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German Pages XI, 357 [354] Year 2020
Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis
Verena Bader · Stephan Kaiser Hrsg.
Arbeit in der Data Society Zukunftsvisionen für Mitbestimmung und Personalmanagement
Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis Reihe herausgegeben von Stephan Kaiser, Neubiberg, Deutschland
Die Reihe „Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis“ beinhaltet ausgewählte Schriften, die sich mit Theorien, Konzepten und Instrumenten für fortschrittsfähige Organisationen beschäftigen. Das Themenspektrum wird dabei durch die drei Eckpunkte, Personal-Organisation-Strategie, aufgespannt. Das Fundament der Schriftenreihe bilden wissenschaftlich fundierte Dissertationsschriften mit Anspruch auf Praxisrelevanz. Angereichert wird die Reihe durch für wertvoll erachtete Sam melbände aus Wissenschaft und Praxis. Die Verfasser wollen sowohl die Wissenschaft als auch die Führungspraxis mit Interesse an zukunftsfähiger Unternehmensführung ansprechen. Reihe herausgegeben von Prof. Dr. Stephan Kaiser Universität der Bundeswehr München
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13620
Verena Bader · Stephan Kaiser (Hrsg.)
Arbeit in der Data Society Zukunftsvisionen für Mitbestimmung und Personalmanagement Mit einem Geleitwort von Hubertus Heil
Hrsg. Verena Bader Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften Universität der Bundeswehr München Neubiberg, Deutschland
Stephan Kaiser Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften Universität der Bundeswehr München Neubiberg, Deutschland
ISSN 2570-0227 (electronic) ISSN 2570-0219 Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis ISBN 978-3-658-32275-5 ISBN 978-3-658-32276-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Geleitwort Manche Dinge werden einfach nur alt – andere werden zur lebendigen Tradition. Für die Rolle von Betriebsräten und Sozialpartnerschaft in Deutschland gilt Letzteres. Seit genau 100 Jahren sorgen sie dafür, dass der wirtschaftliche Erfolg unseres Landes auch den Beschäftigten zugutekommt. Seit genau 100 Jahren gestalten sie die Arbeitswelt gerecht und nachhaltig. Das konnte nur gelingen, weil sie sich immer wieder erfolgreich an neue Bedingungen angepasst haben. Heute stehen die Betriebe und die Beschäftigten wieder vor einem entscheidenden Umbruch. Die Weltwirtschaft und die Bedeutung des Klimaschutzes haben daran ihren Anteil, vor allem aber die rasante Entwicklung hin zur Data Society. Als Bundesarbeitsministerium wollen wir sicherstellen, dass die Beschäftigten diesen Umbruch in ihrem Betrieb aktiv mitgestalten können. Dafür gibt es schon heute viele Instrumente, die wir weiter ergänzen wollen – auf der Höhe der Zeit. Zentral ist sicherlich die Mitbestimmung bei Fragen der Qualifizierung. Denn die Beschäftigten und ihre Vertreter wissen sehr genau, was sie können und was sie noch lernen müssen. Also sollten sie auch mehr Einfluss haben, wenn es darum geht, im Betrieb benötigte Kompetenzen aufzubauen und zu erhalten. Weiterbildung hält letztlich die Menschen an ihren Arbeitsplätzen und beugt zugleich Fachkräftemangel vor. Daher wollen wir die Rechte der Betriebsräte in diesem Bereich stärken. Zugleich ist klar: Wer über Digitalisierung spricht, kommt um das Thema künstliche Intelligenz (KI) nicht herum. Autonome und intelligente Systeme werden zunehmend Teil unseres Alltags und unserer Arbeitswelt. Deshalb ist es wichtig, dass Arbeitgeber und Betriebsrat wissen, welche Beteiligungsrechte es gibt, wenn KI im Unternehmen eingesetzt werden soll. In der KI-Strategie hat die Bundesregierung unter anderem vereinbart, per Gesetz ausdrücklich zu regeln, dass der Arbeitgeber den Betriebsrat frühzeitig einbeziehen muss, wenn er plant, KI im Betrieb einzusetzen. Ebenso ist vereinbart, dass Betriebsräte schneller und unkomplizierter auf externen Sachverstand zugreifen können, wenn sie mit komplexen Fragen der Digitalisierung konfrontiert sind. Denn nur wer informiert ist, kann klug handeln. Diese rechtlichen Regelungen sind ein kleines, aber wichtiges Rädchen, damit der digitale Wandel zu besserer Arbeit führt. Zugleich unterstützen wir die Unternehmen ganz praktisch dabei, die neue Arbeitswelt sinnvoll in den betrieblichen Alltag zu integrieren. Die Initiative „Neue Qualität der Arbeit“ bietet mit den betrieblichen Experimentierräumen und den kürzlich in Ostdeutschland eröffneten „Zukunftszentren“ konkrete Hilfen auf Basis von Good Practice an.
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Geleitwort
Diese Mischung aus Praxis und Recht spiegelt sich auch in diesem Sammelband „Arbeit in der Data Society“ wider. Ich freue mich sehr, dass es den Herausgebern gelungen ist, beinahe 30 Autorinnen und Autoren zu gewinnen. Mit ihren verschiedenen Perspektiven aus Wissenschaft, Politik und sozialpartnerschaftlicher Praxis zeichnen sie ein buntes und detailreiches Bild unserer künftigen digitalisierten Arbeitswelt. Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Freude beim Entdecken. Hubertus Heil, MdB Bundesminister für Arbeit und Soziales
Vorwort Datafizierung, Algorithmisierung und neue Arbeitsformen treiben im Moment die digitale Transformation in Unternehmen voran und werden seit Beginn der Corona-Pandemie immer bedeutsamer. Die einhergehenden Veränderungen betreffen Beschäftigte, das Personalmanagement und die betriebliche Mitbestimmung. In diesem Herausgeberband beleuchten die Beitragenden die Herausforderungen und Chancen von Arbeit in der Data Society aus Sicht des Personalmanagements und der betrieblichen Mitbestimmung. Ziel ist es, die Aufmerksamkeit auf moderne Formen der Beteiligung zu lenken und Ansätze für gemeinsame Zukunftsvisionen für die digitalisierte Arbeitswelt zu generieren. Zukunftsvisionen sind Vorstellungen darüber, wie die Arbeitswelt aussehen könnte und sollte. Es werden Herausforderungen und Chancen, Ängste und Wünsche beleuchtet, indem Vergangenheit und Gegenwart reflektiert werden. Eine Diskussion über unterschiedliche Visionen ist essentiell und ein demokratisches Mittel zur aktiven Gestaltung von Zukunft. Je mehr Sichtweisen an diesem Diskurs beteiligt sind, desto langsamer, aber auch nachhaltiger sind die Ergebnisse. Wir sehen gerade in diesen unteschiedlichen Sichtweisen eine Stärke, um den Herausforderungen der digitalen Transformation zu begegnen und ihre Chancen zu nutzen. In diesem Herausgeberband haben wir versucht, die Mehrstimmigkeit aus dem gesellschaftlichen Diskurs abzubilden, indem wir die Zukunft der Arbeit in der digitalisierten Gesellschaft von unterschiedlichen Positionen aus betrachten. Die Mitwirkenden an diesem Buch stammen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften. Das Buch adressiert somit einen breiten Leserkreis. Es richtet sich einerseits an Forscherinnen und Forscher, Dozierende und Studierende der Bereiche Personalmanagement, Organisation und Employment Relations aus den Disziplinen der Betriebswirtschaftslehre und der Soziologie. Andererseits werden Personalmanagerinnen und -manager, Arbeitnehmerinnen und -nehmer in Betriebs- und Aufsichtsräten sowie Gewerkschaftsmitglieder angesprochen, die praxisnahe Anregungen zur gemeinsamen Gestaltung ihrer digitalisierten Arbeitswelten erhalten. Unser ganz besonderer Dank gilt dem Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil, MdB für das Verfassen eines Geleitwortes für diesen Herausgeberband. Er betont darin die besondere Errungenschaft der Sozialpartnerschaft in Deutschland und die Aufgabe von Beschäftigten und deren Vertreterinnen und Vertreter im Betriebsrat, die digitale Transformation aktiv mitzugestalten und weist damit auf die praktische Relevanz der wissenschaftlichen Forschung in dem Bereich hin.
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Vorwort
Dieses Buch wäre natürlich nicht ohne die Mitwirkung der Autorinnen und Autoren entstanden. Sie alle gewähren in ihren Beiträgen spannende Einblicke in ihre Forschung und Praxis und erweitern das gesellschaftliche Wissen und den Dialog zum Themenbereich Mitbestimmung, Personalmanagement und Digitalisierung. Ihnen allen an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön! Ein Teil der Beiträge ist im Rahmen von Forschungsprojekten entstanden, die im Forschungsverbund „Digitalisierung, Mitbestimmung, gute Arbeit“ der Hans-Böckler-Stiftung zusammenarbeiten. Wir danken dem Leiter des Forschungsverbundes Dr. Stefan Lücking und Amanda Witkowski von der Hans-Böckler-Stiftung sowie allen Beteiligten an dem Forschungsverbund für die stets konstruktiven Diskussionen in den Themenbereichen Mitbestimmung und Digitalisierung sowie ihre Unterstützung bei der Verbreitung des Herausgeberbandes. Ein großes Dankeschön gebührt Frau Dr. Angelika Schulz, die uns bei der Erstellung des Herausgeberbands stets freundlich, mit konstruktiven Anmerkungen und akribischen Korrekturarbeiten bei der Finalisierung des Manuskripts zur Seite stand. Letztlich danken wir dem Team der Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Personalmanagement und Organisation, an der Universität der Bundeswehr München. Hervorzuheben sind an dieser Stelle unsere studentischen Mitarbeiter Paul Kallert und Kilian Nebe, die das Buchprojekt während seiner gesamten Entstehungsphase begleitet und die Fertigstellung sehr unterstützt haben. Unseren herzlichen Dank auch an Dr. Georg Loscher, Ricarda Rauch, Linda Schmidt und Anna-Lisa Schneider für ihre Unterstützung bei der Korrektur des Manuskripts. Wir hoffen, dass unser Herausgeberband als Gespräch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik einen Beitrag dazu leistet, dass Personalmanagement und Mitbestimmung die Arbeit in der Data Society positiv gestalten. Gerade vor dem Hintergrund der beschleunigten Veränderungen seit der Corona-Pandemie gewinnen die zum Großteil bereits im Vorfeld zur Pandemie erstellten Beiträge und diskutierten Thematiken an Relevanz. Wir wünschen dem vorliegenden Buch deshalb, dass es in Wissenschaft und Praxis viel Resonanz findet. Verena Bader und Stephan Kaiser
Inhalt
Geleitwort ............................................................................................................ V Hubertus Heil, MdB, Bundesminister für Arbeit und Soziales Vorwort .............................................................................................................. VII Verena Bader und Stephan Kaiser
Einführung ............................................................................................... 1 Arbeit in der Data Society – Perspektiven auf die Zukunft von Mitbestimmung und Personalmanagement ........................................................... 3 Verena Bader und Stephan Kaiser
Kapitel I: Wandel der betrieblichen Mitbestimmung und Zukunftsvisionen ................................................................................... 15 Arbeit 4.0 und Transformation der Mitbestimmung ........................................... 17 Werner Widuckel Mitbestimmung in digitalen und agilen Betrieben – das Modell einer prozessualen partnerschaftlichen Konfliktkultur ................................................ 35 Detlef Gerst
Kapitel II: Aspekte der Zusammenarbeit und Arbeitsbeziehungen im Wandel .............................................................................................. 57 Gewerkschaftliche Strategien bei der Digitalisierung......................................... 59 Karl-Heinz Brandl Stabilität oder Wandel durch Digitalisierungsprozesse? Überlegungen zum Verhältnis von Personalmanagement und Mitbestimmung ................................ 71 Kerstin Rego
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Inhalt
Wie Betriebsräte und Arbeitgeber sich besser zuhören und die betriebliche Mitbestimmung aktiver gestalten können ........................................................... 87 Marco Holzapfel Mitbestimmung 4.0 – zur Weiterentwicklung der betrieblichen Sozialpartnerschaft ........................................................................................... 101 Elke Eller und Katharina Schiederig (Ohn)Mächtige Crowd? Heteronomie und Autonomie der Plattformarbeit...... 113 Heiner Heiland
Kapitel III: Umgang mit technologischen Innovationen in der digitalisierten Arbeitswelt................................................................... 129 Konkurrent oder Komplementär? Herausforderungen und Potenzial beim Einsatz von Enterprise Social Software im Kontext betrieblicher Mitbestimmung ................................................................................................. 131 Hendrik Send und Shirley Ogolla Datafizierung von Organisationen durch Blockchain? Eine medienanalytische Betrachtung ................................................................ 151 Ulrich Klüh und Moritz Hütten Digitale Ratings als rechtliche Herausforderung .............................................. 173 Michael Gogola Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung – eine Analyse der Situation des Individuums am digitalisierten Arbeitsplatz ..................................................... 189 Verena Bader Plattformgenossenschaften: mehr Mitbestimmung durch die digitale Renaissance einer alten Idee? ........................................................................... 209 Laura Thäter und Thomas Gegenhuber
Inhalt
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Kapitel IV: Gestaltung von Partizipation und das Individuum am digitalisierten Arbeitsplatz ................................................................. 225 Neuverhandlung oder Verfestigung von Geschlechterungleichheiten? Effekte digitalisierter und mobiler Arbeit auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Anwesenheitskulturen und die Veränderung von Tätigkeiten ..... 227 Tanja Carstensen Digitales Ideenmanagement als Mitbestimmung 4.0? Chancen und Herausforderungen der Partizipation von Mitarbeitenden in betrieblichen Veränderungsprozessen .................................................................................... 243 Caroline Ruiner, Vera Hagemann, Marc Hesenius und Matthias Klumpp Wie kann digitale Mitsprache in Organisationen gelingen? Zur Rolle von (datafizierter) Transparenz aus Sicht von Mitarbeitenden ................................ 263 Markus Ellmer
Kapitel V: Freiraum für neue Arbeitsweisen – rechtliche Perspektiven und die Zukunft von Arbeit und Betrieb .................................................. 281 Neue Formen kollaborativer Herstellung und Entwicklung – eine orientierende Typologie .................................................................................... 283 Jan-Felix Schrape Mehr individuelle Beteiligung durch stärkere kollektive Mitbestimmung – gerade in einer globalisierten und digitalisierten Arbeitswelt ........................... 299 Michael Bolte Freiraum des Betriebsverfassungsgesetzes für eine agile Mitbestimmung ....... 311 Thomas Hey und Marnie Plehn Künstliche Intelligenz – Handlungsfeld für betriebliche Mitbestimmung und Arbeitsrechtsregulierung ............................................................................ 331 Thomas Klebe und Johanna Wenckebach Autorinnen und Autoren ................................................................................... 351
Einführung
Arbeit in der Data Society – Perspektiven auf die Zukunft von Mitbestimmung und Personalmanagement Verena Bader und Stephan Kaiser Abstract Die Arbeit in einer von Datafizierung und Algorithmen geprägten Welt (Data Society) birgt zahlreiche Veränderungen und Herausforderungen für die Beschäftigten1, für das Personalmanagement und die Mitbestimmung. Zukunftsvisionen dazu, wie wir damit umgehen wollen, können nicht nur dabei helfen, die Arbeit in der Data Society vorstellbar zu machen, sondern sind notwendig, um die zukünftige Arbeitswelt entlang des Wünschenswerten gestaltbar zu machen. Als zentral stellt sich hierbei die Vorstellung einer problem- und beteiligungsorientierten Sozialpartnerschaft heraus, die sich aufgrund der Nutzung digitaler Tools zur Integration der Beschäftigten als Mitbestimmung 4.0 bezeichnen lässt. 1
Handlungsfelder für Mitbestimmung und Personalmanagement in der digitalen Transformation
Durch die Sozialpartnerschaft und die betriebliche Mitbestimmung können Beschäftigte eine kollektive Verhandlungsmacht gegenüber ihrem Arbeitgeber bilden und dadurch eine Verbesserung von Arbeitsbedingungen erreichen (Bader und Kaiser 2020; Lohmeyer et al. 2018). Im Zusammenspiel von Arbeitgeber (oftmals in den Verhandlungen vertreten durch das Personalmanagement), Beschäftigen und deren Vertretungen soll Arbeit demokratisch gestaltet werden. Dabei kann die Sozialpartnerschaft als eine Art institutionalisierter Wächter guter Arbeit betrachtet werden (Bourguignon et al. 2019). Diese Rolle scheint gerade im Hinblick auf die komplexen Herausforderungen und Risiken von Arbeit in der Data Society von Bedeutung (Kaiser et al. 2017). Aus den Herausforderungen lassen sich drei Handlungsfelder für die Mitbestimmung und das Personalmanagement ableiten: die zunehmende Datafizierung und Algorithmi1
Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Werk weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_1
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sierung (a), neue Expertisen und Berufsfelder (b) und neue Arbeits- und Organisationsformen (c). (a) Datafizierung und Algorithmisierung. Zunächst werfen die zunehmende Technisierung und Datafizierung (Sammlung von Beschäftigtendaten) Fragen nach Überwachung (West 2017; Zuboff 2015; Delbridge et al. 1992), Privatsphäre und informativer Selbstbestimmung der Beschäftigten auf (van Aaken et al. 2014). Die Arbeit mit (Beschäftigten-)Daten sowie die damit einhergehende wachsende Bedeutung von Algorithmen bergen die Gefahr, Ungleichheiten (Zarsky 2016) und (Geschlechter-)Diskriminierungen (Winter 2015) unter den Beschäftigten zu fördern. Gleichzeitig stellen sich ethische und rechtliche Fragen bei der Nutzung entscheidungsvorbereitender Technologien, denn die eindeutige Zuordenbarkeit von Verantwortlichkeiten wird verschoben (Bader 2020; Bader und Kaiser 2019). Neben der Sammlung von (Meta-)Daten stellen auch ihre technisch mögliche Verknüpfung und – oftmals durch Algorithmen automatisierte – Auswertung (Analytik) Entwicklungen dar, die betrieblicher Mitbestimmung bedürfen. (b) Neue Arbeits- und Organisationsformen. Als Konsequenz und begleitend zu den technischen Entwicklungen führen Unternehmen neue Organisationsformen ein. Die neuen Arbeitsformen, in denen betriebliche Angestellte zunehmend mobil, verteilt und flexibel arbeiten und immer erreichbar sind (Bader und Kaiser 2017; Mazmanian 2013; Putnam et al. 2014), rufen bei den Beschäftigten eine zunehmende Entgrenzung zwischen Berufs- und Privatleben hervor (Deinert und Helfen 2016; Kaiser und Kozica 2015). Diese Entgrenzung, oft in Zusammenhang mit „atypische[n] Beschäftigungsverhältnisse[n]“ (Keller und Nienhüser 2014, S. 5) stehend, betrifft Themen der Mitbestimmung wie Arbeitszeit- und Arbeitsschutzregelungen auf direkte Weise. Verteiltes Arbeiten und Entgrenzung stellen – zu Ende gedacht – aber auch das traditionelle Fortbestehen von Organisationen und vom Betrieb in Frage (Davis 2013) und zeigen damit Grenzen der Mitbestimmung (Prassl und Risak 2015) und auch des Personalmanagements auf. Neben potenziell neuen Beschäftigtengruppen wie den so genannten Digitalnomaden (Schlegelmilch et al. 2018) bestimmt aber auch Crowdwork (Gegenhuber et al. 2020; Gegenhuber et al. 2018), organisiert durch digitale Plattformen, das Bild der neuen Arbeitswelt. Diese neue Art Solo-Selbstständiger fällt nicht unter das Mitbestimmungsgesetz, bringt aber grundsätzliche Fragen, wie betriebliche Mitbestimmung und Gewerkschaftsarbeit in Zukunft gestaltet sein können und gleichzeitig ein neues Handlungsfeld für diese hervor (Healy et al. 2017).
Perspektiven auf die Zukunft von Mitbestimmung und Personalmanagement
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(c) Neue Expertisen und Berufsfelder. Sowohl Datafizierung als auch neue Arbeits- und Organisationsformen wecken den Bedarf nach neuen Expertisen und es entstehen neue Berufe (Colbert et al. 2016; Dengler und Matthes 2018; Faraj et al. 2018). Aufgaben, Qualifizierung und Kompetenzen verschieben sich (Hirsch-Kreinsen und ten Hompel 2015) und diese Verschiebung verlangt nach einem Wandel im Personalmanagement und nach Führung. Neue Expertisen wie das App-based-Management oder HR-Analytics (Kaiser und Loscher 2017; Marler und Boudreau 2017; Minbaeva 2018; Strohmeier und Piazza 2015) haben unmittelbare Auswirkungen auf das Personalmanagement selbst, aber insbesondere auch auf die Beschäftigten. Die Aufwertung und Abwertung von Tätigkeiten machen es notwendig, dass sich Presonalverantwortliche, Betriebsräte und Beschäftigte neue digitale Kompetenzen aneignen (Wang et al. 2020). Diese Entwicklungen stellen fundamentale Veränderungen für Beschäftigte, Personalverantwortliche und Betriebsratsmitglieder dar, die die (alte) Frage aufwerfen, wie die drei Gruppen in Zukunft arbeiten und zusammenarbeiten werden, um diese komplexen Herausforderungen zu lösen (Kupsch und Marr 1991). 2
Notwendigkeit von Zukunftsvisionen für die Arbeit in der Data Society
Seit Beginn der Corona-Pandemie wurde die Relevanz der beschriebenen Veränderungen noch stärker sichtbar und digitales Arbeiten und damit entstehende neue Arbeitsweisen (z. B. vermehrtes Homeoffice) haben an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklungen stellen nicht nur Fragen an das Personalmanagement selbst, sondern auch an die betriebliche Mitbestimmung und insbesondere an das Zusammenwirken der beiden bei der Gestaltung von Arbeit in der Data Society (Delbridge und Keenoy 2010). Um Zukunftsfähigkeit zu sichern, ist in Teilen auch Veränderung notwendig (Delbridge et al. 2020; Delbridge und Sallaz 2015; Spee und Jarzabkowki 2017). In diesem Zusammenhang stellt sich zunächst die Frage, wie das Personalmanagement und Betriebsräte selbst mit Digitalisierung umgehen und diese erleben. Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Mitbestimmung 4.0: Mit Widersprüchlichkeiten aktiv umgehen“ (Hans-BöcklerStiftung 2020) zeigen, dass beide Seiten vermehrt mit digitalen Tools experimentieren und neue Arbeits- und Organisationsformen nutzen (z. B. agile Zusammenarbeit bei der Verhandlung von Betriebsvereinbarungen; Hey und Plehn in diesem Werk). Durch dieses Erfahren von Digitalisierung in der eigenen Arbeit verändern sich Verhandlungen auch stärker hin zu einer Diskussion über mögliche Probleme. Ehemals rollenbasierte Interaktionen zwischen Betriebs-
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Verena Bader und Stephan Kaiser
ratsmitgliedern und Personalverantwortlichen verändern sich somit stärker in Richtung einer sachorientierten Kooperation. Daneben setzen Personalverantwortliche und Mitbestimmung auch vermehrt digitale Tools zur Zusammenarbeit ein, die letztere fundamental verändern können. Als Fallbeispiel aus dem oben genannten Forschungsprojekt kann ein digital gesteuerter Mitbestimmungsprozess angeführt werden, in dem alle Schritte der Einführung einer neuen Technologie und der Verhandlungen über ein digitales Zusammenarbeitstool ausgeführt werden. Als Folge dieses digitalen Mitbestimmungsprozesses sind alle Informationen nicht nur dokumentiert, sondern auch transparent und eine Kooperation auf Augenhöhe wird durch digitale Technik möglich. Letztlich schließt sich hier eine weitere zentrale Zukunftsvision an, nämlich die einer stärkeren Partizipation und Beteiligung der Beschäftigten selbst. Entgegen der Vorstellung, dass mehr Selbstbestimmung und Mitsprache der Beschäftigten als Argument für eine mitbestimmungsfreie Zone (Abel und Ittermann 2003; Frege 2003; Helfen und Schüßler 2009) gelten, kann digitale Mitarbeiterbeteiligung (Ellmer; Ruiner et al. in diesem Werk; Wilkonson et al. 2018) einen ersten Schritt der Zukunftsvision einer beteiligungsorientierten Mitbestimmung (Gerst in diesem Werk), einer Mitbestimmung 4.0, darstellen. Die Annahme dieses Beitrages und des gesamten Herausgeberbandes ist es, dass für die Beantwortung von Fragen nach der Gestaltung von Arbeit in der Data Society und den gezielten Umgang mit den Herausforderungen die Entwicklung von Zukunftsvisionen mehr als hilfreich ist (Koch et al. 2016; Krämer und Wenzel 2018). In unserer Wahrnehmung helfen die Zukunftsvisionen, eine Vorstellungswelt zur digitalen Arbeit und zur Zusammenarbeit von Personalmanagement und Mitbestimmung zu entwickeln (Beckert 2016). Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang, dass die Vorstellungswelten durchaus im normativen Sinne Wünschenswertes enthalten dürfen (Schüßler et al. 2020). Letztlich sind es diese Wünsche für die Zukunft, die notwendig sind, um die entsprechende Gestaltung der Zukunft und das tatsächliche Eintreten der Vorstellungswelten wahrscheinlicher machen. Kurzum: Wir müssen uns die Arbeit in der Data Society und die moderne Sozialpartnerschaft so vorstellen, wie wir sie uns wünschen, sonst laufen alle Gestaltungsversuche ins Leere. 3
Thematische Einbettung und Kurzvorstellung der Beiträge
Im Anschluss an diese übergreifende Einführung, in der für die Zukunftsvision einer Mitbestimmung 4.0 plädiert wurde, wird im Folgenden auf die Inhalte und Struktur des vorliegenden Sammelbandes und seiner vier Kapitel eingegangen. Hierzu werden die Beiträge thematisch eingeordnet und kurz vorgestellt.
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Die Beiträge im ersten Kapitel beschäftigen sich mit dem Wandel der betrieblichen Mitbestimmung und entwickeln insbesondere wegweisende Zukunftsvisionen für die Mitbestimmung. Werner Widuckel berichtet in seinem Beitrag „Arbeit 4.0 und Transformation der Mitbestimmung“, vor welchen Herausforderungen die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland steht, da sich die Anforderungen und Beteiligungswünsche von Beschäftigten verändert haben. Betriebsratstätigkeit reduziert sich, so Widuckel, nicht mehr nur auf legitimiertes Stellvertreterhandeln, sondern die Beschäftigten müssen stärker als Individuen und Gruppen aktiv einbezogen werden. Hierzu müssen sie in einer Transformation der betrieblichen Mitbestimmung bemächtigt (Empowerment) und befähigt (Enabling) werden. In einem weiteren Beitrag des ersten Kapitels mit dem Titel „Mitbestimmung in digitalen und agilen Betrieben: das Modell einer prozessualen partnerschaftlichen Konfliktkultur“ plädiert Detlef Gerst für eine agilere Mitbestimmung. Die bisherigen Formate der betrieblichen Mitbestimmung wirken vor dem Hintergrund einer derzeitigen organisatorischen und technischen Modernisierung der Unternehmen antiquiert und müssen ihrerseits modernisiert werden. Nach Auffassung des Autors sollen sie durch eine prozessuale Mitbestimmung abgelöst werden, die Prozesse gestalten kann, sich in Projekten erfolgreich zeigt und attraktive Formen der demokratischen Beteiligung anbietet. Da der Fokus der Modernisierung auf die Interaktion von Management, Betriebsrat und Beschäftigten abstellt, geht es Detlef Gerst nicht zuletzt um eine neue Kultur der Mitbestimmung. Im zweiten Kapitel des Buches sind Artikel versammelt, die Aspekte der Zusammenarbeit und Arbeitsbeziehungen im Wandel betrachten. Das Kapitel beginnt mit einem Beitrag Karl-Heinz Brandls, der gewerkschaftliche Strategien im Umgang mit der Digitalisierung thematisiert. Zentral ist seine Forderung die Digitalisierung der Arbeit nicht nur aus technischer Perspektive zu betrachten. Vielmehr geht es ihm darum zu vermitteln, dass Digitalisierung im Sinne Guter Arbeit die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten tatsächlich verbessern muss: „Digitalisierung muss dem Menschen dienen und nicht umgekehrt!“ Aus Sicht der Gewerkschaft ver.di besitzen vier Handlungsfelder besondere Bedeutung, die von den Sozialpartnern gemeinsam mit den Beschäftigten adressiert werden müssen: mobiles Arbeiten, lebenslanges Lernen, Datenschutz und künstliche Intelligenz. Das Kapitel wird von Kerstin Rego mit dem Beitrag „Stabilität oder Wandel durch Digitalisierungsprozesse? Überlegungen zum Verhältnis von Personalmanagement und Mitbestimmung“ fortgeführt. Wie die anderen Beitragenden konstatiert auch sie, dass Digitalisierung eine der großen Herausforderungen der heutigen Zeit ist und beleuchtet aus konzeptioneller Sicht, ob betriebliche Digita-
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lisierungsprozesse das Verhältnis zwischen Akteuren des betrieblichen Personalmanagements und Akteuren der betrieblichen Interessenvertretung verändern. Durch eine mikropolitische und praxistheoretische Perspektive gelingt es Rego, Überlegungen anzustellen, wie und wohin sich das Verhältnis von Personalmanagement und Mitbestimmung zum beidseitigen Vorteil entwickeln könnte. „Wie Betriebsräte und Arbeitgeber sich besser zuhören und die betriebliche Mitbestimmung aktiver gestalten können“ lautet der Titel des Beitrages von Marco Holzapfel. Er plädiert darin für eine tatsächlich vertrauensvolle Zusammenarbeit von Betriebsrat und Arbeitgeber, die Konflikte vermeiden hilft und kooperative Lösungsprozesse ermöglicht. Konkret schlägt er, belegt durch anonymisierte Praxisbeispiele, ein Zusammenarbeitsmodell „Vertrauen, Verstehen und Vereinbaren“ vor, mit dem sich die Zusammenarbeit kooperativer und effektiver gestalten lässt und Prozesse des Meinungsaustauschs verbessert und beschleunigt werden. Ebenfalls um die Zusammenarbeit geht es im Beitrag „Mitbestimmung 4.0 – zur Weiterentwicklung der betrieblichen Sozialpartnerschaft“ der Autorinnen Elke Eller und Katharina Schiederig. Wie bereits in den vorangehenden Beiträgen thematisiert, nehmen auch sie die Digitalisierung und die vierte industrielle Revolution zum Ausgangspunkt und stellen die Frage, wie sich die betriebliche Sozialpartnerschaft im Rahmen der Digitalisierung zur Mitbestimmung 4.0 weiterentwickelt. Im Ergebnis sehen die Chance, dass sich im Rahmen der Digitalisierung die bisher stark formalisierte Mitbestimmung zu einer „neuen Qualität der mitarbeiterorientierten Sozialpartnerschaft“ entwickelt. Hierzu zählen etwa neue Beteiligungsformate für diverse Beschäftigungsgruppen, die angepasst sind an agile Arbeit und im positiven Sinne technikaffin. Die Autorinnen verweisen aber auch auf die notwendigen Voraussetzungen, wie z. B. flexibel zur Verfügung stehende Ressourcen, damit dieser Wandel in die mitarbeiterorientiere Sozialpartnerschaft gelingt. Ein Beitrag, der sich mit einer speziellen Arbeitsform, der Plattformarbeit, und den Konsequenzen für die Arbeitsbeziehungen beschäftigt, schließt das zweite Kapitel ab. Unter dem Beitragstitel „(Ohn)Mächtige Crowd? Heteronomie und Autonomie der Plattformarbeit“ analysiert Heiner Heiland, wie „Plattformen die Strukturen der Arbeitsbeziehungen transformieren und auf diesem Weg auch die Handlungsmöglichkeiten der Arbeitenden prägen“. Interessantes Ergebnis ist, dass in der Plattformarbeit wechselseitige Abhängigkeiten entstehen, da die Arbeitenden den Erfolg der Plattform mittels geringer Eingriffe in den Arbeitsprozess beeinflussen können. Dadurch wird klar, dass die Plattformarbeitenden mehr Handlungsressourcen besitzen als auf den ersten Blick vermutet. Allerdings bleibt es eine Herausforderung, diese Ressourcen kollektiv zu nutzen und als sekundäre Machtressourcen zu etablieren.
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Das dritte Kapitel umfasst Beiträge, die sich in erster Linie mit dem Umgang mit technologischen Innovationen in der digitalisierten Arbeitswelt beschäftigen. Der erste Beitrag in diesem Kapitel von Hendrik Send und Shirley Ogolla trägt den Titel „Konkurrent oder Komplementär? Herausforderungen und Potenzial beim Einsatz von Enterprise Social Software im Kontext betrieblicher Mitbestimmung“. Die Autoren berichten über eine qualitativ-empirische Studie, in der sie die Implikationen von Enterprise Social Media auf die betriebliche Mitbestimmung untersucht haben. Die Autoren können berichten, dass Enterprise Social Media im Kontext der betrieblichen Mitbestimmung insbesondere zwei Konsequenzen nach sich zieht. Zum einen zeigen sie, dass die „Transparenz der neuen Kommunikationswege eine Herausforderung für alle Beteiligten“ darstellt, zum anderen wird deutlich, dass soziale Medien auch Potenziale für die Mitbestimmungsarbeit selbst bieten. Ein besonders aktuelles Thema ist die Datafizierung von Organisation durch die Blockchain-Technologie. In ihrem Beitrag beschäftigen sich Ulrich Klüh und Moritz Hütten aus einer medienanalytischen Perspektive mit dieser Thematik. Die Autoren gehen davon aus, dass mittels des Begriffs Blockchain nicht nur technologische Aspekte der Digitalisierung diskutiert werden, sondern auch nicht technologische Prozesse verhandelt werden. Um dies zu zeigen und den Prozess der Verhandlung nachzuzeichnen, haben die Autoren hochwertige Pressebeiträge zum Thema Blockchain analysiert. Als Ergebnis stellen sie fest, dass insbesondere ein Wechselspiel von Autonomie und Kontrolle entscheidend ist, insofern als einerseits auf die Chance auf mehr Autonomie, andererseits auf Risiken zunehmender Kontrolle und Überwachung zu verweisen ist. Mit rechtlichen Herausforderungen von digitalen Ratings befasst sich Michael Gogola. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass gerade in der Plattformökonomie die Nutzung von Ratingsystemen für die Funktionalität vieler Angebote zentral ist. Die dadurch entstehende Möglichkeit von Leistungskontrolle gegenüber den Mitarbeitenden zeitigt rechtliche Konsequenzen und Fragestellungen auf Feldern, wie der betrieblichen Mitbestimmung, der Gleichbehandlung und des Datenschutzes. Der Autor hält hierzu fest, dass es „sich bei den eingesetzten Bewertungssystemen um der Mitbestimmungspflicht unterliegende technische Einrichtungen zur Leistungskontrolle handelt. Der Einsatz digitaler Bewertungssysteme erscheint aufgrund der Tendenz zur Verstärkung gesellschaftlicher Ungleichheiten und Fortführung struktureller Diskriminierung aus gleichbehandlungsrechtlicher Sicht äußerst problematisch“. Im vorletzten Beitrag des dritten Kapitels widmet sich Verena Bader den Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung. Hierzu hat sie den Diskurs über die Situation des Individuums am digitalisierten Arbeitsplatz innerhalb der Sozialpartnerschaft untersucht. Sie zeigt dabei auf, wie die sozialpartnerschaftlichen
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Akteure narrative Sinnerschließung im undurchschaubaren, widersprüchlichen und komplexen Kontext der Digitalisierung betreiben und wie dadurch Strategien für einen aktiven Umgang mit den Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung „jenseits einer Abwälzung der Verantwortung auf das Individuum“ entstehen. Abgeschlossen wird das dritte Kapitel durch einen Beitrag von Laura Thäter und Thomas Gegenhuber. In ihrem Beitrag „Plattformgenossenschaften: mehr Mitbestimmung durch die digitale Renaissance einer alten Idee?“ zeigen sie, dass Plattformgenossenschaften einen Gegenentwurf zu den bestehenden Organisationsformen im digitalen Kapitalismus darstellen können. In ihrer digitalen Form wollen Plattformgenossenschaften im Rahmen demokratischer Prinzipien eine gerechtere und nachhaltigere Wirtschaftsordnung schaffen und mehr Partizipation und Mitbestimmung für Arbeitnehmer bieten. Welche Herausforderungen dies mit sich bringt und welche Voraussetzungen gegeben sein müssten, stellt der Beitrag entlang von praktischen Fällen dar. Das vierte Kapitel im vorliegenden Sammelband dreht sich um die Gestaltung von Partizipation und um den Menschen am digitalisierten Arbeitsplatz. Ein zentrales Thema, mit dem das vierte Kapitel startet, ist die Geschlechterungleichheit. Die Autorin Tanja Carstensen beschäftigt sich mit Effekten digitalisierter und mobiler Arbeit auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Anwesenheitskulturen und die Veränderung von Tätigkeiten. Auf Basis der Ergebnisse eines von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojektes kann die Autorin zeigen, dass die Digitalisierung der Arbeit allenfalls graduelle Effekte auf die Geschlechterverhältnisse hat, da bestehende Ungleichheiten kaum in Frage gestellt werden. Allerdings zeigen sich kleinere Verbesserungen im Hinblick auf die Möglichkeit des flexiblen Arbeitens und damit auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Caroline Ruiner, Vera Hagemann, Marc Hesenius und Matthias Klumpp stellen die Frage nach den Potenzialen des digitalen Ideenmanagements für die Mitbestimmung 4.0. Ausgangthese des Artikels ist, dass über ein digitales Ideenmanagement direkte Partizipation besonders gut umgesetzt werden kann. Der Beitrag zeigt deshalb auf, wie sich ein digitales Ideenmanagement zur Förderung der Partizipation von Mitarbeitenden bei Veränderungsprozessen innovativ organisieren lässt und welche Chancen und Herausforderungen damit verbunden sind. Im Ergebnis wird deutlich, dass digitale Technologien das Potenzial besitzen, neue Formen der Beteiligung und demokratische Arbeitsformen zu fördern. Die Autoren stellen hierzu ein Prozessmodell vor. Thematisch ähnlich gelagert ist der Aufsatz von Markus Ellmer. Er stellt die Frage, wie digitale Mitsprache, verstanden als „digital mediatisierte Mechanismen“, für die Mitarbeitenden in Organisationen gelingen kann. Die Beantwor-
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tung erfolgt auf Basis zweier Fallstudien. Eine wichtige Schlussfolgerung ist, dass „im Kontext digitaler Mitsprache insbesondere die Transparenz des Managements über die Verwendung des gesammelten Inputs sowie der Zugang zu Mitsprache-bezogenen Daten von zentraler Bedeutung“ für das Gelingen digitaler Mitsprache ist. Das fünfte Kapitel des vorliegenden Sammelbandes widmet sich schließlich den rechtlichen Perspektiven und der Zukunft von Arbeit und Betrieb. Sehr grundlegend beschäftigt sich Jan-Felix Schrape in seinem Aufsatz, der das fünfte Kapitel einleitet, mit neuen Formen der kollaborativen Herstellung und Entwicklung, indem er hierfür eine orientierungsbietende Typologie vorschlägt. Hierzu beschäftigt er sich mit den unterschiedlichen Spielarten der offenen und partizipativen Zusammenarbeit, die sich in der Empirie zeigen, und grenzt diese entlang von Zielsetzungen, Koordinations- und Finanzierungsformen ab, nicht ohne dabei spezifische Chancen und Risiken zu erwähnen. Michael Bolte plädiert in seinem Beitrag für mehr individuelle Beteiligung durch stärkere kollektive Mitbestimmung, auch und gerade in einer globalisierten und digitalisierten Arbeitswelt. Er tritt damit deutlich der These entgegen, dass eine verstärkte Selbstbestimmung des Einzelnen an die Stelle der Mitbestimmung und kollektiven Interessenvertretung rücken könnte. So wird in der gewerkschaftlichen „Offensive Mitbestimmung“ im Besonderen auf die Weiterentwicklung der kollektiven Mitbestimmungsstrukturen Wert gelegt, da die individuelle Mitsprache dadurch geschützt wird. Gleichzeitig erkennt der Autor an und vertritt die Auffassung, dass sich Mitbestimmungsstrukturen und -prozesse weiterentwickeln müssen, um den heterogenen Vorstellungen der Beschäftigten gerecht zu werden. Ob das Betriebsverfassungsgesetz aber den Freiraum für eine moderne, agile Mitbestimmung bietet, ist die Frage dies sich das Autorenpaar Thomas Hey und Marnie Plehn stellen. Erkennbar ist, dass aufgrund der Digitalisierung das Betriebsverfassungsgesetz vor Herausforderungen steht, die in der Reform im Jahre 2001 noch nicht absehbar waren. Aufgrund von team- und grenzüberschreitenden Arbeitsstrukturen stößt der klassische Betriebsbegriff nach Auffassung der Autoren an seine Grenze und auch innerhalb der Betriebsratsarbeit lässt sich ein Wunsch nach Digitalisierung verspüren. Auch wenn einige Aspekte der Digitalisierung sich bereits im Betriebsverfassungsgesetz abbilden lassen, bleiben Problembereiche. Wenn die Digitalisierung nicht durch gesetzliche Regelungen eingeengt werden soll, müssten, so die Autoren, flexiblere Normen geschafft werden, welche die Digitalisierung fördern. Aktuell besonders im Blickfeld der Öffentlichkeit ist das Thema der Künstlichen Intelligenz. Thomas Klebe und Johanna Wenckebach stellen die wohl rhetorische Frage, ob künstliche Intelligenz (KI) ein Handlungsfeld für betriebliche
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Mitbestimmung und Arbeitsrechtsregulierung sei. Nach einer Erklärung von Begrifflichkeiten zeigt der Beitrag auf Basis des aktuellen Rechtes auf, welche Themen und Aspekte etwa bei Betriebsvereinbarungen zur Einführung von KISystemen zu beachten sind. Es wird aber, unter Verweis auf Expertengutachten der Europäischen Kommission und der Datenethikkommission der Bundesregierung, auch diskutiert, an welchen Stellen Bedarf für eine neue Regulierung besteht. Literatur Abel, J. und Ittermann, P. 2003. Exploring the Boundaries of Co-determination.. In: Müller-Jentsch, W. und Weitbrecht, H. (Hrsg.). The Changing Contours of German Industrial Relations. München: Mering, 103-118. Bader, V. 2020. Mensch-Technik-Verflechtung: Hybrides Handeln innerhalb digitaler Arbeit und Organisation. Wiesbaden: Springer. Bader, V. und Kaiser, S. 2017. Autonomy and control? How heterogeneous sociomaterial assemblages explain paradoxical rationalities in the digital workplace. management revue, 28(3), 338-358. Bader, V. und Kaiser, S. 2019. Algorithmic decision-making? The user interface and its role for human involvement in decisions supported by artificial intelligence. Organization, 26(5), 655672. Bader, V. und Kaiser, S. 2020. Zukünftige Rolle der Sozialpartner – Experimentieren und Problemlösung statt Verhandeln. Personalführung, 53(11) im Druck, ISSN: 0723-3868. Beckert, J. 2016. Imagined Futures: Expectations and Capitalist Dynamics. Cambridge. MA: Harvard University Press. Bourguignon, R., Garaudel, P. und Porcher, S. 2019. Global framework agreements and trade unions as monitoring agents in transnational corporations. Journal of Business Ethics, 1-17. Colbert, A., Yee, N. und George, G. 2016. The digital workforce and the workplace of the future. Academy of Management Journal, 59 (3), 731-739. Davis, G.F. 2013. After the Corporation. Politics & Society, 41, 283-308. Deinert, O. und Helfen, M. 2016. Schwerpunktheft: Entgrenzung von Organisation und Arbeit? Herausforderungen für Arbeitsrecht, Management und Mitbestimmung. Industrielle Beziehungen – Zeitschrift für Arbeit, Organisation und Management, München/Mering. Delbridge, R. und Keenoy, T. 2010. Beyond managerialism? The International Journal of Human Resource Management, 21(6), 799-817. Delbridge, R. und Sallaz, J. J. 2015. Work: Four Worlds and Ways of Seeing. Organization Studies, 36(11), 1449-1462. Delbridge, R., Helfen, M., Pekarek, A., Schüßler, E. und Zietsma, C. 2020. Organizing Sustainably: Actors, Institutions, and Practices. Special Issue Call for Papers. Organization Studies. https:// journals.sagepub.com/pb-assets/cmscontent/OSS/SI_Organizing_Sustainably-1591703466717. pdf (letzter Zugriff: 14.08.2020) Delbridge, R., Turnbull, P. und Wilkinson, B. 1992. Pushing back the frontiers: management control and work intensification under JIT/TQM factory regimes. New Technology, Work and Employment, 7(2), 97-106 Dengler, K. und Matthes, B. 2018. The impacts of digital transformation on the labour market: Substitution potentials of occupations in Germany. Technological Forecasting and Social Change, 137, 304-316.
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Kapitel I: Wandel der betrieblichen Mitbestimmung und Zukunftsvisionen
Arbeit 4.0 und Transformation der Mitbestimmung1 Werner Widuckel Abstract Die Digitalisierung der Arbeit und veränderte Lebensentwürfe und Lebensformen von Beschäftigten2 stellen die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland vor neue Herausforderungen. So entwickelt sich die Erwerbsarbeit zu einem Spannungsfeld zwischen Bedürfnissen, Ansprüchen und Erwartungen von Beschäftigten und einem wachsenden wettbewerbsinduzierten Veränderungsdruck der Unternehmen. Interessenpolitisches Handeln von Betriebsräten kann unter diesen Bedingungen nicht mehr ausschließlich durch Stellvertreterhandeln legitimiert werden und wirksam sein. Der Interessenbezug von Betriebsratshandeln erweitert sich vielmehr durch die notwendig gewordene Einbeziehung der Expertise von Beschäftigten und deren Ansprüchen an individuelle und gruppenbezogene Beteiligungsrechte. Dies drängt zu einer Transformation betrieblicher Mitbestimmung im Sinne eines Empowerments und Enablings, einer Ermächtigung und Ermöglichung von direkter Beteiligung. 1
Einleitung
Arbeit 4.0 bildet einen übergreifenden Signalbegriff, der für einen grundlegenden Strukturwandel der Erwerbsarbeit steht. Dieser Begriff spricht einerseits mit der Digitalisierung eine technologische Dimension dieses Wandels an. Darüber hinaus muss Arbeit 4.0 aber auch auf der Makroebene als gesellschaftlicher, auf der Mesoebene als organisationaler und auf der Mikroebene als individueller Umbruchprozess verstanden werden. Dieser Umbruchprozess unterliegt sozialen, psychologischen, politischen und institutionellen Beeinflussungen und wird durch komplexe Aushandlungsprozesse der beteiligten und verantwortlichen Ak1 2
Dieser Aufsatz entstand im Kontext eines von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojektes zu „Partizipativer Mitbestimmung in digitalisierter Arbeitswelt“, das in Fallstudien die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitsweise von Betriebsräten untersucht. Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_2
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teuren gestaltet. Arbeit 4.0 folgt somit keiner vermeintlichen technologischen Eigengesetzlichkeit, sondern ist eingebettet in Herrschaftsbeziehungen, sozioökonomische Grundstrukturen, kulturelle Konditionierungen und gesellschaftliche Institutionalisierungen (Widuckel 2016). Dieser Beitrag soll ausgehend von diesen Überlegungen der Frage nachgehen, inwieweit Arbeit 4.0 eine Transformation der Mitbestimmung anstoßen kann oder vielleicht in Ansätzen bereits ausgelöst hat. Das System der industriellen Beziehungen stellt eine der zentralen Institutionalisierungen der Regulierung von Erwerbsarbeit in Deutschland dar, die einen wesentlichen Einfluss auf deren strukturelle, materielle und normative Gestaltung ausübt (Müller-Jentsch 1997). Die Systemelemente Tarifautonomie, Unternehmensmitbestimmung und betriebliche Mitbestimmung gehören zum Grundgerüst der Austauschbeziehungen zwischen Arbeit und Kapital in Deutschland. Welche Rolle hierbei Arbeit 4.0 spielt bzw. potenziell spielen kann, soll bezogen auf die betriebliche Mitbestimmung näher untersucht werden. In einem ersten Schritt soll hierzu näher umrissen werden, was unter Arbeit 4.0 zu verstehen ist. In einem zweiten Schritt soll aufgezeigt werden, welche Herausforderungen Arbeit 4.0 für die betriebliche Mitbestimmung bedeutet. In einem dritten Schritt sollen Schlussfolgerungen für die Forschung und Überlegungen zur Zukunft der betrieblichen Mitbestimmung aufgezeigt werden. 2
Arbeit 4.0 als gesellschaftlicher und organisationaler Umbruch
Der Begriff Arbeit 4.0 soll eine neue Stufe der Produktivkraftentwicklung kennzeichnen, die sich vor allem durch die Digitalisierung von anderen vorgelagerten historischen Perioden unterscheidet (BMAS 2016). Die Digitalisierung der Arbeit kann als deren übergreifende informationstechnische Durchdringung und Vernetzung in organisierten Wertschöpfungsprozessen verstanden werden. Diese Durchdringung formt Arbeitsaufgaben und deren Koordination in Prozessen durch virtualisierte Informationen auf der Basis von Daten um und stellt so bisher nicht mögliche Verknüpfungen und Erweiterungen her, die Lieferanten, Dienstleistungen, Herstellprozesse und Kunden auch über große Distanzen in Echtzeit zu integrierten Netzwerken miteinander verbinden. Der Fluss der Daten vermittelt Handlungsimpulse, die Menschen, Systeme und Maschinen auffordern, koordiniert in Aktion zu treten (Widuckel 2015). Herrschaft in den hieraus entstehenden oder veränderten sozialen Beziehungen wird wesentlich durch die Herrschaft über die Definition, Gewinnung, Verfügung, Verarbeitung und Verknüpfung von Daten begründet. Diese digitalisierte Potenzialerweiterung in Wertschöpfungsprozessen wird durch technologisch ausgeweitete Möglichkeiten
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der Automatisierung verstärkt und erhält so einen zusätzlichen Schub im Kontext von Wettbewerbsstrategien von Unternehmen. Die Digitalisierung der Arbeit ist keineswegs ein Prozess, der erst vor Kurzem eingesetzt hat. Digitale Technologien haben bereits seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend Arbeitsprozesse geprägt. So untersuchte z. B. eine Forschergruppe von Soziologen unter Leitung von Hans-Paul Bahrdt in diesem Zeitraum die Auswirkungen des Einzugs von Computern in der Industrie (Bahrdt et al. 1970). Die Digitalisierung hat allerdings erheblich an Geschwindigkeit gewonnen und darüber hinaus haben sich die in ihr enthaltenen technologischen Potenziale (Verarbeitungskapazität, Geschwindigkeit, Verknüpfungsmöglichkeiten und interaktive Vernetzung) exponentiell erhöht (Brynjolfsson und McAfee 2014). Die Digitalisierung der Arbeit und Wertschöpfung verleiht der Globalisierung vor diesem Hintergrund einen zusätzlichen Schub. Die Vernetzung und Verknüpfungspotenziale der Digitalisierung ermöglichen koordinierte globale produzierende und dienstleistende Wertschöpfungsverbünde und -netzwerke, die grenzenlos, ohne zeitliche Barrieren interagieren. Auf der Makroebene ist hierdurch die Entstehung von digitalen Knotenpunkten möglich geworden, die Hierarchien und Wertschöpfungsstrukturen grundlegend verändern. Digitalkonzerne werden zu Knotenpunkten digitaler Herrschaft und stellen staatliche und suprastaatliche Institutionen vor neue Herausforderungen der Regulierung (z. B. Steuern, Datenschutz, Wettbewerbsregulierung). Auf der Mesoebene geraten traditionelle Branchen unter den Druck, sich gegen „disruptive“ Wettbewerbsprozesse zu behaupten und die bestehenden Geschäftsmodelle zu verändern. Dieser Druck beschränkt sich keinesfalls auf nur wenige Branchen und Unternehmen, sondern erzeugt einen umfassenden sektoralen Strukturwandel mit einer Neukonfigurierung von Wertschöpfungsprozessen und Branchen. Dies kann z. B. bei den Finanzdienstleistungen über die Automobilindustrie bis zum Einzelhandel, der Landwirtschaft, dem Energiesektor oder dem Gesundheitswesen beobachtet werden. Die Digitalisierung durchdringt Geschäftsmodelle und verändert hierdurch organisationale Identitäten. Die Art der Durchdringung und ihre Auswirkungen sind jedoch sehr spezifisch und von den jeweiligen differenzierten Bedingungen von Branchen und Unternehmen abhängig. In diesem Sinne prägt nicht die Digitalisierung Unternehmen, sondern sie durchdringt jeweils spezifisch die Branchen und Unternehmen, so z. B. bei den Finanzdienstleistungen im Kontext der Rahmenbedingungen für Kapitalmärkte und in der Automobilindustrie im Zusammenhang mit den Anforderungen an Strategien und Modelle für nachhaltige Mobilität. Insofern stehen Unternehmen vor der Aufgabe, Strategien, Organisationsziele, Kernkompetenzen, Strukturen, Geschäfts- und Arbeitsprozesse sowie Organisationskulturen grundlegend zu
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verändern. Dieser Zusammenhang zwischen Digitalisierung und dem spezifischen Wandel organisationaler Kerne und Identitäten kann begrifflich als digitale Transformation von Organisationen zusammengefasst werden. Diese Transformation geht weit über klassische Rationalisierungsprozesse zur Steigerung von Effizienz, Qualität und Rentabilität hinaus. Sie ist keine ausschließlich technologische Veränderung, sondern bezeichnet einen grundlegenden sozialen und strukturellen Formenwandel von Organisationen und Arbeit, der durch die hieran beteiligten Akteure gestaltet und ausgehandelt werden muss (BMAS 2016; Widuckel 2018; Boes et al. 2018). 3
Arbeit 4.0 – ausgewählte allgemeine Merkmale
Auf der Meso- und Mikroebene werden einige allgemeine Merkmale der Veränderung erkennbar, die Unternehmen wie Betriebsräte zur inhaltlichen Neuorientierung veranlassen. Digitalisierte Arbeit bietet grundsätzlich Potenziale erhöhter Flexibilität. Dies bezieht sich auf die Zeit und den Ort des Arbeitens durch eine mögliche Erweiterung von Mobilität und zeitlicher Flexibilität. Diese Potenziale weisen allerdings über die Grenzen von Unternehmen hinaus. So werden Wertschöpfungsnetzwerke geknüpft, die in digitalisierter Arbeitsteilung eine durchgängige Kooperation zwischen Mitarbeitenden und Beauftragten unterschiedlicher Unternehmen organisieren. Die gemeinsame Arbeit in einem Team oder Arbeitsprozess verbindet Beschäftigte aus unterschiedlichen Unternehmen. Zudem entstehen in Form digitalisierter Dienstleistungen veränderte Sozialtypen von Arbeit, die die Grenzen zwischen Arbeitnehmer- und Selbstständigenstatus verschwimmen lassen. Zusätzlich werden digitale Plattformen zu Knotenpunkten der Vermittlung von Arbeitenden, die ein digitalisiertes Herrschaftsverhältnis zwischen Anbietenden von Arbeit (nicht Arbeitnehmenden) und Vermittlungsplattformen begründen. Diese Entwicklungen führen zu einer doppelten Herausforderung: Zum einen drohen arbeits-, tarif- und mitbestimmungsrechtliche Normen ins Leere zu laufen. Die Definitionslinien von Arbeitszeit, Arbeitsort und sogar des Arbeitsverhältnisses verschwimmen für einen Teil der digitalisiert Arbeitenden. Die messbare und abgrenzbare Normierung von Arbeitszeit, Arbeitsort und des Arbeitsverhältnisses ist allerdings ein wesentlicher Bezugspunkt der Definition und Ausübung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrates (Müller-Jentsch 2008). Zum anderen erscheint es jedoch kein sehr viel versprechender Weg zu sein, an starren Fixierungen der genannten Normen einfach festhalten zu wollen; denn der Wandel zu digitalisierter Arbeit schafft durch seine Flexibilitätspotenziale auch attraktive Perspektiven, die von Beschäftigten eingefordert und gewollt
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werden. So gaben bei einer Befragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) auf der repräsentativen Basis der Sozioökonomischen Panels (SOEP) 20 Prozent der Befragten an, dass sie sich die Nutzungsmöglichkeit von Homeoffice wünschten, aber keine Gelegenheit hierzu bekämen, obwohl die Art der Arbeit dies zuließe (Brenke 2016)3. Eine Auswertung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) auf der Basis des SOEP zeigt erhebliche Diskrepanzen zwischen tatsächlicher und gewünschter Arbeitszeit in Abhängigkeit von Einkommen, familiärer Situation und beruflicher Autonomie auf. An Hand dieser Diskrepanzen kann geschlussfolgert werden, dass der Wunsch nach einer stärkeren lebensphasenbezogenen Arbeitszeit angebracht wäre und die genannten Präferenzen eher erfüllen könnte (Weber und Zimmert 2018). Beide Befunde beziehen sich zwar nicht ausschließlich auf digitalisierte Arbeit, sind aber in deren Kontext von hoher Relevanz. Es wird an beiden genannten Befunden erkennbar, dass Impulse für einen Strukturwandel der Arbeit nicht ausschließlich durch die Unternehmen und ihre Wettbewerbsstrategien adressiert werden, sondern auch arbeitnehmerseitige Präferenzen aufweisen. Hierbei können insbesondere flexible Arbeitszeiten zur Unterstützung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben als generelle Präferenz ausgemacht werden. So stellt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in seiner Arbeitszeitbefragung von 17.870 Beschäftigten aus dem Jahr 2016 fest, dass sich Handlungsspielräume als Einflussnahme auf den Arbeitsbeginn und das Arbeitsende bei der Arbeitszeit positiv auf die Arbeitszufriedenheit und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben auswirken (BAuA 2016). Offensichtlich strukturiert nicht nur die digitalisierte Arbeit Flexibilitätsbedingungen, sondern es bestehen auch Flexibilitätsbedürfnisse von Beschäftigten, die auf mehr individuelle Handlungsspielräume abzielen. Die Relevanz der Arbeitszeit im Kontext digitalisierter Arbeit zeigt sich auch an der Entwicklung von Überstunden. So machen Warning und Weber im Rahmen einer repräsentativen Stellenerhebung des IAB aus dem Jahr 2015 in einer multivariaten Analyse einen signifikanten Einfluss der Digitalisierung der Arbeit auf die Wahrscheinlichkeit von Überstunden sowie häufigen Termindruck aus4 (Warning und Weber 2017). Somit kann insbesondere die Arbeitszeit als ein Spannungsfeld von Interessenlagen im Kontext digitalisierter Arbeit ausgemacht 3
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Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie vollzieht sich eine generelle Änderung der Nutzung von Homeoffice. Dies gilt sowohl für das Nutzungsverhalten der Beschäftigten als auch für Nutzungsanforderungen durch Arbeitgeber. Es bleibt abzuwarten, wie nachhaltig diese Veränderung sein wird und was dies für diese Form der Erwerbsarbeit bedeutet. Hierbei wird zwischen interner und externer Digitalisierung unterschieden. Die unternehmensinterne Digitalisierung der Wertschöpfungsprozesse korreliert mit der Wahrscheinlichkeit von Überstunden. Die unternehmensexterne Digitalisierung als Verknüpfung mit Lieferanten und Kunden korreliert signifikant mit Termindruck.
