig jedoch im Nahblick der einzelnen verwirrenden und verwickelnden Stilisierungen, der Pfeile, Spiralen und Kringel, den Kopf schwindelt lässt. Auch die gräuliche äußere Gestalt des Kaiser-Friedrich-Bads, von August O. Pauly zwischen 1910 und 1913 errichtet, lässt sich nicht dem Jugendstil zuweisen. Sein gaubenbespieltes Mansarddach hat barocke, der Außenbau neoklassizistische Züge, die eine »geistige Nähe zu den nur unweit gelegenen römischen Thermen belegen sollte. Das Gebäude zeigt […] eine strenge, vertikal und horizontal gegliederte Fassade aus Muschelkalk mit dorischem Portikus, deren Großordnung aus Pilastern und Halbsäulen die dazwischenliegenden kräftigen Reliefs umrahmt«128 . Die Innenausstattung des Wiesbadener Malers und Innenarchitekten Hans Völcker bringt hingegen mit ihren einzelnen künstlerischen Details jugendstilistische Überwindungsintentionen zum Ausdruck. Zwar treibt das Kaiser-Friedrich-Bad ein nur mäßig aufwieglerischer Geist an, 126 127 128
Landwehr: 2012, S. 50 Kiesow: 2006, S. 181 Bubner: 1983, S. 113-114
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keine, wie es bei Muthesius heißt, »Sucht nach sensationellen Gestaltungen«129 , die sich ins verspielt Vegetabile, Fließende aufmacht, zu »Formen, die grundsätzlich mit den überlieferten nichts mehr gemein haben sollten.« Den Prunk des Späthistorismus aber lässt auch diese Architektur hinter sich. Bei dem mit düsteren secessionistischen Friesen von einem dunkel-nordischen Element gekennzeichneten Vestibül ebenso wie bei der kachelbelegten Schwimmhalle, die verzierte Darmstädter Jugendstil-Keramiken einsetzt, wobei speziell die plastischen graubraunen Kacheln, die Pfeiler und Rundbögen des um das Becken geführten Arkadengangs einfassen, dem mit einem JugendstilWandfries und apsisgleichen Duschnischen geschmückten Bad künstlerische Gravität verleihen. Einen ähnlichen Widerspruch zwischen Innen und Außen, zwischen einer nüchternen, erstarrten neuklassizistischen Fassade und einem unerwartet andersartigen Innenraum schuf Theodor Fischer bei seinem in der gleichen Zeit errichteten Museum Wiesbaden. Ist man die Freitreppe des zurückgesetzten antikisierten Säulenportikus des zweiflügeligen Gebäudes hinaufgestiegen, »erwartet den Besucher eine Überraschung, tritt er doch in eine Nachbildung der Aachener Pfalzkapelle Karls des Großen ein. Bei der innovativen Gestaltung des Außenbaus hätte man den Rückfall in einen Historismus, den man durch den Jugendstil für überwunden hielt, nicht erwartet«130 , kritisierte Kiesow. Dabei ist gerade diese unvermittelte Imitation der karolingischen Pfalzkapelle in der Artifizialität und Unbedarftheit der Wiedergabe das Faszinierende dieses Baus. Mit dem Untergang des deutschen Kaiserreichs brach das wilhelminische Machtgespinst zusammen, war Wiesbaden dann »geradezu schockartig seiner Rolle als Repräsentationskulisse der Wichtigen und Mächtigen beraubt. Glanz und Abglanz des Kaisers dahin, das weltkurstädtische Selbstbewusstsein gebrochen.«131 Damit gewannen dann aber auch in der architektonisch lange karthasisresistenten Stadt die entschnörkelten Formen der Moderne die Hoheit, ersetzten nun die in der Feindbeschreibung von Enthemmtheit gezeichneten, empörenden Verderbheiten der eklektizistischen Extensivpoesie. Nach 1918, nach dem Tanz, müde und durstend, wurde in Wiesbaden zwar kaum gebaut, die Kampfziele der Glaubensstreiter der kulturräsonierenden Neuen Sachlichkeit waren nun aber die stringenter artikulierten – auch als Generalabrechnung mit den gesellschaftlichen Zuständen des reaktionären, in seine Theatralik verliebten Kaiserreichs, das einen allgemeinen Falschheitsverdacht zurückließ, das Gefühl, an der Nase herumgeführt worden zu sein. Die Zukünftler, die in ihrer maschinenherrlichen Funktionslust auf Anleihen aus der Vergangenheit mit Verachtung herabsahen, gingen auf Diät, um den Bann der als unaufrichtig und affektiert verurteilten Stilarchitektur zu brechen. Alle Finten wurden in inquisitorischer Haltung entlarvt, um den Historismus ins Lächerliche zu ziehen, unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Und auch die künstlerischen Absichten des fluchtverheißenden, aber bereits wieder entschwindenden Jugendstils wurden, wie zum Beispiel Muthesius kritisierte, als ein nur im applizierbaren Bauschmuck verändertes Weiterführen alter Architekturaxiomatik abgelehnt: »Es sind eben wieder Formen, […] im
129 Muthesius: 1902, S. 57 130 Kiesow: 2006, S. 85 131 Gerber: 2007, S. 65
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Grunde also wieder die alte Stil- und Ornamentmisere. Denn was kann es der Menschheit nützen, wenn sie nun jetzt statt der alten Akanthusranke eine solche aus Linienschnörkeln vorgeführt erhält?«132 Nach 1945, in den Nachkriegs- und Wirtschaftswunderjahren, war es dieser apodiktische Urteilsspruch über Historismus und Jugendstil, der in Wiesbaden wie auch im übrigen Deutschland keinen oder nun wenig traditionsgebundenen, künstlerisch nachschaffenden Wiederaufbau zuließ, der die Stadtgrundrisse und -architekturen des Historismus beibehalten hätte. Durch die »die einsetzende Vergangenheitsverdrängung [wurde] die aus dem vorigen Jahrhundert überkommene Baukunst weiterhin geringschätzig behandelt. Die in der Spätphase des 19. Jahrhunderts in deutschen Städten entstandenen Gebäude galten häufig als billige Plagiate«133 . Die bundesrepublikanischen Aufbruchs- und Aufschwungsjahre versuchten gar nicht, einen Dialog mit den in Überverallgemeinerung als unzeitgemäße Figuren geringgeschätzten Wiesbadener Stadtgeschichte in Gang zu bringen, der mit behutsamen Phrasen erwidern würde. So gesehen rissen »[d]ie Bomben des Zweiten Weltkrieges sowie eine die Vergangenheit missachtende Abrisswut in den 1960er[n] […] [gleichermaßen] Lücken in den Baubestand.«134 Stark beeinträchtigt wurde der Schlossplatz, wo Sprengbomben Genzmers Höhere Mädchenschule zerstörten und das Neue Rathaus massiv beschädigten. Ebenso zerbombt und später mit unpassenden Ersatzbauten verunstaltet wurde der Kaiser-Friedrich-Platz. Anstelle des Grandhotels Vier Jahreszeiten, entstand 1958 durch Rudolf Dörr ein gleichnamiges funktionalistisch gestaltetes Appartementhaus, dass allein durch seine veränderte Lage und Kubatur den Stadtgrundriss schwächt und beispielhaft »de[n] Zeitgeist des aufkommenden Wirtschaftswunders wieder[spiegelt], in dem historische Bezüge nichts galten«135 . Auch der luxuriöse Nassauer Hof, der so bezeichnete »Balkon Europas«, von Alfred Schellenberg um 1900 zu einem neobarocken Grandhotel umgebaut und 1945 ausgebrannt, wurde 1950 durch Ernst Neufert unglücklich wiedererrichtet: ohne die üppige Dach- und Kuppellandschaft, dafür mit zwei zusätzlichen, nüchtern gefassten Etagen, die den Neobarock mit Scheinsäulen in Kolossalordnung, Balustraden und bauchigen gusseisernen Balkonen unakzentuiert überbauen, »den erhaltenen drei unteren Geschossen ihre Wirkung«136 nehmen. Die bauwütigen Wirtschaftswunderjahre mit ihrem weltläufigen RasterfassadenFunktionalismus, »hinter dessen Anonymität und Gleichförmigkeit die Lebenslüge der Adenauerzeit […] gepflegt und die Vergangenheit verdrängt werden konnte«137 , fraßen sich nun auch durch Wiesbadens Historisches Fünfeck. Und erst als jenen deutschen Städten, deren historische Stadtkerne wie beispielsweise in Landshut, Bamberg, Regensburg oder eben Wiesbaden nicht unter den alliierten Luftangriffen unwiederbringlich in Flammen aufgingen, durch Karstadt- und Horten-Kaufhäuser, Parkhäuser und Bürogebäude im »Natursteinprotz der Geldmacht« stärkere Verluste an historischer Bau132 133 134 135 136 137
Muthesius: 1902, S. 57 Schabe: 1997, S. 281 Diehl/Weichel: 2007, S. 5 Kiesow: 2006, S. 32 Ebd., S. 31 Nerdinger: 2012, S. 100
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substanz und gewachsener architektonischer Strukturen zugefügt worden waren als durch Kriegsschäden, fanden Stadtgestaltung und Stadterhaltung ab den 1970ern wieder zueinander. In erster Linie, weil sich die städtebaulichen Ideale der Moderne in ihrer Umsetzung falsifizierten und die Städte unter den nicht nur ästhetischen Erbarmungslosigkeiten des Bauwirtschaftsfunktionalismus litten. Denn abseits seiner erstrangigen Meisterwerke, die man allerdings in Wiesbaden – mit Ausnahme von Johann Wilhelm Lehrs Kubus Haus Hoffmann von 1927, Franz Schusters und Edmund Fabrys Opelbad am Neroberg von 1934 und Marcel Breuers kriegszerstörtem Haus Harnischmacher von 1932 – nicht findet, erwies sich der Funktionalismus in seinen Allgemeinbedingungen, wie er »als Kehrseite des Neuen Bauens hervortritt«, so Günther Fischer, als »ein Schritt aus der Architektur heraus, nicht Transformation und Weiterentwicklung, sondern Deformation und Zerstörung der architektonischen Dimensionen.«138 Selbst wenn er ästhetisiert, ist er, nicht nur im Urteil Adornos, als »Versuch, von außen her, als Korrektiv, Phantasie hinzutreten zu lassen, der Sache durch etwas aufzuhelfen, was nicht aus ihr stammt, vergeblich und dient der falschen Auferstehung des von der neuen Architektur Kritisierten, Schmückenden. Nichts Trostlosere als die gemäßigte Moderne des deutschen Wiederaufbaustils«139 . Aber auch ein verändertes Qualitätsbewusstsein für die versiegelten städtischen Bilder vergangener Jahrhunderte führte zu einer verspäteten Würdigung der Baukunst des Historismus und der ihr immanenten funktionsintegrierten Stadtkultur. Die Lebensansprüche der Stadtbewohner der deutschen Gegenwartsgesellschaft finden sich in Gründerzeitbauten wieder, die klassische Spätbürgerlichkeit wie auch Hipster-Kultur und Bionade-Biedermeier mit Alternativhabitus, während der Nachkriegsfunktionalismus einem allenfalls verächtliche Grimassen abringt. Die Manieriertheit der Wiesbadener Stadtkulisse, das gedämpfte Flair der verblichenen wilhelminischen »Weltkurstadt«, hat hingegen bereits seit den Anfängen der Bundesrepublik mit deren unterschiedlichen Mentalitätshintergründen zusammengespielt. In Wiesbaden gelangt – im Verwaltungsgebuckel als Landeshauptstadt, aber auch in der Gesamtheit der massengesellschaftlichen Verquickungen – ein Deutschland zur Aufführung, dass sich zwar gerade ein wenig in seinen Gegenwartsstimmungen zu verlieren scheint, die Bitternis unzufriedener Kleinbürgerkreise aufschaukelt, aber im Ganzen eine musterhaft undramatische Gesellschaft repräsentiert, die sich mit ausgestellter Liberalität in ihrer, wie es bei Diedrich Diederichsen einmal über die Berliner Republik heißt, »Gravität pragmatischer Politik und Kann-nicht-andersKapitalismus«140 eingerichtet hat; in der die Dinge in gewissen Bahnen verlaufen. Gerade in einer vergleichsweise reichen Stadt wie Wiesbaden, in der sich der demoskopierte Normalbürger zwar natürlich auch in Zufriedene und Unzufriedene, in Privilegierte und Unterprivilegierte, in Progressive und Konservative teilt, aber alles in allem mit den Verhältnissen einverstanden zu sein scheint.
138 Fischer: 1987, S. 11 139 Adorno: 1967, S. 114 140 Diederichsen: 1999, S. 12
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Bereits die frühe BRD hat die nachklingende Blasiertheit Wiesbadens für die Aufwärtsfantasien der Wirtschaftswunderjahre transportiert, als Deutschland zwar eine ungekannte kapitalistische Dynamik erfasste, gesellschaftlich die Zeit allerdings mit aller Macht angehalten wurde – in der »Nierentisch-Idylle« der autoritären Adenauer-Ära, deren abwiegelnder Restaurationsgeist dem Ruhebedürfnis nach der Nazi-Tyrannei entsprach. Die impassible Nachkriegsgesellschaft, mit ihrer justierten Bereitschaft zu einem mittleren Aufwand an Gedanken und Gefühlen, und ihrer niedergehaltenen Schuld- und Trauerreaktion, fand sich kultiviert in Frack und Abendkleid an der Spielbank ein. Wiesbaden kultivierte das unscharfe Bild einer behäbigen Spätbürgerlichkeit mit Goldleisten und Tulpenleuchtern, das der verkultete Untergrundliterat Jörg Fauser später, im Reichtum des entwickelten Rheinischen Kapitalismus, in der Bäderstadt aufschnappte: »die Sektvertreter und die Tennislehrerinnen, die Bonzen und den Plastikmüll einer Bohème, die genauso überholt war wie die Wilhelminischen Fassaden an den Bürgergräbern. Hier wurde das Geld gehortet, […] hier wurde es vermehrt und verwaltet und vergötzt, hier auf den Höhen über der vergifteten Steppe konservierte sich der Biedermeier, und mit scheelen Blicken führten die pensionierten Kriegsverbrecher ihre Schäferhunde spazieren«141 . Man kann sich Wiesbadens Gründerzeitstadtteile und Villenquartiere, in denen die vor der »Yuppification« im Habitus schwächelten Säfte des deutschen Bürgertums lethargisch zerrannen, als geradezu prädestinierte Schauplätze der freilich in München spielenden Fernsehserie Derrick vorstellen. Jene gerade auch die internationale Wahrnehmung des beruflich und privat gleichermaßen gemäßigten, behäbigen westdeutschen Nachkriegscharakters auf mustergültige Art bestätigende Krimireihe, in der Horst Tappert als Oberinspektor Derrick zu einem Inbegriff bundesrepublikanischer Mittelmäßigkeit wurde. Ein manierlicher, bürokratischer Mann, in jeder Faser Mehrheit, Durchschnitt – mit »wäßrigen Blick und d[em] traurige[n] Lächeln eines geborenen Witwers, […] [der] Anzüge von der Stange mit grauenvollen Krawatten [trägt], und seine Mitstreiter gehen in Lederjacken und Jeans, die nicht einmal richtig verwaschen sind.«142 Nicht nur Umberto Eco rekapitulierte Derricks habituelles Mittelmaß als Inkarnation nachkriegsdeutscher Alltäglichkeit, als »Quintessenz aller TV-Spektakel, auch derer, in denen reale Personen auftreten, die nur geliebt werden, wenn sie sich auf triumphale Weise als noch mediokrer denn die mediokersten Zuschauer erweisen. […] Derrick gibt allen ein gutes Gefühl, auch denen, die sich für überlegen halten, denn er läßt in jedem von uns die Mittelmäßigkeit wieder aufblühen, die wir glaubten verdrängt zu haben.«143 Die architektonischen Inauthentizitäten, die der historistischen Wiesbadener Stadtarchitektur immanent sind, führen daher im Ganzen zu keinen aufwühlenden Irritationen der bundesrepublikanischen Mittelklasseästhetik. In der spätbürgerlichen 141 Fauser, Jörg: Mann und Maus. Gesammelte Erzählungen II, Berlin: Alexander 2006, S. 136 142 Eco, Umberto: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß, München: Carl Hanser 2000, S. 97 143 Ebd., S. 100; Derricks mediokre Erscheinung, so Eco, wurde freilich von seinen Gegenspielern meist noch unterboten: »Er hat es fast immer mit Leuten zu tun, die niedriger stehen und schlechter gekleidet sind als er, dazu noch psychisch labil und eingeschüchtert durch einen Vertreter des Gesetzes, wie es bei jedem guten Deutschen vorkommt. Seine Schuldigen sehen so unverschämt schuldig aus, daß sie gewöhnlich sogar von Harry erkannt werden«; ebd., S. 98
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Saturiertheit des Wiesbadener Stadtmilieus findet sich das undramatische, alltägliche ästhetische Bewusstsein der deutschen Mehrheitsgesellschaft durchaus wieder, dieses hat weder Sinn noch Empfänglichkeit dafür, in Wiesbadens Späthistorismus Beunruhigendes oder Unbegriffenes auszumachen. Zwar stimuliert die einstige »Weltkurstadt« die kulturelle Imagination nicht in der Weise wie die deutschen Millionenstädte Berlin, Hamburg und München, und auch nicht in der Weise wie die behaglichen mittelalterlichen Altstädte Lübeck, Bamberg, Heidelberg, Quedlinburg oder Rothenburg ob der Tauber, aber alles in allem gefällt Deutschland Wiesbaden. Im seinem gediegenen kurstädtischen Ambiente aus Grand Hotels, Spielbank, Wandelhallen und Springbrunnen überdauert der Abglanz der einst exklusiven Modebäder, allerdings verwandelt und demokratisiert durch das gemächliche, wattige Fluidum bundesrepublikanischer Heilbäder, das Wiesbaden in ähnlicher Weise umspült wie die anderen führenden Adressen dieser Zeit – wie Baden-Baden, Bad Ems, Bad Homburg vor der Höhe, Bad Kissingen, Bad Pyrmont, Bad Oeynhausen, Bad Reichenhall. Das Inauthentische an der Inflation an überhitzten, schwülstigen, auch abgegriffenen Zitatarchitekturen im Wiesbadener Historismus wird dann zwar stadtästhetisch durch das Akkurate, das Disziplinierte des Stadtalltags nicht annulliert, aber irgendwie geschluckt. Durch seltsame Augenblicke, in den einen eine Ergriffenheit, ein Unwohlsein über die deutsche Ordentlichkeit einholt. Einen jene Gefühlsvaleurs erreichen, die W. G. Sebald bei einer Zugreise durch das »von jeher unbegreifliche, bis in den letzten Winkel aufgeräumte und begradigte deutsche Land« erlebte: »Auf eine ungute Art befriedet und betäubt schien mir alles, und das Gefühl der Betäubung erfaßte bald auch mich. […] Seitwärts zogen die Felder vorbei und die Äcker, auf denen die blaßgrüne Wintersaat vorschriftsmäßig aufgegangen war; Waldparzellen, Kiesgruben, Fußballplätze, Werksanlagen und die entsprechend den Bebauungsplänen Jahr für Jahr weiter sich ausdehnenden Kolonien der Reihen- und Einfamilienhäuser hinter ihren Jägerzäunen und Ligusterhecken.«144
144 Sebald: 1990, S. 276-277
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»It was Vegas before Vegas; Disney before Disney« 1 Atlantic City, die einst illustre Vergnügungsstadt an der Südküste von New Jersey, die einen zweieinhalb Autostunden südlich von New York mit ihrem unaufrichtigen Lächeln begrüßt, hat nicht geringe Albtraumqualitäten. Das einst glamouröse Seebad an der saphirblauen Atlantikküste, das mit seinen Vergnügungspiers, Grand Hotels und seiner holzbeplankten Strandpromenade, dem berühmten Boardwalk, in den Jahrzehnten vor und nach 1900 zu »America’s Favorite Playground«, zur Brutschale einer massenadressierten Urlaubs- und Unterhaltungsindustrie avancierte, und in den »Roaring Twenties«, in der Zeit der Prohibition, als heimliche Hauptstadt des illegalen Ausschanks von Alkohol berüchtigt war, ist nun Amerika, wie es am schlimmsten ist. Aus einer für Generationen magischen Adresse, die Extravaganz mit Frivolität und Unanständigkeit verband, einem »Ort der wüsten Ausschweifungen und der goldenen Gelegenheiten«2 , der seinen Besuchern die Illusion zu geben verstand, sich hier eine Upper-Class-Behandlung einzukaufen, ist eine ins Uninteressante veränderte und in ihrer Würde arg verkürzte Casinostadt geworden, die einem in ihrem derangierten Zustand zugleich zu wenig und zu viel verspricht. Es ist leicht, sich in der Abqualifizierung dieser vermasselten Stadt zu verausgaben. Einem selbst für unterrepräsentative US-Verhältnisse räudigen Stadtschicksal, dass in seiner unverwundenen Erniedrigung nicht mehr viel mehr ist als eine ausgedünnte Brache aus Fastfood-Restaurants, Parkplätzen, Abbruchhäusern, Schnapsläden und Pfandleihern. Als Stadt ist Atlantic City ein Gruselpatient für urbanistische Verfallsanalytiker, eine armuts- und kriminalitätsgeplagte innerstädtische Hinfälligkeit im vernachlässigten Rückraum riesenhafter Casinobauten. Hässlichkeit und Traurigkeit für die Abgehängten des Kapitalismus. Denn als das alte Atlantic City nach 1945 das Glück aus den Händen gefallen war und man die alten abgetakelten Grand Hotels abgerissen hatte,
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Vicki Gold Levi, in: Sharkey, Joe; »Atlantic City: A Boardwalk, but No Diving Horse«, in: The New York Times, 30.11.2001 Johnson, Nelson: Boardwalk Empire. Aufstieg und Fall von Atlantic City, München: Heyne 2013, S. 12
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»hinterließen sie Baulücken, die aussahen wie die fehlenden Zähne in dem maroden Gebiss eines Obdachlosen. Der Boardwalk war [von nun an] weder eine große Promenade noch ein Schaufenster […], sondern wurde beherrscht von Billigbauten, Ramschwarenhändlern und Taschendieben.«3 Aber auch als Casinostadt, als Las Vegas der Ostküste, als das Atlantic City zwischenzeitlich an seine Glanzzeit als Entertainment-Kapitale anzuschließen gelang, hat das Seebad bereits wieder einen abermaligen Amplitudenausschlag in den Niedergang getan. Denn die krisenträchtige Glücksspielstadt ist, seit die Geschäfte abermals ziemlich ins Schlingern geraten sind, zu einer schäbigen Billigadresse abgehalftert, einem erbärmlichen Las Vegas-Abklatsch, der mit seiner unterhaltungskulturellen Angebotsstruktur dem Amüsierbedürfnis der Massen nicht mehr genügt. Der mit seinen zweitklassigen, jede Peinlichkeitsgrenze unterschreitenden ThemenarchitekturScheinattraktionen für Entertainmentverwahrloste all das, was Amerika in Las Vegas für Glamour hält, als nuttigen Ramsch anbietet und damit nur mehr wenige verzagte Tagesausflügler und resignierte Rentner, die mit dem Bus angekarrt werden, erreicht.4 Atlantic City veranschaulicht in vielen Dimensionen fanalhaft die Abwicklung der Vereinigten Staaten, mit der George Packer die Niedergewirtschaftetheit des amerikanischen Kapitalismus und die umfassende Krise der staatlichen Institutionen auf den Begriff bringt. Im Niedergang Atlantic Citys breitet sich das Auseinanderdriften einer Gesellschaft aus, in der die Maßlosigkeit einer Reichenklasse, die Milliardenbeträge verschiebt, der Armenhauswirklichkeit einer Arbeiterklasse aus geringverdienenden Dienstleistungsbeschäftigten gegenübersteht. Es zeigt ein Land, dass unter den spekulativen Marktstrategien einer Finanzwirtschaft leidet, mit deren Aufstieg die bürgerlichen Tugenden »zerbröckelten bis zur Unkenntlichkeit – der Umgang in den Hinterzimmern von Washington, die Tabus in den New Yorker Handelsbüros, Manieren und Moral.«5 Allein ästhetisch haben die Casino-Ungetüme am Boardwalk viel mit der aufgeblasenen Vulgarität und dem Unsympathisch-Sein ihres wichtigsten Zampanos, des Immobilientycoons und späteren US-Präsidenten Donald Trump gemeinsam. Das niedere Niveau in Geschmack und Individualität, dieses ästhetisch und intellektuell urteilsunfähige Angebertum, teilen die Atlantic City-Casinos mit dem blondierten Ekel im Weißen Haus. Darüber hinaus das Schicksal unzähliger Bankrotte und den Zuspruch jener wirtschaftlich und kulturell benachteiligter Gesellschaftsschichten, die den unflätigen Schaumschläger als Präsidentschaftskandidaten unterstützten. … und auch das Psychogramm der Stadt ist in seiner ganzen lächerlichen Banalität dem des krawalligen, triebgeschüttelten US-Präsidenten Trump, diesem labilen Jammerlappen mit Glaskinn, den viele für einen pathologisch Halbwahnsinnigen halten, nicht unähnlich: nicht die Stimme des Wahnsinns spricht aus ihm/aus ihr, es ist einfach nur die Stimme der Dummheit.
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Ebd., S. 261 »Tagsüber regieren in Atlantic City die orthopädischen Schuhe […], nachts die High-Heels.«; Bode, Kim: »Die spielsüchtige Stadt«, in: Die Zeit, 41/2014 Packer, George: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2014, S. 9
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In Atlantic City ist man andauernd dazu verleitet, im kulturkritischen Phrasengerümpel nach Maximalbeleidigungen zu suchen. Schauder überlaufen einen. Die Übergriffigkeit einer mayonnaisetriefenden Trash-Kultur, der abgeschmackte Kitsch der kulturindustriellen Mainstream-Misere sind allgegenwärtig. Das Geschäft mit den Sehnsüchten der Menschen und die Brutalität des Kapitalismus sind hier in drastischen Unheilvariationen ausgebreitet, die man »als lückenlos eingeordnet in den universellen Verblendungszusammenhang«6 begreifen will. Speziell auch in den mit Klischees verbundenen Bildern der Stadtarchitektur. Das Läppische ist Prinzip. Die Übermacht des Inauthentischen und Sekundären verdaut sich selbst in themenarchitektonischen Schandbildern, in einer Scheinwelt aus zweiter Hand, die einen den Verstand müde macht. Mit all dem Unfug traktiert, sagt man sich bald: das kannst du nicht länger mitmachen, du musst raus aus der Sache. Das Las Vegas-Histrionentum, dass sich einem hier ausbreitet, verlangt nach klarer Kante: das nicht zu achten, was keine Achtung verdient. Selbst ein einschlägig veranlagten Nischenpublikum zynischer Trash-Ästheten wird hier angewidert, und für Glaubenszweifel anfällig. Selbst versierten Voyeuren gehobener Peinlichkeit verderben die großkörnigen und grobkörnigen Kommerz-Themenwelten, die sich in der einstigen »Queen of the Jersey Shore« rumprostituieren, den Appetit. Atlantic City ist eine schmählich erniedrigte Stadt. Eine Verdüsterung: gerade im Winter, unter bleigrauem, in Falten gelegten Himmel. Man kann sagen, dass es zu Las Vegas, der kitschigen und grandiosen Sinnestäuschung in der Wüste von Nevada, deren grelles Blendwerk so hypertroph, übersteigert und überzogen ist, dass es niemanden unberührt lässt, grundsätzlich zwei Parteien gibt: »those who found the excesses and depravities of the place to be the very definition of hilarity and those for whom the identical elements were at the heart of a searing existential depression, which, they felt, could only lead to a loss of the will to live.«7 Zu dem gegenwärtigen Atlantic City im Casinosterben gibt es diese affirmative Partei nicht. Selbst das Publikum, dass sie Stadt noch besucht, scheint das irgendwie unwillig, mit verschränkten Armen zu tun. Denn das Faszinosum der »Hyperrealität«, dass die Bilderindustrie, die Las Vegas ist, mit ihren immersiven, ihre Künstlichkeit und Inauthentizität aber als Attraktion markierende und mitverkaufende themenarchitektonische Wirklichkeitsnachbauten entwickelt, springt in Atlantic City nicht an. Und weil es nicht gelingt, die Immersionsqualitäten von Themenarchitektur, sich um die Besucher zu stülpen, zu einer Entfaltung zu bringen, misslingen auch die Künstlichkeitsund Inauthentizitätswirkungen, machen in der unterhaltungsindustriellen Wahrnehmung eine miserable Figur als schiefgelaufene Simulationen. Eine kapitalismuskritische Ideologietheorie, die sich in ihrer Las Vegas-Andachtsübung in der Auffassung bestätigt sieht, dass das massenmediale Zerstreuungsgeschäft zur Verarmung des Bewusstseins führt und »die Situation des Konsumenten populärer Kunst […] der Verhaltensweise des Gefangenen [entspricht], der seine Zelle liebt, weil
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Wellmer: 1985, S. 41 Markoe, Merrill: »Viva Las Wine Goddesses!«, in: Mike Tronnes (Hg.), Literary Las Vegas. The Best Writing About America’s Most Fabulous City, Edinburgh: 1995, S. 262
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nichts anderes zu lieben ihm gelassen wird«8 , trifft in Atlantic City auf der Gnade der Kulturindustrie ausgelieferte Besucher, die an ihrem Gefängnis augenscheinlich wenig Gefallen finden. Sich in Kulturpessimismus hineinzusteigern, nur Entstellungen des Menschen in einem destruktiv entfesselten Konsumismus, misslungenen Leben, zu sehen, ist selten wo so leicht wie hier. Die Verlierergeschichte, diese allerverdrießlichsten Leidensbilder einer niedergezwungenen Stadt, die man nach einigen Stunden lustlosen Herumstreichens – von leichter Beunruhigung gestreift, denn fortgesetzt wird man mit Gemeinheiten konfrontiert – in ihrer Gesamtheit gesehen hat, machen es einem einfach zu leicht, sich in Ressentiment zu suhlen, in Ekel vor dem Gemeinen, vor den scheußlichen Orten und scheußlichen Menschen. Man will Atlantic City aus seinem Gedächtnis streichen. Ist Las Vegas, wie Neil Leach es ausdrückte, in seiner »own desertification of cultural values […] the degree zero cultural depth of the desert around it […] [,] the ultimate city not of architecture but of the commodified sign, the empty, seductive triumph of the superficial«9 , dann ist der Atlantic City durchziehende Faden die Niederlage des Oberflächlichen. Die Tristesse dieser themenarchitektonischen Anschaffungen am SimulakrenSekundärmarkt spekulativen Trashs wirkt daher zwar als Spiegel der Verhältnisse wie ein Nachhall auf die Medienanalyse Daniel J. Boorstins, die, über ein halbes Jahrhundert alt, vor einer »neuen und spezifisch amerikanischen Gefahr« warnte, die die historische Tugend der USA, »gerade deshalb nie von Utopien heimgesucht worden [zu sein], weil hier endlich Träume verteidigt und verwirklicht werden konnten«, bedroht: »Es ist nicht die Gefahr eines Klassenkampfes, einer Ideologie, der […] Demagogie oder Tyrannis […]. Es ist die Gefahr der Unwirklichkeit. […] Wir laufen Gefahr, das erste Volk in der Geschichte zu sein, das dazu fähig ist, seine Illusionen so lebendig, so überzeugend, so ›realistisch‹ zu gestalten, daß es in Illusionen leben kann.«10 Was diese scharfsichtige Kulturdiagnose aus den Jubeljahren des amerikanischen Kapitalismus allerdings ungenügend antizipierte waren die Abstumpfungs- und Übersättigungseffekte der Image-Zirkulation. Den kursierenden Gegenwartsillusionen gewerbsmäßiger »Images«, die Amerika mit massenmedial hineingetragener Hysterie gefangen halten, ist die Nichtbefriedigung immanent: dem von Reichtums- und Berühmtheitsästhetiken der Millionäre und Stars breit bewirtschafteten Konsumhedonismus (mit seinem jüngsten Ventilen narzisstischer digitaler Selbstinszenierung); der Apotheose des Leistungsträgerdaseins bei den Kapitalismusjüngern der Yuppie-Kultur; den von Mode-, Film- und Pornoindustrie übersteigerten Körperinszenierungen (inklusive einer von PornHub definierten Sexualität); dem endemischen Drogen- und Medikamentenkonsum.
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Shusterman: 1994, S. 126; Shusterman selbst teilt diese Haltung nicht, er verwehrt sich jedoch gleichzeitig eben gegen die »Neigung der intellektuellen Apologeten der populären Kunst, gegenüber deren ästhetischen Defiziten zu nachsichtig zu sein. Sie verteidigen die populäre Kunst unter Berufung auf die ›mildernden Umstände‹ der sozialen Bedürfnisse und demokratischen Prinzipien, statt deren ästhetische Gültigkeit aufzuzeigen.«; ebd., S. 111 Leach: 1999, S. 70 Boorstin: 1991, S. 314
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Eine von Gier und Egoismus beherrschte Gesellschaft, die Christopher Lasch beschreibungspräzise als »Zeitalter des Narzissmus« interpretierte, schuf eine Kultur irrelevanter Selbstbespiegelungen. Einen niedergehenden Lebensstil, in dem die Individualität des Einzelnen schrumpft: »Das selbstsüchtige, Erfahrungen gierig aufgreifende, herrische Ich bildet sich zurück zu einem Ich, das pompös, narzißtisch, infantil, leer ist«11 . Das herrschende Charakterbild des Narzissten zieht eine Verarmung der Psyche, eine latente Ich-Schwäche, hinunter: »Heute sind die Amerikaner nicht vom Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten, sondern von der Banalität der gesellschaftlichen Ordnung überwältigt, die sie dagegen errichtet haben. Sie haben die gesellschaftlichen Einschränkungen […] verinnerlicht und fühlen sich jetzt von einer vernichtenden Langeweile überkommen – wie Tiere, deren Instinkte in der Gefangenschaft verdorrt sind. Ein Rückfall in die Barbarei stellt für sie eine so geringe Gefahr dar, daß ihnen gerade ein kraftvolleres Triebleben wünschenswert erscheint. Die Menschen klagen heutzutage über einen Mangel an Empfindungen. Sie jagen starken Erlebnissen hinterher, versuchen, das schlaffe Fleisch zu neuem Leben aufzupeitschen und mühen sich, abgestumpfte Sinnesreize wiederzubeleben.«12 Dystopische Illusionsbrachen wie Atlantic City in seiner allmählichen Zerrüttung stimulieren allerdings längst keine die kulturelle Imagination anstiftete Massenleidenschaft mehr, wie das Beverly Hills, Las Vegas oder Miami Beach tun. Außer einer statistischen Gewinnchance beim Glücksspiel hat sie den kulturell Kaputtgemachten des Kapitalismus nichts mehr zu bieten. Ihre alles durchdringende Atmosphäre der Apathie bildet den Erfahrungshintergrund einer abgeschlafften amerikanischen Gesellschaft ab. Nicht von ungefähr hat der Spätkapitalismus in seiner gegenwärtigen Inkubation zu einer parallelen, passiveren ideologischen Fundierung über seine »Alternativlosigkeit« gefunden. Mark Fisher nennt dies »kapitalistischer Realismus«. Er beschreibt damit »das weitverbreitete Gefühl« bei denjenigen, die sich brav in die Gesellschaft einfügen, »dass der Kapitalismus nicht nur das einzig gültige politische und ökonomische System darstellt, sondern dass es mittlerweile fast unmöglich geworden ist, sich eine kohärente Alternative dazu überhaupt vorzustellen.«13 Dieser selbstgenügsame ideologische Käfig, in den sich die Massendemokratien der hochentwickelten Industriestaaten einschließen, ist auf Image-Illusionen gar nicht mehr angewiesen, er »funktioniert analog zu der gedämpften Perspektive eines Depressiven, der glaubt, dass jeder positive Zustand und jegliche Hoffnung gefährliche Illusionen sind.«14 Der glanzlose Las Vegas-Abglanz der sich ungeschickt einkitschenden Casinos bietet hierfür unwiderlegliche Zeichen (die sich auch auf die eigene psychische Verfassung 11 12 13
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Lasch: 1986, S. 29 Ebd., S. 27 Fisher: 2013, S. 8; »Kapitalistischer Realismus ist eher eine Art alles durchdringender Atmosphäre, die nicht nur die Produktion von Kultur bestimmt, sondern auch die Regulation von Arbeit und Bildung. Er wirkt eher wie eine unsichtbare Barriere, die unser Denken und Handeln einschränkt.«; ebd., S. 24 Ebd., S. 12
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ungünstig auswirken). Verstärkt wird dieses Nichtigkeitsempfinden aber noch durch eine zweite Ebene von Sekundaritätseffekten. Jene gegenüber dem unkenntlich gewordenen, erloschenen Referenzwelt der eigenen Stadtgeschichte in Sepiazeichnung – weil einem die Erinnerung vieles, die Wirklichkeit jedoch nichts mehr bedeutet. Das Hässliche und Erbärmliche der Casino-Architekturen stranguliert Atlantic Citys verschüttgegangenen Mythos als »America’s Favorite Playground«, den man mit den berühmten Vergnügungspiers assoziiert, der hier erfundenen und traditionell ausgetragenen Miss America-Wahl, den Salt Water Taffys, die mit dem Seebad synonymisierten Süßigkeit, und dem vom Atlantic City-Urlauber Charles Darrow erfundenen Brettspiel Monopoly, in dessen amerikanischer Ausgabe alle Felder Straßennamen der Stadt tragen. Denn die architektonisch auf niedrigem Niveau ausgebreitete CasinoAgglomeration atmet nirgends die flirrende Stimmung der alten, auf Sensationen versessenen Vergnügungsstadt, die ihren Besuchern eine attraktive gesellschaftliche Platzzuweisung versprach. Wie Bryant Simon schreibt: »While the new buildings shared spaces on the map with the old Atlantic City, they embraced almost none of its overthe-top spirit nor its relationship to the Boardwalk world of public entertainment and showing off in front of thick crowds of strangers. They were not, moreover, in the business of putting middle-class Americans on display […]; they were monotonous lumps of glass and steel«15 . »It was built there because there happened to be the shortest distance between Philadelphia and the sea« 16 Die Gründung der Stadt Atlantic City geht auf das hartnäckige Betreiben des Landarztes Jonathan Pitney zurück, aus der abgeschiedenen Absecon Island, einer dem sumpfiges Marschland der Atlantikküste vorgelagerten Düneninsel, ein Seebad zu machen, dass es mit Cape May, dem renommierten Ferienort der Oberschicht an der Südspitze New Jerseys, aufnehmen würde können. Pitney begann in den 1840ern, die landschaftlichen und gesundheitlichen Qualitäten des Küstenstreifens in den Tageszeitungen der hundert Kilometer entfernten Millionenstadt Philadelphia zu bewerben und nach Investoren für eine Eisenbahnverbindung nach Absecon Island, die für Philadelphia direkteste Verbindung zum Atlantik, zu suchen. Jahrelang wurde Pitney für seine »Railroad to Nowhere« belächelt, bis er schließlich in Samuel Richards, einem Industriellen aus einer der einflussreichsten Familien im südlichen New Jersey, die Eisenhütten, Glasöfen und Ziegelfabriken besaß, einen Unterstützer fand. Richards war zwar eigentlich weniger an dem angedachten Seebad am Endbahnhof interessiert, als an einer Erschließung seiner Besitzungen im Hinterland, da er »erkannte, dass eine Verkehrsverbindung mit Philadelphia es ihm ermöglichte, einen Teil seines Landbesitzes zu Geld zu machen«17 . Aber als die von Richards gegrün15 16 17
Simon: 2004, S. 1978 Levi/Eisenberg: 1979, S. 1 Johnson: 2013, S. 35; Wie Samuel Richards, der seinem politischen Einfluss beim Parlament von New Jersey in Trenton für die Bewilligung der Bahnlinie geltend machen konnte, ging es auch seinen Mitaktionären bei dem Schienenweg nicht um die Endhaltestelle auf der sandigen Insel, sondern um den Warentransport von den Fabriken an den einzelnen Haltestationen: »There were fifteen stations between Camden and Atlantic City. The railroad, true to the promise of its origi-
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dete Camden and Atlantic City Railroad Company nach zwei Jahren Bauzeit 1954 ihren Betrieb aufnahm, entstand in den Dünenlandschaften auf Absecon nun tatsächlich ein kleiner Ferienort: Atlantic City. Ein exklusives Heilbad, wie es sich Jonathan Pitney erträumt hatte, wurde das Küstenstädtchen, als deren Namensgeber der Ingenieur Richard Boyce Osborne, der Streckenplaner, fungiert hatte, allerdings nicht.18 Vielmehr entwickelte sich Atlantic City, dass in den ersten Saisonen mit Insektenplagen zu kämpfen hatte19 , zu einer »plebejischen« Urlaubs- und Amüsierdestination für die Industriestadt Philadelphia, in deren Textilfabriken und Eisengießereien sich eine in die Hunderttausende gehende Arbeiterschaft nach leistbaren Tagen am Strand sehnte. In den Pionierjahren der einer massenkulturellen Freizeitindustrie wurde Atlantic City für Philadelphia das, was Coney Island für New York war. Samuel Richards hatte das erkannt, als er 1877 eine zweite Bahnstrecke errichten ließ, die »Narrow Gauge« (Schmalspurbahn), für die er nach Zerwürfnissen unter den Mitinvestoren eine weitere Eisenbahngesellschaft (Philadelphia and Atlantic City Railway Company) gegründet hatte, um preiswertere Verbindungen anzubieten.20 1880 entstand auch noch eine dritte Linie (West Jersey and Atlantic Railroad), die dazu beitrug, Atlantic City für ein Massenpublikum zu erschließen.21 In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wuchsen die Besucherzahlen rasant, und mit ihnen auch die Stadt, die 1900 eine Einwohnerzahl von 30 000 erreichte. Der Boardwalk, eine hölzerne, bald landseitig mit Geschäften, Restaurants und Resorts, wasserseitig mit Vergnügungspiers gesäumte Flaniermeile entlang des Strandverlaufs,
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nators, created a land boom not only on Absecon Island but the lands between the Delaware and the Atlantic. […] Most of all, the railroad brought the resort of Atlantic City within the reach of Philadelphians who need not now contemplate an all-day trip in a hot, open stagecoach to reach a bathing beach. The railroad made Atlantic City.« (McMahon, William: So Young … So Gay. Story of the Boardwalk 1870-1970, Atlantic City: Atlantic City Press 1970, S. 30) Richards kaufte dennoch das günstige Land auf der nur sechzehn Kilometer langen und drei Kilometer breiten Insel auf und spekulierte auf Wertsteigerung. Richard Boyce Osborne hatte bei der Präsentation seiner Trassenführung vor der Eisenbahngesellschaft den angedachten Zielbahnhof »Atlantic City« genannt. Auf ihn geht auch die Straßennamen zurück, die durch das Brettspiel Monopoly amerikaweit berühmt wurden. Die parallel zum Strand verlaufenden Straßen wurden nach den Weltmeeren benannt, die west-ost-orientierten nach den US-Bundesstaaten. »Die Insel war voller Tümpel, in denen sich die Insekten wie wild vermehrten. Das Begrüßungskomitee bestand aus Schwärmen von Stechfliegen und Moskitos. Im Sommer 1858 kam es zu einer Insektenplage, die beinahe zur Schließung des Seebads geführt hätte.«; Johnson: 2013, S. 43 »The locomotive wasn’t the only machine luring thousands to Atlantic City. The publicity machine was running full blast, telling of a place that had the most amazing effects on the body and mind. Conveniently omitting mention of the winds from the east, the greenhead flies, or the mosquitos«; Levi/Eisenberg: 1979, S. 8 »Das Zauberwort lautete ›Tagesausflug‹. Richards wusste, dass sich die meisten Besucher von Atlantic City nur einen Kurzbesuch leisten konnten« (Johnson: 2013, S. 48): Bereits 1882, nach nur sechs Saisonen, kaufte die West Jersey and Atlantic Railroad die »Narrow Gauge« und baute sie in eine Standardspur um. 1883 übernahm sie die ursprüngliche Bahnlinie Camden and Atlantic City Railroad. 1893 erfolgte eine Fusion mit der Pennsylvania Railroad.