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werden, das zusätzlich an Brisanz gewinnt, weil sich Arbeitspräferenzen von Beschäftigten als Folge verlängerter Bildungs- und Ausbildungszeiten, einem Trend zur Erwerbstätigkeit beider Partner und erhöhter Ansprüche an die Lebensgestaltung gewandelt haben (Allmendinger et al. 2016). Darüber hinaus deuten die Befunde von Warning und Weber (2017) zusätzlich darauf hin, dass auch Arbeitsbelastungen durch Termindruck ein Spannungsfeld darstellen, die signifikant mit der Digitalisierung der Arbeit verbunden sind. Ein weiteres Feld digitalisierter Arbeit stellen mobil-flexible Formen dar. Hierbei sind zum einen unerfüllte Wünsche und Ansprüche erkennbar, wie die zitierten Befunde zeigen. Auf der anderen Seite ist aber auch von einem interessen- und bedürfnisbezogenen Konfliktpotenzial auszugehen, das sich in empirischen Forschungsbefunden zeigt. So weisen Pangert et al. (2016, S. 39-49) in einem Review 42 einschlägiger empirischer Untersuchungen darauf hin, dass „Arbeitsmenge, Autonomie, Kontrolle über die Grenze zwischen Lebensbereichen (darunter fassen wir auch Arbeitszeitflexibilität sowie Erwartungen, erreichbar zu sein), das Grenzziehungs- und Zeitmanagement sowie die Segmentationspräferenzen von Beschäftigten“
wesentliche beeinflussende Variablen für die soziale Wirkung von Erreichbarkeit auf die Beschäftigten sind. Aus den analysierten Studienergebnissen lassen sich zum Teil erhebliche Konfliktlagen herauslesen. Titze und Nadin (2011) zeigen in einer qualitativen Untersuchung auf, dass die psychologische Wirkung einer Verlagerung von Arbeit in ein Homeoffice in starker Abhängigkeit zu den Beziehungsgrundlagen und Erwartungen zwischen den betroffenen Beschäftigten und dem Unternehmen bzw. Vorgesetzten steht. Im vorliegenden Untersuchungsfall hat diese Verlagerung signalisiert, dass der Arbeitgeber die betreffenden Aufgaben als nicht besonders relevant angesehen hat. Ebenso wäre es aber denkbar, dass ein derartiges Arrangement als Ausdruck der Wertschätzung und Anerkennung von Vereinbarkeitsbedürfnissen wahrgenommen werden kann. Dies setzt aber gleichermaßen voraus, dass das Führungsverhalten, die Leistungskontrolle und die sozialen Beziehungen zu den jeweiligen Kollegen nach von allen Beteiligten akzeptierten Regeln und durch Vertrauen geprägt wird (Collins et al. 2013). Anhand dieser ausgewählten allgemeinen Merkmale wird die Komplexität der Herausforderungen deutlich, mit denen Betriebsräte durch die Arbeit 4.0 konfrontiert sind. Zusätzlich entwickeln sich relativ junge Unternehmen im Zuge der Digitalisierung zu strukturprägenden Organisationen. Diese Unternehmen befinden sich jedoch außerhalb gewachsener gewerkschaftlicher oder mitbestimmungsorientierter Kulturen und Traditionen und fordern diese direkt (z. B. Amazon, Google) oder indirekt durch den Wandel von Branchen, die wachsende Bedeutung kleinerer und mittlerer Unternehmen sowie wissensbasierter sowie
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hochqualifizierter Tätigkeiten heraus. Dies führt zu einem grundlegenden Wandel der Arbeitskräftestruktur (Müller-Jentsch 2018). Die wachsende Komplexität und Interdependenz von Wertschöpfungsnetzwerken erschwert hierbei die Einflussnahme der Mitbestimmung auf die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen und Arbeitsbedingungen. Betriebsräte stoßen hier sehr grundsätzlich an die Grenzen ihrer Vertretungsmöglichkeiten und ihrer Legitimation. Auf der Meso- und Mikroebene führen diese Entwicklungen zu dem Erfordernis einer Weiterentwicklung der Schutz- und Gestaltungsfunktion betrieblicher Mitbestimmung. Seit den 1980er Jahren sehen sich Betriebsräte mit einem wachsenden Druck eines globalisierten Wettbewerbs konfrontiert, der vor allem die Sicherung von Beschäftigung und Standorten in das Zentrum interessenpolitischen Handelns gerückt hat (Rehder 2003). Hierbei nehmen Betriebsräte in wachsendem Umfang auch die Rolle von „neuen Tarifakteuren“ (Haipeter 2018, S. 291-297) ein. Dieser inhaltliche und funktionale Wandel beschränkte sich jedoch auf vertretungsstarke Kernbereiche, während sich insbesondere in wachsenden Dienstleistungsbereichen die Lücken der Abdeckung durch Betriebsräte vergrößert haben (Ellguth und Kohaut 2018). Die Mitbestimmung von Betriebsräten zur Gestaltung digitalisierter Arbeit und Beschäftigung kann eine soziale akzeptierte Wirksamkeit bei den Beschäftigten vor allem dann erreichen, wenn sie deren differenzierte Bedürfnis- und Interessenlagen berücksichtigt. Diese Differenzierung ergibt sich zum einen aus den jeweiligen betrieblichen Kontextbedingungen und den hieraus resultierenden organisatorischen, inhaltlichen und kulturellen Prägungen auf die Arbeitssituation. Darüber hinaus sind die jeweiligen individuellen Perspektiven der Erwartungen an die Arbeit, an die berufliche Entwicklung sowie an die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben (Life-Domain-Balance) zu berücksichtigen. Hierbei sehen sich Betriebsräte einer wachsenden Komplexität gegenüber, die durch das Zusammenspiel von Technologie, Organisation, einer gewachsenen Vielfalt von Anforderungen sowie Strukturen und vielfältigeren subjektiven Erwartungen auszeichnet. Dies belegt beispielhaft die Differenzierung von Arbeitszeitpräferenzen oder den Einfluss von sozialen Beziehungen bei der Einführung von Homeoffice und dessen Wahrnehmung durch die betroffenen Beschäftigten (s. o.). Hierbei stoßen generalisierende Regelungen an Grenzen. Die direkte Rückkopplung der Entwicklung von interessenpolitischen Positionen mit den betroffenen Beschäftigten gewinnt für die Legitimation von Betriebsräten an Bedeutung. Dennoch können Betriebsräte nicht einfach auf einen normativen kollektiven Bezug interessenpolitischen Handelns verzichten; denn bei aller individuellen Differenzierung bleiben in der Erwartung von Beschäftigten auch Normen wirksam, die sich in Gerechtigkeitsansprüchen manifestieren (Kratzer et al. 2015). Damit bleiben soziale Konfliktlinien im Betrieb wirksam, die auf ge-
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meinsame Interessen verweisen und nicht im Sinne individueller Vorteile vertreten werden können. Deshalb ist nicht die Frage entscheidend, ob kollektive Interessenbezüge bestehen, sondern wie diese zu interessenpolitischem Handeln entwickelt und mit der Differenzierung individueller Interessenperspektiven verknüpft werden können. Dieser Zusammenhang soll anhand der digitalen Themenkomplexe Industrie 4.0 sowie Agilität vertieft werden, die den Formenwandel der Arbeit durch die Digitalisierung umfassend beeinflussen. 4
Industrie 4.0 – Herausforderungen im Kernbereich betrieblicher Mitbestimmung
Die Digitalisierung industrieller Arbeit betrifft den organisatorischen Kernbereich der betrieblichen Mitbestimmung in Deutschland. Die inner- und überbetriebliche informationstechnische, systemische Vernetzung industrieller Wertschöpfungsprozesse und deren Synchronisierung sind wesentliche Merkmale dieses Wandels, der mit einem erhöhten Automatisierungspotenzial von Anlagen-, Bearbeitungs-, Prozess- und Handhabungstechnologien verbunden ist. Dies betrifft allerdings nicht nur den Herstellungsprozess, sondern die gesamte Logistikkette sowie die vorgelagerten, begleitenden und nachgelagerten Funktionen der Technischen Entwicklung, des Vertriebes und sogar bestimmte Sektoren des Monitorings und der Steuerung von Kosten und Ressourcen (Hirsch-Kreinsen 2018; Widuckel 2016). Präzise Prognosen zu den Auswirkungen von Industrie 4.0 sind gegenwärtig nicht möglich, da deren Entwicklung als ein schrittweiser Prozess zu verstehen ist, der von vielen Einflussfaktoren geprägt wird. So haben etwa Pfeiffer und Suphan (2018) zu Recht darauf hingewiesen, dass bestimmte Abschätzungen von Substitutionspotenzialen von Arbeit (Frey und Osborne 2017) erheblichen methodischen sowie empirischen Unwägbarkeiten und Unzulänglichkeiten unterliegen, wodurch sie nur sehr reduziert aussagefähig sind (Pfeiffer und Suphan 2018). Ittermann und Niehaus (2018) entwickeln in Abgrenzung von Prognosen vier mögliche Szenarien, die von einem Positivszenario mit der Folge einer Höherqualifizierung über ein Negativszenario mit der Folge eine Dequalifizierung bei hoher Automatisierung bis zu einem Polarisierungsszenario mit der Folge einer Kombination der beiden vorgenannten Szenarien reichen. Das Positivszenario geht von einer wachsenden Beschäftigungstendenz bei einer Anreicherung von Tätigkeiten und Qualifikationen aus, die umrahmt wird von einer Öffnung zu netzwerkartigen Strukturen und einem hohen Grad an Selbstorganisation. Zusätzlich würden die Flexibilitätspotenziale für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben genutzt. Das Negativszenario kehrt die
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genannten Merkmale in ihr Gegenteil. Es käme zu einer massiven Substitution von Arbeit durch Automatisierung sowie zu Dequalifizierungsprozessen und einer starken Konzentration von Entscheidungsbefugnissen sowie einer hohen Kontrolldichte. Im Polarisierungsszenario würden Entwicklungen in beide genannten Richtungen ausgelöst, die eine Spaltung in Digitalisierungsgewinner und -verlierer zum Ergebnis hätte. Diese drei Szenarien werden durch ein Entgrenzungsszenario ergänzt, das in bestimmten Feldern die betriebliche Gebundenheit von Arbeit durch neue Formen wie Crowdworking ersetzt und gleichzeitig neue Trennungslinien zwischen anspruchsvoller und einfacherer Arbeit schafft. Diese entwickelten Szenarien können auch als Gestaltungsherausforderungen für die betriebliche Mitbestimmung aufgefasst werden; denn sie verweisen auf mögliche Gestaltungspotenziale, die nutzbar gemacht werden könnten. Hierbei soll allerdings bewusst nicht dem zu Recht kritisierten „technologischen Determinismus“ ein „technologischer Voluntarismus“ entgegenstellt werden. Die Technologie bestimmt weder die Gestaltung der Arbeit in einer starren Struktur vor (Determinismus), noch kann Technologie beliebig eingesetzt und verwendet werden (Voluntarismus). Die Realisierung eines Positivszenarios wäre an zahlreiche Voraussetzungen gebunden, um konkrete Gestalt annehmen zu können. Hierzu gehört aus der Perspektive des Betriebsrates als erster Schritt, das Handlungsfeld der Arbeitsgestaltung als Kernaufgabe der Interessenvertretung zu definieren. Haipeter (2018) weist jedoch zu Recht darauf hin, dass dies auf Grund einer langen und absorbierenden Phase von verhandelten Anpassungsprozessen zur Standort- und Beschäftigungssicherung nicht selbstverständlich ist. Aus den von Haipeter (ebd.) referierten Fallstudien aus Metallbetrieben in NordrheinWestfalen wird allerdings deutlich erkennbar, dass der Anspruch von Gestaltungskompetenz im Kontext der Digitalisierung industrieller Arbeit auf die Einbeziehung der Expertise von Beschäftigten angewiesen ist. Es ist offensichtlich, dass der vorhandene Kompetenz- bzw. Erfahrungsfundus von Betriebsräten allein hierfür nicht ausreichend ist. Hierbei wird sowohl ein selektiver als auch ein breit angelegter Beteiligungsmodus berichtet, der auch bisher eher betriebsratsferne Zielgruppen einbezieht. Eine zusätzliche Facette von Beteiligungspotenzial zeigen Pfeiffer und Suphan (2018) auf. Dieses Potenzial bezieht sich auf eine Ausblendung der Bedeutung von Erfahrungswissen, das in Zukunftsentwürfen der Industrie 4.0 nach den Befunden der Autorinnen systematisch unterschätzt oder gar völlig ausgeblendet würde. Aus diesem Befund spricht die Diagnose einer zu starken Betonung technologischer Perfektion bei Unterbewertung der Komplexitäts- und Störungsrisiken. Hieraus leitet sich ein Plädoyer für die Stärkung industrieller Facharbeit ab, die bereits durch Einbeziehung von Facharbeitern bei der Gestaltung von Industrie 4.0 möglich wäre. In gewisser Weise handelt es sich hier um
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ein Plädoyer für einen technologischen Realismus, der sowohl sozial als auch betriebswirtschaftlich argumentiert und gleichzeitig eine Öffnung für mehr betriebliche Partizipation ermöglichen würde. Hierdurch erweitert sich der von Haipeter (2018) ausgemachte Partizipationsbezug noch einmal deutlich. Denn hier geht es nicht ausschließlich um die Einbeziehung von Beschäftigten in die Fundierung und Zielbestimmung interessenpolitischen Handelns, sondern um eine Öffnung betrieblicher Organisationsprozesse und -strukturen für die direkte Beteiligung. Die Digitalisierung industrieller Arbeit stellt vor diesem Hintergrund folgende Herausforderungen an die betriebliche Mitbestimmung: Es geht einerseits um die notwendige Fundierung interessenpolitischer Positionsbestimmungen und Handlungsziele des Betriebsrates durch die Einbeziehung von Beschäftigten. Hierbei geht es sowohl um die Hinterfragung managementseitig postulierter betriebswirtschaftlicher technologischer Rationalität als auch um eine Einbeziehung von spezifischen Bedürfnissen von Beschäftigten an die Gestaltung von Arbeitsbedingungen. Hinzu kommt die Öffnung der betrieblichen Organisation für eine Erweiterung der Beschäftigtenbeteiligung im Arbeitsprozess, die individuellen Bedürfnissen wie kollektiven Erwartungen nach Wertschätzung und Beteiligung an der Gestaltung der eigenen Arbeit (Kratzer et al. 2015) Rechnung tragen könnte. 5
Agilität – die dezentralisierte, transformative Beschleunigung
Agilität zählt zu den zentralen Gestaltungselementen digitalisierter Arbeit. Die wesentlichen Merkmale agiler Organisationen basieren auf einem Prozessverständnis, das sich nicht an der Erreichung langfristig definierter Ziele orientiert, sondern die iterative Zielveränderung zum Prinzip erhebt. Hierbei wird davon ausgegangen, dass Prozessfortschritte der Arbeit mögliche Fehler beinhalten und die Kundenbedürfnisse sich verändern können. Die Antizipierbarkeit von Zielen wie von beeinflussenden Ereignissen wird als begrenzt angesehen. Hieraus ergeben sich für die Arbeit in agilen Prozessen umfassende Konsequenzen. So sind agile Methoden wie Design Thinking oder Scrum methodisch und zeitlich relativ präzise formalisiert. Rollen sind definiert und Führung ist dezentralisiert und verteilt. Agiles Arbeiten basiert auf Teamstrukturen, denen im Rahmen von unternehmens- und bereichsbezogenen Rahmensetzungen Handlungs- und Entscheidungsspielräume eingeräumt werden. Es wäre deshalb zu kurz gedacht, Agilität ausschließlich mit Beschleunigung zu assoziieren. Vielmehr wird einerseits Verantwortung und Führung auf die Teams delegiert und andererseits durch ein formalisiertes Korsett definierter Methoden und Rollen gesteuert. In diesem
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Sinne kann Agilität als gesteuerte dezentrale Autonomie interpretiert werden. Die Kontrollfunktion der Hierarchie wird zum Teil durch die Selbstorganisation der Teams ersetzt, die wiederum durch die vorgegebenen Methoden und Feedbackschleifen strukturiert wird (Boes et al. 2018). Der Bezug zwischen Agilität und Digitalisierung resultiert aus deren Entstehungszusammenhängen in der Entwicklung von Software. Hierbei werden agile Wertschöpfungsprozesse digitalisiert hinterlegt, dokumentiert und koordiniert. Individuelles Wissen wird so zu einem verfügbaren Bestandteil des Teamprozesses und damit zu einem gemeinsamen Gegenstand von Interaktion und Kollaboration (ebd.). Dies führt auch zu einem Perspektivwechsel der Individuen in agilen Prozessen. Bestimmender Bezugspunkt der Bewertung von Leistung ist das Ergebnis der Teamarbeit, die wiederum durch ein getaktetes Feedback der kontinuierlichen Bewährung gegenüber den Kundenanforderungen und den übergeordneten Zielen der Organisation ausgesetzt wird. Im Vordergrund steht hierbei nicht mehr eine exklusive differenzierende Expertenrolle, die einen Beitrag zu Erreichung längerfristig feststehender Ziele leistet, sondern die flexible Anpassungsfähigkeit des Teams an volatile Bedingungen des Marktes und damit sich verändernden Kundenanforderungen sowie an die Organisationsumwelt. Die formale und methodische Strukturierung führt zu einer Objektivierung von Arbeitsanforderungen und Arbeitshandeln, das somit transparent und reproduzierbar wird. Taktung und Synchronisation werden zu bestimmenden Bedingungen agilen Arbeitshandelns. Boes et al. (2018, S. 13-16 ) umschreiben diese Entwicklung als „neuen Typus der Industrialisierung“, der nicht durch die technisch induzierte Arbeitsteilung der „großen Industrie“ (Marx 1975, 1890, S. 390-450) geprägt ist, sondern der subjektives, wissensbasiertes Arbeitshandeln durch Methoden, Taktung, Synchronisation und Feedback strukturiert und damit in erster Linie organisational steuert. Die subjektiven Arbeitsorientierungen der betroffenen Beschäftigten sollen hierdurch auf die Bedürfnisse der Kunden sowie auf die strategischen Zielsetzungen der Organisation fokussiert werden. Diese Fokussierung wiederum soll die motivationale Basis des Teamprozesses und damit des Beitrages der Teammitglieder bilden, die wiederum durch die genannten Handlungs- und Entscheidungsspielräume stimuliert werden sollen. Hierbei wächst das Paradigma der Agilität über die Softwareentwicklung hinaus und hält Einzug in weitere Bereiche von Wissensarbeit (Boes et al. 2018). Die soziale Realität agiler Arbeit scheint allerdings differenziert zu sein. Diese reicht von eher weitgehenden Partizipationsspielräumen von Teams, die auch Einfluss auf die Verteilung von Ressourcen und die Definitionen von Zielen nehmen können, bis zur Gängelung durch Mikrovorgaben von Vorgesetzten, die die Potenziale der Selbstorganisation von Teams einschränken (Boes et al. 2018, Kratzer 2016). Hierbei geht es nicht ausschließlich um den motivationalen, son-
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dern auch um den belastungsbezogenen Aspekt von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen. Diese können auch als Ressourcen verstanden werden, um die Belastungen von Arbeitsanforderungen abzufangen (Demerouti und Nachreiner 2019). Das Fehlen dieser Ressourcen wirkt sich negativ auf das Arbeitsengagement aus, die hiermit in Verbindung stehende Fehlbeanspruchung durch Arbeitsanforderungen fördert arbeitsinduzierte Erschöpfung. Die kompensierende Wirkung von Selbstregulationsmöglichkeiten in der Teamarbeit bei der Bewältigung von Arbeitsanforderungen findet sich auch bei Gerlmaier (2006). Der Fokus auf Ressourcen reicht hier allerdings weiter und nimmt die Arbeitszeitgestaltung wie die Arbeitsgestaltung insgesamt in den Blick. Dies betrifft vor allem die Verhandlungsautonomie von Gruppen, um z. B. erforderliche Kapazitäten, Arbeitsmittel, Informationen, Lernmöglichkeiten und Arbeitsflexibilität wirksam beeinflussen zu können. Als Schlüsselbegriff kann hier das Empowerment von Teams genannt werden, das Selbstregulationsmöglichkeiten zur Aufgabenbewältigung und zur Arbeitsgestaltung umfasst. Die Ermöglichung von Beteiligung und die Ermächtigung zu Entscheidungen, Empowerment und Enabling werden somit zu einer zentralen Herausforderung interessenpolitischer Orientierungen und Positionierungen von Betriebsräten. Die Interessenvertretung durch den Betriebsrat ist aufgefordert, den Bedürfnissen, Erwartungen und Ansprüchen von Beschäftigten durch ein Eintreten für Empowerment und Enabling Rechnung zu tragen. Diese Aufforderung bewegt sich nicht in den Bahnen von Stellvertreterhandeln, sondern zielt auf die kollektive Durchsetzung von Rechten zur Selbstvertretung. Der Betriebsrat kann somit zum Anwalt einer Normierung zweiter Ordnung werden, die nicht die Arbeitsgestaltung selbst, sondern Beteiligungsund Entscheidungsrechte zu deren wirksamen Beeinflussung regulieren. Die gesteuerte Autonomie bietet keine Garantien für diese Rechte und Ressourcen. Sie ist widersprüchlich und ist durch die unterschiedlichen Interessen der Akteure in den betrieblichen Herrschaftsverhältnissen begrenzt. Stellvertreterhandeln von Betriebsräten stößt in diesem Kontext ebenfalls an Grenzen, da die Komplexität und Dynamik von Agilität wie die Diversität von Bedürfnissen, Ansprüchen und Erwartungen sich der Kontrolle durch Betriebsratshandeln entzieht und auch über die individuellen Erfahrungshintergründe von Betriebsratsmitgliedern hinausreicht. Um die hierdurch entstehende vertretungsbezogene Lücke zu füllen, die durch die Widersprüchlichkeit gesteuerter Autonomie und die Grenzen von Stellvertreterhandeln entsteht, können Betriebsräte zu Anwälten von Rechten zur Selbstvertretung werden. Sie würden somit zum Sprachrohr einer kollektiven Subjektivität.
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Schlussfolgerung für die Forschung
Die betriebliche Mitbestimmung hat sich zum Hauptgegenstandsbereich der Forschung zu den industriellen Beziehungen entwickelt. Hierin stehen zum einen Partizipations- bzw. Beziehungsmuster zum Management im Vordergrund, zum anderen spiegelt sich die Forschung zur betrieblichen Mitbestimmung auch auf die Wirkung von gesellschaftlichen und sozioökonomischen Strukturveränderungen auf die Orientierungen, die Wirksamkeit, die Wirkungen und die Interaktionsbeziehungen von Betriebsräten wider (vgl. hierzu zusammenfassend Kotthoff 2013). Hinzu kommen Untersuchungen zur Verbreitung der Institution Betriebsrat (besonders die jährlichen Erhebungen im Rahmen des IAB-Betriebspanels). Müller-Jentsch hat einen sehr weitreichenden institutionentheoretischen Ansatz der Mitbestimmungsforschung vorgelegt und hieraus einen Begründungszusammenhang der Entwicklung von Mitbestimmung als co-evolutionärem Lernprozess abgeleitet (Müller-Jentsch 2008). Ein weiterer Zweig der Forschung zur betrieblichen Mitbestimmung kann in Untersuchungen zur Beziehung zwischen Betriebsräten und Innovation ausgemacht werden (Schwarz-Kocher et al. 2011; Scholl et al. 2013). Kotthoff hat als Betrag zu Erforschung der betrieblichen Mitbestimmung eine handlungs- und interaktionstheoretisch konzipierte Typologie von Partizipationsmustern von Betriebsräten vorgelegt, die diese als Teil einer jeweiligen betrieblichen Sozialordnung versteht und damit in einen Herrschaftszusammenhang einordnet (Kotthoff 1981, 1994). Diese Typologie differenziert diese Partizipationsmuster als – – – – – – –
ignorierter Betriebsrat, isolierter Betriebsrat, Betriebsrat als Organ der Geschäftsleitung, standfester Betriebsrat, Betriebsrat als konsolidierte Ordnungsmacht und Co-Manager, Betriebsrat als aggressive Gegenmacht, Betriebsrat als kooperative Gegenmacht.
Bestechend an dieser Typologie ist die Herstellung von Zusammenhängen zwischen Orientierungen und Kompetenzen von Betriebsräten, der Kooperationsorientierung und Einstellungen des Managements sowie soziokulturellen, ökonomischen und politischen Einflüssen aus der Organisationsumwelt. Diese Typologie bildet einen maßgeblichen inhaltlichen Bezugspunkt in der Literatur zur betrieblichen Mitbestimmung und fand auch eine direkte Verwendung als Differenzierungskonstrukt in der empirischen Forschung (Schwarz-Kocher et al. 2011). Die in vorherigen Kapiteln aufgezeigten Wandlungsprozesse der Arbeit durch die Digitalisierung lassen jedoch die Frage als berechtigt erscheinen, ob
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eine derartige Typologie nicht systematisch erweitert werden müsste, um die Forschung zur betrieblichen Mitbestimmung in der digitalen Transformation überhaupt noch angemessen konzipieren zu können. Die Digitalisierung der Arbeit und der Wandel soziokultureller, demografischer und sozioökonomischer Rahmenbedingungen erfordern, der direkten Partizipation der Beschäftigten als Fokus der Mitbestimmungsforschung einen größeren Stellenwert beizumessen. So können die aufgezeigten Szenarien der Industrie 4.0 als eine interessenpolitische Herausforderung aufgefasst werden, deren soziotechnische Gestaltung beteiligungsorientiert zu konzipieren, um den Potenzialen von Erfahrungswissen einen angemessenen Spielraum zu sichern und somit eine partizipationsorientierte Arbeitsorganisation und Arbeitskultur zu realisieren. Ein derartiger Realisierungspfad der Digitalisierung von Arbeit wäre natürlich an vielfältige Herausforderungen gebunden, die Bestandteil der betrieblichen Sozialordnung werden müssten. Dies umfasst geteilte Werte und Normen, Strategien, operative Handlungsorientierungen und Interaktionsbeziehungen in den jeweiligen Organisationen. Im Kontext der Digitalisierung der Arbeit spielt allerdings die Transformation der Organisationen eine zentrale Rolle. Partizipationsmuster und betriebliche Sozialordnungen wären aus diesem Grund nicht nur auf den Status quo, sondern auch auf Vorstellungen über bestehende oder beabsichtigte Entwicklungspfade in der Zukunft zu beziehen. Die Partizipation von Beschäftigten wäre somit in den Prozess und die Zielvorstellung der digitalen Transformation einzubeziehen und auf deren von den Akteuren zugemessene Bedeutung für den Erfolg und die Wirksamkeit interessenpolitischen Handelns von Betriebsräten. Im Kern ist mit dieser Erweiterung die Erwartung verbunden, dass sich mit einer Verknüpfung zwischen der institutionalisierten Mitbestimmung des Betriebsrates und direkter Partizipation von Beschäftigten in der digitalen Transformation auch entscheidet, ob ein Partizipationsmuster als defizient oder wirksam einzuordnen ist. Diese von Kotthoff formulierte Teilungslinie zwischen den unterschiedlichen Partizipationsmustern würde somit konzeptionell erweitert. Die Plausibilität dieser Erwartung zeigt sich auch in der Auseinandersetzung mit genannten Befunden zu agiler Arbeit. Die wahrgenommene Qualität agiler Arbeit aus der Beschäftigtenperspektive ist mit Entscheidungs- und Handlungsspielräumen verbunden, die nicht nur die Aufgabenbewältigung, sondern auch die Einflussnahme auf die Ressourcenausstattung und die Arbeitszeitgestaltung betreffen. Hier wird ein unmittelbarer Partizipationsanspruch erkennbar, der allerdings nicht durchgängig eingelöst wird und unter diesen restriktiven Bedingungen zu einer negativen Wahrnehmung von Arbeitsanforderungen führt. Der Zusammenhang zwischen betrieblicher Sozialordnung als Herrschaftsordnung und den Beteiligungsrechten für Beschäftigte wird auch hier unmittelbar erkenn-
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bar. Ebenso sprechen die Befunde zur Bedeutung der Regulierung von zeitlicher und räumlicher Flexibilität sowie dem Wandel von Lebensphasen und Lebensformen für eine stärkere Berücksichtigung der direkten Beteiligung von Beschäftigten in der Mitbestimmungsforschung. Hier gilt ebenfalls, dass der Betriebsrat seine Legitimation für die Interessenvertretung nicht ausschließlich auf kollektiv wirksame Normen stützen kann, sondern adäquate und akzeptierte Positionsbestimmungen auf die differenzierte Einbeziehung der Beschäftigten stützen und deren Aushandlungsrechte stärken muss. Die Erwartungs- und Interessenperspektive aus der Sicht von Beschäftigten richtet sich auf Empowerment und Enabling. 7
Überlegungen zur Zukunft der betrieblichen Mitbestimmung
Die Herausforderungen der Digitalisierung der Arbeit legen nicht nur eine Weiterentwicklung von wissenschaftlichen Forschungs- und Interpretationskonzepten nahe, sondern sie verändern auch den inhaltlichen Kern der betrieblichen Mitbestimmung in der Beziehung zu den Beschäftigten. Die Digitalisierung der Arbeit, der Wertschöpfung und der Ökonomie insgesamt erhöht die Potenziale für Flexibilität, steigert die Komplexität und Dynamik und konfrontiert die Beschäftigten permanent mit sich verändernden Bewältigungs- und Bewährungsanforderungen. Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren Betriebsräte vor allem mit dem interessenpolitischen Management von Anpassungsdruck konfrontiert. Standort- und Beschäftigungssicherung, Tarifanpassungen und Innovationskooperationen prägten vor diesem Hintergrund tiefgreifend und umfassend das interessenpolitische Handeln von Betriebsräten (Rehder 2006, Haipeter 2018, Schwarz-Kocher et al. 2011, Scholl et al. 2013). Dieser Anpassungsdruck hat Betriebsräte gezwungen, sich zunehmend mit strategischen und betriebswirtschaftlichen Herausforderungen der Unternehmen auseinanderzusetzen, was in der Mitbestimmungsforschung in sehr unterschiedlichen Interpretationen begrifflich als Co-Management zusammengefasst wurde (Müller-Jentsch und Seitz 1998; Trinczek und Schmidt 1999; Rehder 2006, Rüdt 2007; Haipeter 2018). Als Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Einordnungen von Co-Management lässt sich konstatieren, dass die Einflussmöglichkeiten von Betriebsräten über die Normierungen des Betriebsverfassungsgesetzes hinausreichen, eine kooperative Beziehungskultur zum Management besteht und betriebswirtschaftliche Zielorientierungen als Ausfluss von gesetzten Bedingungen anerkannt werden. Hieraus leitet sich allerdings ein hoher Schutz- und Beteiligungsanspruch ab, der das interessenpolitische Anpassungsmanagement an Erfolgen für die Beschäftigten misst und die Wettbewerbsposition von Unternehmen berücksichtigt,
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um wirksam sein zu können. Hierbei gelingt es Betriebsräten in bestimmten Fällen sogar, eigenständige Konzepte zu formulieren und durchzusetzen (Kotthoff 1994; Schwarz-Kocher et al. 2011). Im Gegensatz hierzu muss aber auch festgestellt werden, dass Betriebsräte vielfach in eine Position des reagierenden Getriebenseins gedrängt worden sind und sich gewachsene Kooperationsbeziehungen negativ gewandelt oder gar aufgelöst haben (Kotthoff 2013). Die interessenpolitischen Herausforderungen der Digitalisierung der Arbeit lassen diesen Anpassungsdruck nicht inaktuell werden. Allerdings erweitert sich die Perspektive auf Partizipationsinteressen von Beschäftigten, die wohl mit Unterstützung und Absicherung des Betriebsrates, aber nicht durch den Betriebsrat zu verwirklichen wären. Dies geht auch über den von Kotthoff (1994, S. 233236) beschriebenen Typus des „Betriebsrates als kooperative Gegenmacht“ hinaus, der sich vor allem auf die kollektive Mobilisierungsfähigkeit und Beschäftigtenbeteiligung zur Stärkung der Durchsetzungsfähigkeit des Betriebsrates bezieht. Das Handeln von Betriebsräten erhält hierdurch eine neue Dimension von Legitimation durch die Beschäftigten, die an die Stärkung ihrer eigenen Partizipationsrechte geknüpft ist. Die Transformation der Arbeit drängt durch diese Legitimationsveränderung zu einer Transformation der Mitbestimmung. Die Herausforderung für Betriebsräte besteht darin, dieser Erwartung Rechnung zu tragen, ohne den kollektiven Bezug von Interessenhandeln aus dem Blick zu verlieren. Dies würde darauf abzielen, kollektive Subjektivität auch zu einer solidarischen Subjektivität zu entwickeln. Und das verlangt wiederum Aushandlungs- und Interaktionsprozesse zwischen Beschäftigten und Betriebsrat, die veränderte Formen und Zielbestimmungen von Betriebsratsarbeit und deren Organisation notwendig machen. Für die Zukunft der Betriebsratsarbeit in der digitalen Transformation von Arbeit, Organisationen und der Gesellschaft wird viel davon abhängen, wie wirksam die Partizipationsbedürfnisse und -notwendigkeiten von Beschäftigten aufgenommen werden und in den Fokus des interessenpolitischen Selbstverständnisses und Handelns rücken. Dies ist von sehr vielen Voraussetzungen abhängig. So stellt sich hieran anknüpfend unmittelbar die Frage nach Ressourcen, Kompetenzen und der Kooperationsorientierung des Managements sowie der Arbeits- und Unternehmenskultur (Widuckel 2015). Es wäre hierbei allerdings durchaus denkbar, dass ein Eintreten für die Partizipationsrechte von Beschäftigten als Bürger im Betrieb (Müller-Jentsch 2008, S. 256-259) wiederum die Durchsetzungschancen und Lernpotenziale dieser Transformation verstärkt und dem Betriebsrat als Anwalt für Empowerment und Enabling, für Ermächtigung und Ermöglichung, eine Relevanz mit Zukunftsperspektive verleiht, der ihn auch für (bisher) betriebsratsferne Zielgruppen attraktiv werden lässt.
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Mitbestimmung in digitalen und agilen Betrieben – das Modell einer prozessualen partnerschaftlichen Konfliktkultur Detlef Gerst Abstract Die derzeitige organisatorische und technische Modernisierung der Betriebe erfordert zwangsläufig auch eine der Mitbestimmung. Darin sind sich Unternehmensleitungen1, Wissenschaft, Arbeitnehmerverbände und Gewerkschaften einig. Geht es um die Richtung der Veränderung, werden jedoch entgegengesetzte Positionen vertreten: Die einen wollen Zuständigkeit und Rechte von Betriebsräten erweitern, andere wollen sie begrenzen. Mitbestimmung müsse gerade in digitalen Zeiten ausgebaut werden, so die einen; sie drohe den digitalen Wandel der Betriebe zu verzögern, sagen die anderen. Meiner Einschätzung nach gibt es tatsächlich erheblichen Modernisierungsbedarf. Der Hintergrund: Mitbestimmung hat heute andere Aufgaben zu bewältigen als noch vor 20 Jahren. Damals waren Unternehmen viel weniger dynamisch, Veränderungen waren eher vorhersehbar und auf bestimmte Themen und Bereiche begrenzt. In den Unternehmen dominierten damals Arbeitsteilung, ein hierarchiebetonter Führungsstil; demokratische Umgangsformen waren selten. Mitbestimmung hatte sich in diesen Rahmen eingepasst. Entsprechend war sie nicht an Prozessen ausgerichtet, sondern geprägt von starken Mitbestimmungsrechten in einzelnen zu gestaltenden Themenfeldern. Diese Form von Mitbestimmung war tendenziell reaktiv, autokratisch repräsentativ und das Element der direkten Demokratie war schwach. Unter den damaligen Bedingungen war diese traditionelle Mitbestimmung professionell und leistungsfähig. In Zeiten von Digitalisierung, des Umbaus von Wertschöpfungsketten und des Einzugs agiler Arbeits- und Führungsmethoden stößt sie jedoch an ihre Grenzen. Die Konsequenz: Mitbestimmung selbst muss heute agiler werden. Konkret: Sie muss sich in ihrer Arbeit prozessual organisieren, sie muss Prozesse gestalten können, sie muss sich in der Projektarbeit bewähren, und sie muss der betrieblichen Öffentlichkeit attraktive Formen der Information, der Beteiligung und der direkten Demokratie anbieten. Da Mit1
Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_3
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bestimmung viel mehr ist als allein das Handeln der Betriebsräte, liegt der Fokus ihrer Modernisierung in der Neugestaltung der Interaktion zwischen Management, Betriebsrat und Beschäftigten. Es geht im Kern also um eine andere Mitbestimmungskultur. 1
Mitbestimmung modernisieren: aber wie?
Betriebliche Mitbestimmung wirkt heute in vielen Betrieben veraltet. Darüber herrscht weithin Einigkeit: in Wissenschaft, in Unternehmensleitungen, Gewerkschaften und selbst innerhalb vieler Interessenvertretungen (Jacobs et al. 2017; Freimuth und Mattfeld 2012; Mosch et al. 2018). Aber wie soll sie weiterentwickelt werden? Das ist umstritten. Es heißt oft: Sie muss wegen der Digitalisierung verändert werden. Diese Sichtweise ist verkürzt, denn in den Betrieben werden nicht nur neue Techniken eingesetzt, die Betriebe werden zugleich in Gänze umorganisiert, werden agiler, dezentraler und flexibler. Die Folge: Arbeits- und Produktionsprozesse werden komplexer, schneller und damit immer schwerer steuer- und vorhersehbar. Unergiebig ist meines Erachtens die folgende Position: Mitbestimmung wird allein als Aktivität von Betriebsräten definiert und entsprechend werden mehr oder weniger Rechte für sie gefordert. Diejenigen, die weniger Rechte fordern, argumentieren, Mitbestimmung drohe die Digitalisierung zu verzögern. Die entgegengesetzte Position sagt, nur wenn der Betriebsrat mehr Rechte hat, kann er in Zeiten der Digitalisierung die Beschäftigten ausreichend schützen. Sicher ist es richtig und notwendig zu prüfen, ob der rechtliche Rahmen reformiert werden muss. Doch wer sich darauf beschränkt, nur die rechtliche Seite und die Aktivitäten von Betriebsräten zu betrachten, übersieht einen ganz wichtigen Punkt: Mitbestimmung ist mehr als das Handeln von Betriebsräten. Im Kern dreht sie sich vielmehr um die Frage: Wie wirken und agieren Betriebsräte, Management und Beschäftigte miteinander? Dies bedeutet, Mitbestimmung kann nur mit und von diesen drei Akteuren zusammen modernisiert werden. Bei der Veränderungsarbeit ist generell eine Besonderheit zu beachten: Wie heute in Betrieben Mitbestimmung praktiziert wird, das ist das Ergebnis zurückliegender Interaktionen. Über Jahrzehnte entwickeln Betriebe jeweils für sich eine spezifische und relativ stabile Mitbestimmungskultur. Sie besteht aus dem jeweiligen Selbst- und Fremdverständnis der Interaktionspartner, aus der eingeübten Praxis sowie aus gelernten kognitiven Modellen über das Wirken verschiedener Handlungsweisen. Deshalb gilt zwar in allen Betrieben das gleiche Betriebsverfassungsgesetz. Praxis und Kultur der Mitbestimmung unterscheiden sich jedoch von Betrieb zu Betrieb – teilweise sogar erheblich (Kotthoff 1981). Es gibt ko-
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operative und konfliktöse Formen. Es gibt Betriebsräte, die fest in der Arbeiterkultur verankert sind, und andere, die sich als Teil des Managements verstehen. Mein Schluss aus dieser Lagebeschreibung ist, dass sich Mitbestimmung nur dann erneuern lässt, wenn es gelingt, auch die Mitbestimmungskultur zu modernisieren. Diese Herausforderung ist mindestens so bedeutend wie die, den rechtlichen Rahmen zu reformieren. 2
Traditionelle Mitbestimmung: gestern wirksam, heute überfordert
Was viele heute als Defizit wahrnehmen, galt sehr viele Jahre als Erfolgsfaktor. Betriebsräte konnten wirksam handeln und gestalten. Die Betriebe veränderten sich damals jedoch in der Regel langsam, der Wandel war meist überschau- und prognostizierbar. Das Management war hierarchisch gesinnt, entsprechend war die Betriebskultur hierarchisch und autoritär geprägt. Wurden Arbeitsprozesse rationalisiert, dann hatten die Beschäftigten denselben Stellenwert wie die Maschinen. Sie waren Objekte der Gestaltung. Nur in Ausnahmen wurden sie an der Gestaltung von Arbeitsplatz und -prozess beteiligt. Unter diesen rechtlichen und kulturellen Bedingungen bildete sich auch ein besonderer Typus von Betriebsrat heraus, passend zur betrieblichen Sozialordnung und zum jeweiligen Management. Ich werde diesen Typus nun idealtypisch skizzieren, wissend, dass Betriebsräte selten in Gänze und nicht immer voll ausgeprägt in den einzelnen Merkmalen diesem Idealtypus entsprechen. 2.1
Merkmale
Diese Merkmale prägen die traditionelle Mitbestimmung: – Sie ist arbeitsteilig organisiert: Einzelne Themen werden für sich und unabhängig voneinander bearbeitet, meist in spezialisierten Gremien, die wenig miteinander kommunizieren. Das funktioniert bei Themen wie der Entgeltund Arbeitszeitgestaltung oder beim Daten- und Arbeitsschutz. Denn in arbeitsteilig organisierten Unternehmen und bei langsamen und berechenbaren Veränderungen sind weder Betriebsrat noch Management darauf angewiesen, betriebliche Abläufe ganzheitlich zu verstehen. – Sie ist vorwiegend reaktiv: Der Betriebsrat hält sich aus strategischen Entscheidungen des Betriebes heraus und sieht in ihnen eine Aufgabe des Managements; er will allerdings früh über strategische Themen informiert werden und will dazu beraten. Im Mittelpunkt stehen für ihn jedoch Bereiche, in denen er auf verlässlicher, rechtlicher Basis weitreichend mitbestimmen kann.
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Fragen der Umsetzung sind ihm wichtiger als beispielsweise die strategische Planung. Wenig präsent ist der Betriebsrat deshalb bei der Entwicklung von Unternehmensstrategien, von Fabrik-, Personal- und Qualifizierungsplanung. Traditionelle Mitbestimmung setzt ein, wenn das Management beginnt, Strategien umzusetzen. Eines der Probleme ist, dass zu diesem Zeitpunkt bedeutende Investitionsentscheidungen bereits gefallen sind, unter dem faktischen Ausschluss des Betriebsrates. Dieser reaktive Modus ist im Betriebsverfassungsgesetz strukturell angelegt. Die Beteiligung an Prozessen ist bisher rechtlich kaum vorgesehen; der Gesetzgeber hatte dieses zentrale Element bei Beratung und Beschlussfassung des Betriebsverfassungsgesetzes offenbar nicht im Blick. – Traditionelle Mitbestimmung zielt darauf, konkrete Standardlösungen zu entwickeln, denn unter den damaligen betrieblichen Bedingungen kehrten Probleme in gleicher oder ähnlicher Form immer wieder. So lag es nahe, möglichst konkrete Musterlösungen zu entwickeln, die rechtlich auf einem festen, auch gerichtsfesten Fundament standen. Sie konnten dann jederzeit in anderen Abteilungen oder Betrieben wiederverwendet werden. Diese Lösungen wurden und werden in Betriebsvereinbarungen festgehalten. – Betriebsräte handeln immer stellvertretend für die Beschäftigten gegenüber dem Management. In der traditionellen Mitbestimmung handelt der Betriebsrat jedoch in autokratischer Stellvertretung; das heißt, dass der Betriebsrat, meist ohne oder nur mit begrenzter Rücksprache, für die Beschäftigten deren Interessen und Prioritätensetzung festlegt. Es fand und findet in den Betrieben selten oder nie statt, dass Beschäftigte in die Arbeit des Betriebsrates eingebunden werden, dass sie mit ihm Probleme definieren, Arbeitsabläufe analysieren oder Lösungen entwickeln. Auch Folgendes ist selten: die Delegation von Aufgaben an Beschäftigte oder die Bildung von Arbeitsgruppen, die den Betriebsrat unterstützen. Der Gesetzgeber hatte sich mehr gewünscht. Denn er hatte Ende 2001 das Betriebsverfassungsgesetz mit dem Ziel reformiert, dass Beschäftigte sich stärker an der Betriebsratsarbeit beteiligen können. So ist es seit dieser Reform möglich, „sachkundige Arbeitnehmer“ (§ 80 Abs. 2, Satz 3 BetrVG) zur Unterstützung der Betriebsräte heranzuziehen oder Aufgaben an Arbeitsgruppen von Beschäftigten zu delegieren. Diese Möglichkeiten werden jedoch kaum genutzt, vielen Betriebsräten sind sie gar nicht bekannt (Becker et al. 2008). Auch hier spiegelt sich im Vorgehen des Betriebsrates das Verständnis des Managements wider: Die Beschäftigten sind tendenziell Objekte, egal ob es um Rationalisierung oder Mitbestimmung geht. – Vieles hat mit einem Selbstverständnis der Betriebsräte zu tun, das mit dem Begriff Gegenmacht nicht angemessen bezeichnet ist, denn Mitbestimmung
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findet immer innerhalb von Interessengegensätzen statt. Insofern ist jeder Betriebsrat, der die Interessen der Beschäftigten vertritt, per se eine Gegenmacht. Mehr noch: Ein Betriebsrat kann nur vertretungswirksam agieren, wenn ihm der Gegensatz von Kapital und Arbeit bewusst ist. Kennzeichnend für die traditionelle Mitbestimmung ist jedoch die ideologische und rhetorische Fixierung auf den Gegensatz von Arbeiter- und Kapitalinteressen. Je mehr dieser zum Dreh- und Angelpunkt des Denkens wird, desto weniger erscheint es dem Betriebsrat als sinnvoll und aussichtsreich, an den strategischen Weichenstellungen des Betriebes mitzuwirken. Wenn der Arbeitgeber als jemand wahrgenommen wird, der grundsätzlich gegen die Interessen der Beschäftigten handelt, dann kommt für den Betriebsrat, in sich schlüssig, eines nicht in Frage: gemeinsam mit dem Arbeitgeber die Führung des Unternehmens, Investitionen und Innovationen strategisch zu planen. Der traditionelle Betriebsrat geht deshalb davon aus, dass er im Rahmen der strategischen Planung seiner Kernaufgabe nicht nachkommen kann: die Beschäftigten zu schützen und vor unliebsamen Veränderungen zu bewahren. 2.2
Die neuen Bedingungen
Mittlerweile scheint die klassische Mitbestimmung zunehmend überfordert. Betriebsräte geraten aus verschiedenen Gründen in Gefahr, unter den Beschäftigten an Legitimation zu verlieren. 2.2.1
Wachsende Komplexität
Heute können Betriebe auf eine beeindruckende Auswahl an digitaler Technik zugreifen, die sich zudem vielfältig kombinieren lässt. Diese Technik wird eingekauft, anschließend im Betrieb weiterentwickelt, zu unterschiedlichen und wechselnden Zielen eingesetzt und zudem mit anderen Arbeitsmitteln kombiniert (Klippert et al. 2018). Dies hat, so unsere Erkenntnis aus zahlreichen Tagungen und Workshops mit Betriebsräten, kaum übersehbare Folgen. Denn ob es sich um Datenbrillen, die Mensch-Roboter-Zusammenarbeit, die Vernetzung von Maschinen oder die Digitalisierung von Büroarbeit handelt: Niemand kann exakt vorhersagen, welche Folgen welcher Technikeinsatz hat (Matuschek und Kleemann 2018). Aber nicht nur dadurch wächst die Komplexität der Arbeitsgestaltung. Hinzukommt, dass der Einsatz neuer Techniken oft mit einem tiefgreifenden organisatorischen Wandel verbunden ist. Unternehmen steigern die Flexibilität der Arbeitsprozesse, sie arbeiten zunehmend agil (Boes und Kämpf 2019). In agilen Unternehmen gewinnen Teams, die ihre Arbeit selbst organisieren, an Bedeutung, während zugleich zentrale Planung und Kontrolle vonseiten der Füh-
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rung zurückgenommen werden. Mit dem heutigen technisch-organisatorischen Wandel mehren sich die Optionen, wie sich Unternehmen, Betriebe und Betriebsteile weiterentwickeln können. Zugleich gewinnt der Wandel an Geschwindigkeit. Diese technische und organisatorische Transformation hat tiefgreifende Konsequenzen für die Mitbestimmung: Standardlösungen sind zunehmend Grenzen gesetzt, ebenso wie dem bisher arbeitsteiligen Vorgehen. Dies betrifft die Modernisierung, doch gleichzeitig auch viele Themenfelder wie Gesundheitsschutz, Personalentwicklung und Datenschutz. Zudem liegen die Themen nicht selten quer zu den Kompetenzen und Zuständigkeiten der Gremien und erfordern fachübergreifende Vorgehensweisen. „Was man nicht kennt, kann man nicht regeln.“ Mit diesen Worten bringen Matuschek und Kleemann (2018, S. 227) die Erfahrung von Betriebsräten mit dem digitalen Wandel auf den Punkt. Wird die Interessenvertretung nicht an den Planungs- und Gestaltungsprozessen beteiligt, dann ist sie bei vielen Themen auf der Zuschauertribüne, aber nicht mehr auf dem Spielfeld. 2.2.2
Prozessorientierte Steuerung von Unternehmen
Unternehmen sind heute stärker prozessorientiert. So plant die Unternehmensleitung beispielsweise Rationalisierung nicht allein mit Blick auf den Arbeitsplatz oder die Technik. Verändert werden ganze Wertschöpfungsketten und damit letztlich alles, was – ausgehend vom Kunden – erforderlich ist, um ein Produkt zu erstellen. Der Zwang, in größeren Kontexten und Abläufen zu denken, stellt klassische Arbeitsteilung und Hierarchie in Frage. In agilen Unternehmen wird gern das Motto verkündet, „wir arbeiten für den Kunden, nicht für die Hierarchie“. Agile Unternehmen sind „hundertprozentig kundenorientiert“ (Hipp et al. 2019, S. 3). Bisher rein betriebsintern organisierte Arbeitsabläufe werden zu betrieblichen Kundenbeziehungen umgebaut. Eines der Ziele: Die eigene Arbeit kann flexibel an den Bedürfnissen der Auftraggeber ausgerichtet werden, auch wenn sich diese kurzfristig ändern. Das lässt sich nur mit dezentralen Abstimmungen erreichen. Zwar existiert weiterhin eine zentrale Steuerung, aber sie kümmert sich nun in der Hauptsache um die strategische Ausrichtung des Unternehmens, nicht mehr um die Arbeitsausführung und deren Details. Ihre Aufgaben sind die Definition von Produkten und Leistungen des Unternehmens, die Gestaltung von Wertschöpfungsketten sowie die Zusammenstellung von Ressourcen. Und sie definiert übergeordnete Ziele und Kennzahlen für Erreichungsgrade und Erfolge. Die dezentralen Einheiten haben geeignete Wege zu finden, um die jeweils festgelegten Ziele zu erreichen. „Konkrete Vorgaben für Aktivitäten und Lösungswege geben Manager in agilen Organisationen nicht mehr.“
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(ebd., S. 4). Vor diesem Hintergrund werden Planungs-, Steuerungs- und Arbeitsprozesse permanent in Frage gestellt und entsprechend angepasst. Auch alle diese Neuausrichtungen haben Konsequenzen für die Mitbestimmung: Wenn sie diese Veränderungsprojekte nicht selbst von Anfang an begleitet, beginnend von der strategischen Planung bis zur Umsetzung, wird sie wichtige Veränderungen im Betrieb nicht beeinflussen können. Traditionell arbeitende Betriebsräte können mit diesen schnellen Veränderungsprozessen oft nicht Schritt halten; nicht selten werden sie zudem von neuen Themen überholt. Sie aber können nur noch die Probleme bearbeiten, die zu ihrem alten Werkzeugkasten und zur Arbeitsweise ihrer etablierten Gremien passen. Der Anteil der Probleme, denen sie buchstäblich hilflos gegenüberstehen, aber wächst. Wer heute darauf wartet, bis eine Technik fertig entwickelt ist und dann eingeführt wird, wer abwartet, bis die Organisationsreform klar erkennbar ist, der wartet jedes Mal zu lange. 2.2.3
Die neue Rolle der Beschäftigten
Unternehmen versuchen heute stärker als früher, die Beschäftigten emotional und motivational zu integrieren. Die Beschäftigten erfahren so mehr Wertschätzung, auch wenn die Betriebsleitungen dies in instrumenteller Absicht tun und Bedürfnisse nach Respekt und Fairness vorwiegend nur vordergründig aufgreifen, um Leistungssteigerungen zu erreichen. Beschäftigte erhalten Angebote, sich an Planungs- und Optimierungsprozessen zu beteiligen. Die damit verbundene Erwartung: Die Beschäftigten sollen stärker die Perspektive des Unternehmens einnehmen, entsprechend denken, arbeiten, handeln und sich mitverantwortlich für das Unternehmenswohl fühlen. Konkret sollten sie zusätzliche organisatorische Aufgaben übernehmen, die eigene Leistung steigern, sich an den (vermeintlichen) Anforderungen von Markt und Kunden orientieren. Werden den Beschäftigten hierbei Spielräume für eigene Entscheidungen und Gestaltungen eingeräumt, kann dies aus Sicht des Unternehmens zu unbeabsichtigten Effekten führen: Versucht das Management, Bedürfnisse nach Anerkennung und Autonomie zu instrumentalisieren, kommt es nicht darum herum, das Bedürfnis selbst zumindest indirekt zu befördern. Die mögliche Folge ist, dass die Beschäftigten ihre Erwartungen an die Arbeit verändern. Bevormundung nehmen sie nicht mehr hin, sie streben nach mehr Autonomie und Beteiligung (Schumann 2006). Sehr optimistisch gewendet schreibt Kersting: „Die strategische Mündigkeitsunterstellung erzeugt langfristig ihre eigene Mündigkeitsrealität“ (Kersting 1997, S. 169). Dies dränge die Unternehmensleitung dazu, sich stärker an die „Verfahrensregeln der Vernunft und an die inhaltlichen Normen“ zu binden, „die zur Realisierung des Ziels einer sozial- und umweltverträglichen Gewinnpolitik entwickelt werden“ (ebd., S. 169). Ein wachsendes Bildungsniveau der Beschäf-
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tigten verstärkt diese Entwicklung. Schon in den 1990er Jahren hatte Baethge (1991, S. 6) den Wandel im Selbstverständnis der Beschäftigten als „normative Subjektivierung von Arbeit“ bezeichnet. Demnach ist Arbeit für immer mehr Beschäftigte nicht nur Mittel zum Zweck der Existenzsicherung, sie soll auch sinnvoll sein, Gestaltungspielräume bieten und persönliche Entwicklungen begünstigen. Wenn die Ansprüche der Beschäftigten wachsen, demokratisch an der Gestaltung von Arbeit beteiligt zu werden, dann hat das auch Konsequenzen für die Arbeit des Betriebsrates. Je mehr die Beschäftigten Mitgestaltung und Beteiligung einfordern, desto mehr stößt auch eine Mitbestimmung vom Typ einer autokratischen Stellvertretung an Grenzen. Beschäftigte, die aktiv an Optimierungsprozessen teilnehmen, werden wenig Verständnis für das Selbstverständnis traditionell orientierter Betriebsräte entwickeln. Für das Urteil der Beschäftigten über die Arbeit des Betriebsrates sind, auf der Grundlage unserer gewerkschaftlichen Erfahrung bei der Betriebsbetreuung, zwei Punkte von großer Bedeutung: Inwieweit mischt er sich kompetent in die betriebliche Strategieentwicklung ein und wie intensiv sucht er den Austausch mit den Beschäftigten. Dies gilt vor allem für hochqualifizierte Beschäftigte, da diese selbst stärker an Planungsprozessen teilnehmen. Was Freimuth und Mattfeld (2012, S. 53) mit Blick auf Gewerkschaften formulieren, trifft ebenso auf Betriebsräte zu: „Qualifizierte Experten wollen sich nicht vertreten lassen von Gewerkschaften, deren Ansatz sie als antiquiert betrachten.“. Da Beschäftigtengruppen von der Modernisierung unterschiedlich betroffen sind, sind Betriebsräte zudem stärker als Integratoren gefordert. In dieser Rolle sind sie dafür zuständig, die verschiedenen Beschäftigtengruppen in eine „moralische Gemeinschaft“ (Kotthoff 1994, S. 337) innerhalb des Betriebes zu integrieren. 3
Modernisierungsbedarf auch im Management
Das Top-Management versteht bisher unter einer modernisierten Mitbestimmung eher selten eine prozessorientierte. Der Grund: Betriebsräte werden aus Sicht von Arbeitgeberorganisationen und ihnen nahestehenden Autoren gerne als Störfaktoren dargestellt, die in nicht hinnehmbarer Weise die unternehmerische Freiheit beschränken. So wundert es nicht, dass auch digitale Technik und Agilität als Anlass dienen, um erneut zu betonen, wie stark Mitbestimmung notwendige betriebliche Anpassungsmaßnahmen erschwert (Jacobs et al. 2017). So ist mitbestimmte Modernisierung in diesen Kreisen immer eine grundsätzlich zu langsame Modernisierung. Um die institutionalisierte Mitbestimmung noch antiquierter erscheinen zu lassen, wird ein weiteres Argument bemüht: Betriebsräte nähmen
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den modernen arbeitenden Menschen als mündigen Gestalter nicht ernst (Jacobs et al. 2017; Sattelberger et al. 2015). Mit Beispielen wie, Beschäftigte sollten selbst entscheiden, welche Daten der Betrieb über sie sammeln darf oder wie sie für sich die wöchentlichen Arbeits- und Erholzeiten einteilen, soll dieser Vorhalt belegt werden. Dass Beschäftigte mit solchen Alleingängen, ohne kollektive Interessenvertretung, ihre Interessen eher schlechter denn besser vertreten, liegt auf der Hand. Betriebe, die mit solchen Strategien versuchen, den Einfluss der Betriebsräte zu schmälern, schaden sich selbst, denn sie verringern ihre Chancen, die anstehende Modernisierung erfolgreich zu bewältigen. Wer die Interessenvertretung der Beschäftigten begrenzt und behindert, der befördert auf mittlere Frist genau die Form von Mitbestimmung, welche betriebliche Modernisierung stört und verzögert. Denn Betriebsräte werden sich an die betriebliche Sozialordnung anpassen; sie werden starke Mitbestimmungsrechte nutzen, um die Projekte eines kooperationsunwilligen Managements zunächst zu verzögern. Nur so können sie sich als Gestalter ins Spiel bringen, nachdem sie nur unzureichend informiert und beteiligt wurden. Darüber hinaus gilt, dass es sich Führungskräfte immer weniger leisten können, auf eine gute Kooperation mit dem Betriebsrat zu verzichten, denn es reicht heute nicht mehr aus, wenn Unternehmen allein ihre technischorganisatorischen Systeme dem Wettbewerb anpassen. Ob ein Unternehmen anhaltend wettbewerbsfähig ist oder nicht, darüber entscheiden wesentlich auch seine sozialen Systeme. Im sozialen System wird reguliert, wie Beschäftigte, Management und Interessenvertretung zusammenarbeiten, wie sie sich wechselseitig wahrnehmen, wie sie mit ihren jeweiligen aufeinander ausgerichteten Erwartungen umgehen. Entscheidend ist: Das soziale System steuert alles, was Arbeitsvertrag und Stellenbeschreibung nicht steuern können. Damit bildet das soziale System eines Betriebes die unverzichtbare Grundlage für das Geben und Nehmen der verschiedenen betrieblichen Akteure. Technik und Arbeitsorganisation sind in das soziale System des Unternehmens eingebunden, so dass ihre Wirkung und Leistungsfähigkeit wiederum wesentlich von der Qualität dieses Systems abhängig sind. In der Folge müssen die Gestaltung des Technikeinsatzes und des sozialen Systems zusammen gedacht werden. Und das soziale System kann sich in einer prozessualen partnerschaftlichen Mitbestimmung positiv entwickeln. Worum geht es konkret? – Es ist notwendig, dass Beschäftigte die neue Technik akzeptieren. Dann werden sie Technik im Sinne der Gestaltenden nutzen und sich dafür qualifizieren. Das machen sie aber nur, wenn die Technik aus ihrer Sicht ihre Aufgaben erleichtert und bedienungsfreundlich ist (Bröhl et al. 2017). Je früher und intensiver Beschäftigte an Auswahl und Gestaltung von Technik beteiligt werden, desto eher sind diese Anforderungen gewährleistet. Grundlage für
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diese Art von Zusammenarbeit ist, ein offenes Ohr für die Bedürfnisse der Beschäftigten zu haben. Betriebsräte funktionieren dabei als Vermittler. – Ob sich Beschäftigte im Interesse der Zukunft ihres Unternehmens an Verbesserungsaktivitäten beteiligen, hängt davon ab, ob sie für sich in diesem Unternehmen auch eine bessere Zukunft sehen. Lippenbekenntnisse des Managements werden da nicht genügen, belastbare Zusagen müssen es schon sein. Nur dann werden sich Beschäftigte nicht als Objekte fremdgesteuerter Rationalisierungsvorhaben fühlen. Wer also verantwortlich an der Zukunft eines Betriebes arbeitet, muss in Weiterentwicklungsperspektiven für das Personal einen integralen Bestandteil dieser Zukunftsarbeit sehen. – Von der Qualität des sozialen Systems hängt es ab, wie gut die Kommunikation im Betrieb funktioniert. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Beschäftigte bereit sind, dem Management zuzuhören, dass sie sich von deren Appellen berühren lassen und ein ehrliches Feedback geben. Eine offene Kommunikation ist aber Voraussetzung, um die Qualität von Prozessen einschätzen und verbessern zu können. – Das soziale System entscheidet auch über die Qualität der Zusammenarbeit innerhalb von Unternehmen. Betriebliche Abläufe lassen sich nie lückenlos standardisieren, planen und kontrollieren. Es gibt immer Störungen und Abweichungen von der Planung. Dass betriebliche Abläufe dennoch reibungslos funktionieren, liegt meist an freiwilligen und kompetenten Improvisationsleistungen der Beschäftigten. Dafür müssen diese stabil zusammenarbeiten und gut vernetzt sein – Leistungen und Engagement, die unverzichtbar sind und die in keiner Stellenbeschreibung stehen. Die Qualität eines sozialen Systems lässt sich unter anderem daran messen: Wie selbstverständlich sind Beschäftigte bei Störungen und im Notfall bereit, von sich aus solche Leistungen zu erbringen? Bei der Herausforderung, das soziale System auf ein derart hohes Niveau zu heben, kann der Betriebsrat ein wichtiger Katalysator sein. Denn ihm vertraut die Belegschaft in der Regel, so dass er wirksam zwischen ihren Interessen und denen des Unternehmens vermitteln kann. In dieser Vermittlerrolle eine gute Ressource für Veränderungsprozesse zu sehen und sie zu nutzen, das ist dem Management im eigenen Interesse zu raten. Schließlich müssen Führungskräfte Motivation, Kreativität und Engagement der Beschäftigten gewinnen. Andernfalls werden zwar Strategien und Programme für Organisationsreformen entwickelt, präsentiert und beschworen – aber Wirklichkeit werden sie nicht. „In vielen Unternehmen lassen sich Strategien und Organisationsentwicklungen ohne Unterstützung von Betriebsräten kaum durchsetzen. Sie sind Meinungsbildner bei Mitarbeitern und sitzen in Steuerungsgremien solcher Vorhaben. Der nächste logische Schritt wäre, Betriebsräte noch konsequenter in die Prozesse einzubeziehen und ihren
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Einfluss zu nutzen, ohne dabei die institutionell vorgegebenen Differenzen zu ignorieren.“ (Freimuth und Mattfeldt 2012, S. 55)
Bereits heute wissen viele Manager, dass moderne Unternehmen auf der Grundlage von Hierarchie, Anweisung und Kontrolle nicht mehr zu führen sein werden. Führung steht heute viel mehr als früher vor der Aufgabe, erfolgreich unter den Bedingungen von Ambivalenz, Unsicherheit und begrenztem Wissen zu handeln. Dies erfordert ein Management, das in der Lage ist, vielfältige Kompetenz für eine zukunftsorientierte Zusammenarbeit zu mobilisieren. Management ist erfolgreich, wenn es gelingt, Zusammenarbeit zu fördern, Transaktionskosten zu senken und die Belegschaft zu motivieren, sich mit Blick auf die Zukunft des Unternehmens zu engagieren (Sprenger 2012). Diesen Anforderungen kann nur ein Management gerecht werden, das konstruktiv mit den Beschäftigten und ihren Repräsentanten kooperiert. Mintzberg (2009, S. 101) weist auf den Zusammenhang zwischen Unternehmenserfolg und Gemeinschaftssinn hin: „Organisationen funktionieren dann am besten, wenn engagierte Mitarbeiter einander achten und in kooperativen Beziehungen zusammenarbeiten“. Um das zu fördern, eignen sich diese Maßnahmen und Haltungen: auf heroisches Management verzichten, Initiative und Engagement zulassen und fördern, Bedürfnisse nach Anerkennung achten. Mit Sprenger (2012) lässt sich noch ein Punkt hinzufügen: bereits vorhandene Motivation bei den Beschäftigten aufgreifen und alles unterlassen, was diese untergräbt. Als Motivationsbremsen wirken nach Sprenger vor allem Bevormundung und der Glaube, bei entsprechenden finanziellen Anreizen seien Anerkennung und Gestaltungsspielräume verzichtbar. Das Management muss also seine Arbeit modernisieren, indem es sich im eigenen Interesse stärker auf das soziale System des Betriebes konzentriert und die betriebliche Sozialordnung als Ressource entwickelt. Dies verlangt unter anderem, Mitbestimmung und Mitbestimmungskultur gezielt zu gestalten. Dabei kann das Management in Zielkonflikte geraten, die ich im nächsten Abschnitt diskutiere. 4
Auf dem Weg zu einer prozessualen Mitbestimmung
Wenn Veränderungen von Technik und Arbeitsorganisation eine gewisse Komplexität erreichen, ist zwingend eine Mitbestimmung erforderlich, bei der Betriebsrat und Management bei den Veränderungsprozessen von Beginn an in Projekten zusammenarbeiten und die Beschäftigten einbeziehen. In vielen Betrieben führt dies zu einer anderen Mitbestimmungskultur. Die Frage ist: Kann
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eine Mitbestimmungskultur überhaupt gezielt gestaltet und in diesem Sinne hergestellt werden? 4.1
Mitbestimmungskultur verändern
Mitbestimmung ist nach Kotthoff (1981) betriebshistorisch eng mit der betrieblichen Sozialordnung verbunden und steht mit dieser in einer Wechselbeziehung. Der Begriff Sozialordnung umfasst das soziale Klima und Praktiken der Interaktion im Betrieb. Unterscheiden lässt sich ein autoritär-repressives von einem liberalen Klima. Letzteres ist an folgenden Elementen zu erkennen: Das Management begegnet den Beschäftigten und der Interessenvertretung mit Anerkennung und Wertschätzung, und es hält arbeitsrechtliche und tarifliche Normen ein. Auch an der Qualität der Kommunikation zwischen Management, Betriebsrat und Beschäftigten ist der Charakter des Betriebsklimas abzulesen. Betriebspartnerschaftliche Formen der Mitbestimmung setzen eine pluralistische und liberale Sozialordnung voraus. Mit ihr sind Betriebsrat und Geschäftsleitung in der Lage, gemeinsam Modernisierungsprojekte umzusetzen. In diesem Sinne hat die IG Metall in den vergangenen vier Jahren mit dem Projekt „Arbeit und Innovation 4.0“ (IG Metall 2018) zahlreiche betriebliche Aktivitäten begleitet und mit Qualifizierung intensiv unterstützt. Betriebsräte konnten sich bewerben, wenn sie gemeinsam mit dem Management ein Transformationsprojekt bearbeiten wollten. Eine erste Bilanz zeigt, dass diese Projekte bei allen Beteiligten wertvolle Lernprozesse in Gang setzten und die Chance boten, Optionen zur Modernisierung der Mitbestimmung konkret auszuloten. Die Mitbestimmungskultur zu modernisieren, bedeutet nicht, Konflikte auszuschließen. Es wird immer unterschiedliche Interessen geben, die sich nicht umstandslos vereinbaren lassen. Und es wird immer Rationalisierungsmaßnahmen geben, die im Widerspruch zu den Interessen der Beschäftigten liegen, denn Unternehmensleitungen verfolgen in erster Linie wirtschaftliche Ziele: Sie wollen die Produktivität erhöhen und Kosten senken. Für Beschäftigte stehen dagegen der Erhalt ihrer Beschäftigungsfähigkeit und ihres Einkommens, die Sicherheit der Beschäftigung und die Qualität der Arbeitsbedingungen an erster Stelle. Diese unterschiedlichen Interessen bleiben als Konfliktursachen erhalten. In einer betriebspartnerschaftlichen Kultur werden aber konstruktive Formen der Konfliktaustragung überwiegen und Betriebsrat und Management werden weniger Energie investieren, um Feindbilder aufrechtzuerhalten; sie werden stattdessen versuchen, tragfähige soziale Beziehungen aufzubauen. Kann die Interessenvertretung bei ihrem Ziel, Beschäftigung und gute Arbeitsbedingungen zu erhalten, erfolgreich handeln, dann wird sie auch eher bereit sein, ökonomische Verantwortung für den Betrieb zu übernehmen.
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Flexible und beteiligungsorientierte Formen der Mitbestimmung
Besonders bei komplexen Themen wie der Digitalisierung oder der Gestaltung von Agilität ist es von Vorteil, spezielle Steuerkreise einzurichten, die quer zu der alten Gremienstruktur arbeiten. Dies nehmen wir im Rahmen unserer Betriebsbetreuung nicht nur aktuell, sondern vereinzelt schon seit vielen Jahren wahr. Viele Betriebsräte und Betriebsleitungen konnten damit bereits in der Vergangenheit gute Erfahrungen sammeln; etwa bei der Gestaltung von Betrieben nach dem Vorbild des Toyota Produktionssystems. Auch Arbeitsgruppen können zeitlich begrenzt – bei bestimmten Themen auch über einen längeren Zeitraum – Analysen anfertigen und Vorschläge erarbeiten. In diesen Arbeitsgruppen könnten neben Betriebsräten auch Führungskräfte, Fachexperten und operativ tätige Beschäftigte mitwirken. Mit Projekten und Arbeitskreisen zu arbeiten, ist vor allem bei Themen sinnvoll, die intensive Analysen erfordern und bei denen Wissen zusammengefügt werden muss, das auf viele Personen und Gruppen verteilt ist. Für die Zusammenstellung solcher Teams ist die Frage ausschlaggebend: Wer kann zur Problemanalyse und zur Lösungsfindung beitragen? Es wäre vorteilhaft, wenn hier auch durchsetzungsfähige Entscheider vertreten sind. Die von den Gruppen erarbeiteten Ergebnisse können jedoch auch später in die Gremien eingebracht werden, die für die Entscheidungen zuständig sind. Das Verhandlungsmandat hat in allen Fällen unverändert der Betriebsrat. Neu ist jedoch, dass nicht immer dieselben Personen Analysen durchführen und Lösungen entwerfen. Dies war in der Vergangenheit für einzelne Personen sehr belastend. Zudem wurden in der alten Arbeitsstruktur vorhandene Kompetenzen nur unzureichend genutzt. Mit neu zusammengesetzten Arbeitskreisen und Steuerungsgruppen können auch Themen bearbeitet werden, die liegen geblieben sind, weil sie nicht in die gegebene Gremienstruktur passten. Wer sich für diese Arbeitsweise entscheidet, sollte jedoch bereits im Vorhinein kommunizieren, was mit den gewonnenen Ergebnissen nachher geschehen wird und wer – Arbeitsgruppe, Betriebsrat, Management – worüber entscheiden wird. Zu den modernen Formen der Mitbestimmung zählen auch lebendige Alternativen zu den etablierten Ritualen der Betriebsversammlung. Es geht um Formen einer erweiterten betriebsöffentlichen Debatte. Bereits mit kurzen Phasen von Kleingruppenarbeit oder der Arbeit im World Café gewinnen Dialog und Partizipation auf Betriebsversammlungen erheblich an Bedeutung und die Versammlung selbst an Attraktivität. Möglich sind auch Diskussionsveranstaltungen, zu denen Experten eingeladen werden, oder Betriebsversammlungen im Format einer Talkshow. Dialogveranstaltungen mit Experten hat es beispielsweise bei Airbus, Bosch, Audi und den Financial Services von Volkswagen gegeben, neue Formen der Betriebsversammlung hat unter anderem der Betriebsrat
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beim Vorstand der IG Metall erprobt. Dialogorientierte Formate eignen sich vor allem für neue Themen wie agiles Arbeiten oder Führungskräfteentwicklung. Es gibt auch gute Erfahrungen mit beteiligungsorientierten Großgruppenmethoden (Mosch et al. 2018). Die Ziele: den unbefangenen Austausch von Meinungen und Erfahrungen fördern, gemeinsam lernen. Auch hier gilt: Wer Beschäftigte in moderierte Gruppenarbeit einbezieht, muss vorab kommunizieren, was mit den Ergebnissen geschehen wird. Um betriebliche Dialoge methodisch zu unterstützen, hat die IG Metall mit der „Betriebslandkarte“ (IG Metall Nordrhein-Westfalen 2016) ein Workshopkonzept erarbeitet. Damit können Beschäftigte für ihren Betrieb bereichsweise eine Bestandsaufnahme über aktuelle technische und organisatorische Veränderungen erstellen. In einem zweiten Schritt werden Antworten auf diese Frage festgehalten: Welche Folgen haben diese Veränderungen für Beschäftigung, Qualifikationsanforderungen und Arbeitsbedingungen? Wer mit der Betriebslandkarte arbeitet, wird nicht nur sehr viel über betriebliche Abläufe lernen, sondern auch über die Sichtweise unterschiedlicher betrieblicher Akteure. Zugleich entsteht bei der Arbeit mit der Betriebslandkarte nach und nach ein visualisiertes Abbild des Betriebes bezüglich seiner technisch-organisatorischen Entwicklungen und der Folgen für Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen. Eines der ambitioniertesten Projekte zur Weiterentwicklung der Mitbestimmung wurde bei der Audi AG in Ingolstadt verwirklicht (Mosch et al. 2018). Die Personalentwicklung hatte sich mit dem Betriebsrat auf ein mehrjähriges agiles Großprojekt verständigt und unter dem Namen „Vision Ingolstadt 2030“ umgesetzt. Es ging nicht wie beim klassischen Change-Management darum, einen vorab festgelegten Plan abzuarbeiten und die Umsetzung zu begleiten. Im Gegenteil: „Kompetenzaufbau, der offene Austausch mit Kollegen und Kolleginnen aus unterschiedlichen Betreuungsbereichen und das Erproben von neuen Initiativen standen im Vordergrund.“ (ebd., S. 81). Im Projekt wurden von 2014 bis 2017 sehr flexibel unterschiedliche Methoden angewandt: soziale Medien, dialogorientierte Großgruppenveranstaltungen, themenorientierte Zukunftsprojekte sowie Learning Journeys. Den Initiatoren ging es gleichermaßen um die Modernisierung der Mitbestimmung wie um die Suche nach Wegen in die digitale Arbeitswelt. Schließlich ist eine modernisierte Öffentlichkeitsarbeit Teil von agiler Mitbestimmung (Jess-Desaever 2018). Sie soll mehr anbieten als Mitteilungen am Schwarzen Brett und den Tätigkeitsbericht auf der Betriebsversammlung. Mit einem effektiven Medienmix sollen möglichst viele Beschäftigte erreicht werden, bevorzugen diese doch sehr unterschiedliche Medien. Der perfekt gestaltete Online-Auftritt erreicht die einen, andere lieben eher kreative Angebote, denen es an Perfektion, aber nicht an tiefgründigen Inhalten mangelt. Gedruckte Flyer,
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Betriebszeitungen und Newsletter spielen neben den digitalen Medien unverändert eine wichtige Rolle – entscheidend ist das möglichst effektive Zusammenspiel aller Medien. Unverändert gilt: Auch in hochgradig digitalisierten und agilen Unternehmen wird weiterhin das persönliche Gespräch der entscheidende Baustein jeglicher guten Kommunikation sein; im Zweifel wird es – je nach Thema, Anlass und Vertraulichkeitsgrad – mit Video aufgenommen und im betrieblichen Channel eingestellt. Auch mit dem neuen Medien-Mix bleibt das alte Ziel: Die Beschäftigten sollen möglichst konkret, verständlich und anschaulich über alle wichtigen Betriebsthemen so tiefgründig informiert werden, dass sie sich selbst eine Meinung bilden und auf dieser Grundlage diskutieren und mitgestalten können. Erfolgsfaktoren einer nachhaltigen Öffentlichkeitsarbeit sind nach Jess-Desaever (ebd., S. 21): gute Beziehungen und informelle Gespräche, „systematischer Aufbau der internen Öffentlichkeitsarbeit“ und Anstrengungen, aktiv Themen zu besetzen. 4.3
Treiber und Hindernisse
In Prozessen mitzubestimmen, erfordert von Führungskräften und Interessenvertretern ein neues Selbstverständnis. Doch werden sich diese beiden Seiten auf einen stärker kooperativen Politikstil und auf die gemeinsame Arbeit an der Strategieentwicklung einlassen? Und welchen Rahmen braucht es dafür? Ich werfe den Blick zunächst auf die Seite der Betriebsräte und wende mich dann dem Management zu. 4.3.1
Treiber und Hindernisse im Betriebsrat
Wenn betriebliche Modernisierungsprozesse komplexer und schneller werden, können Betriebsräte die Erfahrung machen, dass sie nur noch defensiv handeln und reagieren können. So verlieren sie an Bedeutung. Um diesem Verlust entgegen zu wirken, könnten Betriebsräte versuchen, mehr Einfluss auf die strategischen Entscheidungen des Betriebes zu gewinnen. Sie würden sich dann aber in eine Richtung entwickeln, für die der Begriff Co-Management geläufig ist (Bierbaum 2000). Davor steht unverändert eine Hürde, denn Co-Management ist auch heute noch mit negativen Konnotationen verbunden. Diese stammen aus einem Diskurs, in dem der Strategie des Co-Managements unterstellt wird, letztlich würden die Interessen der Beschäftigten nicht ausreichend hart vertreten. Der Betriebsrat, der sich als Co-Manager verstehe, so der Vorwurf, stehe dem Management näher als den Beschäftigten. Richtig ist, dass damit eine mögliche und tatsächlich auch vorhandene Prägung von Co-Management beschrieben wird. Jedoch umfasst das Prinzip des Co-Managements eine sehr viel größere Band-
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breite an Politikstilen; darüber im Einzelnen aufzuklären, wäre ein wichtiger Beitrag, um Betriebsräte darin zu unterstützen, sich unvoreingenommen über alle verfügbaren Politik- und Vertretungsstile zu informieren und daraus sachlichrational den- oder diejenigen auszuwählen, der oder die zu ihnen und ihrer Situation am besten passt oder passen. Im Kern bedeutet Co-Management, dass der Betriebsrat Einfluss auf Entscheidungen über Investitionen und Produktionsstrategien nimmt (Gerst 2012). Für diese Themen ist er ohnehin nach dem Betriebsverfassungsgesetz zuständig, allerdings in einem eingeschränkten Maße – er ist bei diesen Themen weitgehend auf Informations- und Beratungsrechte beschränkt. Im Co-Management gestaltet der Betriebsrat tatsächlich über die rechtlich einklagbaren Möglichkeiten hinaus bei strategischen Entscheidungen und Investitionen mit. Er ist deshalb auch früher und umfassender über strategische Vorhaben informiert. Es gibt unterschiedliche Formen von Co-Management: Betriebsräte können mehr oder weniger konfliktorientiert handeln, und sie können den Beschäftigten gegenüber näher oder ferner sein. Doch ganz gleich wie sich Betriebsräte in diesen Fragen aufstellen und handeln, es gibt beim Co-Management einen gemeinsamen Nenner: Von Anfang an sind Betriebsräte an Prozessen beteiligt, in denen verbindlich die neue Unternehmensstrategie und die künftigen Investitionspläne erarbeitet werden. Wer sich hier einmischt, muss keineswegs davon ausgehen, dass Interessengegensätze zwischen Beschäftigten und Unternehmen überwunden sind – muss sie auch nicht leugnen, denn auch Co-Management findet selbstverständlich innerhalb von Interessenkonflikten statt (Bierbaum 2000, Gerst 2012, Prott 2013). Noch heute hat Co-Management bei Gewerkschaften und vielen Betriebsräten ein negatives Image. Der Grund: Mit dem Begriff des Co-Managements wird ein Zerrbild der Mitbestimmung gezeichnet, dem eine grundsätzlich andere, scheinbar bessere Mitbestimmung gegenübergestellt wird, die auf einer spezifischen klassentheoretischen Weltanschauung beruht. Danach erscheint der CoManager von ideologischen Wurzeln abgeschnitten, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Damit sind Vorwürfe verbunden, dass der Co-Manager die Sozialpartnerschaft wolle, wo doch Klassenkampf notwendig sei. Der Co-Manager sei nicht mehr in der Lage, im Arbeitgeber den Gegner zu sehen. Dieser Haltung kann entgegengehalten werden: Wer so denkt, wird dem Arbeitgeber immer die entscheidende strategische Unternehmensleitung allein überlassen und das Ergebnis unternehmerischen Handelns anschließend kritisieren. Eben dieser Politikstil kann die Interessenvertretung in die Krise führen. Was aus Sicht der Beschäftigten ein klarer Vorteil wäre – nicht nur zu reagieren, sondern aktiv die Zukunft von Betrieben mitzugestalten –, wird unter dem Einfluss ideologischer Vorbehalte diffamiert: „Selbstbewusstes Mitdenken gewinnt
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also einen faden Beigeschmack, wenn es nicht der richtigen Linie folgt.“ (Prott 2013, S. 140). Im Verhältnis zwischen Arbeiterklasse und Kapitalbesitzer eine unüberwindbare antagonistische Konfliktbeziehung zu sehen, war im 19. Jahrhundert die richtige Sicht. Diese Ideologie kann aber heute zur Scheuklappe werden, welche den Blick auf Chancen einer wirkungsvollen Interessenvertretung versperrt, denn nach diesem Denken würden Betriebsräte versäumen, sich frühzeitig an wichtigen strategischen Entscheidungen zu beteiligen, beispielsweise bei der Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen und Produktionskonzepten. Hier im Sinne der Beschäftigten nicht mitzugestalten, würde in eine Legitimationskrise führen, die weitaus größer wäre als diejenige, die sich aus der Loslösung von einer längst überholten, strikt antagonistischen Weltanschauung ergibt. Schon heute wird auf das Co-Management anders geschaut. Es gilt zunehmend als die Form von Interessenvertretung, die besonders wirksam die Interessen der Beschäftigten zur Geltung bringen kann. In seinem Buch „Betriebsräte und Bürgerstatus“ (1994) präsentiert Kotthoff eine Typologie von Betriebsräten. Ein Typ ist der „Betriebsrat als Organ der Geschäftsleitung“ (ebd.). Dieser Betriebsrat nimmt seine Aufgaben von der Leitung des Betriebes entgegen. Zählten zu diesen Aufgaben auch Strategieentwicklung und Investitionsplanung, so handelte es sich zwar um Co-Management, allerdings um eine verkümmerte, defizitäre Variante, gemessen „an den Werten einer liberal-demokratischen politischen Kultur“ (ebd., S. 64). Mit diesen Werten verbunden sind andere, ausschließlich selbstbewusste Formen der Interessenvertretung – nur diese sind nach Kotthoff auch vertretungswirksam. Diese wirksamen Formen unterscheiden sich zwar in Details – beispielsweise in der Interaktionsstruktur mit dem Management, im Grad der „Mitverantwortung der Betriebsräte für die Produktivität und Effizienz des Betriebes“ (ebd., S. 65), im Grad, in dem der Betriebsrat auf das „Vorhandensein einer entwickelten gewerkschaftlich geprägten Arbeitersubkultur im Betrieb“ (ebd., S. 66) bauen kann. Allen gemeinsam ist jedoch, dass der Betriebsrat den Anspruch hat, im Rahmen einer betriebspartnerschaftlichen Beziehung die Interessen der Beschäftigten zu vertreten. Besonders wirksam sei eine Form von Interessenvertretung, so das Ergebnis der Studie von Kotthoff, bei der der Betriebsrat sich als „kooperative Gegenmacht“ (ebd., S. 66) versteht. Deren Markenzeichen ist eine „offensive Konfliktbeziehung als stabile Vertrauensbeziehung“ (ebd., S. 66). Auch heute ist natürlich das Risiko nicht aus der Welt, dass sich der Betriebsrat auf Kompromisse einlässt, die größere Teile der Belegschaft nicht teilen. Es besteht die „Gefahr, dass die Betriebsräte letztlich die Interessen der Kapitaleigner exekutieren.“ (Bierbaum 2000, S. 155). Aber es handelt sich eben um ein Risiko, nicht um ein Merkmal, das zwangsläufig mit dem Co-Management ver-
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bunden ist. Vertretungswirksames Co-Management verfolgt als eindeutiges Ziel, die Interessen der Beschäftigten durchzusetzen, und es nutzt dazu erweiterte Mitgestaltungsmöglichkeiten. Neben ideologischen gibt es auch praktische Vorbehalte gegenüber einem Co-Management. Sie lauten: Der Betriebsrat investiere Zeit in ein Thema, in dem er über formal ungenügende Durchsetzungsmöglichkeiten verfüge. Er wecke deshalb Erwartungen in der Belegschaft, die er später eventuell enttäuschen müsse. Darüber hinaus herrsche Ungewissheit, ob die gemeinsam mit dem Arbeitgeber entwickelten Strategien überhaupt den erwarteten Erfolg brächten. Für den Betriebsrat und sein Standing sind diese Überlegungen tatsächlich von hohem Belang, denn er übernimmt vorab unternehmerische Mit-Verantwortung für strategische Entscheidungen, die für den Betrieb besser oder schlechter ausgehen können. Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Noch konfliktreicher wird es, wenn Belegschaftsgruppen Investitionsentscheidungen unterschiedlich einschätzen und sich gegenüber anderen Gruppen benachteiligt sehen. Der Betriebsrat trägt Verantwortung gegenüber der gesamten Belegschaft und er wird an seinen Erfolgen gemessen. Vor diesem Hintergrund wird der Arbeitsstil des Co-Managements vor allem für Betriebsräte erfolgreich sein, die einen diskursiven Umgang mit den Beschäftigten pflegen (Gerst 2012). Konkret heißt das, bereits früh die Belegschaft zu informieren und am Meinungsbildungsprozess des Betriebsrates zu beteiligen. Eine intensive Beteiligung hat faktisch die Funktion einer betriebspolitischen Versicherung für den Betriebsrat. Bleiben die Erfolge aus, kann niemand dem Betriebsrat gegenüber den Vorwurf machen, er hätte ohne Mandat und ohne Meinungsbildung in der Belegschaft gehandelt. Beteiligung ist darüber hinaus das einzige Mittel, um sinnvoll mit einem Rollenkonflikt umzugehen, der im Zusammenhang mit strategischen Planungen und Investitionsentscheidungen immer auftritt, egal ob der Betriebsrat Co-Management betreibt oder nicht. Denn, wenn sich Betriebsräte beispielsweise an Innovationsprozessen beteiligen, werden sie für fehlende Erfolge von der Belegschaft mit-verantwortlich gemacht. Würden sie sich der Beteiligung jedoch verweigern, riskierten sie den Vorwurf der Untätigkeit. Nur wer als Betriebsrat gelernt hat, mit diesem Rollenkonflikt und diesen Ambivalenzen umzugehen, wird sich auf lange Sicht bewähren (Schwarz-Kocher et al. 2011, S. 229). Betriebsräte müssen flexibel reagieren können. Wo möglich sollten sie im Sinne der Betriebspartnerschaft handeln, wo notwendig aber auch als Konfliktpartei. Wählen Betriebsräte einen reaktiven, einen anklagenden, vielleicht sogar aggressiven Politikstil, kann das auch heute noch eine rationale und erfolgreiche Strategie sein, sind doch die Betriebe noch lange nicht ausgestorben, die autoritär und antidemokratisch geführt werden und in denen eine restriktive Sozialord-
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nung herrscht. Hier werden die Beschäftigten vom Betriebsrat auch gar kein betriebspartnerschaftliches Handeln erwarten. Im Gegenteil: Auf die autoritäre Ansage aus der Führung erwarten sie die autoritäre Antwort des Betriebsratsvorsitzenden – in der Rhetorik der Gegnerschaft. Auch hier zeigt sich der systemische Zusammenhang zwischen dem Handeln der Manager und dem der Betriebsräte. Wenn die Unternehmensleitung am Konzept einer anti-partnerschaftlichen Konfliktkultur festhält, wird sich auf Dauer ein Betriebsrat dem Druck nicht entziehen können, auf der gleichen ideologischen Grundlage zu handeln. Hier wird es auch schwierig für den Betriebsrat, Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit des Managements zu entwickeln. 4.3.2
Treiber und Hindernisse im Management
Das Management profitiert meiner Einschätzung nach immer von der Kooperation mit einem Betriebsrat, der sich an den Prinzipien des Co-Managements orientiert. Denn Führungskräfte könnten bei Veränderungsprojekten mit ihm zusammen definieren und aushandeln, wie er sie bei der Umsetzung verlässlich unterstützt. Ob Führungskräfte dies auch tun und auf eine derart gewandelte Mitbestimmungskultur einlassen, hängt jedoch von der Überwindung einiger Hürden ab: Schwierig wird es für ein Management, das den Betriebsrat überwiegend als traditionell agierend kennt. Hier geht es dem Management nicht anders als dem Betriebsrat – eine Annäherung wird schwerfallen, wenn es an Vertrauen in die Kooperationsfähigkeit der jeweils anderen Seite mangelt. Zwischen einer offenen Konfliktkultur und einer vertrauensvollen Zusammenarbeit liegt ein weiter Weg der Organisationsentwicklung. Es braucht Geduld und gezielte Maßnahmen, um eine Vertrauensbasis zu schaffen. Beispielsweise führen einseitige Schuldzuweisungen gegenüber dem Betriebsrat mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Blockade. Erfolg versprechender wäre es, wenn sich das Management die selbstkritische Frage stellte: Was hat auch die Führung in der Vergangenheit dazu beigetragen, dass sich die Zusammenarbeit nicht konstruktiv entwickeln konnte? Verweigert sich das Management dieser Frage, dann weist das auf eine weitere Hürde: Fehlendes Verständnis der Systemhaftigkeit von Mitbestimmung. Damit sind Führungskräfte gemeint, die nicht wissen oder nicht wahrnehmen wollen, dass sich die Interessenvertretung in einem Betrieb mit einer restriktiven betrieblichen Sozialordnung mit hoher Wahrscheinlichkeit in Richtung einer konfrontativen Gegenmacht entwickeln wird. Sie glauben, die potenzielle Gegnerschaft des Betriebsrates habe nichts mit dem Verhalten des Managements zu tun. Dabei kann das Management mit seinem Verhalten sehr wohl die Entwicklung des Betriebsrates beeinflussen. Wer beispielsweise versucht, den Einfluss des Betriebsrates auf Modernisierungsvorhaben zu verringern, muss sich nicht
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wundern, wenn der Betriebsrat den Pfad des Co-Managements verlässt und mit einem deutlich konfliktreicheren Stil die Belegschaft zu mobilisieren vermag. Es kann jedoch auch sein, dass es dem Management an Spielräumen für ein stärker kooperatives Vorgehen fehlt. Die Gründe können vielfältig sein: zu viele zu betreuende Mitarbeitende, ein zu großer Zeit- und Erfolgsdruck, eine Fixierung auf schwer zu erreichende Kennzahlen. Bedeutsam sind auch informelle Erwartungen an das Führungsverhalten. Wird im Betrieb ein autoritärer Führungsstil honoriert und verschafft er Führungskräften einen Karrierevorteil, wird sich kaum eine Vertrauens- und Kooperationskultur entwickeln können. Eine kooperative Mitbestimmungskultur setzt voraus, dass die Unternehmensspitze sie will und dafür günstige Rahmenbedingungen schafft. Notwendig sind zeitliche, räumliche und inhaltliche Spielräume, um Kooperationen zu fördern und sich entwickeln zu lassen. Die besten Interventionen für eine solche Mitbestimmungskultur sind betriebspartnerschaftliche Projekte, die gemeinsames Lernen möglich machen. Sie sind zugleich die Grundlage für eine Betriebsorganisation, die dem Unternehmen ermöglicht, den digitalen Wandel gut zu bewältigen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das oben beschriebene betriebspartnerschaftliche Lernprojekt bei Audi in Ingolstadt (Mosch et al. 2018). Über den entsprechenden Erfolg oder Nicht-Erfolg entscheidet wesentlich die Fähigkeit des Managements, die Sichtweise der Beschäftigten zu verstehen und diese zu motivieren, bei Veränderungsprozessen aktiv mitzuwirken. Ein Management, das diese Fähigkeiten beherrscht und damit weitgehend von der Ideologie frei ist, der zufolge Beschäftigte nur mit einer Mischung aus finanziellen Anreizen und Drohungen zu Leistungen zu motivieren seien, wäre dann tatsächlich als zukunftstauglich zu bezeichnen. 5
Fazit
Betriebliche Modernisierungsprozesse sind heute von einem Niveau an Komplexität geprägt, das am wirksamsten in einer betriebspartnerschaftlichen Mitbestimmungskultur zu bewältigen ist. Weder eine traditionell ausgerichtete Mitbestimmung noch ein Management, das versucht, den Einfluss der Interessenvertretungen zurückzudrängen, helfen heute weiter. Viele Betriebe müssen deshalb ihre Mitbestimmungskultur modernisieren. Zahlreiche praktische Beispiele und Studien über den Zusammenhang von betrieblichen Sozialordnungen und Politikstilen der Betriebsräte zeigen, dass dies mit Erfolg realisiert werden kann. Der Wandel der Mitbestimmungskultur ist allerdings ein langfristiger Prozess, bei dem auf beiden Seiten Hürden genommen werden müssen: auf Seiten der Betriebsräte, aber auch im Management. Diese Hindernisse
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liegen noch immer in ideologischen Sichtweisen, aber auch in den Handlungsspielräumen der betrieblichen Akteure und nicht zuletzt in der erlebten Geschichte der Kooperation oder Nicht-Kooperation. Überwinden lassen sich diese Hindernisse am wirksamsten im Rahmen von Lernprojekten, in denen die Beteiligten – Betriebsrat, Management und Beschäftigte – anschaulich erleben und erfahren, dass sich die betriebliche digitale wie agile Modernisierung in einer partnerschaftlichen Konfliktkultur erfolgreich gestalten lässt. Literatur Baethge, M. 1991. Arbeit, Vergesellschaftung, Identität. Zur zunehmenden normativen Subjektivierung von Arbeit. Soziale Welt, 1, 6-19. Becker, K., Brinkmann, U. und Engel, Th. 2008. „Hybride Beteiligung“ im Betrieb? Sachkundige Beschäftigte und Arbeitsgruppen. WSI Mitteilungen 6, 305-311. Bierbaum, H. 2000. Moderne Unternehmenskonzepte und Co-Management. In: Klitzke, U., Betz, H. H. und Möreke, M. (Hrsg.). Vom Klassenkampf zum Co-Management? Perspektiven gewerkschaftlicher Betriebspolitik. Hamburg: VSA, 147-158. Boes, A. und Kämpf, T. 2019. Wie nachhaltig sind agile Arbeitsformen? In: Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J. und Meyer, M. (Hrsg.). Fehlzeitenreport 2019. Digitalisierung – gesundes Arbeiten ermöglichen. Berlin: Springer, 193-204. Bröhl, Ch., Nelles, J., Brandl, Ch., Mertens, A. und Schlick, Ch. 2017. Entwicklung und Analyse eines Akzeptanzmodells für die Mensch-Roboter-Kooperation in der Industrie. In: Gesellschaft für Arbeitswissenschaft e.V. (Hrsg.). Soziotechnische Gestaltung des digitalen Wandels – kreativ, innovativ, sinnhaft. Frühjahrskongress 2017 in Brügg: – Beitrag F 2.1. Freimuth, J. und Mattfeld, E. 2012. Mitbestimmung im Umbruch. Entwicklung und Wandel der Rollen von Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräten in Deutschland. Organisationsentwicklung, 3, 49-56. Gerst, D. 2012. Zwischen Wettbewerbspakt und Produzentendemokratie. Betriebsräte im Innovationsprozess. In: Fricke, W. und Wagner, H. (Hrsg.). Demokratisierung der Arbeit. Neuansätze für Humanisierung und Wirschaftsdemokratie. Hamburg: VSA, 168-182. Hipp, R., Hollmann, J. und Gerdes, A. 2019. Agil in einer komplexen Welt. Wie Organisationen beweglich und stabil werden. Stuttgart u.a.: Porsche Consulting. IG Metall Nordrhein Westfalen. 2016 Arbeit 4.0 fair gestalten. Die Betriebslandkarte im Rahmen des Projektes „Arbeit 2020 in NRW“. Düsseldorf. IG Metall. 2018. Digitale Transformation gestalten. Beispiele guter Praxis. Frankfurt am Main. Jacobs, J., Kagermann, H. und Spath, D. 2017. Arbeit in der digitalen Transformation. Agilität, lebenslanges Lernen und Betriebspartner im Wandel. Ein Beitrag des Human-Resources-Kreises von acatech und der Jacobs Foundation – Forum für Personalvorstände zur Zukunft der Arbeit. München. Jess-Desaever, U. 2018. Agil kommunizieren. Computer und Arbeit, 12, 20-23. Kersting, W. 1997. Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Abhandlungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart. Frankfurt: Suhrkamp. Klippert, J., Niehaus, M. und Gerst, D. 2018. Mit digitaler Technik zu Guter Arbeit? Erfahrungen mit dem Einsatz digitaler Werker-Assistenzsysteme. WSI-Mitteilungen, 3, 235-240. Kotthoff, H. 1981. Betriebsräte und betriebliche Herrschaft: eine Typologie von Partizipationsmustern im Industriebetrieb. Frankfurt a.M, New York: Campus.
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Kapitel II: Aspekte der Zusammenarbeit und Arbeitsbeziehungen im Wandel
Gewerkschaftliche Strategien bei der Digitalisierung Karl-Heinz Brandl Abstract Bei der Digitalisierung geht es nicht nur um Technik, sondern darum, wie wir die Arbeit – von den Inhalten bis zur Arbeitsorganisation – mittels digitaler Unterstützung im Betrieb gestalten. Unser gewerkschaftliches Ziel dabei ist, dass Digitalisierung im Sinne von Guter Arbeit zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten1 wird. Digitalisierung muss dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Dafür brauchen wir die Beteiligung und Expertise der Beschäftigten im Betrieb sowie ihrer Interessenvertretungen. Nur so wird eine nachhaltige Gestaltung der Digitalisierung im Sinne aller Beteiligten möglich. ver.di hat dazu bereits 2014 Leitlinien für Gute Digitale Arbeit entwickelt und sich proaktiv an den gesellschaftspolitischen und betrieblichen Debatten, z. B. dem Aushandlungsprozess zum Weißbuch Arbeit 4.0 (BMAS 2017) beteiligt. Aktuell ist ver.di in der Enquête-Kommission künstliche Intelligenz (KI) des Deutschen Bundestages vertreten. Vier wichtige Handlungsfelder auf dem Weg zur Guten Digitalen Arbeit kristallisieren sich heraus, die von den Sozialpartnern gemeinsam mit den Beschäftigten auszugestalten sind und in dem Beitrag näher beleuchtet werden: – – – –
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orts- und zeitflexibles Arbeiten (mobiles Arbeiten), lebenslanges Lernen (Qualifizierung), neue Herausforderungen im Datenschutz, KI – wer steuert wen?
Einleitung
Die heutige Arbeitswelt ist eine Welt im Wandel. Die Digitalisierung hält Einzug in alle Lebens- und Arbeitsbereiche und führt zu großen Veränderungen – ganze Geschäftsmodelle und etablierte Arbeitsformen werden verändert, angepasst und 1
Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_4
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sogar infrage gestellt. Die Dienstleistungsbranchen zählen zu den Spitzenreitern bei den hochdigitalisierten Wirtschaftsbereichen. Sie sind einerseits Treiber der Digitalisierung, wie zum Beispiel die IKT-Branche, aber auch – oft gleichzeitig – von gewaltigen Umwälzungen betroffen. Nicht nur die Arbeit an sich ändert sich radikal, Arbeitsplätze verschwinden und an anderer Stelle entstehen neue. Laut einer Prognose des Bundesarbeitsministeriums „Digitalisierte Arbeitswelt“ vom Januar 2019 (BMAS 2019) führt diese Veränderung bis zum Jahre 2035 dazu, dass 4,0 Millionen Arbeitsplätze wegfallen und gleichzeitig 3,3 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Diese Zahlen unterstreichen die Bedeutung von Bildung und Weiterbildung. Diese digitale Revolution stellt hohe Anforderungen an die Verantwortlichen, denn es ist an ihnen, diesen Wandel im Sinne von guter digitaler Arbeit zu gestalten und dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten auch in der digitalisierten Arbeitswelt eine Zukunft haben. ver.di hat deshalb schon mit ihrer Erklärung aus dem Jahr 2014 die Gestaltung der Digitalisierung als vordringliche Aufgabe beschrieben: „Sollen die emanzipatorischen und arbeitsplatzschaffenden Chancen des Wandels möglichst vielen Menschen zugutekommen, so bedarf dies der gezielten gestalterischen Initiative, der regulierenden und flankierenden Intervention.“ Für ver.di liegt die zentrale arbeitspolitische Herausforderung darin, die unübersehbaren Risiken des digitalen Umbruchs zu bewältigen und Gute Arbeit zu sichern. Dabei richten wir uns vorrangig an den im Folgenden beschriebenen Orientierungspunkten aus. 2
Beschäftigungswirksame Innovationen fördern
Die digitale Vernetzung schafft eine Fülle an neuen, zum Teil innovativen Produkten und Dienstleistungen. Diese Potenziale gilt es für Wertschöpfung und Beschäftigung zu erschließen. Zugleich kann menschliche Arbeitskraft durch digitale Techniken effizienter gestaltet und in vielen Fällen sogar ganz ersetzt werden. Deshalb ist es von großer Bedeutung, die Beschäftigungsbilanz des Wandels möglichst positiv zu gestalten – durch gezielte Förderung arbeitsplatzschaffender Innovationen und eine Umlenkung von Produktivitätsgewinnen in gesellschaftliche Bedarfsfelder. Gleichzeitig müssen wir für betroffene Kollegen Sicherheit schaffen und Perspektiven aufzeigen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Tarifvertrag Zukunft zwischen ver.di und Eurogate (Containerterminal-Betreibergruppe). Gegenstand des Tarifvertrages sind potenzielle Auswirkungen von Automatisierungs- und Digitalisierungsprozessen in den Häfen. Der Ende 2018 abgeschlossene Tarifvertrag Zukunft regelt den Umgang mit beschäftigungsrelevanten Veränderungen durch Automatisie-
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rungs- und Digitalisierungsmaßnahmen und setzt damit einen für beide Seiten verbindlichen Rahmen für den Beginn und den weiteren Verlauf dieses wichtigen Transformationsprozesses. Mit dem Tarifvertrag werden die Folgen von Automatisierungsmaßnahmen für die Arbeitnehmenden sozialverträglich und mitbestimmt gestaltet. Darin wird unter anderem die Gründung einer paritätisch besetzten Automatisierungskommission festgelegt, die eine konzernweite Gestaltung insbesondere der Beschäftigungsfragen übernehmen wird. Somit werden Arbeitnehmervertreter und Gewerkschaft am Veränderungsprozess beteiligt. Weiterhin wurden Regelungen zu Qualifizierung und Arbeitszeitmodellen ausgehandelt, die auch eine mögliche Arbeitszeitverkürzung von 35 auf 30 Wochenarbeitsstunden bei vollem Lohnausgleich beinhalten. Ebenfalls beschlossen wurde ein befristeter Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis zum Jahre 2025 sowie wesentliche Eckpunkte eines tariflichen Sozialplans. 3
Qualifizierung forcieren
Im Zuge der Digitalisierung entstehen neue Jobs, für viele Erwerbstätige verändern sich Arbeitsinhalte grundlegend, bisher gefragte Fähigkeiten und Kenntnisse werden nicht selten obsolet. Oft werden einfache Routinetätigkeiten rationalisiert (bspw. „Dunkelverarbeitung“ in den Versicherungen, also die digitale Erfassung und Bearbeitung von Schadensmeldungen). In der Folge nehmen die Komplexität und die Qualifikationsanforderungen zu. Kreative, soziale und kommunikative Anforderungen kommen hinzu, fachliche Anforderungen ändern sich immer schneller und dem lebenslangen Lernen kommt eine wichtige Bedeutung zu. Angesichts dieser Verschiebungen im qualifikatorischen Gefüge der Arbeitsgesellschaft bedarf es verstärkter Anstrengungen auf allen Ebenen des Bildungssystems, namentlich in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, um die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen sichern und die Beschäftigungschancen des Wandels nutzen zu können. Die Rationalisierungserträge digitaler Automatisierung müssen deshalb auch der (Re-)Qualifizierung der betroffenen Beschäftigten zugutekommen, zum Beispiel im Zuge erhöhter Investitionen und verlängerter Weiterbildungszeiten. Der ver.di-Branchentarifvertrag für das private Versicherungsgewerbe aus dem Jahr 2017 bietet für die Beschäftigten Rahmenbedingungen, sich für neue Aufgaben zu qualifizieren, vor allem wenn der Arbeitsplatz bedroht ist. Darin ist eine Bildungsteilzeit mit Rückkehrrecht für die persönliche Weiterbildung vereinbart. Ein Qualifizierungsfond schafft die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten, um Beschäftigte für die digitalisierte Welt zu qualifizieren, statt sie in die Arbeitslosigkeit zu entlassen. Des Weiteren ist ein Anspruch für die Beschäf-
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tigten auf Qualifizierungszeit von zehn Arbeitstagen jährlich vereinbart, um an beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen zu können. 4
Gesundes Arbeiten ermöglichen
Digital vernetzte Arbeit ist häufig mit Erleichterungen und erweiterten Freiräumen für Beschäftigte verbunden, aber auch mit Entgrenzungen, Gefährdungen und Belastungen, die aufgrund steigender Arbeitsintensität und Verantwortung vor allem im psychischen Bereich zugenommen haben. Erweiterte Freiräume und Verantwortung verkehren sich bei unzureichenden Ressourcen und Prekarisierung der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse von Chancen in – auch gesundheitliche – Risiken. Relevante Normen und ergonomische Standards des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, die für ortsfeste Arbeitsplätze gelten, kommen bei ortsflexibler Arbeit bislang nicht wirksam zur Anwendung. Den gesundheitsgefährdenden Folgen einer digital erweiterten Erreichbarkeit und Verfügbarkeit von Beschäftigten ist durch geeignete tarifvertragliche und gesetzliche Regelungen entgegenzuwirken, die ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit und Nicht-Reaktion außerhalb zu vereinbarender Arbeits- und Bereitschaftszeiten zu garantieren haben. Erforderlich ist die Anpassung von Arbeitsschutzverordnungen sowie branchenspezifischer Vorschriften des Arbeitsschutzrechtes und der Unfallversicherung an die besonderen Belastungen digitaler und mobiler Arbeit. Hier betritt ver.di am Beispiel eines Tarifvertrages zum Schutz vor Überlastung am Arbeitsplatz bei der Deutschen Telekom AG Neuland. Ziel der tarifvertraglichen Regelung war es, ein System zu realisieren, das mit arbeitnehmerbezogenen messbaren Kennziffern mögliche vorhandene Überbelastungssituationen von Beschäftigten bzw. Beschäftigtengruppen ermittelt. In betrieblichen, paritätisch besetzten Kommissionen wird dann eine Analyse der Ursachen der Überlastungssituation realisiert und korrigierende Maßnahmen vereinbart. Das durchgesetzte tarifvertragliche Regelungswerk sieht eine im halbjährlichen Turnus stattfindende Messung vor. Indikatoren sind Gesundheitsquote, Unfallquote, Resturlaubstage, Überstundenguthaben, Fluktuation, Anzahl der Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz, Anzahl der Beschäftigten je Ampelphase im Arbeitszeitkonto. Die einzelnen Indikatoren sind mit Grenzwerten hinterlegt, um eine qualitative Aussage bezüglich des gemessenen Werts zu treffen. Die Messung findet bis auf Teamebene (Minimum fünf Beschäftigte) statt und erfasst alle Beschäftigtengruppen des Konzerns. Die Auswertungsergebnisse werden anhand der für die Indikatoren festgelegten Grenzwerte gefiltert und in betrieblichen paritätischen Kommissionen bewertet und notwendige Maßnahmen abgeleitet (Eskala-
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tionsmechanismen sind ebenfalls verabredet, sollte es zu keiner Einigung kommen). Mit dem Tarifvertrag wird es möglich, für die Unternehmen im TelekomKonzern eine einheitliche, fest definierte Messgrundlage zur Ermittlung von Überlastungsmomenten zu realisieren. Die Messungen finden in eng getakteter Reihenfolge statt und erlauben es so, auf aktuelle Veränderungen, sei es aus der Organisation heraus oder auf saisonale Bedingungen, zu reagieren. Die Indikatoren erlauben es, die Teams herauszufiltern, in denen entweder Grenzwerte überschritten werden oder sich die Erreichung von Gefährdungsbereichen ankündigt. Auf dieser Basis können in den paritätischen Kommissionen auf Betriebsebene – in Kenntnis der vorhandenen betrieblichen Bedingungen – Tiefenanalysen zu den Ursachen der sich ankündigenden beziehungsweise bestehenden Überlastungssituationen stattfinden. Die paritätischen Kommissionen haben die klare Aufgabe zu erörtern und festzulegen, welche Maßnahmen notwendig sind, um die Beschäftigten vor Überlastung zu schützen. Der Erörterungsrahmen ist hier breit gesteckt. Es besteht kein einschränkender Erörterungs- oder Handlungskatalog. Die paritätischen Kommissionen sind dicht an der betrieblichen Realität dran, da sie auf Betriebsebene eingerichtet werden und handeln. Mit dem Tarifvertrag wird der Anspruch erfüllt, ein ergänzendes Handlungsinstrument zur Verfügung zu stellen. 5
Persönlichkeitsrechte schützen
Jedwede Aktivität in digitalen Arbeitsumgebungen und sozialen Netzwerken hinterlässt einen stets größer werdenden Datenschatten, der durch ausgefeilte Tracking- und Analysetechniken zu Zwecken der Informationssammlung, der Durchleuchtung, Kontrolle und Steuerung des Verhaltens von Menschen genutzt werden kann – und von immer mehr Arbeitgebern auch entsprechend genutzt wird. Diese technischen Möglichkeiten machen die individuelle Arbeit der Beschäftigten transparent. Zeitstempel erfassen sekundengenau die Aufgabenerledigung der Beschäftigten und sind vielfach nicht löschbar und somit langfristig für alle möglichen Zwecke auswertbar. Darüber hinaus können interne soziale Netzwerke mithilfe selbstlernender Big-Data-Software unter dem Stichwort mining the social graph auf auffällige Muster im Handeln hin analysiert werden. Solche Systeme ziehen aus den Kommunikationsdaten beispielsweise Rückschlüsse in Bezug auf vermeintliche Kündigungsabsichten von Beschäftigten. Das zeigt, wie tiefgreifend neue Technologien die Arbeitswelt verändern (Höller und Wedde 2018). Zu den Herausforderungen im Zuge der Digitalisierung gehört die Frage, wie ein sensibler
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Umgang mit der wachsenden Menge an Beschäftigtendaten und mit den immer umfassenderen Möglichkeiten der Leistungs- oder Verhaltenskontrolle aussehen kann und muss. Denn die Digitalisierung kann nur dann ein gesamtgesellschaftlicher Erfolg werden, so die Auffassung von ver.di, wenn auch hier die Bedürfnisse der Beschäftigten berücksichtigt werden und ein guter Gestaltungsrahmen geschaffen wird. ver.di setzt sich für ein starkes und zeitgemäßes Beschäftigtendatenschutzgesetz ein, das den Gefährdungen aufgrund neuer Analysetechniken, der Entbetrieblichung der Datenverarbeitung und größer werdender Datenbestände gerecht wird. Nachdem dieses Anliegen schon seit mehreren Jahrzehnten unerfüllt bleibt, sollte kurzfristig zumindest ein Beirat beim Bundesarbeitsministerium eingerichtet werden, der Empfehlungen zur Einflussnahme auf Fehlentwicklungen im Arbeitnehmerdatenschutz erarbeitet und Good-Practice-Beispiele identifiziert. Darüber hinaus sind wirksame Durchsetzungsinstrumente zur Einhaltung gesetzlicher Mindestbedingungen notwendig, wie zum Beispiel ein effektives Verbandsklagerecht der zuständigen Tarifvertragsparteien. Durch die Verabschiedung der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) wurde ein hinreichender Spielraum für ein eigenständiges, nationales Beschäftigtendatenschutzgesetz geschaffen. Die eminenten Gefährdungen, die sich aus der Praxis für die Persönlichkeitsrechte von Erwerbstätigen ergeben, erfordern rechtliche, technische und organisatorische Schutz- und Abwehrmaßnahmen, die in einem zeitgemäßen Beschäftigtendatenschutzgesetz normiert werden müssen. Darüber hinaus sieht die neue Datenschutzgrundverordnung die Gestaltung des Beschäftigtendatenschutzes durch Kollektivvereinbarungen vor. Die Umsetzung dieses Auftrags setzt ein neues Mitbestimmungsrecht zum Datenschutz voraus, das als durchsetzbares Initiativrecht auszugestalten sein sollte. 6 Meinungs-, Presse- und Koalitionsfreiheit verwirklichen. Vertraulichkeit sichern! Vertrauliche Kommunikation ist die Voraussetzung für die Wahrnehmung von Grundrechten wie Meinungs-, Presse- und Koalitionsfreiheit sowie für den Schutz von Berufsgeheimnissen. Sie darf nicht durch die Einführung von Vorratsdatenspeicherung, das heißt der anlasslosen Speicherung von Verbindungsund Inhaltsdaten, gefährdet werden. Der Staat sollte die Entwicklung einfach nutzbarer Anonymisierungs- und Verschlüsselungsverfahren fördern. Whistleblower in Unternehmen und Behörden sollten gesetzlich besser geschützt werden. Wesentliche Voraussetzung einer funktionsfähigen, demokratischen Gesellschaft sind unabhängige Medien, die ihre grundgesetzlich geschützten Rechte
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und Aufgaben ohne Einschränkungen ausüben können. Die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit müssen deshalb geschützt, immer wieder gegen Angriffe verteidigt, in ihrer Pluralität erhalten und den veränderten Bedingungen des digitalen Umbruchs und dem Druck globaler Entwicklungen auf die Medienunternehmen entsprechend gestaltet werden. Nachrichten verbreiten sich über das Internet und die sozialen Medien in rasender Geschwindigkeit und häufig zum Nulltarif, mit gravierenden Auswirkungen auf die klassischen Geschäftsmodelle und das Berufsbild sowie die Ausbildung und Qualifikation von Medienschaffenden in der crossmedialen Welt. Fest steht: Medien sind keine Ware und keine reinen Renditeobjekte – Geschäftsmodelle wie Abo-Zeitungen im Internet, Crowdfunding sowie die Finanzierung und Förderung neuer publizistischer Angebote etwa durch Stiftungen stellen alternative Refinanzierungsmöglichkeiten dar. Dabei darf das Arbeitsrecht der Kreativen, das Urheberrecht, nicht gegen Nutzerinteressen ausgespielt werden. In ihrer Erwerbstätigkeit sind die überwiegend freiberuflich tätigen Urhebenden sowie Leistungsschutzberechtigten auf die Verwertung ihrer Werke – und damit auf für sie ökonomisch tragfähige Vertriebsstrukturen, auch im digitalen Raum – angewiesen. Dafür sind eine Stärkung der Durchsetzung ihrer Rechte, etwa über das Urhebervertragsrecht, und verständliche, für Verbraucher relevante Bestimmungen des Urheberrechtes notwendige Voraussetzungen. 7
Freiräume für mehr Arbeits- und Lebensqualität erschließen
Die digitale Vernetzung hat vielfach die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen, Arbeit räumlich und zeitlich flexibler zu gestalten. Die Nutzung dieser erweiterten Freiräume darf jedoch nicht allein der Dispositionsgewalt der Arbeitgeber überlassen bleiben, sondern muss verstärkt im Interesse der Beschäftigten organisiert werden und der Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensqualität dienen. Deshalb sollten Beschäftigte durchsetzbare Ansprüche – wo es die Arbeitsaufgaben zulassen – auf ein Mindestmaß an Tätigkeitsanteilen erhalten, die während der betriebsüblichen Arbeitszeiten an einem von ihnen selbst zu bestimmenden Arbeitsplatz erbracht werden können. Die Nutzung dieser erweiterten Freiräume muss verstärkt im Interesse der Beschäftigten organisiert werden und der Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensqualität dienen. Als beispielhafte Umsetzung dieser Gestaltungsanforderungen kann der im Juni 2016 zwischen ver.di und Deutsche Telekom vereinbarte Tarifvertrag zu Mobile Working gelten. Die Tarifvertragsparteien verfolgen hierbei das Ziel, „im Rahmen von mobile working eine örtliche Flexibilisierung der Arbeitsorganisa-
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tion sowohl im Unternehmensinteresse als auch im Mitarbeiterinteresse sinnvoll zu gestalten.“ Die Betriebsparteien schaffen mit dem Tarifvertrag die Grundlage, Mobile Working als Regelarbeitsform bei der Deutschen Telekom zu implementieren. Sie verweisen gleichzeitig auf die besonderen Anforderungen, die einerseits durch die damit einhergehenden erweiterten Gestaltungsfreiräume an die Beschäftigten in puncto eigenverantwortlicher und selbstständiger Arbeitsweise und der erforderlichen Selbstdisziplin gestellt werden müssen. Andererseits ist auch das Unternehmen verpflichtet, arbeitszeitrechtliche Regelungen bezüglich der Reisezeiten, Erreichbarkeit, Zeiterfassung, der Regelungen zur IKT-Ausstattung, zum Datenschutz und zu Mitbestimmungstatbeständen einzuhalten. Dabei ist auch das Zusammenwirken mit anderen Tarifverträgen zu betrachten. So ist zum Beispiel für den Arbeits- und Gesundheitsschutz der bei der Deutschen Telekom geltende Belastungsschutztarifvertrag maßgeblich. Gerade bei mobiler Arbeit ist darauf zu achten, dass die erwarteten Ergebnisse auch in der vereinbarten Arbeitszeit erzielt werden können. Wichtiges Prinzip des Tarifvertrags ist dabei das der doppelten Freiwilligkeit. Der Arbeitgeber kann im Rahmen seiner unternehmerischen Entscheidungsbefugnis bestimmen, welche Bereiche und Tätigkeiten für mobiles Arbeiten in Frage kommen. Doch auch für die Beschäftigten entstehen keinerlei Verpflichtungen, an anderen Orten als der betrieblichen Arbeitsstätte beziehungsweise der betrieblich veranlassten Arbeitsorte (z. B. im technischen Service bei Kunden, bei technischen Einrichtungen und Vermittlungsstellen) zu arbeiten. Wenn ein Beschäftigter am Mobile Working teilnimmt, gibt es keine grundsätzliche Beschränkung bei der Wahl seines Arbeitsortes, sofern dieser Ort für die Erfüllung der Arbeitsleistung geeignet ist. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der erforderlichen (telefonischen und elektronischen) Erreichbarkeit der Beschäftigten, der Gewährleistung des Datenschutzes und der Vertraulichkeit sowie in Bezug auf die Angemessenheit und (ergonomische) Eignung der Arbeitsumgebung. Im Gegensatz zur klassischen Telearbeit kann beim Mobile Working nicht nur im Betrieb und Zuhause gearbeitet werden, sondern auch auf Dienstreisen – im Hotel, am Flughafen, während einer Bahnfahrt – und an jedem anderen geeigneten Ort. Der Tarifvertrag verpflichtet jedoch Mobile Worker zu einer hinreichenden Anwesenheit im Betrieb pro Arbeitswoche. Damit soll der erforderliche (betriebliche) Informationsfluss sowie die Bindung und der soziale Kontakt zu den Kollegen aufrechterhalten werden. Der Tarifvertrag regelt die wesentlichen Eckpunkte von Mobile Working bei der Deutschen Telekom und enthält an verschiedenen Stellen explizite Aufträge für die betriebliche Ausgestaltung. Ohne solche spezifischen Regelungen auf der betrieblichen Ebene kann der Tarifvertrag nicht umgesetzt werden. Diese betrieblichen Ausgestaltungsaufträge betreffen zum einen die Frage des Zugangs
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beziehungsweise das Verfahren zum Ausschluss von Beschäftigten für das mobile Arbeiten und die konkrete Arbeitszeitgestaltung – vor allem die Lage der Arbeitszeit, bei der auch Erreichbarkeitszeiten sowie das Recht auf NichtErreichbarkeit zu regeln ist. Zum anderen werden betriebliche Regelungen verlangt, die Grundsätze der Auswahl des außerbetrieblichen Arbeitsorts und der Anforderungen an betrieblichen Anwesenheitszeiten zum Gegenstand haben. Weitere durch den Tarifvertrag geforderte betriebliche Regelungsgegenstände umfassen die Ausgestaltung der Sicherstellung von Datenschutz und Vertraulichkeit an außerbetrieblichen Arbeitsorten, die Frage der technischen Ausstattung und das Vorgehen bei technischen Systemausfällen. Ein wichtiges Thema für Betriebsvereinbarungen ist in diesem Kontext die Unterweisung sowie die Schulung der mobil Arbeitenden zur Frage der Selbstorganisation, des Datenschutzes sowie zu den besonderen Anforderungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Auch hier greift der Tarifvertrag wichtige Regelungsgegenstände auf und überlässt die konkrete Ausgestaltung den Betriebsparteien. Der Tarifvertrag Mobile Working bei der Deutschen Telekom zeigt, dass mobile Arbeit gut gestaltet werden kann und somit die positiven Wirkungen dieser flexiblen Arbeitsform zum Tragen kommen können – im Interesse von mehr selbstbestimmten Arbeiten, um mehr Arbeitszufriedenheit, erhöhte Produktivität und stärkere Bindung und Identifikation der Beschäftigten mit dem Unternehmen zu erzielen. 8
Mitbestimmung modernisieren
Die betriebliche Mitbestimmung basiert heute noch immer weitgehend auf rechtlichen Grundlagen, die lange vor Beginn des digitalen Umbruchs entstanden sind. So stehen beispielsweise den erheblich erweiterten Optionen von Arbeitgebern zur Verlagerung von Arbeitsvolumina und Standorten – auch über nationale Grenzen hinweg – keine adäquaten Mitbestimmungsmöglichkeiten der Interessenvertretungen gegenüber. Es bedarf einer Erweiterung der Mitbestimmungsrechte von betrieblichen Interessenvertretungen bei Out- und Crowdsourcing, Near- und Offshoring, um der Gefahr gravierender Einflussverluste von Betriebs- und Personalräten zu begegnen. Darüber hinaus ist die Mitbestimmung, durch einen erweiterten Arbeitnehmerbegriff, der der steigenden Anzahl von externen, durch digitale Vernetzung längerfristig in betriebliche Prozesse eingebundenen Erwerbstätigen Rechnung trägt, zu modernisieren. Um dies zu gewährleisten, bedarf es einer Stärkung der Rolle der Interessenvertretungen unter anderem durch
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– eindeutige Rechtsansprüche auf die Hinzuziehung externen Sachverstands in allen Fragen der Einführung neuer Arbeitsverfahren, Arbeitsmittel, Hard- und Software; – obligatorische quantitative und qualitative Technikfolgenabschätzungen zu digitalen Innovationen; – eine Mitwirkung bei Änderungen des Arbeitsplatzes, des Arbeitsablaufs oder der Arbeitsumgebung, wenn Beschäftigte belastet werden; diese muss bereits vor der offensichtlichen Gesundheitsverletzung nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit greifen; – den Ausbau bisheriger Vorschlags- und Beratungsrechte zur Personalplanung und Beschäftigungssicherung hin zu echten Mitbestimmungsrechten. Schließlich zeigen Forschungsergebnisse und Befragungen wie das ver.di-Innovationsbarometer, dass die Beteiligung der Träger der Mitbestimmung einen positiven Einfluss auf Innovationsfähigkeit und Dienstleistungsqualität hat. – umfassende Schutz- und Initiativrechte beim Persönlichkeitsschutz. Benötigt werden dazu grundsätzlich eine Transparenz der Algorithmen und Mechanismen, um Güteniveaus im Datenschutz verständlich, vergleichbar und einforderbar zu machen. Gerade bei dem Einsatz von KI ist diese Stärkung und der Ausbau der Mitbestimmung notwendig und das so frühzeitig wie möglich. Gewerkschaftlich haben wir den Begriff Gute Arbeit by Design in die laufende Diskussion eingebracht. Also schon bei der Entwicklung von entsprechenden Programmen, Algorithmen, selbstlernenden Systemen gute Arbeitsgestaltung mitzudenken. 9
Künstliche Intelligenz beherrschen
Ein entscheidender Faktor für die Wirkungsweise von KI in der Arbeitswelt ist die transparente, nachvollziehbare und kontrollierbare Gestaltung der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine bzw. lernenden Maschinen. Die Gestaltung muss bereits bei der Konzeptionierung und in der Entwicklungsphase von KISystemen beginnen. Voraussetzung für eine gute Gestaltung ist ein breiter Beteiligungsprozess, der bereits bei der Definition der Zielsetzung für die KI und deren Anwendung beginnt und eine Folgenabschätzung einschließt. Zu beteiligen sind die Beschäftigten und deren Interessenvertretungen. Ein solcher Aushandlungsprozess über Ziele und Wirkungen von KI-Systemen ist die unabdingbare Grundlage für einen erfolgreichen betrieblichen Transformationsprozess. Fragen der Beschäftigungswirkung, der Qualifizierung, der Gefährdungsanalyse sowie die Lösung möglicher Zielkonflikte hinsichtlich der Datennutzung auch
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mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte bedürfen einer nachvollziehbaren Technikfolgenabschätzung, die auch Interventionsmöglichkeiten der Beschäftigten und ihrer Interessensvertreter ermöglicht. Leitmotiv ist Gute Arbeit by Design. Das bedeutet, dass die Beschäftigten und deren Interessenvertretungen bereits bei der Definition der Zielsetzung und Zielfindung von KI-Systemen, die die Arbeitsbedingungen und Beschäftigungsperspektiven sowie Fort- und Weiterbildungsoptionen beeinflussen, beteiligt werden und mitbestimmen können. Gleiches gilt auch für die Entwicklung, Implementierung, Umsetzung und Evaluation, bei denen insbesondere die Dynamik bzw. Veränderung der lernenden Systeme berücksichtigt werden müssen. Leitziel muss hier sein, dass die Maschine den Menschen unterstützt. Ein entscheidender Erfolgsfaktor beim Einsatz von KI-Systemen in der Arbeitswelt ist die Gestaltung verbindlicher Prozesse zur rechtzeitigen Beteiligung der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen. Als Experten ihrer Arbeit können sie mit ihrem Erfahrungswissen dazu beitragen, die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine bzw. lernenden Systemen bestmöglich zu gestalten. Es gilt also, die menschliche Intelligenz zu nutzen, um künstliche Intelligenz in der betrieblichen Arena für eine effiziente und produktive, gesundheits- und lernförderliche Arbeitsgestaltung einzusetzen. 10
Fazit: Beteiligung ist das A und O
Der digitale Wandel beinhaltet enorme Gestaltungsaufgaben für Gewerkschaften und die betriebliche Mitbestimmung, für die entsprechende Ressourcen benötigt werden. Es braucht Wissen darum, wie und wo die Digitalisierung auf die Arbeitswelt und die Erwerbstätigen wirkt. Es braucht innovative Ansätze zur Arbeitsgestaltung, die dem Schutz der Gesundheit und der Arbeitnehmerrechte verpflichtet sind. Es braucht aber auch zeitliche Ressourcen für die Mitbestimmungsakteure, deren Aufgaben im Zuge des digitalen Umbruchs enorm zunehmen. Die Risiken liegen klar auf der Hand und dürfen nicht unterschätzt werden. Arbeitsintensivierung, das heißt die Verdichtung und Entgrenzung von Arbeit und die Zunahme von Arbeitshetze und Arbeitsstress, ist einer der zentralen stressauslösenden Faktoren und damit ein drängendes Problem in allen Branchen. Untersuchungen zeigen, dass die Arbeitsintensität im Zuge der Digitalisierung stark zunimmt (Roth 2017). Möglichkeiten für selbstbestimmteres Arbeiten werden eben dadurch unterminiert. Hier gilt es, schützende kollektive Rahmenregelungen abzuschließen und in der betrieblichen Praxis wirksam zu etablieren. Nur so können die Beschäftigten von den positiven Potenzialen profitieren.