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bestimmte mit seiner erwartungsgespannten Atmosphäre bald den Grundklang Atlantic Citys, wurde – anstelle des glitzernden Bands des Wassers – zum Hauptwahrzeichen des Seebads, das zum führenden nationalen Urlaubsziel aufstieg: »The Boardwalk […] replaced the ocean as Atlantic City’s greatest attraction.«22 Die Errichtung des Boardwalk 1870 geht auf die beiden Hoteliers Alexander Boardman und Jacob Keim zurück, die mit ihrer Petition eigentlich lediglich verhindern wollten, dass Strandspaziergänger mit dem Sand an ihren Schuhen die Teppichböden der Hotellobbies ruinieren. Doch der Boardwalk erlebte eine spektakuläre Metamorphose, von einem ursprünglich nur zweieinhalb Meter breiten Plankenweg entlang der silbrigen Sandbänke, der zum Saisonende eingelagert wurde, zu einer urbanen, stimulierenden »Hauptstraße im Reich der Fantasie, [zu] einem Wunderland aus falschem Glanz und billigem Nervenkitzel«23 . Der Boardwalk schürte den Unterhaltungswillen der Besucher zu einem Taumel. In den schäumenden Lichtern seiner Vergnügungspiers strahlten Schauer und Verheißung einer entstehenden Massenkultur, die eine Entlastung von den Sittlichkeitszwängen des Puritanismus versprach und die gesellschaftlichen Statussysteme veränderte, indem den unteren und mittleren Klassen erstmals kulturelle Selbstaffirmation zugestanden wurde. Atlantic City arrangierte seinem Publikum ungekannte Freiheitsgrade des Amüsierens – und des Konsumierens. Denn »[m]it der Kommerzialisierung des Boardwalk kam auch der Irrglaube von der heilenden Wirkung des Geldausgebens auf. Passioniertes Einkaufen […] war bald auch in der Arbeiterschicht ein gesellschaftlich anerkanntes Freizeitvergnügen und wurde damals Teil der amerikanischen Alltagskultur.«24 Die Stadt wurde zum Symbol für die Aufstiegsträume der Arbeiter- und Angestelltenschicht im beginnenden »amerikanischen Zeitalter«, den Sprung in die Gesellschaft zu machen: »On the Boardwalk, the middle-class multitudes cast themselves as successful, freespending Americans and acted out their parts by creating a public realm built around continuous shows of middleclass respectability and conspicuous spending.«25 Gesellschaftliche Teilhabe wurde suggeriert, die schichtennivellierende Konfektionsmode erweckte einen Eindruck von Gleichheit. »Atlantic City provided a location of common understanding, together with a diminution of customary restrictions. The fluidity it offered was the countervailing force to a culture too rigid, with expecta-
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Levi/Eisenberg: 1979, S. 25 Johnson: 2013, S. 63; Der erste Boardwalk wurde 1880 durch eine verbreiterte Neukonstruktion ersetzt, an dem bereits die ersten Vergnügungspiers ins Meer getrieben wurden. 1884 entstand, erneut verbreitert und näher ans Wasser gerückt, der dritte Boardwalk, erstmals eine permanente Struktur, die allerdings 1889 bei einer Sturmflut in den Ozean gespült wurde. Nach dem Wiederaufbau entschied sich Atlantic City schließlich 1896, die hölzerne Promeniermeile auf Stahlfundamenten und Stahlträgern zu sichern. Die Verlegung im Fischgrätmuster erfolgte 1916. Ab 1991 wurde der Boardwalk mit brasilianischem Hartholz neubeplankt, das eine Beständigkeit von 40 Jahren aufweist; in: Mauger, Edward Arthur: Atlantic City. Then and Now, San Diego: Thunder Bay Press 2008, S. 55 Johnson: 2013, S. 62 Simon: 2004, S. 35
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tions in excess of possibility. Pleasure at the resort meant not only fluidity but also the illusion of social mobility.«26 Atlantic City war allerdings nicht nur für den Puritanismus ein Refugium der Libertinage. In den Spelunken und Bordellen der Rotlicht-Distrikte herrschte Zügellosigkeit, florierten Glücksspiel und Prostitution: »There were two big businesses in this famous resort – the hotels and the rackets. The rackets were the bigger.«27 Rechtliches und Moralisches wurden hinter die wirtschaftlichen Interessen der Stadt zurückgestellt.28 Die Politik und die Polizei betrieben eine kriecherische Korruption, tolerierten die illegalen Spielhallen und Freudenhäuser. Leitartikler der Tageszeitungen aus Philadelphia, der tugendhaften Stadt der Quäker, Presbyterianer, Anglikaner und Baptisten, waren für die Späße natürlich unzugänglich. Sie konnten diese Ausgelassenheit nicht billigen und servierten das Treiben an der Küste alljährlich als heiße Skandalgeschichten. Die Zeitungen schnüffelten, um Atlantic City ihre Nichtachtung zu versichern, in den Nachtclubs und Etablissements und verurteilten die Anwesenheit von verschrienen Gangstern, Spielern und Huren, die man aus Philadelphia vertrieben hatte. Eindämmen ließ sich die Lasterhaftigkeit der Vergnügungsstadt jedoch weder von einer in den Sommern lorgnettierenden Presse, noch von Politikern, Bundespolizisten oder, in den 1920ern, von den Prohibitionsgesetzen. Denn natürlich waren die kultivierten Freizügigkeiten eine Wirklichkeitsabbildung mit weltanschaulichem Charakter. Sie zeigte, dass die kulturellen Regulative der Reputation im Wandel begriffen waren: »[T]he city’s special emphasis on grandiose display, colossal turnover, and kaleidoscopic materialism forged a unique image for the urban masses of the period. […] This was the advantage of being a cultural symbol: For millions the resort was not to be criticized. It was a part of the definition of of happiness, and hence contained no sadness or disappointment – an American Dream«29 . Der eigentliche gesellschaftliche Skandal der Vergnügungsstadt bestand auch nicht in ihrer Liederlichkeit, sondern im Unterdrückungs- und Gewaltverhältnis zu den mehrheitlich schwarzen Arbeitskräften in den Hotels und Pensionen. Den tausenden Afroamerikanern, die in den Jahren nach dem Bürgerkrieg Maryland, Virginia und North Carolina verließen, um in Atlantic City als Hotelangestellte Beschäftigung zu finden, widerfuhr Exklusion, Elend und Diskriminierung. Speziell außerhalb der Saison, im Winter, waren die Lebensverhältnisse im Schwarzenviertel Northside von unerträglichen Widerwärtigkeiten und Kümmernissen gezeichnet. Jeder Oktober bedeutete neue Wellen von Schmerz, Verzweiflung, Verbrechen und Elend.30
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Funnell: 1975, S. 37 Levi/Eisenberg: 1979, S. 192 »Es spielte keine Rolle, dass Glücksspiel, Prostitution und der Verkauf von Alkohol so ziemlich jedes Gesetz und alle Moralvorstellungen der damaligen Zeit missachteten, nichts sollte das Vergnügen der Besucher beeinträchtigen. Die Stadtväter ignorierten das Gesetz, soweit es ging, und stellten der illegalen Vergnügungsindustrie einen Freibrief aus.«; Johnson: 2013, S. 18 Funnell: 1975, S. 19 »Since employment at the resort was mainly seasonal, much of the black work force was without income part of the year. The trumpet that blared about Atlantic City’s health-giving air was silent about the mortality rate in the black section of town.«; Levi/Eisenberg: 1979, S. 12
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Aber nicht nur die kapitalistische Ausbeutung der schwarzen Arbeitskräfte erwies sich als konstitutiv für die Ökonomie der »Queen of the Jersey Shore«, sondern ebenso die Segregation für ihre Politik. Bryant Simon hebt Entscheidendes hervor, wenn er schreibt, dass: »in Atlantic City, the public spaces of the past – the world of the Boardwalk […] – was never about democracy; it was about exclusion. Moving up required stepping over others. Yet the idea of social mobility provided exclusion with a cloak of democracy.«31 Die symbolisch klassennivellierende Durchlässigkeit am Boardwalk betraf allein die weiße Mehrheitsgesellschaft, fußte auf ihrem Rassismus gegenüber den Schwarzen, die die Restaurants, Pier und Geschäfte, in denen sie arbeiten, als Gäste nicht betreten durften, sich Benachteiligungen gefallen lassen mussten, wie sich die urlaubende weiße Arbeiterklasse selbst in der materiellen Bedrängtheit ihrer eigenen Lebensverhältnisse nicht kannte. Die in Atlantic City allmächtige Republikanische Partei, die um ihren ersten, zwischen 1890 und 1910 regierenden »Boss«, den Hotelbetreiber Louis »Commodore« Kuehnle, ein Machtzentrum installierte, indem sie Bonzen und Korruptionisten von einem System von Schutzgelderpressung für illegale Amüsiergeschäfte wie Spielhallen, Bordelle und Saloons profitieren ließ, instrumentalisierte die schwarze Wählerschaft über in der Nebensaison verteilte Almosen für systematisch betriebenen Wahlbetrug. Damit gelang es dem »Commodore«, der mit seinem republikanischen Kartell- und Patronagesystem zu Reichtum gelangte, in der Machttektonik des republikanischen Parteiapparats von New Jersey Einfluss zu nehmen.32 Als Kuehnle 1911 schließlich eine Gefängnisstrafe für Bestechlichkeit ausfasste, nahm sich sein Nachfolger Eunoch »Nucky« Johnson der dunklen Hintergrundkräfte der republikanischen Partei an. Drei Jahrzehnte, bis zu seiner eigenen Verurteilung wegen Steuerhinterziehung 1941, surrte die Maschinerie aus Intrigen und Seilschaften als riesiger Selbstbedienungsladen für den Parteipatriarchen, einem Salonlöwen, der keine ruhige Minute kannte, sich jedoch selbst mit dem unaufdringlichen Amt des Stadtkämmerers begnügte. Nucky Johnson, der in einer Luxussuite des Ritz-Carlton residierte, dirigierte mit Machtsinn die innerparteiliche Willensbildung der Republikanischen Partei von New Jersey und bewegte sich, mit seiner Schmiergeld- und Scheckbuchpolitik reich geworden, in den exklusivsten Kreisen. Zugleich beteiligte er sich direkt am organisierten Verbrechen. »Keiner verkörperte so wie er die Habgier und die Korruption von Atlantic City, aber auch die besten Jahre der Stadt.«33 Denn in den »Roaring Twenties«, der Zeit der Prohibition, der gesetzlich verordneten Trockenheit von 1920 bis 1933, erlangte Atlantic City einen sagenhaften Ruf als »Wet Town«. Eingewoben in ein Dickicht endemischer Korrumpiertheit stellte Nucky Johnson, der gleichzeitige Herrscher über Oberwelt und Unterwelt, der die Hände über dem Alkoholschmuggel hielt, sicher, dass die ungeliebten Prohibitionsgesetze des »Volstead Act« effektiv nicht exekutiert wurden – ja man betrieb nicht einmal den Aufwand, den in 31 32
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Simon: 2004, S. 13 »Kuehnle war unter anderem Mitbesitzer der städtischen Brauerei […]. Wenn ein Barbetreiber eine neue Schanklizenz benötigte, aber nicht für den Bierverkauf am Sonntag belangt werden wollte, wusste er, welches Bier er anbieten musste. Allein damit machte Kuehnle ein Vermögen.«; Johnson: 2013, S. 114 Ebd., S. 188
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die Illegalität abgedrängten Trinkern den geschmuggelten Alkohol heimlichtuerisch in Speakeasys, Flüsterkneipen, zu verkaufen.34 Atlantic City unternahm alles, um seinen Gästen weiterhin das Verlangen zu erfüllen, sich in durchfuselten Nächte in Bierhallen und Hurenhäusern um den Verstand zu saufen. Hinter und mit Nucky Johnson regierten die großen Profiteure des zum Scheitern verurteilten Projekts Prohibition: die Gangsterbanden, die mit dem Sieg der Abstinenzlerbewegung, den Amerikanern Reiz-, Rausch- und Genussmittel zu entziehen, als Alkoholschmuggler die illegale Nachfrage bedienten und mit ihrem aggressiv zupackenden Unternehmertum in das riesige Geschäftsfeld expandierten. Die Mafia entwickelte sich damit zum dauerhaften, strukturellen Machtfaktor in den Vereinigten Staaten, zu einem nationalen Syndikat, dass Nucky Johnson mitbegründete, als er 1929 als Gastgeber des als »Atlantic-City-Konferenz« in die Kriminalgeschichte eingegangenen Geheimtreffens der Gangsterdelegationen der Cosa Nostra und Kosher Nostra fungierte und den führenden Galgengesichtern der amerikanischen Unterwelt wie Al Capone, Lucky Luciano und Meyer Lansky Sicherheit garantierte, während diese bei Strandspaziergängen und nächtlichen Gelagen über die Zukunft ihres Imperiums berieten. Diese im Atlantic City der 1920er historisch verbürgte Frühgeschichte des amerikanischen Gangsterkapitalismus breitet Terence Winter in seinem für den Fernsehsender HBO entwickelten Serienepos Boardwalk Empire (2010-2014) zu einem vieldimensionalen bacchantischen Gesellschaftspanorama aus, das den Glamour und die Brutalität dieser Kultur in einem bildgewaltigen Ineinanderfließen von Geschichte und Fiktion umreißt. Um den Stadtkämmerer und Schmugglerbaron Nucky Thomson, einen mit viel Freiheit in der Figurenzeichnung an dem historischen Nucky angelehnten MafiaMachiavellisten, den Steve Buscemi mit eisiger Miene durch die ausladende, beinahe aufdringliche Ausstattung und verknäulten Handlungsstränge der Serie trägt, sammelt sich ein Atlantic City, in dem alle miteinander verfilzt sind. Das Ende der Prohibition und mehr noch die Große Depression bedeuteten jedoch schließlich einen ersten Epochenschnitt, der dem Seebad die wirtschaftliche Grundlage entzog, die Kriegsjahre einen zweiten. Denn während des Zweiten Weltkriegs wurde Atlantic City Ausbildungsstützpunkt und Lazarettstadt der US-Armee.35 Dies hielt die Stadt zwar über Wasser, während die nationale Urlaubsindustrie brach lag, die zu Armeequartieren umfunktionierten Grand Hotels nahmen daran aber Schaden, da ihre Prachtausstattungen in den Lobbies, Festsäle und Suiten ruiniert wurden. Mit Nucky Johnsons Gefängnisantritt stieg der Abgeordnete Hap Farley zum Fädenzieher der republikanischen Maschinerie auf. Ein weiterer Politiker, der nicht zwischen den Interessen seiner Person, seiner Partei und seines Staates zu unterscheiden wusste. Unter dem als Dealmaker im Parlament des Bundesstaates allmächtigen State Senator
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»In anderen Städten entstanden Privatklubs und Flüsterkneipen, aber in Atlantic wurde weiterhin öffentlich in Bars, Restaurants, Hotels und Nachtklubs ausgeschenkt. Es gab Schnaps beim Lebensmittelhändler, in der Apotheke und auf dem Wochenmarkt.«; Johnson: 2013, S. 139 Zwischen 1942 und 1945 wurden 400 000 Rekruten in Atlantic City ausgebildet. Manöverübungen am Strand, vor den Hotelsilhouetten des Boardwalk, bestimmten nun den Alltag des Seebads. 1942 wurde der Boardwalk überdies nachts verdunkelt, weil man befürchtete, dass in den Küstengewässern deutsche Unterseeboote auf den Angriff lauern würden.
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(»Farley war praktisch der Senat«36 ), der immer wieder Ermittlungen an den Hacken hatte, wurde das Bewährte für ein weiteres Vierteljahrhundert in Gang gehalten. Selbst die oppositionellen Demokraten in der Stadt waren seiner Strippenzieherkunde derartig gefügig, dass sie die Bezeichnung »Farleykraten« verpasst bekamen. Erst als Atlantic City in den 1960ern aus der Spur gedrückt wurde, zerfiel das System aus Schmiergeldzahlungen und Parteiintrigen langsam.37 Denn mit den ausbleibenden Urlaubern brach das wirtschaftliche Rückgrat der Stadt. Die letzten Gäste der Heydays tranken den längst lauwarmen Champagner tapfer aus und kamen nie wieder. Atlantic City tauchte in schläfrigen Dämmer. Die Einwohnerzahl sank zwischen 1940 und 1970 um 25 Prozent auf unter 50 000. Das nationale amerikanische Nachkriegsphänomen des »White Flight« erfasste Atlantic City dramatisch und ließ die weiße Mittelschicht zusehends der Stadt den Rücken kehren. Der Anteil der weißen Bevölkerung reduzierte sich von achtzig auf fünfzig Prozent: »The people left behind on the Monopoly streets were mostly older, underemployed, poor, and increasingly African American and Puerto Rican.«38 Die USA schwenkten in einen 30-Jahre-Boom ein und den nationalen Gemütszustand erfasste eine konsumhedonistische Wohlstandseuphorie. Man rief die »Überflussgesellschaft« aus: »ein Amerika, das allen vertraut ist. Es wird in Reden gefeiert, im Fernsehen verherrlicht und in Zeitschriften gepriesen. Seine Bürger haben den höchsten Lebensstandard, den die Welt je erlebt hat. In den fünfziger Jahren […] machte sich dieses Amerika Sorgen um sich selbst, aber sogar seine Kümmernisse waren Produkte des Überflusses.« Gesellschaftlichen Frage schienen, wie Michael Harrington anklagte, allein darauf reduziert, »wie man es wohl anstellen sollte, mitten im Luxus anständig zu leben«39 , wie man nicht daran frustriert, dass man ja eigentlich alles hat. – Genau am Beginn dieser Ära fing Atlantic City an zu faulen: »this blighted slum of a city is now called South Bronx by the Sea by its bitter, trapped denizens. Only one block from the Boardwalk, and just about anywhere one chooses to look, there are burned-out and
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Ebd., S. 210; Wie Nucky Johnson verzichtete Farley jedoch auf höhere Positionen, die ihn politisch weiter exponiert hätten: »Er hätte ohne Weiteres für den Kongress, das Gouverneursamt oder als US-Senator kandidieren können, entschied sich jedoch dagegen. Ihm war sehr wohl bewusst, dass man der Republikanischen Partei von Atlantic City nachsagte, sie sei eine der korruptesten Organisationen des Bundesstaats […]. Hätte er für ein landesweites Amt kandidiert, wäre seine Organisation durchleuchtet worden.«; ebd., S. 206 Erst eine Anpassung der Wahlbezirke im Jahr 1962, die das Ungleichgewicht zugunsten der ländlichen Distrikte wie Atlantic County im Senat berichtigte, führte zu einer Beschneidung seines Einflusses. Damit zerfiel »der Grundpfeiler von Farleys Macht. Die Reformen aus Washington forderten [ebenfalls] ihren Tribut: Nucky Johnsons raffinierte Maschinerie der Gefälligkeiten und der Anwerbung politischer Handlanger wurde von Sozialhilfeprogrammen und staatlichem Beamtentum verdrängt. […] Sozialleistungen waren keine Belohnung mehr für treue republikanische Wähler, sie waren jetzt ein Grundrecht.« (ebd., S. 243-244). 1971 wurde Farley abgewählt. Ebd., S. 98. Harrington, Michael: Das andere Amerika. Die Armut in den Vereinigten Staaten, München: DTV 1964, S. 7
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boarded-up shops and homes, rubbish-littered parking lots, and beyond them more vacant lots equally strewn with weeds and garbage«40 . Die Stadt glitt nun in das Andere Amerika ab, wie der berühmte Titel Harringtons hieß. Ein 1962 erschienenes Buch, dass es zu brauchen schien, um der Mittelschicht in Suburbia die scheinbar immer weniger wahrnehmbare Wirklichkeit der unfreiwilligen Armut im reichsten Land der Welt bewusst zu machen. Denn »allein schon die Entwicklung der [suburbanisierten] amerikanischen Stadt hat die Armut dem bewußten, gefühlsbetonten Erlebnis der Abermillionen Amerikaner der Mittelklasse entrückt«41 , bilanzierte Harrington. Eine neuartige Blindheit der Armut gegenüber hat im Bewusstsein der Nation die Tatsache überspielt, dass weiterhin um die 50 Millionen Amerikaner eine »Kultur der Armut« gefangen hielt. Diese »ersten Armen in der Geschichte, die eine Minorität darstellen«42 bildete eine disparate Unterschicht aus ungelernten Arbeitern, Alten, den Minderheiten der Schwarzen und Puerto-Ricanern, Alkoholikern, Junkies, Rumtreibern.43 In zerrütteten, überfüllten Elendsquartieren, in denen Hass und Angst, Hunger, Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Krankheit einen fatalistischen Alltag bestimmen. In denen gestrandete Trinker ihr beschissenes Leben unter den Tisch saufen. Kurz, eine Armut herrscht, die die Seelen der Menschen »verbiegt und deformiert«, denn »[d]ie Armen Amerikas sind Pessimisten und Defaitisten. Sie sind in einem Ausmaß Opfer psychischen Leidens, das in den eleganten Vorstädten unbekannt ist.«44 Atlantic City litt in diesen Jahren unter der höchsten Verbrechensrate von allen mittelgroßen Städten der USA, wobei sich Harringtons Analyse bewahrheitete und sich in Straßenkriminalität und Vandalismus »die Mentalität der Armen« zeigte. Als »America’s Favorite Playground« war da die Küstenstadt längst nicht mehr zu titulieren. Denn seit sich die Wohlstandsgesellschaft Flugreisen leisten konnte, urlaubte sie lieber in Florida und in der Karibik. Zumal sich ein Mentalitätswandel in der nachwachsenden Generation der amerikanischen Mittelschicht breitgemacht hatte: der Privatismus der Suburbanisierung, der den Boardwalk als Erfahrungsverstärker für die brausende Unrast des Städtischen mit den zerrütteten Innenstadtzuständen assoziierte und das antiurbane Identifikationsangebot Disneylands umsattelte. Die Einschätzung Bryants Simons, »Atlantic City was Disneyland a generation or so before there was a Disneyland«, ist zwar in Bezug auf den allgemeinen Vergnügungsillusionismus nicht falsch: »It was, like Disneyland, a place built on a grand deception. Atlantic City was both real and fake, a big city and a small town, a world of soaring skyscrapers and ocean breezes.«45 Der Unterschied dieser beiden Illusionen ist 40 41 42 43
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Demaris, Ovid: The Boardwalk Jungle. How Greed, Corruption, and the Mafia turned Atlantic City into …, New York: Bantam 1986, S. X Harrington: 1964, S. 10 Ebd., S. 15 Bei Ovid Demaris heißt dies pointiert: »When I asked a cabdriver what gambling had done for him, he angrily replied that it had turned his daughter into a hooker and his son into a hustler.«; Demaris: 1986, S. X Harrington: 1964, S. 7; »Das also sind die seltsamsten Armen in der Geschichte der Menschheit. Sie leben in der mächtigsten und reichsten Gesellschaft, die die Welt je gekannt hat. Ihr Elend geht weiter, während sich der Großteil der Nation als ›wohlhabend‹ bezeichnet und sich Sorgen über die neue Krankheit der ›Vorstadt-Neurosen‹ macht.«; ebd., S. 168 Simon: 2004, S. 7
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allerdings wichtiger als die beiden inhärente Illusionierungsabsicht an sich. Die Nachkriegsamerikaner suchten in der sauberen und anständigen Intaktheit der KleinstadtAttrappe Main Street U.S.A. in Disneyland eine Idylle-Suggestion, während das Publikum des alten Atlantic City ein infantiles, lasziven, theatralisches Ausbruchsventil des NichtGesellschaftsfähigen aus den Sittlichkeitszwängen des Puritanismus suchte. Atlantic City schien sich seinem Schicksal fügen zu müssen, die Stadt war ruiniert und zu Grunde gerichtet. Sie wirkte wie eine »ausgebrannte alte Nutte auf der Suche nach Kundschaft. Aus dem prosperierenden und geschäftigen Seebad war ein verschlissenes Salzwasser-Getto geworden, das nur noch von seinem Ruf lebte. Niemand, der die Stadt kannte oder der sich etwas Besseres leisten konnte, verbrachte seine Freizeit freiwillig in Atlantic City.«46 Selbst das illegale Glücksspiel hielt sich nicht mehr länger. Dass die Stadt aber eine Attraktion dieser Art brauchen würde, ein nationales Alleinstellungsmerkmal wie einst den Alkoholausschank in der Prohibitionszeit, um eine Renaissance der abgehalfterten »Queen of the Jersey Shore« einzuleiten, begriffen Atlantic Citys Abgeordnete, Geschäftsleute und Bürgerschaftsvertreter. Und sie dachten dabei an Spielcasinos wie in Las Vegas: »the ultimate fantasy in America. Because in a society in which the only currency is currency, and where most of us are absolutely irrelevant and powerless economic entities, to sit down at any Vegas table creates at least the illusion of empowerment.«47 Und in Wahrheit bestanden die Alternativen, die natürlich keine waren, für diese Stadt, die sich unter Krämpfen wandte, »to become a retirement community financed by social security, welfare, and Medicare; or, failing these, to face near-total extinction.«48 So wurde ein Referendum zur Legalisierung des Glücksspiels, das in New Jersey wie in allen anderen Bundesstaaten mit der Ausnahme Nevadas auch, verfassungsmäßig untersagt war, lanciert. Ein erster Bürgerentscheid strauchelte dann aber 1974 vernichtend an der Wahlurne: »Die alte Hure Atlantic City hatte einen weiteren Tritt in den Hintern bekommen. [Für d]ie Einwohner […] war die gescheiterte Abstimmung das Schlusskapitel in der Geschichte ihrer Stadt.«49 Schuld an der Abstimmungspleite hatten eine unausgereifte Kampagne und ein strategisch falsch ausgerichteter Antrag, der sich gleich in zweifacher Hinsicht mit den Ängsten der Wählerschaft vor einem »Las Vegas des Ostens« verkalkulierte. Einerseits, indem er ein staatlich geführtes »zivilisiertes Glücksspiel für anständige Bürger«50 versprach und nicht sah, dass die Ankündigung, die Casinos nicht privatwirtschaftlich, sondern bundesstaatlich betreiben zu lassen um eine wie im Las Vegas der damaligen Zeit übliche Mafia-Infiltration zu verhindern, beim Wähler ein nicht minder beunruhigendes Bild schuf: das von dilettierenden Bürokraten, die Steuergelder in der Glücksspielindustrie fehlinvestieren. Andererseits, indem der Antrag,
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Ebd., S. 259; »As the white tourists stayed away, fancy Boardwalk jewelry stores turned into hot dog stands; expensive auction houses became sleazy jam joints; and downtown movie theaters were torn down and replaced by parking lots. As the city became more honky-tonk than classy, black tourists started to stay away as well. By the 1970s, locals quipped that you could roll a bowling ball down the Boardwalk in the middle of the summer without hitting anyone.«; ebd., S. 15 Cooper: 1995, S. 309 Levi/Eisenberg: 1979, S. 205 Johnson: 2013, S. 273 Ebd., S. 267
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um den Eindruck zu vermeiden, die Verfassungsänderung diene allein als Begünstigung einer einzelnen Stadt, das Glücksspiel im gesamten Bundesstaat erlaubt hätte, ohne zu bemerken, dass die Bewohner New Jerseys nichts so besorgte wie die Vorstellung von Einarmigen Banditen in der eigenen Heimatstadt. Eine zweite Kampagne 1976 machte dann ihre Hausaufgaben. Ein signifikant veränderter Antrag sah nun vor, Glücksspiel ausschließlich in Atlantic City zu gestatten und durch Privatunternehmen betreiben zu lassen, was die Ausfinanzierung eines aufwendigen Wahlkampfs durch zukünftige Casino-Lizenznehmer wie der Resorts International Gruppe gewährleistete. Im inzwischen rezessionsgeplagten Bundesstaat versprachen sich die Wähler Arbeitsplätze, einen Abbau des Haushaltsdefizits und nicht zuletzt Atlantic Citys Stadterneuerung. Diesmal stimmten die New Jerseyites für die Legalisierung. Nicht zuletzt, weil die Antragsteller in einem wirksamen Schachzug die Verwendung der Steuereinnahmen an einen eigens eingerichteten Sozial- und Pensionsfond koppelten.51 1978 eröffnete das erste Casino in Atlantic City, das Resorts International des gleichnamigen, bisher auf den Bahamas tätigen Unternehmens, die hierzu das alte ChalfonteHaddon Hall Hotel umbauten. Resorts International stieg damit zu einem gewichtigen Player auf, der sein kurzzeitiges Monopol zu nutzen wusste.52 Die Sache ließ sich gut an. Damit waren »in der alten Hure neue Lebenskräfte erwacht. Sie läßt sich das verwitterte Gesicht richten, schminkt sich reichlich nach den jüngsten Moden. Neues Spiel, neues Glück.«53 Denn nun kamen sie wieder, die Touristen. Busladungen an Spiellustigen, die hier, so formulierte es Elmore Leonard, »ausreichend Gelegenheit hatten, ihr letztes Gehalt und auch gleich noch ihre Altersvorsorge zu verspielen, bis sie schließlich wieder eingesammelt und nach Elizabeth, Newark, Jersey City, Philadelphia und Allentown zurückgebracht wurden. Am nächsten Tag werden neue Wagenladungen herbeigeschafft, wie Schlachtvieh in Güterwa51
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Die Vorstellungen des demokratischen Gouverneurs Brendan Byrne von einem »zivilisierten Glücksspiel« blieben jedoch Theorie. Seine Regierung »envisioned the creation of a gracious atmosphere in Atlantic City that would appeal to family vacationers and convention groups without becoming so expensive as to be exclusive. Its proposals limited all gaming Operations to 112 hours per week (16 hours per day), prohibited the serving of alcoholic beverages, free or otherwise, on the casino floor, the tipping of […] casino employees, the comping – perks – of high rollers, free junkets. […] [A]llowed credit only in the form of checks that had to be deposited within two business days. All these recommendations were defeated. In the end, it was free booze while gambling, easy credit, tipping to one’s heart’s content. And gambling 18 hours daily on weekdays and 20 hours on weekends.«; Demaris: 1986, S. 61 Bereits der Besucheransturm am ersten Tag war gewaltig: »Um zehn Uhr morgens durchschnitten damals die Stadtväter das seidene Band, schon mittags hatten die Wechselautomaten keine Münzen mehr, zwei Stunden später ließ sich die Tür des Tresors nicht mehr schließen. Das Geld wurde in Wäschesäcke gestopft und in leeren Büroräumen abgestellt. [Eigentümer] James Crosby […] saß, vom Geldsegen überschwemmt, zurückgezogen in seinem Zimmer, der Arzt maß seinen Puls und ließ keinen Besuch mehr zu. Niemand weiß, wie viel an diesem Tag in Atlantic City verspielt wurde, die Buchhaltung hatte versagt. Fest steht, dass in fünf Monaten 134 Millionen Dollar auf Crosby’s Konto rollten – Weltrekord unter den Spielbanken.«; Korfmann, Hans W.: »Zum Pokern ins Taj Mahal«, in: Die Zeit, 2/2000 Blumenberg, Hans-Christoph: »Die Stadt der Spieler«, in: Die Zeit, 50/1980
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gen, nur daß man die Leute hier mit allen Mitteln am Leben und wach zu halten versuchte, mit grellen Lichtern, lauter Musik und Jackpot-Gewinnen, die klingelten wie ein Feueralarm.«54 Die durch die Glücksspiellegalisierung wachgeküsste Stadt geriet nun in die Trance eines überhasteten, hyperventilierenden Raubkapitalismus. Atlantic City erfasste die Preistreiberei eines kurzlebigen Booms – antizyklisch zum strauchelnden amerikanischen Selbstbewusstsein in den späten 1970ern.55 Die Grundstückspreise gingen in den Himmel. Geldgierige Investoren versuchten mit Schurkereien, die Mieter aus den vernachlässigten alten Gebäuden zu kriegen, die Abrissfirmen erfüllten ihre niederträchtige Bestimmung. Denn »it was land, not houses and hotels, that mattered most in the new, real-life game of Monopoly.«56 Am Boardwalk wurden nun Megaresorts aneinandergereiht – wuchtige Gebäudekubaturen in selbstgerechter Disproportioniertheit, nach dem in Las Vegas entwickelten typologischen System. Ganze Straßenzüge traf die Stahlbirne, um im Rückraum Parkhäusern Platz zu machen. In den unattraktiven Randlagen allerdings, bei denen die Bauspekulanten vergeblich darauf warteten, ihren Schnitt zu machen, hinterließen sie eine halbverlassene, müllübersäte Ruinenlandschaft aus »alte[n] Holzhäuser[n] und leere[n] Parkplätze[n], Telefonmasten, die vereinsamt in Straßen standen, die Namen von fernen Staaten und Ozeanen trugen«. Die Gegend sah »aus wie ein verlassenes Schlachtfeld, wie nach einem Kampf um jedes einzelne Haus, der die Hälfte der Anwohner gezwungen hatte, ihre Sachen zu packen und zu flüchten.«57 Auch den Boardwalk kennzeichnete eine beeindruckend gescheiterte Unfertigkeit. Denn die Instant-Architekturen der Casinobauten zeigten aufgrund der rein wirtschaftlichen Interessen der Investments ähnlich wie im damals stagnierenden Las 54 55
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Leonard, Elmore: Glitz, München: Heyne 2000, S. 100 Die USA gerieten in eine Energiekrise und mussten zugleich mit einer crises of confidence kämpfen, »die Stimmung im Land [hatte] ihren Tiefpunkt erreicht; Städte wurden durch Vandalismus verwüstet, Stagnation und Inflation vernichteten die Kaufkraft, im Weißen Haus saß [mit Jimmy Carter] ein humorloser Moralist, der Opferbereitschalt predigte. Das Misstrauen gegenüber Behörden und Verbänden stieg, die Bevölkerung war frustriert und ließ sich – von Populisten und Konservativen – gegen Staat und Steuern aufwiegeln«; Packer: 2014, S. 32 Simon: 2004, S. 192; »Between 1977 and 1982, 20 percent of the city’s housing stock was demolished and the housing that remained standing was allowed to deteriorate until almost 25 percent of the total housing units were substandard« (Demaris: 1986, S. 371). Der größte Grundstücksbesitzer der Stadt, Resorts International, war zugleich der größte »Slumlord«. Leonard: 2000, S. 86; »The people who had danced in the streets the night gambling was legalized were now bemoaning their fate as property taxes, water, sewer, and utility bills tripled and quadrupled, street crimes, prostitution, and drug abuse sextupled, and the quality of life continued to worsen. Thousands were forced not only out of their homes but out of town. […] The army of street people was growing at an alarming rate« (Demaris: 1986, S. 367). Auch die 50000 neugeschaffenen Arbeitsplätze in der Casinoindustrie verhinderten die Stadtflucht nicht. Eine Mehrzahl der Beschäftigten stammt ohnehin nicht aus Atlantic City selbst, sondern lebt in den Suburbs am Festland, mit geringer Bindung an die Stadt: »casino managers didn’t want their bar maids, pit bosses, and buffet cooks competing with gamblers for parking spaces, so they built intercept lots outside the city and bused their employees directly from their cars to their jobs and back again at the ends of their shifts. As a result, there was little chance for any of the casino riches to trickle down into the city.«; Simon: 2004, S. 200
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Vegas, in dem die nun regierenden börsennotierten Hotelketten die Extravaganz der Mafia-Ära vermissen ließen, wenig Ambition, der Selbstbegeisterung der Gegenwartsarchitektur als Leitkultur unserer Zeit gerecht zu werden, sondern verhandelten im Gegenteil einen gesunkenen gesellschaftlichen Stellenwert. Die Nichtqualität dieser architektonischen Malaise verrät, dass es hier nur ums Geld, ums Geschäft, geht.58 Kleinmeister einer überlebten Kommerzmoderne zogen für die Hotelkonzerne und die Glücksspielindustrie aus Nevada klobige, entpersönlichende Betonmonster hoch, die wenig Ehrgeiz entwickelten, sich über bloße Funktionserfordernisse emporzudenken. Beispielhaft dafür steht das Bally’s, das anstelle des ehrwürdigen MarlboroughBlenheim Hotels errichtet wurde: »a building that looked like an unimaginative merging of a Days Inn and a K-Mart. It was […] the anti-Marlborough-Blenheim – a building with so little distinction that it was hard to describe. This sort of colossal and studied blandness became the blueprint for many of Atlantic City’s first generation of casinos.«59 Zu den Casino-Impresarios der Stadt avancierten Steve Wynn, der instinktbegabte Las Vegas-Aufsteiger mit flüssigen Milliarden der Wall Street im Hintergrund, der mit dem Golden Nugget das lukrativste Casino am Boardwalk betrieb, das Geld säckeweise nach Hause trug. Und Donald Trump, der schillernde Immobilien-Tycoons aus Manhattan, der 1984, PR-mäßig angeheizt, die Bühne Atlantic City betrat. Mit ihnen kam Investorenkapital aus dem speichelnassen Finanzmarktkapitalismus der Wall Street in die Stadt, aber auch undurchsichtiges, schmutziges Geld aus ihren Mafiaverbindungen. Denn in Amerika, einem Land, aufgebaut auf gewaschenem Geld, versuchte natürlich auch die Mafia an der Casinolegalisierung zu partizipieren. Das organisierte Verbrechen operierte vielseitig, der Boden erwies besonders in den frühen 1980ern als heiß, als sich im nahen Philadelphia unzählige Mafiamitglieder im Revierkampf um Atlantic City gegenseitig umbrachten. Mafiaverdächtige Halbweltfiguren fanden sich in jenen Unternehmen, die Casinolizenzen beantragten, wie bereits das erste Kommissions-Hearing der Resorts International zeigten.60 Die Mafia schnitt über 58
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Augenscheinlich geschaffen von »builders and investors whose sense of environmental aesthetics is limited to the calculable beauties of rentable-square footage by the squareblock« (Huxtable: 1986, S. 21); Auf Atlantic City passen Zeilen Huxtables die das Grunddilemma der amerikanischen Nachkriegsjahrzehnte ausdrücken: »The cities are sick, and urban renewal is government-applied first aid. One suspects that the doctor’s cures may be killing the patient. Visit almost any city in the United States and its most striking aspect is apt to be a bulldozed wasteland its heart. Out of the wasteland, more often than not, rises another dreary wasteland of new construction.«; ebd., S. 105 Simon: 2004, S. 196-197; Nicht nur mitgetragen, sondern entscheidend forciert wurden diese Entwicklung von der Politik New Jerseys. Gouverneur Brendan Byrne sprach sich ausdrücklich gegen »patch-and-paint« aus. Während die Casinobetreiber, so wie Resorts International beim ChalfonteHaddon Hall, mit Blick auf den Zeitgewinn von Flickwerk-Adaptierungen durchaus lieber Bestandsgebäude umgenutzt hätten. Resorts International stand im Verdacht, auf den Bahamas mit Lieutenants Meyer Lanskys verbandelt zu sein. Demaris beschrieb die Hearings als Alibi-Veranstaltung, bei denen die politisch besetzte Kommission die dubiosen Verstrickungen bewusst ignorierte: »The vast amount of money Resorts spent in New Jersey to support the referendum and the writing of the Casino Control Act was never brought up in the hearings. Nor were the names of local politicians and their relatives ever raised.« (Demaris: 1986, S. 117). Der Lizenzierung folgten ebenso nebulöse Scheinprüfungen der Antragsteller Bally’s und Ceasars, die ebenfalls beide Verbindungen zur Mafia aufwiesen. Entge-
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das von ihnen infiltrierte Baugeschäft, über Zuliefererbetriebe, sowie über die korrupte Local 54, die Gewerkschaft der Casinobediensteten, mit.61 – Als Atlantic Citys Mafiapate der 1980er machte sich Nicodemo »Little Nicky« Scarfo, bis zu seiner Verurteilung 1988 offizielles Oberhaupt der italoamerikanischen Mafiafamilie Bruno aus Philadelphia, einen Namen. Mit der glamourösen Gangsterära des Boardwalk Empire war der »Philly Mob« allerdings natürlich nicht zu vergleichen. Hier versuchte sich ein bereits erratisches Kriminellenmilieu, Jogginganzugträger mit Goldkettchen und öligen Haaren wie bei den Sopranos, in einer ihnen entgleitenden, schneller drehenden Ökonomie zu verbeißen, die längst von gierigen Konzernchefs und Börsenbroker beherrscht wurde.62 Nachdem bereits seit den ersten Tagen der Casinolegalisierung unzählige Investoren gestrauchelt waren, vielfach Entwicklungsideen sich in Sand verliefen, Finanzierungen scheiterten, Planungen und Bauarbeiten eingestellt, Glücksspiellizenzen verweigert wurden, setzte es ab Mitte der 1980er erste heftige Pleiten. Wie ein Fanal rostete eineinhalb Jahrzehnte lang das Stahlskelett des unfertigen Penthouse Boardwalk Casino vor sich hin, an dem sich Bob Guccione, der Gründer des Penthouse Magazins, die Finger verbrannt hatte.63 Das Geld fing teilweise an, in die andere Richtung zu fließen.