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Beschäftigungsunsicherheit bleibt ein Thema, das auf betrieblicher ebenso wie auf politischer Ebene zu gestalten sein wird. Hier spielt Qualifizierung in all ihren Facetten eine zentrale Rolle und der Umgang damit wird mit darüber entscheiden, wie Deutschland nicht nur als Wirtschaftsstandort, sondern als Land und als Gesellschaft den digitalen Wandel vollzieht. Technik ist integraler Bestandteil unserer Arbeitswelt und in ihren Möglichkeiten, Wirkungen und Gefahren stets mitzudenken. Diese nicht unbedingt neue Erkenntnis entfaltet im Zuge des digitalen Wandels eine neue Wucht, gilt es doch, die Einführung neuer Technologien in ihren Wechselwirkungen mit Persönlichkeitsrechten, Arbeitnehmerrechten und Arbeitsbedingungen vorausschauend und mitgestaltend zu begleiten. Wir sind bereits mitten im Prozess und das bedeutet, es gibt Erfahrungen und Wissen derjenigen, die unter den gegebenen Bedingungen und Umbrüchen arbeiten. Dieses Wissen gilt es zum Ausgangspunkt der Gestaltung und der Veränderungsprozesse zu machen. Die Beteiligung der Beschäftigten ist Herzstück und Ansatz des ver.di-Leitbilds Gute Arbeit. Nur gemeinsam mit allen Akteuren können wir gute digitale Arbeit gestalten und durchsetzen. Literatur Bundesministerium für Arbeit und Soziales (= BMAS). 2019. Forschungsbericht 526/1K – BMASPrognose „Digitalisierte Arbeitswelt“, https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDFPublikationen/Forschungsberichte/fb526-1k-bmas-prognose-digitalisierte-arbeitswelt.pdf? __blob=publicationFile&v=1 (letzter Zugriff: 16.07.2020). Bundesministerium für Arbeit und Soziales (= BMAS). 2017. Weißbuch Arbeit 4.0. Berlin. Höller, H.P. und Wedde, P. (2018). Die Vermessung der Belegschaft. Mining the Enterprise Social Graph. Mitbestimmungspraxis, Januar (10) Hans-Böckler-Stiftung, https://www.boeckler.de/ pdf/p_mbf_praxis_2018_010.pdf (letzter Zugriff: 16.07.2020). Roth, I. (2017): Digitalisierung und Arbeitsqualität. Eine Sonderauswertung auf Basis des DGBIndex Gute Arbeit 2016 für den Dienstleistungssektor, Berlin 2017, https://innovation-gutearbeit.verdi.de/++file++592fd69d086c2653a7bb5b05/download/digitalverdi_web.cleaned.pdf (letzter Zugriff: 16.07.2020).
Stabilität oder Wandel durch Digitalisierungsprozesse? Überlegungen zum Verhältnis von Personalmanagement und Mitbestimmung1 Kerstin Rego Abstract Digitalisierung wird als eine der großen Herausforderungen für Unternehmen in der heutigen Zeit gehandelt. In Deutschland ist der Diskurs zur Digitalisierung eng verknüpft mit dem von Akteuren2 aus Politik und Wirtschaft getragenen Leitbild der Industrie 4.0. Folgt man der in diesen Diskursen angenommenen Reichweite der Veränderungen für Unternehmen, sollten Digitalisierungsprozesse auch Akteure wie das Personalmanagement oder die betriebliche Interessenvertretung betreffen. Dabei sehen sich beide Akteursgruppen seit geraumer Zeit ihren je eigenen, herausfordernden Veränderungen gegenüber. Der Beitrag untersucht auf theoretisch-konzeptioneller Ebene, ob betriebliche Digitalisierungsprozesse das Verhältnis zwischen diesen beiden Akteuren verändern oder ob es in seiner bisherigen Form erhalten bleibt. Hierfür wird eine mikropolitische Perspektive mit einem praxistheoretischen Konzept und Annahmen aus den industriellen Beziehungen kombiniert. Im Ergebnis stehen Überlegungen, in welcher Form und in welche Richtung sich das Verhältnis zwischen Personalmanagement und Mitbestimmung entwickeln könnte, bzw. welche Entwicklungen für beide Akteursgruppen vorteilhaft wären. 1
Einleitung
Das Personalmanagement (Human Resource Management, abgekürzt HRM) steht im betrieblichen Alltag oftmals den Betriebsräten als Aushandlungspartner, stellvertretend für die Managementseite, gegenüber und ist somit durchaus in die 1 2
Für ihre konstruktiv-kritische Rückmeldung zu diesem Beitrag danke ich Verena Bader und Katrin Hahn sehr. Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_5
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betrieblichen industriellen Beziehungen eingebunden (Pongratz 2013). Dabei wird es in der Forschung aber bislang kaum als eigenständiger Akteur der betrieblichen industriellen Beziehungen thematisiert (Lang und Rego 2016). Dieser Beitrag wird sich mit dem Verhältnis der beiden Akteure zueinander befassen und danach fragen, ob dieses Verhältnis durch Prozesse der Digitalisierung Veränderungen erfahren wird. Generell sind beide Akteursgruppen mit einigen Veränderungen befasst, denn sowohl das betriebliche Personalmanagement als auch die betriebliche Mitbestimmung stehen vor großen Herausforderungen mit Blick auf ihre eigene Stellung im Unternehmen. Die Positionierung des HRM im Unternehmen ist seit längerer Zeit im Wandel. So zeigen Rollenmodelle des HRM, dass sich dieses von einem hauptsächlichen Anwalt der Mitarbeiter stärker in Richtung eines strategischen Partners des (Top-)Managements entwickelt (Gerpott 2015; Lang und Rego 2015). Das Ziel dahinter ist, in die strategische Entwicklung des Unternehmens stärker eingebunden zu werden und hierdurch mehr Einfluss im Unternehmen zu erhalten. Begleitet wird dieser Prozess von einer zunehmenden Professionalisierung der Personalarbeit bei gleichzeitigem Auslagern von personalwirtschaftlichen Basisfunktionen (z. B. Gehaltsabrechnung). Trotz dieser Orientierung am (Top-)Management und der strategischen Unternehmensausrichtung zieht das Personalmanagement einen großen Teil seiner betrieblichen Anerkennung aus der gelingenden Unterstützung des Linien-Managements und muss sich folglich auch an diesem ausrichten. Weitere Spannungen der Personalarbeit resultieren aus der Sandwichposition zwischen verschiedenen organisationalen Gruppen wie Linien-Management, Top-Management und Mitbestimmung sowie einer geringen Ressourcenausstattung (Lang und Rego 2015). Eine zunehmende Finanzialisierung der Unternehmen (Faust und Kädtler 2018) und damit einhergehende Betonung der Finanzfunktion im Unternehmen lässt kurzfristig auch keine Entspannung der Ressourcenausstattung oder Verbesserung der Position des HRM im Unternehmen erwarten. Die betriebliche Mitbestimmung sieht sich anderen Herausforderungen gegenüber. Betrachten wir zunächst ihre generellen Machtquellen, so nennt etwa Nienhüser (2009) neben der Anzahl der abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen den gewerkschaftlichen Organisationsgrad, die Anzahl der im Aufsichtsrat vertretenen Arbeitnehmervertreter und das Vorhandensein eines Tarifvertrages als zentral für die Macht von Betriebsräten. Von diesen Machtquellen steht insbesondere die gewerkschaftliche Organisationsmacht vor großen Herausforderungen. Der Wandel der Beschäftigtenstrukturen hin zu mehr Angestellten, die sich nicht automatisch durch klassische Industriegewerkschaften repräsentiert fühlen, und Hochqualifizierten, welche vielfach zu der Überzeugung neigen, ihre Interessen selbst besser vertreten zu können, bewirkt eine Schwächung der Gewerk-
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schaften. Daraus kann sich ein potenziell geringerer Organisationsgrad der Mitarbeitenden auf Unternehmensebene ergeben, welcher wiederum durch seine Signalwirkung an Arbeitgeber die Betriebsräte schwächen kann. Ebenso wird die Tarifbindung vielerorts von einer Tarifflucht der Arbeitgeber bedroht, und auch die Unternehmensmitbestimmung wird von Zeit zu Zeit in Frage gestellt (Müller-Jentsch 2013). Je nach lokaler Konstellation können diese Faktoren die Machtquellen eines Betriebsrates empfindlich schwächen und so auch das Potenzial, wirkungsvolle Betriebsvereinbarungen abzuschließen, stark begrenzen. Folglich kämpfen also sowohl das HRM als auch die betriebliche Mitbestimmung mit ihren je eigenen Problemen und Herausforderungen, um ihre Position im betrieblichen (Macht-)Gefüge zu erhalten. Man kann sich nun fragen, was dies für das Verhältnis der beiden Gruppen zueinander bedeutet und in welchem Verhältnis HRM und betriebliche Mitbestimmung zueinander stehen. Dabei bringen Digitalisierungsprozesse, denen in Unternehmen eine zunehmende Aufmerksamkeit und damit auch Bedeutung zukommt, eine weitere Dimension ins Spiel. Sie wirken, etwa fixiert im Leitbild der Industrie 4.0, in die Unternehmen hinein und erzeugen einen Druck zur Anpassung und Veränderung der Unternehmen. Aus der oben skizzierten Perspektive heraus ist die Frage naheliegend, ob Digitalisierungsprozesse das Verhältnis zwischen HRM und Mitbestimmung verändern, und falls dem so ist, in welcher Form diese Veränderungen stattfinden. Damit hängt zusammen, ob HRM und Mitbestimmung diese Digitalisierungsprozesse nutzen (können), um ihre eigene Position zu verbessern. Der Beitrag adressiert diese Fragen im Folgenden in theoretisch-konzeptioneller Form. Durch eine Kombination von praxistheoretischen und mikropolitischen Annahmen als organisationstheoretischen Machtperspektiven sowie einer Industrial Relations-Perspektive sollen Thesen dazu aufgestellt werden, ob und wenn ja wie sich das Machtverhältnis zwischen Personalmanagement und Mitbestimmung verändern könnte. Um dieses Ziel zu erreichen, wird zunächst der Stand der Forschung zum Verhältnis von Mitbestimmung und Personal-Management skizziert. Daran schließen sich Forschungsergebnisse und eigene Überlegungen zur Veränderung dieses Verhältnisses im Zuge der Digitalisierung an. Dem folgt eine Darstellung der organisationstheoretischen Brille, aus welcher dann im letzten Abschnitt Thesen zur weiteren Entwicklung des (Macht-)Verhältnisses zwischen HRM und Mitbestimmung abgeleitet und diskutiert werden.
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Mitbestimmung und Personalmanagement: Verhältnis zueinander und Machtverteilung
Will man sich den Forschungsstand zum Machtverhältnis zwischen zwei Akteursgruppen anschauen, so wären hierfür Studien vorzuziehen, die beide Akteursgruppen sowohl analytisch betrachten, als idealerweise auch beide Gruppen in ihre empirische Datenerhebung mit einbeziehen. Solche Studien finden sich auch beispielsweise für das Verhältnis zwischen Betriebsräten und Geschäftsführung (Dilger 2002). Für das Verhältnis zwischen Mitbestimmungsakteuren wie Betriebsräten und dem Personalmanagement ließen sich jedoch keine Befunde recherchieren. Stattdessen finden sich Studien, die zwar das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Personalmanagement zum Gegenstand haben, dabei aber nur die Einschätzung einer der beiden Akteursgruppen berücksichtigen. Dies ist zum Beispiel in einer Studie von Nienhüser (2009) der Fall, der die Macht und die Kooperationsbereitschaft von Betriebsräten in Deutschland erforscht, um so Aussagen zum Verhältnis von Betriebsräten und Personalmanagement zu treffen. Basierend auf einer telefonischen Befragung von HR-Managern findet er heraus, dass mit als stark wahrgenommenen Betriebsräten mehr Betriebsvereinbarungen abgeschlossen werden. Dabei scheint für die Anzahl der abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen die wahrgenommene Macht des Betriebsrates wichtiger zu sein als seine Kooperationsbereitschaft. Letztere beeinflusst jedoch, ob die abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen von den HR-Managern eher als flexibilitätsfördernd oder -einschränkend erlebt werden. Alles in allem weisen Unternehmen mit starken, als nicht kooperativ eingeschätzten Betriebsräten die höchste Anzahl an Betriebsvereinbarungen auf. Diese werden allerdings auch flexibilitätseinschränkend und am wenigsten positiv wahrgenommen. Interessant ist Nienhüsers Hinweis auf die Bedeutung der Manipulation von Wahrnehmungen (ebd.) hinsichtlich der subjektiv wahrgenommenen Macht und Kooperationsbereitschaft von Betriebsräten durch die HR-Manager. Diese subjektive Wahrnehmung entfaltet in Verhandlungen zwischen Personalmanagement und Betriebsrat ihre Wirkung. Ähnlich wie Nienhüser (ebd.) untersucht auch Pfeifer (2014) die subjektive Sicht von Personalmanagern auf Betriebsräte und arbeitet dabei mit einer selbstentwickelten Betriebsratstypologie. Dabei interessiert ihn weniger das Machtverhältnis zwischen beiden, sondern vielmehr die Auswirkungen der Kooperationsbereitschaft auf Probleme, die das HRM für die nächsten zwei Jahre antizipiert. Pfeifer setzt die verschiedenen erwarteten Probleme (wie z. B. Personalüberschuss oder -mangel) in Bezug zu seiner Typologie von Betriebsräten und kommt zu ambivalenten Ergebnissen. Während einige der erwarteten Probleme durch Betriebsräte verschärft werden, schwächen einzelne Betriebsratstypen
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andere ab. In der Summe hat ein Betriebsrat, der sich überwiegend ohne Konsensorientierung in Opposition zum Management verhält, überwiegend negative Konsequenzen für die wahrgenommenen zukünftigen Herausforderungen für das HRM. Demgegenüber hat ein Betriebsrat, der mit dem Management übereinstimmend wahrgenommen wird, zum Teil positive Effekte auf die wahrgenommenen Herausforderungen. Während die Studien von Nienhüser (2009) und Pfeifer (2014) unbestritten wichtige Einsichten auf die wahrgenommene Machtposition von Betriebsräten aufweisen und die Studie von Pfeifer (2014) auch die Auswirkung dieser auf die Arbeit des Personalmanagements berücksichtigt, bleiben sie dennoch einseitig. Der Macht und Kooperationsbereitschaft der Betriebsräte in der Wahrnehmung der Personalmanager müsste, um ein vollständiges Bild zu erhalten, eigentlich die Wahrnehmung der Betriebsräte hinsichtlich der Macht und Kooperationsbereitschaft der Personalmanager gegenübergestellt werden. Dies würde auch das Problem lösen, dass die einseitige Verwendung von Typologien, nämlich solche über Betriebsräte, die implizite Annahme nahelegt, dass das Personalmanagement ein homogener Akteur sei. Dass sich diese Annahme nicht halten lässt, zeigt u. a. die Forschung zu Positionen und Rollen von Personalmanagern (Sheehan et al. 2014). Diese legt nahe, dass auch Personalabteilungen unterschiedliche Positionierungen aufweisen und über verschieden stark ausgeprägte Machtbasen verfügen. Basierend auf der Sicht von Betriebsräten könnte man eine Typologie des Personalmanagements bilden, die das Machtpotenzial und die Kooperationsbereitschaft des Personalmanagements abbildet. In einem nächsten Schritt könnten dann die Typologien von Betriebsräten, die in der vorhandenen Forschung gebildet werden, in Bezug gesetzt werden zu Typologien des Personalmanagements. So würden auch Fragen der Wechselwirkung zwischen beiden Typen eher in den Blick geraten. Dieser letzte Punkt deckt sich mit Befunden etwa von Skorupińska-Cieślak (2019), die in einer Studie zur Rolle und Position von polnischen Betriebsräten herausgefunden hat, dass diese am stärksten von der Haltung des Managements gegenüber dem Betriebsrat beeinflusst werden. Nun unterscheiden sich das polnische und deutsche System industrieller Beziehungen fraglos an entscheidenden Stellen (ebd.), und dennoch weist ihre Studie deutlich darauf hin, dass Personalmanagement, Geschäftsführung/Management und Betriebsräte in Relation zueinander stehen und nicht separat gedacht werden können. Das Verständnis für die Position des einen setzt auch das Verständnis der Position des anderen voraus, und zwar idealerweise im Zeitablauf betrachtet, um deren wechselseitige, miteinander verwobene Entwicklung zu verstehen.
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Digitalisierung: Anlass für Veränderungen im Machtverhältnis zwischen Personalmanagement und Mitbestimmung?
In der Literatur zur Machtverteilung zwischen HR-Management und betrieblicher Mitbestimmung finden sich keine Hinweise auf die Rolle von technologischen Veränderungen. Demgegenüber arbeiten z. B. Kuhlmann et al. (2019) in einem noch laufenden Forschungsprojekt heraus, welche Auswirkungen der digitale Umbruch auf das Verhältnis zwischen Mitbestimmung und Management hat. Mit Blick auf die gesetzliche Regelung, welche Betriebsräten weitgehende Mitbestimmungsrechte bei digitalen Technologien einräumt, unterscheiden sie drei betriebliche Konfliktkonstellationen. Erstens finden sich Unternehmen, in denen das Management digitale Technologien zur umfassenden Mitarbeiterkontrolle nutzen will; hier sei es Aufgabe des Betriebsrates, diese zu begrenzen. Zweitens finden sich Unternehmen, in denen der Betriebsrat auf eine kleinteilige Kontrolle aller technischen Änderungen pocht, wodurch technologische Neuerungen aus Sicht des Managements zu langsam voranschreiten können. Eine ITRahmenvereinbarung wird hier als Lösung angeboten. Und drittens wechseln in einigen Unternehmen die Betriebsräte ihren Fokus von der Kontrolle auf die Gestaltung von Arbeitsprozessen, mit unterschiedlichen Reaktionen des Managements. Bedenkt man, dass oft das Personalmanagement als Vertreter der Managementseite agiert, könnte diese Typologie auch für das Verhältnis zwischen HRM und Betriebsräten wichtig sein. Doch insgesamt lassen sich auf dieser Basis keine Aussagen darüber treffen, ob und in welche Richtung Prozesse der Digitalisierung in Unternehmen das Machtverhältnis zwischen HRM und Betriebsräten verschieben könnten. Deswegen wird im Folgenden Literatur zurate gezogen, die sich mit dem Einfluss der Digitalisierung auf die Machtposition und Möglichkeiten einer der beiden Akteursgruppen, also HRM oder betriebliche Mitbestimmung, bezieht. Beginnen wir mit den Möglichkeiten, die sich aus der digitalen Transformation für das HRM ergeben. Hier sehen etwa Bissola und Imperatori (2019) die Hauptveränderungsfaktoren für das HRM in einer sich verändernden Natur und Organisation von Arbeit sowie den Möglichkeiten und Herausforderungen von Big Data. Unter der Voraussetzung, dass HR-Abteilungen drei Bedingungen erfüllen können, sehen sie großes Potenzial in den unter dem Stichwort Industrie 4.0 verhandelten Veränderungen der Arbeitswelt und der Unternehmen. Die erste Bedingung ist, dass HRM unter Nutzung von Big Data evidenzbasierter wird und den Nutzen seiner Maßnahmen messbar argumentieren und vorweisen kann. Zweitens sehen sie es als die Aufgabe von HRM, die Mitarbeitenden bei der Entwicklung eines Mindsets und der Kompetenzen zu unterstützen, die diese in der Industrie 4.0 benötigen, und drittens ist es die Aufgabe des HRM, die poten-
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ziell negativen Begleiterscheinungen der Industrie 4.0 für Mitarbeitende und Organisation zu unterbinden (ebd., S. 58f.). Gelingt die Erfüllung dieser drei Bedingungen, sehen sie entlang des Business Partner Modells (hier unter Bezug auf Ulrich et al. 2011) gute Chancen für das HRM, seine Rolle als strategischer Business Partner im Unternehmen besser wahrnehmen zu können und somit an Einfluss im Unternehmen zu gewinnen. In eine ähnliche Richtung weist die Analyse von Fabbri und Scapolan (2019), welche zwischen der Digitalisierung des HRM und der Transformation des HRM unterscheiden. Die Digitalisierung des HRM verknüpfen sie mit e-HRM-Anwendungen, wie den e-recruiting- oder e-performance-Managementsystemen, und argumentieren, dass sich diese Anwendungen vielfach an das Linienmanagement oder die Mitarbeitenden selbst richten, so dass die klassische HR-Rolle des organizational development expert überflüssig wird. Demgegenüber sehen sie die Relevanz des HRM durch die Transformation desselben gegeben. Sie argumentieren, dass durch die voranschreitende Digitalisierung das betriebliche Management von Entscheidungsprämissen durch die organisationale digitale Architektur und deren Inhalt erreicht wird, und sehen hier den Leiter des HRM aufgrund seiner organisationalen Kompetenzen in der idealen Rolle, um eine solche Digitalisierungsstrategie umzusetzen. Zudem kann das HRM, wenn die HR-Manager über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen, durch die Nutzung von HR Analytics große Mengen Daten verarbeiten und so aufbereiten, dass sie ihrer Rolle als strategischer Business Partner gerecht werden können. Letztlich soll das HRM dazu beitragen können, die Entscheidungsfindung im Unternehmen zu verbessern und einen konsistenten Organisationswandel anzustoßen. Zusammengefasst sieht die betriebswirtschaftliche Literatur also die Chancen des HRM, im Zuge der Digitalisierung seine eigene Position im Unternehmen zu verbessern, unter den oben genannten Voraussetzungen durchaus positiv. Die Einschätzung des Entwicklungspotenzials der Betriebsräte im Rahmen der voranschreitenden Digitalisierung fällt hingegen pessimistischer aus. Zieht man zum Beispiel für die Frage, in welche Richtung sich die Machtposition der betrieblichen Mitbestimmung im Zuge der Digitalisierung verändern könnte, deren Umgang mit vorangegangenen Technisierungswellen heran, so zeigt sich, dass Betriebsräte auf keine Tradition der aktiven Technikmitgestaltung zurückgreifen können. Eine solche fand sich in der Vergangenheit höchstens in Einzelfällen. Zudem erweist sich eine fehlende Einbindung der Mitarbeiter in Mitbestimmungsfragen als problematisch. Fehlt diese, können sich ganz allgemein Legitimationsprobleme für den Betriebsrat gegenüber den Mitarbeitenden ergeben, vor allem aber findet konkret bei der Ausgestaltung von (neuer) Technik die Erfahrung der Mitarbeitenden keine Berücksichtigung (Haipeter 2018; Ortmann et al. 1990). In jüngerer Zeit entwickeln Betriebsräte, auch mit Unterstützung der
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Gewerkschaften, punktuell Modelle der Einbeziehung von Mitarbeitern. Dies sei ein Ansatzpunkt für die „moderne Interessenvertretung in der digitalen Arbeitswelt, weil sich die Betriebsräte durch Beteiligung der Beschäftigten als Experten strategische Kompetenzen erschließen könnten, die für die neuen Fragen der Technik- und Organisationsgestaltung elementar sind.“ (Haipeter 2018, S. 312).
Dadurch können sie von Co-Managern zu betrieblichen Co-Innovatoren werden, wobei sich diese Innovationen empirisch in der Regel eher auf die (Arbeits-)Organisation als auf technologische Innovationen der Produkt- oder Prozessgestaltung beziehen. Folglich wiederholt sich hier die Ferne zur Technikgestaltung auf betriebsrätlicher Seite. Will „Mitbestimmung 4.0“ gelingen, so braucht es nach Haipeter (ebd., S. 318) einen neuen „Typus aktiven und aktivierten Mitbestimmungshandelns, der die Fähigkeit zur Erneuerung von Themen und des eigenen Vertretungsstils mit der Fähigkeit zur Gegenmachtbildung verbindet“. Damit zielt er darauf ab, dass der Betriebsrat in der Mitbestimmung 4.0 einerseits die Mitarbeiter und ihre Expertise einbeziehen soll, und andererseits durch die Arbeit an innovativen Themen der Technikgestaltung nicht die klassischen arbeitspolitischen Felder betrieblicher Interessenpolitik vernachlässigen dürfe. Die Chancen, durch die Prozesse der Digitalisierung im Unternehmen zu profitieren und die eigene Position zu verbessern, werden also für das HRM positiver eingeschätzt als für die betriebliche Mitbestimmung bzw. sehen die jeweiligen Autoren für die betriebliche Mitbestimmung größere Herausforderungen als für das HRM. Eine Einschätzung, ob und gegebenenfalls in welcher Form sich das (Macht-)Verhältnis zwischen diesen beiden Akteuren verändern könnte, ist auf Basis der bestehenden Literatur kaum möglich. Im Folgenden werden dazu Thesen entwickelt, die sich aus praxistheoretischen und mikropolitischen Konzepten ableiten. 4
Praxistheorie und Mikropolitik treffen industrielle Beziehungen
Mikropolitische organisationstheoretische Ansätze haben eine lange Tradition in der Erforschung der Einführung neuer Technologien in Unternehmen, auch gepaart mit Fragen der Mitbestimmung (im kurzen Überblick etwa Alt 2001, im Speziellen zum Beispiel Ortmann et al. 1990). Sie erlauben so, den Einfluss von neuer Technologie im Zuge der Digitalisierung in Bezug zu innerbetrieblichen Machtprozessen zu setzen und haben dabei bereits Mitbestimmung im Blick. Dabei hat sich insbesondere die Verknüpfung von Mikropolitik mit praxistheoretischen Überlegungen, wie sie sich etwa in der Giddens’schen Struktura-
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tionstheorie finden, als fruchtbar erwiesen (Neuberger 1995; Ortmann et al. 1990). Auf die von Ortmann et al. (ebd.) entwickelte Konzeption zur Untersuchung der Einführung neuer Technologien soll im Folgenden aufgrund der großen thematischen Nähe besonders eingegangen werden. Ortmann et al. (ebd.) greifen auf Crozier und Friedbergs (1979) strategische Organisationsanalyse als mikropolitischen Ansatz zurück und übernehmen aus diesem die Kernbegriffe der Macht, der Strategien und strategisch handelnden Akteure sowie die Metapher des Spiels als integrierenden Mechanismus für strategisch handelnde sowie Macht sichernde und ausbauende Akteure. Über das geteilte Interesse an der Aufrechterhaltung des Spiels, oder des Spielfeldes, wird der Fortbestand der Organisation gesichert. Konzeptionell erweitern sie die strategische Organisationsanalyse, in dem sie zwischen Routine- und Innovationsspielen unterscheiden. Die Rolle von Strukturen wird im Kern über die Begriffe des Entscheidungskorridors und des Leitbildes eingeführt. Mittels des Begriffs des Entscheidungskorridors wird hervorgehoben, dass Akteure sich in ihrem Handeln rekursiv auf bestehende Strukturen beziehen und diese genau dadurch auch reproduzieren (zu dieser Grundfigur auch Ortmann et al. 2000). So ist auch und gerade bei der Einführung neuer Technologien nicht alles möglich, sondern durch das Rückbeziehen auf Strukturen bereits ein Entscheidungskorridor festgelegt, der verschiedene mögliche Entwicklungen eröffnet und andere verschließt. Strukturen ermöglichen und begrenzen Handeln. Zudem wirken Leitbilder aus der Unternehmensumwelt in diese hinein, zeigen Richtungen anstrebenswerter Entwicklungen auf und gehen so in Entscheidungsprozesse ein (Ortmann et al. 1990, S. 60ff.). Aktuell findet sich ein solches Leitbild im Diskurs um Industrie 4.0, der die Richtung von Digitalisierungsbestrebungen aufzeigt und diese befeuert. Mit der so entwickelten theoretischen Konzeptualisierung greifen Ortmann et al. (1990) die Rekursivität von Struktur und Handeln auf, indem sie einerseits die mikropolitischen Mittel, mit denen auf Informatisierungsprozesse Einfluss genommen wird, und andererseits die Auswirkung dieser Informatisierung auf Macht und Herrschaftsstrukturen im Betrieb untersuchen. Dies lässt sich auch so zusammenfassen: „Technik restringiert und ermöglicht Handeln und Organisieren (…). Umgekehrt kann in Organisationen – beispielsweise mit mikropolitischen Mitteln – auf Technikeinsatz und -nutzung Einfluß genommen werden. Die – so! – angewandte Technik setzt rekursiv zukünftigen Einflußstrategien einen Rahmen, ermöglicht sie aber vielleicht auch erst“ (Ortmann et al. 2000, S. 345f.).
In den Fallstudien, die Ortmann et al. (1990) untersuchen, werden Unternehmen beziehungsweise die an diesen Prozessen beteiligten Organisationseinheiten betrachtet, die sich in Informatisierungsprozessen befinden. Durch die bereits vorhandene praxistheoretische Fundierung ihrer Konzeptualisierung bietet es sich
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an, hierfür den ebenfalls praxistheoretischen Begriff des Feldes zu verwenden. Für unsere Frage nach der Stabilität oder dem Wandel im Verhältnis zwischen Personalmanagement und Mitbestimmung scheinen unter dieser Perspektive besonders Fligsteins (2013) Überlegungen zu Wandel und Stabilität in Feldern anschlussfähig. Fligstein versteht unter einem Feld eine sozial konstruierte Arena, in der (kollektive) Akteure um ihren Vorteil bedacht handeln und dabei das Handeln anderer in ihre Handlungen mit einbeziehen. Er prägt den Begriff des strategic action field „in order to highlight both the structuring of the field and the role of actors in production of the field“ (ebd., S. 41)
Dabei geht er von der These aus, dass Felder sich in permanenter Veränderung befinden, wobei der Wandel je nach Zustand des Feldes inkrementell oder radikal stattfindet. Radikalen Wandel verortet Fligstein am Zeitpunkt des Entstehens eines neuen strategic action fields und bei einer umfassenden Transformation eines bestehenden Feldes, während in stabilen Feldern inkrementeller Wandel und organisationales Lernen erfolgt. Er betont damit, dass Wandel die Stabilität von Feldern im Sinne der Positionierung der Feldteilnehmer zueinander nicht berühren muss. Hinsichtlich der Akteure unterscheidet Fligstein, ähnlich wie Bourdieu, zwischen Etablierten und Herausforderern. Die Machtverhältnisse zwischen den einzelnen, individuellen und/oder kollektiven Akteuren im Feld können durch die Modi des Zwangs, des Wettbewerbs und der Kooperation (bzw. eine Kombination dieser) geregelt und gesichert werden. Mit Blick auf unsere Fragestellung nach Stabilität oder Wandel im Verhältnis von Personalmanagement und Mitbestimmung durch Digitalisierungsprozesse ergeben sich nun drei verschiedene Möglichkeiten, das Konzept des strategic action fields sinnvoll zu nutzen. Man könnte erstens die industriellen Beziehungen im Unternehmen als strategic action field fassen. Zweitens könnte man auch, stärker im Anschluss an Ortmann et al. (1990), die Prozesse der Digitalisierung selbst als strategic action field konzipieren. Die dritte Möglichkeit wäre, dass sowohl die unternehmensinternen industriellen Beziehungen als auch die unternehmensinternen Digitalisierungsprozesse je ein strategic action field bilden. Bedenkt man, dass Fligstein (2013) Felder explizit als ineinander verschachtelt konzipiert und betont, dass benachbarte Felder sich gegenseitig beeinflussen, scheint dies auch plausibel. In diesem Fall hätten wir es mit zwei sich überlagernden Feldern und einer insgesamt höheren Komplexität zu tun.
Überlegungen zum Verhältnis von Personalmanagement und Mitbestimmung
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Überlegungen zum zukünftigen Verhältnis von Personalmanagement und Mitbestimmung – Stabilität oder Wandel?
Was bedeutet es für die Fragestellung nach Stabilität oder Wandel im Verhältnis von Personalmanagement und Mitbestimmung durch Digitalisierungsprozesse, wenn man erstens die industriellen Beziehungen im Unternehmen als strategic action field fasst? Involvierte Akteure sind hier neben Betriebsrat und Personalmanagement auch Top-Management und Führungskräfte der mittleren Ebene. Als weitere Feldakteure bzw. Einflusskräfte auf die Feldkonstellation wären zum Beispiel die Mitarbeitenden zu berücksichtigen, da sie den Betriebsrat wählen, sowie die Anteilseigner, welche das Handeln des (Top-)Managements bewerten. Dieses strategic action field wird in Organisationen in der Regel bereits bestehen, so dass Fligsteins Konzeption einen inkrementellen Wandel des Feldes nahelegt. Dabei scheint das hier interessierende Verhältnis zwischen Personalmanagement und Betriebsrat, wie in Abschnitt 2 beschrieben, eher lückenhaft erforscht zu sein. Jedoch lassen sich aus Abschnitt 3 einige Hinweise entnehmen, ob und wenn ja in welcher Form Digitalisierungsprozesse dieses Feld erschüttern und verändern, sowie ob sich dies auf das uns interessierende Verhältnis zwischen Personalmanagement und Mitbestimmung niederschlägt. Dort wurde aufgezeigt, dass die voranschreitende Digitalisierung beide Akteure vor große strategische Herausforderungen stellt. Da deren jeweiliges Meistern direkt mit dem Erhalt oder der Verbesserung der eigenen Machtposition im Unternehmen einhergeht, dürfte sich das Gelingen oder Scheitern an diesen Herausforderungen auch im Feld der betrieblichen industriellen Beziehungen niederschlagen. Dabei scheinen zum einen die Herausforderungen für die Betriebsräte größer, und zum anderen haben sie mit Blick auf ihre Position im Feld der industriellen Beziehungen mehr zu verlieren. Denn das HRM handelt hier in der Regel in Vertretung des Managements. Gelingt dem HRM das Meistern der digitalen Herausforderungen nicht oder nur bedingt, so wird ihre Position im betrieblichen Feld der industriellen Beziehungen eher noch über die Position des Managements mit abgesichert. Die zweite Möglichkeit wäre, die Prozesse der Digitalisierung selbst als strategic action field zu konzipieren. In diesem Fall hätten wir es mit einem sich neu konstituierenden Feld zu tun, was nach Fligstein (2013) auf radikalen Wandel und eine recht unvorhersehbare Verteilung der (Macht-)Positionen im Feld hinweist. Aus mikropolitscher Sicht emergiert dieses Feld jedoch nicht völlig im luftleeren Raum, sondern wird durch Leitbilder wie das der Industrie 4.0 und Entscheidungskorridore, also die bisherige Entwicklung des Unternehmens und das Verhältnis der Akteure zueinander, geprägt. Ein solches Feld umfasst neben den hier interessierenden Akteuren ebenfalls weitere, zum Beispiele betroffene
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Fachabteilungen, Top- und mittleres Management, EDV-Abteilungen, und ggf. externe Akteure wie Unternehmensberater. Geht man nun davon aus, dass die Konkretisierung des abstrakten Leitbildes Industrie 4.0 und des Schlagwortes Digitalisierung jeweils in den Unternehmen kreativ geleistet werden muss, ergibt sich in einem sich somit neu konstituierenden strategic action field die Chance, sich selbst zu profilieren und die eigenen Interessen geschickt zu positionieren. Dies trifft natürlich auf alle beteiligten Akteursgruppen zu, könnte aber gerade für die betriebliche Mitbestimmung und das HRM mit ihren je spezifischen Herausforderungskonstellationen interessante Lösungsoptionen bieten. Für das HRM bietet eine umfassende Digitalisierung organisationaler Prozesse die Möglichkeit, sich von administrativen Basisaufgaben zu befreien, um sich auf die Rolle des strategischen Business Partners zu konzentrieren, und so von einer Einbindung in oder engeren Anbindung an die Unternehmensstrategie zu profitieren. Freiwerdende Kapazitäten lassen sich auch nutzen, um ihre spezifische Expertise in andere Digitalisierungsprojekte einzubringen. Für Betriebsräte bieten solche Projekte die Möglichkeit, eigene Vorstellungen guter Arbeit zu entwickeln und in teilweise sehr umfassende organisationale Umstrukturierungen einfließen zu lassen. Dieser Chance steht jedoch die Beobachtung entgegen, dass neue EDVProjekte an einem Großteil der Betriebsräte vorbeilaufen und nicht als eine solche Chance genutzt werden (Ortmann et al. 1990). Ortmann et al. führen dafür gute Gründe an, wie etwa die fehlende Expertise in diesem Bereich, eine geringe Ressourcenausstattung im Vergleich zu anderen beteiligten Akteursgruppen und auch eine fehlende oder nicht genügende Unterstützung zu diesen Themen durch die Gewerkschaften. Die laufende eigene Forschung (Rego 2020) legt nahe, dass diese Probleme auch aktuell Betriebsräte daran hindern, sich in Digitalisierungsprojekten klar zu positionieren und aktiv einzubringen. Die dritte Möglichkeit erhöht die Komplexität bei der Bildung von Thesen weiter: Es lässt sich auch denken, dass sowohl die unternehmensinternen industriellen Beziehungen als auch die unternehmensinternen Digitalisierungsprozesse je ein strategic action field bilden. In diesen zwei sich überlagernden Feldern scheint es für Betriebsräte mehr zu gewinnen, aber auch mehr zu verlieren zu geben als für das HRM. Verpassen die Betriebsräte die Chancen einer Digitalisierung der eigenen Arbeit, wie etwa zur schnelleren Kommunikation mit ihrer Wählerschaft, den Mitarbeitern, drohen sie Legitimität in den betrieblichen industriellen Beziehungen zu verlieren. Das Einbringen in größere Digitalisierungsprojekte hingegen bietet hohe Gewinnchancen, zum Beispiel mit Blick auf die Umsetzung eigener Ideen guter Arbeit oder Legitimität bei den Mitarbeitern. Gleichzeitig bindet es aber auch viele Ressourcen und birgt die Gefahr offenzulegen, dass hier vielen Betriebsräten eigene Expertise im IT-Bereich fehlt. Scheitert das HRM an den Herausforderungen der Digitalisierung, so kann sein Posi-
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tionsverlust im Feld der betrieblichen industriellen Beziehungen als Vertreter des Managements durch dessen Position ausgeglichen werden. Das HRM verliert am ehesten die Chance, sich gegenüber dem (Top-)Management als strategischer Business Partner zu positionieren und somit seine Rolle in eine stärker strategisch bedeutsame zu wandeln. Deutlich wird für beide Akteursgruppen, dass das erzielte Ergebnis in einem Feld auch die Position im jeweils anderen Feld beeinflusst. Den bisherigen Überlegungen ist gemeinsam, dass HRM und Betriebsräte als Akteure gedacht werden, die zueinander in Konkurrenz stehen. Dies ist mit Blick auf den Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit, in dem das HRM als Vertreter des Managements agiert, auch naheliegend. Gleichzeitig ist die Frage, ob ein Zusammenarbeiten in bestimmten Bereichen nicht dennoch für beide strategisch sinnvoll sein könnte. Aus mikropolitischer Sicht können beide das neu entstehende strategic action field für sich nutzen, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen. Hier stellt sich die Frage, ob HRM und Betriebsräte nicht themenbezogen durchaus Verbündete sein können. Da beide vor großen Herausforderungen stehen, um die Begleiterscheinungen der Entwicklungen unter dem Leitbild Industrie 4.0 zu meistern, lohnt es zu ergründen, in welchen Bereichen eine Zusammenarbeit Synergieeffekte für beide ergeben kann. Die Digitalisierung von Personalprozessen mit dem Ziel, eine einfachere und schnellere Abstimmung zwischen beiden zu ermöglichen, wäre ein Beispiel, von dem beide Seiten profitieren. Das Feld der betrieblichen industriellen Beziehungen würde dann auf einem gewandelten Niveau, aber in der gleichen Machtrelation fortbestehen. Aber die entstehenden Freiräume und Ressourcen lassen sich von beiden nutzen, um sie im Feld der organisationalen Digitalisierung in ihre jeweils anstehenden strategischen Aufgaben stecken zu können. 6
Resümee
In diesem Beitrag wurde versucht, das bestehende Verhältnis zwischen Personalmanagement und betrieblicher Mitbestimmung zu skizzieren und zu beleuchten, in welcher Form sich dieses durch organisationale Digitalisierungsprozesse verändern könnte. Dabei ist aus wissenschaftlicher Sicht deutlich geworden, dass die Forschung zum HRM als Akteur betrieblicher Interessenvertretung noch Lücken aufweist, und die zu erwartenden Veränderungen im Zuge der Digitalisierung sich noch nicht empirisch nachzeichnen lassen. Folglich brauchen wir in diesen beiden Bereichen weitere Forschung, um ein umfassendes Bild betrieblicher industrieller Beziehungen unter den Vorzeichen technologischen Wandels zeichnen zu können. Die in diesem Beitrag eher grob und generalisierend ge-
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Kerstin Rego
zeichneten Entwicklungslinien könnten durch entsprechende Typologien von Betriebsrats-HRM-Machtverhältnissen, in Kombination mit dem jeweiligen Umgang mit technologischer Veränderung, deutlich verfeinert werden. Für die Praxis bedeutet die aktuelle Offenheit in der Integration technologischer Möglichkeiten in Unternehmen aus meiner Sicht eine Chance, da die organisationale Ein- und Umsetzung digitaler Technologien und dazugehöriger organisationaler Prozesse unterhalb der Wirkmacht des Leitbildes Industrie 4.0 unterbestimmt bleibt. Somit liegt hier eine große Chance, gestaltend in organisationale Prozesse einzugreifen. Zwar scheint die Rolle des HRM als Anwalt der Mitarbeiter eher auf dem Rückzug, aber dennoch haben Betriebsräte und HRM gemeinsam, dass sie Experten für die Belange der Mitarbeitenden sind – wenn auch ggf. mit unterschiedlichen Vorzeichen. Somit plädiere ich abschließend, ganz im mikropolitisch-strategischen Sinne, für einen offenen Blick darauf, wer themenbezogene Verbündete sind, sowie für Mut zum strategischen Handeln. Literatur Alt, R. 2001. Mikropolitik. In: Weik, E. und Lang, R. (Hrsg.). Moderne Organisationstheorien. Wiesbaden: Gabler, 285-318. Bissola, R. und Imperatori, B. 2019. HRM 4.0: The digital transformation of the HR department. In: Cantoni, F. und Mangia, G. (Hrsg.). Human Resource Management and Digitalization. New York: Routledge, 51-69. Crozier, M. und Friedberg, E. 1979. Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handels. Königstein/Ts: Athenäum. Dilger, A. 2002. Ökonomik betrieblicher Mitbestimmung. Die wirtschaftlichen Folgen von Betriebsräten. München, Mering: Hampp. Fabbri, T. und Scapolan, A. C. 2019. Digitalization and HR Analytics: a Big Game for an HR Manager. In: Cantoni, F. und Mangia, G. (Hrsg.). Human Resource Management and Digitalization. New York: Routledge, 243-254. Faust, M. und Kädtler, J. 2018. Die Finanzialisierung von Unternehmen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 70 (Suppl. 1), 167-194. Fligstein, N. 2013. Understanding stability and change in fields. Research in Organizational Behavior, 33, 39-51. Gerpott, F. H.. 2015. The right strategy? Examining the business partner model’s functionality for resolving Human Resource Management tensions and discussing alternative directions. Zeitschrift für Personalforschung, 29(3-4), 214-234. Haipeter, Th. 2018. Digitalisierung, Mitbestimmung und Beteiligung – auf dem Weg zur Mitbestimmung 4.0?. In: Hirsch-Kreinsen, H., Ittermann, P. und Niehaus, J. (Hrsg.). Digitalisierung industrieller Arbeit. Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen. Baden-Baden: edition sigma/ Nomos. (2., akt. u. erw. Aufl.), 303-321. Kuhlmann, M., Rüb, St. und Winter, S. 2019. Konflikte um Mitbestimmung und Überwachung im digitalen Umbruch. Mitteilungen aus dem SOFI, 13(30), 6-9. Lang, R. und Rego, K. 2015. German Human Resource Management professionals under tensions: A Bourdieusian approach. Zeitschrift für Personalforschung, 29(3-4), 259-279.
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Wie Betriebsräte und Arbeitgeber sich besser zuhören und die betriebliche Mitbestimmung aktiver gestalten können Marco Holzapfel Abstract Das demokratische Grundprinzip des Betriebsrates, unterschiedliche Interessen und der Wunsch nach Partizipation und Mitbestimmung führen immer wieder zu Konflikten und konfrontativen Diskussionen zwischen Arbeitgebern und Betriebsräten.1 Die in § 2 Betriebsverfassunggesetz (BetrVG) gebotene vertrauensvolle Zusammenarbeit wird häufig nur stumpf gegenseitig eingefordert, aber nicht gelebt. Die betriebliche Mitbestimmung muss jedoch nicht konflikreich sein – oder gar vor der betrieblichen Einigungsstelle als letzter juristischer Instanz enden. Unternehmen mit Betriebsräten sind angehalten, angesichts zunehmender Veränderung in der Arbeitswelt, Konfliktlösungen außerhalb der betrieblichen Einigungsstelle zu finden – um Zeit, Aufwand und Kosten zu sparen sowie insgesamt eine verbesserte Lösungsfindung bei Meinungsverschiedenheiten oder gar deren Vermeidung innerhalb der Mitbestimmungsprozesse zu erzielen. Ein vielversprechendes Mittel zur Etablierung kooperativer Lösungsprozesse ist nicht etwa die Anpassung von Mitbestimmungsrechten (Makroebene), sondern die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Betriebsräten selbst. Dieser Praxisbeitrag zeigt anhand anonymisierter Praxisbeispiele, dass Lösungsansätze auf Mikroebene (Betriebs- und Unternehmensebene) zu finden sind – angefangen beim Vertrauensaufbau. Eine aktive und strukturierte Kommunikation schafft Vertrauen und Akzeptanz unter den Beteiligten. Als Folge treten Konflikte und nicht intern lösbare Konfrontationen weniger häufig auf. Prozesse des Meinungsaustausches zwischen Betriebsräten und Arbeitgebern können qualitativ verbessert und das Vorgehen beschleunigt werden. Wie dies gelingt, verdeutlicht das Zusammenarbeitsmodell „Vertrauen, Verstehen und Vereinbaren“. Das Zusammenarbeitsmodell dient Betriebsräten und Arbeitgebern als Hilfestellung, ihre Zusammenarbeit kooperativer und damit effektiver zu gestalten sowie eigenständig Wege aus Meinungskonflikten herauszufinden. 1
Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_6
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Marco Holzapfel
Arbeitswelt zwischen Selbstbestimmung und Mitbestimmung
Vor dem Hintergrund sich wandelnder Gesellschafts- und Arbeitswelten – Digitalisierung, internationaler Wettbewerb – braucht es ein Umdenken in der betrieblichen Mitbestimmung und Zusammenarbeit. 1.1
Digitalisierung ist Schlüsselfaktor für agile Arbeitswelt
Die heutige Gesellschaft und Arbeitswelt sind längst nicht mehr so homogen, wie sie in den 1970er oder 1980er Jahren noch waren. Heute sind Aspekte wie Selbstbestimmung und flexible Arbeitsstrukturen von großer Bedeutung. Ein maßgeblicher Treiber für diese Entwicklung war und ist die Digitalisierung. Zum einen fördern stetig verfügbare digitale Informationsquellen und soziale Netzwerke einen offeneren Meinungsaustausch und den generellen Wunsch nach Partizipation innerhalb der Gesellschaft (Skutta und Steinke 2018, S. 58). Das persönliche Interesse an mehr Selbstbestimmung überträgt sich zunehmend auf die Arbeitswelt und forciert neue, flexible Arbeitskonzepte wie New Work mit einfachen Entscheidungsprozessen und einer modernen Führungskultur (Hack et al. 2017, S. 40). Zum anderen führen globale Trends wie digitale Mobilität, Big Data und künstliche Intelligenz zu einer Veränderung von Geschäftsmodellen, die ganz neue Anforderungen an die betriebliche Mitbestimmung stellen (Müller-Jensch 2019, S. 29). Gleichzeitig steigt der Grad an Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (Dahm 2019, S. 303 ff). Das bringt viele Chancen mit sich, aber insbesondere im Kontext der betrieblichen Mitbestimmung auch ein hohes Maß an Unsicherheit und Skepsis. Die Digitalisierung und die sich daraus ergebenden Herausforderungen für Unternehmen – etwa Innovations- und Kostendruck, Wettbewerbsfähigkeit und eine kundenorientierte Wertschöpfung – fördern und fordern ein Umdenken in Betriebsräten, Personalabteilungen und Geschäftsführungen: hin zu mehr Agilität, einer aktiven betrieblichen Mitgestaltung und einer gelebten Kooperation zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. In einer dynamischen Gesellschaft und sich verändernden Arbeitswelt sind die Betriebsparteien in der Verantwortung, gemeinsam die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens sicherzustellen und interne Innovations- und Veränderungspotenziale ausgewogen zu nutzen. 1.2
Positionen prägen die betriebliche Mitbestimmung und Zusammenarbeit
Die betriebliche Zusammenarbeit ist geprägt von Positionen: Positionen der Beschäftigten, der Betriebsratsmitglieder und der Arbeitgebervertreter (Fäßler
Die betriebliche Mitbestimmung gemeinsam gestalten
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1970, S. 24). In der Praxis werden dabei die einzelnen Interessen hinter den Positionen häufig nicht oder nicht eindeutig kommuniziert und hinterfragt. Vielmehr finden endlose Diskussionen und Argumentationen für oder gegen eine Position statt – anstatt das eingesetzte Engagement aufzuwenden, um die zugrundeliegenden Interessen besser zu verstehen. Zudem herrscht teilweise ein großes Misstrauen unter den Beteiligten, ob die kommunizierten Standpunkte auch den tatsächlichen Interessen des Gegenübers entsprechen. Dieses Beziehungs- und Interessengeflecht wird wiederum vom BetrVG, von den Gesetzen des Arbeitsrechtes und den individuellen arbeitsrechtlichen Verträgen umrahmt. Das Konfliktpotenzial ist insgesamt hoch, nicht zuletzt, weil sich die verschiedenen Positionen und Ziele auf den ersten Blick häufig gegenüberstehen und der Umgang mit betrieblicher Mitbestimmung oft von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen geprägt ist. So lässt sich vermeintlich der Wunsch des Arbeitgebers nach einem zügigen Vorgehen nicht mit den formellen Verpflichtungen vereinbaren, die Betriebsratsmitglieder erfüllen müssen. Auch das Interesse an einer flexiblen Umsetzung kollidiert vermeintlich zwangsläufig mit einer sicherheitsorientierten (Zurück-)Haltung des Betriebsrates. Beide Aspekte – Flexibilität und Sicherheit – lassen sich jedoch gleichermaßen umsetzen. 2
These: Durch Zuhören und Verstehen werden Mitbestimmungsprozesse gefördert
Definieren Betriebsrat und Arbeitgeber die drei Dimensionen Vertrauen, Verstehen und Vereinbaren gemeinsam und individuell, gelingt eine moderne, kooperative Zusammenarbeit. Die Digitalisierung, neue Geschäftsmodelle und agile Arbeitskonzepte fördern Unsicherheiten in der Planung und Umsetzung von betrieblichen Vorhaben. Der Versuch, diese Unsicherheiten durch umfangreiche Regelungen und Detailregulierungen zu vermeiden, oder gar der Versuch des Arbeitgebers, Beteiligungsrechte zu umschiffen, verkompliziert und verlangsamt jedoch die Vorhaben in der Konsequenz. Für schnellere, effektivere Mitbestimmungsprozesse muss jedoch nicht zwingend die Metaebene, das BetrVG, geändert werden. Ein lösungsorientiertes Vorgehen beginnt bereits auf der Mikroebene in einer Neuausrichtung der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Gemeinsam individuell erarbeitete Vorgehensweisen sind die Grundlage für eine effektive Zusammenarbeit und strukturierte Kommunikation. Die Betriebsparteien müssen dabei in gleichem Maße dazu beitragen, dass betriebliche Mitbestimmung auf Augenhöhe gelebt wird. Ähnlich wie in vielen anderen Bereichen des Unternehmensalltags – zum Beispiel bei der Projektplanung oder Strategieent-
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wicklung – braucht es auch in der Zusammenarbeit von Arbeitgeber und Betriebsrat klar strukturierte Briefings und Meetings, um ein gemeinsames Verständnis für Interessen, Positionen, Ziele und Werte zu entwickeln. Das bildet die Grundlage für konstruktive Diskussionen. Für die betriebliche Mitbestimmung bedeutet das: Bereits auf der Grundlage des derzeitigen rechtlichen Rahmens kann ein wertschöpfendes Mitbestimmungsverfahren für beide Betriebsparteien ohne Qualitätsverlust im Vorgehen etabliert werden. Eine moderne Zusammenarbeit ermöglicht insbesondere die Umsetzung von komplexen, digitalen Projekten, deren Inhalte und Details in der Regel nicht von Anfang an verfügbar sind. Dabei haben Praxiserfahrungen gezeigt: Es ist möglich, faire und kooperative Lösungen außerhalb der betrieblichen Einigungsstelle, als juristisch letztmögliche Eskalationsstufe, zu entwickeln. Für Form und Inhalt eines solchen Zusammenarbeitsmodells gibt es jedoch keine gesetzlichen Regelungen. Es ist Aufgabe der Betriebsparteien, ihre eigenen Regelungen zu definieren und die drei Dimensionen des Zusammenarbeitsmodells Vertrauen, Verstehen und Vereinbaren selbst zu definieren und zu leben. Arbeitgeber und Betriebsräte müssen hierzu vielmals zunächst ihr aktuelles Rollenverständnis überdenken und in Mitbestimmungsprozessen engagiert und aktiv mitgestalten. Abbildung 1 veranschaulicht das Zusammenarbeitsmodell.
Abbildung 1:
Drei Perspektiven des Zusammenarbeitsmodells
Die betriebliche Mitbestimmung gemeinsam gestalten
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Praxisbeispiele zur betrieblichen Zusammenarbeit
Die drei anonymisierten Praxisbeispiele aus den Bereichen allgemeine Zusammenarbeit, Digitalisierung und agiles Arbeiten verdeutlichen, wie Arbeitgeber und Betriebsräte auf Basis des modernen Zusammenarbeitsmodells Vertrauen, Verstehen, Vereinbaren (vgl. Abb. 1) kooperativ zusammenarbeiten können und dies als Orientierung für künftige Mitbestimmungsprozesse weiterentwickeln. 3.1
Vertrauen
Das Praxisbeispiel „Neubesetzung des Managements“ verdeutlicht, dass Vertrauen als wichtige Grundlage in der allgemeinen Zusammenarbeit aktiv aufgebaut werden muss. 3.1.1
Praxisbeispiel: Neubesetzung des Managements
Seit wenigen Wochen ist Herr Albers im Management eines mittelständischen Dienstleistungsunternehmens tätig. Er hat die ersten Arbeitstage genutzt, um sich mit dem Betriebsablauf, seinen Tätigkeiten und direkten Kollegen vertraut zu machen. Zu Beginn der zweiten Arbeitswoche erreicht ihn eine E-Mail: Der Betriebsrat bittet ihn um ein persönliches Kennenlernen zur Klärung der zukünftigen Zusammenarbeit. Weil er sich in den nächsten Tagen aber noch intensiv einarbeiten möchte, sagt er dem Betriebsrat aus Zeitgründen ab und vertröstet ihn auf die nächsten Wochen. Außerdem sei ein Treffen, so erklärt Herr Albers weiter in seiner Antwort, gar nicht so dringlich. Er sei seit über fünfzehn Jahren im Management tätig und kenne das Prozedere mit dem Betriebsrat. 3.1.2
Lösungsansatz: Gemeinsame Werte leben
Herr Albers hat einen entscheidenden Fehler gemacht, der sich negativ auf die künftige Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat ausgewirkt hat: Er sah den Betriebsrat nicht als gleichwertigen Partner für die Umsetzung betriebs- und mitarbeiterrelevanter Themen. Er investierte weder Zeit noch persönliches Engagement in die künftige Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat und vertraute darauf, dass diese harmonisch und erfolgreich sein würde. Für Herrn Albers war die vertrauensvolle Zusammenarbeit im Sinne von § 2 BetrVG ein gegebener Umstand.
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3.1.3
Marco Holzapfel
Vertrauen aufbauen und Werte auf der Mikroebene definieren
Ähnlich wie bei einem ersten Date müssen die Beteiligten ganz sensibel herausfinden, welche Werte dem Anderen wichtig sind. So empfiehlt es sich auch in puncto Vertrauen und Kooperation im Kontext der betrieblichen Mitbestimmung vorzugehen. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Betriebsparteien einzufordern und zu erzwingen, funktioniert ebenso wenig wie eine erfüllte Partnerschaft auf Knopfdruck. Eine kooperative Zusammenarbeit ist das Ergebnis von Zeit, persönlichem Engagement und einer intensiven Auseinandersetzung mit den jeweiligen Vorstellungen und Werten. Es ist keine Selbstverständlichkeit. Wie Lencioni (2014, S. 157) beschrieb, ist „Vertrauen […] die Grundlage“ für eine erfolgreiche Zusammenarbeit – wie im Zusammenarbeitsmodell Vertrauen, Verstehen, Vereinbaren (vgl. Abb. 1, Punkt 1 „Vertrauen“). Vertrauen lässt sich durch die Konkretisierung und Einhaltung von gemeinsam definierten Werten aufbauen. Lencioni nennt sinngemäß die folgenden Werte als elementar für den Erfolg der Zusammenarbeit – beziehungsweise Dysfunktionen für den Nichterfolg: Verlässlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Verständlichkeit und Verbindlichkeit (ebd., S. 157 ff). Ähnlich wie in einer zwischenmenschlichen Beziehung brauchen die Partner ein gemeinsames Werteverständnis, um sich zu vertrauen und darauf aufbauend miteinander bestmögliche Lösungen für die Mitarbeiter erarbeiten zu können. – Für Verlässlichkeit sorgen die Betriebsparteien, wenn sich alle Beteiligten an Gesagtes und Vereinbartes halten. Verlässlichkeit ist eine wichtige Eigenschaft im persönlichen Miteinander, die von Ehrlichkeit, Stabilität und Loyalität zeugt und diese gleichzeitig fördert. Je ehrlicher ein Mensch ist, umso vertrauenswürdiger ist er – und umso eher ist man selber bereit, transparent und offen zu sein. – Es ist wichtig, dass sich alle Beteiligten ihrer Verantwortung bewusst sind, dass ihre Aussagen, Handlungen und Vereinbarungen für Mitglieder des Betriebsrates, den Arbeitgeber und nicht zuletzt für die Mitarbeiter des Betriebes Auswirkungen haben. Dabei tragen die Betriebsparteien nicht nur die Verantwortung, bestmögliche Entscheidungen zu treffen, sondern diese auch möglichst effizient und zielgerichtet – und damit mitarbeiterfokussiert – umzusetzen. Das Durchsetzen persönlicher Interessen oder zwischenmenschliche Konflikte sind in Mitbestimmungsprozessen unangemessen, dennoch führen sie immer wieder zu Problemen. Ein entscheidender Grund dafür ist eine oftmals unklare, missverständliche Kommunikation. Umso wichtiger ist es, dass Anliegen und Themen klar und deutlich vorgetragen werden.