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gen der Beschreibung von Demaris muss jedoch betont werden, dass sich die allgemeine Befürchtung, Mafiakreise würden sich der Casinos bemächtigen, im Ganzen nicht erfüllte. Einerseits wurden einzelnen Antragstellern mit fragwürdigen Verbindungen tatsächlich die Lizenz verweigert, was 1985 selbst der Hilton-Hotel-Gruppe widerfuhr, andererseits ging die Mafia-Strategie, Casinos zu infiltrieren, die bereits über eine Lizenz verfügten, nicht auf. Allein der Umstand, dass sich Casinos verpflichten mussten, ein Hotel mit mindestens 500 Zimmern bereitzustellen, schränkte den Kandidatenkreis auf börsennotierte Unternehmen ein. »The moment casinos were legalized just about every East Coast Mafia family began zeroing in on Atlantic City unions. Atlantic City became a tough union city. There were countless labor slowups threatened walkouts, nondeliveries of materials, and other tactics that sent construction cost skyrocketing. Union goons, representing various Mafia families, walked right in and took over union offices and meeting halls. Threats of broken legs and heads were heavy in the air.«; Demaris: 1986, S. 214 Abgerundet wurde das Bild vom schlagzeilenträchtigen Fall des Michael J. Matthews, des 1982 gewählten Bürgermeisters, der die Verstricktheit der Stadtverwaltung in die lichtscheuen Unternehmungen der Scarfo-Bande aufzeigte. Der exaltierte Stadtchef, der nichts unversucht ließ, seine Haut zu Markte zu tragen, tappte in eine Falle des FBI und wanderte nur zwei Jahre nach seiner Inthronisierung ins Gefängnis. »Ein Mitarbeiter des FBI wurde in die Stadt eingeschleust und erschlich sich in wenigen Wochen Matthews’ Vertrauen. Er sah noch nicht einmal wie ein Italiener aus, spielte aber den Mafioso und trug ein Abhörgerät, mit dem er stundenlang belastendes Material aufzeichnete. Das Transkript liest sich wie ein Groschenroman. […] [Der] Bürgermeister besiegelte sein eigenes Schicksal, indem er ein Bestechungsgeld in Höhe von 10.000 Dollar in registrierten Scheinen von dem verdeckten Ermittler annahm. […] Der Bericht des FBI-Agenten beschreibt einen skrupellosen Politiker, an dessen Bürotür nur noch ein großes ›Kauf mich‹-Schild gefehlt hatte.«; Johnson: 2013, S. 302 Bob Guccione, der mit dem verfallenen Haludovo Palace Hotel auf der Insel Krk eine weitere spannende Marginalie des Scheiterns zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts beisteuerte, versuchte vergeblich, das Casino mit den Einspielgewinnen des von ihm mitproduzierten Erotikfilms Caligula von Regisseur Tinto Brass zu finanzieren und scheiterte zudem an der Casino Control Commission. Zur Kuriosität wurde das unfertige Stahlgerippe des Penthouse Boardwalk Casino durch die Pensionistin Vera Coking, der einzigen Hausbesitzerin am abgesteckten Baufeld, die sich weigerte, ihr Strandhaus zu verkaufen. Guccione, der Coking einen Millionenbetrag geboten hatte, baute daraufhin das kleine Haus dreiseitig zu. Cooking gewann später einen Rechtsstreit mit Donald
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Steve Wynn verließ die Stadt bereits 1987, um mit dem in Atlantic City erwirtschafteten Kapital in Las Vegas das Mirage zu errichten – jenes epochemachende Megaresort, dass die Transformation des Strips in den 1990ern einleitete und Atlantic City langfristig zum medialen Randphänomen degradierte. Donald Trumps Imperium stand erstmals 1990, von Überschuldung geschüttelt, das Wasser bis zum Hals. Die dauerhaft nachlassende Marktgängigkeit Atlantic Citys ab den 1990ern ist dann gleichermaßen der spektakulären Rückkehr der Casinostadt Las Vegas und den Glücksspiellegalisierungen in umliegenden Bundesstaaten geschuldet, die zu einer drastischen Marktverkleinerung für die Casinos in Atlantic City führten.64 Der Verdrängungswettbewerb spitzte sich mit der Bankenkrise ab 2008, mit der die Umsätze in Amerikas Glücksspielbranche einbrachen, dramatisch zu. Die Panikattacken des Kapitalmarktes leiteten das endgültige Prosperitätsende des zuerst so verheißungsvollen Zwischenspiels Atlantic Citys als Spielerstadt ein. Damit kamen wieder mindere Zeiten. Durch die Casinoschließungen und die mit ihnen verbundenen Massenentlassungen wurde die Arbeiterklasse der Stadt ins Elend zurückbeordert, sofern sie in diesem nicht ohnehin schon steckte.65 Speziell die schwierige Alltagsbewältigung der unter Arbeitslosigkeit und einer materiellen Mangelsituation leidenden Minderheiten und Migranten bestimmt Armuts- und Kriminalitätsbelastung, die Depressivität neoliberaler Bedingungen.66 »The day Disneyland opened in July 1955, Atlantic City became the past.« 67 Der viktorianische Puritanismus stand in Atlantic City seit Anbeginn auf wackeligen Beinen. Seine moralische Empfindlichkeit schien offensichtlich lediglich die Kleiderordnung zu reizen, speziell die Bademode, bei der die Obrigkeit konsequent Züchtigkeit vorschrieb: »City fathers, the ones who blithely looked past illegal gambling, all manner of vice, and Sunday liquor sales, kept a vigilant eye on public bathing morals. Enforcing the city’s tough bathing-suit code.«68
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Trump, der die Bauruine aufgekauft hatte und 1993 schließlich abreißen ließ, um eine von ihm herbeigeführte Enteignung. Das Haus wurde schließlich 2014 abgerissen, nachdem Coking in ein Altenheim übersiedelt war. »With gambling legalized in the surrounding states, Atlantic City casinos have lost much of their pull: Why travel an hour and a half if you can lose money in your own backyard?« (Raphel, Adrienne: »What happened to Atlantic City?«, in: The New Yorker, 25.11.2013). Im Staat New Jersey sind die Umsätze aus den Casinos seit dem Rekordjahr 2006 um 41 Prozent eingebrochen. »Mehr als ein Viertel der Bürger lebt unter der Armutsgrenze. Mit knapp 15 Prozent hat Atlantic City eine der höchsten Arbeitslosenquoten im gesamten Land, höher noch als in der Pleitestadt Detroit. Die Kriminalitätsrate ist die zweithöchste im Bundesstaat.«; Bode: 2014 »For the thousands of people who still live in Atlantic City – and there still are thousands left despite aspects of this place that make it seem as desolate and alien as the moon – they are stuck between the worst of two worlds. The casinos aim to erase the city, but they can’t. Yet what’s left behind for those who still live there – the people who can’t be erased – is a rough world with few public amenities.«; Simon: 2004, S. 214 Ebd., S. 64 Levi/Eisenberg: 1979, S. 87; »Victorian puritanism introduced the first real bathing suit: cumbersome, ankle length pantaloons, jacket, coat, straw hat and, in fact, enough covering to fully protect the family boat. First bathing attire recorded in the city’s history was either gray or black with no shape or reason. About 1870 the bathing suit metamorphosis introduced stripes and the beach
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Aber auch am Boardwalk herrschte eine strenge, regelrecht festliche Etikette: »Dress standards were high at Atlantic City, both in contemporary terms and even more so from the perspective of the melancholic informality of the present Age of Denim. Gowns, bonnets, and parasols for the ladies and suits, cravats, and skimmer hats for the men were in order for beach strolls. Victorian decorum prevailed right up to mean highwater mark.«69 Diese in der Kleidung zelebrierte Exklusivität, seit der Einführung der Konfektionsmode kein Privileg der Reichen mehr, suggerierte den Urlaubsgästen aus der Arbeiter- und Mittelschichten, die Schranken der stratifizierten Klassengesellschaft würden fallen: »Imitation of the upper class was was a primary component of the symbolic mobility which the resort afforded its lower-middle-class users. […] Atlantic City was low-flung, but it palmed itself off in high-toned terms.«70 Speziell in der am Boardwalk populären Fortbewegung mit von Bediensteten geschobenen Rollstühlen fand sich diese defatalisierende Suggestion kultureller Teilhabe ausgedrückt. Diese »Sänfte für die Unterschicht« bildete ein symbolisch attraktives und zugleich leistbares Dekadenzvergnügen für den einfachen Mann: »Denn was baute das Selbstbewusstsein eines hart arbeitenden Menschen mehr auf, als in einem hübsch geschmückten und gepolsterten Sessel von einem Diener durch die Gegend geschoben zu werden?«71 Dass dabei der Diener ein Schwarzer war, bildete die rassistische Hintergrundbedingung dieses simulierten Privilegiertendaseins, dass das Alltagsgefühl der Nichtanerkennung bei der weißen Arbeiterklasse einen Urlaubstag lang suspendierte.72 Die Gesamtstimmung der Vergnügungskultur in Atlantic City blieb bei all dieser eskapistischen Betulichkeit aber immer an den proletarischen Herkunftswelten der Besucher orientiert. Sie war ausgelassen, krawallig und schlüpfrig.73 Die Massen vergnügten sich, aufgewiegelt durch Marktschreierei und Ranschmeiße, auf Riesenrädern und Achterbahnen, in Biergärten, Zirkussen und Vaudeville-Theatern.74 Es gab Wahrsager,
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began to take on the appearance of a zebra playground. Stripes were up and down, horizontal and diagonal, worn alike by men and women bathers.« (McMahon: 1970, S. 89). Selbst die nackte Brust bei männlichen Badegästen wurde erst 1940 erlaubt. Funnell: 1975, S. 46 Ebd., S. 44 Johnson: 2013, S. 62; Der Eisenwarenhändler William Hayday hatte dieses bei der Centennial Exposition in Philadelphia beliebte Fortbewegungsmittel 1887 auf dem Boardwalk eingeführt. »The Boardwalk served as a platform for this exclusive form of nation building as white people – in particular, immigrants on their way out of the working class – acted out stories of making it in America against a backdrop of contrived blackness. The rolling chair presented the Atlantic City and, indeed, national drama of race and class making in its most striking form.«; Simon: 2004, S. 42 Die große Zeit des Seebads fiel in »the ›golden age‹ of popular urban entertainment in America. In the thirty-five years between 1895 und 1930, city life was transformed by the emergence of a new infrastructure of commercialized leisure: amusement parks, theaters, nightclubs, cabarets, baseball stadiums, ballrooms, burlesque houses, storefront nickelodeons and grand movie palaces.«(Hannigan: 1998, S. 15). Wie Hannigan hervorstreicht, wurden in dieser Populärkultur sozialer Ein- und Ausschluss sehr bewusst justiert: »Deliberately constructed by a small cast of leisure merchants, the commercial culture […] was, in fact, carefully regulated so as to reconcile the competing currents of democratic access and class control.«; ebd., S. 9 1891 errichtete William Somers aus Atlantic City ein erstes hölzernes Riesenrad am Boardwalk, zwei Jahre bevor das stählerne Ferris Wheel zur Sensation bei der Chicagoer Weltausstellung, wurde.
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Seiltänzer und Akrobaten, dazu die zeitalterspezifischen Freakshows: an den Vergnügungspiers wurden siamesische Zwillinge begafft, Liliputaner-Boxkämpfe veranstaltet und Tierquälereien beklatscht, indem Pferde zum Turmspringen gezwungen wurden (»The High-Diving Horse«). Der Arzt Martin A. Couney, der Erfinder des Inkubators, stellte Frühgeburten in Brutkästen zur Schau. Und die Seitenstraßen führten direkt in die Rotlichtviertel.75 Atlantic City war, wie der distinguierte Kunstkritiker James Huneker sein Erstaunen zusammenfasste, »a fascinating and vulgar resort – for vulgar in the sense of popularity it is, monumentally vulgar, epically vulgar – epical – that is the word«76 : »The medley of life, the roaring of megaphones instead of newspapers, the frantic rush and indescribable gabble of a Babel-like chorus, the dazzling single line of booths, stores, divans, holes-in-the-wall hotels, cafés, carousels, soda-fountains, shows; the buzzing of children, the shouting newsboys, the appeal of fakers, the quick glance of her eye, the scowl of beach hawks and the innocent mien of bucolics – a Walt Whitman catalogue would not exhaust this new metropolis by the sea, this paradise of ›powerful, uneducated persons‹, patricians, millionaires, and mendicants.«77 Die Patrizier der vieux riches blieben freilich die Ausnahme. Zwar machten die Berühmtheiten unter den Unterhaltungskünstlern der Stadt die Aufwartung (»Anyone who was anyone played Atlantic City«78 ), die etablierte Oberschicht blieb dem Trudel der Passanten in diesem Laboratorium früher Massenkultur jedoch weitgehend fern.79 Denn die Status- und Freiheitsgewinne, die Atlantic City versprach, waren nicht an eine Klassenzugehörigkeit gebunden wie in Newport oder Cape May, wo die Patrizier unter sich zu bleiben trachteten. Sie hatten sich zu einer Ware verselbstständigt. Der Boardwalk
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Das Komitee der Columbian Exposition hatte eigens den Brückeningenieur W. G. Ferris nach Atlantic City entsandt, um diese Attraktion zu inspizieren. Somers, der sein Riesenrad hatte patentieren lassen, strengte daraufhin vergeblich eine Klage gegen Ferris an. Bryant Simon vergleicht die strukturelle Verfasstheit Atlantic Citys mit der World’s Columbian Exposition in Chicago 1893: »this carefully plotted world’s fair divided its attractions into two distinct, separate, and racially marked spheres: the White City and the Midway […]. Atlantic City had a perfect White City – the Boardwalk, the hotels, and the theaters – and a funky Midway of nightclubs, street corners, and backrooms.« (Simon: 2004, S. 46) Die Eigenheit des Seebads lag in der Zugänglichkeit beider Unterhaltungsterrains: »Just about every American city contained a White City and a Midway, a respectable entertainment zone and a red-light district, sparkling movie palaces and dark nightclubs. What made Atlantic City different […] was the close proximity and relative safety of the two sites. […] The easy access to the White City and the Midway was a key factor in making Atlantic City the world’s playground«; ebd., S. 48 Huneker, James: New Cosmopolis. A Book of Images, New York: Scribner 1915, S. 311-312 Ebd., S. 314; »Atlantic City is not a retreat for the introspective; it is all on the surface; it is hard, glittering, unspeakably cacophonous, and it never sleeps. […] [A] week and you may die of insomnia.«, ebd., S. 315 »Most of the rich who did come were the men who gave the Gilded Age its name, the nouveaux riches who were forging industrial America and growing fat on the proceeds. With them came the upper middle class, who could afford some of the same luxuries in modest degree. The pseudosnobbery of resort literature was partly aimed at both groups. If they couldn’t be invited to Newport, they could buy their way into Atlantic City«; Levi/Eisenberg: 1979, S. 125 Funnell: 1975, S. 27
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exerzierte die vordergründige Unbeschwertheit eines konsumorientierten Lebensstils vor, der sich im 20. Jahrhundert zu einem frenetischen Konsumhedonismus verfestigen sollte: »Buying itself as a sort of pleasure was institutionalized for good and all in American culture. So far from being simply a convenience for the crowds, selling became a chief entertainment, engaging the passions more deeply and consistently than the ocean ever could. Recreational buying was a new phenomenon at the time.«80 Diese neue Zeiterscheinung konsumistischer Tollheit kulminierte besonders in den vor inszeniert eigenbestimmter Lebens- und Konsumfreude strotzenden Vergnügungspiers, die seit den 1880ern auf viele hunderte Meter ins Meer gestellt wurden.81 Die aufdringlichen, fantastisch-eskapistischen Kunstgebilde, über die nachts ein Wirbel bunter Lichter flackerte, entfachten mit ihrem verdichteten, stimulierenden Ineinanderfließen aus Fahrgeschäften, Ballsälen, Zirkus- und Stuntattraktionen die Illusion, auf ihnen würden sich große Ereignisse vollziehen. Sie verhießen eine hysterisch gesteigerte »metropolitane Existenzweise« für die entfremdeten Metropolenbewohner, indem sie, so Rem Koolhaas über die Vergnügungsparks auf Coney Island, durch feierliche Lügen der »Künstlichkeit der neuen Metropole eine eigene Über-Natürlichkeit entgegenzusetzen. Statt Entlastung vom urbanen Druck bietet [sie] dessen Intensivierung.«82 Allein physisch bildeten diese auf dem emailleblauen Atlantik tanzenden, lichterglänzenden Pfahlbauten ein Spektakel, dass auch auf Coney Island als »Faszinosum der Künstlichen«83 affirmiert wurde. Sie bildeten ein Trugbild urbaner Mythologie, die durch das Inauthentische, das Fragmentarische und Installative der Pavillonstrukturen, die sich beinahe saisonal veränderten, noch verstärkt wurde. Selbst die vielen Hurrikanschäden und Brandkatastrophen, die über die Piers hereinbrachen, steigerten noch die Sensation ihrer notorisch unvollendeten Existenz. Atlantic Citys wichtigster Vergnügungspier-Impresario war Captain John L. Young. Zunächst mit Young’s Ocean Pier, der allerdings 1902 in die Feuerwalze des großen Stadtbrands geriet und dann 1912 erneut abfackelte. Mehr jedoch noch mit seinem zweiten,
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Ebd., S. 48 Den ersten Pier errichtete die West Jersey and Atlantic Railroad Company 1880 zum Anlass ihrer Streckeneröffnung, dieser fiel jedoch einem Sturm zum Opfer. Die ersten zwei Vergnügungspiers am Boardwalk konstruierte Colonel Georg Howard, die jedoch ebenso noch jeweils in ihrer ersten Saison im Ozean versanken. Sein erster Pier wurde 1882 von einem Sturm ins Meer getragen, 1883 sein zweiter, dreihundert Meter langer Pier, mit dem ersten Ballsaal am Meer, von einem havarierten Schiff gerammt und zum Einsturz gebracht. Koolhaas, Rem: Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan, Aachen: arch+ 1999, S. 34; »Das rasante Tempo, mit dem dieser psycho-maschinelle Urbanismus seine Tentakel über Coney Island ausgebreitet hat, zeugt von der Existenz eines Vakuums, das um jeden Preis gefüllt werden muß. […] Die Metropole bewirkt ein Wirklichkeitsdefizit. Coneys Spektrum künstlicher Wirklichkeiten sorgt für eine Kompensation.«; ebd., S. 57 Ebd., S. 50; Das Eingangsgebäude und der Ballsaal des Young’s Million Dollar Pier wurden 1949 durch ein Feuer zerstört. Ein weiteres Feuer wütete 1981 und führte zum Abriss des Piers, an dessen Stelle das Einkaufszentrum Ocean One errichtet wurde – eine zeittypisch postmoderne Architektur mit Zitaten des Miami-Art Déco und der Streamline-Moderne. Ocean One wurde schließlich 2003 wieder abgetragen und durch die seit Beginn an wirtschaftlich taumelnde Luxusmall The Pier Shops ersetzt, die ursprünglich das über eine Fußgängerbrücke über den Boardwalk verbundene Caesars Atlantic City betrieb. Seit 2015 heißt die Mall The Playground.
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1906 eröffneten Pier, bei dessen Errichtung Young, mit dem Wissen, wie man sein Publikum kriegt, verkündete, eine Million Dollar zu investieren – und damit gleich einen Namen für die 500 Meter ins Meer ragende Attraktion gefunden hatte. Auf dem Young’s Million Dollar Pier gab es Tiefseefischen, bei denen der Fang aus Hebenetzen präsentiert wurde, eine Rollschuhbahn, »ein Hippodrom, eine Ausstellungshalle, in der es vom Schmetterling bis zum Mutanten alles zu sehen gab, den Nachbau eines griechischen Tempels und ein Aquarium mit exotischen Fischarten«84 . Das elegante hölzerne Hauptgebäude gab sich bei seinen mit Rundbogenarkaden versehenen Ecktürmen und den endlosen Pergolen der obergeschoßigen Aussichtsterrassen als kultivierte Neorenaissance. In Bann getan wurden die Besucher auch durch John L. Youngs eigene Residenz, die der Gastgeber mitten auf Young’s Million Dollar Pier platzierte, um seinen Reichtum zu zeigen. Eine scheinitalienische, mit Marmor verkleidete artifizielle Prunkvilla mit laternenartigem Aussichtsturm, die er unter der Adresse No. 1 Atlantic Ocean zur Attraktion machte, bis sie bei einem Wintersturm ins Meer gespült wurde. Den Vorgarten schmückten kitschige Büsten, die Möblierung ließ Young vom k.u.k.-Hoftischler importieren, ebenso einen Glasluster, der davor in der Wiener Hofburg hing. Der 1898 eröffnete Steel Pier ragte 700 Meter in den Atlantik. Als »Showplace of the Nation« wurde der Vergnügungspier für Jahrzehnte eine phantasmagorische Institution der kulturindustrieller Massenbelustigung. Den Amüsierwilligen garantierten Stuntattraktionen, Filmpaläste, Zirkusse und wilde Tiere einen flatternden Puls, schufen Illusionen eines gesteigerten metropolitanen Lebens und Treibens. Auch das mit zwei Ecktürmen mit klassizistisch detaillierten Monopteroi gefasste Eingangsgebäude des Steel Pier trug dazu bei, dass sich seine Gäste haben hinreißen lassen. Der Beaux-Arts-Architekt John Windrim, der Sohn James Windrims, des Späthistoristen aus Philadelphia, der mit seinem Masonic Temple ein bedeutendes Meisterwerk des Eklektizismus hinterließ, hatte es gestaltet.85 Der seit 1913 bestehende Garden Pier, ein Entwurf der Architekten David B. Bassett und Edward P. Simon aus Philadelphia, war dem Missionsstil des zeittypischen Hispanic Revival verpflichtet. Arkadenartige Pavillons mit roter Ziegeldeckung umfassten einen mit Rabatten bepflanzten Platz hin zu einem markanten Vaudeville-Theater, das B.F. Keith’s Theatre, eine artifizielle spanischen Festung mit vier Ecktürmen. Eine vage Assoziation des Alcázars vom Toledo.86
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Johnson: 2013, S. 71 Mit dem gegenwärtigen Steel Pier verbindet der legendäre Vergnügungspark nur mehr die Lage und den Namen. In den 1960ern litt er bereits unter dem allgemeinen Niedergang Atlantic Citys, zudem setzte ihm 1962 eine Flutwelle und 1970 ein Großbrand zu, der ihn um eine Drittel verkürzte. 1982 folgte schließlich die endgültige Zerstörung durch eine Feuersbrunst. 1993 baute Donald Trump den Steel Pier, auf 300 Meter verkürzt, wieder auf und ließ auf einer Asphaltlandschaft Rummelplatz-Fahrgeschäfte betreiben. Nach massiven Beschädigungen durch den Hurrikan von 1944 übernahm die Stadt den auch wirtschaftlich daniederliegenden Garden Pier und trug das markante B.F. Keith’s Theatre ab. Zur Hundertjahrfeier Atlantic Citys 1954 wurde der Pier dann als Civic Center reduziert wiederaufgebaut. Seine derzeitige, unscheinbare Erscheinung, nach einem Feuer 1981, beherbergt das Stadtmuseum.
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Auch Impresario George Cornelius Tilyou, ein mit dem Steeplechase Park für die Vergnügungsindustrie der Jahrhundertwende bahnbrechender Parkbetreiber auf Coney Island, mischte in Atlantic City mit. Er kaufte 1902 einen wirtschaftlich strauchelnden, beim Publikum wenig gelittenen Pier und nannte ihn zwei Saisonen später in Steeplechase Pier um, lancierte Fahrgeschäfte. Das Eingangsgebäude zu dem von Tilyou versprochenen demonstrativen Frohsinn hatte ebenfalls einen leicht festungsartigen Charakter mit zwei hölzernen arkadenverzierten Türmen. 1926 wurde hier das weltgrößte elektrische Reklameschild installiert. Mit 26.000 Glühbirnen auf 65 Meter Länge wurden Chesterfield Zigaretten beworben, bis 1932 der Pier von einem Feuer zerstört wurde. Überhaupt prägte Atlantic City nachts ein Geschmeide von Reklamelichtern. Der Boardwalk stand auch so sinnbildlich für die einsetzende Konsumgüterindustrie. Charles E. Funnell: »There was a limit to illusion, which the town never forgot: at the end of every fantasy was a band poised over a cash register. An emphasis on buying and selling pervaded the resort and typified it throughout its history, producing an unabashedly vigorous commercial atmosphere. Every inch of the Boardwalk engineered to tickle silver out of the jingling pockets of the throng.«87 So diente der Heinz Pier seinem Besitzer, dem berühmten Ketchup-Abfüller Henry J. Heinz, zur Bewerbung seiner Produkte, speziell der Heinz Essiggurken, die hier beinahe 50 Jahre lange gratis verteilt wurden.88 Auch General Motors, die Ford Motor Company, Kodak oder Texaco betrieben Showrooms am Boardwalk. Am berühmtesten wurde die funktionsfähige, vierzehn Tonnen schwere Riesenschreibmaschine der Underwood Typewriter Company, die 1915 bei der Panama-Pacific Exposition in San Francisco gezeigt worden war und danach nach Atlantic City verschifft wurde, um am Garden Pier ausgestellt zu werden.89 Übertrumpft wurden die fieberhafte Ausgelassenheit der artifiziellen Vergnügungspier-Architekturen noch von der schmutzigen Prozession opulenter Großresorts am Boardwalk, die mit ihrem sommerheißen Eklektizismus das neureich-protzige Schöngeistigkeitsempfinden des »Gilded Age« zu schwindelerregenden Gefühlen der Irritation übersteigerten. In der bis in die 1920er-Jahre wachsenden Skyline verbanden sich der für die Atlantik-Seebäder typische neuenglische Queen-Anne-Stil, Beaux-Arts und ein sich metropolitan gebender, pompöser Art Déco zu einer einzigartigen Architektur vehementer Einfälle, in der alles anfing herumzutanzen. Der wichtigste Architekt des alten Atlantic City war William L. Price aus Philadelphia, ein gläubiger Quäker, der der selbstberauschten, sündlichen Vergnügungsstadt ihre exquisitesten Protzereien kreierte, das Höchste und Feinste – so den Erfolg dieses verwerflichen Orts festigte, dessen »business […] is monkey business, Sundays included […] [,] off on a race against sanity«90 . Mit den Zerstörungen des Marlborough-Blenheim Hotels und des Traymore Hotels verlor die Stadt nicht nur ihre Wahrzeichen, sondern die 87 88 89
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Funnell: 1975, S. 47 Als Iron Pier 1896 eröffnet. Nach schweren Beschädigungen durch den Hurrikan von 1944 wurde er abgetragen. »In 1939 the Underwood giant typewriter was shipped to the New York World’s Fair. It never returned to Atlantic City. With the outbreak of World War II, the amazing machine was dismantled, its metal parts donated to the scrap heap as a patriotic gesture.«; Levi/Eisenberg: 1979, S. 71 Ebd., S. 55
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Hauptwerke eines vielseitigen Außenseiters des amerikanischen Späthistorismus, der sich wie sein ideologisch in Ungnade gefallener Lehrer Frank Furness nicht der Hegemonie der neoklassizistischen Beaux-Arts-Schule fügte, sondern frei von strengen Regeln einen regionalen Eklektizismus betrieb. Das Marlborough-Blenheim Hotel bestand aus zwei eigenständigen, über eine Straßenbrücke miteinander verbundene Resorts. Zuerst errichtet wurde das 1902 fertiggestellte Marlborough Hotel, ein langgestreckter Riegel in einer für die Seebäder der Atlantikküste typischen Mischung aus Queen Anne- und Châteauesque-Stil, der über einem mit Veranden gegliederten Erdgeschoß in rustizierten Quadermauerwerk eine neuenglische Schindeldeckung und darüber steile, mit tiefen Traufen und wuchtigen Gauben akzentuierte Walmdächer über den Eck- und Mittelrisaliten erhielt. Der Erfolg des Marlborough ermunterte den Hotelier Josiah White III., am Nachbargrundstück ein weiteres Großresort zu eröffnen.91 Dieses zweite Resort, das 1906 fertiggestellte Blenheim Hotel sollte das große eklektizistische Meisterwerk des Boardwalk werden, »[that] catche[d] the eye like a beached whale: noble but out of place, a rarity in a setting of curiosities«92 . Ein mit raffinierten Verschiebungen barock skulpturiertes Stahlbetongebäude, dass sich wie eine Sandburg am Strand ausbreitete.93 Ein funkelnder, mit fantastischen Assoziationen angereicherter architektonischer Irrläufer, der einerseits den Wahnsinn des Späthistorismus im Blut fühlte, andererseits sich mit einer dem zeitgleichen Wiener Secessionismus verwandten, von zwingenden Ideen zu Kubatur und Zierrat getriebenen Künstlerschaft ins Ungewisse entließ. Eine den Puls Atlantic Citys umklammernde, schwülstige architektonische Aufsteigerfantasie, die von den Einwohnern aufgrund der diffusen Erinnerungsfährte ihres Kuppelbaus und der flankierenden minarettartigen Laternenaufbauten »Baghdad by the Sea« genannt wurde. Zwei hohe, mit goldener Rocaille besetzte Schornsteine, um die William L. Price den opulent komponierten Kopfbau des Blenheim entwickelte, verleiteten zu undeutlichen exotischen Eindrücken. Mit dem imaginativen, mitteilsamen Bauschmuck, der am vorgelagerten, kolonnadenartigen Sonnendeck, der dem Gebäude einen hinreißenden Schwung gab, und an der Hauptfassade mit ihrem Kuppel- und Laternenaufsätzen, mit schmeichelnder Zugewandtheit maritime Bilder hervorrief, wurde die Unbeschwertheit des Reichtums evoziert. Goldene Terrakotta-Reliefs und -Skulpturen, Arbeiten des Bildhauers John Maene, die Seegras, Hummer, Muscheln, Seepferdchen zeigten, sollten der Seele Erhebendes geben. Die Stilisiertheit dieser Architektur wirkte artifiziell. Inauthentizitätswirkungen entfaltete das Blenheim allerdings nur in geringem Maße, da die starke auktoriale künst91
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Den possenreißerischen Wettbewerb der Hotelbesitzer trieb nicht zuletzt deren Angst an: »for their welfare depended on factors that were either partially or totally out of their control: the press of Philadelphia, the laws of New Jersey, public taste, weather«; Funnell: 1975, S. 49 Waggoner, Walter H.: »Atlantic City’s ›Grand Hotel‹«, in: The New York Times, 7.8.1977 Zum Zeitpunkt seiner Errichtung war das Blenheim das weltgrößte Hotel in Stahlbeton-Bauweise. Die Entscheidung zugunsten der vom Historismus abschätzig behandelten Bauart beeinflussten die verheerenden Hotelbrände in dieser Zeit, nicht zuletzt in Atlantic City 1902, dem ein Hotel Whites zum Opfer fiel, und ein Stahlarbeiter-Streik. Das Blenheim war zudem das erste Hotel am Boardwalk mit eigenen Badezimmern in allen Suiten.
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lerische Durchdringung diese Irritationen abschnitt. Die durchaus bewunderungswürdige gestalterische Dichte, die Price gelang, legitimierte die Fantastik als eigenauthentisches, einzigartigen Bauwerk. Bis 1978 schließlich das Unverzeihliche eintrat und das tragisch behauchte Marlborough-Blenheim abgerissen wurde. Es war die Bally’s Corporation, die kein Erbarmen kannte. Noch eher, im Jahr 1972, wurde das unwirklich riesenhaft am Strand lagernde Traymore Hotel, die zweite Ikone der Großresorts am Boardwalk, gesprengt. Die melancholische Schönheit des Hotelkolosses, bei dem William L. Price meisterhaft verstanden hatte, mit der im Art Déco entwickelten Massengliederung einen Triumphalismus der Kubatur zu erwirtschaften, lag da bereits jahrelang in Agonie. Denn mit dem Niedergang Atlantic Citys in den Nachkriegsjahrzehnten war auch diese Berühmtheit ins Trudeln geraten und musste schließen. Das Traymore hatte als kleine Pension in Holzbauweise begonnen, die mehrfach erweitert, schließlich zum größten Hotel des Seebads aufgestiegen war. Die ständig wachsende Sensationserwartung am Boardwalk veranlasste den Besitzer Daniel White, den Halbbruder des Blenheim-Betreibers, allerdings, Price 1906 zuerst damit zu beauftragen, einen kuppelverzierten Kopfbau in Stahlbeton anzuschließen, 1915 dann das übrige Hotel neu zu errichten. Vierzehnstöckig, mit 600 Zimmern. Das Sensationelle und Spektakuläre des Traymore lag zuallererst in der Prätention seiner gewaltigen, nach den kubischen Gliederungsprinzipien des Art Déco gestaffelten Gebäudemasse, dramatisiert vor allem bei Bildern, bei denen ein niedriger Himmel über der Stadt hängt. Erhöht wurde der monumentale Zug ins Große und Weite noch durch die stilisierte Hervorhebung gelb gefliester Kuppelbekrönungen, bravouröse Art Déco-Darlegungen, deren Verlust allein die Zerstörung des Traymore zu einer Beschämung der Stadt machten. Längst verschwunden ist auch das Windsor Hotel, für das Frank Furness, die genialische Autorität des viktorianischen Historismus in Philadelphia, in die vor sich hin brodelnde Provinz bestellt wurde, um seine Kunst produktiver eklektizistischer Verkennungen in der nervösen Konkurrenz der neuen Jersey Shore-Hotels zu zeigen. Sein bedingungsvolles Spiel mit Gefundenen und Erfundenen vereinte bei dem 1883 von ihm errichteten Windsor Shingle-Style mit orientalischen Zwiebeltürmen zu einem Rankwerk der Fantasie, dass den Baustilen der Geschichte unerwartete Variationsspielräume zufügte. Auch das siebzehnetagige Breakers Hotel, dass bei seinem finalen Ausbau 1926 von Architekt Vivian B. Smith in ein verspätetes Beaux-Arts-Palais verwandelt worden war, ist nicht mehr. Das koscher geführte Hotel, dass mit seinem überdimensionalen, gaubenverzierten Haubendach und den konsolengetragenen Barockbalkonen stilistisch dem berühmten Ansonia in New York verwandt war, wurde 1974 geschliffen. Und schließlich ist das Brighton, ein Social Register Hotel, dass die feinen Pinkel der Elite bediente, ebenso Geschichte. Das dezente, neuenglisch wirkende Gebäude wurde 1959 abgerissen. Doch ist es nicht unbedingt so, dass einen am Boardwalk stechende Wehmut durchzuckt, denn die von der Eigenbewegung der Zeit zerrütteten Resorts wurden so sehr in völliges Vergessensein gestoßen, dass die Spuren des Untergegangenen nicht leicht zu registrieren sind, es nicht einfach ist, sich auf die Erfahrung des Verschwindens einzulassen. Die Erinnerungskraft ihres ambivalenten Mythos, den nur mehr grobkörnige
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Fotos mit Vergilbungsoptik überliefern, ist dieser Stadt, die wenig sentimentalen Sinn besitzt, nicht mehr gewachsen. Die Präsenz der Convention Hall, des Ritz-Carlton und des Claridge Hotels, die aus dem städtischen Zusammenhang genommen, nicht mehr die Wirkung ihrer Ganzheit vermitteln, allein reichen nicht, eine Rückgewinnung des Entschwundenen zu initiieren und der Stadt den Eindruck einer Mehrzeitigkeit zu verleihen. Die nun zwischen kommerzmodernistischen Resort-Bunkern und Themenarchitektur-Tingeltangel eingekeilte Convention Hall, die von Lockwood-Greene entworfene, monumentale Veranstaltungshalle, die in ihren Entstehungsjahren zwischen 1926 und 1929 den weitesten freitragenden Innenraum der Welt aufwies, bleibt das bedeutendste verbleibende Relikt der Epoche, in der Atlantic City, weil es die Prohibition ignorierte, zu einem amerikaweit führenden Kongresszentrum aufstieg. Die sandsteinerne Prachtfassade der Convention Hall, die jahrzehntelang als Austragungsort der landesweit im Fernsehen übertragenen Miss America-Wahl fungierte94 , bietet in der Erhabenheit ihrer neoklassizistischen Massengliederung, ihrer wuchtigen, von Turmbauten gefassten Arkade, durchaus Anlass, melancholisch am Vergangenen zu hängen. Doch eigentlich ist Vicki Gold Levis Urteil recht zu geben: »There’s nothing very pretty about the hall, but as a collection of largests, bests, and firsts it stands as an appropriate monument to the American Ethos.«95 Auch das 1921 eröffnete, 18-geschoßige Ritz-Carlton, entworfen vom bedeutenden New Yorker Architekten Charles D. Wetmore, in den »Roaring Twenties« ein Nobelhotel, seit Ende der 1960er ein Appartementhaus, und das Claridge Hotel, ein 1930 nach einem Entwurf John McShains errichtetes 24-geschoßiges Hochhaus mit einem laternenartigen Art-Déco-Abschluss, sind ansprechende Bauwerke, mit abgemessener architektonischer Sprachwahl. Doch bieten die roten Klinkerfassaden mit den gleichförmig in die Fronten gebrochenen Fenstern eigentlich keine wirkliche Besonderheit. An der New Yorker Park Avenue wären es Dutzendbauten. Zwei weitere Klassiker der alten Tage wurden schließlich bei ihrem Umbau in Casinos einigermaßen malträtiert. Das Chalfonte-Haddon Hall, das jetzt Resorts International heißt, ist ein nun weiß verputztes Art Déco-Bauwerk aus den 1920ern, dass der Las Vegas-Architekt Joel Bergman um einen großen Hoteltower mit verspiegelten Glasflächen, der die Art Déco naiv und sentimental aufgreift, erweiterte.96 Das Dennis Ho94
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1964 fand hier zudem die Democratic National Convention statt, bei der Präsident Lyndon B. Johnson seine Kandidatur zur Wiederwahl bestätigt wurde – eine für Atlantic City fatale Veranstaltung, zeigten die mediale Berichterstattung doch, wie heruntergekommen das Seebad inzwischen war: »der bemitleidenswerte Zustand der Stadt [wurde] landesweit im Fernsehen gezeigt. […] 15 000 Delegierte, Journalisten und Techniker trafen auf eine Stadt, die ihren Ansprüchen nicht im Ansatz genügte und die Dienstleister kollabierten unter dem Ansturm der Tagungsgäste«; Johnson: 2013, S. 238 Levi/Eisenberg: 1979, S. 102 Das Chalfonte-Haddon Hall hat seinen Ursprung in zwei kleinen Pensionen, dem Chalfonte House and dem Haddon House, die auf 1868 und 1869 zurückgehen und seit 1890 gemeinsam betrieben wurden. Hochhaus-Neubauten des Chalfonte durch den namhaften Späthistoristen Addison Hutton 1904 und der Haddon Hall 1929 erweiterten das Hotel auf tausend Zimmer. Resorts International renovierte lediglich die Haddon Hall, das Chalfonte wurde 1980 abgerissen. Bergmans Erweiterung erfolgte 2004.
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tel hingegen, vom Bally’s Casino einverleibt, erhielt zwischenzeitlich einen schreienden türkisen Anstrich, der die Beaux-Arts-Pracht des dreiflügeligen Baus in eine inauthentische, verkitschte Disney-Scharade travestierte. Noch bevor jedoch mit der Glücksspiellegalisierung tatendurstige Casinounternehmen Atlantic Citys Stadtbild brachial umgestalteten, warteten auf das Seebad Jahrzehnte eines langsamen Niedergangs, in denen sich der Glamour der Heydays, auf den die USA ein halbes Jahrhundert hingerissen und neidisch geblickt hatte, verflüchtigte, man die Attraktivität der Vergnügungsstadt dramatisch an Schlagkraft verlieren sah. Atlantic City, seit ihrer Gründung eine ständig im Entstehen begriffene Stadt, schien nach 1945 mit jeder Saison stärker aus der Zeit geraten zu sein. Der sich in den Nachkriegsjahrzehnten ankündigende Kulturwandel erschütterte die Einbildungskraft der verbliebenen Urlauber. Die desillusionierenden, grimmigen Stadteindrücke des Verfalls, die Besucher nun zunehmend mit aller Schärfe empfanden, waren nicht mehr fähig, den Bildern zu dienen, die Atlantic City als »America’s Playground«, als einen kulturellen Mythenträger qualifiziert hatten. In gelbstichige Aufnahmen aus den 1960ern erscheinen das Marlborough-Blenheim und das Traymore hinter den Badegästen am Strand bereits chimärisch, weltentrückt. Die zunehmend heruntergekommenen Hotelmonumente zeigten sich grundschwermütig, depressiv – ein Versprechen von Opulenz und Komfort war ihnen nicht mehr zu entreißen. Und auch die Vergnügungspiers waren nicht länger in der Lage, ihre an Träume heranreichenden Bilder aufrechtzuerhalten. Sie verkamen zu schäbigen, durch riesige Reklameschilder verunzierten Rummelplätzen auf Pfählen, die in den galoppierenden Innovations- und Veraltungszyklen der Freizeitpark-Industrie mit ihren Jahrmarktsattraktionen, die in allem hintendran waren, kein werthaltiges Angebot mehr darstellten. Dass der Badeort als Urlaubsdestination damals massiv an Attraktivität einbüßte, lag ja zwar mitursächlich, aber nicht allein an der neuen Konkurrenz durch die vordem exotischen Touristenzentren in Florida und in der Karibik, die, durch den Flugverkehr erreichbar und leistbar geworden, den die mittleren Schichten erfassenden Statuswettkampf besser befriedigten.97 Und auch nicht allein am Generationsbruch zur alten urbanen Entertainment-Industrie, die für die Nachkriegs-Suburbanisierten ihren Reiz verlor, da diese nun »Stadtgefühl« an sich mieden und lieber in die VergnügungsAntithese zu Atlantic City flüchteten, nach Disneyland, dass eine aseptische Verbannung städtischer Realität anpries, statt Urbanität in einer aufgekratzten Rummelplatzatmosphäre zu intensivieren. Atlantic City war mit seiner abgewirtschafteten, nicht mehr in Stand gehaltenen Infrastruktur einfach nicht länger wettbewerbsfähig. »Wenn man in Urlaub fährt, erwartet man in der Regel bessere Lebensverhältnisse als zu Hause – die Besucher von
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Atlantic City wurde schlichtweg von der steigenden Mobilität und Flexibilität der Reisenden überholt, vom Flug- wie vom Autoverkehr. Atlantic City war nun nicht mehr länge eine Destination für den Jahresurlaub: »They came in automobiles, for the weekends (if not just the day), with a T-shirt, bathing suit, and suntan lotion stuffed into the glove department. That’s it, if they came to Atlantic City at all«; ebd., S. 52
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Atlantic City trafen auf schlechtere«98 , resümiert Nelson Johnson. Viele kleine Hotels und Pensionen wurden in Alters- und Obdachlosenheime umgewandelt. »Die Straßen zum Strand erinnerten an eine gigantische Müllkippe. Da standen die schwer angeschlagenen Hoteltürme auf dem Boardwalk, dahinter die schäbigen Motelblocks am Strand, und es gab die Pacific Avenue mit ihren verlassenen Kirchen, heruntergekommenen Pensionen, Billigschnapsläden und fetttriefenden Imbissläden, […] ein riesiges Elendsviertel«99 .
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Johnson: 2013, S. 236; »To be sure, backyard swimming pools, televisions, air conditioners, jet travel, and a growing thirst for the rugged outdoors took bites out of Atlantic City’s tourism business. Yet neither separately nor together can these factors explain where the crowds went. Not everyone was staying at home. While demolition companies began to implode Atlantic City’s massive Boardwalk hotels in the late 1960s, the crowds swelled at other Jersey and Delaware shore towns.«; Simon: 2004, S. 98 Johnson: 2013, S. 260; Zwei Kinofilme thematisierten den städtischen Verfall Atlantic Citys in allegorischen Bildern: The King of Marvin Gardens (1972) von Bob Rafelson und Atlantic City (1980) von Louis Malle. Die statischen, akustisch mit blasendem Wind unterlegten Außenaufnahmen in der Charakterstudie The King of Marvin Gardens, die die dysfunktionale Beziehung zweier ungleicher Brüder, einem mürrisch dreinblickenden, in sich gekehrten Intellektuellen, gespielt von Jack Nicholson, und einem realitätsflüchtigen kleinkriminellen Geschäftemacher, gespielt von Bruce Dern, erzählt, zeigt ein verwaistes außersaisonales Atlantic City in fahlem Winterlicht.1574 An der Melancholie, die von den erratischen Silhouetten des Marlborough-Blenheim und des Traymore ausgeht, brechen sich diese beiden ganz und gar zerrütteten Figuren, der grüblerische Depressive in seiner Desillusioniertheit und der ungestüme Idealist mit seinem Hirngespinst, auf Hawaii Casinobesitzer zu werden (»No Pokerino, no frozen custard, no Salt Water Taffy«). Auch Louis Malle zeigt die Stadt in kalten Farben – winterlich, trübe. Atlantic City ist da zwar bereits von der Aufbruchstimmung des Glücksspiels erfasst, alle wittern nun eine Chance. Die Düsternis hat das Seebad, das nun »Atlantic City, you are back on the map. Again« plakatiert, allerdings auch im Transitorischen nicht verlassen. Allenfalls liegt über der Stadtkulisse »ein weicher Glanz, der bei aller Schäbigkeit der Schauplätze noch etwas von dem Zauber ahnen läßt, der einmal von Atlantic City ausgegangen sein muß. Louis Malle, der den Zauber und das Spektakel liebt, aber auch die Tristesse, den Katzenjammer, die verspielten und verlebten Gelegenheiten nicht unterschlägt, hat an diesem Ort etwas gefunden, was ihm schon immer wichtig war: die Korruption der Gefühle […], den zwielichtigen Charme einer zum Verderben bestimmten Welt.« (Blumenberg, HansChristoph: »Die Stadt der Spieler«, in: Die Zeit, 50/1980) Burt Lancaster spielt in diesem Neo Film Noir einen gealterten Ganoven, der sich als Laufbursche einer verwitweten alten Gangsterbraut und als Geldeintreiber in den Slums über Wasser halten muss, und mit seinen verschütteten Träumen in der Vergangenheit lebt (»You should seen the Atlantic Ocean in those days, the ocean was something then«). Als zufällig ein Drogenpaket in seine Hände gelangt, findet er unerwartet seine Selbstachtung wieder, da er nun Geld für einen eleganten Anzug hat, er an eine von Susan Sarandon gespielte junge Frau gerät, und schließlich ein richtiger Gangster sein darf, der zwei Kriminelle erschießt und mit seiner Tat in den Fernsehnachrichten landet, was ihn ausgelassen jubilieren lässt. Während die junge Frau, die in der Austernbar eines Casinos arbeitet, ihre Aufstiegschancen in der Glücksspielindustrie antizipiert und sich zur Kartendealerin ausbilden lässt, erreichen die Casinos das Weltbild des anachronistischen alten Ganoven allerdings nicht mehr: »Burger King casinos, McDonalds casinos, pizzeria casinos – Jesus! Now it’s all so goddamn legal. Tutti-frutti ice cream and craps don’t mix.«
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Architekturen des Inauthentischen »Atlantic City locals divide the city’s history into two periods: B.C., before casinos, and A.C., after casinos.« 100
Seit seinem Einstieg ins Casino-Geschäft 1984 wird Atlantic City unausweichlich mit dem Namen Donald Trump assoziiert. Er wird zu ihrer Kristallisationsfigur. Mit arglistigen Geschäftsinstinkten und einem anscheinend unschätzbaren Verkaufstalent, mediale Spektakel anzustellen, war da Trump bereits zu einer nationalen Berühmtheit aufgestiegen, dessen flapsige Sprüche und ausschweifende Lebenswandlungen zeitungsseitenweise ausgebreitet wurden. Er galt als Champion der Finanzjongleure, repräsentierte das aufsteigende Yuppietum – die 1980er, dieses dumme, unerträgliche Jahrzehnt. Mit der ihm typischen sehr hohen Meinung von sich selbst inszenierte sich Trump als Pate von Atlantic City. Und »[n]atürlich benannte jemand wie Trump alles, was er besaß, nach sich selbst«101 . Das galt für seine drei Casino-Resorts in der Stadt, seine Yacht, seine kurzlebige Fluglinie. Bis hin zum Radrennen Tour de Trump, deren Schlussetappe 1989 in Atlantic City veranstaltet wurde, mit einem Einzelzeitfahren auf dem Boardwalk. Allerdings hat Trump den Hype nicht durchgetragen. Seine Unzuverlässigkeit, schneidende Arroganz und Pressegeilheit, unter denen später auch seine Präsidentschaft leiden sollte, trieben sein Firmenimperium bereits in den frühen 1990ern aus der Spur. Er wurde sich selbst zur Gefahr. Trumps Spiel, die Geschäfte anzuschieben, war seit Anbeginn nur einen geringen Einsatz an eigenen Mitteln eingegangen und häufte Milliardenschulden an, die dem Immobilienhai 1991 aus dem Ruder liefen. Mit der Pleite seiner Casinos bekam nicht nur der von Trump kultivierte Mythos als Businessman Kratzer ab, »in der amerikanischen Finanzwelt [fand damit] eine spektakuläre Epoche ihr jähes Ende, ein Jahrzehnt […] einer Generation egomanischer, geldgieriger, mitleidloser Yuppies. […] Das neue, schnelle Geld, ohne Deckung geliehen, die riskante Manipulation, der Protz – dafür steht einer wie kein anderer: Donald Trump.«102 Unzählige Karriereschieflagen des selbsternannten Milliardärs füllten seither die Wirtschaftsnachrichten und beschäftigten Insolvenzrichter. In seiner Gier nach maximaler Medienaufmerksamkeit gelang es Trump allerdings, sich als TV-Bagatelladel eine Parallelexistenz in den Klatschspalten aufzubauen, mit der er die Fantasie der Nation beschäftigte und sein Image als Wirtschaftsgewaltiger ungeachtet aller unternehmerischer Turbulenzen in der Selbstreferentialität des Mediums Fernsehen zu einer weltbekannten Marke verselbstständigte. Der überzeugte Selbstbewunderer mit dem dotter-
100 Simon: 2004, S. 186 101 Johnson: 2013, S. 325 102 Schwellen, Michael: »Der Mann, der am Himmel kratzte«, in: Die Zeit, 35/1990; Insgesamt viermal rutschte die Casino-Dachgesellschaft Trumps in die Insolvenz (1991, 2004, 2009 und 2014). 2009 legte er schließlich das Management nieder, nahm seinen Abschied aus der Glücksspielstadt: »Trump’s Atlantic City casino empire was built and funded by others. He deserves credit – perhaps grudging credit, but credit nonetheless – for this impressive feat. He was, indeed, one of the largest employers in South Jersey for decades. But he was no visionary, getting out ahead. Trump once had an Atlantic City empire. And he didn’t sell it – he lost it.«; McQuade, Dan: »The Truth About the Rise and Fall of Donald Trump’s Atlantic City Empire«, in: Philadelphia Magazine, 16.8. 2015
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gelben Haupthaar zelebrierte, eingeklemmt zwischen Scheinwerfern und Mikrofonen, sein innenlebenfreies Celebrity-Self als peinlichen Geldporno fürs Realityfernsehen. 2016 entdeckte Trump schließlich seine Neigung, sich medienöffentlich im Ton zu vergreifen, erfolgreich für die Politik. Der ewig konsequenzenlose Meister der SelbstKompromittierung stieg als Überraschungskandidat der Republikanischen Partei in den Ring der US-Präsidentschaftswahl. Dabei verhielt sich Trump wie gewohnt schweinisch und zeigte sich schlechten Witzen zugeneigt, doch konnte er mit hetzerischem Rechtspopulismus und ostentativer Geistfeindlichkeit eine Mehrheit mobilisieren. Er, der Playboy mit den Verbalausschweifungen, der wenig subtilen Virilität und dem widerlichem Macho-Benehmen, der sich überall aufspielen will, der fürchterliche Ausdrücke benutzt und gerne Anderen Sauereien zuflüstert, wurde tatsächlich zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt – und so zum Entscheider über Dinge, von denen er keinen Begriff hat. Das widerwärtige Schmierenstück der Präsidentschaft Trump beschränkt sich seither weitestgehend darauf, die Skandale über Geheimdienstschachereien und alte Bumsgeschichten abzubiegen, säuerlich lächelnd Blamagen klein-, und ausbleibende politische Leistungen schönzureden; hauptsächlich mit wirren Kurzverlautbarungen, bei denen sich Trump, der selbst so meisterlich die Kunst der politischen Beleidigung beherrscht, nun, die mediale Skandalisierungsmaschinerie gegen sich, äußerst dünnhäutig zeigt und unter den ungläubig Belustigten den Verdacht nährt, er leide unter gefährlichen Bewusstseinseintrübungen. Bis hin zur Debatte, dass man den Präsidenten, diesen mit Falschheit erfüllten Mann, auf seinen Geisteszustand hin untersuchen lassen müsste. Diese Karnevalisierung der US-Politik unter dem Phänomen Trump darf allerdings natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, welche unsympathischen gesellschaftlichen Kräfte diese tragische und lächerliche Gestalt ins Weiße Haus gewählt haben, welches ungemeine Maß an Hass, Intoleranz und Wahn. Neben einer frustrierten, abgehängten weißen Arbeiterklasse, deren Ängste und Wut, aber auch deren Traditionalismus der Instinktpopulist Trump mit seinen Tiraden gegen die »multikulturelle Einwanderungsgesellschaft« eingefangen hat, bildeten das Rückgrat eine Wählerschaft radikaler Kräfte, die sich selbst nicht karnevalisieren, sondern weiterhin ihre engstirnigen politischen Vorstellungen verfolgen. Eine diffuse Anti-Establishment-Multitude paranoider Interessensgruppen aus Bibelgläubigen, Waffenfanatikern und »White Suprematist«-Rassisten, die sich zwar in ihren Ideologiebestandteilen in eine diffuse Vielfalt an Einzelradikalismen zergliedern, zugleich jedoch eine perikulöse Deckungsgleicheit in ihren Feindbildern erreichen, wie Enzensberger unterstrichen hat: »Die Obsessionen und die Ressentiments, die Ängste und die Aggressionen, von denen die amerikanische Rechte zehrt, geben nur von außen betrachtet ein Ganzes, eine ›Weltanschauung‹ ab. Für sich betrachtet sind sie immer ganz spezifisch, vereinzelt und konkret. […] Überall aber wimmelt es von Parasiten, Nichtstuern, Homosexuellen, Deserteuren, von Leuten, die für die Scheidung und für die Abtreibung sind, aber gegen die Luftwaffe und gegen Gott.«103
103 Enzensberger: 1982, S. 136-137
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Trumps architektonische Brachialtat in Atlantic City, das Megaresort Trump Taj Mahal, ist dabei selbst äußerst unamerikanisch. Nicht in der simulationsästhetischen Wirklichkeitsabstraktion und im aufschneiderischen Billigprunk, dem Ungeschlachten und Überwältigenden des mit einem Goldton übergossenen Ambientes, aber im themenarchitektonischen Sujet: einer verkalauerten Indien-Imagination, die schlichteste Plattitüden in fieberhafte Halluzinationen überführt. Davor hatte sich Donald Trump bereits mit zwei Kommerzmoderne-Monstren, dem ausschließlich wegen seiner menschenabweisenden Dimensionierung auffälligen Trump Castle, einem pathosfreien, weil einfach pathosunfähigen Bau, und dem halbambitionierten Trump Plaza, das die für architekturindifferente Casinoriesen berüchtigte Las Vegas-Legende Martin Stern Jr. entwarf, in Atlantic City breitgemacht. Wobei der seit seiner Schließung 2014 in einem Zustand der Verdämmerung begriffene Trump Plaza immerhin inzwischen mit seinem ungelenk populistischen 80s-Modernismus einen exzentrischen Retro-Reiz erweckt. Seine uneingelösten, in der Klobigkeit seiner Großformen erdrosselten zeitgeistigen Versprechen erfahren gerade durch die materiellen Alterungsspuren des Gebäudes – die schlierigen Fugenbilder auf den lungenschwarzen Glasflächen der Schrägfassade und die Abwitterung an dem roten Fassadenband, das sich beim zentralen wappenverzierten Eingang am Boardwalk wie ein Wimperg zu einem Dreieck aufspannt – eine unfreiwillige Dramatisierung, die Trumps damalige Imponierabsichten endgültig zunichtemachen.104 Das Taj Mahal hätte dann der nächste Triumph des hoch kreditierten Immobilientycoons werden sollen. Ein Casino, »das [selbst] für Las Vegas zu geschmacklos gewesen wäre«105 . 1986 überzeugte Trump nach dem Tod von James Crosby, dem Gründer von Resorts International, dessen Erben, das Taj Mahal, den Traum ihres Vaters, der nach schleppenden Bauarbeiten längst zu einer »Geldvernichtungsmaschine geworden [war], die sein Unternehmen in den Abgrund riss«106 , Realität werden zu lassen. Trumps langanhaltendes Keramikgrinsen fiel aber bereits vor der mit einer Werbeoffensive eingetrommelten Fertigstellung 1990 in sich zusammen. Ihm war das Geld ausgegangen, um seine drei Casinos zu unterhalten. »So tief wie Donald Trump in finanziellen Schwierigkeiten steckte, so hoch reckte sich das Taj Mahal in den Himmel von Atlantic City. Zur Zeit seiner Eröffnung war es das größte und teuerste Gebäude, das jemals in New Jersey gebaut worden war.«107 Trump meldete Insolvenz an.108 104 Was auch für die kitschigen Art Déco-Anleihen im Inneren des Trump Plaza gilt, einem pseudoexquisiten Exzess aus Marmor-, Messing- und Spiegelverkleidungen (die zur gleichen Zeit die Postmodernisten bei ihrem Flirt mit dem Kitsch so freudig synkopierten): »Brass, beveled mirrors, and Tivoli lights were everywhere, accented by vivid reds, deep burgundies, and walls painted in shades of lavender that changed at each level […]: Trump called it New York Art Deco«; Demaris: 1986, S. 380 105 Schweitzer, Eva C.: »Amerikas Berlusconi«, in: Die Zeit, 37/2015 106 Johnson: 2013, S. 337 107 Ebd., S. 338 108 Allen Anschein sah er sich damals wie später als US-Präsident auch, nicht dazu veranlasst, mit seinem Gewissen zu feilschen. Denn dazu war und ist er viel zu sehr eingenommen von sich selbst. In den Umschuldungsverhandlungen gelang es ihm, die Atlantic City-Casinos zu behalten. Sie waren der Schlüssel für Trumps »Houdini-like escape from creditors. Back in 1990, both Atlantic City and Manhattan real estate were reeling from recession, and Trump was drowning under $960 million in
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Das Taj Mahal ist, wie Trumps Fernseh-Verblödungsshow, eine einzige Peinlichkeit, »dessen Pappmache und Gips-Äußeres irgendwie nicht mit dem Marmor und dem Kristall der Inneneinrichtung harmonieren will, und der […] nicht einmal ein matter Abglanz jenes Grabmals ist, welches Schahdschahan, der Großmogul im indischen Agra, […] errichten ließ«109 . Eine in irgendeiner Weise perverse, widerliche Geschichte, die übertrieben die ästhetische Beschränktheit des Trivialisten Trump veranschaulicht, der sich über alles, was er mit seinen kleinen Patschhänden angreift, mit unverfrorenem Eigenlob in den Superlativen dekadenter Marketingkampagnen äußert, obwohl sich seine persönliche Exzellenzvorstellung in effektverliebten Protz-Stereotypisierungen erschöpft. Eigentlich erreicht die aus goldenen Zwiebeltürmen und bläulich verspiegelten Maschrabiyyas zusammengefummelte Kitsch-Absurdität des Taj Mahal, bei dem der bereits von Resorts International beauftragte Architekt Francis Xavier Dumont versuchte, sich in der unterhaltungsarchitektonischen Bahn, die Disney Imagineering zieht, zu halten, allerdings nicht einmal Trumps zweifelhaftes Ideal von Stil und Klasse. Denn auch wenn Dumont darauf bestand, dass ihn John Nashs Royal Pavilion in Brighton beeinflusst habe, gelingt es diesem karikaturenhaften themenarchitektonischen Indien-Klischeeverstärker nicht, eine Ästhetik der Maßlosigkeit anzuheizen, die die amerikanische Besessenheit von Geld und Status, für die Trump zum Synonym wurde, unmissverständlich zum Ausdruck bringen würde. Nicht nur, weil das Assoziationsfeld Maharadscha-Palast in der Verknüpfung mit der Figur Trump ein ausgedachtes, schwachsinniges Bündnis bildet, sondern weil die indischen Fiberglass-Applikationen viel zu infantil, zu kitschig, zu disneyesk geraten sind – zu überspannt in ihrer läppischen Inauthentizität. Das so seine unfreiwillige Selbstentwertung betreibende Taj Mahal war für Atlantic City, dessen architektonisches Reputationsrisiko inzwischen ja gering war, 1990 aber tatsächlich ein Ereignis, wie auch Architekturkritiker Paul Goldberger festhielt: »It’s the best piece of casino architecture in Atlantic City by far. But that’s mainly because everything else has been so awful: most of the rest of the new Atlantic City consists of cheap and banal boxes, places that feel like airport hotels […] [. I]t is the only one that offers that dreary skyline even a hint of the wild flamboyance of the casinos of Las Vegas.«110
personally guaranteed loans. […] Trump mapped out a strategy to offer the banks real estate holdings plus cash in return for releasing their liens on the casinos. The scheme worked, not because the bankers liked it but because Trump successfully exploited their fears of entering the casino business. He stressed to them that if the banks were to take over his gaming empire, they would have to apply for new casino licenses, an extremely tortuous process. He also asserted that causing a massive bankruptcy would poison the Atlantic City market. Without his name on the marquees, business would dwindle.«; Tully, Shawn: »Donald Trump: An Ex-Loser is back in the Money«, in: Fortune, 22.7.1996 109 Schwellen: 1990 110 Goldberger, Paul: »It’s ›Themed,‹ It’s Kitschy, It’s Trump’s Taj«, in: The New York Times, 6.4.1990; Goldberger blieb natürlich abwägend, speziell bei der Opulenz des Interieurs: »Rooms full of gold mirrors and crystal chandeliers and Carrera marble and purple carpeting are like diets consisting only of chocolate mousse – fun at first, and unbearable after a while.«; Ebd.
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Nicht nur im Äußeren, bei dem speziell die Wagenzufahrt mit dem rotleuchtenden Neonlogo in angedeuteten Sanskritlettern, dass unzählige Türmchen und Maschrabiyyas flankieren, einen Hauch Las Vegas entfacht, sondern ebenso im marmorgetäfelten und goldstrotzenden Inneren, dass die erfahrenen Las Vegas-Haudegen Yates-Silverman gestalteten. Mit der Wirtschaftskrise hat es nun aber auch das Taj Mahal übel erwischt – da halfen auch die zwei Tonnen schweren, steinernen Ganesh-Elefantenfiguren vor der Wagenzufahrt nichts, die Hindus als Vermittler guter Geschäfte gelten. 2016 musste das Casino schließen, 2018 machte sich der neue Eigentümer der Pleiteimmobilie, die Hard Rock Café-Kette, daran, die Zwiebeltürme und Maschrabiyyas abzubrechen.111 Nach dem Taj Mahal ist das Wild Wild West Casino die themenarchitektonische Attraktion in Atlantic City, bei der einem am stärksten abwärts drehender Schwindel erfasst. Die pastellfarben disneyeske Puppenhaus-Westernstadt am Boardwalk ist eine 1997 eingeweihte Erweiterung des Bally’s, jenes Großresorts, dass nicht nur das Marlborough-Blenheim Hotel auf dem Gewissen hat, sondern sich auch am angrenzenden Dennis Hotel, mit dem es damals nach einem Bankrott miserabel stand, zu schaffen machte. Das Gebäude blieb zwar erhalten, als die Bally’s Corporation 1979 ihre Casinolizenz zugestanden bekam, wurde aber mit einem aggressiven Türkis überstrichen, was dem Beaux Arts á la Francaise den Anschein einer kulissenartigen Disney-Architektur verpasste. Nicht nur der Verweischarakter auf das alte Atlantic City wurde dadurch weitestgehend gekappt, das Dennis wirkt nicht mehr wie das authentische historische Gebäude, das es ist.112 Eine gleichermaßen bizarre, unversehene Wiederkunft der Vergangenheit erfährt Atlantic City mit dem Warner Theatre, dem einst prächtigsten Filmpalast der Stadt. Für die Errichtung des Wild Wild West Casinos musste das 1929 eingeweihte, längst derangierte Spanish-Revival-Schmuckstück weichen.113 Die dem barocken spanischen Missionsstil abgeschaute Terrakottafassade wurde jedoch konserviert und in das puppenhausartige Westernstadt-Arrangement des Casinos eingepasst. Hier, in der Gefangenschaft themenarchitektonischer Klischees, wirkt das Warner Theatre freilich irgendwie hingeworfen, beiläufig, undramatisch. Als wäre man an einem Wiederfinden der in das städtische Gedächtnis eingegrabenen Assoziationen gar nicht wirklich interessiert. Ei-
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Als architektonisches Vermächtnis Trumps für Atlantic City wird das Taj Mahal daher nicht überdauern. Nachdem der in der Glücksspielindustrie tätige Seminole-Indianerstamm über seine Hard Rock Café-Kette das Casino 2017 erwarb, wurden die indischen Fassaden-Versatzstücke abgerissen und für die Neueröffnung durch den reizarmen, austauschbaren Style des Hard Rock-Brands ersetzt. Auch das Innere des Dennis wurde umgebaut – im Las Vegas-Geschmack. Ovid Demaris süffisant: »And forget all that nonsense about a class operation. This was going to be strictly Las Vegas style, with ›special‹ rooms equipped with round mattresses, mirrored ceilings, and group love tubs, familiar little touches to keep Las Vegas high-roller types in a pleasant frame of mind […]. Waking up in the afternoon, after a hard night of gambling and drinking, many might well wonder which end of the country they were in.«; Demaris: 1986, S. 205 Das Kino mit 4000 Sitzen markierte einen Wandel in der Unterhaltungsindustrie der USA: »the Depression seriously cut into the number of live-theater aficionados in Atlantic City, it resulted in a boom for the less-expensive movie tickets.«; Mauger: 2008, S. 10
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ne betont sentimentale Romantisiererei für wiedersehensfrohe Nostalgiker ist die Rekonstruktion nicht. Inzwischen ist das Wild Wild West Casino allerdings bereits jenem Trend zu einer simulationsästhetischen Deeskalation gefolgt, der auch bei den Themenresorts in Las Vegas, die sich nun ihre Peinlichkeiten eingestehen, zu erkennen ist. Um ein jüngeres Publikum zu erreichen, hat man bei einer 2014 erfolgten Renovierung die WesternstadtKulisse leicht entschärft. Die farbenprächtige Fassade ist einer grundsätzlichen Ernüchterung gewichen, sie wurde in nuancierte Beigetöne getaucht. Mit dem bescheidenen Ergebnis allerdings, dass das Wild Wild West Casino nun verblüht, ausgebleicht wirkt und erst recht einen Eindruck von Schadhaftigkeit erweckt, für den man nur ein Achselzucken übrighaben kann.114 Gleiches gilt für die beißend türkise Disney-Travestie des Dennis Hotels, dessen unsägliche Hässlichkeit man zwar beklagen durfte, die aber in ihrer illusionistischen Manier den vulgären Fehlgeschmack Atlantic Citys weit besser einfing als das Mattgelb, auf das man inzwischen zurückgerudert ist. Denn eingequetscht zwischen den architekturästhetischen Untiefen der einen milde betäubenden Wildwest-Scharade und der rosaeloxierten Glasfassade des Bally’s-Hotelturms ist es gar nicht so grundverkehrt, das Dennis Hotel nicht in seiner ohnedem verlorenen Reputation einzubalsamieren wie eine Mumie, sondern als Disney-Transvestit aufzuschminken, der seine Historie dissimuliert. In einer schicksalsklug geschichtsblinden Stadt, die auf Authentizität nichts hält, weil sie weiß, dass es ihr nichts nützt, in Erinnerungen graben, ist das durchaus naheliegend. Im Innenleben des Wild Wild West Casinos, wo Klar & Klar Architects in dem Western-»Theming« ebenso nicht wenig Stumpfsinniges und Verbohrtes festsetzten, ist das Resultat der themenarchitektonischen Teilentrümpelung ähnlich. Die verbliebenen Architainment-Passagen des mit Kunstlicht ausgestrahlten Wild-WestBühnenbilds streifen weiterhin ein ironisch-mitleidensvoller Blick, allgemein bleibt nun ein unentschiedenes, lauwarmes Klima zurück. Weiterhin beherrscht von flowlosen »Themings«, deren Entwicklung in den frühen 1990ern steckengeblieben ist und heftigen Widerwillen erzeugt: pastellfarben verniedlichte Saloon-Fassadenattrappen, eine Goldmiene zwischen einer mit falschen Kakteen verzierten künstlichen Canyonlandschaft – ich meine, Herrje Zu einem ebensolchen sich im Populären bewegenden Bild ohne Tiefe entblödet sich das 1981 von der Ramada Gruppe eröffnete Tropicana Casino. Ähnlich unterdefiniert, im Rohen und Unreinen verbleibend wie beim gleichnamigen Las Vegas-Resort soll tropische Exotik evoziert werden. Es regiert eine reizlose Plotlosigkeit in dem durch mehrere Erweiterungen und Renovierungen verworrenem Hotelensemble mit über 2100 Zimmern, in dessen unbalancierten Gefüge man sich bald mal in der Falle fühlt (– irgendwo zwischen Parkhaus und der zweiten Nebenrezeption des zweiten Nebenobjekts). Lediglich die 2004 erfolgte letzte große Theming-Offensive mit The Quarter, eine um Fastfood-Filialisten und Boutiquen aufgebaute themenarchitektonische Mall mit
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Immerhin wurde dafür die nichtssagende Laden- und Restaurantzeile mit Glasgalerie im Obergeschoß, die dem Ehrenhof des Dennis in den Weg gestellt wurde, wieder entfernt.
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disneyesker Havanna-Kulisse, erreicht passagenweise simulationsästhetische Inszenierungsqualität.115 Wimberly, Allison, Tong an Goo (WATG), die weltweit tätigen ThemenarchitekturBranchenführer mit nachgewiesenem Unterhaltungstalent, waren dafür verantwortlich, dass dieser unübersichtliche Bumms unter dem tiefblauen Mantel eines gepinselten Trompe-l’oeil-Himmels irgendwie zusammengehalten wird. Ohne ihr »Theming« groß zu verdolmetschen, jedoch gleichzeitig ohne rechte Erhitzung in Opulenz und Obsession, wird Exotisches und Konventionelles routiniert für Kleinkonsumenten konfektioniert. Die Havanna-Attrappe zeigt eine bronzene Lenin-Statue, 50s-Oldtimer, einen kleinen Kiosk mit goldenem Zwiebelturm, der Havannas Catedral Ortodoxa Nuestra Señora de Kazán reminisziert, und künstliche Palmen in pastellfarbenen Platz- und Gassensituationen. Es ist eine populistische, mit Klischees beschwerte Einseiferei ohne Störgrößen, die weiß, wie Diedrich Diederichsen schreibt, dass »[g]rößere Öffentlichkeit […] immer nur Gegenstände [verhandelt], die gerade schon nicht mehr richtig lebendig sind, aber noch nicht ganz tot, so daß sie eben noch verwendet und verwertet werden können. Ohne gefährlich zu werden, aber noch in der Lage, die Löcher derer zu stopfen, die schon lange keine eigene Welt mehr entwickeln und doch […] so dringend Material und Stoff brauchen.«116 Ein üppiges Wuchern der Empfindungen wird mit The Quarter nicht stimuliert. Wenn in diesem Ambiente dennoch Leichtigkeit von einem Besitz ergreift, dann, weil Cocktails Wirkung zeigen. Auch im Caesars Atlantic City, der simulationsästhetisch talentbefreiten Billigvariante der tief im Mythenschatz der amerikanischen Massenkultur verankerten Las VegasCasino-Institution, wird man zwangsläufig ein Niederlagensammler. Denn der beim Caesars Palace zwar übernatürlich kitschige, einem sanften Schwachsinn geweihte, aber simulatorisch mit übermäßigen Aufwand den Sinn verrückende und durchaus glamouröse Themenarchitektur-Klassizismus, ein quanti- und qualitativ ausgeklügeltes Architainment-Gebilde, das weiß, dass in Las Vegas Schwulst Trumpf ist, verflacht seinen Imperatoren-Prunk hier zu einer schandbaren, atmosphärelosen Banalität, die unfähig ist, Illusionen auszubilden, und versuchen muss, mit Kalauern den Abend rumzukriegen. Die einen hier heimsuchenden Bilder erscheinen gerade im Vergleich mit dem Caesars Palace in Las Vegas, an dessen klingenden Namen man partizipieren will, wie ein lächerlicher Irrtum. Zwar ringt einen der Umstand, dass das Caesars Atlantic City tatsächlich eine nächste Stufe in der Simulakren-Ableitung darstellt, ein reichlich verspätetes Lächeln ab – immerhin bezieht sich sein Assoziationsverhältnis tatsächlich weder auf die lateinische Antike, noch auf die Schmachtklassiker des Gladiatoren- und Sandalenfilms, wie die ursprüngliche Dekadenzfantasie des Caesars Palace, sondern allein auf das lukullische Flair die Casino-Berühmtheit in Nevada. In seiner Ungeschliffenheit, einem themenarchitektonischen Entwicklungsstand, der Las Vegas weit hintennach ist,
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»When Ramada Inns bought the Ambassador Hotel, they hoped to renovate – as had Resorts International and Bally’s earlier – and convert it into a casino. The New Jersey governor and the Casino Control Commission insisted that they had to start fresh. The Ambassador was demolished«; ebd., S. 139 Diederichsen: 1999, S. 41
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tut sich das Casino aber natürlich keinen Gefallen mit der weltbekannten Namensgebung. Dabei ist der klassizistische Kulissenzauber am Caesars Atlantic City eigentlich eine vergleichsweise neue Errungenschaft – wie beim Caesars Palace in Las Vegas ja auch, einem in seiner Erstversion modernistischen Resortkomplex. Die punktuell aufgetragenen flitterhaften klassizistischen Fassadenadaptierungen, bei denen die Fantasie nie wirklich Gestalt annimmt, wurden erst im Zuge einzelner Erweiterungen wie dem 25stöckigen Centurion Tower in den 1990ern appliziert. Bei der eiligen Eröffnung bediente man sich einfach eines bestehenden Motels der sehr konventionellen Howard Johnson’sKette, um eine lagerhallenmäßige Casinofläche erweitert und mit hinfälligen Art DécoZierrat verziert: »squeezed within the ruins of the old Boardwalk, [the Casino] looked like something salvaged from a Hollywood backlot. Or, to be more specific, something plucked from Las Vegas‹ Glitter Gulch. Another tinseled grind joint.«117 Die simulationsästhetische Wirkungsschwäche des Caesars Atlantic City liegt aber dann auch genau darin, dass sich diese ursprüngliche Bausubstanz, mit den teilweise recht unentschlossen vorgeblendeten Ceasars Palace-Lieblingsrequisiten nur unzureichend hinwegfingiert, hinter den nachträglichen Behübschungen weiter abzeichnet. Denn dieses an sich äußerst interessante Phänomen, unterschiedliche architektonische Überprägungen in ihrer Gemachtheit wahrzunehmen – das gerade auch am Caesars Palace, der mit seinen ständigen Transformationen ja eine abwechslungsreichere Baugeschichte aufweist als manches Bauwerk des Altertums, faszinierend wäre, hätte die letzte klassizistische Gesamtüberarbeitung dies nicht themenarchitektonisch weitestgehend eingeebnet –, treibt hier derart ins Hässliche, dass all das Elend in einem überläuft. Das Fragmentarische, Zitathafte und Disharmonische der Fassadenansichten entfachen zwar einen frappierenden Inauthentizitätseindruck und wirken beinahe wie die unbewusste Einlösung der Programmatik der Postmoderne, deren ironisch-populistische Sektion mit Charles Jencks eine eklektische, deutungsoffene »Doppelkodierung« des Formenrepertoires prolongierte. Durch ihre Unfreiwilligkeit erscheinen die grob gezeichneten Kolonnadensegmente, Blendportiken und Lisenen jedoch weniger wie eine spöttisch-geistreiche Überzeichnung von Genremotiven, wie dies beispielsweise Charles Moore bei seiner Piazza d’Italia in New Orleans gelungen ist, sondern einfach nur wie Simulationsunfähigkeit – wie eine Themenarchitektur, die ins Schmierenfach abdriftet. Auch im Inneren des Caesars Atlantic City ist der themenarchitektonische Beeindruckungsaufwand mit Las Vegas nicht zu vergleichen. Speziell die Casinoflächen, die sich auf luftige Zitate im Teppichbodenmuster beschränken, während über den Spieltischen in goldene Rahmen gefasste Art-Déco-Säulenkapitelle, die türkis beschienen wer117
Demaris: 1986, S. 176; »The fire department was opposed to the glitter for a more practical reason. It was dangerous. During the summer the angle of the panels had to be changed after it was dicovered they were acting as giant sun reflectors und were setting patches of the Boardwalk on fire.« (Ebd.) Als das Casino 1979, als zweites in Atlantic City, öffnete, lief es noch unter dem vorherigen Namen Regency. Als Ceasars firmiert das Resort seit 1983, nachdem die Casino Control Commission ihre Untersuchungen des für seine Mafia-Verstrickungen berüchtigten Unternehmens aus Nevada ausgesetzt hatte.