Die betriebliche Mitbestimmung gemeinsam gestalten
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– Verständlichkeit bedeutet, Standpunkte offen und mit einfachen Worten zu verdeutlichen und jederzeit sicherzustellen, ob das Gesagte auch richtig verstanden wurde. So reduziert man Unklarheiten und fördert eine offene Fragekultur, die im Sinne einer betrieblichen Mitgestaltung wichtig ist, neue Perspektiven eröffnet und effektive Lösungswege ermöglicht. Werden Verabredungen immer wieder abgesagt und man wird von seinem Date versetzt, ist es verständlich, dass man nur schwer Vertrauen in einer Beziehung aufbauen kann. – Verbindlichkeit ist auch in der Betriebspraxis eine wichtige Voraussetzung für einen fairen Umgang miteinander. Sie impliziert nicht nur, dass man sich um einen zügigen Verlauf der Vereinbarungen bemüht, sondern auch verlässlich darin ist, Termine einzuhalten, Informationen nachzureichen oder Fragen zu klären. Eine klare Handlungsempfehlung ist: Die Betriebsparteien sollten sich bewusst Zeit nehmen, um die genannten oder ergänzende Werte für ihre Zusammenarbeit zu definieren. Arbeitgeber und Betriebsrat sollten schriftlich festhalten, wie sie sich einen kooperativen Umgang für die Zukunft wünschen und sich – am besten das gesamte Jahr über – nach diesen Werten verhalten. 3.2
Verstehen
Sich gemeinsam mit dem „Warum“ eines mitbestimmungspflichtigen Vorhabens zu befassen – und nachfolgend die Fragen „Wie“ und „Was“ zu beantworten –, sorgt für ein gemeinsames Verständnis, wie in diesem Praxisbeispiel näher erläutert wird. 3.2.1
Praxisbeispiel: Neue Personalentwicklungssoftware
Vor 20 Monaten wurde Frau Keller aus dem Personalmanagement mit der Einführung einer E-Learning-Software für ihren Arbeitgeber, einen Industriekonzern, beauftragt und sie machte sich schnell an die Umsetzung, um den zeitlichen Vorgaben des Mutterkonzerns gerecht zu werden. Mit Hilfe einer kleinen Projektgruppe sammelte sie die verschiedenen Anforderungen an Funktionen und Leistungsumfang der Software. Steigender Termindruck von der Geschäftsführung und persönlicher Erfolgsdruck des Projektteams führten dazu, dass man über einige Unklarheiten in der praktischen Anwendung der Software zunächst hinweg sah, um diese zu einem späteren Zeitpunkt – nach erfolgter Softwareeinführung – final zu klären. Nachdem Frau Keller andere Herausforderungen, wie die über dem Budget liegenden Lizenzkosten für die Software oder die technische Einbindung der Schnittstellen mit der IT-Abteilung gelöst hatte, stellte sie
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Marco Holzapfel
die Software dem Betriebsrat vor. Dieser lehnte die Einführung der Software zunächst ab, da er nicht nachvollziehen konnte, weshalb die E-Learning-Software eingeführt werden soll und auf Rückfragen zur praktischen Umsetzung lediglich allgemeine oder vertröstende Antworten bekam. 3.2.2
Lösungsansatz: Gemeinsames Verständnis aufbauen
Frau Keller präsentierte dem Betriebsrat mit der Software für E-Learning-Kurse eine Lösung, für deren Einführung das Gremium keinen Grund sah. Frau Keller erläuterte das Vorhaben ausgehend vom ausgewählten Softwareprodukt. Im genannten Praxisbeispiel waren die Ziele zwar grundsätzlich nachvollziehbar, wurden aber erst im Laufe der Verhandlungen deutlich: Die Verfahrensweise – beginnend mit der Vorstellung der technischen Lösung (Software) über das Konzept des E-Learnings bis zum eigentlichen Ziel (flexiblere Bildungsmöglichkeiten) – kann als Outside-In-Vorgehen beschrieben werden. Arbeitgebervertretern wie Frau Keller ist in der Praxis eine andere Vorgehensweise zu empfehlen. Wer sein Vorhaben von innen nach außen präsentiert, schafft direkt zu Beginn Verständnis für die eigentliche Zielsetzung und die essentiellen Interessen, die mit dem Vorhaben verfolgt werden (vgl. Abb. 1, Punkt 2 „Verstehen“). Einfacher und effizienter wäre es für Frau Keller gewesen, hätte sie zunächst ihr „Warum“ kommuniziert – mit welcher Motivation Mitarbeiter flexibler, praxisorientierter ihre Kompetenzen weiterentwickeln sollen. Nach dem Prinzip Inside out – erst das „Warum (Motivation, Ziel), dann das Wie (Prozess, Konzept) und anschließend das Was (Produkt, z. B. Software) – wäre das Vorhaben nachvollziehbarer für den Betriebsrat gewesen. Wären diese wichtigen Punkte transparent und von Anfang an bekannt gewesen, wäre die Einführung einer E-LearningSoftware die logische Schlussfolgerung für das Ziel der flexiblen Weiterbildung – und nicht, wie im Fall von Frau Keller, eine konfliktreiche Diskussion. 3.2.3
Verstehen lernen
Damit Diskussionen und Argumentationen in der betrieblichen Mitbestimmung zu fairen Lösungen führen, braucht es eine Akzeptanz der gegenseitigen Ziele, Positionen und Interessen. Ähnlich wie bei einem ersten Date gilt es herauszufinden, was dem anderen wichtig ist, worauf er Wert legt. Dabei ist es Aufgabe aller Beteiligten, zuzuhören und offen zu kommunizieren, um Misstrauen und Unverständlichkeit zu vermeiden. Ein vielversprechendes Werkzeug, das Verstehen gemeinsam zu lernen, sind Tandemschulungen – gemeinsame Schulungen von Betriebsrat und Arbeitgeber. Eine Tandemschulung schafft eine gemeinsame Grundlage, auf der die unterschiedlichen Positionen und Interessen diskutiert werden können. Eine Tandem-
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schulung ermöglicht es Betriebsrat und Arbeitgeber, die gleiche Sprache zu sprechen, die gleiche Einordnung des BetrVG zu erlangen und damit zielgerichteter einen gemeinsamen Konsens zur Sache zu finden. Das bietet mehr Zeit und Raum für inhaltliche Lösungen während der Gespräche. Ein derartig kooperatives Format bietet den Betriebsparteien auch die Möglichkeit, auf einen gemeinsamen Sachverständigen zuzugreifen, um zum Beispiel inhaltliche Aspekte von Spezialthemen, wie Datenschutz oder IT-Systeme, zu klären. Nach einer Tandemschulung ist nicht nur das Verständnis zu rechtlichen oder inhaltlichen Sachverhalten bei den Betriebsparteien einheitlich vorhanden. Gleichfalls ist die zwischenmenschliche Ebene gestärkt, was insgesamt dazu führt, dass Gespräche und der Lösungsfindungsprozess zielgerichteter und effizienter verlaufen. Tandemschulungen schaffen formal die gleichen Rahmenbedingungen, unter denen dann jede Betriebspartei ihre individuellen Interessen und Positionen konstruktiv diskutieren kann. Das Prinzip von Tandemschulungen lässt sich erweitern – beispielsweise in Form von moderierten Workshops. Bei einem intensiven Workshop wird die Theorie der Tandemschulung an konkreten Beispielen aus dem eigenen Betrieb angewandt. Interessen werden konstruktiv ausgetauscht und gemeinsame Lösungsansätze erarbeitet. In einem vertraulichen Umfeld werden bestehende Missverständnisse und Konflikte aufgearbeitet. Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter lernen ganz praktisch, wie sie kooperativ effiziente Lösungswege erarbeiten können. Gleichzeitig erleben die Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter wie moderne Zusammenarbeit gelebt werden kann. Unter der Prämisse Verstehen müssen die Betriebsparteien nicht nur lernen, Verständnis füreinander zu entwickeln und zu leben. Auch gilt es, den eigentlichen Fokus betrieblicher Mitbestimmungsprozesse zu verstehen: die Interessen der Mitarbeiter. Viel zu oft herrscht Uneinigkeit darüber, wer die Mitarbeiterinteressen am besten kennt. Der Arbeitgeber? Oder doch die Mitglieder des Betriebsrates? Verständlich, dass bei unterschiedlichen Perspektiven viel zu oft Konflikte entstehen. Hinzu kommt, dass Mitarbeiter oftmals keine homogene Gruppe darstellen, sondern in verschiedene Interessensgruppen unterteilt werden müssten. Das von Alan Cooper ursprünglich für die Softwareentwicklung formulierte Modell Personas (Cooper 1999, S. 166) lässt sich auf die betriebliche Mitbestimmung übertragen, um die Mitarbeiterinteressen und unterschiedlichen Interessengruppen im wahrsten Sinne des Wortes stets im Blick zu haben. Bei dem Modell werden fiktive Personen entwickelt, die ganz reale Mitarbeitergruppen repräsentieren. Die Verbildlichung von Mitarbeitergruppen, ihren Verhaltensweisen und Interessen wirkt sich nur dann effektiv auf den Mitbestimmungspro-
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Marco Holzapfel
zess aus, wenn Betriebsrat und Arbeitgeber die Personas gemeinsam entwickeln und gemeinsam als Grundlage für Gespräche und Entscheidungen betrachten. 3.3
Vereinbaren
Wenn ein konkretes Zielbild fehlt, ist eine agile Betriebsvereinbarung eine sinnvolle Lösung, um gemeinsam das weitere Vorgehen, die Informationsvergabe und Mitbestimmungsrechte zu definieren – und somit vor allem Projekte aus dem Bereich Digitalisierung effizient umzusetzen. 3.3.1
Praxisbeispiel: Softwareeinführung mit Prozessveränderung und agilem Arbeiten
Anpassungen am Customer-Relationship-Management-System (CRM-Software), Verbesserungen im operativen Ablauf und moderne IP-Telefonie: Diese Maßnahmen sollten für die grundsätzliche Entwicklung neuer, kundenorientierter Workflows für die Mitarbeiter im Kundenservice eines deutschen Handelsunternehmens dienen. Aber wie das Zielbild konkret aussehen sollte, konnte Herr Hoffmann, Bereichsleiter Kundenservice und Projekt-Verantwortlicher, nicht benennen. „Aus heutiger Sicht ist das alles noch sehr unklar“, erklärte er dem Gremium. Aber in jedem Fall zeichnete sich bereits jetzt eine starke Veränderung der internen Prozesse ab. Herr Hoffmanns Vorschlag war die Umsetzung des Projektes mit Hilfe eines agilen Projektmanagements. In seiner Vorstellung würde sich das Projektteam den einzelnen Konkretisierungsgraden nähern und dann jeweils als minimum viable product („minimal überlebensfähiges Produkt“) in der Praxis testen. Nach dem Grundverständnis des BetrVG und den Pflichten gegenüber den Mitarbeitern fragte sich das Gremium: Wann, wie und wo findet die frühzeitige und umfassende Information statt? Wie werden die Auswirkungen des Vorhabens hinsichtlich der einschlägigen Mitbestimmungsrechte im Vorfeld definiert? Wie könnte eine finale Betriebsvereinbarung vereinbart werden, ohne dass sie die finalen Anforderungen kennen? Der Wunsch von Herrn Hoffmann nach agilem Projektmanagement stand eindeutig im Widerspruch zum Grundverständnis des Betriebsrates. 3.3.2
Lösungsansatz: Laborzeiten und -räume vereinbaren
Der Betriebsrat versucht, mögliche Risiken für die Mitarbeiter zu reduzieren, und möchte daher im Vorfeld alle Fakten kennen und regeln. Agiles Projektmanagement hingegen versteht sich als dynamischer Prozess, der durch Entwicklung und Anpassung bestmögliche Ergebnisse erbringt. Auf den ersten Blick lassen
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sich diese gegensätzlichen Wünsch nicht vereinbaren, auf den zweiten Blick aber schon: Denn der gemeinsame Nenner der beiden Ziele ist die Partizipation. Betriebliche Mitbestimmung und agiles Projektmanagement bauen auf der aktiven Beteiligung der Mitglieder auf. Diese können ihr Wissen aus dem eigenen Fachbereich einbringen und als echte Stakeholder im Mitbestimmungsprozess wahrgenommen werden. Im Praxisbeispiel von Herrn Hoffmann hätten zwei Maßnahmen zum Erfolg geführt: Mit einer befristeten Betriebsvereinbarung, die den agilen Ansatz sowie den zeitlichen oder räumlichen Rahmen (Laborzeiten oder Laborräume) definiert, kann das Projektteam im Call Center in wenigen Monaten ein Minimum Viable Product entwickeln. Dieses kann in jeder neuen Testphase geprüft und angepasst werden. Die Betriebsvereinbarung wurde also nicht wie sonst üblich angewandt, um das Vorhaben final zu definieren, sondern den Weg dorthin. Zudem waren zwei Betriebsratsmitglieder aus dem Kundenservice Teil des Projektteams im Call Center, sodass sie aktiv am Mitbestimmungsprozess teilnehmen und ihr Wissen in die Gestaltung der neuen Workflows einbringen konnten. Das agile Projektmanagement brachte für Arbeitgeber und Betriebsrat den Vorteil, klare Erkenntnisse für die operativen Auswirkungen zu sammeln und daraus realistische Umsetzungsmöglichkeiten zu erarbeiten. In der Folge erkannten die Betriebsparteien, dass agiles Projektmanagement gelebte Partizipation im Mitbestimmungsprozess fördert und gleichzeitig als Türöffner dient, komplexe Themen und eine kooperative Zusammenarbeit zu realisieren. 3.3.3
Betriebliche Mitbestimmung 4.0 durch agile Herangehensweise
In der Praxis werden Betriebsvereinbarungen so detailliert wie möglich geschrieben, um alle Eventualitäten definiert zu haben – ähnlich wie Lastenhefte. Diese Vorgehensweise funktioniert meist gut, wenn das zu regelnde Vorhaben statisch ist und die künftig zu erwartenden inhaltlichen Änderungen gering sind. Das wäre etwa bei Grundsatzregelungen zum Urlaub, zur Betriebskantine oder zum Personaleinsatz möglich. Zudem sind Unternehmen in dem prozessualen Vorgehen der Lastenheft-Betriebsvereinbarungen geübt (vgl. Abb. 1, Punkt 3 „Vereinbaren“). Steigt die Komplexität der Themen – wie etwa bei Software-Lösungen, die fast monatlich vom Hersteller aktualisiert werden –, kommen die nach Lastenheft geschriebenen Betriebsvereinbarungen an ihre Grenzen. Das Dilemma, dass komplexe Themen wie eine Software aufgrund ihres dynamischen Funktionsumfangs nicht mit einem Lastenheft vordefiniert werden können, löst ein moderner Ansatz: die agile Mitbestimmung. Agile Mitbestimmung lässt sich dann erfolgreich in den Mitbestimmungsprozess integrieren, wenn beide Betriebsparteien – mit dem Ziel der effizienten
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Marco Holzapfel
Betriebsvereinbarung – kooperativ vorgehen und ihr Verständnis über die Erarbeitung sinnvoller Vereinbarungen neu ausrichten. Ein kooperatives Vorgehen beginnt nicht mit einer Mustervereinbarung, die der anderen Betriebspartei stumpf vorgelegt wird, oder mit einem nur sehr zaghaften Informationsfluss. Ein kooperatives Vorgehen zeichnet sich vielmehr durch eine klare Struktur aus, innerhalb derer sich die Betriebsparteien gemeinsam dem Vorhaben nähern. Wichtige Voraussetzungen für mehr Agilität in der Zusammenarbeit sind klar definierte Beteiligungsrechte, die zum Beispiel im Rahmen einer Tandemschulung für beide Betriebsparteien eingeordnet werden, sowie ein von Anfang an proaktiver und verständlicher Informationsfluss. Zudem müssen die Interessen, Zielsetzungen und das konzeptionelle Verständnis für das Vorhaben transparent sein. Das Verständnis über die Erarbeitung sinnvoller Vereinbarungen muss dahingehend überdacht werden, dass insbesondere moderne Software oder CloudApplikationen nach dem statischen Modell der Lastenheft-Betriebsvereinbarung schier unlösbare Aufgaben sind. Betriebsparteien müssen dahingehend umdenken, dass mit agilen Betriebsvereinbarungen künftig vermehrt der Kontext und Nutzwert des Themas definiert werden. Der Weg wird vereinbart, nicht das Ziel. Der Inhalt einer solchen Vereinbarung orientiert sich dann beispielsweise an folgenden Fragen: – Wie gestalten wir Regelungen, dass die Sicherheits- und Zugriffsberechtigungen jederzeit für Arbeitgeber und Betriebsrat transparent sind? – Wie gehen wir mit regelmäßigen Software-Updates um? – Zu welchem Zweck sollen bzw. dürfen die Mitarbeiter die Software nutzen? – Was sind die zu digitalisierenden Geschäftsprozesse und welche Ergebnisse werden dabei erzielt? Zwar verfolgen agile Betriebsvereinbarungen einen anderen Anspruch – den Kontext zu definieren –, aber darf man dies keineswegs damit verwechseln, dass Beteiligungsrechte und -pflichten im Sinne des BetrVG aufgehoben sind. Tatsächlich sind Vetorechte in einer agilen Betriebsvereinbarung sogar sehr wichtig. Mit diesen kann der Betriebsrat, entsprechend eines zuvor definierten Prozederes, bei unerwarteten Auffälligkeiten oder Auswirkungen jederzeit einwirken und im Sinne der Mitarbeiter handeln.
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Fazit und Ausblick: Kooperative Zusammenarbeit stärkt Wettbewerbsfähigkeit
Der Druck auf Unternehmen, Prozesse zu digitalisieren und die digitalen Fähigkeiten der Mitarbeiter zu stärken, steigt enorm. Gleichzeitig stellt es für die Unternehmen eine nennenswerte Herausforderung dar, die so wichtigen und zugleich kostspieligen Investitionen mit den Mitarbeiter-, Arbeitsschutz- und Mitbestimmungsrechten in Einklang zu bringen. Konflikte werden meist vorschnell und inflationär mit Hilfe der betrieblichen Einigungsstelle, folglich mit unabwendbarem Spruch, geklärt. Dabei ist der Gang zur betrieblichen Einigungsstelle nicht zwingend förderlich – weder für die inhaltliche Ausgestaltung von Vereinbarungen noch für die zwischenmenschliche Beziehung. Betriebliche Einigungsstellen sorgen nur situationsbedingt für Abhilfe, verbessern aber die Zusammenarbeit nicht insgesamt. Vor diesem Hintergrund sind die Betriebsparteien gut beraten, sich gleichermaßen mit den betrieblichen Vorhaben und der der Zusammenarbeit zugrundeliegenden Beziehung zu beschäftigen, dies konkret zu besprechen und davon abgeleitet Werte, Prinzipien und Normen zu vereinbaren. Das Zusammenarbeitsmodell Vertrauen, Verstehen und Vereinbaren kann hierzu – bestenfalls im Vorfeld betrieblicher Mitbestimmungsverfahren, aber auch währenddessen bzw. bei bereits vorliegendem Konflikt – das gemeinsame Verständnis zur kooperativen Zusammenarbeit fördern. Literatur Cooper, A. 1999. The Inmates are running the asylum. Indianapolis, Indiana: Sam Publishing. Dahm, M. H. 2019. Strategien und Transformationen im digitalen Zeitalter: Inspirationen für Management und Leadership. Wiesbaden: Springer Gabler Fäßler, K. 1970. Betriebliche Mitbestimmung: Verhaltenswissenschaftliche Projektionsmodelle. Wiesbaden: Th. Gabler. Hackl, B., Wagner, M., Attmer, L. und Baumann, D. 2017. New Work: Auf dem Weg zur neuen Arbeitswelt: Management-Impulse, Praxisbeispiele, Studien. Wiesbaden: Springer Gabler Lencioni, P. 2014. Die 5 Dysfunktionen eines Teams. Weinheim: Wiley VCH. Müller-Jentsch, W. 2019. Mitbestimmung: Arbeitnehmerrechte im Betrieb und Unternehmen. Wiesbaden: Springer VS. Skutta, S. und Steinke, J. 2018. Digitalisierung und Teilhabe: Mitmachen, mitdenken, mitgestalten! Baden-Baden: Nomos.
Mitbestimmung 4.0 – zur Weiterentwicklung der betrieblichen Sozialpartnerschaft Elke Eller und Katharina Schiederig Abstract Wir erleben mit der umfassenden Digitalisierung gerade die vierte industrielle Revolution – und sind in den Unternehmen gefordert, sie zu gestalten. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich die betriebliche Sozialpartnerschaft unter den Bedingungen der Digitalisierung weiterentwickelt und sich zur „Mitbestimmung 4.0“ wandelt. Er untersucht, wie digitales und agiles Arbeiten die betriebliche Sozialpartnerschaft verändert, gibt Anregungen für eine Modernisierung des Betriebsverfassungsgesetzes und stellt Beispiele für Betriebsvereinbarungen vor. Es zeigt sich: Die digitale Transformation bietet die Chance für den Schritt von einer eher formalisierten Mitbestimmung hin zu einer neuen Qualität der mitarbeiterorientierten1 Sozialpartnerschaft: ergänzt um neue Partizipationsformate für vielfältige Beschäftigtengruppen, angepasst an agile Arbeitsweisen, proaktiv in einer tech-affinen Vordenkerrolle, basierend auf wegweisenden Betriebsvereinbarungen und einem modernen Betriebsverfassungsgesetz. Damit dies gelingen kann, sind die Unternehmen gefordert, den Gremien flexiblere personelle und sachliche Mittel zur Verfügung zu stellen und die Betriebsräte in agile Arbeitsumgebungen nachhaltig einzubinden. Die Betriebsräte sind wiederum gefordert, sich in Bezug auf digitale Kompetenzen weiterzubilden. Angesichts der vielfältigen Herausforderungen ist davon auszugehen, dass sich die Diskussion um Mitbestimmung 4.0 politisch und in den Betrieben künftig intensiviert.
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Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_7
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Einführung
Das Thema Mitbestimmung 4.0 rangiert weit oben unter den „10 HR Trends 2019“, die der Bundesverband der Personalmanager veröffentlicht hat (vgl. BPM 2019a). Und das aus gutem Grund. Wir erleben mit der umfassenden Digitalisierung gerade die vierte industrielle Revolution – und sind in den Unternehmen gefordert, sie zu gestalten. Dem Personalmanagement kommt dabei eine entscheidende Rolle zu, im Dialog mit den Sozialpartnern. Wie sich die betriebliche Sozialpartnerschaft unter den Bedingungen der Industrie 4.0 verändert und wie sie weiterentwickelt werden muss, wird zunehmend unter dem Begriff Mitbestimmung 4.0 diskutiert. Die deutschen und europäischen mitbestimmungspflichtigen Unternehmen sind ein besonders spannendes Labor für eine neue Beteiligung der Mitarbeitenden: Schließlich gibt es in den Digitalunternehmen des Silicon Valley üblicherweise keine Betriebsräte. Wenn wir Antworten finden wollen, wie in der digitalen Transformation eine echte Partizipation möglich ist, lohnt sich ein Blick auf die aktuellen Entwicklungen der Unternehmensmitbestimmung. Dieser Beitrag soll daher der Frage nachgehen, wie sich die betriebliche Sozialpartnerschaft unter den Bedingungen der Digitalisierung weiterentwickelt und die Zusammenarbeit wandelt. Die These: In den deutschen mitbestimmungspflichtigen Unternehmen bietet die digitale Transformation die Chance für den Schritt von einer eher formalisierten Mitbestimmung hin zu neuen Partizipationsformaten, die die Mitbestimmung nicht nur flexibilisieren, sondern ihr auch eine neue Qualität für die proaktive Rolle der Sozialpartner ermöglichen. Um diese These zu unterstreichen, diskutiert der folgende Text, wie die digitale Transformation und agiles Arbeiten die betriebliche Sozialpartnerschaft verändert, stellt Beispiele für Betriebsvereinbarungen vor – u. a. das Zukunftspapier newWork@TUI –und schließt mit einem Ausblick zur Mitbestimmung 4.0 in agilen Umgebungen. 2
Was digitale Transformation für die Personalarbeit bedeutet
Die neue Arbeitswelt ist geprägt von neuen digitalen Werkzeugen, neuen digitalen Prozessen und neuen Berufsbildern, die viel grundlegender als bisher von digitalen Kompetenzen abhängen (vgl. zum Folgenden auch Eller 2018). So werden zum Beispiel beim Reisekonzern TUI die Ausflüge in den Zielgebieten immer stärker online durch personalisierte Empfehlungen an den Gast verkauft. Dies stellt neue Anforderungen an die Mitarbeitenden, die diese Umgebungen entwickeln, mit Content füllen, den Kunden erklären und in ihre Arbeitsabläufe
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einbinden sollen. An die Personalarbeit werden so auch neue Anforderungen gestellt, die Mitarbeitenden in diesem Change-Prozess zu begleiten und den Wandel mit digitalen Tools möglichst effizient zu unterstützen. Noch nie war die Möglichkeit zur Gestaltung der Schnittstelle MenschMaschine so groß wie heute. Big Data bietet große Chancen für eine noch stärker datenorientierte Personalarbeit. Unter der Maxime „Führen am Ort der Wertschöpfung“ hat eine transparente Optimierung der Prozesse seit langem auch die Verwaltungsbereiche erfasst (Shopfloor- bzw. Officefloor-Management) (vgl. Peters 2009). Wer jedoch unter Digitalisierung ausschließlich mehr Online-Tools oder neue Möglichkeiten der Datenauswertung versteht, unterschätzt die tiefgreifenden Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Es gibt einige weitere Trends, ohne die das Arbeitsumfeld von morgen nicht zu verstehen sein wird. Zunächst müssen sich Personalverantwortliche damit auseinandersetzen, dass sich das gesellschaftliche und wirtschaftliche Umfeld grundlegend verändert hat. Vereinfacht ausgedrückt: vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt. Oft können sich Fachkräfte aussuchen, welche Stelle sie annehmen. Es genügt meist nicht mehr, nur ein attraktives Package anzubieten, um gute Bewerber für ein Unternehmen zu gewinnen. Fragen der Kultur und der Kommunikation in Unternehmen gewinnen an Bedeutung für Bewerber. Ein weiterer Trend sind die veränderten Arbeitsvorstellungen junger Berufseinsteiger. Soziologisch betrachtet haben wir heute in den meisten Unternehmen fünf Generationen in Arbeit. Dazu gehören die Traditionalisten, die Baby Boomer, die Generation X, Y und Z. Auch vor der Digitalisierung arbeiteten verschiedene Generationen in einem Unternehmen zusammen. Und doch scheinen mit Blick auf die Bedeutung der Arbeit für die eigene Lebenszufriedenheit und auf die Gewichtung zwischen Karriere und Privatleben einige bisher unumstößliche Gewissheiten in den Unternehmen wie selbstverständlich hinterfragt zu werden. Anstatt um die Linienkarriere geht es vielen jungen Menschen zunehmend um Sinn und Selbstverwirklichung. Statt Führungskräfte wollen sie Coaches als Vorgesetzte. Nicht mehr der von oben herab mit harter Hand führende Dirigent, sondern die pfleglich mit ihrer Arbeitszeit umgehende Führungskraft, mit der sie direkt und auf Augenhöhe Kontakt aufnehmen können, ist der neue Idealtypus. Der Manager wird zum Coach, Unternehmensbereiche zur Community und die Organisation zum kollaborativen und fluiden Netzwerk. Für die jüngste Generation in unseren Unternehmen sind bereits heute die Unterschiede zwischen der eigenen Lebenswelt und der Berufswelt enorm. Sie spüren einen deutlichen Gap: Wie wir in Unternehmen organisiert sind, wie wir arbeiten, wie wir führen, welche digitalen Tools genutzt werden – all das scheint derzeit für die meisten unserer jüngeren Mitarbeitenden ein eigener Kosmos zu sein. Und es wird die Aufga-
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be der Personalmanager sein, diese unterschiedlichen digitalen Erfahrungswelten zwischen Berufs- und Privatleben zu überwinden. Der Zeitpunkt dafür könnte nicht besser sein. Das Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung und Mobilität bei den Mitarbeitenden ist zweifelsohne vorhanden. Gleichzeitig bietet die Digitalisierung Unternehmen völlig neue Möglichkeiten, auf diesen Bedarf mit smarten Lösungen zu reagieren und die Arbeit anders und flexibler zu organisieren. Jedoch müssen die Mitarbeitenden natürlich vor Überlastung und Entgrenzung mit neuen Ansätzen des betrieblichen Gesundheitsmanagements geschützt werden. Unter dem Stichwort Auslastung in Eigenregie müssen die Beschäftigten befähigt werden, ihre Arbeitskraft vielfach flexibel und eigenverantwortlich für die Unternehmensziele einzusetzen und gleichzeitig Grenzen zu ziehen, um körperliche oder psychische Überlastung zu vermeiden. Dem zeitlichen, physischen, psychischen und finanziellen Überforderungsschutz kommt im Rahmen der Arbeitsgestaltung daher eine zentrale Bedeutung zu. Spannende Möglichkeiten bietet z. B. Software gekoppelt mit Sensoren, die die Arbeitsabläufe und Hebebewegungen von Beschäftigten analysiert, um ihnen und ihren Teams damit eine Datengrundlage zur eigenverantwortlichen Anpassung an die Hand zu geben. Hier ist eine neue Dynamik zu beobachten, von der Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen profitieren können. Hinzu kommt: Die Kollegen von morgen lernen heute schon anders. Die Lerngewohnheiten sind digital geworden. Lebenslanges Lernen muss ein Teil der Unternehmenskultur werden, um die notwendigen Fähigkeiten beständig zu aktualisieren. Die Sozialpartner stehen vor der Herausforderung, auch die Kompetenzen derjenigen Mitarbeitenden weiterzuentwickeln, die noch keine Digital Natives sind. Wie der BPM mit der Studie „Anforderungen der digitalen Arbeitswelt“ in Kooperation mit dem Institut der deutschen Wirtschaft Consult (IW Consult) zeigen konnte, bilden Fachwissen, IT-Wissen sowie soziale und personale Kompetenzen den neuen Bildungskanon für die digitale Arbeitswelt (vgl. Placke und Schleiermacher 2018). Im Bereich der Veränderungsbereitschaft und Flexibilität von Mitarbeitenden besteht in den Unternehmen der Befragten aktuell der größte Nachholbedarf. Lediglich 6,8 Prozent sehen diesen in ihrer derzeitigen Belegschaft „voll und ganz“ gedeckt. Bei 44,1 Prozent ist er „eher gedeckt“, auch dies ist der niedrigste Wert unter den abgefragten Kompetenzen. Dieser Befund ist besorgniserregend, weil Veränderungsbereitschaft und Flexibilität von den befragten HR-Managern bereits heute zu den wichtigsten Kompetenzen gezählt werden. Viel zu tun also für HR. Entsprechend lassen sich acht Handlungsfelder definieren, auf denen HR als Gestalter der digitalen Transformation im Unternehmen auftritt (vgl. TUI AG 2017). Diese sind:
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Veränderung der Tätigkeitsschwerpunkte, Flexibilität und Mobilität der Mitarbeitenden, Big Data als Chance für eine datenorientierte Personalarbeit, Arbeitsrecht als Gestalter einer neuen Arbeitswelt, Partizipation als Treiber, Führungskräfte als Coaches, lebenslanges Lernen als Teil der Unternehmenskultur, Gesundheit als Wertetreiber.
Die digitale Transformation verändert die Personalarbeit also grundlegend. Entsprechend wurde auch die Arbeitsorganisation in den vergangenen Jahren an die digitalen Erfordernisse und die veränderten Erwartungen der Mitarbeitenden angepasst. Diese Veränderungen können nicht ohne Einfluss auf die Partizipationswünsche bleiben. 3
Agiles Arbeiten und die Diskussion um agile Mitbestimmung
Schnellere und dezentralisierte Entscheidungen, mehr Transparenz, mehr Vertrauen, mobiles Arbeiten, veränderte Verantwortlichkeiten – das sind die Herausforderungen, vor denen jede Organisation in der digitalen Transformation steht (vgl. Boes et al. 2018). Eine agile Haltung bringt Arbeitsweisen und Methoden mit sich, die uns in diesem Markt erfolgreich agieren lassen. Agilität darf aber nicht nur ein Motto sein oder nur ein Methodenset. Agile Organisationen wird es nur geben, wenn es gelingt, ein neues Mindset bei den Führungskräften und Mitarbeitenden zu etablieren. Agilität braucht die passende Kultur und eine entsprechende Struktur im Unternehmen, um zu funktionieren (vgl. zum Folgenden Eller 2018). In der TUI Group gehört ein Teilbereich der IT zu den Ersten, die sich konsequent auf agile Arbeitsweisen ausgerichtet haben. Die zunehmende Digitalisierung des Geschäftsmodells eines Touristikkonzerns steigert die Komplexität und die gegenseitigen Abhängigkeiten von Prozessen innerhalb eines Unternehmens. Die IT-Bereiche sind hier besonders gefordert, weshalb es wenig überrascht, dass man dort vorweggeht. Die Mitarbeitenden haben sich dabei an das Manifesto for Agile Software Development angelehnt (Beck et al. 2001), das 2001 von 17 Software-Entwicklern in Utah formuliert wurde. Es legt die grundlegenden Werte dieser neuen Arbeitsweise fest. So wird darin unter anderem Individuen und Interaktionen Vorrang vor Prozessen und Werkzeugen eingeräumt. Und statt stoisch an einem Plan festzuhalten, wird dazu aufgerufen, sich auf Veränderungen einzulassen. Das Manifest lässt erahnen, welche Dimensionen das größte Handlungsfeld zukünftiger HR-Arbeit in agilen Organisationen sein werden: Haltung
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und Menschenbild. Um die Zusammenarbeit zu unterstützen und die Verzahnung einzelner Fachbereiche zu gewährleisten, wurde die IT in eine Matrixorganisation überführt, welche die Teams und Mitarbeitenden funktionsübergreifend verbindet. Ziel war es, bestehendes Abteilungs-Silo-Denken aufzubrechen, Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen anlassbezogen zusammenzuführen und so die Zusammenarbeit effizienter zu gestalten. Die aktuellen Marktentwicklungen und die Herausforderungen an schneller werdende Produktenwicklungszyklen erzeugen weiterhin Veränderungsdruck. Eine agile Arbeitsweise einzuführen heißt nicht, das Problem zu lösen, sondern ein Umfeld zu schaffen, in dem in Zukunft den Herausforderungen von Mitarbeitenden und Führungskräften optimal begegnet werden kann – ganz in dem Sinne Stop Starting, Start Finishing. Agiles Arbeiten heißt auch, kontinuierlich Feedback zuzulassen, den Mitarbeitenden Ownership über die Prozesse zu geben und Partizipationsmöglichkeiten generell zu öffnen. Dies hat natürlich Auswirkungen auf die Rolle der Mitbestimmung und des Betriebsrates. Unter dem Begriff agile Mitbestimmung werden aktuell drei Themen diskutiert: Welche Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates bei der Einführung agiler Arbeitsmethoden zu beachten sind, wie jeder einzelne Mitarbeitende stärker eingebunden werden kann, um die Erwartungen nach stärkerer Partizipation und Selbstbestimmung zu erfüllen, und wie die betriebliche Mitbestimmung selbst agiler werden kann (vgl. Bierod-Bähre 2019). Insbesondere die dritte Frage, wie mitbestimmungspflichtige Fragen in agilen Umgebungen entschieden werden können und die Mitbestimmung damit schneller und agiler werden kann, ist durchaus komplex. Ein Beispiel ist das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei Versetzungen. Wenn sich Projektteams immer wieder neu selbst zusammenfinden, auch virtuell, ist oft unklar, ob eine mitbestimmungspflichtige Versetzung vorliegt. Noch schwieriger ist es dann, eine schnelle Entscheidung des Betriebsrates herbeizuführen, die mit dem hohen Tempo im agilen Sprint auch Schritt hält. Dies bedeutet eine grundsätzliche Veränderung für die Arbeit der Betriebsräte und die Zusammenarbeit der Sozialpartner im Unternehmen. 4
Mitbestimmung wird in Zukunft anders gelebt: vom Lastenheft zur Vordenkerrolle
Die Mitbestimmung steht mit der Zunahme agiler Arbeitsweisen also vor der Herausforderung, dass die formalisierten Entscheidungswege und Gremien zu langen Abstimmungsprozessen führen. Die klassische Betriebsratsarbeit ist heute
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noch oft nach scheinbar klar trennbaren Kategorien in Ausschüssen – Bildung, IT etc. – organisiert. Dort findet die eigentliche Betriebsratsarbeit statt, hoch spezialisiert und konzentriert. Die Unternehmensrealität hat sich in den vergangenen Jahren allerdings in eine andere Richtung entwickelt: Grenzen (oder Bereichssilos) verschwinden, flexible Strukturen treten an ihre Stelle. Schnelle Entscheidungen werden benötigt, um die notwendige digitale Transformation voranzutreiben. Darüber hinaus wächst mit der Digitalisierung auch die Vielfalt im Unternehmen: Betriebsräte müssen unterschiedliche Gruppen von Beschäftigten mit divergierenden Interessen repräsentieren. Gerade die wachsende Gruppe der digitalen Wissensarbeitenden ist jedoch kaum gewerkschaftlich organisiert. So erstreckt sich die Reichweite der Mitbestimmung nur auf bestimmte Branchen und Berufsgruppen in mittleren und großen Unternehmen in bestimmten Ländern. In transnationalen Unternehmen erstreckt sich diese Reichweite nur auf einige Standorte. Gleichzeitig bietet die digitale Transformation jedoch auch große Chancen für die Mitbestimmung. Die Mitarbeitenden von heute wollen mehr Partizipation und selbstbestimmte Arbeit in agilen Projektteams. Hier bietet sich die Chance zu neuen Formen der Mitarbeiterbeteiligung. Vernetzung und Mitarbeiterbeteiligung sind über neue Medien wie Social Intranet, spezielle Mitarbeiter-Apps, Chat-Formate oder Pulse Surveys leichter umsetzbar. Betriebsvereinbarungen zu Themen wie mobilem Arbeiten, Arbeiten in der Matrixstruktur oder agilem Arbeiten sprechen explizit auch bisher nicht organisierte Mitarbeitende an und schaffen eine Grundlage für den Transformationsprozess im Unternehmen. In der Vergangenheit hatten die Betriebsräte eine eher reaktive Rolle, sie wurde häufig gegen Ende einer Projektentwicklung eingebunden. Moderne Labour Relations arbeiten heute hingegen an einer frühen, proaktiven Einbindung des Betriebsrates in anstehende Transformationsprojekte. Die Zukunft der Mitbestimmung wird von einer Zunahme agiler Arbeitsmethoden geprägt sein. Die klassische Gremienarbeit wird nicht mehr im Vordergrund stehen, neue Formen der Zusammenarbeit im Betriebsrat als auch zwischen Unternehmen und Arbeitnehmervertretern werden die Normalität. Diese Entwicklungen können die deutsche Mitbestimmung zu einem echten Treiber für die Etablierung mitarbeiterorientierter Arbeitsprozesse in der digitalen Welt machen. Für die Betriebsratsgremien besteht bei diesem Wandel die Chance, nicht nur reaktiv, sondern als initiierende Akteure die Einführung und Umsetzung agiler Arbeitsmethoden aktiv von Beginn an mitzugestalten. Gemeinsam können die Sozialpartner dann eine echte Vordenkerrolle ausfüllen, in der durch eine kunden- und mitarbeiterorientierte Denkweise Ansätze entwickelt werden, die die Belange des Betriebes und die Wünsche der Beschäftigten zukunftsorientiert zusammen denken.
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Abbildung 1:
Vom Lastenheft zur Vordenkerrolle (Quelle: TUI AG 2017, S. 22)
Damit die Betriebsräte diese anspruchsvollen neuen Rollen ausfüllen können, bedarf es entsprechender Weiterbildung und Qualifizierung. Wichtig sind z. B. Qualifizierungen in agilen Arbeitsmethoden, aber auch technisches und ethisches Hintergrundwissen zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Personalarbeit. Hier sind die Gewerkschaften, aber auch die Unternehmen gefragt, Angebote für die Betriebsräte und Mitarbeitenden aufzusetzen. Die Unternehmen sind gefordert, den Gremien flexiblere personelle und sachliche Mittel zur Verfügung zu stellen (für Ausschussarbeit und gemeinsame Arbeitsgruppen). 5
Politische Herausforderung: Modernisierung des Betriebsverfassungsgesetzes
Auch die Politik steht vor einer Herausforderung. Die Regeln für die Mitbestimmung sollten an die neuen Gegebenheiten angepasst werden. Als Bundesverband der Personalmanager – mit 4.700 Mitgliedern der größte Verband für Personalverantwortliche in Deutschland – haben wir uns hierzu klar positioniert (vgl. BPM 2019a). Wichtige Sachverhalte wie die Definition des Betriebes, die Veränderung der Unternehmensstrukturen und Arbeitsmethoden oder die Mitbestimmung insbesondere bei der Neueinführung oder Veränderung von IT-Systemen können nicht mehr nach den bestehenden Regelungen abgearbeitet werden. Das Betriebsverfassungsgesetz bedarf einer Überarbeitung, damit das geschriebene Recht und die betriebliche Wirklichkeit nicht noch mehr auseinanderklaffen. Es liegt auch im Interesse der Mitbestimmung selbst, hier zu zukunftsfähigen Lösungen und moderneren Ansätzen zu kommen.
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Erstens sehen auch Betriebsräte immer deutlicher, dass es nicht mehr die eine Form der Arbeitsorganisation gibt, sondern höchst heterogene Beschäftigteninteressen, die durch kluge Betriebspolitik ausgeglichen werden müssen. Und zweitens braucht die Mitbestimmung selbst vielerorts einen Refresh: Agilere Ansätze bieten eine Chance, mehr auf Vertrauen und Verständnis statt nur auf formalisierte Aushandlungsprozesse der Sozialpartnerschaft zu setzen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Betriebsverfassungsgesetz braucht eine Modernisierung, wo es die Neueinführung oder Veränderung von IT-Systemen betrifft. Auch die Mitbestimmungsrechte bei Gruppenarbeit erhalten durch agile Arbeit plötzlich eine neue Bedeutung. Die Schwierigkeiten des Mitbestimmungsrechtes bei Versetzungen in agilen Teams wurden bereits angesprochen. Insbesondere in § 87 (Mitbestimmungsrechte) besteht also Bedarf, die Regelungen nach eingehender politischer Diskussion an die Erfordernisse der digitalen Arbeitswelt anzupassen und zu spezifizieren. 6
Betriebsvereinbarungen zu Fragen der Digitalisierung
Eine der Chancen einer zukunftsorientierten Mitbestimmung liegt darin, dass die Sozialpartner Betriebsvereinbarungen treffen können, in denen sie gemeinsam Einzelaspekte der digitalen Transformation im Unternehmen gestalten. Ein zentrales Thema für solche Vereinbarungen ist die Gestaltung flexibler Arbeitsmodelle und damit zusammenhängender Fragen unter den Schlagworten mobiles Arbeiten, Homeoffice/Teleheimarbeit, Nutzung von mobilen Endgeräten oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Betriebsvereinbarungen oder Konzepte zu diesem Themenkomplex sind bereits relativ verbreitet. So zeigt eine Befragung des BPM im Mai 2019 unter 2.201 Personalmanager, dass bereits 39 Prozent eine entsprechende Betriebsvereinbarung und 15 Prozent ein Konzept zu Homeoffice/mobilem Arbeiten im Unternehmen haben. 73 Prozent befürworten betriebliche Regelungen zu diesem Thema (BPM 2019b). Eine Herausforderung liegt darin, Regelungen zu treffen, die flexibles Arbeiten und verbesserte Vereinbarkeit für diverse Beschäftigtengruppen ermöglicht, auch für die Mitarbeitenden in der Produktion oder Führungskräfte (Bessing et al. 2017). Weitere Themen für Betriebsvereinbarungen mit digitalem Bezug sind Weiterbildung/lebenslanges Lernen, Outsourcing, Datenerhebung und die Einführung von Software. Zum Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Personalarbeit existieren bislang kaum Vereinbarungen. Der vom BPM initiierte Ethikbeirat HR Tech empfiehlt in seinen im Juni 2019 veröffentlichten, zur öffentlichen Diskussion gestellten Richtlinien explizit die Konsultation und Einbindung von Mitar-
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beitervertretungen bereits in der Konzeptionsphase von KI-gestützten Innovationsprojekten im Unternehmen (vgl. Ethikbeirat HR Tech 2019). Angesichts des multinationalen Charakters vieler Unternehmen stellt sich die Frage der Reichweite der jeweiligen Vereinbarung. Dies wurde bezüglich der Global Framework Agreements bereits intensiv diskutiert (vgl. Fichter et al. 2013). Auch wenn sich die Global Framework Agreements überwiegend auf die Mindest-Arbeitsstandards beziehen, gibt es auch Vereinbarungen zu weitergehenden Themen mit globaler Reichweite, etwa bei Danone und Daimler zu Diversity. Insofern ist die Diskussion um Mitbestimmung 4.0 auch eine Chance, über die Möglichkeiten multinationaler, konzernübergreifender Konzepte mit dem Sozialpartner nachzudenken. 7
Ein Beispiel für Mitbestimmung 4.0: das Zukunftspapier newWork@TUI
Ein interessantes Beispiel für Mitbestimmung 4.0 kommt von der TUI Group, mit knapp 70.000 Beschäftigten der führende Touristikkonzern der Welt. Mit dem Zukunftspapier newWork@TUI haben sich Vorstand und Konzernbetriebsrat der TUI AG als Vertreter von mehr als 10.000 Beschäftigten in Deutschland im März 2018 auf Eckpunkte für die digitale Transformation der TUI AG geeinigt (vgl. TUI AG 2018). Es formuliert Leitplanken für die Zukunft der Arbeit bei TUI und definiert ein gemeinsames Verständnis von Chancen und Herausforderungen der digitalen Transformation. Das Papier macht deutlich: TUI begreift die Digitalisierung als Chance. Zwischen Vorstand und Konzernbetriebsrat herrscht Einigkeit darüber, wie Arbeit bei TUI gestaltet wird. Es sollen Arbeitskonzepte gestärkt werden, die mehr Selbstbestimmung für die Beschäftigten und eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben bedeuten. Es soll eine Ergebniskultur etabliert werden – Ergebnisse zählen und nicht, wie lange jemand am Schreibtisch sitzt. Dabei gilt es, Führung neu zu denken. Vertrauen und Verantwortung werden wichtige Bestandteile zukünftiger Konzepte. Angesprochen werden die Themenfelder Transparenz und Kommunikation, moderne Arbeitskonzepte, Outsourcing, IT sowie attraktiver Arbeitgeber. Beispiele für Initiativen unter dem newWork@TUI-Framework sind die Einführung einer Vertrauensarbeitszeit und die Möglichkeit für lebensphasenbezogene Auszeiten: Neben Geld sollen auch frei verfügbare Auszeiten Teil des Vergütungssystems werden. Die Beschäftigten sollen zukünftig immer häufiger die Freiheit haben, zwischen Geld und Zeit zu wählen. Das vom Konzernbetriebsrat initiierte Paper ist selbst ein gutes Beispiel für New Work bei TUI: Bei der Entstehung kamen agile Methoden zum Einsatz, in
Mitbestimmung 4.0 – zur Weiterentwicklung der betrieblichen Sozialpartnerschaft
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Sprints wurden die einzelnen Teile erarbeitet. Auch wenn das Papier zunächst in den Strukturen der deutschen Sozialpartnerschaft in der TUI entstanden ist, hat es Wirkung im gesamten Unternehmen entfaltet. Heute steht es TUI-weit für ein gemeinsames Verständnis von der Zukunft der Arbeit. Ein gutes Beispiel also, wie die betriebliche Mitbestimmung selbst agiler werden kann. Denn zum Themenkomplex Mitbestimmung 4.0 gehören die Agilisierung der Betriebsratsarbeit genauso wie die inhaltlichen Mitbestimmungsrechte in Themen rund um die Digitalisierung (Einführung von Software, Einführung agiler Arbeitsmethoden, aber auch Fragen der Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort und der Nutzung mobiler Endgeräte) und das große Thema der neuen Partizipationsformen durch ein Empowerment der Mitarbeitenden. 8
Ausblick: neue Wege der Mitbestimmug und der Personalarbeit in agilen Organisationen
Der Beitrag hat Impulse dazu gegeben, wie sich die betriebliche Sozialpartnerschaft unter den Bedingungen der Digitalisierung wandelt. Klar ist: Geschwindigkeit und Komplexität in der digitalen Arbeitswelt erfordern neue Arbeitsweisen. Deshalb haben agile Strukturen zunehmend Verbreitung in den Unternehmen gefunden. Sich selbst organisierende Teams (Scrum), Arbeitszeitsouveränität und Ergebnisorientierung bestimmen die Abläufe und den Output. Der mitarbeitende Mensch steht trotz Digitalisierung der Prozessabläufe weiterhin im Mittelpunkt der Personalarbeit. Deshalb bietet die digitale Transformation die Chance für den Schritt von einer eher formalisierten Mitbestimmung hin zu einer neuen Qualität der mitarbeiterorientierten Sozialpartnerschaft: ergänzt um neue Partizipationsformate für vielfältige Beschäftigtengruppen, angepasst an agile Arbeitsweisen, proaktiv in einer tech-affinen Vordenkerrolle, basierend auf wegweisenden Betriebsvereinbarungen und einem modernen Betriebsverfassungsgesetz. Dies stellt hohe Anforderungen an beide Sozialpartner: Die Unternehmen sind gefordert, den Gremien flexiblere personelle und sachliche Mittel zur Verfügung zu stellen und die Betriebsräte auch in agile Arbeitsmethoden nachhaltig einzubinden. Die Betriebsräte sind gefordert, sich in Bezug auf digitale Kompetenzen weiterzubilden, um zu komplexen Fragen wie z. B. dem Einsatz von künstlicher Intelligenz konsultationsfähig zu sein. Nicht zuletzt bedeutet das Spannungsfeld zwischen erwünschter Flexibilisierung und überlastender Entgrenzung eine wichtige Herausforderung für das betriebliche Gesundheitsmanagement. Die Beschäftigten müssen befähigt werden, ihre „Auslastung in Eigenregie“ eigenverantwortlich zu steuern. Dem zeitlichen,
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Elke Eller und Katharina Schiederig
physischen, psychischen und finanziellen Überforderungsschutz kommt daher eine zentrale Bedeutung zu. Viel zu tun also für die Sozialpartner. Und auch die Politik muss sich den beschriebenen Herausforderungen stellen und die politischen Rahmenbedingungen an die neuen Realitäten anpassen. Insofern ist damit zu rechnen, dass in den deutschen mitbestimmungspflichtigen Unternehmen im Zuge der digitalen Transformation neue Partizipationsformate zunehmen und sich die Diskussion um Mitbestimmung 4.0 politisch und in den Betrieben intensiviert. Literatur Beck, K. et al. (2001). Manifest für Agile Softwareentwicklung. https://agilemanifesto.org/iso/de/ manifesto.html (letzter Zugriff: 28.09.2020) Bessing, N., Gärtner, M. und Schiederig, K. 2017. Reduzierte Arbeitszeit in Führungspositionen: Empirische Befunde und Erfolgsfaktoren in der 360-Grad-Perspektive. In: Karlshaus, A. und Kaehler, B. (Hrsg.).Teilzeitführung. Wiesbaden: Springer Gabler. Bierod-Bähre, S. 2019. „Agile Mitbestimmung benötigt Vertrauen“, Interview mit der Personalwirtschaft, 18.03.2019. https://www.personalwirtschaft.de/der-job-hr/artikel/special-zukunft-personalsued-interview-sandra-bierod-baehre.html (letzter Zugriff: 14.07.2019). Boes, A. et al. 2018. »Lean« und »agil« im Büro: Neue Organisationskonzepte in der digitalen Transformation und ihre Folgen für die Angestellten. Bielefeld: transcript. BPM. 2019a. Die 10 HR Trends 2019, Arbeitspapier. https://www.bpm.de/sites/default/files/ bpm_hr_trends_2019_final.pdf (letzter Zugriff: 14.07.2019). BPM. 2019b. Umfrage zu Homeoffice und mobilem Arbeiten, Zusammenfassung der Umfrageergebnisse. https://www.bpm.de/meldungen/homeoffice-verbreitet (letzter Zugriff: 15.07.2019). Eller, E. 2018. Touristik – Vom Reisebüro zur Blockchain. Digitale Transformation braucht den Menschen. In: Volkens, B. und Anderson, K. (Hrsg.). Digital human. Der Mensch im Mittelpunkt der Digitalisierung. Frankfurt, New York: Campus Verlag, 127-135. Ethikbeirat HR Tech. 2019. Richtlinien für den verantwortungsvollen Einsatz von Künstlicher Intelligenz und weiteren digitalen Technologien in der Personalarbeit. https://www.ethikbeirathrtech.de/wp-content/uploads/2019/06/Ethikbeirat_und_Richtlinien_Konsultationsfassung _final.pdf (letzter Zugriff: 15.07.2019). Fichter, M., Helfen, M. und Schiederig, K. 2013. Can transnational solidarity be organized around production networks? Reflections on the strategy of International Framework Agreements. In: Fairbrother, P., Hennebert, M.-A. und Lévesque, C. (Hrsg.). Transnational Trade Unionism: Building Union Power. London: Routledge. Peters, R. 2009. Shopfloor-Management. Führen am Ort der Wertschöpfung. Stuttgart: LOG_X. Placke, B. und Schleiermacher, T. 2018. Anforderungen der digitalen Arbeitswelt – Kompetenzen und digitale Bildung in einer Arbeitswelt 4.0. IW Consult/BPM, Köln. https://www.iwkoeln.de/ fileadmin/user_upload/Studien/Gutachten/PDF/2018/Gutachten_Anforderungen_Digitale_ Arbeitswelt.pdf (letzter Zugriff: 15.07.2019). TUI AG. 2017. Von formalisierter Mitbestimmung zu Chancen neuer Partizipation, Vortrag von Dr. Elke Eller. TUI AG. 2018. newWork@TUI – Digitalisierung bei TUI. https://www.tuigroup.com/damfiles/ default/tuigroup-15/de/medien/tui-storys/themenspecial/new-work/20180603_newWorkTUI_DE.PDF-469c628c94e25952691dd464c8f70bfc.PDF (letzter Zugriff: 14.07.2019).
(Ohn)Mächtige Crowd? Heteronomie und Autonomie der Plattformarbeit Heiner Heiland Abstract Plattformarbeit erscheint gemeinhin als gegenwärtiges Sinnbild prekärer Arbeit, deren Subjekte umfassender Kontrolle unterliegen und nur über geringe Mitbestimmungs- sowie Widerstandsmöglichkeiten verfügen. Der Beitrag analysiert, inwieweit diese Annahmen zutreffend sind. Dazu wird herausgearbeitet, wie Plattformen die Strukturen der Arbeitsbeziehungen transformieren und auf diesem Weg auch die Handlungsmöglichkeiten der Arbeitenden1 prägen. Technologisch unterstützt sind Plattformen in der Lage, Transaktionskosten zu reduzieren. Damit verlagern sie die Marktgrenze in die Unternehmen hinein und transformieren Arbeit von einem fixen hin zu einem variablen Kostenpunkt. In der Folge sind die Arbeitenden ohne Organisationsmitgliedschaft und verfügen nur begrenzt über sekundäre Machtressourcen. Zugleich erzeugen Plattformen mehrseitige Märkte, auf denen die verschiedenen Marktseiten (Plattformarbeitende, Kunden u. a.) in Interdependenz zueinander stehen. Diese interdependente Mehrseitigkeit erhöht das Primärmachtpotenzial der Arbeitenden, die mittels geringer Eingriffe den Arbeitsprozess und den Erfolg der Plattformen beeinflussen können. Als Resultat ist die Heteronomie der Plattformarbeitenden nicht nivelliert, aber sie verfügen über mehr Handlungsressourcen als gemeinhin angenommen. Die Herausforderung liegt in der kollektiven Nutzung dieser Potenziale sowie der Etablierung sekundärer Machtressourcen. 1
Einleitung
Im Zuge der fortschreitenden Verbreitung digitaler Plattformen ist Arbeit Gegenstand eines umfassenden Wandels. Via Plattformen vermittelt wird Arbeitskraft eine Ware, die just-in-time zur Verfügung steht und als humans-as-a-service 1
Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_8
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Heiner Heiland
beworben wird. Doch Plattformen vermitteln nicht allein Arbeit mit Hilfe neuer Technologien, sondern beeinflussen auch die Arbeitsbeziehungen. Das Design der Plattformen definiert die Regeln, die für die sozialen Beziehungen zwischen Plattformen, Kunden und Arbeitenden gelten. Plattformen sind nicht nur im „business of matching individuals but… rather in the business of reproducing a relationship of workforce dependency” (Wood 2019, S. 4). Mitbestimmung hat im Zuge dessen einen schweren Stand. Arbeitsbeziehungen allgemein sind in den jungen Unternehmen (noch) nicht institutionalisiert und Mitbestimmung im Speziellen ist meist nicht Teil des Konzepts. In der Regel besteht ein freies Wirken der Kräfte und Asymmetrien zwischen Plattformen und Arbeitenden. Wie diese Kräfte und damit auch die Handlungsmöglichkeiten der verschiedenen Akteure verteilt sind, ist Gegenstand dieses Beitrages. Der Fokus liegt dabei nicht auf den oft thematisierten Kontrollinstrumenten der Plattformen (bspw. algorithmisches Management, Überwachung und Informationsasymmetrien), sondern den strukturellen Gegebenheiten. Im Folgenden wird diskutiert, wie die Plattformen die Marktgrenze verschieben und die Arbeitenden in externe Faktoren transformieren und wie damit mehrseitige Märkte entstehen, auf denen die Akteure in wechselseitiger Abhängigkeit verbunden sind. Resultat sind veränderte Machtressourcen, die entscheidend sind für die Autonomie und Heteronomie der Arbeitenden und die deren Mitbestimmungsmöglichkeiten beeinflussen. 2
Die Verflüssigung der Arbeit: das Phänomen Plattformarbeit
Plattformarbeit bezeichnet Arbeit, die durch Plattformen vermittelt wird. Gemein ist allen Formen der Plattformarbeit, dass eine breite Masse an Arbeitskräften – eine crowd – für die Erbringung einer Tätigkeit zur Verfügung steht. In jüngerer Vergangenheit hat das Konzept stetiges Wachstum erfahren und bringt zahlreiche Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Fortschritt mit sich. So gibt es Erwartungen, dass damit das Ende der Lohnarbeit und ein crowd-based capitalism eintritt, der in der Lage ist, soziale Unterschiede zu nivellieren (Sundararajan 2016; Botsman 2015). Oder es wird eine zero marginal cost society (Rifkin 2015) erwartet sowie Hoffnung auf kollaborative Konsumption (Benkler 2006) gesetzt. Wenig Beachtung findet dabei die Rolle der Arbeit. Doch gerade sie ist es, die durch die neuen crowd-basierten und digitalen Organisationsarrangements den größten Wandel erlebt. Auch mit Fokus auf Arbeitsverhältnisse ist das betrachtete Phänomen äußerst heterogen und in ständiger Entwicklung (Howcroft und Bergvall-Kåreborn 2018; Huws et al. 2016). Eine hilfreiche Differenzierung stellt die Unterteilung nach
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der lokalen Gebundenheit dar. Die Form der Arbeit und die Art ihrer Kontrolle lassen sich danach unterscheiden, ob ihre Ausführung an einen spezifischen Ort gebunden ist oder ob sie mittels Internet von jedem Ort der Erde erbracht werden kann. Ergänzend können unterschiedliche Formen der Crowdwork je nach Qualifikationsniveau der Arbeit differenziert werden. Das Spektrum reicht von einfachen lokalen Dienstleistungen (z. B. Reinigungstätigkeiten) über online zu erledigende Kleinstaufgaben (bspw. Kategorisierung von Bildern) bis hin zu lokal ungebundener Kreativ- und Wissensarbeit. Für die Plattformen stellt sich die Herausforderung der Kontrolle der Arbeit. Denn die Arbeitenden sind nicht an einem Ort zentriert und entweder im lokalen Raum oder gar global verteilt. Darüber hinaus können sie sich mitunter auch zeitlich selbstständig organisieren. Wie die Digitalität dieser Arbeiten deren Koordination überhaupt erst möglich macht, so stehen auf diesem Weg zugleich neue Instrumente zu Zwecken der Kontrolle zur Verfügung. Darunter fallen Praktiken wie algorithmische Arbeitssteuerung (Heiland 2018), Informationsasymmetrien (Heiland und Brinkmann 2019; Rosenblat und Stark 2016) oder Bewertungen (Brinkmann und Seifert 2001; Evans 2012). Koordinations- und Kontrollbedarf der Plattformarbeit ergibt sich nicht allein aus der Dispersion der Akteure im regionalen oder globalen Raum sowie der Zeit. Auch strukturelle Spezifika dieser neuen Arbeitsverhältnisse machen deren Steuerung durch die Plattformen notwendig. Denn Plattformen sind van Dijck (2013) zufolge nicht nur techno-kulturelle Konstrukte, sondern auch sozioökonomische Strukturen. Während die diversen Formen der vornehmlich technokulturellen Koordination und Kontrolle der Plattformarbeit ausführlicher Gegenstand von Analyse sind, finden die sozioökonomischen Strukturen meist nur als Randbedingung Beachtung. Wie im Folgenden gezeigt wird, sind jedoch diese Strukturen entscheidend für die Verteilung von Handlungsmöglichkeiten und damit auch von Mitbestimmungspraktiken. 3
Von Hierarchien zu Märkten
Im Zentrum der Transaktionskostentheorie steht die Frage “[w]hy does so much economic activity take place inside organizations rather than between them?” (Scott und Davis 2014, S. 222). Die Antwort auf diese Frage nach der nature of the firm lautet, dass “by forming an organisation and allowing some authority… to direct the resources, certain marketing costs are saved” (Coase 1937, S. 393). Wenn also die Transaktionskosten, die bei Vertragsanbahnung und -überwachung entstehen, eine bestimmte Größe übersteigen, ist es ökonomisch sinnvoller, den Faktor Arbeit nicht im Zuge von individuellen Verträgen immer neu
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auf dem Markt zu erwerben, sondern mittels unspezifischer Dienstverträge einzukaufen und im Rahmen eines Herrschaftsverbandes zum Einsatz zu bringen (Coase 1937; Williamson 1983). Abhängig von den Transaktionskosten birgt demnach entweder die sichtbare Hand der Hierarchie oder die unsichtbare Hand des Marktes Kostenvorteile. Die Grenze zwischen Markt und Organisation ist nicht fix. Verändern sich die Transaktionskosten, ändert sich auch der Anreiz, Güter und Dienstleistungen auf dem Markt zu erwerben respektive sie in die Organisation einzugliedern. Technologie spielt hierbei eine zentrale Rolle, denn „information and communication technologies greatly reduce coordination and transaction costs“ (Beblavý et al. 2012, S. 41). Folge der Digitalisierung ist nach der Transaktionskostentheorie eine zunehmende Nutzung von Märkten anstatt von Hierarchien zur Koordination ökonomischer Aktivitäten (Malone et al. 1987). Plattformarbeit erscheint demnach als ein Resultat technologisch induzierter Verringerung der Transaktionskosten. Mittels Informations- und Kommunikationstechnologien können verschiedene, im Raum verteilte Akteure unkompliziert miteinander verbunden werden und es entstehen neue soziale und ökonomische Interaktionsmöglichkeiten. Doch aus einer kritischen Perspektive, die nicht in erster Linie die ökonomische Effizienz fokussiert, sondern den Faktor Arbeit näher betrachtet, gestaltet sich das Bild anders. 4
Die Verschiebung der Marktgrenze
Die zunehmende Nutzung von Marktmechanismen geht nicht allein auf technische Innovationen zurück. Im Rahmen von Finanzialisierung (Dörre und Brinkmann 2005) und der Dezentralisierung von Organisationsstrukturen (Faust et al. 1999) ist bereits seit einiger Zeit eine zunehmende Bezugnahme auf Marktmechanismen zur Organisierung und kompetitiven Steuerung von unternehmensinternen Prozessen zu beobachten. Cost- und Profitcenter sind Alltag in zahlreichen Organisationen, und Outsourcing führt zur Fokussierung auf die Kernbereiche der Unternehmen. Diese Aspekte – die Verringerung der Transaktionskosten, die Begrenzung auf den Unternehmenskern und die organisationsinterne Nutzung von Marktmechanismen – lassen sich mit Brinkmann (2011) als eine Verschiebung der Marktgrenze in die Unternehmen hinein verstehen, die aus „ehemals fordistisch befriedeten Zonen unsicheres Grenzgebiet“ macht (ebd., S. 48). Das Konzept der Plattformen stellt sich demzufolge als eine radikalisierte Marktgrenzverschiebung dar, die eine neuartige Regulation der Arbeitsbeziehungen etabliert. Es finden nicht mehr allein Marktmechanismen innerhalb der Un-
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ternehmen Anwendung, sondern darüber hinaus wird den Ausführenden der Plattformarbeit die Organisationsmitgliedschaft aufgekündigt und durch das jederzeit kündbare Nutzungsrecht einer Handyapplikation oder eines Softwareaccounts ersetzt, die primär quantitativ zwischen den Akteuren vermittelt (bspw. Beförderungsanfragen, Dienstleistungsbewertungen, vorgegebene Preise u. a.). Die Plattformen selbst treten damit nur als Intermediäre und market maker auf. Interaktionen zwischen den Anbietenden und den Nachfragenden von Arbeitskraft, die aufgrund zu hoher Transaktionskosten nicht zustande kämen, werden von den Plattformen automatisiert über die plattformeigenen Märkte vermittelt. Somit ist es für Organisationen oder Privatpersonen möglich, spontan und auch nur für einzelne Aufgaben, wie eine einmalige Reinigung oder das Design eines Unternehmenslogos, Arbeitskräfte zu nutzen, ohne diese längerfristig an sich zu binden. Die Plattformunternehmen hingegen agieren mit einer stark reduzierten Kernbelegschaft – die „aristocracy of the new labor force“ (Zysman und Kenney 2015, S. 24) –, die für Management, Bereitstellung und Marketing der Plattform zuständig ist. Nur angesichts dieser neuartigen Unternehmensorganisation, die für die Erschließung eines neuen nationalen oder städtischen Marktes einzig eines kleinen Büros und einer Handvoll Angestellter bedarf, erklärt sich die rasante, oft globale Expansion vieler Plattformen.2 Mit der Verschiebung der Marktgrenze entledigen sich Plattformen der Herausforderung der Personalplanung, die Arbeitskräfte im Einklang mit dem tatsächlichen Arbeitsaufkommen zu halten oder gar, wie im Dienstleistungssektor der Fall, systematisch ungenutzte Arbeitskraftreserven auf Abruf halten zu müssen (Berger und Offe 1984). Plattformen koppeln die Arbeit eng an den Markt und damit an die tatsächliche Nachfrage. Diese Verschiebung der Marktgrenze macht sie personaltechnisch zu atmenden Unternehmen. Marktrisiken und Leerlaufkosten werden in dieser Weise auf die Arbeitenden verschoben. Unternehmen können mit der Nutzung von Plattformarbeit funktional und numerisch flexibel werden, indem sie viele verschiedene Arbeitskräfte spontan in Anspruch nehmen und somit einerseits „transform fixed costs into variable ones“ (Muehlberger 2005, S. 3) und andererseits im Fall von lokal ungebundener Plattformarbeit geographische Differenzen bezüglich Qualifikationen und Lohnniveau zu ihren Gunsten ausnutzen (Lehdonvirta 2016). Für die Arbeitenden geht damit das Versprechen einher, neue Verdienstmöglichkeiten nutzen zu können sowie Arbeitszeiten flexibel und selbstständig bestimmen und der eigene Chef sein zu können. Tatsächlich ist zweifelhaft, inwieweit die gewonnene Flexibilität und 2
Exemplarisch ist hier der 2009 gegründete Fahrdienstvermittler Uber, der derzeit in 63 Ländern und 785 Städten tätig ist und der mitunter um eine Stadt pro Tag wuchs und ca. 30.000 Fahrer pro Monat akquirierte. Und das mit insgesamt ca. 1.500 Festangestellten. Gleiches – wenn auch in geringerem Umfang – gilt für vergleichbare Plattformunternehmen.