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den, und triste Mineralfaser-Rasterdecken einem den Blick mürbe machen. Auch die auf Las Vegas-Maßstäbe nachgerüstete Restaurant-Meile lässt einen mit ihren Bildern Mühe haben. Unter dem unvermeidlichen Trompe-l’oeil-Himmel, dessen gemalte Wolkenformationen lustigerweise sehr düster, gräulich ausgefallen sind, lagern, in türkises LED getaucht der Viertelkreis eines Amphitheaters, in dessen Pfeilerarkade Statuen platziert sind, ein überdimensioniertes Beinahe-Replikat des Augustus von Primaporta, der berühmten antiken Marmorstatue des ersten römischen Kaisers, deren Sockel in ein Wasserbassin gestellt ist, und ein Tempel mit üppigen korinthische Säulen, der als Restaurant genutzt wird. Dabei ist es weniger die Halbgenauigkeit der Details, die für die banale, eigenartig verhaltene Stimmung dieses simulationsästhetischen Arrangements verantwortlich ist, sondern die szenische Konzeptionslosigkeit mit einigen leeren Stellen und toten Ecken, die keine Immersionseindrücke erweckt. Die einen im Caesars Palace in Las Vegas heimsuchenden Halluzinationen, die zur einen Hälfte der immersiven Überwältigungskraft, zur anderen Hälfte der überschäumenden Künstlich- und Kitschigkeit der Kulissen geschuldet ist, werden hier nicht entfacht. Vielmehr ein Egalgefühl. »A money-making casino town without much town left« 118 Der Niedergang Atlantic Citys, dieser mit dem Land und mit sich selbst zerfallenen Vergnügungsstadt, hat Gleichnishaftigkeit für die kulturelle Misere der Vereinigten Staaten, für ihre Uneinsichtigkeit, »dass der Kapitalismus eben nicht die einzige funktionierende Gesellschaftsordnung ist, sondern dass er inhärent dysfunktional ist und die Kosten für die Illusion seiner Funktionsfähigkeit sehr hoch sind.«119 Die schäbigen simulationsästhetischen Casinoarchitekturen bieten ein Maß für den Realitätsverlust der auseinanderdriftenden amerikanischen Gesellschaft, deren kulturindustriell vereinfältigte Unter- und Mittelschicht sich mit Glücksspiel bei Laune halten lässt, während die vernachlässigten Städte um die Casinobauten eine Bestätigung für den Spruch sind, dass die USA in weiten Landschaften nicht viel mehr sind als ein Rumänien mit Neonbeleuchtung (– nur, dass natürlich auch Rumänien inzwischen längst Neonbeleuchtung verwendet). In Atlantic City, der Stadt am Rande der Insolvenz, verdichten sich die Krankheitsbilder des ungehemmten finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, und das nicht erst mit den ökonomischen Krisenzeichen von 2008. Aber natürlich wurde in den USA aus der Finanzkrise keine Kulturkrise, die an der »Akzeptanz des Kapitalismus als dem einzig wahren Spiel«120 gerüttelt hätte. Barack Obama gewann die Präsidentschaftswahl, »und es änderte sich nichts. Nur die Banken machten wieder Geschäfte, die Konzerne md die Reichen verdienten mehr denn je, und der Rest des Landes musste dafür bluten.«121 Die Wall Street-Gewaltigen, die an Obamas Kabinettstisch saßen, beschränkten sich auf
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Simon: 2004, S. 17 Fisher: 2013, S. 28 Ebd., S. 23 Packer: 2014, S. 422 »Banken wurden gerettet, Obama legte ein Investitionsprogramm nach dem anderen auf, rettete die Autoindustrie und verschenkte Schrottprämien. Irgendjemand verdiente eine Menge Geld damit – aber nicht die kleinen Leute«; ebd., S. 359
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Bankenrettungen und mehr oder weniger symbolische Regulierungs- und Aufsichtsmechanismen, statt eine Neuregelung des Bankensystems einzuleiten. Die Justiz zeigte wenig Ambition, die ausgeuferte Wirtschaftskriminalität an der Wall Street aufzuarbeiten und die gewissenlosen Überprivilegierten der Investmenthäuser zu verurteilten. Die durch die Prinzipien des Neoliberalismus und die Deregulierung der Finanzmärkte verursachte Wirtschaftskrise hat am »kapitalistischen Realismus«, der amerikanischen Überidentifikation mit den kapitalistischen Marktprinzipien, nicht gerührt. In einer Kultur, die hypnotisiert ist von Geld und Konsum, können weiterhin neoliberale Minimalstaatsanhänger mit den in den Medien beflirteten Parolen individueller Selbstverantwortung die alltäglichen kapitalistischen Zumutungen einer Gesellschaft, die einen nicht auffängt, zur Seite schieben und das Regulativ des freien Marktes ideologisch stützen. Dabei ist das ganze Land längst, wie Packer schreibt, »eine Art Wal-Mart geworden. Es war billig. Die Preise waren niedrig, und die Löhne waren niedrig.«122 Die einstige »Queen of the Jersey Shore« bereitet einem in diesem »einzig wahren Spiel« peinliche Stunden. Man ist ergriffen von einem Gefühl des Unwohlseins, versucht krampfhaft, sein Gesicht in der Gewalt zu behalten. Denn die Stadt hat alle Scham fallenlassen, ihn ihr verfügt das Vulgäre, das »auf das Ausschließliche und Ausschließende des guten Geschmacks [pfeift]. Es will die Freuden der Prasserei und der Verschwendung für alle zugänglich machen. […] Das Vulgäre tritt […] dem guten Geschmack als dessen Karikatur entgegen.«123 Die Vulgarität Atlantic Citys liegt allerdings nicht nur in den bis zur Unerträglichkeit beschränkten Casino-Architekturen. In dem unangenehmen, widrigen Glückspiel-Ambiente, mit dieser in den Casinos hängenden duftgeschwängerten Luft, einer widerwärtigen Mischung aus abgestandenen Zigarettenrauch, aus den Lüftungsanlagen flutenden Lufterfrischer-Aroma, Reinigungsmittel und alten Menschen. Auch ihr drittklassiger Entertainment-Spielplan ist eine unappetitliche Geschichte aus schmierlappigen Zauberkünstlern und ausrangierten Unterhaltungsdinosauriern, die sich auf den Bühnen einen abzappeln müssen. Es herrscht die Resteverwertung jenes grottenschlechten, peinlichen Show-Modells, das einen mit Neil Postman darin bestätigt, dass »[d]ie traurigsten Gestalten in Amerika […] seine professionellen Unterhalter« sind, die einen nur zwischen zwei augenfälligen Binsenwahrheiten die Wahl lassen: nämlich, ob dass, »was sich da vor unseren Augen abspielt, […] die letzten Zuckungen eines ausgelaugten Kapitalismus oder, so die entgegengesetzte These, die fade Frucht des zur Reife gelangten Kapitalismus«124 sind. Auch das zivilisationsgeschädigte Publikum, das apathisch Münzen in einarmige Banditen einwirft und gelangweilt durch die Einkaufspassagen schlappt, überschreitet jegliche Reizschwelle. Die ungehobelten Menschen, die einem mit ihren teigigen Gesichtern und rausgewachsenen Dauerwellen in den Resorts mit gleichgültigen Ausdruck vorübergleiten wie Schemen, sind in ihrer Habitualität eine widerliche Klischeeanhäufung – über die ballonarschige amerikanische Arbeiterklasse im Allgemeinen und
122 Ebd., S. 128 123 Maak, Niklas: »Die vielen Freuden des ›too much‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.2016 124 Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, München: S. Fischer 1985, S. 14
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die Trump-Verehrergemeinde im Besonderen. Vom Leben Gestreifte, fett und gequollen, in schlechtsitzenden Leggings. Menschen, die wirklich runter sind. Man ertappt sich in dauernd der Arroganz – man will sich nicht mit dieser Vulgarität anpatzen, sich nicht gemein machen. Man verschanzt sich in Trash-Ästhetizismus. In eine zurecht der Animosität bezichtigte Haltung, die verliebt ist ins Disparate und die Verruchtheit des Kitschs, in die ekeligen Wegwerfprodukte konsumhedonistischer Weltverdorbenheit, allerdings keine Entmarginalisierung des Vulgären erreichen will. Den mehr auf distinktiven Impulsen als auf kulturkritischen Erwägungen gestützten Trash-Ästhetizismus kultivieren Menschen, die an ihren eigenen Ressentiments hängen, die in diffamierender Weise ihre illegitime Ergriffenheit mit ästhetischer Deklassiertheit und der Ungeistigkeit der Menschen genießen. Die Frage ist allerdings, ob hämisch-gehässige Trash-Scheinaffirmationen des massenkulturellen Geschmacksniveaus in einer Zeit, in der sich die Staatsmacht der USA in einer lauten, lästigen, vulgären Trash-Witzfigur als Präsidenten bündelt, eine nur irgendwie angemessene Reaktion darstellen. Natürlich nicht. Nicht nur, weil sich in ihnen viel Gemeines und Verächtliches empfindet gegenüber den unteren Gesellschaftsschichten, sondern weil mit der Ikonografie des Trumpism Trash-Chic eine massenkulturelle Hegemoniefähigkeit erreicht hat, die trash-ästhetizistische Karikierungen weginflationiert, indem sie diese quasi selbst mitliefert. (Der Zuspruch, den die Ästhetik des Trumpism erfährt, verdankt sie allerdings keineswegs einem Sich-Ranschmieren an Unterschichtskultur, einem Betreiben von dem, was politeuphemistisch »Populismus« heißt, sondern einer Anti-Establishment-Attitüde, die Trumps Anhänger nicht zu Unrecht in dem Neureichenkitsch ausmachen, da dieser Trumps Weigerung entspringt, sich habituell den Distinktionsprinzipien der Eliten zu fügen.125 ) Auch und gerade weil es Trump, ein Mann, an dem so viel falsch ist, Satire so leicht macht, sind es nicht subtile trash-ästhetizistische Paraphrasierungen seines TrashChics, die Dissens erwirtschaften, sondern radikale (alternativ)kulturelle Zurückweisungen seiner auch ästhetisch im Mediengefummel verhandelten Agenda. – Eine Haltung, die sich auch gegenüber dem entkräfteten und anämischen Trash-Chic Atlantic Cities aufdrängt, da die Casinostadt, die einen derartigen Statusverlust erfahren hat, das selbst Trump seine Präsenz rückabwickeln, die Trump-Schilder an seine Pleitecasinos demontieren ließ, nichts so schädigt, wie ignoriert zu werden. Zwar ist der seit der Finanzkrise übereilt herbeigeschriebene Kataklysmus Atlantic Citys nicht unmittelbar absehbar, da die nach dem Schließungsreigen verbliebenen Casinos weiter Gewinne erwirtschaften. Aufgrund der fatalen Abhängigkeit der Stadt von seiner schmalen Wirtschaftsbasis der Glücksspielindustrie wäre ein schlimmeres Taumeln der Casinobranche für sie allerdings tatsächlich vernichtend – und dieses wird, realistisch, auf Atlantic City mittelfristig warten. Auch die letzten Kapitalzuführungen haben die Casinostadt nicht aus ihren verzwickten Umständen befreien können. Zwei neue Großresorts wollten der Entwick-
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»Trump never accepted it. He didn’t change. Manhattan to him meant a Queens life in posh surroundings. That may explain the extraordinary rapport this billionaire has been able to forge with people stuck way down on the social ladder.«; Caldwell, Christopher: »The Trump Aesthetic: how his tastes will change America«, in: Financial Times, 13.1.2017
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lung folgen, die Las Vegas in den Nuller-Jahren eingeschlagen hat, als es sich von der Themenarchitektur-Ära emanzipierte und mit einer Art unbeabsichtigter architektonischer Typensatire auf gegenwärtige Financial District-Glastürme puristische Abstraktion in die simulationsästhetisch übersättigte Faszinationsökonomie der künstlichen Vulkane und Piratenschiffe mischte. Kurioserweise scheitern diese beiden Einzelinvestitionen, das Borgata und das Revel, jedoch in Atlantic City genau daran, eine Architektur aufzugreifen, die inmitten der simulationsästhetischen Übermütigkeit von Las Vegas als reduktionistisches, cooles Gegengenre erscheint, überall anders aber einfach nur als das, was sie nun mal ist: eine unterambitionierte, funktionalistische Behälterarchitektur, die ihr Publikum unterschätzt. Das Borgata und das Revel bleiben konturlos – besondere Kennzeichen: keine.126 Curtain-Wall-Fassaden, die zwar imposant glimmen, wenn das Morgenrot seine Flammen über die Stadt wirft, aber alles in allem nur die Legitimationskrise der Kommerzmoderne durchdeklinieren, eine urbane Nullbilanz abliefern. Das Borgata wurde 2003 von der MGM-Gruppe eröffnet, seit der 2008 erfolgten Erweiterung um einen zweiten Hotelturm ist es mit 2800 Zimmern das größte Resort New Jerseys. Die Las Vegas-Veteranen Marnell Corrao Associates entschieden sich für zwei scheibenartige, über einem nichtssagenden Casino-Flachbau aufragende 130 Meter-Glastürme mit Goldeloxierung, deren Neonbänder violette Reflexe in das Nachtschwarz werfen. Das langweilige Interior Design mit viel hellen Steinvertäfelungen, reduziertem Klassizismus bei Säulen und Deckenfriesen und einer inflationären Installation von Glasskulpturen des auch in Las Vegas vielbeschäftigten Dale Chihuly gestalteten Klar & Klar Architects, denen man bereits das Wild Wild West Casino übel nimmt. Das Revel, ein 2012 eröffnetes Großresort mit 1300 Zimmern in einem 220 Meter hohen Hotelturm, mit dem das unter der Wirtschaftsmisere ächzende Atlantic City die düstere Ahnung niederzukämpfen versuchte, dass die Jalousien langsam runtergehen, wurde als Ausrufezeichen der Krisenmeisterung mit symbolischen Gewicht beladen. Nur zwei Jahre später musste das schuldengeplagte High-Class-Casino, dessen Entwickler, die Investmentbank Morgan Stanley, bereits beim Bau mit einer Milliardenabschreibung ausgestiegen war, allerdings zwangsversteigert und wieder geschlossen werden – mit einer nicht minder symbolischen Publizität für eine Stadt, die überhaupt nur mehr mit ihren Casino-Schließungen nachrichtenwürdig zu sein scheint. Seit 2014 präsentiert sich die in ihre kurvigen bläulichen Glasfassaden schimmernde überdimensionierte Lifestyle-Ambition, für die immerhin das international reputierte Architekturbüro Arquitectonica den Entwurf verantwortete, in verwaister Verfassung. Mehrere Eigentümerwechsel brachten unterschiedliche Ideen ins Spiel. Passiert ist nichts. Seine Distinguiertheit, die das Revel immerhin in seinem von Scéno Plus entwickelten Interior Design, einer sehr zeitgemäßen, geschmackssicheren Gestaltung im Stil des Las Vegas-High-Class transportiert, hat Atlantic City nie erreicht. Niemand wusste mit diesem ungenügenden Versuch, mit Glitzer zu werfen, was anzufangen.
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Beide Bauten, das Borgata und das Revel, aber auch der riesige blaueloxierte Glasturm, der dem Harrah’s zugebaut wurde, sind ähnlich langweilig wie die verspiegelte Glasfassade des einstigen, 1981 eröffneten Playboy Casinos, dass später auch mal unter dem Namen Trump lief, und bereits 2000 wieder abgerissen wurde.
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Das Revel ist ein fanalhaftes Versagenseingeständnis für die angezählte Spielerstadt. Denn grundsätzlich spricht angesichts allgemein schrumpfender Umsätze in der amerikanischen Casinobranche und der faktischen Marktverkleinerung in Atlantic City nichts dafür, dass die Stadt in die Spur zurückfindet. In einer Zeit, in der die USGlücksspielindustrie ihre Investments in die asiatischen Wachstumsmärkte, nach Macao und Singapur, verlagert und selbst Las Vegas‹ Investitionsdynamik bis zum Stillstand verlangsamt wurde. Halbschlaue Stadtmarketingtricks aus dem PR-Einmaleins werden nichts ausrichten. Eine Dosis Clubstroboskopie wird nicht reichen, um die partygetriebene Spingbreaklientel abzuziehen; und es reicht ebenso wenig, gelegentlich Schrott-Prominente heranzukarren, die dann pflichtschuldig die vertraglich vereinbarten Luftküsse in die Kameras verteilen, um den Eindruck zu verbreiten, Atlantic City wäre bei Semi-Celebrities angesagt. Die Wahrheit aber ist: die Krise der Casinoindustrie hat die städtische Krise Atlantic Citys dramatisch verstärkt, aber nicht verursacht. Denn die Stadt, die düsteren Stadtfragmente im Rückraum des Boardwalk, die spät-einsamen Straßen, die von ihr übrig sind, befinden sich seit über einem halben Jahrhundert in Daueragonie. Von der physischen Stadtstruktur in ihrer ursprünglichen Gewachsenheit ist nur ein Trümmerhaufen übrig – »the skyline is a facade: the city behind the Boardwalk remains a slum. The contrast is so severe as to evoke the image of a colonial capital, where imperialists from across the sea recreated a foreign architecture and culture amid indigenous poverty and dependency.«127 Für die Stadt Atlantic City, die abseits der Casinos in den kaputtesten Umständen dahingrundelt, mit Arbeitslosigkeit und Jugendkriminalität kämpft, war auch vor dem Casinosterben unklar, was überhaupt passieren müsste, dass sie in ihrer Urbanität integraler an einer Industrie partizipiert, die in ihrer strukturellen Ausrichtung allein bereits darin einen Nachteil sieht, dass Atlantic City überhaupt auch eine Stadt ist.128 Atlantic Citys Stadtentwicklung unter dem Primat privatwirtschaftlicher Partikularinteressen der Casino-Multis war bisher defizitär und wird es weiterhin sein – würde es sein, entschließe sich die Glücksspielbranche, für die Standorterhaltung Kapital nachzuschießen und die den Tod streifenden Großresorts neu zu eröffnen. Ein schwächliches staatliches und städtisches Institutionengefüge, die glückliche Permanenz des Kapitalismus und der amerikanische Gesellschaftsbegriff im Allgemeinen, das antiurbane Zentralphantasma Amerikas, verhindern ambitioniertere Ideen eines reicheren öffentlichen Lebens. Die nicht zu assanierende Stadt werden daher bis zu ihrem finalen Einnachten Stimmungen der Abwesenheit und Einsamkeit prägen. Bald ist man vom Dunkel durchdrungen, dass einen hier umgibt. Man spaziert am Boardwalk, es ist ein Leichenbegängnis. Man nimmt die Traurigkeit der Dinge in sich auf, ein Klima von Resignation und Fatalismus. Die Wahrheit in ihrer ganzen Schwärze lautet: Die Geschichte der Stadt
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Erlanger, Steven: »Atlantic City: Failure Behind the Facade«, in: The New York Times, 29.8.1988 Denn: »Despite decades of bulldozer assaults […] there is [still] too much city left for suburbanites raised on Disney-like notions of gated public spheres to get them out of their cars or the casino cocoons.«; Simon: 2004, S. 211
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Atlantic City – kein dicker Wälzer, aber eine nicht unspannende Erzählung über eineinhalb Jahrhunderte Amerikas – ist abwärtsgerichtet, ihre Zukunft ist abgesagt. Sie scheint auserzählt, auf sehr endgültige Weise. Nach ermüdenden Passagen wartet man nicht mal mehr auf ein Nachwort. Die Mirage Resorts plakatierten im Jahr 2000: »Atlantic City’s got a great future (We’ve seen the plans)«. Natürlich wurde das annoncierte Casino nie gebaut.
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»It’s a mimic of a city that could have been built anywhere.« 1 Als im Jahr 2010 das durch Schmiergeldmillionen günstig gestimmte Funktionärssyndikat des Weltfußballverbands FIFA ihre Vergabeentscheidung bekanntgab, dass der als Gastgeberland absurd ungeeignete winzige arabische Wüstenstaat Katar die FußballWeltmeisterschaft 2022 austragen wird, hatte das Scheichtum am Persischen Golf eine Schlagzeile erwirkt, mit der die internationalen Zeitungen ihre Titelseiten aufmachten. Das aride Miniaturland – über das sich sagen lässt, »ohne die Katarer kränken zu wollen: Ihr Staat ist kaum mehr als eine große Büchse Sand«2 – hatte sich damit auf die Weltkarte gehievt. Nach Jahrzehnten eines Mauerblümchendaseins im Schatten Kuwaits und Dubais schuf sich Katar einen ultimativen Auftritt im Rampenlicht. Einen unmissverständlichen Wichtigkeitsgewinn. Mag sich der Skandal um das gekaufte Championat seither auch in ein veritables PR-Desaster verwandelt haben, das Katar aufgrund der sinnfreien Stadionneubauten mit ungeklärter Nachnutzung, den zwangsarbeiterähnlichen Arbeitsbedingungen ausländischer Billigkräfte in der gluthauchenden Wüstenhitze und seiner rigid islamistischen Verhältnisse in die internationale Kritik brachte. Den Pfad der Zurückhaltung hat Katar bereits in den Nuller-Jahren verlassen. Seine Hauptstadt Doha ist seither vom Baufieber befallen und drängt in narzisstischer Glut mit superlativischen Architekturspektakeln aus dem Schatten seiner glamouröseren Nachbaremirate. Katar bedient sich dabei, angetrieben vom enormen Reichtum, den das erdöl- und erdgasfördernde Scheichtum auf der Naht hat, all der berühmtberüchtigten Attraktionsurbanismen Dubais, dem »Phantom der Wüste, das bestaunte Realität geworden ist«3 , um diesem mit seinen eigenen durchfiktionalisierten Mitteln den Rang abzulaufen. Mit funktionsadäquaten, ästhetisch gelackten Spekulationsgütern, die eine (internationale) Vermarktbarkeit als iconic landmarks anbieten, und
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Issa al-Mohannadi, in: Shadid, Anthony: »Qatar’s Capital Glitters Like a World City, but Few Feel at Home«, in: The New York Times, 29.11.2011 Follath, Erich: »Wie Dubai, nur exklusiver«, in: Der Spiegel, 28/2006 Dahn, Daniela: »Das Phantom der Wüste«, in: Der Freitag, 11.12.2008
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den üblichen architektonischen Betäubungsmitteln und Giften eines »Imagineering«Urbanismus präsentiert sich Katar als Prunkstück Arabiens. Als zugkräftiges Investitionsvehikel und Urlaubsziel, das die Fantasie beflügelt. Der Kleinstaat, der dank einer riesigen Blase aus Erdgas vor seiner Küste, inzwischen tatsächlich zur dynamischsten Kraft der arabischen Welt aufgestiegen ist, lässt nun an Dohas Corniche eine dubaistisch funkelnde Skyline ins Nachtschwarz strahlen. Eine stadtähnliche Agglomeration mit einer flüssigen Syntax aus Malls, Villenquartieren und Nobelresorts treibt die horizontlosen Vororte immer weiter in die Wüste. Es kurzweilt mit servierfertigem Architainment und als Turnierplatz der westlichen Stararchitekten, die der pubertierenden Stadt mit einigen ins Erstaunliche mündenden Einzelbauten frühreife Kraft verleihen. Und auch eine künstliche Archipelaufschüttung hat sich das Emirat geleistet: The Pearl heißt die für den Golf schon obligatorische meerentstiegene Insel für reiche Ferienmenschen, eine gediegene Touristenenklave, mit der Doha »eher Portofino als Las Vegas [nacheifert] – ein Portofino mitten in einer Geröllwüste.«4 Es zuckt ein architekturästhetischer Wahnsinn in der Stadt, der keine Ruhe gibt. Doha zeigt ein Medusenspiel, dass nicht nur in seinen »Theming«-Kostümwechseln ein Gespür für gut gehende Klischees besitzt, es versteht, seine Rollen zu spielen. Wobei die Rolle, auf die sie sich festlegt und auf die sie festgelegt wird, allerdings die repräsentationsbedürftigen Kataris wahrscheinlich auf Dauer peinlich und kränkend anlässt – die des Dubai-Imitators. Denn letztlich subsumiert sich die Stadtgestalt unter eine einfache wie medisante rezeptive Einkreisungsformel, die eine ästhetische Einheit des Mannigfaltigen garantiert: alles ist hier wie in Dubai. Ein unglücklicher Trieb ist der Stadt damit eingehaucht. Ständig vergleicht sie sich mit dem Nachbaremirat und wird mit ihm verglichen. Doha verurteilt sich zu einer Sekundarität und Uneigenständigkeit ihrer Wahrnehmung. Zu einer imitativen Inauthentizität, die die nicht minder inauthentische Stadtästhetik Dubais aus der ersten Jahrhundertdekade nachahmt. Zu einer Architektur in blutschänderischer Beziehung. Denn in allem trägt Doha das Bild Dubais in sich, des architekturvisuellen Magneten unserer Zeit, dem »It-Place« der Nuller-Jahre. Selbst dann, wenn die architektonische Überbietungskraft seiner Aufschneidereien den gaukelnden Glanz der Irrlichter Dubais übertrumpfen – »Das Natürliche, das Authentische, so beginnt man zu ahnen, ist nicht unbedingt eine erstrebenswerte Kategorie in diesem in jeder Hinsicht wüsten Land.«5 Die zwei globalisierungsfreudigen Golfmetropolen unterscheidet nur ihre unterschiedliche Finanzkraft. Denn während die Weltwirtschaftskrise ab 2008 Dubais unterkapitalisierten Stadtmarketing- und Investment-Mythos entzauberte, die Immobilienblase platzen ließ und entlarvte, dass den Aufstieg der »Creditopolis« eben nicht neues Geld, sondern neue Schulden trugen (»The city’s financial base was starting to re-
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Sträter, Andreas: »In Katar spielt die Zukunftsmusik. Die Reichsten unter Reichen«, in: Rheinische Post, 11.11. 2012 Diener, Andrea: »Gelb ist das Kaninchen, rätselhaft der Wüstensohn«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10. 2011
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semble the foundation holding up its towers: sand«6 ), stehen hinter Dohas neuer Herrlichkeit enorme Rohstoffreserven.7 An Dohas dubaistischer Stadtästhetik, diesem kulinarischen Ungefähr, das die Respektabilitätswünsche der Scheichs mit futuristischen Skyscrapern und pfirsichfarbenen »Theming«-Illusionen arabischer Tradition zum Ausdruck bringt, ändert das aber natürlich nichts. Die mit Wucht auf einen einwirkende Skyline, die sich in der Nacht gleich Fackeln entzündet, ist einfach nur stabiler ausfinanziert. Daher ist es für die westliche Intelligenzija, die eine urbanistische »Dubaization« wie eine Krankheit über die Städte hereinbrechen sieht, leicht, keinen Geschmack an der Hauptstadt Katars zu finden. Ihre Künstlichkeit und Inauthentizität, ihre Prunksucht und ihr Kitsch wandeln den diskursführenden Intellektuellen durchs Gemüt, als würden sie die Ansteckungskraft des Wahnsinns fürchten. Es verlangt einfach zu vieles nach einer Pauschalverurteilung. Doha kann ihre Achtung nicht mehr gewinnen. Denn Katar ist ein Land, das über finsteren Plänen brütet. Und das nicht nur aufgrund der Finanzspritzen, mit denen islamistischen Kräften unter die Arme gegriffen wird: angefangen mit der libanesischen Hisbollah-Miliz über die palästinensische Hamas bis zu den Muslimbruderschaften im arabischen Frühling und den islamistischen Kriegsparteien in Syrien. Die innere Verfasstheit des Wüstenstaats bestimmt ideologisch islamischer Illiberalismus. Katar ist eine absolutistische Monarchie, religiös konservativ, sittenstreng. Das Emirat kennt wenig Demokratie, wenig Menschenrechte, keine Pressefreiheit, keine Parteien und keine Gewerkschaften. Was Katar aber kennt sind die Prinzipien des Kapitalismus, die es ungezügelt walten lässt. Und das drückt sich natürlich in einem radikalen Klassenantagonismus aus. Zwischen den Armen, der gesellschaftlich deklassierten Unterschicht aus indischen, pakistanischen, nepalesischen und ostafrikanischen Gastarbeitern, die – untergebracht in überfüllten, schäbigen Massenbaracken – die Kehrseite von Money, Power, Glory erleben. Und den Reichen, den byzantinischem Gehabe nicht abgeneigten Scheichs und der einheimischen Stammesaristokratie, sowie der international zugekauften »mobilen Funktionsintelligenz« der »expatriates«. Eine Administrationshierarchie an fluktuierenden Management- und Fachkräften, eine transitorische »›airport society‹ with an everchanging and exchanging population [that] has evolved and impacted on Gulf cities.«8 In den Emiraten findet ein entfesselter Konsumismus obszöne Grenzen und überschreitet sie. Die Städte sind Ausgeburten lächerlicher Prahlereien, Bühnen einer sich läppisch aufführenden einheimischen Oberschicht von Erdöl-Rentiers, deren durchfaulenzten Tage sich träge aalen, indem sie ihre SUVs spazierenfahren und in runterklimatisierten Malls Frappucinos schlürfen. Wie leer diese freizeitlichen Leben sein 6
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Krane, Jim: City of Gold. Dubai and the Dream of Capitalism, New York: Picador 2009, S. 299; »Dubai’s skyscrapers aren’t fixed on bedrock. Friction is the only thing holding their pilings in place. In the building’s case it’s said to be safe.«; Ebd., S. 299 Wendet man das Diktum über Dubai »This is a city built from nothing in just a few wild decades on credit and ecocide, suppression and slavery« (Hari, Johann: »The dark side of Dubai«, in: The Independent, 7.4.2009) auf Katar an, kann man wenigstens den Punkt »Kredit« streichen. Salama, Ashraf M./Wiedmann, Florian: Demystifying Doha. On Architecture and Urbanism in an Emerging City, Farnham, Surrey: Ashgate 2013, S. 37
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müssen im Reichtums-Cocoon ihrer Petro-Ökonomien, die sich in endloser Konsumbefriedigung erschöpfen, denen jedoch die üblichen Daseinsversüßungen der Reichen im Westen verwehrt bleiben – eine nennenswerte Hochkultur, Kokain, Prostitution. Aber: »Warum arbeiten, wenn das Geld aus dem Boden sprudelt? […] Ganze Staaten verfallen in Lethargie, lassen Landwirtschaft und Handwerk verkommen und werden zu einer Gesellschaft von Ölrentiers, von Petro-Profiteuren und Pfründnern. […] Es ist das Bild einer untätigen Bourgeoisie von Gnaden des Crude Oil Price, die bewegungslos zusieht, wie die Tanker am Horizont gen Westen ziehen.«9 Die westliche Kritik, die Widerwillen gegen diese peinliche Komödie obsessiven Reichtums, gegen »höfisch-heitere Selbstinszenierung und Lebensgenuss der Oberschicht«10 empfindet, betont, die emergierenden Golfmetropolen seien Orte ohne Identität, Beziehung, Geschichte. Sie spricht mit einer Miene allgemeiner Missbilligung von entfremdeten, konsumistisch geformten »Nicht-Orten«, wenn sie die gleichförmigen Shoppingcenter beschreibt, die in den Emiraten als durch »Themings« simulierte Öffentlichkeitsbehelfe fungieren und die wie in der westlichen Welt konsumistische Lebensformen perpetuieren. Diese bestimmen mit Marc Augé »sinnentleerte, transitorische Funktionsorte« von Klischee- und Möchtegernbildern, die nur schmeichlerische, inferiore Vergnügungen bieten. Eine Seifenoper. Sie »sind ›Orte des Ortlosen‹ […]. Diese Räume stiften keine individuelle Identität, haben keine gemeinsame Vergangenheit und schaffen keine sozialen Beziehungen. Sie sind Zeichen kollektiven Identitätsverlusts«11 . Sie sind mehr Tünche als Substanz. Aber genau diese mal viel zu schrill und zu geschmacklos auftrumpfenden, mal ästhetisch nichtssagenden und langweiligen Skyscraper- und Mall-Sumpfblüten definieren die systemisch induzierte Deformiertheit des epochegewordenen globalisierten Neoliberalismus. Sie sind Stachel, die tief im Fleisch der »legitimen« akademischen Westarchitektur sitzen und Eiter bilden. Denn ihre Klischeebedienungen fungieren als weltweit gültige Real Estate-Paradigmen, sie sind »das Maß unserer Zeit, ein Maß, das sich quantifizieren lässt […] aus den Flugstrecken, den Bahnlinien und den Autobahnen, […] den großen Hotelketten, den Freizeitparks, den Einkaufszentren und schließlich dem komplizierten Gewirr der verkabelten oder drahtlosen Netze«12 . Sie treffen einen bloßliegenden Nerv, denn sie stehen in Opposition zur Hegemonialstellung westlicher Distinktionsprinzipien. Ihre Vulgarität und ihr Kitsch brüskieren die triefäugigen abendländischen Geschmackseliten. Sie wirken auf sie »wie das verdrängte Eigene bei Freud: Das Vulgäre klagt Teilnahme am großen Fest des Kapitalismus ein. Es glaubt aber nicht, durch unauffällige Anpassung Teil einer bestehenden Elite zu werden, sondern demütigt diese Elite durch die schrille Verfremdung ihrer Statussymbole.«13 Tatsächlich prägen die superlativischen arabischen Stadtentwicklungen der Gegenwart eine irritierende Repräsentationsambivalenz, wie sie einst Alexander Mitscherlich bei den Prunkgebaren kapitalistischer Aufsteiger diagnostizierte: eine »fast manische 9 10 11 12 13
Smoltczyk, Alexander: »Volltanken in Malabo«, in: Der Spiegel, 35/2006 Scharfenort, Nadine: Urbane Visionen am Arabischen Golf. Die ›Post-Oil-Cities‹ Abu Dhabi, Dubai und Sharjah, Frankfurt a.M.: Campus 2009, S. 16 Augé, Marc: Nicht-Orte, München: C.H. Beck 2010, S. 3 Ebd., S. 84 Maak, Niklas: »Die vielen Freuden des ›too much‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.2016
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Sucht, sich ein Air von Respektierlichkeit zu geben. Womit das dunkle Ahnen abgewehrt werden soll, daß diese Lebensführung sich selbst, über den Gruppenegoismus hinaus, eine Inspiration schuldig geblieben ist.«14 Diese Status- und Repräsentationsmanie schwankt zwischen einer subalternen Nachahmung städtischer und lebensstilistischer Amerikanismen, die ein Gefühl kultureller Unzulänglichkeit verrät, und einer aufgeblasenen Übertrumpfungsabsicht, die mit ihrem Gigantismus an scharfgemachten Statusinsignien eine selbstbewusste Entpflichtung gegenüber den westlichen Kulturmaßstäben signalisiert. Das auf die Emirate niederregnende Geld erschafft Städte, die das westliche Architektur-Establishment zwar als naive Amerikanisierungsbemühungen, als inauthentische und uneigenständige Simulakrenurbanitäten erzürnen, weil sie der »weit verbreitete[n], sozial und kulturell erzeugte[n] […] Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, nach Ursprünglichkeit, nach Echtheit, nach Wahrhaftigkeit und nicht zuletzt nach Eigentlichkeit, welche von einer global betriebenen Authentizitätsindustrie betreut, kanalisiert und ausgenutzt wird«15 , nicht genügen. Vielmehr beunruhigen die global registrierten Reizwellen der protzigen Neuheits- und Reichtumsinszenierungen der emiratischen Metropolen-Emporkömmlinge jedoch noch als eine Zurückweisung westlicher Definitionen (– meist begleitet von einem peinlich weisheitenden Wortgetöse der Scheichs). Denn die Attraktionssignaturen der »Dubaization« als universeller Ideologie städtischen Spektakels suspendieren die Authentizitätskategorie als autoritative Schlüsselrubrik der Architekturästhetik: »In its compulsion to urgently and conspicuously manifest itself, Dubai is challenging the notions of what a city is. It teaches us about growth and planning mutated by hyperconsumption […] [,] the new parameters for the global city. It redefines authenticity by short-circuiting attacks on its proposed reality. We watch as the city sprouts up and the only criticism that can be attempted is one that questions to what degree Dubai has exploited its freedom from history and culture.«16 Eine Kritik von »Dubaization«-Phänomenen auf Grundlage eines verungültigten Authentizitätsdiskurses macht es sich daher nicht nur »zu einfach, […] Orte einzig aufgrund ihrer ›späten Geburt‹ in der Moderne als per se geschichts-, identitäts- und relationslos zu charakterisieren«17 . Sie verpasst auch die Chance, architekturtheoretisch falsche Unterscheidungen zu entschärfen und tendenziöse Urteile zu entqualifizieren, wenn sie Dubais illiterate iconic landmark-Stimulantien18 ausschließlich als baukünst14 15 16
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Mitscherlich: 1965, S. 65 Knaller/Müller: 2006, S. 8 Ackley, Brian: »Permanent Vacation. The Making of Someplace out of No-place«, in: Bidoun Magazine, 4/2005; Ackleys Diagnose wird allerdings durch eine unschlüssige Begriffsverschiebung verunklart. Anstatt in Dubai Attraktionen des Inauthentischen zu erblicken, sieht er das Phänomen, dass »the non-place has established a new sort of authenticity […] [,] a city that is unencumbered by vernacular architecture or traditional design practices […]. The new authenticity is at once controlled and irrepressible, scripted and disorientating, unique and derivative, amusing and depressing.«; Ebd. Steinkrüger: 2013, S. 83 »Buildings have suffered from the extensive use of the word ›iconic‹ to describe the ultimate goal. […] Adopting a word that leans ›symbol‹ or ›emblem‹ and evokes images of trophies to describe
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lerische Karikaturen mit dem Makel der Inauthentizität verurteilt und sich der widersprüchlichen Intensivierung des Sinnlichen verschließt, die der Kitsch, die Stilwidrigkeiten und die Künstlichkeiten der ressourcenverfeuernden Golfmonarchien erzeugen. Der Inauthentizität und Unwirklichkeit einer glitzernden Megastadt in einer gleißend hellen Wüste, die alles in ihrem flirrendem Licht verschwimmen lässt. »It’s also rather boring. Don’t go and live there unless you happen to be a workaholic and/or a golfaholic.« 19 Die Besiedelung der Wüstenhalbinsel Katar reicht bis in die mesopotamische Hochkultur zurück, es entwickelten sich allerdings nur einige kleine Küstenstädtchen entlang der persischen Handelsroute, die von Fischerei, Perlentauchen und Piraterie lebten20 : »History simply happened elsewhere.«21 Ihre wichtigste war die im 19. Jahrhundert aufgelassene Hafenstadt Al Zubarah, ein Zentrum des Perlenhandels im Persischen Golf, das Beduinenstämme der Bani Utbah regierten, die 1783 den Persern die Insel Bahrain entrissen. Seit dem frühen 19. Jahrhundert rangen die Al Maadeed – Beduinen, die sich im Fischerdorf Al Bidda, niedergelassen hatten – mit dem führenden Familienclan der Bani Utbah, den in Bahrain ansässigen Al Chalifas, um den Landzipfel, was 1867 zu kriegerischen Scharmützeln auswuchs. Bahrain verwüstete Al Bidda und ihre kleinere, nach 1800 entstandene Nachbarsiedlung Doha (– nachdem beide Städte bereits mehrmals von der britischen Marine mit Artilleriebeschuss für Piratenfahrten bestraft worden waren). Eine Militärintervention Großbritanniens, das ihre Handelsschifffahrt nach Indien gefährdet sah22 , befriedete Katar dann allerdings zugunsten der führenden Sippe der Al Maadeed, dem Familienclan der Al Thani, die damit als katarische Machthaber legitimiert waren, auch wenn die Halbinsel kurz darauf vom Osmanischen Reich einverleibt wurde.23
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a building has resulted in the form being far more important than the function. The most important development that perhaps still needs to occur is for the developers and architects to accept that an ›iconic‹ building that has 100 percent vision glazing in this region is a sad waste of energy and our planet’s resources, and not to be applauded.«; Willis, Jeffrey: »Fast Forwards. 10 Years of Sustainable Iniatives in the Gulf Region«, in: Architectural Design, 1/2015 Whitaker, Brian: »Qatar is more boring than backward«, in: The Guardian, 3.12.2010 Der Wüstenstaat eines Beduinenvolks ist über die Geschichte hinweg mit einer Verfügbarmachung des Meeres verbunden. Katar ist »a barren land inhabited by people who, throughout history, have always been able to support and rediscover themselves by finding a product from the sea to sell: pearls, oil, natural gas, and today real estate.«; Adham, Khaled: »Rediscovering the Island: Doha’s Urbanity from Pearls to Spectacle«, in: Yasser Elsheshtawy (Hg.), The Evolving Arab City. Tradition, Modernity and Urban Development, New York: Taylor & Francis 2008, S. 218 Krane: 2009, S. 5 Die britischen Militäraktionen an der »Piratenküste« dienten nicht nur der Sicherung der Seewege, sie waren in erster Linie ein Handelskrieg gegen den mächtigsten Clan der Golfregion, die Qawasim und ihre Häfen Sharjah und Ras Al-Khaimah, deren Dhow-Flotte eine Konkurrenz im Indienhandel bildete. Die Autorität des Osmanischen Reichs wurde allerdings bereits 1893 massiv eingeschränkt, als Scheich Jassim bin Mohammed Al Thani, den die Osmanen als Kaymakam, ihren Statthalter, eingesetzt hatten, einen Aufstand anzettelte. In der Schlacht von Al Wajbah fügten die von Scheich Jassim vereinigten katarischen Beduinenstämme der Osmanischen Armee eine Niederlage zu. Die
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Mit der Arabischen Revolte im Ersten Weltkrieg gelangte Katar – wie die südlicheren Emirate der einstigen »Piratenküste« auch – als »Vertragsstaat«24 1916 ins Mandatsgebiet der britischen Verwaltung. Als der gravierendere Einschnitt erwies sich allerdings der Niedergang der Perlenfischerei in den 1920ern. Mit der Kultivierung japanischer Zuchtperlen versiegte Katars einzige Einkunft.25 Die kleinen Städtchen Al Bidda und Doha versanken für Jahrzehnte in Armut und Agonie, tausende Kataris zwang der Hunger zur Auswanderung. Selbst die Ölfelder, die die Anglo Persian Oil Company Ende der 1930er entdeckte, sollten dem verelendeten Scheichtum nicht sofort eine neue Erwerbsquelle stellen. Erdölexporte setzten erst 1949 ein. Bis in die 1960er blieben Doha und das langsam einverleibte Al Bidda ärmliche Siedlungen aus ubiquitären, traditionellen Baumaterialien: Lehmbauten mit Dächern aus Palmwedeln, Barastis. Orte ohne Elektrizität und fließendes Wasser, ohne Telefon, ohne asphaltierte Straßen und Air-Conditioning. Erst langsam durfte Katar sein Schicksal der widerfahrnishaften Transformationskraft der Bohrtürme anvertrauen. Dem Öl, jener übelriechenden schwarzen Flüssigkeit, die als »Lebenselixier der Welt«, wie es Essad Bey formulierte, die Geschichte der ihr hörigen Menschheit beherrscht – die Kriege entfachen lässt und ihr Metropolen errichtet: »Kein einziges unter den unzähligen Elementen, Materien und Kräften, die unser Leben bestimmen, vermag in gleicher Weise die majestätische Phantastik der Neuzeit widerzuspiegeln wie gerade das Öl. Die unsichtbare Geschichte der Gegenwart, jene Geschichte, die sich tief unter der Oberfläche des offiziellen Lebens abspielt, wird mit Öl geschrieben. […] Das Öl gleicht einem geschickten Zauberer, der Marionetten unsichtbar zu lenken weiß.«26 Eine Epochenschwelle bedeutete der Rückzug der Briten27 , der 1971 unter Emir Khalifa bin Hamad Al Thani in der Unabhängigkeitserklärung Katars mündete, nachdem Bei-
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Hohe Pforte pardonierte Al Thani allerdings, um nicht weitere Aufstände zu schüren und garantierte Katar weitestgehende Unabhängigkeit. Die kleinen Hafenstädte der »Piratenküste« als »Vertragsstaaten« zu bezeichnen, ist allerdings natürlich »some-what of a misnomer. The […] sheikhdoms in the group were tribal lands of shifting sizes and shapes. They weren’t organized as nationstates. They lacked standing armies, central bureaucracies, and diplomatic relations with other states. […] And there were no borders demarcating the limits of the sheikhdoms.«; Krane: 2009, S. 13 Die Perlenfischerei brachte zudem die Prinzipien kapitalistischer Gewinnerwirtschaftung in eine beduinische, auf Subsistenzwirtschaft basierende Kultur, auch wenn das gesellschaftliche Gefüge weiterhin tribal bestimmt blieb und die Stadtteile, die Fareej, nach Stammeszugehörigkeit gegliedert blieben: »The pearling industry supplied some prerequisites for a capitalist system to emerge not only through the contacts […] with Indian and European traders, but also through the emergence of a primitive market and ownership systems with their peculiar relations and factors of production, particularly capital and labour. In short, the pearling industry was the principle axis around which the economic and social structures in the city revolved.«; Adham: 2008, S. 222 Bey: 1933, S. 7 Großbritannien garantierte die Eigenständigkeit der Scheichtümer gegenüber Saudi-Arabien, Modernisierungs- und Entwicklungsinitiativen gingen jedoch abgesehen von dem 1963 verordneten Sklavereiverbot von der Protektoratsverwaltung keine aus. Die Briten »did nothing to advance Gulf Arab society, giving no encouragement to reforms of health, education, or politics. By the time the British left in 1971, illiteracy was above 70 percent, life expectancy wasn’t much more than fifty
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trittsverhandlungen über eine Eingliederung in die späteren Vereinigten Arabischen Emirate an »unüberbrückbaren Differenzen zwischen den beteiligten Parteien sowie [an einer] Unvereinbarkeit der Interessen«28 gescheitert waren. Der junge Staat leitete nun die Urbanisierung seiner infrastrukturell unterentwickelten Hauptstadt ein. Das Straßen- und Energienetz wurden ausgebaut, Ministerialbauten errichtet, ein Flugplatz und ein Tiefseehafen für den Cargoumschlag angelegt, Industrieansiedlungen angetrieben, um eine wirtschaftliche Diversifizierung zu antizipieren.29 1970 war Doha bereits durch Arbeitsmigration auf 90.000 Einwohner angewachsen, 1985 dann auf 200.000 Menschen. Die Zahl der ausländischen Staatsbürger überflügelte früh die der Kataris, auch weil sich die lokalen Eliten mit Erdölrenten versorgten und den Arbeitsmarkt Migranten überließen.30 Mit der »Oil Urbanization«, die eine westliche Modernisierungsexpertise leitete, wurde die Bausubstanz des ursprünglichen Siedlungskerns zunehmend abgerissen und das natürlich gewachsene Wegenetz des traditionellen arabischen Stadtgrundrisses mit seiner verschachtelten Häuser- und Parzellenstruktur durch ein rasterartig angelegtes Straßenverkehrsnetz überprägt. Die Physiognomie der islamischen Stadt mit der verdichteten Binnenstruktur der Viertel, den labyrinthisch-unübersichtlichen Sackgassen und der abweisenden Wehrhaftigkeit der Häuser, die keine Fassade besitzen, wurde durch klimatisch und kulturell indifferente städtebauliche Prinzipien substituiert, die sittliche Bedürfnisse des Islams nach Privatheit und Intimität unberücksichtigt ließen. Denn jenseits der Souks und der Freitagsmoscheen waren »public squares […] traditionally never part of the oasis communities and culture on the Arabian Peninsula. […] Apart from the[] functional [climatic] purposes the network of narrow side roads and cul-de-sacs or dead-end alleys served to reinforce the private character of these neighbourhoods, known as fareej.«31 Seinen Aufstieg zum reichsten Land der Welt im 21. Jahrhundert – klassifiziert nach dem kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf – verdankt Katar der Gasverarbeitung. Der Staatsbetrieb Qatar Petroleum erschließt seit den späten 1990ern das
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years […]. Life improved dramatically after their departure. […] [L]inks to the world came despite – not because of – the British presence.«; Krane: 2009, S. 34 Scharfenort: 2009, S. 97 »In tandem with increasing oil exports, an intense and accelerating process of industrialisation began in the Gulf in the 1970s; this industrialisation had initially been limited to representative and generally oversized megaprojects and was the beginning of a relatively short-lived industrial revolution […]. In addition to aluminium and copper smelting industries, numerous dry docks and petrochemical plants were constructed. […] Most industries in the region were based directly or indirectiy on oil and gas production and its profits.«; Salama/Wiedmann: 2013, S. 26 »In 1970 almost 90 per cent of the working population was non-Qatari: this was due to a lack of educated and skilled workforce among the indigenous population. Moreover, the introduction of financial subsidies turned Qatar into a classic welfare state reliant on its fossil-fuel resources and as such the indigenous population was not much inclined to hard physical labour or to seek demanding private-sectorjobs.«; ebd., S. 68 Ebd., S. 18; »Apart from buildings designed to combat the exigencies of the harsh desert climate, the requirements of the Islamic faith regarding gender segregation also prescribed stringent building rules and principles to ensure the appropriate privacy and separation necessary to adhere to its teachings.«; ebd., S. 16
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South-Pars-North-Dome-Feld im Persischen Golf, das größte Erdgasfeld der Welt. Mit der Erdgasverflüssigungsanlage in der Industriestadt Ras Laffan im Norden der Halbinsel ist Katar zum weltgrößten Exporteur von Flüssigerdgas aufgestiegen. Seither versucht nun auch Katar, seine Weltmarktintegration durch »Dubaization«-Urbanismus anzukurbeln. Ein Stadtmarketing-stimuliertes »Image-Making« über distinktive Architekturwahrzeichen soll die Neometropole Doha, die eine Bevölkerungsexplosion von 300.000 Einwohner im Jahr 2000 auf 1.500.000 Einwohner 2016 erlebte, im deregulierten Globalisierungskreisel von Gütern, Geldern und Menschen in neue Höhen treiben. Mit seiner Bauaktivität will Katar das wirtschaftliche Kräftespiel im flüssigen Aggregatszustand aufwallen, das Keller Easterling metaphorisch als undurchsichtige neoliberale »geography of multiple seas« beschrieb, in der »[w]orlds and empires shelter and fatten offshore, dropping into protected enclaves, free economic zones, and paper sovereignties long enough to avoid taxes, engage inexpensive labor, or launder an identity.«32 »It was best visited only long enough to replenish a bank account.« 33 Obwohl die Golfmonarchien kein homogener politischer Block sind, werden hier eindeutige geistige Richtlinien mitgegeben. Es sind Orte, wo man die globalisierte Welt und ihre Gesinnungen kennenlernt. Ein modernefeindlicher Klerikalkonservativismus arrangiert sich speziell in Katar in einem seltsam symbiotischen Parallelismus mit den ideologisch gewollten Lebensformen des globalen Neoliberalismus. In der Perspektive einer Ideologie- und Ökonomiekritik neoliberal organisierter Globalisierung verliert diese in den beschleunigungsfreudigen und konsumhedonistischen Emiraten, diesen Orten einer schreiend ungleichen Besitz- und Einkommensverteilung, vollends den Kopf. Denn hier vollendet sie ihre Prinzipien – die Unmenschlichkeit eines postdemokratischen Projekts neoliberaler Einpeitscher, die Menschen als Fressfeinde definieren. Inmitten des gegenwartsgläubigen arabischen Hyperkapitalismus und seinen städtebaulichen und lebensstilistischen Amerikanismen wirkt dieser Parallelismus islamischer Traditionalität, die Kataris in Dischdaschas und Niqabs und die LautsprecherMuezzins in der pseudovenezianischen Themenmall Villagio, wie anachronistische Rudimente. In Wahrheit aber stützt die kleine Erbmonarchie der Königsfamilie Al Thani ihren Autoritätsanspruch auf den wahhabitischen Traditionalismus und auf ein austariertes Ineinandergreifen tribaler und staatlicher Autoritäts- und Machtstrukturen.34 32
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Easterling, Keller: Enduring Innocence. Global Architecture and Its Political Masquerades, Cambridge, MA: The MIT Press 2007, S. 70; Auch wenn Easterling viel über die gegenwärtige Piraterie in den Freihandelszonen schreibt, darf dies nicht zur Analogie verleiten, hier würden anarchische Zustände herrschen: »whatever ancient patterns of trade and piracy reappear within the context of deregulated shipping, the port city is no longer a cosmopolitan marketplace, but, rather, a society of hyper-control. It constantly oscillates between closure and reciprocity as an open fortress of sorts that orchestrates controlled and advantageous cheating.«; ebd., S. 116-117 Krane: 2009, S. 103 »Aus den traditionellen Mechanismen der Beratung und Konsultation entwickelte sich […] eine Kultur des Konsenses, die eine substanzielle Form einer Demokratie in sich trägt.« (Scharfenort: 2009, S. 43) Die auf einen internen Ausgleich ausgerichtete tribale Autoritätsverteilung zwischen den Stämmen kaschiert die Differenzen der unterschiedlichen Meinungsträger um Veränderung und Bewahrung, die Fronten zwischen Progressiven und Konservativen. »Die einen feiern
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Katar ist nämlich nicht nur eine »Gefälligkeitsdiktatur«, die ihre Bürger materiell saturiert. Der wahhabitische Islam ist wie in Saudi-Arabien Staatsreligion, eine reaktionäre Glaubensauffassung, die »den institutionalisierten Hass auf alle nicht sunnitischen Muslime, auf die Juden oder auf den Westen schon Erstklässlern in die Schulbücher schreibt.«35 Die mittelalterliche Scharia und das Arrangement mit der fundamentalistischen Geistlichkeit fundieren die institutionelle und ideologische Statik der Al ThaniDynastie nicht weniger als der stimulierte Besitzindividualismus und die Günstlingswirtschaft unter den ersten Familien der Stadt.36 Der internationale Druck, Katar und seinem staatlichen Gesamtapparat eine liberalere Haltung abzuringen, seine Gesetze und seine Mentalität zu ändern, trifft auf den Widerstand einer Kamarilla mächtiger Familienclans in und um die Al Thani-Sippe. Konservative Kreise und religiöse Eiferer bremsen die Fortschrittsoffensiven, denen sich Emir Hamad bin Chalifa Al Thani verschrieb, als er 1995 in einem unblutigen Staatsstreich gegen seinen autokratischen Vater putschte und zusammen mit seiner mächtigen Lieblingsfrau Scheicha Moza bint Nasser al Missned (2v3) eine leise Demokratisierung und Westöffnung des Scheichtums einleitete. Eine moderierende Modernisierung freilich, die – jenseits der Bohrtürme, der von Emir Hamad gegründeten, in der arabischen Welt meinungsbildenden Medieninstitution Al-Jazeera, der Präsenz nichtmuslimischer Gastarbeiter und der Stationierung von US-Streitkräften auf der Halbinsel – gesellschaftliche Liberalität allenfalls in einem Larvenstadium akzeptiert und »die Moderne sonst als Shopping-Erlebnis abhandelt«37 . »Katars Katharsis«, die Transformation seiner Stammesgesellschaft, ist eine paradoxale: »ein[] Spagat zwischen allen politischen, ökonomischen und sozialen Fronten. Katar ist ein Exerzierfeld gewagter und […] widersprüchlicher Experimente.«38 Weil sich der onkelige Emir mit seiner außenpolitischen Umtriebigkeit allerdings immer stärker ins internationale Kräftespiel verrannte, sich der in den vielen nahöstlichen Kriegs- und Krisengebieten diplomatisch hyperaktive Kleinstaat bei seinen arabischen Nachbarn »den Ruf eines Scheinriesen und Gernegroß«39 einhandelte, war es schließlich 2013 nicht nur Hamads Krankenakte, die ihn zugunsten einer seiner Söhne abdanken ließ. Der beim Thronwechsel erst 33-jährige neue Emir Tamim bin Hamad Al Thani, der ideologisch der Muslimbruderschaft nahesteht, fährt seither die »Arabellion«-Initiativen zurück und stärkt im Inneren das Rückständige.
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zu viel, die anderen beten zu viel«; Gehlen, Martin: »Die Zeit ist gekommen«, in: Der Tagesspiegel, 26.6.2013 Steinvorth, Daniel: »Die giftige Saat der Wahhabiten«, in: Neue Zürcher Zeitung, 19.12.2015 Diese Günstlingswirtschaft war speziell in den 1950ern und 1960ern, als Gamel Abdel Nassers panarabischer Nationalismus die führenden Familienclans erfasste, und die »Gulf monarchies, with their anachronistic sheikhs, looked like teetering dominoes« (Krane: 2009, S. 56) systemerhaltend. Denn die Nasser-Anhänger unter den führenden Familien wurden mit Handelslizenzen und ersten Ölrenten beschwichtigt. Steinvorth: 2015 Follath: 2006 Sydow, Christoph: »Gernegroß II.«, in: www.spiegel.de, 25.6.2013
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Man glaubt, dass »man in die fünfziger Jahre fliegt, die sich als Zukunft verkleidet haben«40 . Denn der religiöse Konservativismus und die politische Obrigkeitshörigkeit der Einheimischen zementieren die soziale Formbestimmtheit des Emirats – Katars Klassengesellschaft, deren Ungleichheit der Reichtums- und Eigentumsverteilung das demographische Asymmetrieverhältnis zwischen der kleinen Minderheit katarischer Staatsbürger und der großen Mehrheit der Wohnbevölkerung, den »expatriates«, abbildet. Katars Multikulturalität erstarrt dergestalt in einer undurchlässigen kapitalistischen wie rassistischen Klassengliederung. Der einheimischen Erdölrentier- und Kapitalistenklasse, der eine mehrheitlich westliche »mobile Funktionsintelligenz«, die in der Petro-Industrie und im Tourismus die operativen Stellen besetzt, zuarbeitet, steht eine unterdrückte migrantische Arbeiterklasse aus Südostasien gegenüber. Denn Katars Wirtschaft basiert auf der intensiven Rekrutierung von unqualifizierten Arbeitsmigranten für die Bauindustrie und den Dienstleistungssektor (»irgendwo steht immer ein Schwellenlandasiate und putzt«41 ), deren befristete Migration durch die Verlockungen einer instrumentalisierten Rimessen-Ökonomie, von Rücküberweisungen in ihre Heimatländer, motiviert wird. Rekrutierungsagenturen bringen diese Armee an billigen, rotierenden Gastarbeitern aus Indien, Nepal, Sri Lanka, Bangladesch, Pakistan und Ostafrika, deren dauerhafte Einwanderung und Familiennachzug nicht erwünscht ist, ins Land, behalten Vermittlungsgebühren und die Reisepässe ein und überantworten sie der Kuratel des dubiosen Bürgschaftssystems der Kafala, dass die katarischen Arbeitgeber mit einer Entscheidungsgewalt über Vertragsbedingungen, Aufenthaltstitel und Ausreise beziehungsweise Abschiebung ausstattet. Sie schaffen ein riskantes Abhängigkeitsverhältnis für die Migranten, für das die Begriffe »Sklaverei« und »Zwangsarbeit« nicht unpassend sind.42 Die schändlichen Missstände in Katar wurden zu einem internationalen Skandal – Berichte über Arbeitsunfälle auf den Baustellen, unzumutbare Barackenunterkünfte und eingezogene Lohnstreifen brachten und bringen das Emirat an den Pranger. Aber Katar, dass keine Mindestgehälter und kein nennenswertes Arbeitsrecht kennt, sträubt sich gegen die Abschaffung des Kafala-Systems. Da es die gesellschaftliche Stratifizierung sichert43 und die Kapitalistenklasse – das betrifft die Einheimischen wie die privilegierte Opportunistenmeute der »expatriate«-Elite – allem Anschein nach keinen 40 41 42
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Pofalla, Boris: »Generation Golf. Kunst in den Emiraten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.4.2016 Diener: 2011 Nur Franz Beckenbauer, der als Fifa-Funktionär bei Einladungen des Scheichs das Land, seine Nobelresorts und Golfclubs kennenlernte, stritt mit der ihm eigenen Naivität die skandalösen Arbeitsverhältnisse im Wüstenstaat ab. Beckenbauer machte sich 2014 lächerlich, zu dem »Suppenkasper«, als den ihn zu Trainerzeiten einst ein beleidigter, weil von ihm nicht berücksichtigter Spieler beschimpfte, indem er in Mikrofon sprach: »Ich habe noch nicht einen einzigen Sklaven in Katar gesehen. Also die laufen alle frei rum, weder in Ketten, gefesselt […] Ich habe mir vom arabischen Raum ein anderes Bild gemacht und ich glaube mein Bild ist realistischer.«; in: Sutthoff, Jan David: »Ende der Kaiserzeit? Franz Beckenbauer durfte sich alles erlauben – bis jetzt«, in: www.huffingtonpost.de, 16.6.2014 »Offenbar sind die Widerstände unter katarischen Wirtschaftsunternehmen und in der einheimischen Bevölkerung zu groß. Also unter jenen Staatsbürgern, die sich mit einem Heer von Heloten
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irgendwie geschärften Blick für diese alltägliche Tragödie der Unterdrückung zu besitzen scheint, beziehungsweise einfach nicht allzu viel Mitleid mit den Gastarbeitern, die als Straßenarbeiter in der gleißend aufsteigenden Hitze den Asphalt unter ihre Lamborghinis auftragen und als in Quasi-Leibeigenschaft gehaltene Nannies ihre verhätschelten Nervkinder bändigen.44 Der Klassenantagonismus lässt in Katar allerdings nicht das Gefühl entstehen, auf einem Vulkan zu sitzen. Man findet nicht viel, was einen Kulturwandel ankündigen würde. Die Unterdrückung der migrantischen Unterschicht über die Kafala verhindert einen Klassenkampf. Von den temporär anwesenden »expatriates« ist keine gesellschaftliche Partizipation und keine geistige Initiative zu erwarten. Und bei den autoritätsgebundenen Kataris macht das Syndrom aus »gefälligkeitsdiktatorischer« Alimentierung und Wahhabismus einen arabischen Frühling unwahrscheinlich. Nicht nur wegen eines Defizits an gesellschaftlichem Bewusstsein und der fehlenden Institutionalisierung einer politischen Öffentlichkeit. Sondern auch weil die Al Thani-Dynastie die Erträge aus dem Erdgasexport, die der Staatshaushalt nicht absorbieren kann, abseits der Finanzspritzen für islamistische Radikale wirkungsstark investiert. Mit seinem finanzwirtschaftlichen Schlachtschiff, dem Staatsfond Qatar Investment Authority45 und dessen Investmentgesellschaft Qatar Holding, sitzt man an den Spieltischen der internationalen Finanzmärkte und platziert sich zur strategischen Diversifizierung als Ankeraktionär in »Blue Chip«-Unternehmen. Über die Immobiliensparte Qatari Diar fließen die Aktiva in die »Dubaization«-Attraktionen. In der Luftfahrt bringt man sich mit dem 2014 fertiggestellten Hamad International Airport ins Spiel, dessen Passagierkapazitäten die aufstrebende nationale Fluglinie, die Qatar Airways mit der Oryxantilope am Seitenleitwerk, zu einem Schlüsselakteur für Zubringer- und Anschlussflüge auf internationalen Verbindungen aufsteigen lässt. Und besonders seine Sportoffensive hebt Doha in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Abseits der traditionellen Kamelrennen kauft Katar seit einigen Jahren beharrlich Weltmeisterschaften, Trainer, Spieler und ausländische Vereine.46 Auf die RadsportWM 2016 folgt die Leichtathletik-WM 2019 und schließlich die Fußball-WM 2022. Auf
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umgeben haben, dessen Arbeit und Dienste sie brauchen, dessen politische Emanzipation sie aber fürchten.«; Spiller, Christian/Böhm, Andrea: »Höher, schneller, Katar«, in: www.zeit.de, 11.6.2015 »In addition to the disdain held for many of these workers, they are often treated as third-class residents with few and limited rights; the existence of squalid labour shanty-towns is mainly ignored by the local populace as well as many high-income members of the expatriate community. […] The local population displays a detached and often disdainful attitude toward the expatriate workforce, who is frequently seen as a disposable commodity.«; Salama/Wiedmann: 2013, S. 233 Als finanzwirtschaftliches Mastermind gilt Hamad Bin Dschassim Al Thani, Emir Hamads Mitputschist, der in den 1990er Jahren die Qatar Investment Authority aufbaute. Von dem langjährigen Ministerpräsidenten sagt der Emir: »Er selbst lenke zwar Qatar, […] sein Cousin, Hamad Bin Dschassim, besitze es aber.« (Hermann, Rainer: »Hamad Bin Dschassim Al Thani. Der neue DeutschBanker«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.5. 2014) Zu Katars Auslandsinvestments zählen unter anderem Aktienpakete bei Barclays, der Credit Suisse und Volkswagen. An der Spitze der internationalen Investments steht der durch seine katarischen Besitzer aufgerüstete Fußballklub Paris St. Germain. Um bei den Sportgroßevents selbst Teilnehmer zu stellen, betreibt Katar in vielen Disziplinen die Einbürgerung ausländischer Athleten. »Katar versucht es mit einer goldenen Brechstange. […] In Katar leben mehr als zwei Millionen Menschen, aber nur 250.000 Kataris, die für ihr Land starten dürfen. Der Talentpool ist klein und Sport ist kein Mit-
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dieses Turnier, dieses unsägliche Schauspiel dunkler FIFA-Machenschaften, sind Katars Milliarden-Infrastrukturinvestitionen ausgerichtet, wie die Errichtung einer U-Bahn und der Planstadt Lusail City. Und natürlich die Stadionneubauten, die ursprünglich als Science-Fiction-Kühlschrank-Arenen geplant wurden, um dem Wüstensommer mit bis zu 50 Grad Außentemperatur bei 90 % Luftfeuchtigkeit Paroli zu bieten. Katar, dass durch seinen Spitzenplatz im Klimasünder-Ranking in dieser Hinsicht keinen Ruf zu verlieren hat, beabsichtigte nämlich mit gewaltigen Kälte-Absorptionsmaschinen Stadien, Fanmeilen und Trainingsplätze runterzukühlen, bis man sich – in der bisher letzten Farce dieser Katastrophenvergabe – zu einer Terminverschiebung ans Jahresende umentschied, wenn die Temperaturen in Katar erträglicher sind.47 »If Dubai is Orlando or Las Vegas, then […] Qatar is more Palm Beach or Santa Barbara.« 48 Der Erdölexport bedeutete ein Einsetzen der sozioökonomischen Moderne in der Golfregion. Die Initialphase städtischer und wirtschaftlicher Transformation begann beim Industrialisierungsnachzügler Katar ab den späten 1950ern mit einem flächendecken Abriss der traditionellen Bausubstanz und dem Aufbau einer Basisinfrastruktur. Die »Oil Urbanization« führte zu Verstädterung und zu einem hauptsächlich durch Migrationsgewinne getragenem Städtewachstum. Erst 1974 entwickelte das britische Planungsbüro Llewelyn-Davies einen ersten Stadtentwicklungsplan auf der Grundlage eines Schematismus städtischer Teilfunktionen. Parallel dazu erarbeitete William Perreira ab 1975 die städtebauliche Ausbildung der unbebauten West Bay-Landzunge und der Corniche. Eine umfängliche Bedachtnahme erfuhren diese Planapparate allerdings nie. Denn Katars urbanistische Amerikagläubigkeit stieß bereits in dieser frühen Phase städtischer Inkubation Suburbanisierungsphänomene an: »In conjunction with the economic and social transformations, a new, more modern and more leisurely lifestyle was introduced and quickly embraced thanks to the import of a new form of mobility – the car; […] Thus
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tel zum sozialen Aufstieg mehr, weil es den Kataris auch so ganz gut geht. Geld macht träge.«; Spiller/Böhm: 2015 Mit dem kuriosen Wintertermin »sind alle Absurditäten durchdekliniert, die im Rahmen der Vergabe in ein fußballfernes Land […] erwartet wurden. […] Die Bullenhitze in den Sommermonaten im Wüstenstaat. Den ökologischen Wahnsinn, im Zweifelsfall die Stadien runterzukühlen. Die üblichen FIFA-Mauscheleien bei der Vergabe. Sündhaft teure Stadionneubauten, die vor und nach der Weltmeisterschaft kein Mensch mehr braucht. Sklavenarbeit.« (Jürgens, Tim: »Frohes Fest! Kommentar zur WM 2022 im Winter«, in: 11 Freunde. Magazin für Fußballkultur, 3/2015) Zudem will der muslimische Gastgeber auch Alkoholausschank beim Turnier untersagen. Nick Bashkiroff, in: Sherwood, Seth: »Is Qatar the Next Dubai?«, in: The New York Times, 4.6.2006
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began the longstanding and passionate loveaffair with the car and, in particular four wheel-drive vehicles, in the Arabian Peninsula.«49 Diese Suburbanisierungsdynamik führte zu einer unverhältnismäßigen Flächenausbreitung bei geringer Siedlungsdichte. Zu einem stadtlandschaftlichen Trauerspiel aus funktional entmischten, verfließenden Sprawls und vervielfältigten »McMansion«Agglomerationen, einer antistädtischen »Unwirtlichkeit«, für die sich die Urteile Mitscherlichs über repräsentationsgierige Villensiedlungen anbieten. Denn »[d]urchstreift man diese oft reichen Einfamilienweiden, so ist man überwältigt von dem Komfortgreuel […] der rücksichtsfreien Demonstration von pekuniärer Potenz und dem Geschmacksniveau von Devotionalienhändlern […]: eine[r] Anhäufung von Zufälligkeiten des Gestaltungswillens«50 . Die fragmentarisch und willkürlich arabisierten Villenbauten mit ihrem wehrhaften Erscheinungsbild entlarven einen Verbindlichkeitsverlust der baulichen Tradition und eine Zerrüttung »städtischer Würde«. Allein nach individueller Sympathie werden »Fragmente aus vorgegebenen, einmal verbindlich gewesenen Formgebungen aufgenommen und der Versuch gemacht, sie als Merkmal der eigenen Identität auszugeben. Was herauskommt […] ist eine permanente Maskerade in Architektur und keine Identitätsfindung durch den Zwang, Verbindendes, Verbindliches zu variieren, ohne aus der Rolle, aus der Ästhetik der Gruppe zu fallen.«51 Dem gegenüber stehen die einzelnen Prestigeprojekte der »Oil Urbanization«, die frühen Ministerialbauten der katarischen Eigenstaatlichkeit. Die heute leider bereits verlebten Leiber einer geographisch sensiblen Exportmoderne, die in regionalen Typisierungen der zeitgemäßen Architektursprachen des Spätfunktionalismus und Brutalismus den »Antitraditionalismus […] als Bürde auf der modernen Architektur«52 abschüttelte, bedacht die Klimabedingungen berücksichtigte und modernen Fortschrittsoptimismus mit einer dezenten Rezeption örtlicher Motive und Formen vereinigte. Diese epochenspezifische Petrodollar-Moderne negierte sowohl die modernistische Geschichtsfeindlichkeit wie den Mythos der Purifikation zugunsten einer expressiven Hinwendung zum historischen Formenrepertoire der Golfregion, »brought something new: the fusion of a Western modernity of clarity and transparency with local and oriental mystique and intensity of light«53 .