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Selbstbestimmtheit von den Arbeitenden angesichts geringer Entlohnung und der fortwährenden Notwendigkeit, den individuellen Status aufrechtzuerhalten genutzt werden kann (Schörpf et al. 2017). Ähnlich allgemeinen Outsourcingpraktiken stellt Plattformarbeit in vielen Fällen eher eine Form von „insecurityand-risk-transfer chains“ (Frade und Darmon 2005, S. 118) dar. Plattformarbeit ist eine neue Form der non-standard work, die sich analog zu und als Verschärfung von allgemeiner Prekarisierung europäischer Arbeitsmärkte entwickelt (Eurofound 2015). Zugleich ist Plattformarbeit ein Zurück-in-dieZukunft. Denn trotz der technologischen Innovationen, die die basalen Ermöglichungsbedingungen dieser Form der Arbeit sind, ähneln die Arbeitsbeziehungen eher dem frühkapitalistischen Verlagssystem. Die „doppelte Freiheit der Arbeiter“ (Marx 1962, S. 183) wandelt sich dergestalt, dass die Arbeitenden zwar über die Produktionsmittel verfügen, die in der Regel von ihnen selbst zu stellen sind, sie aber zugleich frei von einer Mitgliedschaft in einer Organisation sind und damit der Rechte verlustig gehen, die das Betriebsverfassungsgesetz ihnen bietet. Denn das Ausmaß der Verschiebung der Marktgrenze bedeutet auch eine unterschiedliche Institutionalisierung von Arbeitsbeziehungen und damit Mitbestimmungspraktiken. Sind Arbeitende als abhängig Angestellte formale Mitglieder der Unternehmen, können sie durch die Verschiebung der Marktgrenze zwar eng an den Markt gekoppelt werden, doch sie verfügen weiterhin über zumindest basale, aber gesetzlich gesicherte Schutz- und Mitbestimmungsrechte. Wenn die Arbeitenden aber als Selbstständige agieren, jeden Arbeitsauftrag einzeln erhalten und vergütet bekommen und nur lose an die Unternehmen bzw. Plattformen gekoppelt sind, so verfügen sie über keinerlei Partizipationsrechte und es greifen nur begrenzte Arbeitsschutzregeln. Aufgrund dieses „independent contractor loophole“ (Hill 2015, S. 3) wird Plattformarbeit auch als Flucht aus dem Arbeitsrecht bezeichnet, mittels dessen außerdem regulär Angestellte verdrängt werden (Erickson und Sørensen 2016). Darüber hinaus ist den Plattformarbeitenden als Selbstständigen aufgrund des europäischen Kartellrechtes der Zusammenschluss und das kollektive Eintreten für die eigenen Interessen verwehrt (Rubiano 2013; Stefano 2016). Als Nutznießende dieser Arrangements besteht von Unternehmensseite auch explizit keine Notwendigkeit weiterer Regulierung von Plattformarbeit, es wird sogar davor gewarnt: „Crowdworking und crowdsourcing sind neue Formen freier Tätigkeiten und freier Mitarbeit im Internet, die sich gesetzlich nicht fassen lassen. Es handelt sich auch nicht um Beschäftigungsformen, die irgendwie regelbar wären. Gesetzlicher oder tariflicher Handlungsbedarf erscheint nicht gegeben“ (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 2015, S. 5-6). Wie beim frühindustriellen Verlagssystem bleiben die Plattformarbeitenden damit abhängige Selbstständige. Doch anders als früher besteht die Kontrolle der
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Arbeit nicht allein in der Überprüfung des Ergebnisses. Stattdessen kommen die zuvor genannten, oft technisch vermittelten Praktiken zum Einsatz, die auch den vorgelagerten Arbeitsprozess koordinieren, überwachen und steuern. Und das, obwohl die Plattformarbeitenden selbstständig agieren und Unternehmen, Plattformen oder private Nutzende ihnen gegenüber über keine Weisungsbefugnis verfügen. Zugleich stellen sich für die Unternehmen und die Plattformen mit derlei Arbeitsarrangements neue Herausforderungen. Mit der Delegierung von Unternehmenstätigkeiten an externe Selbstständige treten Planungsunsicherheiten auf die Tagesordnung (Lasecki et al. 2014). Als besonders relevant zeichnet sich die Herausforderung ab, die Arbeit zu kontrollieren, obwohl diese allein über vermittelnde Plattformen an die Unternehmen gekoppelt sind (Zhao und Zhu 2014). So stellen sich klassische Fragen der Kontrolle des Arbeitsprozesses und dessen Resultate, sowohl für höher qualifizierte Kreativarbeit als auch für Microtasks. Wie sich im Folgenden zeigt, agieren die Arbeitgeber bzw. vermittler auf mehrseitigen Märkten, so dass die Herausforderungen noch komplexer werden. 5
Die Herausforderung mehrseitiger Märkte
Das vielgestaltige Phänomen Plattformarbeit eint der Umstand, dass zu der üblicherweise bilateralen Beziehung zwischen Arbeitgebenden und Beschäftigten mit den vermittelnden Plattformen eine weitere Partei hinzutritt. Damit einher gehen neue Kopplungen und Interdependenzen zwischen den verschiedenen Akteuren, die Einfluss haben auf deren Handlungsmöglichkeiten und auf die Arbeitsbeziehungen. Denn was die Plattformen an Komplexität reduzieren, indem sie die Marktgrenze verschieben und die Arbeitenden zu einem externen Faktor mit variablen Kosten transformieren, rekonstituiert sich in Form zunehmender Komplexität bezüglich der Koordinierung und Kontrolle der Arbeitskräfte und des Arbeitsprozesses. Dies ist insbesondere der Fall, da Plattformen auf mehrseitigen Märkten agieren. Auf solchen bieten die Plattformen nicht die Dienstleistung oder das Produkt selber an, sondern vermitteln zwischen zwei oder mehreren verschiedenen Gruppen bzw. verkaufen diesen zwei verschiedene Produkte (Rochet und Tirole 2003). So bietet eine Zeitung nicht allein tagesaktuelle Informationen für Lesende an, sondern zugleich Raum für Werbung. Mit Blick auf Plattformarbeit stellen Arbeitende mit dem Interesse, mittels der Erfüllung von Aufträgen ein Einkommen zu generieren (bspw. durch Personenbeförderung oder das Verfassen von Produktbeschreibungen) und damit die Nachfrage nach entsprechenden Kunden,
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Heiner Heiland
Plattform Indirekte Face-to-InterfaceBeziehungen
Kunden Abbildung 1:
Direkte Face-to-Face-Beziehung (lokal gebundene Plattformarbeit) Direkte Face-to-Interface-Beziehung (lokal ungebundene Plattformarbeit)
Arbeitende
Mehrseitige Märkte auf Plattformen
eine Seite dar. Diese bildet die Grundlage für die andere Seite, auf der Akteure angebotene Leistungen nachfragen, wie bspw. die Beförderung von A nach B (siehe Abbildung 1).3 Klassische mehrseitige Märkte sind solche für Videospiele (und -konsolen), Kreditkarten, Zeitungen, Smartphone-Apps oder PC-Betriebssysteme. Die Plattformen agieren als matchmaker. Sie verringern der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie zufolge als Intermediäre Transaktionskosten und etwaige asymmetrische Informationslagen und ermöglichen auf diesem Weg Interaktionen, die auf direktem Weg nicht stattfinden würden (Evans und Schmalensee 2017; Rochet und Tirole 2004, S. 12). Effizienter als bilaterale Verhandlungslösungen vermag es eine Plattform, beide Seiten zu koordinieren und den Informationsfluss zu gewährleisten und zu steuern. Die auf einseitigen Märkten vorhandene Komplexität zahlreicher Beziehungen wird auf den Kontakt zur Plattform reduziert (Baligh und Richartz 1964, S. 670ff.; Rochet und Tirole 2006, S. 665). Entscheidend ist dabei, dass zwischen den verschiedenen Gruppen eine Interdependenz besteht. Je mehr Menschen bspw. ein soziales Netzwerk wie Facebook nutzen, desto wertvoller wird es für weitere Nutzende. Und je mehr Unternehmen auf einer Crowdwork-Plattform Aufträge anbieten, desto interessanter wird diese für potenzielle Arbeitende und vice versa. Im ersten Fall entsteht ein direkter, im zweiten ein indirekter Netzwerkeffekt. Diese Effekte haben aufgrund der Interdependenz ein sich selbst verstärkendes Wachstumspotenzial, „which can defy the laws of physics“ (Chase 2015, S. 73) und das laut Googles CEO Eric Schmidt nur mit dem eines Virus vergleichbar ist. Infolge derartiger Effekte 3
Ergänzend könnte eine Plattform Werbung weiterer Akteure auf ihrer Homepage oder App ermöglichen und damit dem Markt eine weitere Seite hinzufügen. Facebook ist mit Sendenden, Empfangenden, Werbenden und Anbietenden von Softwareapplikationen bspw. eine vierseitige Plattform (Evans 2012, S. 1207).
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neigen mehrseitige Märkte zu oligopolistischen oder monopolistischen Strukturen (Cusumano und Goeldi 2013). Doch diese Hoffnung auf exponentielles Wachstum und Marktbeherrschung, die auch den Kern unbekannt hoher Bewertungen junger Start-ups darstellen, kann sich ebenso in ihr Gegenteil verkehren. Denn Netzwerkeffekte können auch negativ wirken. Werden z. B. weniger Aufträge auf einer Plattform angeboten, können sich auch die Arbeitenden von dieser zurückziehen und deren Niedergang beschleunigen. In digitalen Zeiten besteht eine hohe Volatilität der Nutzenden und damit auch der Monopole (Dolata 2015). Der Induktion von Netzwerkeffekten geht das Henne-Ei-Problem voraus (Rochet und Tirole 2003; Caillaud und Jullien 2003). Diesem zufolge ist es notwendig, beide Seiten des Marktes zur Nachfrage zu bringen. Ist nur oder in stärkerem Ausmaß eine Seite vertreten, besteht eine Lücke entweder bei der Erbringung der Arbeit oder deren Nachfrage. Aus ökonomischer Perspektive ist dabei die Preisstruktur sowohl Problem als auch Antwort, wobei diese infolge der Interdependenzen besonders komplex ist (Hagemeister 2009). Demnach stellen sich an Grenzkosten orientierende Preise in solchen Situationen nicht wie sonst üblich notwendigerweise die optimale Lösung dar. Stattdessen werden asymmetrische Preisgestaltungen angeraten, sodass die Seite des Marktes mit ausgeprägteren Netzwerkeffekten vonseiten der Plattform mittels höherer Preise auf der „schwächeren“ Seite subventioniert wird (Haucap und Wenzel 2011). In der Folge kann es gar zu unterhalb der Grenzkosten liegenden (negativen) Preisen auf einer der Seiten kommen. So ist z. B. ein einfacher Account auf Facebook kostenfrei, was nicht den bei der Plattform anfallenden Kosten pro Nutzendem entspricht, wohl aber der Bedeutung, die User und deren Daten für die Plattform und deren andere Nutzenden (bspw. Werbetreibende) haben. Besagtes Henne-Ei-Problem stellt auch für Arbeit vermittelnde Plattformen eine Herausforderung dar. Die verschiedenen Marktseiten müssen miteinander in ein Gleichgewicht gebracht werden, um negative Netzwerkeffekte zu vermeiden und positive zu erzeugen. Die Plattformen sehen sich angesichts des Agierens auf mehrseitigen Märkten der Herausforderung gegenüber, einen kompetitiven Preis für die feilgebotenen Leistungen zu verwirklichen und zugleich das Angebot an Arbeitskräften für die Erbringung ebenjener Leistungen sicherzustellen. Dabei stehen die Interessen der verschiedenen Marktakteure oft sogar im Widerspruch zueinander. So haben bspw. Kunden von Essenslieferplattformen ein Interesse an niedrigen Preisen, die Restaurants an geringen Provisionen und umfassenden Bestellungen und die Ausliefernden an hohem Lohn und erträglicher Arbeitsintensität. Die Plattformen als Intermediäre bestimmen die Rahmenbedingungen und mittels der Preise und Gebühren die Kosten bzw. Profite der Akteure.
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Der Ausgleich der Marktseiten durch die Preisgestaltung ist jedoch nur von begrenzter Wirkung, denn in den oft preissensiblen Sektoren, in denen die Arbeitsplattformen agieren, besteht nur kleiner Spielraum. Zumal die meisten Plattformen mit Risikokapital ausgestattet sind und defizitär wirtschaften, sodass Subventionierungen nur in Teilen oder zeitlich begrenzt möglich sind. Darüber hinaus vernachlässigt die auf den rationalistischen Prämissen einer Homooeconomicus-Heuristik basierende ökonomische Theorie Fragen von Kontrolle und Macht. Es sind aber gerade diese Aspekte, die zentralen Einfluss auf Preisbildungsprozesse und die sozialen Prozesse haben. Der Faktor Arbeit stellt dabei die anspruchsvollste Marktseite dar, die nicht allein per Preis koordinier- und kontrollierbar ist und in einem strukturellen Antagonismus gegenüber den anderen Marktseiten steht. Diese trianguläre Beziehung zwischen den verschiedenen Akteuren ist Ergebnis der beschriebenen Verschiebung der Marktgrenze und ein zentrales Spezifikum plattformvermittelter Arbeitsbeziehungen. Sie bildet den Rahmen, in dem die beteiligten Akteure miteinander agieren und bestimmt damit auch deren Handlungsspielräume. Letztere werden im Folgenden analysiert. 6
Heteronomie und Autonomie der Plattformarbeitenden
Die wirtschaftswissenschaftliche Perspektive bleibt auf die Verwertung der Arbeit und das Endergebnis beschränkt, ohne den Arbeitsprozess zu berücksichtigen. Die Akteure geraten allein hinsichtlich ihrer Rollen als Anbietende und Nachfragende in den Blick, ihre Handlungspotenziale werden vernachlässigt. Ebenjene Handlungspotenziale erfahren im Rahmen von Plattformarbeit eine Transformation, da sich Ausmaß und Verhältnis von Primär- und Sekundärmacht wandeln. Primärmacht meint die aus den „Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den sozialen Parteien im Betrieb erwachsenen Machtpositionen für einzelne Beschäftigte bzw. Beschäftigtengruppen“ (Jürgens 1984, S. 61). Diese wurde historisch „ersetzt, ergänzt, überlagert von kollektiv erkämpften Macht- und Einflußpositionen“ (ebd., S. 64). Mittels Plattformarbeit dreht sich das Rad der Zeit zurück, Sekundärmachtpotenziale in Form von „kollektiv erkämpften bzw. staatlich gesetzten Regelungen und Institutionen“ (ebd., S. 61) stehen den Arbeitenden nicht zur Verfügung und die Institutionalisierung der Arbeitsbeziehungen wird von den Plattformen mitunter gezielt unterminiert. Mitbestimmung in Plattformökonomien ist die Ausnahme statt die Regel. In Deutschland und Österreich gibt es Betriebsräte nur an einzelnen Standorten der Essenslieferplattform Foodora. Diese sind nur möglich aufgrund der internationalen Ausnahme, dass diese Plattform die Fahrer in diesen Ländern (meist befristet) anstellt, anstatt wie die
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Konkurrenz mit selbstständigen Kurieren zu arbeiten (Heiland und Brinkmann 2019). In Folge der Verschiebung der Marktgrenze sind die Machtpotenziale der Arbeitenden also transformiert und im Zuge dessen reduziert im Vergleich zu Normalarbeit, so dass die Heteronomie der Plattformarbeitenden ausgeprägter ist. Doch betriebliche Herrschaft ist nicht absolut. Wie zuvor dargelegt entstehen mehrseitige Märkte, deren Spezifika die Plattformen vor neue Herausforderungen bezüglich der Steuerung und Kontrolle der Arbeitenden stellen. Denn was aufseiten der Plattformen durch die Verschiebung der Marktgrenze zu Kostenreduktionen und begrenzter Mitbestimmung führt, rekonstituiert sich in Form zunehmender Komplexität bezüglich der Koordinierung und Kontrolle der Arbeitskräfte und des Arbeitsprozesses. Plattformen verfügen demnach über einen umfassenden Einfluss auf die Arbeitenden und sind doch von diesen und den anderen Akteuren unmittelbar abhängig, da besagte Netzwerkeffekte auch negativ wirken können und diese eine grundlegende Gefahr für Plattformökonomien darstellen. In der Folge verfügen Plattformarbeitende über ein ausgeprägtes Primärmachtpotenzial. Denn Arbeitsniederlegungen sind binnen eines Knopfdruckes möglich. Mit Streiks oder deren Androhungen können die Arbeitenden ihre Marktseite beeinflussen und infolge der Interdependenzen auch Auswirkungen auf die anderen Akteure haben. Stehen bspw. Arbeitskräfte für Kunden wider Erwarten nicht zur Verfügung, wird also ein Auftrag nicht ausgeführt oder eine Lieferung nicht transportiert, können Abwanderungen der Kunden die Folge sein und somit ein negativer Netzwerkeffekt ausgelöst werden. Dieses Primärmachtpotenzial ist dabei sehr unterschiedlich nach dem Qualifikationsniveau und der Lokalität der Plattformarbeit verteilt. Hoch qualifizierte sowie lokal gebundene und oft auch terminkritische Plattformarbeit ist nur schwierig ersetzbar im Gegensatz zur global verteilten Crowd. Die oft nur geringe Entlohnung und der häufig anzutreffende Nebenjobcharakter vieler Plattformjobs begrenzen die individuellen ökonomischen Konsequenzen kollektiver Aktionen. Doch darin liegt zugleich eine Hürde bezüglich der Nutzung des Primärmachtpotenzials. Viele der Plattformarbeitenden weisen nur eine geringe Identifikation mit dieser Arbeit auf und damit nur begrenztes Interesse, sich in Proteste einzubringen. Außerdem ist Plattformarbeit in der Regel von einer hohen Fluktuation der Arbeitskräfte geprägt, was nicht nur für die Plattformen,4 sondern auch für etwaige Organisierungsbemühungen der Arbeitenden eine Herausforderung darstellt. So geben 4
So hat die Vermittlungsplattform für Reinigungskräfte Book A Tiger aus diesem Grund die Marktgrenze erneut verschoben, indem den Arbeitenden anstatt der Selbstständigkeit eine Anstellung angeboten wurde. Eine Entwicklung, die auch bei Plattformen in den USA bereits zu beobachten war, z. B. Instacart, Munchery und Alfred.
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bspw. 86 % plattformvermittelter Essenskuriere in einer Umfrage diverse Anlässe für Streik oder Protest an (Heiland 2019a). Zugleich spiegelt dies bei Weitem nicht die tatsächliche Protestbeteiligung wider. Grund dafür ist, dass der Arbeitsprozess in der Regel keinen Kontakt unter den Plattformarbeitenden und deren individualisierter Tätigkeit vorsieht. Statt einer gemeinsamen Betriebsstätte gibt es entweder großflächige, urbane Räume oder nur digitale Substitute in Form von Foren und Chats, in denen sich die Arbeitenden austauschen können, aber nicht automatisch in Kontakt miteinander geraten (Heiland und Schaupp i.E.). Ergänzend werden viele der Arbeitenden von den Plattformen mittels der Bewertungen von Kunden oder den individuellen Arbeitsleistungen gezielt in Konkurrenz zueinander gesetzt, so dass etwaige kollektive Widerstände und Mitbestimmungsbestrebungen unterminiert werden (Graham et al. 2017; Heiland 2019b). Voraussetzung für Konkurrenz ist jedoch, dass das Interesse zu arbeiten das tatsächliche Arbeitsaufkommen übersteigt. Damit spielt die Marktmacht der einzelnen Akteure und die Konstitution des jeweils relevanten Arbeitsmarktes eine entscheidende Rolle. Insbesondere da die Plattformen mit der Ausgliederung der Arbeitskräfte keine Hoheit mehr über den Umfang der eingebrachten Arbeitszeit besitzen. Gegenwärtig weist Deutschland mit 79,2 % und die EUStaaten mit durchschnittlich 72,2 % laut der Eurostat Datenbank eine hohe Erwerbstätigenquote auf (Stand Juli 2018). Einer der zentralen Faktoren für diese Entwicklung ist die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, so dass von einer prekären Vollerwerbsgesellschaft die Rede ist (Brinkmann und Nachtwey 2014), in der die Arbeitenden hybride Erwerbsstrategien verfolgen (Bührmann et al. 2018). Infolge dessen bietet die Auflösung von Normalarbeitsverhältnissen und die zunehmende Inklusion von zuvor auf dem Arbeitsmarkt inaktiven Gruppen den Plattformen die Möglichkeit, flexibel auf einen ausreichend großen Pool an Arbeitskraft zurückgreifen zu können – was hinreichend als „Reservearmeemechanismus“ bekannt ist (Marx 1962, S. 664ff.). Auch hier greift die zuvor angesprochene Differenzierung zwischen den verschiedenen Formen der Plattformarbeit nach lokaler Bindung und Qualifikation. Denn in begrenzten lokalen Räumen steht nur das lokale Angebot an Arbeitskräften zur Verfügung und darüber hinaus unterliegt diese Art der Plattformarbeit oft starken zeitlichen Schwankungen (bspw. ist die Nachfrage nach Personenbeförderung abends und am Wochenende größer als morgens). Höhere Qualifikation ist auch auf Plattformen ein Distinktionskriterium. Gering qualifizierte Crowdworker hingegen stehen nicht nur in einer lokalen, sondern oft einer globalen Konkurrenz zueinander und sind damit besonders austauschbar. So übersteigt das Angebot an Arbeitskräften auf manchen der Plattformen mitunter die Nachfrage um das Zehnfache (Graham et al. 2017). Während die Sekundär-
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macht also reduziert ist, steigt zwar das Primärmachtpotenzial der Plattformarbeitenden, doch dessen kollektive Nutzung ist voraussetzungsreich. 7
Fazit
Das Design der Plattformen bestimmt das Design der Arbeitsbeziehungen. Dabei erscheint die neue Welt der Plattformarbeit im Lichte der longue durée weit weniger innovativ als propagiert. Abgesehen von digitaler Kommunikation und Koordination verdankt diese Art der Arbeit ihren disruptiven Charakter in erster Linie einer Marktgrenzverschiebung bzw. einer Rekommodifizierung. Im Rahmen dieser werden zuvor erkämpfte und etablierte Regulationsdispositive abgebaut und somit scheint eine Analogie zu frühkapitalistischer Verlagsarbeit treffender zu sein als zum fordistischen Normalarbeitsverhältnis. Damit einher geht eine Verschiebung der Machtstrukturen, die ebenso an frühkapitalistische Zeiten erinnert. So büßen die Arbeitenden ihre Organisationsmitgliedschaft ein und verlieren damit zugleich sekundäre Machtpotenziale wie Betriebsräte oder Schutzund Mitbestimmungsrechte im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes. Doch wie gezeigt, verfügen die Plattformen infolge der Verschiebung der Marktgrenze nur über mittelbare Kontrolle über die einzelnen Akteure. Sie schaffen mehrseitige Märkte. Die Herausforderung für die Plattformen ist es, deren verschiedene Marktseiten in Einklang miteinander zu bringen, um positive indirekte Netzwerkeffekte zu erzeugen und negative zu vermeiden. Außerdem koppeln sich die Plattformen mit der Marktgrenzenverschiebung bezüglich ihrer Versorgung mit Arbeitskräften eng an die Entwicklungen des Marktes und sind damit dessen Konstitution ausgesetzt. Zusammen mit der gestiegenen Interdependenz der verschiedenen Akteure auf mehrseitigen Märkten erhöhen sich die primären Handlungsmöglichkeiten der Arbeitenden. Mit kollektivem Handeln können sie unmittelbar die anderen Marktseiten und damit den Erfolg der Plattformen beeinflussen. Doch die erfolgreiche Nutzung dieser Primärmachtpotenziale ist voraussetzungsreich. Sie ist abhängig von der Marktmacht der Arbeitenden, sodass lokal gebundene sowie höher qualifizierte Plattformarbeit anfälliger für Arbeitsniederlegungen o. ä. ist als global verteilte Jedermannsarbeit. Außerdem ist die Möglichkeit zu Vernetzung und Austausch über gemeinsame Interessen der Arbeitenden eine zentrale Vorbedingung, die durch deren Konkurrenz untereinander unterminiert wird. Mit prekären und schlecht entlohnten Arbeitsbedingungen konfrontiert, wählen die Arbeitenden daher meist die Loyalität zur Plattform oder die Exit-Option, anstatt die eigenen Interessen kollektiv zu vertreten. Wie die strukturelle Analyse und auch erste Beispiele zeigen, ist Plattformarbeit nicht unorganisierbar, Primärmachtpotenzial ist vor-
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handen. Die Herausforderung liegt in dessen Aktivierung. Sekundärmachtpotenzial kann geschaffen werden. Im Zugzwang stehen damit insbesondere Gewerkschaften oder neue Formen der kollektiven Interessenvertretung. Literatur Baligh, H. H. und Richartz, L. E.. 1964. An Analysis of Vertical Market Structures. Management Science, 10 (4), 667-689. doi: 10.1287/mnsc.10.4.667. Beblavý, M., Maselli, I. und Martellucci, E. 2012. Workplace Innovation and Technological Change. CEPS Special Report. Brussel. Benkler, Y. 2006. The wealth of networks: How social production transforms markets and freedom. New Haven Conn.: Yale University Press. Berger, U. und Offe, C. 1984. Das Rationalisierungsdilemma der Angestelltenarbeit. In: Offe, C. (Hrsg.). Arbeitsgesellschaft: Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven. Frankfurt/Main: Campus, 271-290. Botsman, R. 2015. The changing rules of trust in the digital age. https://hbr.org/2015/10/thechanging-rules-of-trust-in-the-digital-age. (letzter Zugriff: 01.05.2019). Brinkmann, U. 2011. Die unsichtbare Faust des Marktes: Betriebliche Kontrolle und Koordination im Finanzmarktkapitalismus. Berlin: Ed. Sigma. Brinkmann, U. und Nachtwey, U. 2014. Prekäre Vollbeschäftigung als Zukunftsmodell? In: Schaal, G. S. (Hrsg.). Die Ökonomisierung der Politik in Deutschland: Eine vergleichende Politikfeldanalyse. Wiesbaden: Springer VS, 131-150. Brinkmann, U. und Seifert, M. 2001. „Face to Interface“: Zum Problem der Vertrauenskonstitution im Internet am Beispiel von elektronischen Auktionen. Zeitschrift für Soziologie, 30 (1), 23-47. doi: 10.1515/zfsoz-2001-0102. Bührmann, A. D., Fachinger, U. und Welskop-Deffaa, E. M. 2018. Hybride Erwerbsformen. Wiesbaden: Springer VS. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. 2015. Chancen der Digitalisierung nutzen. Positionspapier der BDA zur Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt. Caillaud, B. und Jullien, B. 2003. Chicken & Egg: Competition among Intermediation Service Providers. RAND Journal of Economics, 34 (2), 309-328. Chase, R. 2015. Peers Inc: How People and Platforms Are Inventing the Collaborative Economy and Reinventing Capitalism. New York: PublicAffairs. Coase, R. H. 1937. The Nature of the Firm. Economica, 4 (16), 386-405. doi: 10.2307/2626876. Cusumano, M. A. und Goeldi, A. 2013. New businesses and new business models. In: Dutton, W. H (Hrsg.). The Oxford handbook of internet studies. Oxford: Oxford Univ. Press, 239-261. Dolata, U. 2015. Volatile Monopole. Konzentration, Konkurrenz und Innovationsstrategien der Internetkonzerne. Berliner Journal für Soziologie, 24 (4), 505-529. doi: 10.1007/s11609-0140261-8. Dörre, K. und Brinkmann, U. 2005. Finanzmarkt-Kapitalismus: Triebkraft eines flexiblen Produktionsmodells? In: Windolf, P. (Hrsg.). Finanzmarkt-Kapitalismus: Analysen zum Wandel von Produktionsregimen. Wiesbaden: Springer VS, 58-84. Erickson, K. und Sørensen, I. 2016. Regulating the Sharing Economy: Introduction to the Special Issue. Internet Policy Review, 5 (2). Eurofound. 2015. New Forms of Employment. Luxembourg: Publications Office of the European Union.
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Kapitel III: Umgang mit technologischen Innovationen in der digitalisierten Arbeitswelt
Konkurrent oder Komplementär? Herausforderungen und Potenzial beim Einsatz von Enterprise Social Software im Kontext betrieblicher Mitbestimmung Hendrik Send und Shirley Ogolla Abstract In unserer qualitativen empirischen Studie untersuchen wir die Implikationen beim Einsatz von Enterprise Social Media im Kontext der betrieblichen Mitbestimmung in deutschen Betrieben und die damit verbundenen Herausforderungen für Betriebsräte, Unternehmensführung und Beschäftigte1. Wir haben hierzu sowohl Experten-Fokusgruppen-Interviews als auch eine Fallstudie in einem Unternehmen in Deutschland durchgeführt. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass Enterprise Social Media weder als konkurrent noch komplementär im Kontext der betrieblichen Mitbestimmung abschließend einzuordnen sind. Einerseits stellt die Transparenz der neuen Kommunikationswege eine Herausforderung für alle Beteiligten dar. Andererseits bieten soziale Medien durchaus Potenziale, auch für die Mitbestimmungsarbeit selbst. 1
Einleitung
Die Auswirkungen von sozialen Medien auf politisches Engagement und Partizipation in der Zivilgesellschaft ist im Bereich der Internetforschung bereits umfassend untersucht (Zepic et al. 2016). Die Relevanz des Themas ergibt sich aus dem breiten Einsatz solcher Werkzeuge. In der Arbeitswelt haben soziale Medien in den letzten Jahren, insbesondere für die innerbetriebliche Nutzung, zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen. Im Rahmen der Digitalisierung des Arbeitsplatzes führen zahlreiche Unternehmen digitale Plattformen ein, die auch die Beteiligung der Belegschaft stärken sollen. In unserer Studie widmen wir uns Enterprise Social Software (ESS), digitale Plattformen, die für interne Zwecke in
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Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_9
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Unternehmen genutzt werden (Wehner et al. 2017). IBM Connections, Microsoft Yammer, Confluence, Jive oder Slack sind nur einige Beispiele dafür. Es gibt gute Argumente für den Einsatz von ESS für die interne Unternehmenskommunikation und Zusammenarbeit (Herzog und Steinhuser 2016; Kuegler et al. 2015; Van Osch und Steinfield 2016). Solche kollaborativen Kommunikationstechnologien können selbstorganisierte Kommunikation, bessere Zusammenarbeit und leichteren Zugriff auf Informationen unterstützen und damit zum Abbau hierarchischer Strukturen von Informationsflüssen beitragen. Durch eine Art Demokratisierung des Zuganges zu Informationen, Wissen und den Einbezug der Mitarbeitenden in Entscheidungsprozessen können wiederum Motivation, Produktivität wie auch Zufriedenheit der Belegschaft steigen (Leonardi 2007). Gemeint ist, dass einzelne Nutzende zunehmend in der Lage sind, sich selbst Informationen und Wissen anzueignen. Eine Argumentation lautet, dass auf diese Weise mehr Mitarbeitende Wissen erzeugen, teilen und austauschen, sodass die Effizienz von Geschäftsprozessen insgesamt steigt (Panian 2011). An diese Argumentation schließen sich auch die Anbieter von ESS an. Der Softwarehersteller Jive verspricht beispielsweise glücklichere, motiviertere Mitarbeitende, in dem er mit seiner Anwendung die Belegschaft „empowered” (Jive 2018, para. 5) und die Mitarbeitenden vereint. Das Konzept des Empowerment erklärt im ursprünglichen Sinne einen Zusammenhang zwischen individuellem Handlungsfreiraum beziehungsweise dem Zuwachs an individueller Handlungsfähigkeit und sozialer und politischer Umwelt und ist seit den 1970er Jahren auch Gegenstand der Organisationsforschung (Kanter 1977; Wilkinson, 1998), unter anderem im Kontext von Kommunikationsplattformen (Füller et al. 2009). Bislang existieren wenige Studien, die auf potenzielle, negative Folgen des Einsatzes von ESS wie beispielsweise die Verstärkung von Informationsasymmetrien (Leonardi 2007) hinweisen. Zusammengefasst ermöglicht die Einführung von ESS neue partizipative Prozesse. Neben diesen Möglichkeiten ergeben sich aus der Nutzung von ESS auch einige Herausforderungen. Denn die Anwendungen ermöglichen nicht nur partizipativere Kommunikation zwischen den Beschäftigten, sondern erweitern gleichzeitig beispielsweise das Instrumentarium der Informationskontrolle und -steuerung durch den Arbeitgeber. Diese Entwicklung veranlasst beispielsweise die deutschen Betriebsräte, den Einsatz von ESS zu hinterfragen, insbesondere dann, wenn die Privatsphäre und der Datenschutz der Beschäftigten von dem Einsatz eines technischen Tools betroffen sein sollten. Schmidt (2013) beschreibt es als Partizipationsparadox, dass die Plattformen der sozialen Medien zwar einerseits auf der Ebene der diskutierten Inhalte Partizipation an der Diskussion zu vielen Themen erheblich vereinfachen, andererseits aber gleichzeitig die Gestaltung des grundsätzlichen Funktionsprinzips der Plattformen undemokratisch
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bleibt. Die Möglichkeiten zur Auswertung oder Platzierung von Inhalten sind den Anbietern vorbehalten und entziehen sich, teilweise auch als Betriebsgeheimnis, vertieften Analysen oder gar Partizipation. Daher ergibt sich für die Bewertung digitaler Instrumente durch Betriebsräte eine Informationsasymmetrie, unabhängig von der technischen Expertise, zum Nachteil der Betriebsratsmitglieder, und damit ein Hindernis für die nachhaltige Beurteilung und Implementierung von ESS. 2
Theoretischer Bezug
Die erste breite Beachtung für ESS hat McAfee (2006) noch unter dem Titel Enterprise 2.0 in seinem frühen Definitionsansatz für soziale Medien in der unternehmensinternen Nutzung gefunden: „Enterprise 2.0 is the use of emergent social software platforms within companies, or between companies and their partners or customers“. Leonardi et al. (2013) haben diese in einer in der Literatur vielfach genutzten Definition von ESS verfeinert, auf die auch wir uns in diesem Beitrag beziehen. Danach sind ESS webbasierte Plattformen, die es den Mitarbeitenden ermöglichen, (1) Nachrichten mit spezifischen Mitarbeitenden auszutauschen und an alle in einem Unternehmen zu senden, (2) bestimmte Mitarbeitende als Kommunikationspartner explizit anzugeben oder implizit offenzulegen, (3) Texte und Dateien zu posten, zu bearbeiten und zu sortieren und mit sich selbst oder Mitarbeitenden zu verknüpfen, und (4) die kommunizierten Nachrichten, Verbindungen, Texte und Nachrichten von jedem anderen im Unternehmen zu jeder Zeit anzusehen. Den Kern der ESS-Anwendungen machen Wikis, Soziale Netzwerke, Blogs und Microblogs aus (Kuegler et al. 2015; Schütt 2013; Treem und Leonardi, 2012). Andere Funktionen wie Chats sehen einige Autoren ebenfalls als ESSAnwendung (Anders 2016; Anderson 2016), während beispielsweise Treem und Leonardi (2012) Chatfunktionen explizit wie auch E-Mail nicht als ESS-Anwendung einschätzen. 2.1
ESS als Werkzeug des Wissensmanagements
Wissensmanagement hat die Aufgabe, als „Strategie, das richtige Wissen zum richtigen Zeitpunkt an die richtigen Leute zu bringen“ (OʼDell und Grayson 1998, S. 2). Besondere Aufmerksamkeit bekommt ESS daher aus der Forschung zu Wissensmanagement. Die Gesellschaft für Wissensmanagement (Dornis et al., 2011, S. 5) zeigt in einem Positionspapier die derzeit zentrale Bedeutung von sozialen Medien für das Wissensmanagement auf und definiert, dass ein „Enter-
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prise 2.0 […] eine Lernende Organisation [ist], die ihre Ziele durch lernförderliche Handlungsmuster und den Einsatz von sozialen Medien […] erreicht.“ Informations- und Kommunikationstechnologie insgesamt ermöglicht Benutzenden, trotz organisatorischer oder geografischer Distanz Informationen auszutauschen. Der Zusammenhang zwischen Geschlecht, Alter und Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologie sowie der Bedarf nach digitaler Inklusion der älteren Generation ist Gegenstand zahlreicher Studien (Venkatesh und Morris 2000; Broos 2005, Selwyn 2004; Lam und Lee 2006). In der aktuellen Wissensgesellschaft haben wir es mit zunehmend komplexen Aufgaben zu tun und arbeiten in immer stärker global vernetzten Strukturen zusammen. Die Bedeutsamkeit einer Technologie, die es Mitarbeitern ermöglicht, selbstständig wichtige Informationen zu identifizieren, zu bewerten, zu nutzen und auszutauschen, steigt dabei mit der globalen Vernetzung und der Komplexität der Aufgaben (Schütt 2013). Die zentrale Bedeutsamkeit von Informationstechnologie im Kontext der Wissensarbeit und des Wissensmanagements verdeutlicht auch Leonardi (2007), der argumentiert, dass Unternehmen informationsverarbeitende Entitäten sind, deren soziale Struktur sich aus dem Bedarf zur Informationsverarbeitung ergibt. Je besser ein Unternehmen in der Lage ist, wichtige Informationen zu identifizieren, aufzunehmen, zu verarbeiten und in Produkte und Dienstleistungen zu übersetzen, desto erfolgreicher ist ein Unternehmen. Innerhalb des Unternehmens zeigt Leonardi (ebd.), dass die Machtposition von Mitarbeitenden und der Zugang zu und Zugriff auf Informationen eng zusammenhängen. Nicht nur formale Machtpositionen zeichnen sich durch besseren Zugriff auf wichtige Informationen aus, auch informelle Macht ist zum Beispiel ablesbar daran, wie wertvoll das Wissen einer Person für andere ist. 2.2
Nutzen und Wirkung von ESS
Das Produktivitätsparadoxon beschreibt, dass Investitionen in IT-Systeme insgesamt nicht notwendigerweise Produktivitätssteigerungen oder unternehmerischen Wert erzeugen (Brynjolfsson et al. 2015). Die tatsächliche Wirksamkeit oder positive Auswirkung der organisationalen Nutzung von ESS auf Erfolgsgrößen wie laterale Kommunikation, Vernetzung der Mitarbeitenden, Innovationsraten und -fähigkeit oder Steigerung von Prozesseffizienz ist nicht einfach von anderen Effekten zu isolieren und der Beweis der Wirksamkeit steht größtenteils noch aus (Dittes und Smolnik 2016; Herzog und Steinhuser 2016; Kane et al. 2014). Damit ESS überhaupt einen Nutzen entfalten können, müssen Unternehmen ESS erstens für geeignete Aufgaben einsetzen und zweitens müssen die Mitarbeitenden die Systeme aktiv nutzen (Kim und Malhotra 2005). Nicht nur bei Kommunikationstechnologie liegt es nahe, dass die Funktionalität einer Anwen-
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dung zu den Anforderungen einer Aufgabe passen muss, damit die Nutzenden die Technologie als nützlich wahrnehmen und sich ein organisationaler Nutzen wie Effizienzsteigerung entfalten kann (Goodhue und Thompson 1995). So ist ein E-Mail-System wohl geeignet, gezielte Nachrichten an Einzelpersonen und Gruppen zu senden, nicht aber um die Ablage umfangreicher Dokumente zu verwalten. Zudem beruht die Nutzung von ESS in besonderem Maße auf Selbstorganisation und freiwilliger Beteiligung. Beispielsweise die Nutzung von EnterpriseResource-Planning-Systemen ist für die mit ihnen zusammenhängenden Aufgaben praktisch unausweichlich, kaum ein Mitarbeiter ist aber gezwungen, Wissen zu recherchieren, Ideen auszutauschen oder Verbindungen mit anderen herzustellen. Damit ist der Erfolg der ESS stark vom Interesse und von der Motivation der Mitarbeitenden abhängig. Richter et al. (2013) versuchen den Erfolg von ESS basierend auf dem Information Systems Success Modell (Delone und McLean 2003) zu beschreiben. Sie unterscheiden die direkte Nutzung des ESS, die sich in konkreten Nutzeraktivitäten wie Suche, Bearbeitung oder Bewertung von Inhalten ausdrückt, und den sich aus der direkten Nutzung ergebenden Wert, der sich in kürzerer Suchzeit für Informationen, besserer Qualität von Inhalten oder höherer Nutzerzufriedenheit ausdrückt. In einer Studie mit gut 500 Nutzenden in einem Medienunternehmen konnten Kuegler et al. (2015) zeigen, dass hier die Nutzung von ESS im Team und zur Kommunikation zwischen Teams einen signifikanten, positiven Einfluss auf die Arbeitsleistung und die Innovativität der Befragten hatte. Kuegler et al. (ebd.) haben in dieser Studie die Innovativität der Befragten aufbauend auf Janssen und Van Yperen (2004) operationalisiert als die Fähigkeit von Mitarbeitenden, im Rahmen ihrer Arbeitsaufgabe innovative Ideen zu erzeugen, zu kommunizieren oder zu realisieren. Zusammenfassend gibt die Literatur Hinweise darauf, dass die Nutzung von ESS einen Beitrag dazu leisten kann, dass sich Beschäftigte im Unternehmen einbringen können. 3
Partizipation
Der Begriff Partizipation beschreibt die Teilhabe und das Mitwirken an Entscheidungsprozessen. Er findet dabei in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Beachtung und kann stärkere oder schwächere Mitwirkung durch unterschiedliche Gruppen betreffen. Im Rahmen dieser Arbeit ist die intraorganisationale Partizipation relevant. Wegge et al. (2010) unterscheiden in Organisationen zwischen drei Ebenen der Partizipation: organisationale Demokratie; organisationale
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Partizipation; geteilte Führung in Teams. Unter organisationaler Demokratie werden hier Arbeitskontexte verstanden, die durch institutionalisierte Beschäftigten-Beteiligung gekennzeichnet sind, wie beispielsweise mitarbeitergeführte Unternehmen; die organisationale Partizipation wiederum umfasst aus Sicht der Autoren den Prozess der Einflussausübung zwischen den Vorgesetzten und den Mitarbeitenden bei der Entscheidungsfindung, darunter auch die Institution der Betriebsräte; und die geteilte Führung fokussiert auf gruppenbezogene Prozesse der Einfluss- und Machtteilung zwischen den Gruppenmitgliedern (Hartz et al. 2019). Beschäftigtenpartizipation kann viele Beteiligungsformen (faktisch, informell, nicht-institutionalisiert) meinen, Mitbestimmung hingegen nur die Institutionalisierung demokratischer Beteiligungsstrukturen der Beschäftigten und ihrer gewählten Vertreter in Personal- und Betriebsräten (Friedrichsmeier und Wannöffel 2010). Wilkinson et al. (2010) übertragen das Konzept der Stufen der Partizipation auf die Arbeit von Betriebsräten (Information, Kommunikation, Beratung, Mitbestimmung, Kontrolle durch Arbeitnehmer). Die niedrigste Partizipationsstufe Information steht für die Offenlegung von Geschäftsdaten gegenüber den Beschäftigten, seien es strategische Angelegenheiten oder auch die Arbeitsstätte betreffende Informationen. Der mittlere Bereich Beratung meint in diesem Zusammenhang etwa den Gedankenaustausch zwischen Beschäftigten und Management, während die finale Entscheidungskompetenz weiterhin der Führungsebene zukommt. Insofern sei wichtig, auch Prozesse informeller Partizipation zu beachten – sowohl zwischen Managern und Angestellten als auch innerhalb einer Abteilung. Eine tatsächliche Mitbestimmung und letztlich die Kontrolle des Unternehmens durch die Beschäftigten bilden die höchsten Stufen dieser Abfolge (Wilkinson et al. 2010; Hartz et al. 2019). Ein zentrales Organ der Mitbestimmung ist dabei der Betriebsrat, welcher der Interessenvertretung der Beschäftigten in nicht-leitenden Positionen dient. Veränderte Bedürfnisse der Belegschaft, im Kontext von Flexibilisierung und Automatisierung der Arbeit, fordern Unternehmen heraus, ihre Arbeitsprozesse anzupassen (Frey und Osborne 2015; Bonin et al. 2015). Die Innovationsforschung behandelt partizipative Organisationskulturen als Wettbewerbsfaktor im Kontext von Digitalisierung, welche einen hohen Innovationsgrad aufweisen und den Erhalt von Fachkräften unterstützen (Von Hippel 2005). Beschäftigte sind dabei eingeladen, sich entsprechend an den Veränderungsprozessen einer Organisation direkt zu beteiligen und sich über Softwarelösungen zu organisieren (Chesbrough et al. 2006; Dahlander und Gann 2010; Prpić et al. 2015). Studien aus unterschiedlichen Forschungsdisziplinen identifizieren positive Effekte von Partizipation am Arbeitsplatz. Dazu zählen etwa ein nachhaltigeres Lernen, sowie die Steigerung von Motivation, Zufriedenheit, Commitment und Selbst-
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wirksamkeit (Wegge et al. 2010). Diese Effekte treten regelmäßig zusammen mit gesteigerter Effektivität und Effizienz in verschiedenen Arbeitsbereichen des Unternehmens auf (Harrison und Freeman 2004). Schneckenberg (2009) und Koch (2008) heben hervor, dass sich durch einen bottom-up-Ansatz Ressourcen mobilisieren lassen, die Individuen einen besseren Zugriff auf Informationen, Unterstützung und Mittel zum autonomen Handeln verschaffen. Sie sehen in digitalen Plattformen somit Möglichkeiten des Empowerments von Mitarbeitenden. Partizipation findet in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen auf unterschiedliche Weisen Beachtung. Zusammenfassend zeigt sich, dass vor allem im Kontext von Kommunikationstechnologien und Beschäftigten-Teilhabe hier noch Forschungsbedarf besteht. 3.1
Unintendierte Konsequenzen von Kommunikationstechnologie
Neue Technologien werden mit einer klaren Idee davon konstruiert, wie die Anwendenden sie nutzen sollen. Eine zentrale Erkenntnis der Managementforschung aber ist, dass die Bandbreite und Weiterentwicklung von Kontexten in Organisationen, die eine Technologie einsetzen, und das Verhalten der Nutzenden bei der Einführung und Exploration der Technologie komplex und unvorhersehbar sind (Griffith und Griffith 2009). Dies kann einerseits bedeuten, dass eine Technologie daran scheitern kann, dass Nutzende keine Motivation zu einer ausreichenden Nutzung haben. Andererseits können Nutzende sich auch entscheiden, im Kontext einer neuen Technologie völlig andere, als die geplanten Verhaltensweisen zu zeigen. Ein klassisches Beispiel für eine solche unintendierte Konsequenz ist die Nutzung von mehr anstatt weniger Papier nach der Einführung einer neuen Informationstechnologie, weil Mitarbeitende wichtige Informationen in dem neuen System nicht speichern können oder wollen (Whitworth und Zaic 2003). Die Wissenschaft spricht daher bei Kommunikationstechnologie von einem soziotechnischen System (Ulich 2013), für dessen Funktion einerseits soziale Praktiken und Nutzung nötig sind und andererseits eine stabile technologische Basis, die die Nutzung unterstützt. Vor diesem Hintergrund ist die Einführung von Informationssystemen, wie Baghizadeh et al. (2019) in einem Literaturreview zu dem Thema feststellen, notorisch problematisch. Aktiver Widerstand von Mitarbeitenden gegen eine Kommunikationstechnologie kann dabei den positiven Effekt haben, auf existierende Probleme der Technologie hinzuweisen und somit Ansatzpunkte für Veränderungen geben (Rivard und Lapointe 2012). Konformer Widerstand liegt vor (Englisch: compliant resistance), wenn Nutzende widerwillig oder resigniert eine Technologie nutzen. Die Abweichung von den für die Nutzung vorgegebenen Regeln hinge-
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gen diskutiert die Wissenschaft als Umgehungslösung (Englisch: workaround), die im negativen Sinn Widerstand kaschieren oder mit positiver Intention Probleme der Kommunikationstechnologie interimsweise überbrücken könnte (Alter 2014). Zusammenfassend zeigt die Forschung, dass wir bei der Einführung neuer Kommunikationstechnologie im Unternehmen, insbesondere wenn diese komplett neue Handlungsmuster mit sich bringt, mit Herausforderungen und Widerständen rechnen müssen. Die Kenntnis der Widerstände kann in der Folge zu einer Verbesserung des Einsatzes einer bis dahin unzulänglichen Technologie beitragen. 3.2
Forschungslücke: ESS für Partizipation
Die vorhandene Literatur zeigt die Möglichkeiten von ESS für Partizipation, die Bedeutung von Partizipation für die Mitbestimmung im Unternehmen und die Bandbreite von Verhalten, die Mitarbeitende in einem ESS zeigen können. ESS können Partizipation im Unternehmen unterstützen und damit für Betriebsräte ein produktives Werkzeug sein, wenn sie entsprechend angenommen werden. Eine zentrale Forschungslücke in diesem Feld liegt daher in der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Mitbestimmung durch Betriebsräte und neuen Formen der Partizipation durch ESS-Plattformen: Wie nehmen Interessensgruppen im Unternehmen ESS im Kontext partizipativer Kommunikationskulturen wahr? Welche Chancen und Herausforderungen bieten ESS für die Partizipation im Unternehmen und welche Handlungsoptionen entstehen für Betriebsräte? 4
Methodik
Methodisch geleitet ist unsere Forschungsarbeit durch ein empirisch qualitatives Forschungsdesign. Um verschiedene Aspekte von ESS aufzuzeigen, haben wir Experten-Interviews durchgeführt und die daraus resultierenden Ergebnisse in einem zweiten Schritt in einer vertiefenden Fallstudie mit Einzelinterviews validiert. Im Zentrum des qualitativen Forschungsprozesses steht unser Interesse, die Zielgruppe selbst umfangreich zu Wort kommen zu lassen. Diaz-Bone und Weischer (2014, S. 32) betonen hier: „die gewonnenen Daten zeichnen sich dadurch aus, dass ganz unterschiedliche soziale Phänomene aus der Perspektive der Befragten beleuchtet werden.“ Grundlegende Annahme ist hierbei, dass Menschen als Experten ihrer selbst agieren. Damit ermöglichen sie einen Zugang zu Informationen, der Raum für Hypothesen und vertiefende Betrachtungen schafft. Ziel
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ist es, aus dem Material heraus Hypothesen über den Einsatz von ESS zu erarbeiten, die anschließend für vertiefende Analysen dienen können (Hartley 2004). Anhand von Befragungen in Form von Experten-Interviews über die Einführung und Integration von ESS in Organisationen in Deutschland bilden wir die aktuellen Versprechen und Herausforderungen der Implementierung ab. Im Rahmen eines zweitägigen Symposiums „Partizipation auf digitalen Plattformen gestalten“ haben wir Gruppendiskussionen mit den Experten in insgesamt sieben Fokusgruppen-Interviews durchgeführt. Als Experten haben wir Stakeholder aus Industrie, Politik, Beratung, Dienstleistung und Interessenvertretung gewählt. Die Ergebnisse aus den Experten-Interviews haben uns dabei als Grundlage für das Design unseres semi-strukturierten Interviewleitfadens in der Fallstudie gedient. Wir haben die Fallstudie in einem mittelständischen Unternehmen durchgeführt. Die gewählte ESS in der vertiefenden Fallstudie basiert auf der Confluence Wiki-Software von Atlassian. Das Unternehmen beschäftigt circa 200 Mitarbeitende und ist als geführtes Familienunternehmen in mehrere unterschiedliche Teilgesellschaften gegliedert. Seinen Hauptsitz hat es in Süddeutschland sowie weitere Niederlassungen in China und der Schweiz. Zum Kerngeschäft zählen die Planung und Realisierung von diversen Investitionsgütern weltweit. Die Dienstleistungen des Unternehmens sind breit gefächert und beinhalten unter anderem Anlagenbau, Prozesstechnik und Beratung. Wir haben mit unterschiedlichen Mitarbeitenden aus Geschäftsleitung, Projektmanagement, Einkauf, Solution Support, Beschäftigtenvertretung und Unternehmenskommunikation gesprochen. Die Fallstudie diente dazu, eine Analyse des Kontextes und der Prozesse zu liefern, die die zu untersuchenden theoretischen Fragen beleuchten (Yin 2009; Hartley 2004). Wir haben die Daten aus den Interviews in MaxQDA übertragen und kodiert. In der ersten Codierungsphase haben wir das Material explorativ codiert, um ein Codebuch zu erstellen (Saldana 2009). Anschließend haben wir alle Codes überprüft und zu einer hierarchischen Strukturliste von Codes und Subcodes zusammengeführt. Insgesamt haben vier Forschende die Transkripte unabhängig voneinander kodiert. In der zweiten Phase der Mustercodierung (Miles und Hubermann 2014) haben wir aus dem Material und den Codes der ersten Phase Themen und Konzepte extrahiert. Unsere Datenanalyse und -interpretation basiert auf der Inhaltsanalyse nach Mayring (2010). 5
Ergebnisse
Durch die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (ebd.) haben wir die Texte analysiert und in gesonderte Kategorien zusammengefasst. Dabei haben wir
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wiederholt eine Überarbeitung der Kategorien vorgenommen. Hierbei kommen induktive, direkt aus dem Text gewonnene Kategorien und deduktive, welche a priori gebildet werden, innerhalb der Kategorienbildung vor. Dies ermöglicht uns, auf Grundlage des Kategoriensystems weiterführende Analysen und Aussagen zu treffen. Des Weiteren werden die Textinterpretation und damit die Beantwortung der Fragestellung auf der Grundlage des Kategoriensystems ausgeführt. Somit determiniert die Kategorie die Textanalyse (Lamnek 2005). Mayring (2010) geht dabei davon aus, dass hier vor allem Validität und Reliabilität eine übergeordnete Rolle spielen sollen. Die Kategorien in der ersten Erhebungsphase von den Experten-Interviews sind in Tabelle 1 beispielhaft aufgeführt. In der zweiten Erhebungsphase haben wir folgende Kategorien kodiert: Unternehmensführung; Arbeitsabläufe; Kompetenzen; Organisationskultur; Kommunikationskultur; Transparenz online; Transparenz offline; Herausforderungen; Anreize; Mitgestaltung; Entscheidungsmacht; Gremium. Wir haben die Interviewten nach ihrer Wahrnehmung bezüglich der Anreizmechanismen, Wirkung und Nutzen der ESS als auch nach dem Einfluss auf Partizipationspraktiken im Unternehmen befragt. Zunächst haben wir die Fragen nach dem Prozess der Einführung der ESS gestellt, mit welchem Ziel und auf wessen Initiative hin, das Unternehmen die Software eingeführt hatte. Wir haben zudem die Wege der Kommunikation und Zusammenarbeit in der ESS erfragt und inwieweit in diesem Kontext Herausforderungen und Chancen für Betriebsrat, Unternehmensleitung und Mitarbeitende entstehen. Unsere Analyse ergab, dass die Erfahrungen der Befragten beim Einsatz von ESS ein homogenes Bild ergeben. Für die Befragten war die Transparenz zur Prozessoptimierung eines der zentralen Anreizmechanismen, ESS einzusetzen. Die gewählten ESS fördern die Produktivität und Effizienz der Nutzenden, indem sie Informationswege verschlanken, diese ort- und zeitunabhängig machen und Arbeitsprozesse prinzipiell entlasten. Vor allem die Möglichkeit, sich auf der ESS sozial zu vernetzen, war und ist eine Bereicherung. „Das hat schon viel Einfluss auf mein tägliches Arbeiten, [...] weil ich einfach die Möglichkeit habe, relativ schnell mir einen Überblick über gewisse Projekte zu schaffen und dadurch relativ schnell erste Schritte einleiten zu können.“ (FallstudienTeilnehmer: Projektleitung) „Für uns ist wichtig, dass Mitarbeiter mitgestalten. Und zwar nicht nur im Sinne, wir fragen mal jeden, ob sie zufrieden sind, sondern jeder Beitrag ist wichtig. Es kommen Idee mit auf, Ansätze, ohne die würden wir uns nicht so schnell weiterentwickeln, wie das heute vielleicht auch schon gelingt.“ (Fallstudien-Teilnehmer: Geschäftsführung)
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Tabelle 1: Auszug der Kategorien Erhebungsphase I Kategorie Benutzerfreundlichkeit
Beschreibung Angebot der Plattform gegenüber den Bedürfnissen der Nutzenden, Dateipfade, Unübersichtlichkeit, Login, Funktionen
Kompetenzen
Kompetenz Nutzende gegenüber Plattform, hard skills, soft skills, Lebenslanges Lernen, Medienkompetenz, (un)intendierte Konsequenzen Fehler-Kultur, Digital Nativeness, Erkundungsgrade, Safe Space, Verantwortung
Organisationskultur
Hierarchien
Machtverhältnisse, Informationsasymmetrien (In)formelle Strukturen
Betriebsabläufe
Workflows, Grade zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung
Vulnerabilität
Verwundbarkeit gegenüber Anderen (verschiedene Levels, individuell oder BR-Ebene), Misstrauen, Ideenklau, Fehler eingestehen, abgesicherte Kommunikation (Un)freiwiliige Teilnahme, Anreize zur Partizipation
Anreizmechanismen für Nutzende
Text „Jemand, der überhaupt kein Facebook zuhause nutzt und so weiter, müsste wahrscheinlich einen ziemlich intensiven und nicht nur einen kurzen Einsteiger, per Webkurs sozusagen.“ „viel Angst und Unsicherheit, teilweise durch mangelndes technisches Verständnis.“ „dann wird ganz viel im Flur geredet und jeder bringt sich irgendwie ein, aber niemand traut sich mehr, da wirklich seinen Namen drunter zu schreiben.“ „Thema informelle Machtstrukturen, wer das Sagen hat, schreibt einen Beitrag – dann ist es auf einmal Gesetz.“ „Die Leute an der Hotline, die 3 Großmonitore vor sich haben, haben Komplettzugriff auf das Intranet die ganze Zeit, stehen aber unter harten Beobachtungsvorgaben.“ „Auf Führungsebene besteht die Angst, dass Konfliktlinien aufbrechen, die vorher unsichtbar waren!“ „Die Umstellung des Systems erfordert auch die Weiterentwicklung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.”, “Wir reden alle sehr viel, den ganzen Tag, eigentlich quatschen wir alle nur (lacht), da ist das Gefühl, dass man so eine Plattform braucht eher nicht so groß.“
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Kategorie Intention bei der Implementierung
Beschreibung Wissensmanagement, Prozessoptimierung
Transparenz
Legitimation von Entscheidungen, Sichtbarkeit
Text „Klar, Angst vor Erneuerung, Druck der Erwartung der aktiven Teilnahme, wenn man eigentlich nicht interessiert ist.“ „Kontrollverlust, weil ja nicht prognostizierbar ist, was tatsächlich passiert auf der Plattform.“
Als Herausforderung nennen die Befragten das Überforderungspotenzial durch ESS. Aufgrund mangelnder digitaler Kompetenzen und unzureichenden Kapazitäten ist die Teilhabe an der ESS erschwert. „Es wird aber zunehmend Grundvoraussetzung. [...] Weil ich kann ja nicht nachweisen: Ich hab nen Facebook-Führerschein. Der Arbeitgeber ruft einen Skill ab und nutzt ihn für sich und seine Profitmaximierung, der kein Bestandteil des Job-Profils ist.“ (Fokusgruppen-Teilnehmerin: Mitarbeiterin)
Den Nutzenden fehlt es an Hard und Soft Skills, um ausreichend Beiträge auf der ESS zu veröffentlichen. Zu Beginn ist das Partizipieren diffus, da die Unternehmensführung nicht klar kommuniziert, mit welchem Ziel sie die ESS einführte, demnach bevorzugen Teile der Belegschaft direkte analoge Kommunikationswege. Die Unsicherheiten über die Ziele der ESS wecken bei einigen der Befragten auch ein Gefühl des Ausgesetztseins auf der ESS. Mitarbeitende fürchten sich vor potenzieller Überwachung. Nutzende befürchten die Verschriftlichung und automatische Protokollierung von Kommunikation besonders dann, wenn sie vermuten, dass Führungspersonal diese Protokolle gegen sie einsetzen könnten. Mitbestimmungsakteure und Geschäftsleitung befürchten ihrerseits zudem einen Kontrollverlust von vulnerablen Informationen durch die erhöhte Sichtbarkeit und Transparenz auf der ESS. „Wir erleben Resistenz seitens der Beschäftigten. Wir machen aber auch die Erfahrung, wenn den Menschen klar wird, in welche Richtung das Unternehmen sich entwickelt, wie ungefähr ihre Tätigkeiten aussehen könnten, dann wächst auch die Bereitschaft [zu partizipieren auf der ESS].“ (Fokusgruppen-Teilnehmerin: Gewerkschaft)
Zur Aneignung der digitalen Kompetenzen fehlt es den Mitarbeitenden an technischem Zugang und an Zeit- und Lernräumen, um die ESS zu erkunden. Das Mitwirken an ESS mündet bei einigen Teilen der Belegschaft daher in konkrete Mehrarbeit, da die ohnehin schon engen Arbeitsabläufe nun zu dokumentieren und für andere verständlich aufzubereiten sind. Die Befragten berichten von
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einem hohen Frustrations-Potenzial für die Nutzenden, die ohnehin schon mehrere Software-System in ihrem herkömmlichen Arbeitsalltag gleichzeitig bedienen: „Die Digitalisierung [...] treibt einige Kolleginnen und Kollegen in Verzweiflung und wir reden von Menschen, die seit 20 Jahren ihren Job machen, die sich auf Word eingelassen haben, die diese Umstellung gemacht haben, die vom Schreiben auf der Schreibmaschine hinzu Office 365 alles schon mitgemacht haben.“ (FokusgruppenTeilnehmer: Betriebsrat)
Zudem decken die eingeführten ESS nicht konsequent die Bedürfnisse der Nutzenden ab. Häufig mangelt es an Funktionen, die die Arbeitsprozesse entlasten könnten, da die Unternehmensführungen dazu tendieren, die Software von Fremdanbietern einzukaufen und nicht bedarfsorientiert intern zu entwickeln. Um ihre Bedürfnisse abzudecken, greifen Mitarbeitende auf Software von externen Freeware-Anbietern wie Google, Facebook zurück, sogenannte Schatten-IT, die nicht von der Unternehmensführung autorisiert wurde. In der Realität arbeiten die Nutzenden auf mehreren Software-Systemen parallel und pflegen dieselben Daten mehrfach in die Systeme ein. Die Hierarchiestufen in einem Unternehmen, die formell oder informell organisiert seien können, fließen online in die Interaktion ein. Eine gleichrangige Kommunikation kann dadurch verhindert sein. ESS ermöglichen einer breiten Belegschaft, unabhängig von ihrem Hierarchiegrad, auf Informationen zuzugreifen. Diese Demokratisierungseffekt auf den Erwerb von Wissen mag vielversprechend erscheinen, jedoch stellen wir in unseren Interviews fest, dass sich einige Teile der Belegschaft entgegen der Versprechen von ESS nicht empowered fühlen. Diese Teile der Belegschaft partizipieren demnach gar nicht oder zögerlich, während andere, die bereits eine erhöhte Sichtbarkeit im Unternehmen innehaben, noch mehr Raum erhalten. Die Interviewten berichten, dass ESSNutzende auf den hohen Hierarchiestufen aktiver Beiträge verfassen als die Mitarbeitenden auf niedrigen Hierarchiestufen. Diese können ihre Medienkompetenzen ausbauen, womit diejenigen, die dazu keine Gelegenheit haben, vergleichsweise immer weniger kompetent sind. Nicht alle Mitarbeitenden können durch Herumprobieren schnell die Fähigkeit erwerben, Wissen umfassend und ansprechend für andere zu teilen. Darüber hinaus erlaubt nicht jede Arbeitsstelle den Zugriff auf ESS, z. B. wenn Mitarbeitende keinen Computer oder mobiles Endgerät haben. So können teilweise ESS formal oder informell die Vorteile machtvoller Positionen im Unternehmen kommunikativ noch weiter stärken. Dies kann dann problematisch sein, wenn der Wissensaustausch wiederum formale und informelle soziale Strukturen innerhalb von Organisationen beeinflusst.
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„[Es wird] einfach nur greifbar [...], was informell alles an Hierarchien, an Beziehungsgeflecht, in einer Organisation eh schon da ist, was niemand ausspricht, was irgendwie implizit ist.“ (Fokusgruppen-Teilnehmerin: Beratung)
Eine bereits bestehende partizipative Organisationskultur benennen die Befragten als einen besonders entscheidenden Faktor für den erfolgreichen Einsatz von ESS. „Um wirklich alles Potenzial zu heben, was man mit so einer Partizipationsplattform anstrebt, ist eine gewisse Kultur Voraussetzung. Gleichzeitig können wir aber natürlich auch Technologien, Plattformen und Systeme nutzen, um einen Kulturwandel anzustecken und irgendwie versuchen, Dinge anders zu denken und Mitarbeitern das Vertrauen zu geben ‚wir wollen deine Stimme hören’, wenn ihr euch alle einbringt, werden auch Dinge auf den Tisch gebracht, die euch wichtig sind. Ich glaube, das bedingt sich gegenseitig.“ (Fokusgruppen-Teilnehmerin: Beratung)
Für den Einsatz von ESS für die Mitbestimmungsarbeit sehen die interviewten Personen einige Chancen: Informationen, Dokumente und Diskussionen sind jederzeit kommentierbar, archivierbar und teilbar. „Ganz klar und praktisch zum Einsatz von ESS für den Betriebsrat ist die kurze Rückfrage. Also einen Feedback-Kanal zu haben, an die Beschäftigten direkt, und zu sagen, wir stehen vor dieser Entscheidung, was haltet ihr denn davon?“ (FokusgruppenTeilnehmerin: Konzernbetriebsrat)
Betriebsratsmitglieder können sowohl Umfragen und Abstimmungen aufsetzen, als auch klassische Projektmanagementfunktionen zur Terminvereinbarung oder das gemeinsame Verfassen von Vereinbarungen nutzen. ESS können so administrative Betriebsabläufe entlasten, um mehr Raum für die inhaltliche Arbeit in face-to-face-Gesprächen zu ermöglichen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass es einige Parallelen in der Wahrnehmung der Befragten gibt. ESS dienen hauptsächlich der Steigerung von Effektivität in Unternehmen und wirken auf die Beschäftigten divers. Dies ist mit Herausforderungen verbunden, da es den Befragten an Kompetenzen, Kapazitäten, konkretem Bedarf und klaren Anreizen mitunter fehlt. Dennoch bieten die Funktionen von ESS Chancen für die Mitbestimmungsarbeit, insbesondere beim Informieren, Diskutieren und Koordinieren von Entscheidungen. 6
Diskussion
Soziale Medien im Unternehmen sind auf dem Vormarsch und finden in der Praxis und in der Forschung zunehmend Beachtung. In Bezug auf die Forschungsfrage nach den Chancen gibt viele gute Argumente für den Einsatz von
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ESS. Sie verringern die Barrieren für gezielte und ungezielte Kommunikation, für den schnellen, geteilten Zugriff auf Dokumente und für zumindest eine digitale Vernetzung von Personen im Unternehmen (Leonardi et al. 2013). Die Ergebnisse in unseren Interviews stellen keinen dieser positiven Beiträge in Abrede. Im Sinne der Passung von Aufgabe und Kommunikationstechnologie, wie in den Arbeiten zu Task-Technology-Fit beschrieben (Venkatesh et al. 2003), sind ESS für partizipative Kommunikation und Entscheidungsfindung eine geeignete Anwendungskategorie, die interessante Optionen bietet, und es ist naheliegend, ESS für partizipative Prozesse im Unternehmen zu nutzen. Insofern sind die Potenziale der ESS für die Betriebsratsarbeit nennenswert und relevant. Gleichzeitig führen eine starke Individualisierung und verhältnismäßig gute Arbeitsbedingungen für Fachkräfte in der Digital- und Kreativwirtschaft zu einem abnehmenden gewerkschaftlichen Organisierungsgrad in wissensintensiven Industrien, die ESS wiederum besonders intensiv nutzen. Selbstbewusst und intensiv in ESS kommunizierende Mitarbeitende können sich in dieser Situation tendenziell leicht Gehör verschaffen und können als technisch vermittelte Stimme der Beschäftigten wahrgenommen werden (Boes et al. 2006). Wollen Gewerkschaften und Betriebsräte in den ESS stattfinden, also im sichtbaren Diskurs auftreten und an der Meinungsäußerung, -bildung und Mobilisierung teilnehmen, ist es ihre Aufgabe, sich aktiv in ESS zu beteiligen. Gleichzeitig haben unsere Interviews Herausforderungen durch potenziell problematische Effekte von ESS gezeigt, bei denen Mitarbeitende im Unternehmen eine aufgeklärte Diskussion und Unterstützung brauchen. Zentral haben unsere Interviews ergeben, dass die verschiedenen Interessensgruppen übereinstimmend eine Art Stärkung der Starken oder die Gefahr dazu feststellen, bei der Mitarbeitende in ohnehin bessergestellten Positionen durch die Einführung und aktive Nutzung von ESS weiter bevorteilt werden, während eher benachteiligte Mitarbeitende noch stärker benachteiligt werden. Diese Beobachtung lässt sich durch Forschung zu Social Media und die Kommunikation hierin erklären, denn Social-Media-Kommunikation ist durch den Matthäus-Effekt gekennzeichnet (Schrape 2012). Der Matthäus-Effekt ist dabei ein bekannter Effekt, der in der Kommunikation und auch ohne das Internet eintritt, wenn beispielsweise in der Forschung oder im Journalismus sich eher auf ohnehin schon stark diskutierte Themen gestürzt wird und diese damit noch intensiver diskutiert werden (Merton 1968). In sozialen Medien bedeutet er, dass Personen, die ohnehin schon gut vernetzt sind und Aufmerksamkeit finden, noch zusätzliche Aufmerksamkeit bekommen. Die demokratisierende Wirkung, die sozialen Medien teilweise immer noch zugeschrieben wird, kann durch eine völlig undemokratische Wirkung konterkariert werden.
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Die praktische Relevanz dieses Effektes für die Arbeit im Unternehmen und im Kontext der Mitbestimmung ist in zweierlei Hinsicht sichtbar. Erstens bedeutet es, dass Beschäftigte, die gut kommunizieren können und bekannt sind, ihre vorhandenen Ressourcen hebeln können und mit einer starken Ausgangssituation eine noch stärkere Position erreichen können. Auch für Themen im Unternehmen bedeutet dies, dass besonders intensiv diskutierte Themen in ESS eher mehr Aufmerksamkeit bekommen werden als in anderen Medien. Daraus ergibt sich ein klarer Handlungsauftrag. Völlig zu verhindern ist der Matthäus-Effekt nicht. Er kann aber verstärkt werden durch die Nutzung von Bestenlisten, die in vielen Formen in ESS genutzt werden, um beispielsweise die meist gelesenen Beiträge zu zeigen. Vermindert wird der Effekt, indem an zentralen Stellen zum Beispiel jeweils die neuesten Kommentare oder Beiträge und nicht die am häufigsten geklickten gezeigt werden. Gleiches gilt für Angebote zur Vernetzung von Beschäftigten untereinander. Werden diese auf Basis von vorhandenen Vernetzungen sortiert angezeigt, ist eine Verstärkung von Machtpositionen praktisch unausweichlich. Dabei muss nicht verhindert werden, dass Nutzende sich bei Bedarf Beiträge, Mitarbeitende oder Kommentare nach Beliebtheit sortiert anzeigen lassen. Aber die Standardanzeige und grundsätzliche Anlage eines ESS sollte dem Effekt Rechnung tragen. In der Summe zeigt sich, dass es nicht sinnvoll ist, ESS eine positive oder negative Wirkung zuzuschreiben. Vielmehr sollte das Ziel sein, für alle Beteiligten Klarheit über die potenziellen Beiträge der Technologie herzustellen und den Einsatz zu planen oder zu überarbeiten mit der Situation der Beschäftigten und deren Bedürfnissen im Zentrum. Die Forschung zeigt eindeutig, dass der Erfolg der Investition in ESS von der Beteiligung und der Motivation der Nutzenden abhängt. Das beste Rezept für engagierte und motivierte Nutzende ist, ihre Bedürfnisse im Planungs- und Umsetzungsprozess einer neuen ESS oder im Explorationsprozess einer vorhandenen ESS strukturiert und zentral einfließen zu lassen. Literatur Alter, S. (2014). Theory of Workarounds. Communications of the Association for Information Systems, 34, 1041-1066. http://10.0.69.41/1CAIS.03455. Anders, A. (2016). Team Communication Platforms and Emergent Social Collaboration Practices. International Journal of Business Communication, 53(2), 224-261. https://doi.org/10.1177/ 2329488415627273. Anderson, K. E. (2016). Getting Acquainted with Social Networks and Apps: Picking up the Slack in Communication and Collaboration. Library Hi Tech News, 33(9), 6-9. https://doi.org/10.1108/ LHTN-10-2016-0049.
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Datafizierung von Organisationen durch Blockchain? Eine medienanalytische Betrachtung Ulrich Klüh und Moritz Hütten Abstract Die Digitalisierung ist heute in der öffentlichen Debatte allgegenwärtig, läuft auf betrieblicher Ebene jedoch oft zögerlich ab. Dadurch entsteht der Eindruck einer Diskrepanz zwischen Reden und Handeln, eine Art Geschwätzigkeit der Digitalisierung. Zugleich kommt sie aber nicht zum Stillstand. Nach und nach halten digitale Neuerungen Einzug in den Alltag von Organisationen. Der Beitrag untersucht, wie Geschwätzigkeit und die Umsetzung von Datafizierungsbestrebungen zusammenhängen. Dazu untersuchen wir eine Technik, die in den letzten Jahren die Debatte wie kaum eine andere befeuert hat: Blockchain. Wir unterstellen, dass mittels Blockchain nicht nur technologische Aspekte im engeren Sinne diskutiert werden, sondern Prozesse der Digitalisierung insgesamt nach- und vorverhandelt werden. Um diesen Verhandlungsprozess aufzuzeigen, analysieren wir Online-Beiträge aus Tages-und Wochenzeitungen, die sich mit Blockchain befassen und von sogenannten Entscheidungsträgern rezipiert werden. Die Debatte verläuft dabei vor allem entlang von vier Begriffspaaren: Verbindlichkeit/ Unverbindlichkeit, Mittelbarkeit/Unmittelbarkeit, Automatisierung/Manualisierung sowie Autonomie/Kontrolle. Vor allem das Wechselspiel von Autonomie und Kontrolle erweist sich als entscheidend. Es verweist einerseits auf die Chance auf mehr Autonomie, andererseits auf Risiken zunehmender Kontrolle und Überwachung.
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Einleitung
Die digitale Transformation ist in der öffentlichen Debatte allgegenwärtig: Schlagworte wie Big Data, Datafizierung, künstliche Intelligenz (KI), Plattformökonomie, Internet of Things, Blockchain, Industrie 4.0 oder auch Arbeit 4.0 beherrschen die mediale Kommunikation und auch die Äußerungen von Wissenschaftlern, Managern sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern (Banholzer
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_10
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2016).1 Die oft hitzig geführten Auseinandersetzungen erwecken den Eindruck, die Zukunft stehe unmittelbar bevor und werde fundamentale Veränderungen mit sich bringen. In der Wirklichkeit von Unternehmen, Verwaltungseinrichtungen oder Vereinen läuft Digitalisierung hingegen vielfach eher zögerlich ab und ist mit vielen Widerständen konfrontiert (Carstensen 2017). Zudem zeigt sich, dass Digitalisierung nicht unbedingt neue, sondern wohlbekannte organisationale Implikationen wie Automatisierung, Beschleunigung und Entgrenzung der Arbeit mit sich bringt (Schroeder 2017). Man kann die beschriebene Gleichzeitigkeit von oft wenig thematisierten Folgen einerseits und vieldiskutierten möglichen Entwicklungen andererseits als eine Art Geschwätzigkeit der Digitalisierung beschreiben: Ein beständiges Reden über Technikfolgen, die noch höchst unsicher sind, und eine Zurückhaltung bei Technikfolgen, die sich abzeichnen. Ein Beispiel sind die Implikationen der Digitalisierung für die Mitarbeiterführung. Themen wie Agilität, Hierarchieabbau und Mitarbeiterautonomie erfahren eine große Aufmerksamkeit. Die Verengung von organisationalen Freiräumen durch neue Formen der Steuerung und Kontrolle werden jedoch eher in Fachforen diskutiert. Vor diesem Hintergrund könnte man vermuten, dass die resultierenden Digitalisierungsdiskurse nicht oder nur lose mit den konkreten gesellschaftlichen Veränderungsprozessen in Verbindung stehen, die der technische Wandel ja in der Tat mit sich bringt. Eine solche Sichtweise unterschätzt aus unserer Sicht die wechselseitige Beeinflussung und Komplexität von Sprechweisen, Narrativen und Technologiefolgen. Obwohl wir eine gewisse Geschwätzigkeit unterstellen, gehen wir vielmehr von der These aus, dass das Reden über transformative Potenziale von Technologien mehr als nur bedeutungsloses Hintergrundrauschen ist. Vielmehr sind entsprechende Verlautbarungen ein wichtiger Bestandteil der Verbreitung einer spezifischen digitalen Realität. Sie erzeugen Erwartungen über Potenziale und Risiken, blinde Flecken sowie Handlungsspielräume. In der Folge setzen wir uns mit einer Technik auseinander, die die beschriebene Geschwätzigkeit befeuert hat wie kaum eine andere: Blockchain, eine kryptografische Anwendung, die zuletzt vermehrt unter dem Sammelbegriff Distributed Ledger Technology (DLT) diskutiert wird. Verfechter schreiben Blockchain geradezu magische Eigenschaften zu und schüren die Erwartung, dass sie in Wirtschaft und Gesellschaft radikale Veränderungen herbeiführen wird (Swan 2015, Tapscott und Tapscott 2016); so schreibt Melanie Swan, Blockchain werde für den Fortschritt der Menschheit so bedeutsam sein, wie die Magna Carta oder 1
Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
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der Rosettastein (2015). Kritiker halten sie dagegen für eine Spielerei ohne echte Anwendungen und die „am meisten hochgejubelte Technologie aller Zeiten“, die „weniger effizient als bestehende Datenbanken [ist]“ (Roubini und Byrne 2018, siehe auch Gerard 2017). Wer dabei Recht hat, bleibt abzuwarten. Auf der einen Seite zeichnet sich ab, dass Blockchain seinem Ruf als Wunderwaffe nicht gerecht wird. Auf der anderen Seite werden immer noch beträchtliche Summen in blockchainbasierte Anwendungen investiert. Was sich aktuell sagen lässt, ist jedoch lediglich, dass die Technik eine breite öffentliche Rezeption erfahren hat. Ähnlich wie im Fall von Social-Media, deren Konzeptualisierung von Feedback und Kommunikationsdynamik vermehrt Veränderungen von unternehmensinternen Kommunikationsformen befördert (Carstensen 2016), könnten sich durch Blockchain und verwandte Anwendungen Veränderungsprozesse in Gang setzen, die nicht oder nur zum Teil die rein programmiertechnische, sondern vielmehr die organisationale Dimension betreffen. Wir fragen, welche Spuren die anhaltende Auseinandersetzung mit Blockchain hinterlassen hat. Welche organisationalen Konsequenzen ergeben sich über konkrete Anwendungsfälle hinaus? Dazu untersuchen wir, wie das Thema in sogenannten Qualitätsmedien aufgearbeitet wird und welche Themen dabei verhandelt werden. Konkret werten wir eine Vielzahl von Online-Artikeln verschiedener Zeitungen aus, bei denen davon auszugehen ist, dass sie regelmäßig von Entscheidungsträgern aus Wirtschaft, Verwaltung und Politik gelesen werden. Darauf aufbauend untersuchen wir, welche grundsätzlichen Themen in der Debatte um Blockchain aufgegriffen und bearbeitet werden. Als Analyserahmen dient uns der Begriff der Datafizierung, der in vielerlei Hinsicht Veränderungsprozesse bezeichnet, die mit und durch Blockchain befördert werden könnten. 2 2.1
Vorüberlegungen Blockchain und die Ermöglichung organisationaler Datafizierung
Die Überführung von analogen Beziehungen in quantifizierbare, computerisierte Daten lässt sich mit dem Begriff der Datafizierung fassen. Durch Datafizierung werden zuvor unsichtbare Prozesse und Aktivitäten zwischen Akteuren erfass-, mess- und manipulierbar gemacht (Shilova 2018). Durch Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter, LinkedIn, Tumblr, iTunes, Skype, WhatsApp oder YouTube werden Beziehungen, die zuvor oft undeutlich umrissen waren, als digitale Werte mit diskreten Zuständen abgebildet: Freundschaften auf Facebook, Follower auf Twitter, professionelle Netzwerke auf LinkedIn (van Djick
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2014). Hierdurch werden sie für Praktiken der Auswertung, Optimierung und Kommodifizierung zugänglich gemacht. Die genannten Beispiele könnten den Eindruck erwecken, dass es sich um Entwicklungen handelt, die den Organisationsalltag nur am Rand beeinflussen. Es zeigt sich jedoch, dass die auf Plattformen erprobte Überführung von sozialen Beziehungen in diskrete digitale Werte, getrieben durch kommerzielle Interessen, zunehmend Einzug in den Arbeitsalltag hält. Zum einen entstehen neue plattformbasierte Erwerbs- und Arbeitsformen außerhalb bestehender Organisationen. Zum anderen sickern Mechanismen und Techniken in bestehende Organisationen ein, verbreitern und verändern sich. Anwendungen, wie cloudbasiertes Projektmanagement oder Messenger-Dienste, sind heute längst selbstverständlicher Bestandteil des Arbeitsalltags, andere Social-Media-Anwendungen spielen zunehmend eine Rolle (Carstensen 2016). Unternehmen erhoffen sich von solchen Anwendungen Effizienzgewinne und dynamischere Arbeitsprozesse (ebd.). Ähnlich wie in der Selbstdarstellung bekannter Plattformen soll es zudem zu mehr Partizipation und Austausch kommen. Diesen möglichen Vorteilen stehen entsprechende Risiken gegenüber. Insbesondere kommt es zu neuen Formen der Vermessung, Verdichtung und Überwachung von Arbeit. Diese stehen in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zu vertrauensbasierten Formen von Führung und Management, denen gerade im Zuge der Digitalisierung eine besondere Bedeutung zugesprochen wird. Ein Großteil der Digitalisierungspraktiken entsteht zunächst außerhalb der Unternehmen, in denen sie dann relevant werden. Schon allein deshalb ist es sinnvoll, sich frühzeitig mit aufkommenden Trends zu befassen. Ein nicht unwesentlicher Trend der letzten Jahre ist der Einsatz sogenannter Blockchains. Diese eignen sich besonders gut, um Datafizierungsphänomene im Organisationskontext zu untersuchen. Wie bei den oben beschriebenen sozialen Medien handelt es sich um eine Technik, die zunächst einmal eher von Individuen genutzt wurde. Konkret sind die üblicherweise mit Blockchain betriebenen Kryptowährungen lange Zeit als Medium beschrieben worden, die Transaktionen zwischen Einzelpersonen ohne die Einbindung öffentlicher Organisationen wie Zentralbanken oder privater Organisationen wie Geschäftsbanken ermöglichen. Zudem wird Blockchain vermehrt als Technologie beschrieben, die unter anderem über sogenannte smart contracts neuartige Formen des Zusammenspiels von Organisationen in komplexen Wertschöpfungsketten und Unternehmensnetzwerken befördert und so die Herausbildung hybrider Organisationsformen im Sinne von Ménard (2004), also Mischformen aus Markt und hierarchischen Organisationen ermöglicht. Des Weiteren wird die Technik immer wieder ins Spiel gebracht, wenn es um die Frage geht, wie plattformbasiertes Arbeiten organisational eingebettet werden könnte, ohne die entsprechenden Plattformen durch tradierte Organisationsformen zu ersetzen. Schließlich setzt Blockchain vermehrt
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direkt an der datenbasierten Abbildung von Phänomen an, die üblicherweise als im engeren Sinne organisational angesehen werden. Viele der Digitalisierung zugrunde liegenden Technologien beschäftigen sich eher mit der Nachahmung und Steuerung von Praktiken, die bisher mit den Fähigkeiten, Aktivitäten und Beziehungen einzelner Personen assoziiert werden.2 Blockchain hingegen widmet sich der datenbasierten Nachahmung und Steuerung von Praktiken, die im Kern organisational sind. So geht es unter anderem um die Herstellung von kollektivem Vertrauen zwischen miteinander kooperierenden Knotenpunkten eines Netzwerkes, die Substitution von intra-organisationalen langfristigen Verträgen durch inter-organisationale kurzfristige Verträge sowie die Reduktion hierarchiebasierte Steuerungsformen (für einen Überblick über entsprechende Anwendungen vgl. Evan Network 2020). 2.2
Digitale Geschwätzigkeit als Nach- und Vorverhandlung von Datafizierung
Wir gehen von der These aus, dass die spekulative öffentliche Auseinandersetzung mit bisher nicht oder nur wenig erprobten Technik wie Blockchain eine Art Nach- und Vorverhandlung ist. Sie dient der Verarbeitung von positiven und negativen Erfahrungen mit Datafizierung und legt den Grundstein für weitere Entwicklungen. Der erhebliche Digitalisierungsdruck, dem insbesondere leitendende Angestellte ausgesetzt sind, zwingt dazu, beständig neue Initiativen zur digitalen Transformation anzukündigen und auf den Weg zu bringen. Ob diese Initiativen zielführend sind oder nicht, erweist sich immer erst im Nachhinein. Entsprechende Erfolge und Fehlschläge müssen thematisiert und reflektiert sowie in einer Art und Weise verarbeitet werden, die den Weg für weitere Datafizierung frei macht. Als Vorverhandlung geht die digitale Geschwätzigkeit einer späteren Implementierung oder Ablehnung ausgewählter Möglichkeiten einer spezifischen Technologie auf der Ebene konkreter Organisationen voran.3 Erwartete oder befürchtete Konsequenzen werden formuliert und diskutiert. 2
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So sind zahlreiche Anwendungen aus dem Bereich Künstliche Intelligenz Versuche, Aktivitäten wie individuelles Lernen oder Identifizieren nachzuahmen. Mit Methoden der Predictive Analytics und darauf aufbauenden Steuerungsmechanismen sollen nicht individuelle Entscheidungen befördert werden. Selbstverständlich begründet sich die Geschwätzigkeit der Digitalisierung nicht nur auf ihrer Rolle bei der Vor- oder Nachverhandlung von Veränderungsprozessen. Sie hat vielfältige soziale und anthropologische Ursachen. Unter anderem zahlt sich digitale Geschwätzigkeit ganz direkt aus und lässt sich, beispielsweise im Bereich der Wissenschaft oder Journalismus, zum eigenen Geschäftsmodell weiterentwickeln. Ebenso lassen sich vermehrt Formen der digitalen Geschwätzigkeit identifizieren, die in direktem Zusammenhang mit dem prinzipiell selbst-referentiellen Charakter von Kommunikation stehen. Und schließlich spielt digitale Geschwätzigkeit auch bei
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Bei vielen Digitalisierungsdebatten geht es mithin weniger um konkrete Gegenwartsfragen als um die Aufarbeitung vergangener und die Vorbereitung zukünftiger gesellschaftlicher Zustände, Konflikte, Hoffnungen und Ängste. Wir beschreiben sowohl Nach- als auch Vorverhandlungen als Diskurse, die auf zumindest zwei nur schwer voneinander abzugrenzenden Ebenen stattfinden, einer generativen und einer (selbst-)vergewissernden Ebene. Auf der generativen Ebene, deren Kommunikationen aber keineswegs immer interessengeleitet sind, geht es unter anderem darum, Erwartungen an neue Technologien zu wecken, die Akteure und Ressourcen mobilisieren. Selbst wenn bestimmte Eigenschaften einer Technologie sich erst noch beweisen müssen, führen einmal geweckte Hoffnungen (und das stetige Reden über diese Hoffnungen) beispielsweise dazu, dass Investitionsmittel zur Realisierung entsprechender Projekte bereitgestellt, ein Handlungsdruck erzeugt und Handlungen koordiniert werden (Borup et al. 2006). Auf dieser Ebene dominieren Aussage- und Aufforderungssätze. Auf der Ebene der Vergewisserung, die oft aber nicht erkenntnisgeleitet sind, geht es nicht zuletzt um die Verarbeitung von durch die Digitalisierung ausgelösten oder erwarteten Zuständen der Verunsicherung. Im Mittelpunkt entsprechender Diskurse dominieren Fragesätze sowie affirmative Äußerungen. Obwohl die Unterscheidung zwischen Vor- und Nachverhandlung einerseits sowie generativer und vergewissernder Ebene andererseits allenfalls als Heuristik taugt und nicht überbewertet werden sollte, erweist sie sich bei der Auswertung des unten beschriebenen Materials als hilfreich. Technologien können als interdependente, soziotechnische Systeme verstanden werden (Hirsch-Kreinsen und ten Hompel 2017). Die Entwicklung solcher Technologien läuft bekanntermaßen nicht linear ab, sondern multidirektional. Im Verlauf ergeben sich umfassende Möglichkeiten der Umdeutung und Interpretation (Pinch und Bijker 1993). Diese Möglichkeiten werden sowohl strategisch genutzt als auch ganz selbstverständlich als Zeitvertreib betrieben, sie können sowohl hochsystematisch als auch ungeordnet und chaotisch erfolgen. Umdeutungen und Interpretation erfolgen aus psychologischen, ökonomischen, rechtlichen, politischen oder auch ästhetischen Gründen. Euphorie und Dysphorie sind, genau wie Utopie und Dystopie, zentrale Elemente entsprechender Digitalisierungsdiskurse, wie gerade das Beispiel Blockchain zeigt. Die diesen Prozess beobachtenden Wissenschaftler finden sich nicht selten in einer Konstellation wissenschaftlichen Nicht-Wissens (Wehling 2001) wieder, in denen von ihnen sowohl Unabhängigkeit als auch ein hoher Grad an Einbindung verlangt wird, ein Umstand, der in der Grundlagenliteratur zu Fragen der Technikfolgenabschätzung zwar reflektiert, aber selten der Nachverhandlung von digitalen Veränderungsprozessen eine gewichtige Rolle, beispielsweise, wenn es um die Zuweisung von Verantwortlichkeiten für durch Digitalisierung verursachte Probleme geht.
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schlüssig aufgelöst wird (siehe bspw. Ott 1992 und Hennen 1994. Für einen Überblick vgl. Böhle 2014 und hier insbesondere die Teile 1 bis 4 und 13). Auf Seiten der nichtwissenschaftlichen Akteure mischt sich die Bereitschaft, der Wissenschaft zur Verfügung zu stehen, mit einem oft originären Interesse an einem Austausch mit kritischen Beobachtern, aber auch mit dem Bedürfnis, die Relevanz oder die Zunftsträchtigkeit des eigenen Tuns demonstrieren zu können. Diese vielfältigen Grundhaltungen treffen auf ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse, das sich häufig erst im Laufe der Interaktion mit der Praxis konkretisiert. In dieser Unübersichtlichkeit kann es von entscheidender Bedeutung sein, ob sich ein generativer Impuls aus der Beschäftigung mit einer vergangenen oder in der Zukunft erhofften Entwicklung ergibt, nicht zuletzt da die Verwirrung über den aktuellen Stand der Technik oft interessengeleitet eingesetzt wird. Ebenso kann es instruktiv sein zu fragen, ob eine im Wesentlichen erkenntnisund nicht interessengeleitete Auseinandersetzung mit Chancen und Risiken auf Basis einer bereits erprobten Technik oder einer irgendwann einmal möglichen Innovation erfolgt. Eine robuste, aber nicht allzu stark vorstrukturierte Heuristik ist gerade in Kommunikationsprozessen wichtig, die sich wie im Fall von Blockchain mit einer Technik auseinandersetzen, deren Einsatzmöglichkeiten äußerst spekulativ sind. Auf der einen Seite beugt sie der Gefahr vor, die entsprechenden Spekulationen voreilig zu ernst zu nehmen oder voreilig zu verwerfen und so unter Umständen zu der hohen Volatilität des Diskurses beizutragen.4 Auf der anderen Seite ermöglicht sie es, trotz der angebrachten Vorsicht relativ schnell Einschätzungen unter Unsicherheit abzugeben und dabei stets die Vorläufigkeit der Bewertung mitzudenken und mitzutransportieren (für einen theoretischen Begründungszusammenhang vgl. Böschen et al. 2004). Vermehrt kommen organisationale Formen ins Spiel, die die Grenze zwischen dem Reden über und dem Umsetzen von digitalen Veränderungsprozessen verwischen. Einige Unternehmen und auch Verwaltungen haben Organisationseinheiten aufgebaut, die sich mit der digitalen Transformation oder konkreten Technologien beschäftigen und im Wesentlichen beobachten, Beobachtungen thematisieren und an entsprechenden Innovationsprozessen mitwirken. Häufig widmen sich diese nicht einem spezifischen Segment des digitalen Wandels, sondern der Digitalisierung an sich. Zuweilen wird einer Technologie jedoch ein derart großes Potenzial zugesprochen, dass es zur Einrichtung spezialisierter Organisationseinheiten kommt. Im Bereich Blockchain können in diesem Zusammenhang das Blockchain Lab der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, das Fraunhofer Blockchain-Labor, das Blockchain Institute der Wirt4
Diese Gefahr ist im Übrigen nicht nur in den Hochphasen einer Technologie präsent. So lässt sich gerade beim Beispiel Blockchain beobachten, wie nach dem Hype der Jahre 2016 bis 2018 allzu schnell davon ausgegangen wurde, an der Sache sei gar nichts oder nahezu gar nichts dran.
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schaftsprüfungsgesellschaft Deloitte oder der Main Inkubator der Commerzbank genannt werden. Auch wenn der konkrete Beitrag dieser Einheiten zum Organisationserfolg oft unklar bleibt, kann auf keinen Fall davon ausgegangen werden, dass sie keine Wirkung entfalten würden. Der Geschwätzigkeit der Digitalisierung kommt gemäß unserer Ausgangsthese folglich eine doppelte Wirkung zu, sowohl bei der Mobilisierung von Akteuren und Ressourcen, also auch bei der Selbstvergewisserung der Gesellschaft im Hinblick auf die mit der Digitalisierung allgemein und der Datafizierung konkret verbundenen Chancen und Risiken. In der im Folgenden vorgestellten empirischen Untersuchung geht es uns explizit nicht um eine Überprüfung dieser Sichtweise. Vielmehr betrachten wir sie als Arbeitshypothese, mit deren Hilfe wir die in der medialen Öffentlichkeit präsenten Aussagen über Blockchain zumindest ansatzweise ordnen können. 2.3
Datenbasis und Kodierungsmethode
Aufbauend auf einer Medienanalyse fragen wir, wie sich die beschriebene Nachund Vorverhandlung manifestiert. Was wird nach-, was vorverhandelt, welche Rolle spielen generative und selbstvergewissernde Aspekte? Welche Zugänge zu Digitalisierungsthemen werden Entscheidungsträgern eröffnet? Welche Tradeoffs werden etabliert, welcher Umgang mit Trade-offs befördert? Als Entscheider bezeichnen wir dabei solche Personen, die voll berufstätig sind, aktiv im Berufsleben stehen und eine Führungsposition innehaben (Schenk und Mangold 2011). Aufgrund ihrer exponierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Position müssen sie sich in einer Art und Weise zu verschiedenen Themen äußern, die Kompetenzvermutungen bestätigt. Um hierzu in der Lage zu sein, benötigen sie Quellen, die ihnen aktuelle komplexe Entwicklung sinnvoll aufarbeiten. Die Auseinandersetzung mit der sogenannten Qualitätspresse stellt eine Möglichkeit dar, einen Einblick in die Informationsbasis von Entscheidungsträgern zu gewinnen. Der von uns unterstellte Mechanismus der Nach- und Vorverhandlung der Datafizierung durch die Rezeption der Qualitätspresse lässt sich mit dieser Anordnung natürlich nur bedingt beobachten. Dies ist allein schon deshalb unmöglich, weil sich die Auswirkungen der Auseinandersetzung mit Blockchain aktuell noch gar nicht umfänglich in der betrieblichen Realität widerspiegeln können. Vielmehr geht es darum, eine Datenbasis aufzubauen und explorativ auszuwerten. Es sollen dadurch Rückschlüsse auf den Einfluss ermöglicht werden, den die mediale Verhandlung der Datafizierung auf Entscheidungsprozesse haben könnte. Zudem geht es uns um die Identifikation möglicher Themen, die aktuell mit Blockchain vorverhandelt werden.
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Medien spielen eine zentrale Rolle bei der Formung der öffentlichen Meinung. Der Presse kommt dabei die Rolle eines „Filters“ zu (Gibelman und Gelman 2001, S. 51). Sie trifft Entscheidungen über die Auswahl von Themen und den Umfang der Berichterstattung zu einzelnen Themen und beeinflusst so die Wahrnehmung und Bewertung von Technologietrends. In diesem Kapitel beziehen wir uns auf die allgemeine deutsche Qualitätspresse sowohl mit als auch ohne explizitem Wirtschaftsfokus. Diese weisen eine Leserschaft mit hohem Bildungsniveau auf und sprechen insbesondere auch Menschen in Entscheidungspositionen an (LAE 2019). Für die vorliegende Analyse verwenden wir Online-Artikel aus dem Handelsblatt, der Wochenzeitung Die Zeit und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Die verwendeten Artikel stammen aus den Online-Archiven der jeweiligen Webseiten. In allen drei Fällen wurden die Suchfunktionen der jeweiligen Archive genutzt, um alle Artikel zu identifizieren, in denen der Suchbegriff Blockchain auftaucht. Dabei decken wir den Zeitraum von 02.01.2018 bis 10.11.2018 ab. Die Artikel wurden in Gänze gelesen und in zwei Phasen kodiert. In der ersten Phase wurde lediglich die Kategorie Datafizierung zur Grobkodierung verwendet. So wurden alle Stellen ausfindig gemacht, in denen die Überführung zuvor analoger oder nur teilweise digitalisierter Beziehungen in weitgehend digitalisierte Anwendungen diskutiert wird. In einer zweiten Phase wurden auf Basis dieser Grobkodierung weitere Unterkategorien gebildet die nachfolgend dargestellt werden. Aus dem Archiv der FAZ wurden insgesamt 29, aus dem Archiv Der Zeit 39 Artikel extrahiert und allesamt ausgewertet. Im Archiv des Handelsblatts wurden insgesamt 351 Artikel gefunden. Aus forschungspragmatischen Gründen haben wir für das Handelsblatt aus diesem Gesamtbestand 50 Artikel zufällig ausgewählt. Unsere Analyse beschränkt sich auf Online-Artikel, andere Medien wie Printartikel, Videos oder Podcasts wurden nicht berücksichtigt. 3
Auswertung
Bei der Auswertung der Zeitungsartikel zeigt sich zunächst, dass die BlockchainTechnik oft nicht in Isolation behandelt wird. Vielmehr tritt sie häufig in Kombination mit anderen Technologietrends wie KI auf. Schon hier zeigt sich, dass mit Blockchain nicht nur spezifische, sondern auch allgemeinere Technologietrends vor- und nachverhandelt werden. Dabei werden häufig Fragen aufgeworfen, die wir im Sinne unserer Heuristik auf der Ebene der Selbstvergewisserung ansiedeln würden. Gibt es Grenzen der Datafizierung und Automatisierung, die die Kontinuität eines nicht zuletzt auf menschlicher Arbeit beruhenden Organisationsbegriffs sicherstellt? Oder lässt sich selbst Vertrauen datafizieren? Gibt es
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einen Unterschied zwischen Automatisierung und Digitalisierung, der originär neue Herausforderungen und Chancen für Organisationen birgt? Oder behalten die etablierten Gatekeeper und Intermediäre die Kontrolle? Wohnen dem technologischen Fortschritt Potenziale inne, die über eine auf das Bestehen im Wettbewerb fußende Organisationslogik hinausweisen? Oder wird der Wettbewerb lediglich datafiziert? Ist die Herausbildung eines Überwachungskapitalismus (Zuboff 2019) einschließlich monopolistischer Plattformen als datafizierte Organisationsform konstitutives Merkmal, Auswuchs oder Übergangsphänomen der Digitalisierung? Des Weiteren fällt auf, wie oft die Nähe der Technik zur Finanzwirtschaft betont wird, wobei neben dem Thema anrüchiger Kryptowährungen wie Bitcoin auch Bezug zu anderen, oft problematischen Entwicklungen genommen wird. So äußern sich Die Zeit und die FAZ oft kritisch, beispielsweise im Hinblick auf mögliche Marktmanipulation, die Schädigung von Anlegern oder die künstliche Aufblähung von Unternehmenswerten durch die Integration des Begriffs Blockchain im Firmennamen. Es drängt sich zuweilen der Eindruck auf, dass mit dem Hype Blockchain die noch präsenten Erfahrungen der Dotcom-Blase nachverhandelt werden.5 Hierin sehen wir deutlich einen generativen Aspekt, vermittelt über die Notwendigkeit einer Startup-Kultur, die große Finanzmittel beschaffen muss, ohne den Exzessen der Vergangenheit zu erliegen. Gleichzeitig geht es bei der Thematisierung finanzwirtschaftlicher Aspekte aber auch stets um Formen der Selbstvergewisserung: Lässt sich das bisher eher im Finanzbereich angewendete Tool auf der gerade in Deutschland nach der Finanzkrise präferierten realwirtschaftlichen Ebene nutzen? Gibt es industrielle Anwendungen? Und wecken diese das Interesse der wiederum finanzwirtschaftlichen Investoren, ohne die eine Umsetzung dann doch nicht möglich wäre? Diese generativen Elemente zeigen sich auch bei der Diskussion möglicher Vor- und Nachteile der Technologie. Diese werden zwar eher zögerlich besprochen, wobei das Handelsblatt im Vergleich oft euphorischer wirkt und regelmäßig Vorteile und Chancen in den Mittelpunkt stellt. Statt konkreter Anwendungen wird nahezu in allen Beiträgen betont, welches Potenzial zur Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft der Technologie insgesamt innewohnt. Die vermutete Veränderungsdynamik leitet sich dabei im Wesentlichen aus den unterstellten Eigenschaften der Technologie ab, wie der hohen Sicherheit beim Umgang mit Daten oder der auf Dezentralität und Netzwerkarchitekturen beruhenden Grundphilosophie. Auffällig ist dabei die wiederholte Darstellung eines Handlungsdrucks, der trotz oder gerade wegen der noch hohen Unsicherheit im 5
Die Dotcom-Blase bezeichnet eine Phase von äußerst hohen Aktienkursen für Technologieunternehmen um das Jahr 2000, bei der viele Anleger in hochspekulative Internetunternehmen investiert hatten.
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Hinblick auf die konkreten Folgen der Digitalisierung bestehe. So wird insbesondere eingeräumt, dass viel Unklarheit über vermeintlich neue Geschäftsmodelle bestehe. Wirkmächtiger scheint jedoch die im Hintergrund drohende und damit generative Befürchtung, dass es plötzlich doch ganz schnell gehen könnte: „Ihr Einsatz ist noch ganz am Anfang – könnte aber ganz schnell Geschwindigkeit aufnehmen.“ (Giersberg 2018) Konkrete Beispiele für Anwendungen sind im Untersuchungszeitraum in allen drei Zeitungen eher die Ausnahme, obwohl die Suche nach und Auseinandersetzung mit sogenannten Use Cases im Jahr 2018 das zentrale Thema der mit Blockchain befassten Experten und Unternehmen war. Die Relevanz der neuen Technologie sowie die durch Blockchain induzierte Veränderungsdynamik werden hingegen nicht selten mit Beispielen und Erzählungen illustriert, für die noch keine ernst zu nehmenden Geschäftsmodelle vorliegen. Diese setzen weniger an einer spezifischen Anwendung an, sondern an im Zuge der Digitalisierung aufkommenden Problemstellungen oder Möglichkeiten. Aus der Perspektive unserer Arbeitshypothese, in deren Mittelpunkt wie oben beschrieben Vor- und Nachverhandlungsprozesse zu generativen und selbstvergewissernden Zwecken stehen, werden mit diesen Illustrationen Konflikt- und Kooperationsfelder abgesteckt, bereinigt und vorstrukturiert. Diese lassen sich vier zentralen Begriffspaaren zuordnen: Verbindlichkeit/Unverbindlichkeit, Mittelbarkeit/Unmittelbarkeit, Automatisierung/Manualisierung sowie Autonomie/Kontrolle. 3.1
Verbindlichkeit/Unverbindlichkeit
Blockchain wird als technologische Lösung diskutiert, die rückblickend die durch neue Technologien mitbeförderte Unverbindlichkeit heilen und perspektivisch Verbindlichkeit herstellen kann. Der Begriff Unverbindlichkeit kann hierbei zunächst durchaus breit verstanden werden. Insbesondere bezieht er sich sowohl auf eine als neu empfundene Qualität der Unverbindlichkeit von Beschäftigungsverhältnissen (Vogel 2016) als auch auf andere Beziehungsformen bis hin zu Liebesbeziehungen (siehe Aretz et al. 2017; Diefenbach et al. 2017) oder Formen des politischen Engagements (Moorstedt und Erben 2008). Verbindlichkeit und damit Integrität als konstitutive Merkmale funktionsfähiger Organisationen werden so einer möglichen Datafizierung zugänglich gemacht. So sollen Blockchains beispielsweise eingesetzt werden, um „Urheber von Forschungsergebnissen eindeutig zu vermerken, und Forschungsgelder und Lizenzgebühren leichter zu verteilen.“ (Tönnesmann 2018) In ähnlichen Fällen wird auch die Perspektive der Zensurresistenz betont, um z. B. Artikel veränderungssicher zu veröffentlichen oder Daten zu speichern (auch als Antwort auf die „Monopolisten und Datensilos wie Facebook“ (ebd.)). Generell kommen dabei immer wieder
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die beiden Begriffe Sicherheit und Unveränderbarkeit auf. Damit ist man auch schnell bei einer der wesentlichen unterstellten disruptiven Potenziale der Blockchain: der Idee, dass man sich nicht mehr vertrauen muss, um zu interagieren. Wenn Verbindlichkeit und Vertrauen intra- und interorganisational digital hergestellt werden, können tradierte Organisationen wie Banken und Notare als Kostenfaktor problematisiert werden, die durch Blockchains ersetzt werden könnten. Diese dienten dann als „verifizierte Auskunftsquelle“ (Gökkaya 2018), z. B. für Grundbucheinträge und Kaufverträge. Dabei wird gelegentlich die Problemlage thematisiert, dass es zumeist doch wieder einer vertrauenswürdigen Instanz bedarf, die die Korrektheit der Daten garantiert. Hier findet sich die widersprüchliche Vorstellung der Blockchain als Vehikel der Disintermediation und einem Grundproblem der Datafizierung, das nahezu alle Organisationen kennen: Für alle Datenbanken gilt der Grundsatz, „Garbage in, garbage out“. Es erweist sich als entscheidende Frage, inwieweit auch die Auswahl relevanter Daten automatisiert werden kann. In diesem Zusammenhang werden dann häufig die Themen Blockchain und KI verknüpft. Dabei wird wiederholt suggeriert, dass die Blockchain eine Art Körper für KI darstellen könnte, die die Aktivitäten der Blockchain steuert. Generell bleiben viele Artikel eher vage und spekulativ, wenn es um eine Konkretisierung der Frage geht, wie genau Verbindlichkeit ausgestaltet wird. Trotzdem kristallisiert sich einerseits die selbstvergewissernde Einschätzung heraus, dass Datafizierung über die Herstellung neuer Formen der Verbindlichkeit tatsächlich grundsätzlich neue Potenziale im Organisationskontext birgt und problematische Anhäufungen von Macht ins Wanken bringt. Andererseits entsteht auf der generativen Ebene ein erheblicher Handlungsdruck: Bestehende Intermediäre müssen neue, eigene digitale Geschäftsmodelle ersinnen, um der Substitution durch blockchainbasierte Anwendungen zu entgehen. 3.2
Unmittelbarkeit/Mittelbarkeit
Unmittelbarkeit ist bei der medialen Verarbeitung von Blockchain immer wieder ein wesentliches Thema. Daten werden unmittelbar erfasst, verarbeitet und vor allem gesichert. Der Begriff taucht zuweilen in eher unerwarteten Zusammenhängen auf, wie beim Umgang mit Manipulationen, die nun unmittelbar entdeckt werden. Mit solchen Beispielen werden nicht zuletzt Tendenzen der Invisibilisierung thematisiert, die durch die Einführung digitaler Prozesse sowohl ausgelöst als auch aufgelöst werden können. Während der Fokus auf den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sichtbarkeit bestimmter Phänomene liegt, werden in den Artikeln gelegentlich auch Prozesse sichtbar gemacht, die sonst im Hintergrund ablaufen. Wenn jemand z. B. versucht, den Energieverbrauch mancher
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Anwendung zu relativieren, finden sich Verweise auf die ansonsten unsichtbaren Vorgänge bestehender Prozessabläufe wie „Computertechnik, Bürogebäude und Arbeitswege“. Über diese und ähnliche Sichtbarkeitsnarrative wird eine Auseinandersetzung mit einem zentralen Problem der Datafizierung ermöglicht: der Wahrnehmung, dass zentrale Mechanismen der Koordination und Kooperation vermehrt durch nur schwer lesbare und verstehbare Codes und Algorithmen abgebildet werden. Unmittelbarkeit taucht auch im Zusammenhang mit Finanzierungsmodellen auf, sogenannten Initial Coin Offerings (ICOs). Durch diese sollen Eintrittshürden für bestimmte Arten der Finanzierung fallen. Die Beispiele, mit denen das Prinzip illustriert werden soll, sind dabei mitunter kurios: „Jemand möchte zum Beispiel eine Bäckerei neu eröffnen. Er könnte nun digitale Gutscheine – die Token – ausgeben und hoffen, dass genug Geld von Investoren zusammenkommt. Die Investoren würden wiederum darauf setzen, dass die Brötchen und Kuchen sehr lecker sind und sich das für die Gutscheine ausgegebene Geld lohnt.“ (Nestler 2018)
In diesen Schilderungen ist einerseits ein Aspekt der generativen Ebene der Geschwätzigkeit der Digitalisierung präsent, der schon oben angesprochen wurde. ICOs, zwischenzeitlich ein überaus beliebtes Vehikel der Finanzierung von Projekten mit Blockchains, verweisen direkt oder indirekt immer wieder auch auf Praktiken, die schon im Dotcom-Boom virulent waren. Sie ermöglichen so eine Auseinandersetzung mit einer zentralen Frage für entsprechende Startups, nämlich der Frage nach der Beschaffung von Finanzmitteln. Andererseits kommen auch vielfältige Fragen ins Spiel, die einer Vergewisserung dienen dürften: Kann eine Technik wie Blockchain auch im realwirtschaftlichen Kontext Anwendung finden, vielleicht sogar im Bereich von klein- und mittelständischen Unternehmen wie dem Bäcker nebenan? Stimmt das Narrativ von der Technologie einer sich abschottenden Blockchain-Elite (Roubini und Byrne 2018) oder senkt Blockchain gar Eintrittsbarrieren in die Welt der Datafizierung? Neben der unmittelbaren Datenerfassung und -verarbeitung sowie der unmittelbaren Finanzierung wird der Begriff der Unmittelbarkeit vor allem dann verwendet, wenn es um die Ermöglichung einer unmittelbaren Interaktion zwischen Individuen durch Blockchain geht. In gewissem Sinne dominiert diese Verwendung die anderen sogar deutlich. Nicht selten wird dabei unterschlagen, dass die beschriebene Interaktion am Ende doch wieder über eine die Blockchain betreibende Instanz vermittelt ist, die nie nur dezentral operiert.6 Welche generativen und vergewissernden Elemente stecken hinter dem immer wiederkehrenden 6
Die Vorstellung der Unmittelbarkeit steht dabei quer zu der in den betrachteten Artikeln immer wieder geführten Diskussion über sogenannte Miningfarmen, z. B. in China.