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Salama/Wiedmann: 2013, S. 28; Die vielspurigen Stadtautobahnen sind ein gefährliches Terrain. Denn: »Reckless driving is a part of life in the Gulf. There are mentalities at play that make the roads among the world’s most dangerous. One is a self-important ›me first‹ attitude; the second is the belief that safety is in God’s hands.« (Krane: 2009, S. 234). Raserei ist allgegenwärtig: »Young Emirati men, known for aggressive driving, appear to be among the chief culprits – and victims. […] The UAE’s plague of high-risk driving is byproduct of a traditional culture beset by breakneck modernization. In a society that frowns on dating and, ironically, drinking alcohol, young men seek arousal from driving fast.«; Ebd., S. 238 Mitscherlich: 1965, S. 11 Ebd., S. 12-13 Mumford, Lewis: »Plädoyer gegen die ›Moderne Architektur‹«, in: Gerald R. Blomeyer/Barbara Tietze (Hg.), In Opposition zur Moderne. Aktuelle Positionen in der Architektur, Braunschweig: Vieweg 1980, S. 51 Katodrytis, George: »Performative Urbanism. An Emerging Model of the Gulf«, in: Architectural Design, 1/2015
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Eine solche eigenschöpferisch-expressive Schönheit spätmodernistischer Formalismen ist das 1979 errichtete Central Post Office der britischen Twist Whitley Architects. Sein ganz in Weiß gehaltener Prefab-Brutalismus schichtet wuchtige Kubaturen – einen massiven Unterbau, Liftschächte, Gauben und einen akzentuierten schachtelartigen Dachaufsatz – zu einem zerklüfteten, pyramideartigen Gebäude, dessen bastionsartige Schrägflächen Fertigbeton-Elemente überziehen, die wie halbierte Schachtringe aus dem Kanalbau wirken. Diese umrissscharfe Strukturierung mit zwar gestalterisch und materiell der Typizität des Brutalismus nicht zuwiderlaufenden, aber brachialen, ästhetisch undistinguierten Schachtring-Hälften gibt dem Central Post Office seinen Reiz. Ein den Spätmodernismus kennzeichnendes überdrehtes Gestikulieren, das eine zunehmend verfestigte Einförmigkeit der Moderne mit geometrisch-formalistischen Dekorationsformen überspielt. Demgegenüber verpflichtet sich die Rumaillah Fire Station des Libanesen William Sednaoui von 1982 noch der modernen Formenstrenge. Der stereometrische, achtgeschossige Rechtkant, der 2013 vom katarischen Architekten Ibrahim Al Jaidah in einen Kunstraum für eine staatliche Artists in Residence-Initiative umgebaut wurde, erzeugt in der Proportionierung die den modernistischen Großskulpturen gehörende Schwere. Mehr jedoch noch lebt die Rumaillah Fire Station von der Feinheit seiner formalistischen Brise-soleil-Fertigbeton-Elemente, einem Netz von konkav-konvexen Formen, die sich dem diesigen Lichtgeflimmer der Wüstensonne entgegenstellen. Die weiteren einst stolzen modernistischen Monumente der »Oil-Urbanization« entlang der Corniche haben ihre Wirkung – da sie sich erste Alterskrankheiten eingefangen haben und von dubaistischen Glitzerbauten bedrängt werden – inzwischen eingebüßt. Das gilt für den goldeloxierten, ungegliederten Curtain-Wall-Behälterbau der Katarischen Zentralbank, den ebenfalls William Sednaoui entwarf, und für das brutalistische Innenministerium, eine fortifikatorische Fertigbeton-Großform jeweils überstehender Geschoße mit repetitiven zinnenartigen Fensterreihen. Und der 1981 eröffnete Doha Club des libanesischen Architekten Ahmad Cheika, wurde überhaupt bereits wieder abgerissen. Ein elegant weißer, Hilton-Appeal atmender Freizeitclub für Staatsbeamte, den ein weit auskragendes, auf wenigen Säulen getragenes Flugdach aus Spannbeton mit waffelartigen Untersicht prägte, dass einen Swimmingpool und eine Terrassenlandschaft verschattete. Ihre Attraktionskraft nicht im Geringsten verwirkt haben nur die zwei bewunderungswürdigsten Bauten dieser Ära, die University of Qatar und das Sheraton Grand Doha Resort. Zwar fanden diese durchgebildeten, reifen Stilfindungen nicht die verdiente Aufmerksamkeit der internationalen Architekturpublizistik. Die dubaiinfizierte Gegenwart müsste sich angesichts ihrer raffinierten Raum- und Bildideen aber Vergleiche gefallen lassen, die für diese nicht gut ausgehen. Die University of Qatar des in Paris ansässigen ägyptischen Architekten Kamal El Kafrawi breitete sich im Hinterland in den Wüstensand aus. Der riesige Flachbau-Cluster vereint in größter Meisterlichkeit einzelne revisionistisch-erneuernde Denkpositionen einer selbstreflexiven Moderne abseits des internationalistischen Nachkriegsfunktionalismus. El Kafrawis zu laudierende Architektur synthetisiert mit einem ausgeprägten Bewusstsein für ihre ästhetischen Mittel die Planungsstrategien des Strukturalismus
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mit einer regionalistischen Sensibilität, die den spezifischen Ortsbezug des Persischen Golfs in moderne Fertigbetonelemente übersetzt. Die nach fast einem Jahrzehnt Bauzeit 1985 fertiggestellte und inzwischen längst durch Suburbia und Sprawl geschluckte University of Qatar ist zwar rein architekturästhetisch nicht nur in der Erhabenheit ihres Luftbilds ganz dem Intellekt und dem Willen der Strukturalismus verpflichtet, mit den Mitteln typologischer Standardisierung verdichtete Urbanität als räumliche Gesellschaftlichkeit zu gestalten. Mit einem Sinn für die letzte Feinheit dieser Kunst werden kleinteilige geometrische Einheiten zur Serialität eines komplexen wie formal einheitlichen Formensystems vernetzt. Doch sind die experimentellen Kompositionsregeln strenger Repetition und Modulation hier kein selbstreferenzieller Formalismus, der sich ins Technokratische versteigt. Denn die Feinstruktur der geometrischen Figuren bestimmen modernistische Rekonstruktionen arabischer Baukultur. Die ein natürliches Ventilationssystem schaffenden Windtürme, die »Badgirs«, werden bei El Kafrawi zu geometrisierten Würfeln mit Schlitzfeldern, die oktogonale Cluster-Module indirekt belichten, belüften und ikonisch dekorieren. Die in homogen sandfarbenen Betonoberflächen gestalteten Cluster-Bauteilsysteme selbst, für die ein eigenes Fertigteilwerk errichtet wurde, durchdringen im Freien liegende, aber invertierte Erschließungspassagen, die den differenzierten Gassensystemen arabischer Städte nachempfunden sind und wie diese durch Maschrabiyyas verschattet werden. Und bei der Universitätsbibliothek sind in die »Badgir«-Würfel, die sich hier höhenversetzt wie monolithische Objekte zu einem erhebenden Spiel in den weißglühenden Himmel schichten, kreisrunde Fenster eingeschnitten, die feingliedrig-dichtmaschige Maschrabiyyas ausbilden. Auch wenn das humanistische Ideal der Strukturalisten des Team Ten durch die Nutzung des Universitätsbaus nicht erfüllt wird, da ein Scharia-Institut und die Geschlechtertrennung in den Fakultäten deren emphatisch republikanischen Gesellschaftsbezug widerspricht, ist die University of Qatar darin, wie sie die Eigengesetzlichkeiten und Komplexitäten dieser Moderneströmung in kunstdurchseelte Formen überführt und dabei an die klimatischen und kulturellen Bedingungen anpasst, ein Höhepunkt der »Oil Urbanization«. Dies gilt auch für die futuristische dreiseitige Pyramiden-Kubatur des Sheraton Grand Doha Resort, die einen an Dohas unwirklich glitzernder Skyline, die sich ohne Maß und Rückhalt dem Spektakel hingibt, architekturkritisch gnädig stimmen muss. Das 1985 fertiggestellte und daher für viele Jahre als vereinsamter Einzelbau die noch sandigen Brachflächen der Westbay überragende Luxushotel des kalifornischen Ausnahmearchitekten William Perreira, auf das als visueller Fluchtpunkt die zur Bucht parallelisierte Straßenführung der Corniche zuläuft, ist eine Ikone des amerikanischen Spätfunktionalismus, die einem die Augen auslaufen lässt. Das Sheraton Doha spielt nicht nur in einer Liga mit Perreiras berühmteren pyramidablen Gebäudeskulpturen, dem auratischen Skyscraper-Stachel Transamerica Pyramid in San Francisco und der gebieterisch brutalistischen Geisel Library in San Diego. Es ist eine der erstaunlichsten kubaturplastischen Baumassen-Dramatiken der zweiten Jahrhunderthälfte. Ein pyramidenhafter Bau, den bandartig umlaufende Balkone akzentuieren und über den ein wuchtiges, brutalistisch artikuliertes Dachrestaurant
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ausragt, dass die Schräge der Hauptfassade umklappt und dadurch eine leichte Ähnlichkeit mit der Brücke eines Öltankers entwickelt, damit eine passende maritime Assoziation schafft. Und da Perreiras Spätfunktionalismus natürlich längst Vergangenheitscharakter hat und wie aus der Zeit gefallen wirkt, erweckt seine würdevolle, steife Erscheinung einen sentimentalen Retro-Romantizismus für die Heroik der GolfExportmoderne. Man imaginiert in sie schwärmerisch eine tückische Magie, die aus dem verdämmernden Glanz einer taktgebenden ästhetischen Avantgarde der jüngeren Vergangenheit rührt. Das gilt auch für das Innere des Sheraton Doha, für das Perreira den damals zeitgemäßen, reputierlichen Bautypus einer vertikalen Atrium-Empfangshalle, den John Portman bei seinen Großhotel-Lobbys zur Erfolgsformel entwickelte, in eine futuristisch auftrumpfende Erhabenheit überführte, wie sie nur mit den nach innen verlagerten, städtisch insularen Riesenatrien des Hyatt Regency Hotels in San Francisco und dem Marriott Marquis Peachtree Center in Atlanta vergleichbar ist. Wie bei diesen spätfunktionalistischen Klassikern Portmans stapeln sich die geschoßweise verengenden Brüstungsreihen zu einem spektakulär ausladenden Gebäudemittelpunkt. Dessen schablonisierte nüchterne Funktionsästhetik der künstlich belichteten weißen Balustradenbänder hat Perreira allerdings um einige abstrahierte arabische Architekturzitate angereichert, die einen gewahr werden lassen, dass man sich hier nicht im Bauch eines Plaza-Ungetüms in Atlanta befindet, während diese ständig zwischen einem gelungenen Sich-Einfügen und einer sinnverwirrenden Kitschwirkung hinund-herspringen. Die gläsernen Aufzugkabinen, die als Blickfang des Atriums vor den markanten Krampfadern dunkler Marmorvertäfelungen in die Höhe und Tiefe schießen, erinnern an gusseiserne arabische Laternen, die in allen Farben kitschig funkeln. Und die Barlandschaft ist mit einer Laube in Kuppelgestalt eingerankt, deren geometrischen Verstrebungen Gestaltungsprinzipien islamischer Architektur imitieren. Im Sheraton Doha manifestiert sich Innen wie Außen das Flair der Pan Am-Ära, ihre Internationalität. Das, was Anthony Haden-Guest als die glamouröse wie transitorische Architektursignatur der Hilton-Hotels, die wie der »Flagcarrier« Pan Am ein nationales Statussymbol der USA repräsentierten, ausgemacht hat: »Functional-Baroque, like a Los Angeles insurance company«54 . »Hiltons are perceived as neutral centres in that … amoeboid polyvinyl slurb … Identikit figures in a blandscape of shopping plazas, Chemical Banks, metrostations, open-plan offices, multimedia gobbledy gooko-dromes, […] corporate fiefdoms, palaeo-bauhaus office blocks with areas in front, supposedly to create a human horizon, though littered with appealing lumps of sculpture like brontosaurus turds … and most especially – Hilton Hotels and Airport Terminal Lounges … the metamorphosis into a global Terminal Condition.«55 Architekturgeschichtlich sind die beiden Ausnahmebauten der katarischen »Oil Urbanization«, der regional spezifizierte Prefab-Strukturalismus der University of Qatar und 54 55
Haden-Guest: 1972, S. 136 Ebd., S. 139-140
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der ikonische Spätfunktionalismus des Doha Sheraton, nicht ausreichend als das kanonisiert, was sie sind: große Meisterwerke der Moderne, die nach einer uneingelösten Zukunft griffen. Vielleicht ist eine emotional beteiligte Retro-Rezeption des formalistisch überformten Golf-Exportmodernismus der »Oil Urbanization« jedoch nicht nur eine spezifisch westliche Verschrobenheit. Sondern diese Sehnsucht nach Verlorenem ist nichts weiter als ein bezeichnendes Distinktionsventil, mit der sich der Westen zumindest seiner verfeinerten Intellektualität versichern will, das etablierte Interpretationsgefälle aufrechterhält – jetzt, wo er sehenden Blicks seiner eigenen Depotenzierung in einer globalisierten Welt entgegentritt, dessen modernitätseuphorischer Erneuerungseifer sich zunehmend in die arabischen und chinesischen Megaurbanismen verschiebt. Ein nostalgischen Retro-Begehren für John Portman-Hotel-Funktions- und Erschließungszonen kreiert sich eine goldene Zeit, die sich gar nicht mal weit weg denkt, und markiert damit den architektonischen Anschlussverlust des Westens, als es eine Ära idealisiert, in der Amerika alleiniger kultureller Taktschläger war, als die avanciertesten Architekturstädte Los Angeles und Atlanta und nicht Dubai und Singapur hießen. Und es signalisiert dann weiter, wie beispielsweise der Pop-Theoretiker Simon Reynolds meint, ein westliches Dekadenzsyndrom, das im »Autokannibalismus der Retro-Mode einen unendlichen Bedeutungsverlust provoziert […]. In der Mode ist alles flüchtig, außer dem süßen Klingeln der Kasse.«56 Eine solche retro-romantische Periodisierung einer heroisch-progressiven PetroModerne endet mit den 1980ern, als die Zeitbedürfnisse der Golf-Metropolen zunehmend die obszöne Mode einer eklektisch orientalisierten und goldgesprenkelten EloxalPostmoderne hegemonial werden ließen. In Doha präsentiert sich dieser Kitsch-Limbo unter den Schranken der Billigkeit am stärksten in der Grand Hamad Avenue, einem Straßenzug aus geschmacksverunsicherten würfelartigen Bankgebäuden, die mit impulsiver Liederlichkeit buntverspiegelte Glasfassaden mit frei empfundenen arabischen Stilinterpretationen mischen. Mit der Grand Hamad Avenue, über die sich zu allem kitschästhetischen Überfluss wie bei Saddam Husseins Schwertern von Kadesia in Bagdad zwei aufeinanderzulaufende Riesensäbel zu einem lachhaften Wahrzeichen spannen, beginnt der Aufstieg dubaistischer Curtain-Wall-Signalarchitekturen.57 Einige dieser zur protzigen Groteske neigenden orientalisierten Eloxal-Postmodernismen haben sich auch in die unbekümmert diastatische Stil-Uneinheitlichkeit der Westbay-Skyline platziert. In der wirkungs-, aber nicht immer stilsicheren SkyscraperSilhouette erheben zwei Administrationsbauten Doha zu einem geheimen Zentrum der Postmoderne: der als Sitz des Arbeitsministeriums erbaute Barzan Tower des katarischen Architekten Ibrahim M. Jaidah und das Supreme Education Council Building, das 56
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Reynolds: 2012, S. 191; Reynolds zeichnet das Bild eines allgemeinen kulturellen Niedergangs: »Wenn man sich die westliche Kultur der letzten paar Jahrzehnte anschaut – die Dominanz von Mode und Klatsch, Prominenz und Image […] – ergibt sich ein Gesamtbild der Dekadenz. Die RetroKultur ist nur eine weitere Facette des Abstiegs und Falls des Westens.«; ebd., S. 351 »From the 1980s, exposed class curtain walls were used extensively in the design of almost every commercial and highrise building facade in the Gulf. […] The combination of fast cities on limited land thus produced a Manhattan-like effect at the end of the 20th century: land division, highrise building planning and curtain walls.«; Katodrytis: 2015
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die Planungsabteilung der staatlichen Baubehörde Ashghal entwarf. Das ungegliederte blaueloxierte Spiegelglas des Barzan Tower täfelt an der Basis eine kulissenhafte arabische Palastfassade, ein artifiziell an die verspiegelte Bläue angehaftete sandsteinerne Attrappe mit Zackenbögen, Gesimsen, Zinnen und einem plastisch ausgebildeten Eckerker mit Kuppelabschluss. Und auch dem Supreme Education Council Building, einem sandsteinbelegten Rechtkant, ist ein arabisches Kulissen-Palasttürmchen auf eine der Steinfassade subtraktiv ausgesparte grüneloxierte Glashaut appliziert, deren Umrisskante wiederum selbst eine Kuppelsilhouette abbildet. Symbolismus strapazieren aber auch die übrigen spiegelgläsernen LandmarkZylinder und -Türme der im Skyscraper-Diagramm der Westbay – beispielsweise der RasGas Tower des Libanesen Marwan Zgheib, der in den vertikalen Zwischenraum seines U-Grundrisses eine riesige silbrige Kugel klemmt, die sich in den goldeloxierten Scheiben spiegelt. Oder der in die unbewegte Wüstenluft gestellte Tornado Tower des deutschen Architekten Robinson Pourroy, ein sanft gekrümmtes einschaliges Hyperboloid mit blauer Glasfassade, das ein rautenartiges weißen Metallnetz überzieht. Oder das vulgär-futuristische Qatar World Trade Center des emiratischen Planungsbüros Artec, eine dynamisierte Glasskulptur in strahlendem Blau, an deren Spitze eine als fliegende Untertasse stilisierte, kreisrunde Aussichtsbrücke überkragt, deren Untersicht ein zackiges Sonnensymbol zeigt und die nachts in gleißendem Licht die Bucht überstrahlt. An der Westbay-Skyline manifestiert sich ein dubai-inspirierter InvestmentUrbanismus (»mainly founded on the initiation of a supply-driven investment hub rather than a demand-driven business hub«58 ), der – antizyklisch zu den weltwirtschaftlichen Strukturprämissen – zu brummen anfing, als Dubai selbst nach dem Finanzcrash längst auskaterte.59 Ein Investment-Urbanismus, der funktions- und kontextindifferent in erster Linie einen Bildattraktion generiert, und wie Fernsehwerbung »gar nicht von den Produkten [handelt], die konsumiert werden sollen«, sondern, wie Neil Postman feststellte, »vom Charakter der Konsumenten. […] [S]ie sag[t] alles über die Ängste, die Phantasien und Träume derer, die sie kaufen sollen. Wer einen Werbespot in Auftrag gibt, der muß nicht die Stärken seines Produkts, sondern die Schwächen des Käufers kennen.«60 Man darf allerdings die impulsive städtebauliche Megalomanie von Dubais Königsfamilie Al Maktoum, die Stadtentwicklung zu einer Art Tagesgeschäft des SchlagzeilenMachens uminterpretierte, auf der anderen Seite wiederum nicht allein unter ästhetischen Gesichtspunkten verurteilen. Da ungeachtet der kaputten Wirtschaftskrisenzeit,
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Salama/Wiedmann: 2013, S. 217; »The wealth of fossil fuels has enabled Qatar’s government to invest large announts in state-of-the art infrastructure; as a result the private sector has become an opportunistic participant in developments […]. Thus, the lack of regulations in combination with exponential public investments has led to speculative tendencies, which pose a threat for any future economic balance.«; ebd., S. 216 »Taking advantage of sinking materials costs, shrinking demand for professionals and even some holes in media coverage, Doha has continued to plan for and develop its future practically undeterred by the worldwide economic downtown.«; El Samahy, Rami/Hutzell, Kelly: »Closing the Gap«, in: Todd Reisz (Hg.), Al Manakh 2. Gulf Continued, Amsterdam: Archis 2010, S. 184 Postman: 1985, S. 158
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die Dubai in gravierende Liquiditätsschwierigkeiten und an den Rand des Staatsbankrotts brachte, bei aller Hybris hinter der Expansionsstrategie immer eine zielgerichtete unternehmerische Kalkulation stand. Nämlich, die Wirtschaft des Stadtstaates zu diversifizieren und lukrative Investitionsbedingungen für internationales Kapital anzubieten. Eine Strategie des Faktenschaffen, die ja gerade in ihrer Unverschämtheit aufgegangen ist: »Abu Dhabi, Saudi Arabia, and Kuwait used mineral wealth to subsidize cushy lifestyles and overpaid bureaucracies, or they parked it in overseas stocks and bonds. […] Sheikh Rashid’s ideas were the best use of Dubai’s small oil reserves. Dubai had one chance to get it right, and, instead of following its neighbors, it […] invested to diversify its economy. The more Sheikh Rashid poured into ports, industry, and airports, the faster the economy grew. State spending triggered a larger torrent of private investment.«61 Wie in Dubai basiert das »Image-Making« auch in Doha auf singulären, nicht akkordierten Einzelinitiativen und sind als insulare Masterpläne aus der Hand der Investoren nicht mit dem (dauerveralteten) Stadtentwicklungsplan abgestimmt. Ein stadtästhetisches Phänomen dieser »Dubaization«-Individualismen ist auch daher eine Diskrepanz zwischen den wenigen, aus der Reihe tanzenden Einzelarchitekturen mit iconic landmark-Güte, die man wie baukünstlerische Feigenblätter flammenden Auges betrachtet, und der anonymen, unambitionierten Real-Estate-Massenware, die wie in Dubais Immobilien-Hausse auch, weniger dazu dient, die katarische Städtebaukunst zu verfeinern, als die Künste des Geldverdienens und der Geldwäsche für einen spekulativen Sekundärmarkt. »Today, the contrast between mass-produced buildings and the stateof-the-art design of individual landmarks has become a disturbing reflection of a segregated and fragmented urban development that is undergoing a continuous struggle to integrate quality within quantity.«62 Folgenschwer sind schließlich die ökologischen Bedenken gegen die ressourcenverschwendenden Scheichtümer, die den einwohnerbezogen weltgrößten »Overshoot« der Energieverschleuderung erzeugen. Die arabischen Urbanismen im Air ConditionDauerbetrieb vereinen »two wasteful traits. First are the suburbs of big, energy-inefficient houses that can only be reached by private cars. Second are the dense districts of Its of highrise apartment towers. The glassed-in towers are passive collectors of solar energy.«63
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Salama/Wiedmann: 2013, S. 79-80 Ebd., S. 106; »This concerns both construction and design and has three main causes: firstly, a need for a rapid supply of housing to accommodate the fast rates of growth, secondly, a lack of restrictions and finally deficient standards within the construction industry itself. One striking phenomenon is catalogue-designed residential typologies […] made of pre-fabricated cement elements and assembled in a few short weeks by poorly-educated and often unskilled construction workers with limited supervision.; ebd., S. 105 Krane: 2009, S. 226
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» It all depends on how you like your McHistory – rare medium or well done« 64 Nicht nur die wahhabitischen Hardliner haben einen ausgeprägten Hang zur wehenden Fahne und einen starken kulturellen Beharrungswillen. Daher ist Katar viel damit beschäftigt, sich mit Vergangenheit zu beladen, um ein architektonisches Inbild nationaler Identität aufzubauen. Themenarchitektur, eine simulative »McHistory«, wie dies Architekturkritikerin Ada Louise Huxtable nannte, muss dabei aufwiegen, was die Geschichte nicht zu bieten hat, in diesem lange Jahrhunderte verlassensten, unterentwickeltsten Landstrich der Arabischen Halbinsel, »the most desolate corner of a desolate land.«65 Simulationsästhetiken werden zu einem identitätsrelevanten Bezugsystem. Sie sind das Transformations- und Trägermedium einer Stadtinszenierung, die mit zum Teil realen, zum Teil fiktionalen Raumsituationen einen Wirklichkeitsentwurf entwickelt, der sich gleichermaßen auf die materielle Stadtrealität und ihre imaginierten Bilder, die in ihnen angelegte ästhetische Erfahrung, bezieht. Die faktische Inauthentizität des Gebauten ist dabei unwichtig, was zählt, ist allein die Attraktionsqualität themenarchitektonischer Simulation, die Frage Real Fake vs. Fake Fake: »there are good fakes and bad fakes. The standard is no longer real versus phony, but the relative merits of the imitation. What makes the good ones better is their improvement on reality.«66 Einen zwar nicht streng denkmalpflegerischen, aber zumindestens stadtgeschichtlichen Authentizitätsanspruch genügt immerhin der Souk Waqif, das traditionelle Handwerks- und Handelsviertel Dohas.67 Anders als die vielen sich durchbluffenden Instant-Fiktionalisierungen arabischer Altstädte, verfügt der Souk Waqif über »Heritage« – über eine beinahe zweihundertjährige Geschichte und Bausubstanz. Dieses dichte innerstädtische Gassensystem und seine archaischen Häuser aus Lehm und Korallenstein68 , die seit einigen Jahrzehnten im Verfallen begriffen waren, wurden dann in den Nuller-Jahren ganzheitlich restauriert und herausgeputzt. Zwar unter einer »McHistory«-Prämisse, aber in traditionellen Bauweisen und Materialien. Es wurde eine »extraordinary, conscientious and expensive exercise in historical playacting in which real and imitation museum treasures and modern copies are carelessly confused […]. Partly because it is so well done, the end effect has been to devalue authenticity and
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Huxtable: 1986, S. 12 Krane: 2009, S. 3 Huxtable: 1997, S. 75 »Durch das charakteristische Fehlen der Wohnfunktion unterscheidet sich der Souk deutlich von vergleichbaren traditionellen Geschäfts- und Handwerkervierteln von Städten anderer kultureller Großräume. Die Bausubstanz war ein- bis zweigeschossig, wobei im Erdgeschoss das Geschäft eingerichtet war und das darüber liegende Stockwerk entweder als Lagerraum oder Werkstatt […] genutzt wurde.«; Scharfenort: 2009, S. 20 »The building system applied consists of walls formed with series of bearing incorporated columns […]. The gaps between the pillars are filled with seashore stone creating alternatively windows and blind arched plastered latticed panels for decorative purpose. The main joint used in these structures was a mortar obtained from mixing mud and gypsum. The roofs were often flat composed of mangrove poles and covered with woven bamboo fixed with ropes. The facades were and are rich though their architectural simplicity. […] The scarcity of the wood ›dangeel‹ made it sacred to the level that when it is used for roofing whatever remains outside the borders of the walls is maintained and hanging with different sizes«; Radoine, Hassan: »Souk Waqif«, in: www.archnet.com
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denigrate the genuine heritage of less picturesque periods«69 . Mit etikett-konservativen »Theming«-Possierlichkeiten wurde der Souk Waqif in ein touristisches Konzept eingebunden, in den populistischen Konsens eines konsumistischen Erlebnishorizonts – die »Anwesenheit der Geschichte«, ist wie Augé beschrieb, dabei »im Begriff, sich zu ästhetisieren, während sie sich gleichzeitig entsozialisiert und artifiziell wird.«70 Die Restaurationsarbeiten unter der künstlerischen Leitung des katarischen Malers Mohamad Ali Abdullah bemühten sich ausdrücklich um geschichtliche Akkuratesse, um einen Wiederaufbau des Souks »nach den Kindheitserinnerungen des Emirs«71 . Um den Zauber einer entschwundenen Zeit wiederherzustellen, ließ er mit traditionellen Handwerkstechniken arbeiten und redigierte den »Natürlichkeitsverlust« nachträglicher Um- und Anbauten hin zu einer früheren Inkarnation: »to reverse the dereliction and disrepair of the historic structures while, at the same time, eliminate inappropriate alterations, modifications and additions that had taken over the years. […] [C]onsequently modern buildings and structures were demolished or renovated«72 . Abdullah idyllisierte das Gerüst der schmalen Gassen und gelenkbildenden Platzsituationen mit einer Archaik rustikaler, kariöser Steinmauern und hölzerner Fensterläden und Pergolen. Die arabisch gehaltenen Straßencafés und -restaurants werden mit pittoresken Blickachsen bedient – fast überall mit dem spiralenartigen Minarett des »Al-Fanar« Qatar Islamic Cultural Centre, dass sich wie die »Malwya« der Großen Moschee von Samarra im Irak in den Himmel windet, als Fluchtpunkt. Und speziell abends, wenn das Gassengeschehen in violetten Nebel taucht, die schwüle Hitze aber weiterhin auf der Haut liegt und sich der Souk mit Einheimischen füllt, schlägt die sich in die Tradition einschließende Atmosphäre durch, wirkt Abdullahs »successful formula for preservation: pure surender to nostalgia and strict abstinence from steele and concrete«73 . Auch das Katara Cultural Village ist bemüht, dem katarischen Nationalbewusstsein mit einer simulationsästhetischen Altstadtattrappe zu assistieren. Mit einer gleich im Ganzen eigens hergestellten touristischen Sehenswürdigkeit, die einen, in den Worten Daniel J. Boorstins, durch eine Image-Industrie räumlich und bildlich zugerichteten, illusionären Umgang mit der Wirklichkeit verrät. Sie »repräsentiert ein dem Selbstbe-
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Huxtable: 1986, S. 172; Huxtable beschrieb mit diesen Sätzen Colonial Williamsburg. Augé: 2010, S. 76-77; »[E]verything […] which was actually old has been made Olde instead; historical façades and interiors have been restored not to how they used to look, but to how […] tourists want them to look; every incident of (family-friendly) historical importance […] is now reenacted in an entirely Disneyfied manner.«; Glenn: 1999 Spiller/Böhm: 2015 Salama/Wiedmann: 2013, S. 125; In den Worten Mohamad Ali Abdullahs: »two thirds of the souk was in original condition; made out of stone, earth, wood and gypsum. Some of it was more than two centuries old. […] I made the choice to remove the one third which was new material and rebuilt it with the old material.«; Abdullah, Mohamad Ali: »Making Souk Waqif«, in: Todd Reisz (Hg.), Al Manakh 2. Gulf Continued, Amsterdam: Archis 2010, S. 427 Ebd.; »In some extensions, concrete and cement were used heavily to speed up the construction. Because of continuous critics […] the Emir intervene personally to stop its use and made sudden visits to assure that the renovation is carried out with traditional materials.«; Radoine, Hassan: »Souk Waqif«, in: www.archnet.org
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wußtsein entsprungenes, künstliches Image der Nation. Sie ist ein Pseudo-Ereignis, das für ausländische Verbraucher inszeniert wurde.«74 Bereits die Namensgebung des 2010 fertiggestellten Kultur- und Konferenzzentrums, das mit Galerien, Kunstinstituten und der Diversity-Agenda eines »Kulturdialogs« eine künstlerisch und kulturell interessierte Bildungsschicht adressiert, beruft sich auf den historischen Namen der Halbinsel. Taubentürme in Lehmbauweise und das malerisch inszenierte Gassen- und Häusergeschachtel einer traditionalen islamischen Stadt legen als Fundgrube des Imaginären einige abgeliebte Assoziationen der arabischen Geschichte frei: »Zeugnisse sämtlicher Hochkulturen zwischen Südspanien und Afghanistan wurden zusammengetragen, um dem Wüstenzipfel ein bisschen historischen Glanz zu verleihen, und sei es auch nur der Glanz der Nachbarn.«75 Eigenartig am Katara Cultural Village ist nämlich, dass abgesehen von den pittoresken Taubentürmen ein Amphitheater und zwei Moscheen die deutlichsten Einzeleindrücke besorgen, obwohl diese dem Persischen Golf nicht eindeutig zuzuordnen sind. Bei dem beachtlich dimensionierten schein-antiken Amphitheater irritieren nur die glatten Steinbeläge und Kantenführungen die attischen Assoziationen und die Masjid of Katara des türkischen Architekten Zainab Fadil Oglu erinnert mit seinen mit feinen blauen Arabeskenmustern, Kalligrafien und Maschrabiyyas geschmückten Blendarkaden einerseits an den Felsendom am Jerusalemer Tempelberg, mit seiner fayenceähnlichen glasierten blauen Kachelfassade andererseits auch an das safawidische Isfahan und das timuridische Samarkand. Und die golden mosaikbelegte Golden Masjid soll osmanisch sein, ist jedoch eher eine Eigenkreation als zitiertes katarischen Kulturgut. Die Tücken dieser architekturkritischen Hyperrealitätsargumentation hat bereits Dubai bei Madinat Jumeirah zu spüren gekriegt. Da baute man mal keine kulturimperialistische Mall und bemühte sich um eine Übertragung traditioneller Baukunst, indem man »Badgirs«, die ursprünglich aus Persien stammenden ikonischen Windtürme, zu imposanten Palastanlagen stapelte. Aber auch das passte der westliches Kulturdiagnostik nicht. Sie brachte die Simulakrenhaftigkeit Madinat Jumeirahs auf Betriebstemperatur und ließ ihre baudrillardschen Interpretationskaliber auffahren, dass sich die Simulationsgesellschaft nicht mehr mit Imitation begnüge, sondern die »Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen« betreibe.76 Simulationsästhetiken mit Baudrillards Hyperrealitätsbegriff allerdings grundsätzlich ins Schachmatt laufen zu lassen ist eine intellektuell langweilige Tätigkeit, die immerwährend nur den Widerspruch zwischen Augenschein und Wahrheit einklagt und sich die Wahrnehmung dieser Architekturphänomene selbst einschränkt. Die bei aller Gleichartigkeit der »Imagineering«-Industrie kein Auge hat für den syntaktischen und semantischen Variantenreichtum in der simulatorischen »Vervielfältigung der Zeichen«, weil sie allein die Geschichtserfindung sieht, anklagt, dass sich jemand um herrliche Erinnerungen bereichere, die ihm nicht zustehen.
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Boorstin: 1991, S. 148 Diener: 2011 »[E]ine dissuative Operation, […] die Dissuasion realer Prozesse durch ihre operative Verdoppelung, eine programmatische, fehlerlose Signalmaschinerie, die sämtliche Zeichen des Realen und Peripetien (durch Kurzschließen) erzeugt.«; Baudrillard: 1978, S. 9
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Dabei ist das Katara Cultural Village bei seiner »Theming«-Intention, zeitlich Fernes der Geschichte zu evozieren und so Kataris und Urlauber Gefühle für nationale Tradition (wieder)finden zu lassen, verhältnismäßig bedachtsam und unterlässt aufgrund seiner Ausrichtung auf Kunstgalerien und -institute den üblichen »McHistory«-Kitsch. Vielmehr wirkt es mit seinen Atelierräumen und Restaurants inmitten eines antiseptisch aufbereiteten Gassensystems einer arabischen Altstadt wie eine unabsichtliche simulationsästhetische Satire auf allbekannte Gentrifizierungsphänomene. Im typischen Verlaufsmuster werden die Künstlermilieus mit dem Einfall der »Gentrifiers« ja auch nicht nur durch habituelle Bürgerlichkeit aus ihrem Stadtteil vertrieben, wenn schließlich der Pionier-»Gleisarbeitertrupp« der Künstler und Subkulturen, wie Diedrich Diederichsen lakonisch zusammenfasst, das »Image des Künstlerviertels […] denjenigen kaufkräftigen Mietern verkauft, die in der Lebenszeit, die andere dem Exzeß gewidmet haben, eine Ausbildung gemacht haben und nun vom hohen Mietpreis auch versäumtes Leben zurückkaufen wollen.«77 Sondern vielmehr werden ebenjene reizvollen Territorien der Bohème beziehungsweise ihre Hipnesszeichen in einem sozial ungestörten, weil lebensstilsortiert hermetischen Illusionsmodus fiktionalisiert. Die Yuppies »zombifizieren die Stadt: Sie lassen […] die Ateliers, die kleinen Kunsträume, das Improvisierte, Provisorische […] als wertsteigerndes, belebendes Bild wiederauferstehen. Die neue Stadt baut als Fiktion nach, was sie soeben verdrängte: Der Künstler soll dem Quartier das Aroma urbaner Widerständigkeit geben, Kultur kommt als Untoter im Gewand der Culture zurück, um den Bewohner über die Sterilität hinwegzutäuschen, die mit ihm Einzug hielt.«78 Das Katara Cultural Village bastelt sich quasi diesen attraktionsurbanistischen Finalzustand als ein hübsches, in einer getragenen Farbenharmonie an Erd- und Sandtönen gehaltenes arabisches Lifestyle-Kulissenstädtchen mit Galerien, Art-Spaces und libanesischen Restaurants wie einen themenarchitektonischen Bausatz zusammen und lässt seine Besucher das atmen, was auch der Yuppie am gentrifizierten Künstlerviertel schätzt und gegenüber der unvermittelten Authentizität des Urbanen favorisiert: ein abenteuerliches Flair, dass aber alle Standards an Sicherheit und Sauberkeit erfüllt und Kreditkartenzahlung erlaubt. Die »McHistory«-Scharade des Katara Cultural Village, sich in den Jahrhunderten arabischer Geschichte zu verlieren, ist dabei allerdings verhältnismäßig unaufdringlich, was hauptsächlich daran liegt, dass sie ihre Inauthentizität bagatellisiert, während sie marktübliche Themenarchitekturen falsettierend als Attraktion markieren. So wie das Dohas b-prominentes Themen-Shoppingcenter Villagio Mall tut, das aus einem altbekannten simulationsästhetischen Bilderfundus herbeigewunkene Venedig-Kulissen anrichtet. Allerdings in einer indiskreten, unzureichend mit einem Sinn für Würde ausgestatteten Art, die nicht dazu veranlasst, hier träumend die Fantasie zu beschäftigen.
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Diederichsen: 1999, S. 235 Maak, Niklas: »Was passiert mit unseren Städten? Stadt der Untoten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.12. 2012
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In ihren überschaubaren Simulationsqualitäten ist die 2008 eröffnete Villagio Mall eine laue Nummer, »Imagineering«-Dutzendware. Dabei ist der augenscheinliche imaginative Fiktionsfilter der katarischen Themenarchitektur- »Serenissima« weniger, die Kulturerhabenheit der amphibischen Adriastadt einzufangen, als funktional und visuell die Architainment-Attraktionen des Venetian Resort in Las Vegas anzubieten, in dessen kopistisch effektvoll optimierten »Theming«-Vorstellungskreis einzutreten. Sofern ist auch die Villagio Mall ein Inbegriff baudrillardscher Hyperrealität, für den »Übergang von den Zeichen, die etwas dissimulieren, zu den Zeichen, die dissimulieren, daß es nichts gibt. Erstere verweisen auf eine Theologie der Wahrheit und des Geheimnisses […]; die zweiten begründen das Zeitalter der Simulakra und der Simulation.«79 Zum festen Repertoire eines solch touristisch komprimierten »Theming«-Venedigs zweiter Ordnung gehören die »in sämtlichen Pastellschattierungen angemalten Kulissenstraßenzüge«, die plakativ mediterranisierten Geschäftszeilen in inszenatorischer Raffung, die die uniforme Schaufenster-Langeweile der internationalen Filialisten überspielen, und die swimmingpooltürkisen Bassins, die als Kanäle für Gondelfahrten herhalten müssen. »Über allem spannt sich ein gemalter Trompe-l’oeil-Himmel mit freundlichen weißen Wattewölkchen, ein neutraler, jahreszeitenunabhängiger Himmel, wie auch die Vergnügungen im Villagio keine Saison kennen. Denn hier gibt es kein Wetter, nur Klimatechnik und ewig gleichbleibende, schweißvermeidende Kühle.«80 Auch der Louis Vuitton-Dior-Gucci-Flügel der Villagio Mall klammert sich an stilistische Trivialitäten und luxuriert die Klunker und Handtäschchen in den Auslagen auf inadäquate Art. Er ist ein Abklatsch der gediegen-klassizistischen Einkaufspassagen des 19. Jahrhunderts und wie die übrigen Abgeschmacktheiten der Villagio Mall eine ärgerliche Geschichte. Man landet fast zwangsläufig bei der bedrückten Einschätzung einer kulturräsonierenden Architekturkritik, die wie Keller Easterling eine prinzipielle Instrumentalisiertheit der simulationsästhetischen Sujets behauptet: »Yet global familiars such as resorts, enclaves, and repetitive commercial formats are made no less hyperbolic, volatile, and extravagant by abstraction. Elaborate costumes and stylistic affectations are often treated as the window dressing for a product that supposedly achieves neutrality by operating as a revenue envelope. Fiction and myth are, in this case, especially slippery, disposable, and comedic for the very reason that absolute meaning may finally be measured only in revenues or techniques of ›market science‹«81 . Am italienischsten ist es bezeichnenderweise am Parkplatz, wenn einen die Hitze an Sciroccowind erinnert. Hier findet man auch diesen einen (entschädigenden) Glanzpunkt, die wahrscheinlich erstaunlichste simulationsästhetische Italien-Imagination auf diesen Planeten, die allerdings mutmaßlich nur die wenigsten Besucher der Villagio Mall überhaupt als Attraktion wahrnehmen: ein miniaturhafter Nachbau des Mailänder
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Giuseppe Meazza Stadions als Eingangsüberdachung. Darbt die übrige Fassadierung mit ihren kläglich ausgestalteten pastellfarbenen Türmchen und Arkaden auch in einer unerträglichen Banalität, die so gar nichts hat von der simulativen Hyperähnlichkeit des Venetian, ist die kleine Giuseppe Meazza-Assoziation immerhin ein wunderlicher, nicht unsympathischer ästhetischer Ausreißer in einer Welt des Spektakels, in der mit Guy Debord »die Ware zur völligen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar; sondern man sieht nichts anderes mehr: die Welt, die man sieht, ist seine Welt.«82 Unzählige Male bedienten sich fantasiegeladene Themenarchitekturen für apenninische Assoziationen am Campanile und am Dogenpalast Venedigs, in verschiedenen Varianten bannten sie die Grazie der Lagunenstadt in Las Vegas, Macao und im türkischen Antalya. Ein zweites Portofino steht in Orlando, ein Trevibrunnen am Ceasars Palace, eine Ponte Vecchio überspannt sakrilegisch den Lake Las Vegas – aber niemand kam bisher auf die aberwitzige Idee, das rot lackierte Stahlfachwerk des Stadiondachs des Giuseppe Meazza als Italienimpression zu inszenieren.83 Und das ist nicht nur ausgefallen, es entlastet zudem die empfindsamen Augen italophiler Kulturaristokraten, die hier keine Heiligtumsschändung eines ihrer Baudenkmäler erdulden müssen. »It’s the Disneyland Virus. There’s no known cure.« 84 Der ultimative Triumph Dubais im Buhlen um internationale Aufmerksamkeit, die superlativischen Landgewinnungsarbeiten der Palm Jumeirah, riefen unter den geltungsbedürftigen Golfmetropolen natürlich bald Nachahmer auf den Plan. Seine in Rivalität verbundenen Nachbaremirate beabsichtigten beinahe allesamt, es Dubais wunschgeleiteter Illusion einer Weltstadtgeltung gleichzutun und sich mit ähnlichen ikonischen Inselurbanismen, die sich mit der symbolischen Repräsentation ihrer Stadt verknüpfen lassen, als Investitionshub und Urlauberparadies anzubieten. Die auch durch die anfänglichen spekulativen Wertzuwächse der Palm Jumeirah (am Makler-Zweitmarkt einer blubbernden Immobilienblase) angetriebenen Inselambitionen mit marktgängigen »Dubaization«-Architekturartikel zerrüttete dann ab 2009 allerdings naturgemäß die Finanzkrise, die auf der Arabischen Halbinsel auch eine Art städtebauliche Adoleszenzkrise wurde. Neben der Inselgruppe Amwaj Islands in Manama im benachbarten Bahrain überstand nur die katarische Variation einer ikonischen Landaufschüttung die Marktturbulenzen in den schlimmsten Tagen der Wirtschaftskrise. Sie heißt The Pearl und verkauft sich mit dem Branding »The Riviera Arabia« als exklusive Ferienenklave mit Yachthäfen, Nobelresorts, Luxusappartements und Flaniermeilen, die sich in einer themenarchitektonischen Erzählillusion vitaler Urbanität versuchen. The Pearl dekliniert sich durch die lebensstilorientierten Symbolproduktionen neoliberaler Globalität, jenen kommerzialisierten Organisationsformen touristischer Ortsfixierung, wo eine »park-like atmosphe82 83
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Debord: 1996, S. 35 Und wenn sich freilich nicht jedem Touristen, dem Rudi Völler sein »Neckermann macht’s möglich« versprochen hat, auch die Nachahmung des Giuseppe Meazza Stadions assoziativ erschließt, so doch wohl den vielen Profispielern, die im angrenzenden Trainingszentrum samt MövenpickResort Quartier beziehen. Richman: 1995, S. 228
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re of […] themed areas means that living in itself becomes a form of recreation. Leisure, work, shopping, residence, sightseeing are all collapsed into one experience. Increasingly, people live as tourists in their own city.«85 So gesehen scheint hier der Geist der globalistischen Epoche selbst zu sprechen. Auch wenn The Pearl mit seiner städtischeren Ausrichtung in Wahrheit stärker der Dubai Marina ähnelt als dem abgekapselten Hydro-Suburbia der Palm Jumeirah. Bei seiner Fertigstellung werden 50.000 Menschen den künstlichen Archipel besiedeln, dessen Namen sich auf an diesem Küstenabschnitt liegende Riffs bezieht, die als Tauchplatz der Perlenfischer dienten. Eine Reminiszenz an die einstige Perlenfischerei am Persischen Golf entwickelt auch das Luftbild. Zwei perlenförmige, abgezirkelt kreisrunde Marinas, zuständig für städtebauliches Spektakel auf The Pearl, sind in die aufgeschüttete Landzunge eingeschnitten. Die kleinere der beiden Buchten, den mit Sandstrand ausgeschlagenen Viva Bahriyah, umstellen kreisförmig positionierte Beachhotel-Hochhäuser. An der größeren Marina, den von dem amerikanischen Branchenriesen CallisonRTKL gestalteten Porto Arabia, lagert ein umlaufender Waterfront-Fußgängerboulevard mit szenisch orientalisch-mediterranen Ladenzeilen und Arkadengängen, ein holistisches freizeitindustrielles Jon Jerde-Setting, und dahinter nach der gleichen Bildidee aufragende Appartementtürme. Wuchtige, 23geschossige Penthouse- und Condo-Klötze, die einen gleichzeitig eindrucksvollen und monströsen Monumentalismus herstellen.86 Dabei ist die Architektur der 31 aufgefädelten Appartementtürme eigentlich unbeträchtlich. Sie entbehren Stil. Sie sind reizlos, monoton, so langweilig wie der Rundkurs der Radsport-WM, die hier auf der Kunstinsel ausgefahren wurde. Die massigen Türme sind bis auf die mit flachen Zeltdächern abschließenden Staffelgeschoße kaum gegliedert und variieren nur in der Fassadenfarbe zwischen Ocker, Beigetönen und hepatitischem Gelb. Die touristischen Bilder, die sie erzeugen, beschwören weniger Portofino denn Benidorm.87 Es ist an der palmengeschmückten Flaniermeile der Marina, die bezeichnenderweise La Croisette heißt, die Monstrosität der CondoUntunlichkeiten zu einer resonanten touristischen Ortskonstruktion zu verlebendigen. Dabei verspricht das themenarchitektonische »place-making« von Callison-RTKL keinen Zenit simulationsästhetischer Traumfabrikation. Jedoch befolgen die kommerziell organisierten Vollzüge eines touristischen Lebensmodelles routiniert die erfolgreichen Jon-Jerde-Illusionstechniken und schaffen eine vielgestaltige Fassadenkulisse, die sich atmosphärisch als Imitation städtischer Typologien mit »urbaner Aufenthaltsqualität« auflädt. Hierzu arrangieren Callison-RTKL Mediterranes mit eingefügten OrientGenreszenen wie Hufeisen- und Zackenbögen, Chhatris, tabakfarbenen hölzernen Maschrabiyyas und Pergolen. 85 86
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Ackley: 2005 The Pearl ist der einzige Sektor Dohas mit »freehold properties« – wo Nicht-Staatsbürger Grund und Boden erwerben dürfen. Der urbanen Vitalität ist das aber natürlich abträglich, da die Appartementtürme nun ähnlich wie in der dauerverwaisten Dubai Marina Saudis, Iranern und anderen kaufkräftigen Ausländern als kaum genutzte Dritt-, Viert- oder Fünftwohnsitze dienen. Follath hat diesen Vergleich 2006 noch gegenteilig pointiert: »In Katar gilt Dubai als vulgär, als protzig, als neureich, als vermasst. In Katar will man nicht Benidorm spielen, sondern Portofino. Dubai oder nicht Dubai, das ist gar nicht mehr die Frage.«; Follath: 2006
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Im Rückraum der Porto Arabia befinden sich das Nobelresort Marsa Malaz Kempinski, ein in eine eigene Laguneninsel gepflanzte Palastanlage, die wie ein themenarchitektonischer Flakon ein Odeur der Welt der Superreichen versprüht, indem es den arabisierten Schein-Barock des Palace of the Emirates in Abu Dhabi aufträgt. Und das von verschwommenen Venedig-Bildern heimgesuchte Qanat Quartier. Ein Retorten-Sestiere aus pastellfarben verkitschten, mit aufgepappten Gesimsen und Balustraden italianisierten Appartement-Riegeln und milchig-türkisen Kanälen. Wie auch der Villagio Mall ist dem Qanat Quartier die schwelgerische Schönheit Venedigs, ihr Sinn für wassergespiegelte und im Licht flimmernde ätherische ArchitekturPhantasmagorien natürlich nicht annähernd aufgegangen. Das Inspirierende und Tiefsinnige der tausendjährigen Stadtbaukunst, die der Welt eine »einzigartige Synthese zwischen dem imperialen Osten […] und dem barbarisch-romanischen Norden […], später eine Synthese des Gotischen mit dem Byzantinischen«88 schenkte, lässt sich im Qanat Quartier nicht im Geringsten ausmachen. Eine Unendlichkeit des Fühlens tut sich hier nicht auf. Und erst recht nicht jene eigene Selbsterhöhung im Eindruck von Schönheit, die der venedigbegeisterte Joseph Brodsky registrierte. Denn es sind »die marmornen Filigrane, die Einlegearbeiten, Kapitelle, Brüstungen, Reliefs und Kehlungen, die bewohnten und unbewohnten Nischen, die Heiligen, Scheinheiligen, Jungfrauen, Engel, Cherubim, Karyatiden, Sockel, die Balkone mit ihren geschwungenen Schalungen und die Fenster selbst, seien sie gotisch oder maurisch, die einen eitel machen. Denn es ist die Stadt des Auges; […] Wie die Tönungen und Rhythmen der hiesigen Fassaden die ewig wechselnden Farben und Muster der Wellen zu sänftigen versuchen – das allein schon könnte einen dazu bringen, nach einem modischen Halstuch, einer Krawatte oder was auch immer zu greifen«89 . Die katarische Lagunenstadt leidet dagegen unter narrativer Atrophie. Eine bessere Venedig-Reminiszenz bilden selbst noch die ausufernden Raffinerie-Strukturen der Erdgasverflüssigungsanlagen Ras Laffan, die immerhin die industriearchitektonische Grandiosität der adriatischen Chemiefabriken von Porto Marghera besitzen.90 Qanat Quartier ist eine Sinnenbeleidigung, eine berechtigte Zielscheibe des Ressentiments jener, denen bei »Theming« der Brechreiz in den Mund steigt.91 Dabei ist das RetortenSestiere eigentlich gar kein themenarchitektonischer Plagiarismus, mit Ausnahme einer miniaturisierten, gestauchten und ihrer Majestätik beraubten Rialtobrücke, die sich 88 89 90
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Braunfels: 1977, S. 76 Brodsky, Joseph: Ufer der Verlorenen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2002, S. 24 Generell passt der Vergleich mit der historischen Handelsstadt Venedig, wie Jim Krane zusammenfasst, aber weit besser für Dubai als für Doha: »Venice, like Dubai, lacked natural resources, but grew ostentatiously wealthy and studded with palaces and cutting-edge architectural icons. Both cities leveraged duty-free trade and lured investment and the smartest minds from the surrounding region. Dubai, like old Venice, survives as an island of enlightenment in a sea of religious fundamentalism. Both cities provoked a backlash for their tolerance. Venice was pilloried by the papacy for trading with Muslims. Dubai gets excoriated by Muslim hardliners for catering […] a hedonistic lifestyle replete with pork, alcohol, and prostitution.«; Krane: 2009, S. 12 »Die Heimat des Superlativs ist nicht mehr das Abend-, sondern das Morgenland. Eine Einsicht, die Verlust bedeutet? Sicher nicht, wenn kitschiger Disneyland-Pomp für bloßes Wachstum sorgen soll.«; Dahn: 2008
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über einen der Kanäle zwischen den neapelgelben, babyblauen, orientroten und hellrosa Appartement-Bunkern spannt, gibt es keine Bauwerksimitationen. Vielmehr wird mit einem infantilen Naivitätsideal die veneto-byzantinische Architektur, werden ihre Gesimse, Kapitelle und gotischen Fensterbogen zu groben Formübereinstimmungen veroberflächlicht und alle filigranen Details der venezianischen Maßwerkskunst wie Vierpässe und Zierfialen gleich ganz unterschlagen. Man wünscht sich, der Dunst der Wüstenluft, der sich im Meer verliert, möge sich wie der schwermütige Nebel des herbstlichen Venedigs über den Stilblütenzauber des Qanat Quartier legen und seine nicht eben erfreulichen Erscheinungen verdecken. Anders als in Venedig, wo, wie Brodsky schrieb, »der örtliche Nebel, die berühmte Nebbia, diese Stadt noch außerzeitlicher macht als jeden Palastes Allerheiligstes, indem er nicht nur die Spiegelungen auslöscht, sondern alles, was Gestalt hat: Gebäude, Menschen, Kolonnaden, Brücken, Statuen«92 , würde aber auch das keine ästhetische Erfahrung erwirken, sondern nur eine nicht-ästhetische vermeiden. Denn dem Qanat Quartier fehlt zur Gänze, was Simulationsästhetiken interessant macht: eine überschießende, ihre Gemachtheit markierende Inauthentizität, der es gelingt, den Referenten in seinen nicht weniger kontingenten Entstehungsbedingungen rezeptiv für Neubeschreibungen mitzuerschließen. Doch dies ist eben ein Ort für eine schnelle und vordergründige touristische Konsumtion – schließlich heißt Reisen in Bewegung zu bleiben. Und dies ist nicht nur eine Kompensationstechnik, wie der Fetisch der touristischen Weltbereisung zeigt, wo »geographische Mobilität in vielen Fällen nichts anderes [ist] als der Versuch, das Defizit geistiger Mobilität auszugleichen«93 . Die touristischen Orte selbst setzen dieses Bewegungsgesetz fest, wie Michael Sorkin schrieb: »The only way to consume this narrative is to keep moving, keep changing channels, keep walking, get on another jet, pass through another airport, stay in another Ramada Inn.«94 Es geht immer weiter … hinter The Pearl wird schließlich die nächste katarische Städtebau-Megalomanie auffahren, die Planstadt Lusail City. Ein weiteres pseudo-metropolitanes Reißbrett-Großprojekt einer »Edge City«, einem von der Zentralstadt unabhängigen urbanen System mit duplizierten Funktionen, diesmal »[u]nlike the Pearl, […] a city built in the desert, its waterfront sculpted via subtraction rather than a addition of earth. […] Lusail is an instant city with: its own corniche, a self-contained transit system, a water desalination plant, and complementing themed districts.«95
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Brodsky: 1991, S. 43 Matzig: 2011, S. 126 Sorkin: 1992, S. 232 El Samahy/Hutzell: 2010, S. 186; Die Lusail City des staatlichen Immobilieninvestors Qatari Diar wird eine Stadt für eine Viertelmillion Menschen, die nur mit internationalem Zuzug besiedelt werden kann. Eine Zielklientel werden die Beschäftigten der Erdgasindustrie in Ras Laffan sein. Doch zweifelsohne kreiert Lusail City einen »›significant overhang‹ of property, making a challenging reality that could impact Qatar’s overall economy – unless Qatar creates new jobs. […] The challenge for Qatar is now to attract a sufficient number of new residents to feed the supply of its property market.«; Camara, Daniel/Khoubrou, Mitra: »Qatar 2009. Weathering the Crisis«, in: Todd Reisz (Hg.), Al Manakh 2. Gulf Continued, Amsterdam: Archis 2010, S. 152
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Und dann wartet die italianisierte Ultra-Luxus-Themenmall Al Hazm auf ihre zahlungskräftigen Besucher. Ein prunkender neuklassizistischer Palastbau, der in mehr als einer Ansicht unmissverständlich Mailands Galleria Vittorio Emanuele II nachbildet – die berühmteste und eleganteste Einkaufspassage des 19. Jahrhunderts, eine Mall, die genug Geschichte und Ästhetik besitzt, um selbst Kulturgut zu sein. Al Hazm will diese architektonischen Zitate allerdings nicht nur als eine abstrakte Würdigung der Galleria Vittorio Emanuele II verstanden wissen, denn sie begreift sich als Rivalin, buhlt unmittelbar um die Kreditkarten jener superreichen Araber, die ihre Kaufbedürfnisse ansonsten nur in den Glamour-Faktor-Designerläden an Mailänder und Pariser Adressen befriedigen. Die Al Hazm erweckt zwar in vielem einen Eindruck des Frivolen und Philiströsen. Allein in ihrem simulationsästhetischen Aufwand ist sie aber eine Augenweide, die sich nicht nur mit den leichten Ungereimtheiten ihres Erlesenheitsgetues, ihrer unabsichtlich pikaresken imperialen Prächtigkeit in einträglichen Assoziationen verliert. Der Haupteingang führt einige Fassadendetails des Triumphbogen-Portals der Galleria Vittorio Emanuele II am Domplatz, die korinthischen Säulen und lombardischen Rundbogenfenster, und ergänzt sie um eine kleine vorgelagerte gläserne Pyramide, die bis hin zur rautenartigen Glasteilung den Louvre imitiert. Er übernimmt den Perspektivismus des sich hinter der renaissancistischen Kassettendecke des Haupteingangs mit stilisierten Gusseisenträgern zu einer riesigen Kuppel sich verjüngenden gläsernen Tonnengewölbes. Und die Geschäftspassage der Haute Couture-Boutiquen und Delikatessenläden hat eine mit strukturreichem weißem Marmor verkleidete Arkadengliederung mit Blendsäulen und Flachreliefs, die die Luxusmall zwar auch nicht zwingend an innerer Würde gewinnen lässt, aber allein in ihrer Üppigkeit zu einer Attraktion machen. Das Erstaunlichste an der Al Hazm ist allerdings der Umstand, dass die neuklassizistischen Palastfassaden und Passagengänge, entgegen jeder – durch ästhetisch ähnliche Las Vegas-Spektakel geschulten – Erwartung kein materiell inauthentisches Kulissendasein aus Fiberglas, Gipskarton und Stucco lustro bietet, sondern importierten Marmor aus Italien und Jerusalem durch Steinmetze behauen beziehungsweise fräsen ließ. Al Hazm liefert die sinnverwirrende Irritation einer materialästhetischen Authentizität, die man hier nicht erwarten würde und vielleicht gar irgendwie deplatziert findet in einer dieser mesmerisierenden Golf-Möchtegern-Metropolen neureicher Protzigkeit. In einer Wüstenstadt, in der allein die Hitze, die über die Straßen flirrt und zittert, alles unwirklich erscheinen lässt. In einer simulationsästhetisch geprägten Stadtlandschaft mit amerikanisiertem Caesars Palace-Massengeschmack, der »Lucullan feasts in flocked and guilded Styrofoam rococo splendor« feiert und alle althergebrachten materielle Authentizitätserwartungen an die Architektur längst mit »wirklichkeitswidrigen« Simulakren unterlaufen hat, wie Huxtable diagnostizierte: »No one raised on Cinderella’s Castle finds the place or the pretense incongruous.«96
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Huxtable: 1997, S. 94
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»Dubai,shimmering like a mirage,never had the money.Saudi Arabia,with a conservatism born of a Bedouin sense of life’s caprice, never had the ambition. Doha now has both« 97 . Aber auch wenn hier vieles im Argen liegt, ist Doha natürlich nicht nur eine architektonische Karikaturenfabrik, ein verunglückter, widerwärtiger Architainment-Jahrmarkt, der die Geschmacklosigkeit der ästhetischen Präferenzen der Scheichs zum Ausdruck bringt. Man findet – wie selbstverständlich in Dubai auch – nicht nur die architektonischen Catchphrases eines triumphierenden Kapitalismus, die sich unkultivierten Gaumen schmackhaft machen, und die Repräsentationsnaivität prahlerischer Scheichs, die ihre Ruhmesgefühle berahmen lassen. Katar avancierte in den 2010ern zu einem Lieblingstummelplatz der internationalen Stararchitektengilde. Als eines der wenigen verbliebenen Refugien baukünstlerischer Paradiesunschuld. Eine letzte Welthauptstadt der Baukräne, die nicht durch die Kalamitäten des Finanzcrashs auf die Nase gefallen war und mit dem Wirtschaftsabschwung die städtebaulichen Megalomanien zurückfahren musste. Allerdings zu sagen, bei den Interventionen der westlichen Architekturszene würde die Stadt wieder Vernunft annehmen, sich zusammenreißen, wäre zu einfach. Denn diese ist natürlich auch in Katar in Praxiszusammenhänge eingebunden, die ihre Bauideen wahlweise als Vermarktungstrumpfkarten des »City-Branding« in der Spektakelwirtschaft des Marktes einspannen oder als Genussmittel für Saturierte und Mächtige beanspruchen, die nicht unbedingt auf widerständige Erfahrungen aus sind.98 Eine Gegenwartsarchitektur, die nicht unbedingt in Verdacht gerät, sich das Gehirn wundgedacht zu haben und Avantgardismus primär als Sinnentaumel bauplastischer Verstiegenheit interpretiert, läuft da natürlich Gefahr, in einen rein ästhetizistischen Radikalismus abzugleiten, in eine bildverliebte »Anaesthetic«, die Neil Leach als eine der drängenden Zeitfrage der Architektur ausmacht: »Rather than being ›radical‹ in the true sense, architects are all too often complicit with the workings of the economic and politital status quo. […] There is a danger in confusing a radical aesthetics with a radical politics, and of conflating the aesthetic with the political […]. A radical aesthetics may in fact mask and even promote a reactionary politics. Architectural culture will always be susceptible to a reactionary politics«99 Die Frage ist weniger, inwieweit Bauaufträge in Katar anzunehmen, zwangsläufig einem kapitulativen Sich-Arrangieren mit diktatorischen Verhältnissen, die den Menschen einer neuen Barbarei zutreiben, gleichkommt, sondern ob die »starchitects«, die Katar ihre Aufwartung machen, an einer nicht-ästhetischen Radikalität überhaupt interessiert sind. Einer der illustren Gäste ist Jean Nouvel, der mit dem Doha Tower und dem National Museum of Qatar ein üppiges Reifen seiner Kunst präsentiert. Mit Gebäuden, die zwar der Nachfrage nach Ikonizität Genüge tun, mit Pathos ins Stadtbild platzen, dabei 97 98
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Shadid, Anthony: »Qatar’s Capital Glitters Like a World City, but Few Feel at Home«, in: The New York Times, 29.11.2011 »[W]hat has been emerging out of the social and material production of Dohas’s new spaces is a specific urbanity, which functions as the city’s membership card for joining the club of global cities«; Adham: 2008, S. 251 Leach: 1999, S. 69
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aber der individuellen Bauaufgabe und Nouvels genialischen Eingebungen geschuldet sind und nicht als »Signature Buildings« der eigenen Marke. Mit dem 2012 fertiggestellten, 232 Meter hohen Wolkenkratzer Doha Tower schuf Nouvel seinem Bauherrn, einem kunstsammelnden Al Thani-Prinz, ein singuläres Architekturkunstwerk inmitten der phallischen Blüten der Westbay-Skyscraper. Zwar ist die Zeichenhaftigkeit des zylindrischen Turms, der Nouvels Torre Agbar in Barcelona gleichkommt, eine assoziativ nicht unverfängliche, da sie an einen riesigen Tampon aus Stahl und Glas denken lässt. Die dem skulpturhaften Glaszylinder aufgespannte, graphisch anmutende Fassadenhaut unterschiedlich lichtdurchlässiger Maschrabiyya-Schichten, die einmal mehr Nouvels verliebte Schwäche für Arabesken zeigt, verursacht allerdings einen süßen Tumult der Sinne. Eine für die Bauten des französischen Stararchitekten typische erhabene Gefühlsspannung zwischen Manierismus und Immaterialität. Die unscharf gestrickte Fassadenhaut aus unterschiedlich skalierten und unterschiedlich dichtmaschigen Aluminium-Arabesken ist eine zwar unverhältnismäßig aufwendige, aber ästhetisch faszinierende Maschrabiyya-Interpretation, die stilistisch sauber und frei von Affektiertheit zwischen arabischer Kultur und westlicher Modernität vermittelt. Nicht unähnlich Nouvels Institut du Monde Arabe in Paris, dessen langgestreckte Südfassade Maschrabiyyas als Batterie metallener Irisblenden interpretierte, die sich sensorgesteuert auf die Lichtverhältnisse einregulieren, weiten und verengen. Der mehrschichtige Fassadenaufbau schafft eine erhabene, luzide Lichtarchitektur unterschiedlicher Transparenz- und Verschattungsgrade und speziell in der Kuppelspitze des Turms eine visuelle Beglückung, wenn blendendes Sonnenlicht durch die Aluminium-Arabesken flutet. Das National Museum of Qatar überführt die inklinierte kulturelle Synthese in einen bauplastischen Symbolismus. Nouvel zeichnet eine komplexe tektonische Kollisionskomposition verschneidender Scheibenformen, die aussieht wie ein kunstvoll geschlichteter Stapel Geschirr in der Spüle, in Wirklichkeit aber das Kristallgebilde einer Sandrose nachahmt: »the building’s dozens of disclike forms, intersecting at odd angles and piling up unevenly atop one another, celebrate a delicate beauty in the desert landscape that is invisible to those who have not spent time there.«100 Das National Museum of Qatar will das ultimative Wahrzeichen der Stadt sein, dass eine dramatische architektonische Skulptur mit symbolischer Kulturrepräsentanz und intellektueller Hintersinnigkeit verbindet. Das unterscheidet die jüngste katarische Landmark-Ambition von Ieoh Minh Peis 2008 fertiggestelltem Museum of Islamic Art, das seine Übertragung arabischer Bautradition zwar repräsentationsbewusst, aber ausdrücklich antithetisch, als Parallelaktion zur Dubai-Bauästhetik arrangiert – zu dem gemeinen Trachten der Zeit mit wie unter Fieberschauern zitternden Skyscraper-Ikonen einerseits und den Rückswärtsträumen balsamisch simulierter »Heritage«-Atavismen andererseits. Zwar hat der Museumsbau allein durch seine Lage, als in der türkisen Bucht schwimmende sandsteinerne Festung, einen unmissverständlichen Wahrzeichenstatus und auch die diszipliniert kubistische Baumassenstapelung, bei der sich Pei auf den Waschungsbrunnen der Kairoer 100 Ouroussoff, Nicolai: »Celebrating the Delicate Beauty of the Desert Landscape«, in: The New York Times, 22.3.2010
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Ibn-Tulun-Moschee bezieht, ist auf eine ikonische Wirkung ausgerichtet. Das Nüchterne und Distanzhaltende der scharfkantigen, mit muschelfarbenem Kalkstein gediegen gekleideten Kubatur spielt aber mit Absicht den visuellen Gegensatz zu den »Dubaization«-Imperativen an der gegenüberliegenden Seite der Bucht, der tumultuarischen Skyline der Westbay, aus. Das Museum of Islamic Art wirkt wie eine Disziplinierungsaufgabe des ästhetischen Systems der Golf-Architektur. Allein aufgrund der vielen hier versammelten klingenden Namen findet auch der Universitätscampus der Education City im Hinterland architekturpublizistische Beachtung. Die erstaunlichsten Einzelbauten des Geländes, das hier zugekaufte Franchises namhafter amerikanischer Partneruniversitäten ansiedelt, sind die ikonisch bauplastische Qatar Faculty of Islamic Studies der Londoner Mangera Yvars Architects, mit einer sehr gegenwartstauglichen, an Zaha Hadid erinnernden Architektursprache amöboider, fließend-bauchiger Schwünge, die auch im materialen Fassadendetail mit einen kleinteilig triangulierten Plattenbelag fasziniert, und das Qatar National Convention Centre von Arata Isozaki, der auch den Masterplan des Campus verantwortete. Ein behälterhafter Kubus mit Glashaut, der an seiner straßenzugewandten Längsfassade skulpturale, einem Sidrabaum nachempfundene, riesenhafte Äste das auskragende Dach tragen lässt und das Gebäude damit mit Symbolkraft belädt. Das Planungsniveau der Education City und die Präsenz der internationalen Universitätsfilialen allein spiegeln zu einem gewissen Grad den gesellschaftlichen Wandel Katars wider, im städtebaulichen Außenbezug sind die flach hinsinkenden, asthenisch-suburbanen Campusbauten aber natürlich nicht einmal eine Palliativbehandlung der »Dubaization«-Übel. Eine Urbanität, die diesen Namen verdient, will das Mixed-Use-Stadtquartier Msheireb Downtown Doha heranbilden. Diese Initialzündung innerstädtischen Revitalisierung forciert die Formung eines engeren, belebteren Gemeinwesens über eine Gentrifizierungsoffensive.101 Sie reagiert auf den gesellschaftlichen Wahnsinn des arabischen Kapitalismus, darauf, dass »[e]merging cities face particular challenges to establishing sustainable urbanism due to reduced public control, ever-exchanging ›airport‹ societies and speculative real estate markets.«102 Mit Msheireb versucht Doha dem erdrückend berühmten Dubai, das für ein Massenpublikum außerhalb der akademischen Architekturzirkel unser Gegenwartsverhältnis bestimmt, nicht nur im Inszenierungs- und Erscheinungsbild einer insistierten Weltstellung zu equilibrieren, sondern stadtkulturelle Schlüsselindikatoren zu erfüllen, über die das Nachbaremirat mit dem Fame – halb Stadt, halb Transitraum – nicht verfügt. Die Milliardeninvestition in das seit 2010 staatlich entwickelte Stadtviertel ist Dohas »struggle for the identity of the city center, both in demographic and aesthetic
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In seiner städtischen Wirkung ist Msheireb zuallererst eine Gentrifizierungsinitiative, die sich gegen die Belegung der innenstadtnahen Stadtteile mit Arbeitsmigranten aus der unteren Mittelschicht richtet. Denn: »By the turn of the 21st century, the hearts of these cities no longer appealed healthy. The housing stock has been rented by waves of successively poorer expatriates […]. With lower rents, property owners invested less in maintenance and the built environment appeared worn out, neglected and unsightly.«; Pallathucheril, Varkki: »New Hearts for two Gulf Cities«, in: Architectural Design, 1/2015 102 Salama/Wiedmann: 2013, S. 7
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terms«103 . Der Masterplan des britischen Architekturbüros Allies and Morrison implementiert städtische Dichte und bauliche Nachhaltigkeitsstandards, eine multifunktionale Urbanität freier, aber verschatteter Aufenthaltsbereiche und feingestrichelte Überführungen traditioneller arabischer Bautypologien in eine rationalistisch-minimalistische geprägte Architektursprache. Msheireb richtet sich gegen die Suburbanisierung, »seeks to reverse a trend that has impacted all Gulf cities, namely the move by citizens to homes in increasingly sprawling suburbans locations. […] [M]oving these families back to dense urban settings presents significant challenges, not the least of which is the deepseated need for privacy in the people of the Gulf.«104 Stadtästhetisch prägen die über einhundert Einzeladressen, für die namhafte westliche Planungsbüros wie Allies and Morrison, David Adjaye, HOK, Gensler oder Michel Mossesian verantwortlich sind, eine Antihaltung zu den funkelnden Aphrodisiakas Dubais, minimalistische Entsagungsästhetiken. Ihre Natursteinfassaden sind in einem steifen, disziplinierten, geradezu asketischen Stil gehalten. Es herrscht eine strenge, lokale Gepflogenheiten reminiszierende Moderne. Ein trockener Skeptizismus der Formen. Eine differenzierte Verdichtung der Kubaturen, die versucht, selbst genährte Erwartungshaltungen abzuschütteln und ein städtisches Reifestadium anzuvisieren, dass auch die publikumswirksamsten Dubai-Urbanismen nicht zu bieten haben. Msheireb spielt die Karte der auktorialen Authentizität eines geschichtsbewussten architektonischen Gestaltungsantriebs, ist aber natürlich selbst eine nachträgliche Bemäntelung der katarischen Baugeschichte, die ihre diskret transkripierten Zitate nur in der vernakulären Tradition zu finden glaubt, nicht jedoch im eigenwilligen, groben Beton-Modernismus der »Oil Urbanization«, der jenes Stadtviertel ästhetisch prägte, das für Msheireb die Stahlbirne traf: »Like a projects that look backward to go forward, Msheireb is by definition a case of selective memory. The project reaches back to a distant past at the expanse of the more immediate past of the 1970s, when this area was redeveloped from a traditional neighborhood of the town to a modern district of the city.«105 Die Selbstdeutung der Moderne, die Msheireb offeriert, die hervorgehobene regionale und ökologische Sensibilität, sieht nicht, wie sehr ihr Telos dem der wegbereitenden Modernisten der »Oil Urbanization« gleicht. Sie ignoriert so die Möglichkeiten, die sich eröffnen würden, wenn die historischen Bedeutungsentlehnungen über eine zweite Rezeptionsebene gespielt werden würden. Die Bewusstseinslage der »legitimen« Westarchitektur in den Retorten-Metropolen des Persischen Golfs kennzeichnet jedoch noch ein anderes bauästhetisches Unverständnis, das sich gravierender auswirkt als die liegengelassene Chance, den Vorreitern der »Oil Urbanization« eine Referenz zu erweisen und über retro-romantische Neudeutungen einen rezeptiven Verlebendigungsprozess von Dohas Petro-Modernismen einzuleiten. Es ist das Unverständnis der in Katar beschäftigten Westarchitektur gegenüber dem Akzidentellen, Simulativen und Sekundaristischen der dubaistischen Hyperurbanismen, ihrer mal beabsichtigten, mal unbeabsichtigten Inauthentizität.
103 El Samahy/Hutzell: 2010, S. 188 104 Pallathucheril: 2015 105 El Samahy/Hutzell: 2010, S. 188
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Zwar greifen die Stararchitekten, als die Virtuosen ästhetischer Alleingänge, die sie sind, natürlich das eine dubaistische Architektursignum, das Ikonische, auf. Für das andere Signum, das Künstliche, haben sich aber augenscheinlich keinen Sinn. Beziehungsweise vermeiden sie absichtlich, an der auf einen affektdiktierten massenmedialen Eskapismus ausgerichteten Image-Industrie anzustreifen, die eine Entsinnlichung und Entwirklichung des Daseins verursacht, indem sie die Herstellung von »PseudoEreignissen« betreibt. In Doha, dieser sekundaristischen Stadt, die zu lange den Sirenengesängen Dubais gelauscht hat, wirken Architekturen baukünstlerischer Wahrhaftigkeit und materialästhetischer Aufrichtigkeit aber nicht nur fast wie Geisterfahrer. Sie vernachlässigen nicht nur ein grundsätzliches architekturästhetisches Charakteristikum der deklarativ künstlichen, ephemeroiden Golfmetropolen, die wie als Millionenstädte aufgeblasene Warnungen Boorstins wirken, dafür, das wir »im Zeitalter der schönen Täuschungen« leben und das Künstliche »bereits so alltäglich geworden [ist], daß das Natürliche erfunden zu sein scheint.«106 Diese Architekturen verlieren sich, indem sie sich in den Authentizitätsfiktionen des künstlerischen Ausdrucks und der Materialaufrichtigkeit verschanzen, fast zwangsläufig in ein philosophisches Lager, das weiter essentialistische Wert- und Entscheidungsbegriffe, eine Zentrierung und Essentialisierung von »Wesenheiten« des Echten prolongiert, anstatt im Angesicht irisierender Künstlichkeit und Inauthentizität zu einem historistischen, nominalistischen Kulturverständnis zu gelangen, das die abendländische Metaphysik hinter sich lässt. Sich für diese architekturkritische Alternative, die den philosophischen Authentizitätsjargon über die Klinge springen lässt, stark zu machen und sich bewusst in einen Strudel der Simulationen und Hyperrealitäten ziehen zu lassen, um die katarischen Inauthentizitäten in interessanten, auf Krawall gebürsteten Narrationen weiterzufabulieren, heißt jedoch weder, die Kräfte zu bejahen, die diese Künstlichkeiten fabrizieren, die in Dohas Metropolentremolo regierenden »voodoo economics« neoliberaler Globalisierung und ihre Logik der Konsumökonomie gutzuheißen. Noch bedeutet es, dem Architekturdiskurs die mächtigste Waffe aus der Hand zu schlagen. Denn in was für eine Lade man diese gegenwartspralle dubaistische Stadt des Inauthentischen auch tut, diese im Fieber der Dämmerung glühende, unwirkliche Inszenierung, diese, um nur das Mindeste zu sagen, diskussionswürdige Imitation – Doha sitzt auf dem Karussell der Zeit: »a big part of Doha’s appeal is seeing history in the making. […] [I]n this nascent metropolis you can see the future.«107 Und in dieser Zukunft der Architektur wird die Authentizitätskategorie ihre Autorität fast unausbleiblich einbüßen. Diese Zukunft wird kitschiger und unkultivierter sein, vielleicht auch stilistisch undefinierter und freier. Auf alle Fälle aber wird sie ihre bisherigen ästhetischen Begründungsdiskurse suspendieren. Denn die emergierenden Scheichtümer des Persischen Golfs betreiben eine selbstbewusste Entbürdung von den Schönheitsvorstellungen des Westens, die jenem nicht nur die Nerven zerreibt, sondern auch die architekturästhetischen Adjektiva.
106 Boorstin: 1991, S. 330-331 107 Cook, William: »Art and architecture in Qatar«, in: British Airways Highlife, 28.8.2012
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Man die kamerageile Dubai-Architektur, die sich wie eine Infektion zu verbreiten scheint, natürlich aus Verachtung für ihre Banalität verurteilen. Sie aber gänzlich aus der ästhetischen Betrachtung herausfallen zu lassen, heißt, das eigene Verhältnis zur historischen Zeit zu beschränken. – Darum. Sieh sie an, ertrage sie ganz.
Schluss: Nach dem Authentischen
Eine Architekturästhetik des Inauthentischen kann eine emphatische Wahrnehmungsfähigkeit für Unglaubwürdigkeiten, Fragwürdigkeiten und Künstlichkeiten in den Beglaubigungsstrategien kultureller und künstlerischer Authentizitätszuschreibungen ausbilden, ein anti-essentialistischen Perspektiv bereitstellen für die Konstruiertheit jedweder Echtheits- und Eigentlichkeitsverheißungen. Ohne jedoch selbst in eigene Einteilungsbegriffe zu investieren, denn entscheidend ist, wie Sven Reichardt schreibt, »nicht, was Authentizität wirklich ist, sondern wer den Begriff in welchem strategischen Sinne verwendet[]. Identitäten und Verhaltensweisen als authentisch zu erklären oder für authentisch zu halten ist […] eine politische Machtfrage.«1 Im besten Fall trägt sie zu einer ungegängelten Philosophie bei, die durch ein Anschrägen authentizitäts- und unmittelbarkeitsideologischer Narrative erhellt, wie Architektur und Kunst als Verabreichungen von Weltanschauung fungieren. Wie sie dazu dienen, »soziale Unterschiede und eingebürgerte Klassenhierarchien natürlich erscheinen zu lassen«, indem beispielsweise, wie Richard Shusterman schreibt, eine »soziokulturelle Elite ihren stolzen Anspruch auf intrinsische Überlegenheit durch privilegierte Verbindung mit der erlauchten Tradition der hohen Kunst verschleiern und dadurch legitimieren kann.«2 Im besten Fall stellt sich eine Architekturästhetik des Inauthentischen gegen jedwede diskriminierende Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit, gegen jedwede eindringliche Rhetorik, die vorgibt, Echtes von Unechtem normativ scheiden zu können, und erweitert die Freiheit, indem sie die vermeintlichen Echtheiten und Eigentlichkeiten jedweder Prothesen-Politik essentialistischer Zuschreibungen depotenziert. Gerade in der Thematisierung des Umstands, dass Authentizität »immer an eine Inhaltlichkeit gebunden [ist], an einen Horizont, auf dem Urteile über Wichtiges und weniger Wichtiges, Wertvolles und Wertloses bereits aufgespannt sind«, und im Zusammenhang mit Fragen der Identität mit dem verknüpft ist, was Charles Taylor als »starke Wertungen« bezeichnet, die »nicht in die Willkür meiner Individualität gestellt, sondern nur innerhalb eines gemeinschaftlichen Horizonts verständlich«3 sind.
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Reichardt: 2014, S. 67 Shusterman: 1994, S. 74-75 Breuer: 2000, S. 113
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Nicht allein darum, weil »es der Begriff der künstlerischen Authentizität wert ist, vor seinen eigenen Karikaturen in Schutz genommen zu werden«4 , hat eine Architekturästhetik des Inauthentischen dabei allerdings zu berücksichtigen, dass sich ihr überentwickelter Blick für Künstliches und Arrangiertes nicht allein auf ihre zeitdiagnostischen und kulturkritischen Interessen versteift und das ästhetische Denken aufgibt. Das künstlerisch intentionale und nicht-intentionale Inauthentische muss als analytische und ästhetische Kategorie artikuliert werden, die sich mit vielschichtigen kulturellen Phänomenen beschäftigt, die aus der im späten 20. Jahrhundert hervortretenden Tendenz hervorgehen, »den Authentizitätsbegriff zu metaphorisieren und vorbereitende Begriffe wie echt, wahr, unverfälscht darin zusammenzuführen.« Knallers Präzisierung, dass die mit der Karriere der Authentizitätsdiskurse »einhergehende[] Parallelführung unterschiedlicher Poetiken – die De-Autorisierung des Autors und seine gleichzeitige Apotheose, die Autonomisierung des künstlerischen Materials wie seine Abstraktion […] –, […] Autoritäts- und damit Authentifizierungsverschiebungen«5 anzeigen, muss analytisch und ästhetisch erfasst werden. Eine im Ästhetischen begründete diagnostische Erklärungskraft kann eine Architekturtheorie des Inauthentischen aber nur dann ausbilden, wenn sie die unterschiedlichen Authentizitätsdimensionen, die sich im Feld der Architektur etabliert haben, im Konkreten der Einzelheit spezifisch denunziert. Wenn man die Beglaubigungsinstanzen einer unverfälschten künstlerischen Autorschaft, Materialbeschaffenheit und Traditionsbezugnahme, auf die sich die architektonischen Diskurse des Authentischen stützen, in ihrer individuellen Gewichtung deplausibilisiert. Nur damit lässt sich eine weitausgreifende Destabilisierung jener Sprachbestände der Authentizitätsdiskurse antreiben, die zu einer Lähmung von emanzipativen gesellschaftlichen Kräften beitragen, weil in ihnen das Authentische zu einem scheinbar inappellablen Allgemeinplatz stagniert. Man muss die Instabilität und das Umkämpfte eines Begriffs radikalisieren, der gerade darum »attraktiv zu sein [scheint], weil er eher homogenisierende Konzepte wie ›Originalität‹, ›Ursprünglichkeit‹ oder ›Eigentlichkeit‹ zugunsten eines stärker reflexiven Zugangs zur Vergangenheit umzudeuten vermag und Zusammenhänge zwischen objekt- und subjektbezogenen Authentizitätskonzeptionen sichtbar macht.«6 Eine Architekturästhetik des Inauthentischen mag zwar als Unbedarftheit und Flapsigkeit im Umgang mit der Architekturgeschichte erscheinen. Eigentlich, das zeigt dieses Narrativ architekturästhetischer Inauthentizität, bringt sie allerdings in ihrer Kanonisierungstätigkeit teilweise gar nicht mal weiter gravierend abweichende Beurteilungen der hier behandelten Architekturen mit sich, sie lässt nicht alle gängigen kunstgeschichtlichen Urteile karambolieren. Die Historismus-Interpretation rückt zwar die pompösen Verrenkungen des Eklektizismus ins Zentrum, die zu einem ästhetischen Taumel aufgebauschten Überspanntheiten des Späthistorismus. Ihr gilt es, den »Reiz der überzüchteten Delikatesse, des sentimentalen (und nicht zuletzt erotischen) Raffinements der Malerei und Plastik, der
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Wenninger: 2009, S. 10 Knaller: 2007, S. 126 Sabrow/Saupe: 2016, S. 11
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prunkvollen Überladenheit der Architektur, aber auch des skurrilen Dekors […] dieser in Pomp und (auch falscher) Pracht schwelgenden zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederzuentdecken.«7 – Da aber der Hang zur stilistischen Überladenheit und zu schauspielernden Repräsentationspathetiken selbst im Blut der Meisterwerke der Epoche heftig kreiste, schließt eine Geschichte historistischer Inauthentizität nicht nur kunstgeschichtlich abgekanzelte Außenseiter wie Friedrich Bürklein, Frank Furness, Gino Coppedè, Ignác Alpár, Frigyes Schulek, Flóris Korb und Kálmán Giergl, Józef Plośko, Gavril Ter-Mikelov, Philipp Hoffmann, Felix Genzmer oder William L. Price ein. Die Beurteilungen des Historismus als bewunderungswürdige Kunst dramatischer Inauthentizität führen allenfalls zu einer Planierung gängiger Klassifizierungen, da auch seine anrüchige Seite als Triumph der Architektur beschrieben werden. Auch wäre es verkürzt, die durch eine Architekturästhetik des Inauthentischen betriebene Apologie von Rekonstruktionsprojekten historischer Baudenkmäler, wie sie die Denkmalpflege aufgrund der damit einhergehenden Unterminierung ihrer disziplinären Bestimmungskategorien zurückweist, als Attacke auf das materiell gefasste Kriterium der Denkmalauthentizität zu begreifen. Das ist sie nicht. Die materielle Authentizitätsidee der Denkmalpflege berührt sie nur indirekt, da sie herausarbeiten will, dass sich hinter dem Schleier der Authentizität weltanschauliche Ansprüche verbergen. Was sie aber vielmehr interessiert, ist, wie sich Zeitlichkeit, Gemachtheit und Ideologizität gerade in der »Lügenhaftigkeit« historisierender »Erinnerungsarchitekturen« vergleichsweise ungeschützt zeigen, und wie gerade das Inauthentische, Unseriöse und Missgestaltete zur Entlarvung illegitimer Autorität beitragen. Auch die kursorischen Kanonisierungsaktivitäten gegenwärtiger Themenarchitekturen haben nicht zwingend einen Drall ins Deviante. Im Gegenteil, sie überschneiden sich weitestgehend mit den Geschmackspräferenzen ihres »kulturindustriell« zugerichteten Massenpublikums. Denn wie alle, die an Simulationsästhetiken Gefallen finden, sie nicht als ein einziges Nein zum guten Geschmack betrachten, kapriziert sich eine Ästhetik des Inauthentischen zunächst an den ultimativen (hyperrealen wie hyperrealistischen) »Imagineering«-Spektakeln, den Klassikern der Gattung. Wenngleich freilich die unfreiwilligen Fiktionsbrüche scheiternder Theming-Fehlexistenzen, die Scheußlichkeiten uninspirierter Outlet Center-Verblödungskulissen ebenso trashästhetische Reize des Inauthentischen entfachen, in die sich rezeptiv anti-metaphysische Widerständigkeit einschreiben lässt.
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Hansen: 1970, S. 5
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Architektur und Design Daniel Hornuff
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Heilsame Architektur Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen 2019, 288 S., kart., 57 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4503-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4503-7
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