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Bezug auf die Ermöglichung von Unmittelbarkeit in der Interaktion? Eine mögliche Erklärung liegt in der Hoffnung, dass über Techniken wie Blockchain eines der Kernprobleme der Digitalisierung gelöst werden könne, die zunehmende Bedeutung und Macht privatwirtschaftlich operierender Plattformen. Diese befördern durch die von ihnen transportierte Mittelbarkeit von Interaktionen eine Art Überwachungskapitalismus (Zuboff 2019), der zu den liberalen Idealen vieler technikaffiner Menschen im Widerspruch steht. Tatsächlich spielt die mögliche Rolle von Blockchain zur Behebung der Defizite aktueller Plattformarchitekturen eine zunehmende, wichtige Rolle. Dabei werden selbst die Plattformen, die heute vergleichsweise stark den Eindruck von Unmittelbarkeit erzeugen, als diejenigen problematisiert, die eine unmittelbare Interaktion behindern: „Eines Tages könnte eines [dieser Projekte] vielleicht den Taxi-Service Uber bedrohen, weil man mit der Blockchain die Fahrer und die Fahrgäste direkter und günstiger zusammenbringt als über dessen Plattform.“ (Tönnesmann 2018) Transaktionen aller Art werden vermeintlich „ohne dazwischengeschaltete Institutionen unverfälschbar, sicher und jederzeit nachprüfbar abgewickelt“ (Boing 2018). 3.3
Automatisierung/Manualisierung
Die Probleme des aktuellen Plattform- und Informationskapitalismus stehen auch im engen Bezug zu einem weiteren Kernbegriff der betrachteten Texte, dem der Automatisierung. Durch blockchainbasierte Automatisierung sollen oft gerade die Plattformen wegfallen, die eigentlich die letzte Welle der Disintermediation angetrieben haben, wie im Fall des oben erwähnten Carsharings. Nach Bezahlung wird das Auto automatisch entriegelt, nach Abschluss der Fahrt automatisch bezahlt, der Kunde muss nur noch dem schlauen Vertrag (sogenannte Smart Contracts) zustimmen. Das gleiche Beispiel findet sich z. B. für Mietwohnungen, bei denen hinterlegte Sicherheiten teilweise erst nach Wochen überwiesen werden, die so aber mit einem einfachen Go des Vermieters direkt überwiesen werden könnten, ohne auf die Aktivität einer Bank zu warten. Das offensichtlich eingängigste Beispiel sind dann aber doch immer wieder Zahlungen, die an andere Zahlungen geknüpft sind, z. B. beim Crowdfunding: „Damit können beispielsweise Zahlungen für ein Crowdfunding-Projekt davon abhängig gemacht werden, ob sich genügend Mitstreiter an der Initiative beteiligen. Auch können Gebote für Auktionen abgegeben und die Zahlung nach Beendigung automatisch ausgeführt werden. Die Einsatzmöglichkeiten sind also sehr vielfältig.“ (Brunnermeier 2018)
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Smart Contracts, also Computerprotokolle zur ganzheitlichen Abbildung eines Vertrags von der Verhandlung bis zur Abwicklung, spielen in den geschilderten Szenarien eine entscheidende Rolle. Smart Contracts erweist sich zunehmend als zentraler Begriff der mit Blockchain befassten Startups und Experten. Ein Kernelement dieses Bedeutungszuwachses ist allem Anschein nach, dass sich über solche Verträge weitere Bedingungen an eine Transaktion knüpfen lassen (Kühl 2018). Wiederum besteht ein enger Bezug zu Fragen der Plattformökonomie, da die Hoffnung auf ein vollständig dezentral organisiertes datenbasiertes Vertragswesen auf die Dauer die Möglichkeit eröffnen könnte, die Plattform ganz in die Hände ihrer Nutzer zu legen. Selten wird die Frage aufgeworfen, ob neben den technischen auch andere, insbesondere politische Voraussetzungen vorliegen müssen, um die digitale Ökonomie weiterzuentwickeln. Politische Entscheidungsprozesse werden zwar nicht ausgeblendet, ihre Rolle beschränkt sich allerdings meist auf die Ermöglichung des technischen Fortschritts, der dann den entscheidenden gesellschaftlichen Wandel herbeiführt. Wiederum erweist sich das Motiv des klugen Vertrages als zweckmäßig, um generativ Handlungsdruck aufzubauen: „Smart Contracts stehen im Koalitionsvertrag. In der Bundesregierung hegt man generell große Hoffnungen, sieht in der Kryptotechnologie sogar eine Zukunftstechnologie, die Deutschland womöglich wieder an die Spitze der Digitalwirtschaft katapultiert – vorbei an Google, Facebook und Alibaba. Denn in den Grundlagen sei man Spitzenreiter, und künftige Plattformen würden nicht durch Technologiekonzerne gesteuert, sondern basierten auf der Blockchain, heißt es in Regierungskreisen.“ (Wieduwilt 2018)
Neben der sowohl vergewissernden als auch generativen Nachverhandlung aktueller Plattformarchitekturen ist das Thema der Automatisierung auch häufig im Kontext von wirtschaftlichen Tätigkeiten präsent, die auf absehbare Zeit manuell oder zumindest analog bleiben dürften. So wird über die bankeneigenen Blockchains gespöttelt, dass es sich vor allem um ein Label handele, um „langweilige Back Office-Arbeit sexy zu machen, damit sie endlich einer machen will“. Häufig wird zudem auf die potenzielle Rolle von Blockchain zur Erhöhung der Transparenz in Wertschöpfungsketten der Realwirtschaft oder des Handels verwiesen. Konkrete Praxisbeispiele, selten wie sie sind, sind oft einfacher gehalten: „In einem Pilotversuch wurde etwa die Lieferkette von Thunfisch in einer Blockchain festgehalten. Fischer in Indonesien registrieren per SMS ihren Fang. Wird der Fisch in einer Fabrik in Konservendosen weiterverarbeitet, erhält jede Dose einen digitalen Code, der sie dem Fisch zuordnet und zum Teil der Blockchain macht. Über diesen Code kann sich dann ein Verbraucher in England in die Blockchain einklinken und alle wichtigen Informationen über die Lieferkette abrufen.“ (Boing 2018)
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Ein ähnliches Beispiel findet sich für die Blockchain-Anwendung IOTA: „Zum Beispiel in Lieferketten: Ein Container verlässt die Fabrik in Shenzen, dessen Daten werden über Iota-Protokolle von Sensoren zum Hafen transferiert. Der Zoll kann die Freigabe erteilen, weil jederzeit klar ist, welche Reise der Container bislang machte und was sein Inhalt ist. So kann der Container automatisch aufs Schiff verladen werden, und im gleichen Moment bekommt der Exporteur sein Geld von der Bank. Das Vertrauensproblem mit Zwischenhändlern wird so ausgeschaltet.“ (Jansen 2018)
Im Gegensatz zu den Fällen oben, in denen die Automatisierung fast universell erscheint, bleibt sie in vielen der industriellen oder handelsbezogenen Praxisfälle beschränkt. Es ergeben sich Spielräume für Manipulationen, also im Wortsinne für Handgriffe oder für das in der Hand haben. Es wäre interessant, dieser in der Schilderung der Automatisierung innewohnenden Manualisierung etwas genauer nachzugehen. Beispielsweise könnte sich hier das Bedürfnis widerspiegeln, sich der weiteren Notwendigkeit menschlicher Eingriffe und Kontrollmöglichkeiten zu vergewissern. Die Prominenz, mit der Fragen der Autonomie in den untersuchten Artikeln auftauchen, könnte durchaus als Beleg für eine solche These dienen. 3.4
Autonomie/Kontrolle
Autonomie wird nicht zuletzt dann thematisiert, wenn konkrete Szenarien der Datafizierung entworfen werden. So wird z. B. diskutiert, dass Blockchain es ermöglichen soll, Fotos besser zu kommerzialisieren und dabei zugleich die Monopolisten zu schwächen, die aktuell die Verwertung von Bildmaterial kontrollieren. So sollen diese keine Kontrolle über die Daten haben, die vor Zensur geschützt dezentral gespeichert werden. Die Person, die den entsprechenden Zugang hat, kann vergleichsweise frei über die kreativwirtschaftlichen Produkte verfügen. Dabei wird zugleich angedeutet, dass die Blockchain hier eher im Hintergrund arbeiten könnte, ohne dass der Nutzer viel davon merkt. Die Blockchain wird so zu einer wichtigen Grundlage für Versuche, alternative Netzwerke zu etablieren, die von den Nutzern selbst betrieben werden. Wiederum taucht Blockchain als Lösung für Probleme der gegenwärtigen Plattformökonomie auf, die Daten kommodifiziert, ohne die Nutzer ausreichend aufzuklären oder zu entschädigen. Der Einsatz von Blockchain als Teil des digitalen Identitätsmanagements spielt hierbei eine wichtige Rolle. Mit dem Begriff der Self Sovereign Identity wird die Idee ins Spiel gebracht, Nutzern eine stärkere autonome Kontrolle über ihre Daten einzuräumen und sie gleichzeitig für die Bereitstellung von Daten
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entsprechend zu kompensieren. Wenn Daten ein monetärer Wert beigemessen werden kann, könnten sie in der Folge zudem als Zahlungsmittel eingesetzt werden. In der Schilderung solcher und ähnlicher Möglichkeiten werden die Potenziale einer durch Ökonomisierung beförderten Autonomie angedeutet (McNay 2009). Gelegentlich taucht Autonomie aber auch als Eigenschaft der Technologie selbst auf, bspw. wenn argumentiert wird, dass die Unkontrollierbarkeit der Blockchain Stärke und Problem zugleich sei. Wenn es dann aber wieder um die Frage geht, wie man den Gefahren eines Kontrollverlustes begegnen kann, kommen schnell wieder Motive zum Tragen, die bekannte Mechanismen ökonomischer Steuerung einfach digital umsetzen: So spielt erstens der Transparenzgedanke eine zentrale Rolle. An einer Stelle heißt es, dass Fälschungen sofort entdeckt werden und zwar durch „automatisierte Kontrolle“ (Nienhaus et al. 2018). Es wird unterstellt, dass durch Blockchain der Zugriff auf Daten transparenter dargestellt werden kann, wodurch Nutzer nachvollziehen können, wer wann auf ihre Daten zugreift. Zweitens werden Anreize in den Mittelpunkt gestellt, wobei oft positive Bilder der Interaktion und des Zusammenwirkens entworfen werden. Dabei wird drittens die Vorstellung betont, dass anreizkompatible Institutionen die Qualität und Quantität von Interaktionen erhöhen und so messbaren Nutzen stiften, wie der Vorstandvorsitzende von Rent24, Robert Bukvic, betont: „[damit] verbinden wir alle Mitglieder unserer Community, belohnen Interaktion und schaffen Alltagsnutzen auf Basis der Blockchain-Technologie“ (Hunziker 2018). In der Auseinandersetzung mit Autonomie und Kontrolle verdichten sich die drei zuvor genannten Begriffspaare. Im Prozess der Digitalisierung gewinnt Interdependenz von Autonomie und Kontrolle, das prinzipiell jedem gesellschaftlichen Wandel innewohnt, noch einmal an Bedeutung und Prägnanz: Dies wird in den betrachteten Artikeln immer wieder in Erinnerung gerufen, z. B. durch Begriffe wie Sicherheit oder Manipulationsschutz und den steten Verweis auf die Selbstbestimmtheit derer, die bestimmte Berechtigungen haben. Macht und Kontrolle werden heute nur noch selten als monolithische Konzepte behandelt. Foucault (1994) hat schon früh darauf hingewiesen, dass sie in modernen Gesellschaften oft subtil und verteilt auftreten; Deleuze (2016) hat wiederum betont, dass Kontrollmechanismen mit dem Aufstieg des Computers noch weiter verteilt wurden. Galloway (2004, S. 7) beschreibt hierauf aufbauend, wie Kontrolle durch Protokolle und Standards in dezentralen/distribuierten Strukturen konkret stattfinden kann, was er als „protocological control“ bezeichnet. Ähnlich einer Autobahn kommen hier große Freiheit und maximale Festlegung zusammen. Sie bietet eine Struktur, die Handlungen ermöglicht und gleichzeitig den Fahrer darauf festlegt, wie er zu fahren hat. Protokollogische Kontrolle
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unterscheidet sich von auf Zwang basierenden Erscheinungsformen nun dadurch, dass Kontrollmechanismen von vorneherein in die Infrastruktur integriert werden. Beispielsweise wirkt sich eine Bodenschwelle im Straßenverkehr ganz anders aus als eine Polizeikontrolle. Letztere verfügt über Zwangsmittel, kommt jedoch nicht automatisch zum Zug. Ob sich ein Fahrer an die Geschwindigkeitsbegrenzung hält oder nicht, ist nicht mehr ihm überlassen, sondern wird zur Grundbedingung der Straßennutzung. Trotz dieser größeren Bindungswirkung ist hiermit aber durchaus auch ein Autonomiegewinn verbunden. Galloway (2004) betont, dass Protokolle immer auch eine ermöglichende Struktur sind, da sie Zwangsmaßnahmen obsolet machen und Handlungsspielräume eröffnen. Diese Ambivalenz begleitet den Diskurs zu Blockchain seit den frühen Tagen von Bitcoin. Einerseits wird auf die rigide Verbindlichkeit des Bitcoin-Protokolls Bezug genommen, die sich in den Zeitungsartikeln an Themen wie Manipulationssicherheit, Unveränderbarkeit, aber auch der vermeintlichen Unkontrollierbarkeit der Blockchain manifestiert. Andererseits erfolgt der beständige Verweis auf mögliche Autonomiegewinne durch eine bessere Kontrolle über die eigenen Daten und die Unmittelbarkeit der Interaktion. Mit dem Thema der Unmittelbarkeit schließt die Diskussion an Besonderheiten gegenwärtiger Digitalisierungsdiskurse an. Unmittelbarkeit wird hier nicht zuletzt maschinell vermittelt. Wann immer es um Unmittelbarkeit geht, steht eigentlich ein Automatisierungsschritt an. Im Gegensatz zu vorangegangenen Automatisierungsdebatten führt die Maschine hier jedoch keine Entfremdung herbei, sondern das Gegenteil, sie schwächt die Entfremdung ab, weil die Interaktion unmittelbarer wird (Fisher 2010). 4
Schlussbemerkung
Unsere Analyse offenbart zwei Diskursebenen und Themenfelder, die mit Blockchain nach- und vorverhandelt werden und so ihre Spuren hinterlassen. Auf einer sehr konkreten Ebene geht es um die Frage, wie die Probleme der Plattformökonomie durch technische Lösungen beseitigt werden können. Auf einer eher konzeptionellen Ebene wird unter Rückgriff auf Begriffe wie Verbindlichkeit, Unmittelbarkeit und Automatisierung das spannungsreiche Verhältnis von Autonomie und Kontrolle bearbeitet. Die Möglichkeit einer weniger entfremdeten und damit auf Vertrautheit basierenden Digitalisierung erweist sich hierbei als ein Kernelement der betrachteten Diskurse. Die Dokumentenanalyse offenbart, dass Entscheidungsträger mit der Suche nach Wegen, dem Einzelnen größere Freiheiten einzuräumen und diese Autonomie gleichzeitig immer wieder mit Kontrolle zu koppeln, konfrontiert werden. Kontrolle bringt schon qua Teilnah-
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me an bestimmten Organisationsformen bestimmte Verhaltensweisen hervor. Dass diese Organisationsformen heutzutage partiell datafiziert sein müssen, ergibt sich dann fast selbstverständlich. Auf Blockchain basierende organisationale Experimente wie sogenannte Decentralized Autonomous Organizations (DAOs) exemplifizieren diese Gleichzeitigkeit von Verhaltenssteuerung über Programmiercodes und antiautoritäre Formen der Governance. Wie schon Galloway (2004) betont, kann der entsprechende Zugewinn an Autonomie durch solche Protokolle durchaus real sein. Er muss allerdings aktiv durchgesetzt werden, in Prozessen, die sich nicht allein auf der Ebene der Technik abspielen. In der Praxis besteht deshalb die große Gefahr, dass die Kontrolle über den Einzelnen zunimmt, ohne dass Autonomieversprechen eingelöst werden. Die Forderung nach Autonomie gilt es deshalb durchzusetzen. Das Bewusstsein hierfür wird häufig dadurch geschwächt, dass die betrachteten Diskurse sich nicht oder nur selten von der Idee distanzieren, dass dies durch magische Weise durch die Technologie selbst passiert. Aktuell dominiert deshalb die Gefahr, dass bei einseitiger Umsetzung lediglich Kontrollstrukturen geschaffen werden. Schließlich ergibt sich aus der Analyse eine Reihe von weiterführenden Aspekten, die in der Zukunft eine eingehendere Untersuchung verdienten. Wenn sich die Digitalisierung tatsächlich im Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Kontrolle situiert, stellt sich die Frage, warum sie bisher vor allem Strukturen hervorgebracht hat, die mit einem wahrgenommenen Autonomie- und Kontrollverlust einhergehen. Dabei bündelt sie zugleich Kontrolle monopolistisch in der Hand weniger privater Akteure (im Fall der angelsächsischen Ausprägung) oder staatlicher Akteure (vor allem im Fall der chinesischen, teilweise aber auch in der in westlichen Staaten ersichtlichen Ausprägung). Zwischen der Herausbildung hegemonialer Strukturen und der Entwicklung von Technologie besteht ein komplexes Wechselspiel. Es ist aber nicht auszuschließen, dass zuweilen die Technologie und zuweilen andere Faktoren zur Haupttriebkraft einer interdependenten Veränderungsdynamik werden (Sturn et al. im Erscheinen). Insbesondere stellt sich die Frage, ob die digitale Transformation eher einer bereits angelegten gesellschaftlichen und vor allem ökonomischen Logik folgt oder selbst diese Logik zu dominieren beginnt. Literatur Aretz, W., Gansen-Ammann, D.-N., Mierke, K. und Musiol, A. 2017. Date me if you can: Ein systematischer Überblick über den aktuellen Forschungsstand von Online-Dating. Zeitschrift für Sexualforschung, 30(01), 7-34. Banholzer, V. 2016. Gestaltungsdiskurs Industrie 4.0. Schriftenreihe der Georg-Simon-Ohm-Hochschule Nürnberg (62).
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Ulrich Klüh und Moritz Hütten
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Digitale Ratings als rechtliche Herausforderung Michael Gogola Abstract Zentral für die Funktionsweise der Plattformökonomie ist der umfassende Einsatz digitaler Ratingsysteme. Die Kunden1 werden nach Abschluss eines Auftrages von der Plattform aufgefordert, die Qualität der Leistungserbringung zu bewerten. Die eingesetzten Systeme digitaler Reputation erlauben nicht nur eine Auslagerung der Leistungskontrolle an die Kunden, sondern erreichen durch die hohe Dichte der Mitarbeiterkontrolle eine besondere Qualität. Im vorliegenden Beitrag werden wesentliche, sich daraus ergebende rechtliche Fragestellungen auf den Gebieten der betrieblichen Mitbestimmung, des Gleichbehandlungs- sowie des Datenschutzrechtes dargestellt und erörtert. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass es sich bei den eingesetzten Bewertungssystemen um der Mitbestimmungspflicht unterliegende technische Einrichtungen zur Leistungskontrolle handelt. Der Einsatz digitaler Bewertungssyssteme erscheint aufgrund der Tendenz zur Verstärkung gesellschaftlicher Ungleichheiten und Fortführung struktureller Diskriminierung aus gleichbehandlungsrechtlicher Sicht äußerst problematisch. Da die individualisierten Bewertungen als personenbezogene Daten anzusehen sind, können sich Crowdworker als von der Datenverarbeitung Betroffene auf persönliche Rechte aus der DSGVO berufen. 1
Grundsätzliches zu Plattformarbeit
Infolge der Digitalisierung ergeben sich neue Möglichkeiten der Arbeitsorganisation. Zuletzt ist die Arbeitserbringung in Form von Crowdwork (auch Plattformarbeit) in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen gerückt. Dabei werden Tätigkeiten, die traditionell von einzelnen, bestimmten Personen, in der Regel Beschäftigten, erbracht wurden, über Internetplattformen einer größeren Zahl von Personen (der Crowd) angeboten und von diesen in der Folge einzeln abgearbeitet (Risak 2018). Die Plattformen treten dabei als Intermediäre zwischen die 1
Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_11
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Auftraggebenden bzw. Kunden (die Crowdsourcer) und die Leistungserbringenden (die Plattformbeschäftigten oder Crowdworker), sodass das Verhältnis zwischen den beiden Parteien zumeist mittelbar abgewickelt wird (Risak 2017a; Leimeister et al. 2015). Die unter Zwischenschaltung von Plattformen erbrachte Arbeit ist inhaltlich jedoch divers und reicht von der digitalen Arbeit im virtuellen Raum bis hin zur Erbringung physischer Dienstleistungen. Zur ersten Kategorie zählen sowohl einfache, stark repetitive Tätigkeiten wie das Beschriften von Bildern (Microtasks), als auch komplexere Aufgaben, wohingegen in die zweiten Kategorie etwa Transportdienstleistungen wie jene, die über die Plattform Uber angeboten werden, oder Haushaltsdienstleistungen fallen (Risak 2016). Obwohl die Plattformen im mehrpersonalen Vertragsverhältnis eine zentrale Stellung einnehmen (Risak 2017b) und den Leistungserbringungsprozess durch genaue Vorgaben und, wie noch zu zeigen sein wird, durch eine äußerst dichte Leistungskontrolle wesentlich bestimmen, sehen die Plattformen ihre Tätigkeit oftmals als bloße Vermittlung von einzelnen Arbeitsgelegenheiten an. Sie weisen daher eine Rolle als Auftraggebende oder Arbeitgebende der Leistungserbringenden zurück bzw. sehen diese als Selbstständige an. Daraus resultiert das völlige Fehlen arbeitsrechtlichen Schutzes für die Arbeitenden bzw. die Ablehnung arbeitsrechtlicher Verantwortlichkeiten durch die Plattformen: Dies geschieht bereits durch den Einsatz bestimmter Begrifflichkeiten und sprachlicher Mittel, mit deren Hilfe die wirtschaftliche Stellung der einzelnen Akteure im Leistungserbringungsprozess verschleiert werden soll (Prassl 2018). Es zeigt sich jedoch, dass diese Position so pauschal nicht haltbar ist und die Crowdworker aufgrund der persönlichen (und wirtschaftlichen) Abhängigkeit, in der sie sich der Plattform gegenüber oftmals befinden, ihre Leistung in vielen Fällen als Beschäftigte oder zumindest als arbeitnehmerähnliche Personen erbringen (Risak 2018; Warter 2016; Karl 2016). Das zumeist verfehlte Zurückweisen (arbeits-)rechtlicher Verantwortlichkeiten durch die Plattformen deutet insbesondere darauf hin, dass die Plattformökonomie vom Bestreben, Ressourcen über den Einsatz einer Internetplattform auszulagern, bestimmt ist (Schörpf 2018). Die betreffenden Ressourcen müssen durch den Einsatz von Plattformen nicht mehr physisch im Unternehmen vorhanden sein, sondern es kann jederzeit auf externe Ressourcen zugegriffen werden (Choudary 2015). Srnicek (2017, S. 76) bezeichnet die auf diese Weise mögliche Form der Auslagerung von Ressourcen gar als „Hyper-Auslagerung“, da so Festkapital, Erhaltungskosten, Schulungskosten und sogar die Arbeitskräfte selbst ausgelagert werden könnten. Unternehmen verfolgen im Hinblick auf die Beschäftigten insbesondere das Ziel, durch den Einsatz von Plattformen die Kosten für unproduktive Zeiten so
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weit wie möglich zu reduzieren bzw. gänzlich auf die Crowdworker zu verlagern, während zugleich die volle Kontrolle über den Prozess der Leistungserbringung behalten werden soll (Risak 2016; Prassl 2018). Es sollen also einerseits die zu bezahlenden Entgelte niedrig gehalten, andererseits die rasche und qualitätsvolle Erledigung der zugeteilten Aufträge garantiert werden (Risak 2017a; Risak und Gogola 2018). 2
Digitale Bewertungssysteme als Kontrollmechanismen
Um die Ziele der Kostenreduktion und Risikoverlagerung auf die Arbeitenden bei gleichbleibender Arbeitsqualität zu erreichen, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. So muss die Crowd eine relativ große Zahl von aktiven Personen umfassen, um sicherzustellen, dass immer genügend Crowdworker zur Verfügung stehen. Zugleich bedienen sich die Plattformen einer Reihe von Anreizund Kontroll- bzw. Sanktionsmechanismen, die den Arbeitenden gegenüber eingesetzt werden. Eine ganz zentrale Rolle nehmen dabei Systeme der digitalen Reputation – die sogenannten Ratings – ein, die an die Stelle klassischer command and control-Systeme treten und mit deren Hilfe die Auswahl und Kontrolle der Crowdworker erfolgt. So werden die Kunden nach Abschluss jedes einzelnen, zumeist nur kurz dauernden Auftrages aufgefordert, die Arbeit der Crowdworker mit Punkten, Sternen oder anderen Symbolen zu bewerten. Zwar wird jedes Mal nur eine Einzelleistung bewertet, die abgegebenen Bewertungen (bzw. deren Summe) wirken sich jedoch auf die künftigen Erwerbschancen aus. Somit wird auch sichergestellt, dass so gearbeitet wird, als befänden sich die Crowdworker in einer langfristigen Arbeitsbeziehung, ohne dass ihnen die diesbezüglichen Vorteile zukommen würden (Risak 2017a; Warter 2016). Zwar kann in manchen Fällen, so besonders beim digitalen Crowdwork, zusätzlich ein Review, also ein kurzer Bericht, im Hinblick auf einen abgeschlossenen Auftrag verfasst werden (Schörpf 2018), in der Regel erschöpfen sich die abzugebenden Bewertungen jedoch in einer Punktevergabe auf sehr kurzen Skalen – etwa durch Vergabe von einem bis fünf Sternen mittels einem einzigen oder sehr wenigen Klicks in der eingesetzten App auf dem Smartphone oder einer anderen digitalen Benutzeroberfläche. Bei der sehr simplen Gestaltung der Bewertungssysteme steht wohl das Interesse an der leichten und raschen Durchführbarkeit des Bewertungsvorganges im Vordergrund, was zwar zu einer hohen Zahl an abgegebenen Bewertungen, qualitativ jedoch zu eindimensionalen Ergebnissen führt: Aus den abgegebenen Ratings sind die Gründe für eine gute oder schlechte Bewertung nicht ersichtlich (Risak und Gogola 2018). Offenbar wird von den Plattformbetreibern davon ausgegangen, dass eine hohe Quantität
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an sehr simplen Bewertungen, aus denen sich ein Durchschnitt errechnen lässt, qualitativ hochwertige, begründete und nachvollziehbare Bewertungen zu ersetzen vermag. 2.1
Die Rolle der Kunden
Ein wesentlicher Faktor für die Neuartigkeit der eingesetzten digitalen Ratingsysteme liegt in der Tatsache, dass die Bewertung der Arbeitenden von den Kunden und nicht etwa von der Plattform vorgenommen wird. Zwar steht dies in Einklang mit dem Narrativ, Arbeitsgelegenheiten würden durch die Plattform bloß vermittelt, es komme ein Vertrag über die Erbringung der Dienstleistung lediglich zwischen den Crowdworkern und den Leistungsempfängern zustande. Jedoch nutzen die Plattformen ihre starke Stellung im Vertragsgeflecht dazu, anhand der abgegebenen Ratings eine Form der laufenden Qualitätskontrolle im Hinblick auf die Leistungserbringenden umzusetzen. In der Regel stützen sich die Plattformen intensiv auf die durch Kunden vorgenommenen Bewertungen und ziehen daraus Konsequenzen bis hin zur Sanktionierung der Crowdworker bei Unterschreiten eines von der Plattform vorgegebenen Mindestniveaus. So dürfen etwa die für den Fahrtendienst Uber tätigen Lenkenden nicht unter eine bestimmte Durchschnittsbewertung fallen. Dabei ist der genaue Wert des geforderten Mindestniveaus je nach Stadt unterschiedlich, da Uber von kulturellen Unterschieden im Bewertungsverhalten der Kunden ausgeht. Wird die vorgegebene Durchschnittsbewertung unterschritten, so folgen temporäre Sperren beim Zugang zu Aufträgen oder überhaupt ein gänzlicher Ausschluss von der Plattform (Balla 2017). Die abgegebenen Ratings haben also ganz massive Auswirkungen auf die künftigen Arbeits- und Erwerbschancen von Crowdworkern, wobei die ständige Überwachung des Bewertungsschnittes und anderer Aspekte der Leistungserbringung in der Regel mithilfe von Algorithmen erfolgt (Prassl 2018). 2.2
Gesellschaftspolitische Dimension digitaler Ratings
Häufig werden Aufforderungen zur Abgabe einer Bewertung den Kunden schon unmittelbar nach Auftragsende automatisch eingeblendet und mit grafischen Effekten versehen, um dem Bewertungsvorgang eine verspielte Optik zu verleihen. Cherry (2012, S. 852) bezeichnet die Einführung spieltypischer Elemente in die Arbeitswelt als „the gamification of work“, wobei, auf den Anwendungsfall der Plattformökonomie übertragen, der spielerische Charakter des Bewertungsvorganges wohl die Kunden zur tatsächlichen Abgabe einer Bewertung motivie-
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ren und die für die Crowdworker durchaus ernsthaften Konsequenzen eines niedrigen Ratings in den Hintergrund treten lassen soll. Damit fügt sich die spielerische Bewertung von Arbeit in die Gratifikationslogik moderner sozialer Kommunikation in Form von Likes und Followers ein (siehe Han 2016). Überdies gelingt es den Plattformen, mithilfe der Ratings nicht bloß die Arbeit selbst an die Crowdworker, sondern auch die Kontrolle des Leistungserbringungsprozesses bzw. des jeweiligen Arbeitsergebnisses an die Kunden auszulagern. Das ist durchaus bemerkenswert, stellt die Kontrolle der Beschäftigten sowie der Leistungserbringung nach klassischem Verständnis doch eine ganz zentrale Aufgabe des Arbeitgebers dar. Eine besondere Schwierigkeit dabei bildet die Tatsache, dass Crowdworker in aller Regel ohne einen festgelegten Arbeitsort und insofern verstreut und vereinzelt arbeiten (Dziezda 2015), weshalb die Aufgabe, die Arbeitenden zu kontrollieren, für Arbeitgebende an Bedeutung gewinnt. Die Vorgabe von Mindeststandards, die Zusammenfassung der Bewertungsergebnisse und somit auch die Steuerungs- und Sanktionshoheit verbleiben daher bei der Plattform. Mithilfe des Einsatzes digitaler Bewertungssysteme gelingt den Plattformen also gerade durch die Rolle, die die Kunden einnehmen, eine enorm dichte und wirkungsvolle Kontrolle der Arbeitenden, wie sie auf traditionellem Wege kaum denkbar wäre: Da grundsätzlich nach jedem einzelnen erbrachten Arbeitsauftrag eine Bewertung abgegeben wird, erhalten die Crowdworker angesichts der typischerweise relativ kurzen Dauer jedes Auftrages jeden Tag eine Vielzahl von Bewertungen durch unterschiedliche Kunden. Während sich ein Vergleich mit den Überwachungsmaßnahmen des historischen Taylorismus aufdrängt, sehen Bauman und Lyon (2014) die unterschiedlichen Formen dichter, digitaler Überwachung von Arbeitnehmenden im Anschluss an Foucault (2017/1976) sogar als eine moderne Art von Panoptikum an, mittels dessen Arbeitnehmende zu „totalen Mitarbeitern“ (Bauman und Lyon 2014, S. 78) gemacht werden und ständig drohender Disziplinierung ausgesetzt sind. Angesichts der dichten Kontrolle durch digitale Bewertungssysteme wird auf die Arbeitenden also permanenter Druck ausgeübt, sich immer bewähren zu müssen und sich keinen noch so kleinen Fehler erlauben zu dürfen. Insofern müssen Crowdworker also nicht nur arbeiten, um entlohnt zu werden, sondern auch um dauerhaft ein hohes Bewertungsniveau zu halten (Dziezda 2015). 3
Digitale Bewertungssysteme und Mitbestimmung
Aus arbeitsrechtlicher Sicht stellt sich im Hinblick auf die verwendeten Bewertungssysteme der Plattformen eine Reihe von Fragen, zunächst schon im Hin-
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blick darauf, ob derartige Systeme überhaupt eingesetzt werden dürfen und, wenn dies der Fall ist, unter welchen Voraussetzungen sie eingesetzt werden dürfen. An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass Plattformen ihre Rolle lediglich als jene von Vermittlungsinstanzen ansehen und die Crowdworker als Selbstständige qualifizieren. Tatsächlich ist das Vertragsverhältnis zwischen den Crowdworkern und der Plattform jedoch in vielen Fällen als Arbeitsvertrag zu qualifizieren. Zwar gehört es zum Wesen des Arbeitsvertrages, dass der Arbeitgeber die Einhaltung der arbeitsvertraglichen Pflichten und die Leistung der Arbeitenden kontrollieren darf. Einer derartigen Mitarbeiterkontrolle sind jedoch rechtlich Grenzen gesetzt, was sich schon aus der möglichen Beeinträchtigung von Privatsphäre und Menschenwürde der kontrollierten Arbeitnehmenden ergibt. So bestimmt für die Bundesrepublik Deutschland § 87 Abs. 1 Z. 6 BetrVG2, dass bei der „Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen“, dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zukommt, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Möchte ein Arbeitgeber also ein technisches System zur Kontrolle der Mitarbeiter einführen, so ist im Vorhinein das Einvernehmen mit dem Betriebsrat herzustellen und muss eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen werden. Ohne Zustimmung des Betriebsrates dürfen derartige technische Kontrollsysteme also nicht eingesetzt werden. Wird das Mitbestimmungsrecht nicht beachtet, so bestehen Unterlassungsansprüche gegen den Arbeitgeber. Im Hinblick auf die in der Plattformökonomie eingesetzten Ratingsysteme ist wohl davon auszugehen, dass diese aufgrund ihrer digitalen Dimension als technische Einrichtungen, mit deren Hilfe die Leistung von Beschäftigten gemessen werden soll, anzusehen sind. Es ist die Plattform, die derartige Systeme gezielt einsetzt, um mithilfe der von den Kunden vorgenommenen Bewertungen Sanktionen den Plattformbeschäftigten gegenüber zu begründen. So kommt einem dauerhaften Ausschluss von der Plattform aufgrund zu niedriger Bewertungen durchaus dieselbe Wirkung wie einer Kündigung im traditionellen Arbeitsverhältnis zu. Soll die Leistung von Crowdworker also mithilfe von digitaler Reputation bewertet werden, so ist davon auszugehen, dass die eingesetzten Systeme der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungspflicht unterliegen und ohne Zustimmung nicht eingesetzt werden dürfen.
2
Für Österreich siehe § 96 Abs. 1 Z. 3 ArbVG: „Folgende Maßnahmen des Betriebsinhabers bedürfen zu ihrer Rechtswirksamkeit der Zustimmung des Betriebsrates: (…) die Einführung von Kontrollmaßnahmen und technischen Systemen zur Kontrolle der Arbeitnehmer, sofern diese Maßnahmen die Menschenwürde berühren“.
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Digitale Bewertungssysteme und Gleichbehandlungsrecht
Eine besondere Herausforderung im Zusammenhang mit dem Einsatz von Bewertungssystemen bilden mögliche Diskriminierungen bei der Vergabe von Ratings. So verbieten schon die Gleichbehandlungsrichtlinien der EU (insbesondere RL 2000/43/EG; RL 2000/78/EG; RL 2006/54/EG) und ihre nationalen Umsetzungen in den einzelnen Mitgliedstaaten Ungleichbehandlungen im Arbeitskontext aufgrund von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion bzw. Weltanschauung, Lebensalter und sexueller Orientierung. 4.1
Diskriminierung durch Übernahme von Ratings?
Aufgrund der sehr knappen, reduzierten und undifferenzierten Form der eingesetzten Rating-Mechanismen geht aus einer abgegebenen Bewertung die Motivation der Kunden bei der Vergabe eines hohen oder niedrigen bzw. guten oder schlechten Ratings in der Regel nicht hervor. Werden schlechte Bewertungen vergeben, so ist nicht auszuschließen, dass dies aufgrund von Vorurteilen der Kunden bzw. als Missbilligung rechtlich geschützter Merkmale, die die Leistungserbringenden aufweisen, erfolgt. So könnte etwa eine weibliche Crowdworkerin von Kunden ein niedrigeres Rating erhalten als ein männlicher Crowdworker oder ein Crowdworker mit schwarzer Hautfarbe könnte ein niedrigeres Rating erhalten als ein Crowdworker mit weißer Hautfarbe. Fraglich ist nun, ob im Hinblick auf von den Kunden auf Vorurteilen beruhenden vorgenommenen Bewertungen eine Diskriminierung durch die Plattform vorliegt, wenn diese die Bewertungen übernimmt und darauf arbeitsrechtliche Maßnahmen gründet, also etwa das Vertragsverhältnis mit einem bestimmten Crowdworker beendet. Richtig ist zwar, dass auch die Plattform die Motivation der Kunden bei der Vergabe niedriger Ratings in der Regel nicht kennt. Da es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) im Hinblick auf vorliegende Diskriminierungen auf ein Verschulden des Arbeitgebers nicht ankommt, ist die Frage, ob eine Diskriminierung vorliegt, jedoch rein objektiv zu beurteilen. Eine Diskriminierung kann somit sogar dann vorliegen, wenn der Arbeitgeber die Diskriminierung nicht hätte erkennen können (EuGH 8.11.1990, C-177/88, Rs. Dekker; EuGH 22.4.1997, C-180/95, Rs. Draehmpaehl). Sind schlechte Ratings also mit der Eigenschaft des betreffenden Crowdworkers als Träger eines gleichbehandlungsrechtlich geschützten Merkmals zu begründen und stützt sich die Plattform in der Folge auf die so zustande gekommenen Ratings, ohne sie zu überprüfen, und beendet das Vertragsverhältnis mit dem Crowdworker (kündigt diese also), so führt dies zu einer verschuldensunabhängigen Haftung der Plattform, selbst dann, wenn die Plattform über die Hintergründe der niedrigen Ra-
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tings nichts wusste. In diesen Fällen können daher Schadenersatzansprüche gegen die Plattform entstehen (Risak und Gogola 2018). 4.2
Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen?
Im Hinblick auf eine mögliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ist zunächst relevant, ob es sich bei einer Diskriminierung, die aus der unkritischen Übernahme von Kundenbewertungen durch die Plattform resultiert, um eine unmittelbare oder eine mittelbare Diskriminierung handelt. Nach den Gleichbehandlungs-Richtlinien der EU liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person aufgrund eines bestimmten (rechtlich geschützten) Merkmals in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Demgegenüber liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die ein geschütztes Merkmals tragen, in besonderer Weise benachteiligen können. Bei der mittelbaren Diskriminierung wirkt sich die Unterscheidung anhand an sich neutraler Kriterien also überwiegend für eine bestimmte Personengruppe negativ aus. Bei der Diskriminierung durch die unkritische Übernahme von Ratings und dem anschließenden Ableiten arbeitsrechtlicher Sanktionen handelt es sich um eine mittelbare Diskriminierung, weil nicht unmittelbar an einem geschützten Merkmal angeknüpft wird. So wird das Vertragsverhältnis von der Plattform nicht deshalb beendet, weil ein Crowdworker ein bestimmtes Merkmal aufweist, sondern es wird der Durchschnitt der erhaltenen Bewertungen, also ein scheinbar neutrales Merkmal, zur Begründung einer Kündigung herangezogen. Aufgrund der Rolle der Kunden, die ihrerseits durch die Vergabe niedriger Ratings ein diskriminierendes Verhalten setzen könnten, ist das von der Plattform geforderte Rating-Mindestniveau für Träger geschützter Merkmale aber wohl deutlich schwieriger zu erreichen als für Personen ohne (sichtbare) Merkmale. Fraglich ist, ob in derartigen Konstellationen vorliegende mittelbare Ungleichbehandlungen gerechtfertigt werden können. Von den EU-Richtlinien wird im Hinblick auf die Möglichkeit, Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen, gefordert, dass mit den differenzierenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren ein legitimes Ziel verfolgt wird und die eingesetzten Mittel zur Erreichung dieses Zieles angemessen und erforderlich sind. Während der Einsatz von Bewertungssystemen vordergründig dem Herstellen von Vertrauen zwischen Kunden und Dienstleistungserbringern dienen soll (Dziezda 2015), liegt wohl vor allem eine Messung der Kundenzufriedenheit und eine darauf reagierende Personalpolitik im Interesse der Plattformen. Jedoch bildet gerade die stark reduzierte und einfache Form der Bewertungsmechanismen ein Hindernis im Hinblick auf eine mög-
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liche Rechtfertigung: So ist, soll es um eine Messung der Kundenzufriedenheit gehen, aus den abgegebenen Ratings erst recht nicht ersichtlich, welche Gründe zu einer Bewertung der Dienstleistungserbringung als mangelhaft geführt haben. Der Einsatz von Systemen digitaler Reputation ist zur Zielerreichung daher kaum tauglich. Dazu müsste wohl eine größere Anzahl von Fragen zu unterschiedlichen Aspekten des Leistungserbringungsprozesses gestellt werden, Feedback müsste also in differenzierterer Weise von den Kunden eingefordert werden. Da somit andere Möglichkeiten bestünden, die Zufriedenheit der Kunden mit der erbrachten Dienstleistung zu beobachten, kommt eine Rechtfertigung möglicher mittelbarer Ungleichbehandlungen nicht in Betracht (Risak und Gogola 2018). 4.3
Diskriminierung durch bloßen Einsatz von Ratings?
Zu überlegen ist jedoch, ob nicht bereits der Einsatz der beschriebenen Ratingsysteme selbst einen Akt mittelbarer Diskriminierung darstellen könnte. So liegt es nahe, dass die Angehörigen bestimmter Personengruppen – jener, die (sichtbare) gleichbehandlungsrechtlich geschützte Merkmale tragen – grundsätzlich und öfter schlechtere Bewertungen erhalten als Angehörige anderer – privilegierter – Gruppen. Gerade aufgrund der reduzierten Form der eingesetzten Bewertungssysteme erscheint es nicht ausgeschlossen, dass gesellschaftlich verankerte Vorurteile und Stereotype Einfluss darauf haben, welche Personen gute Ratings erhalten und welche Personen schlechte erhalten, bestehende Ungleichheiten in der Gesellschaft also mithilfe der abgegebenen Bewertungen reproduziert werden. Problematisch ist dabei der Umstand, dass in der Folge ausgesprochene Kündigungen nicht auf den Akt der Bewertung rückführbar sind, obwohl ein Unterschreiten von geforderten Rating-Mindestniveaus aus Ungleichheiten bei der Bewertung resultieren kann (Cherry 2017). Zu kritisieren ist daher, dass Plattformen die Aufgabe der Bewertung der Arbeitenden den Kunden überlassen und damit auch die Verantwortung für das Zustandekommen – möglicherweise diskriminierender – Bewertungen abschieben. Um diskriminierende Effekte zu vermeiden, müssten Plattformen im Hinblick auf die von ihnen eingesetzten Systeme wohl systematische Vergleiche anstellen, also überprüfen, ob Träger von geschützten Merkmalen niedrigere Bewertungen erhalten als Personen ohne (sichtbare) Merkmale, und darauf entsprechend reagieren (Risak und Gogola 2018). Unterlassen sie derartige systematische Vergleiche, so stellt wohl bereits der bloße Einsatz digitaler Bewertungssysteme durch Plattformen eine Diskriminierung dar.
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Digitale Bewertungssysteme und Datenschutz
Ohne umfangreiche Formen von Datenverarbeitung wäre die Plattformökonomie mit ihren on demand-Angeboten kaum denkbar. Durch den Einsatz von Systemen digitaler Reputation mit ihrer hohen Kontrolldichte wird ebenfalls eine große Menge an Daten produziert. Angesichts des für die Arbeitswelt ohnehin typischen Machtungleichgewichts zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden spielt der Schutz der Privatsphäre der Arbeitenden – und somit der Schutz der sie betreffenden Daten – im Zuge der Digitalisierung eine immer wichtiger werdende Rolle. Han (2016, S. 84 f.) spricht im Hinblick auf die technischen Möglichkeiten zur Überwachung gar von der Gefahr einer „Totalprotokollierung des Lebens“, der moderne Mensch sei also „gleichsam gefangen im digitalen Totalgedächtnis“. Da sich jede abgegebene Bewertung auf eine konkrete, arbeitende Person bezieht und von der Person getrennt wertlos wäre, handelt es sich bei den Ratings um personenbezogene Daten. Das wirft eine Reihe weiterer rechtlicher Problemstellungen auf. Was die Verarbeitung personenbezogener Daten betrifft, gibt die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) seit dem 25.05.2018 den europaweit einheitlichen rechtlichen Rahmen vor. Das bis zu seinem Inkrafttreten und darüber hinaus durchaus umstrittene und auch medial breit diskutierte Regelwerk stellt in seinem Artikel 5 eine Reihe von Grundsätzen bei der Datenverarbeitung auf: – – – – – – –
Verarbeitung nach Treu und Glauben, Rechtmäßigkeit, Transparenz Zweckbindung Datenminimierung oder Datensparsamkeit Richtigkeit Speicherminimierung Integrität und Vertraulichkeit Rechenschaftspflicht des/der Verantwortlichen
Als Verordnung ist die DSGVO unmittelbar allen Bürger gegenüber anwendbar und auch nicht auf bestimmte Bereiche beschränkt. Somit kommen die Regeln der DSGVO grundsätzlich auch in der Arbeitswelt in vollem Umfang zum Tragen, weshalb sich auch für Plattformen tätige Personen unmittelbar auf die DSGVO und die dort normierten persönlichen Rechte berufen können. 5.1
Datenminimierung und Speicherbegrenzung
Zunächst scheint es üblich zu sein, dass Plattformen eine sehr große Zahl oder überhaupt sämtliche im Hinblick auf eine bestimmte Person abgegebenen Bewertungen zur Berechnung des Durchschnitts bzw. des zu erreichenden Mindest-
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niveaus heranziehen. Teilweise sind die Bewertungen sogar einzeln im Internet abrufbar und daher auch für die Kunden einsehbar. So greift etwa die Plattform Uber zur Berechnung des Bewertungsdurchschnitts auf die letzten 500 abgegebenen Bewertungen zurück (Balla 2017). Die Arbeitenden sind also damit konfrontiert, dass bei der Berechnung ihres jeweiligen Gesamtratings stets ein großer Teil oder gar ihre gesamte Tätigkeit für eine bestimmte Plattform einbezogen wird und schlechte Bewertungen somit niemals wirklich verschwinden, sondern höchstens durch spätere gute Bewertungen wettgemacht werden können. In diesem Zusammenhang ist zu hinterfragen, ob ein derart langfristiges Aufbewahren von Kundenbewertungen sowie ein Zurückgreifen darauf mit den Grundsätzen der Datenminimierung sowie der Speicherbegrenzung vereinbar sind. Dabei wird mit dem Grundsatz der Datenminimierung das Ziel verfolgt, die Verarbeitung personenbezogener Daten auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken, es soll also die Datenverarbeitung durch den verfolgten Verarbeitungszweck begrenzt werden (Hötzendorfer et al. 2018, Artikel 5 DSGVO, Rz. 34). Schon unmittelbar aus dem Text des Artikel 5 Abs. 1 lit. e DSGVO („Speicherbegrenzung“) geht hervor, dass personenbezogene Daten nur so lange aufbewahrt werden dürfen, wie es im Hinblick auf den Zweck der Datenverarbeitung erforderlich ist. Geht man davon aus, dass mit dem Einsatz digitaler Reputationssysteme über die Abfrage der Kundenzufriedenheit eine hohe Qualität der erbrachten Dienstleistungen sichergestellt werden soll, so bildet dies wohl einen legitimen Zweck der Datenverarbeitung. Fraglich erscheint jedoch, ob die langfristige Aufbewahrung und Auswertung von Kundenratings vom Verarbeitungszweck gedeckt sind. Es geht also darum, ob vor möglicherweise längerer Zeit abgegebene Bewertungen überhaupt Auskunft über die aktuelle Qualität der Leistungserbringung durch einen Plattformbeschäftigten geben können. Einerseits geht die Verarbeitung derartiger älterer Ratings wohl über das notwendige Maß hinaus, andererseits erscheint eine so extensive Verarbeitung im Hinblick auf den Verarbeitungszweck auch nicht angemessen. Die Heranziehung sämtlicher jemals abgegebener Bewertungen für die Berechnung eines geforderten Durchschnitts ist vor dem Hintergrund der Datenminimierung bzw. Speicherbegrenzung somit wohl als Verstoß gegen die DSGVO und daher als unzulässig anzusehen. Wie groß die Anzahl der einzubeziehenden Bewertungen und der Betrachtungszeitraum grundsätzlich sein darf, lässt sich aber wohl nicht pauschal festlegen, sondern hängt von der Art der wirtschaftlichen Tätigkeit einer Plattform bzw. von der angebotenen Dienstleistung ab. Auch die Anzahl der Aufträge, die typischerweise innerhalb eines bestimmten Zeitraumes von einem durchschnittlichen Plattformbeschäftigten erledigt werden kann, muss wohl berücksichtigt werden. Sobald die Verarbeitung von in der
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Vergangenheit abgegebenen Bewertungen also im Hinblick auf den Verarbeitungszweck nicht mehr notwendig ist, trifft die Plattform die Pflicht zur Löschung bzw. kann der Plattformbeschäftigte die Löschung der Bewertungen nach Artikel 17 DSGVO begehren. 5.2
Richtigstellung unrichtiger Bewertungen
Eine weitere Fragestellung ergibt sich im Hinblick auf die inhaltliche Richtigkeit der abgegebenen und mitunter langfristig gespeicherten Bewertungen. So besteht für die Plattformbeschäftigten in aller Regel keine Möglichkeit, erhaltene Ratings kritisch zu hinterfragen oder durch die Plattform richtigstellen zu lassen. Das führt zu einer besonders starken Abhängigkeit von den Kunden und verstärkt den Druck zur permanenten Bewährung weiter. In Artikel 16 DSGVO wird jedoch allen von einer Datenverarbeitung betroffenen Personen das Recht eingeräumt, sie betreffende, unrichtige personenbezogene Daten vom für die Datenverarbeitung Verantwortlichen berichtigen zu lassen, was auch die Vervollständigung unvollständiger personenbezogener Daten einschließt. Dieses Recht kommt daher auch Crowdworkern im Hinblick auf die sie betreffenden, individualisierten digitalen Bewertungen zu. Aufgrund der Kürze und Reduziertheit der zumeist eingesetzten Systeme (etwa eine Skala von 1 bis 5 Sternen) sind die Gründe für ein schlechtes Rating auch von den Kunden oft nicht darstellbar. Überdies verleihen Kunden bei der Abgabe einer Bewertung vordergründig einer stets subjektiven Wahrnehmung über die Leistungserbringung Ausdruck. Aus diesen Gründen ist es für Plattformbeschäftigte wohl sehr schwierig möglich, mit der Behauptung, ein Rating sei unrichtig, entspreche also nicht der tatsächlich höheren Qualität der Leistungserbringung, durchzudringen. Eine Richtigstellung in Form einer Korrektur schlechter Bewertungen erscheint daher nur in jenen Fällen praktisch umsetzbar, in denen der Crowdworker gegenüber der Plattform als für die Datenverarbeitung Verantwortliche glaubhaft darlegen kann, dass eine bestimmte Bewertung sachlich unrichtig ist. Dennoch ist Crowdworkern, machen sie von ihrem Recht nach Artikel 16 DSGVO Gebrauch, zumindest die Möglichkeit einzuräumen, zu abgegebenen Bewertungen Stellung zu nehmen und ein negatives Rating auf diese Art zu relativieren. Umsetzbar wäre dies etwa durch das Verfassen eines ebenfalls online abrufbaren schriftlichen Kommentars zu einem Rating, in dem der Plattformbeschäftigte darstellen kann, was aus seiner Sicht zur schlechten Bewertung geführt habe und wieso die vom Kunden vorgenommene Bewertung unrichtig sei (siehe Goricnik und Riesenecker-Caba 2017). Zumindest ist wohl für die Kunden sichtbar zu vermerken, dass die Richtigkeit eines bestimmten Ratings durch den
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Crowdworker bestritten wird. In jenen Fällen, in denen aus einer größeren Zahl einzelner Bewertungen ein Durchschnitt errechnet wird, dürfen die in Streit stehenden Ratings bis zu einer möglichen Klärung nicht einbezogen werden. 5.3
Übertragbarkeit von Bewertungen?
Aus wirtschaftlicher Sicht ist es für Plattformen ungünstig, wenn derselbe Crowdworker mehrere Plattformen ähnlicher Art nutzt, um Arbeitsaufträge zu erhalten. In diesem Fall würde eine Plattform den gewünschten exklusiven Zugriff (Parker et al. 2016) auf die Arbeitskraft und die Daten einer Person verlieren. Wohl auch um den Wechsel zu einer anderen Plattform unattraktiv erscheinen zu lassen, sind die Mitnahme erhaltener Bewertungen nach Ende der Tätigkeit eines Crowdworkers für eine bestimmte Plattform sowie die Übertragung auf eine andere Plattform in der Regel nicht möglich (Warter 2016). Damit wird gezielt die Mobilität der Crowdworker zwischen den Plattformen eingeschränkt und es findet eine enge Bindung der einzelnen Arbeitenden an eine bestimmte Plattform statt (Prassl und Risak 2016). Entscheiden sich Plattformbeschäftigte für einen Wechsel auf eine andere Plattform, so verlieren sie nicht nur ihre schlechten, sondern auch sämtliche bisherigen guten Bewertungen, die möglicherweise über Monate hinweg erworben wurden. Sie sind sie somit gezwungen, sich von Neuem gute Bewertungen zu erarbeiten, weshalb die Möglichkeit einer Mitnahme ihrer digitalen Reputation auf andere Plattformen für die Crowdworker enorme Vorteile hätte (Dziezda 2015). Zu fragen ist daher, ob den Crowdworkern ein Recht auf die Übertragung der sie betreffenden Bewertungen auf eine andere Plattform zukommt. So sieht Artikel 20 Abs. 1 DSGVO ein Recht auf Datenübertragbarkeit vor: Jede von einer Datenverarbeitung betroffene Person hat also das Recht, sie betreffende personenbezogene Daten, „die sie einem Verantwortlichen bereitgestellt hat[,] in einem strukturierten, gängigen und maschinenlesbaren Format zu erhalten“ und diese Daten einem anderen Verantwortlichen zu übermitteln. Zwar liegt auf der Hand, dass die Crowdworker unmittelbar von den Ratings betroffen sind, wohl aber sind es nicht sie selbst, die die Ratings bereitgestellt haben, da von den Plattformen bei der Einholung der Bewertungen auf die Kunden zurückgegriffen wird. Daher können sich Plattformbeschäftigte, wollen sie erhaltene Ratings auf eine andere Plattform übertragen, nicht auf Artikel 20 DSGVO berufen (so auch Goricnik und Riesenecker-Caba 2017). Dennoch trägt der Umstand, dass Bewertungen, die von Kunden abgegeben wurden, in der Regel nicht übertragbar sind, zur Verstärkung des Machtungleichgewichts zwischen Plattform und Crowdworkern bei. Daran zeigt sich deutlich, dass das geltende Recht das Phänomen plattformbasierter Arbeit und
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die sich daraus ergebenden besonderen Fragestellungen nicht vollständig zu regeln vermag. So verbleiben auch nach Inkrafttreten der DSGVO, die wesentliche Verbesserungen gebracht hat, Schutzlücken bestehen, weshalb eine rechtspolitische Reaktion zur Verbesserung der Arbeitssituation von Crowdworkern angemessen erscheint. Konkret sollte etwa ein Recht auf Übertragung in der Vergangenheit erworbener Bewertungen gesetzlich verankert werden. 6
Ergebnis und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass digitale Ratings eine zentrale Rolle bei der Leistungserbringung sowie bei der Auswahl, Kontrolle und Disziplinierung der im Rahmen der Plattformökonomie tätigen Personen spielen und somit die Arbeitsrealität von Crowdworkern dramatisch bestimmen. Wie dargestellt, ergeben sich aus dieser Konstellation eine Reihe rechtlicher Fragestellungen, die sich einerseits aus der Mehrpersonalität der Vertragsverhältnisse in der Plattformökonomie, andererseits aus der Neuartigkeit der eingesetzten Kontrollmechanismen ergeben. Herausforderungen bestehen insbesondere auf den Gebieten der betrieblichen Mitbestimmung, des Gleichbehandlungsrechtes sowie des Datenschutzes. Geht man davon aus, dass entgegen einer gängigen Darstellung der Plattformen zumeist Arbeitsverträge zwischen diesen und den Crowdworkern vorliegen, so kann das Zurückgreifen auf Systeme der digitalen Reputation den Betrieb einer technischen Einrichtung zur Überwachung der Leistung der Beschäftigten darstellen, weshalb dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zukommt. Werden von Kunden schlechte Ratings in diskriminierender Absicht vergeben und stützt sich die Plattform in der Folge auf diese Ratings, um arbeitsrechtliche Sanktionen gegenüber einem Crowdworker zu ergreifen, so handelt es sich um eine mittelbare Diskriminierung durch die Plattform und diese wird gleichbehandlungsrechtlich verantwortlich. Angesichts der Tendenz zur Fortführung und Verfestigung gesellschaftlicher Ungleichheiten kann der Einsatz digitaler Bewertungssysteme zur Leistungskontrolle eine mittelbare Diskriminierung darstellen. Darüber hinaus ergeben sich auch datenschutzrechtliche Fragestellungen im Hinblick auf die langfristige Verarbeitung abgegebener Bewertungen, auf die Richtigkeit der Bewertungen sowie auf die Übertragbarkeit auf andere Plattformen. Die zeitlich unbegrenzte Verarbeitung sämtlicher jemals abgegebener Bewertungen aus datenschutzrechtlicher Sicht scheint unzulässig und es hat eine Beschränkung der Verarbeitung auf das notwendige Maß zu erfolgen. Überdies ist den Plattformbeschäftigten die Möglichkeit einzuräumen, von Kunden vorge-
Digitale Ratings als rechtliche Herausforderung
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nommene Bewertungen zu korrigieren oder zumindest dazu Stellung zu nehmen. Ein Recht auf Übertragbarkeit erworbener Bewertungen kommt den Plattformbeschäftigten angesichts der Rolle der Kunden als Bereitstellende der Ratings auf Basis der bestehenden Rechtslage nicht zu. Gerade die Möglichkeit der Übertragung von Bewertungen könnte die Verhandlungsposition von Crowdworkern jedoch entscheidend stärken, weshalb die gesetzliche Verankerung eines solchen Rechtes erstrebenswert erscheint. Literatur Balla, M. 2017. Transportdienstleistungen: Uber. In: Lutz, D. und Risak, M. (Hrsg.). Arbeit in der Gig-Economy. Wien: ÖGB-Verlag, 106-148. Bauman, Z. und Lyon. D. 2014. Daten, Drohnen, Disziplin – Ein Gespräch über flüchtige Überwachung. Berlin: Suhrkamp. Cherry, M. 2012. The Gamification of Work. Hofstra Law Review, 4, 851-858. Cherry, M. 2017. People Analytics and Invisible Labor. Saint Louis University Law Journal, 61, 116. Choudary, S. P. 2015. Platform Scale. O.O.: Platform Thinking Labs. Dziezda, J. 2015. The rating game. The Verge. https://www.theverge.com/2015/10/28/9625968/ rating-system-on-demand-economy-uber-olive-garden/ (letzter Zugriff: 31.05.2019). Foucault, M. 2017/1976. Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goricnik, W. und Riesenecker-Caba, T. 2017. Datenschutz in der Gig-Economy. In: Lutz, D. und Risak, M. (Hrsg.). Arbeit in der Gig-Economy. Wien: ÖGB-Verlag, 236-252. Han, B.-C. 2016. Psychopolitik – Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt am Main: Fischer. Hötzendorfer, W., Tschohl, C. und Kastelitz, M. 2018. Art. 5 DSGVO. In Datenschutz-Kommentar, Hrsg. Knyrim, Rainer. Wien: Manz. Karl, B. 2016. Plattformen als Verbindung zwischen Arbeitenden und Leistungsempfängern. In: Tomandl, Th. und Risak, M. (Hrsg.). Wie bewältigt das Recht moderne Formen der Arbeit? Wien: New Academic Press, 85-105. Leimeister, J., Zogaj, S. und Blohm, I. 2015. Crowdwork – digitale Wertschöpfung in der Wolke. In: Benner, C. (Hrsg.). Crowdwork – zurück in die Zukunft?. Frankfurt am Main: Bund-Verlag, 9-41. Parker, G., Van Alstyne, M. und Choudary, S. 2016. Platform Revolution. New York: Norton & Company. Prassl, J. 2018. Humans as a Service. Oxford: Oxford University Press. Prassl, J. und Risak, M. 2016. Uber, TaskRabbit and Co.: Platforms as employers? Comparative Labour Law and Policy Journal, 37. Risak, M. 2016. What’s law got to do with it? Kurswechsel, 2, 32-41. Risak, M. 2017a. Gig-Economy und Crowdwork – was ist das? In: Lutz, D. und Risak, M. (Hrsg.). Arbeit in der Gig-Economy. Wien: ÖGB-Verlag, 12-26. Risak, M. 2017b. (Arbeits-)Rechtliche Aspekte der Gig-Economy. In: Lutz, D. und Risak, M. (Hrsg.). Arbeit in der Gig-Economy. Wien: ÖGB-Verlag, 44-60. Risak, M. 2018. Arbeitsrecht gestalten. In: Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (Hrsg.). Umkämpfte Technologien – Arbeit im digitalen Wandel. Hamburg: VSA, 153-164.
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Michael Gogola
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Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung – eine Analyse der Situation des Individuums am digitalisierten Arbeitsplatz Verena Bader Abstract Sowohl in der Forschung als auch im praktischen Diskurs verlaufen die Argumente darüber, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf Beschäftigte1 haben kann, oft in gegensätzliche Richtungen, sind also widersprüchlich. Dieser Artikel geht der Frage nach, wie Widersprüchlichkeiten in der digitalisierten Arbeit für individuelle Beschäftigte konstruiert werden. Auf Basis einer Analyse des öffentlichen Diskurses innerhalb der Sozialpartnerschaft werden drei Arten von Widersprüchlichkeiten identifiziert: Handlungs-, Technik- und Organisationsambiguitäten. Im Ergebnis zeigt sich, wie im sozialpartnerschaftlichen Diskurs ein aktiver Umgang mit den Widersprüchlichkeiten entsteht – in Form einer Suche nach organisationalen und kollektiven Lösungen jenseits einer Abwälzung der Verantwortung auf das Individuum.2 1
Veränderung der individuell erlebten Arbeitswelt von Beschäftigten
Individualisierung galt in der Arbeitswelt lange Zeit als wünschenswert, um Beschäftigten eine individuelle und selbstbestimmte Arbeitsgestaltung zu ermöglichen (Hornberger 2002). Die komplexen Auswirkungen neuer Technologien sind jedoch für Beschäftigte, ebenso wie für ihre Vertreter, zunehmend unabsehbar (Griffith 1999): Geht mit mobilem Arbeiten oder Homeoffice mehr Selbstbestimmung für Beschäftigte einher? Oder stellt es eher einen Schritt hin zu mehr Kontrolle und weniger Autonomie für Individuen dar? Sorgt der Einsatz von Analytik für mehr Entscheidungsfreiheit und Empowerment einzelner Beschäftigter? Oder handelt es sich um eine Diktaktur der Algorithmen?
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Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen. Dieser Artikel entstand im Kontext des Forschungsprojektes „Mitbestimmung 4.0 – Mit Widersprüchlichkeiten aktiv umgehen“, das von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_12
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Verena Bader
Insbesondere die digitale Transformation verändert die Arbeitswelt für einzelne Beschäftigte grundlegend (Faraj et al. 2018). Typischerweise sind digitale Veränderungsprozesse auf drei Ebenen zu beobachten: Zum einen verändert sich die Technik, indem sie fortschrittlicher wird. Zum anderen verändern sich Arbeitsweisen, indem neue Formen der (Zusammen-)Arbeit ausprobiert werden. Diese Veränderungen der Arbeitsweisen können losgelöst oder an neue Technologien gekoppelt sein, also sich mit ihrer Nutzung ergeben. An diesen Gedanken schließt sich eine dritte Veränderungsdimension an: die soziale (Wang et al. 2020). Oftmals sind jedoch die sozialen Auswirkungen, wenn sich Arbeitsweisen oder Technik verändern, weder im Voraus absehbar, noch gehen sie in eine eindeutige Richtung (Bader und Buhr 2020; Griffith 1999). Hinzu kommt, dass die Nutzung neuer digitaler Technologien und die Aneignung neuer Arbeitsweisen von individuellen Beschäftigten unterschiedlich erlebt werden können. Die digitale Transformation stellt die Sozialpartner somit vor komplexe Herausforderungen, da – die Auswirkungen des Einsatzes digitaler Technologien widesprüchlich und nicht zwangsläufig absehbar sind, – es für fortgeschrittene digitale Technologien und neue Arbeitsweisen oftmals noch keine Erfahrungswerte und rechtlichen Grundlagen gibt, – die Veränderung in Betrieben derzeit in so erheblicher Geschwindigkeit geschieht, dass sich die Arbeitgeber, Beschäftige und ihre Vertreter kaum mit diesen Konfliktfeldern befassen können, und, – individuelle Beschäftigte ihre Arbeitswelt zunehmend unterschiedlich erleben und gestalten (Individualisierung), was Kollektivverhandlungen weiter erschweren kann. Vor dem Hintergrund dieser Unwägbarkeiten, stellt sich die Frage, wie individuelle Beschäftigte und Akteure der Sozialpartnerschaft mit diesen Widersprüchlichkeiten umgehen können. Da der Umgang mit komplexen Herausforderungen und soziale Praktiken typischerweise diskursiv vorbereitet werden (Vaara und Tieniari 2004; Pfeiffer 2019), widmet sich der vorliegende Beitrag der Untersuchung des Diskurses unter den Sozialpartnern. Dabei wird untersucht, wie die sozialpartnschaftlichen Akteure die Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung für individuelle Beschäftigte im Diskurs konstruieren und welche Strategien zu einem möglichen Umgang dabei diskursiv erschlossen werden. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über den Stand der Forschung zu den Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung aus den Disziplinen der Organisationstheorie, des Personalmanagements und der Wirtschaftsinformatik erarbeitet. Im Anschluss daran wird die Diskursanalyse als Methode und das eigene Vorgehen vorgestellt, bevor die
Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung
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Ergebnisse der Analyse präsentiert werden und diese dann abschließend diskutiert werden. 2
Versprechen und Drohungen der Digitalisierung: Paradoxa in der wissenschaftlichen Literatur
In der wissenschaftlichen Literatur zu Digitalisierung lassen sich nach wie vor zwar wenige, jedoch zunehmend Studien finden, die speziell Ambivalenzen der Digitalisierung in den Blick nehmen. Eine Reihe von Wissenschaftlern betrachtet die Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung, indem sie ihre Versprechen, also die scheinbaren Vorteile, die sich aus der Nutzung digitaler Technologien und neuer Arbeitsweisen ergeben sollen, kritisch hinterfragen und damit deren mögliche Drohungen zum Ausdruck bringen. Untersucht wurde bislang in erster Linie das so genannte Autonomie-Paradoxon (Mazmanian et al. 2013; Wang et al. 2020). Die Widersprüchlichkeit zwischen Autonomie und Kontrolle kann sich zum Beispiel in der Nutzung von Smartphones in der Arbeitswelt ergeben (Bader und Kaiser 2017; Mazmanian et al. 2013). Mazmanian et al. (ebd.) fanden in einer ethnographischen Studie heraus, dass die Beschäftigten einer Professional Service Firm zu Beginn der Nutzung von beruflichen Blackberries individuell mehr Autonomie empfanden. Mit der Zeit entwickelte sich jedoch innerhalb der kollektiven Dynamiken und zunehmenden Nutzung die Erwartungshaltung einer ständigen Erreichbarkeit und somit Kontrolle. Ein weiteres wissenschaftlich diskutiertes Paradoxon ist das sogenannte Transparenz-Paradoxon (Stohl et al. 2016). Hierbei wird davon ausgegangen, dass Transparenz per se eine positive Errungenschaft für Organisationen ist, während eine Undurchsichtigkeit von Informationen negativ und mit Problemen behaftet ist (Zarsky 2016). Obwohl digitale Technik und die zunehmende Datensammlung und Analytik (Datafizierung) oftmals einhergehen mit einer Sichtbarkeit von Informationen, Entscheidungprozessen, Verhalten (Stohl et al. 2016) und auch Leistung, so bedeutet diese Sichtbarkeit nicht zwangsläufig, dass auch Transparenz vorherrscht. Stohl et al. (ebd.) sehen beispielsweise hier die Möglichkeit, dass Informationen – obwohl sie sichtbar sind – in der Fülle der Informationen untergehen können (unbeabsichtigte Undurchsichtigkeit). Andererseits kann Transparenz auch strategisch verhindert werden, indem organisationale Akteure trotz der Verfügbarkeit von Informationen etwa nur bestimmte Informationen hervorheben, andere Informationen nur ungenau vermitteln oder von bestimmten Informationen ablenken (strategische Undurchsichtigkeit). Auch neue Formen von Zusammenarbeit oder Arbeitspraktiken werden in der Literatur hinsichtlich ihrer Widerprüchlichkeiten diskutiert. Ein Beispiel ist die
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sogenannte Sharing Economy, deren digitale Ausprägungen, wie Online-Communities oder digitale Geschäftsmodelle über Plattformen, ursprünglich dafür gedacht waren, Ressourcen für eine breite Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen und gemeinsam zu nutzen. Auch hier haben sich verschiedene Formen entwickelt, die in sich widersprüchlich sind (Acquier et al. 2017). So werden knappe Güter etwa durch digitale Plattformen besser für eine breite Masse zugänglich gemacht, sie werden jedoch auch mehr genutzt, und eine Optimierung der Ressourcennutzung bleibt aus (ebd.). Auf ähnliche Weise existieren auch gegenläufige Effekte wie Offenheit und Geschlossenheit. Inklusiv angedachte Plattformen können sich zum Beispiel zu Orten mit einem exklusiven Zugang für eine oder mehrere bestimmte Gruppen entwickeln; Plattformen und neue Technologien (zum Beispiel die Blockchain), die im postbürokratischen Sinne dezentral organisiert sein sollten, können erneut von Intermediären (z. B. Plattformbetreibern) zentral beherrscht werden und verlieren dadurch ihr Versprechen als geteiltes beziehungsweise offenes Gut (ebd.). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Forschung zur digitalen Transformation in Organisationen vorwiegend unterschiedlichen Seiten der technologieinduzierten Veränderungen widmet, sich zunehmend aber auch mit ihren Widersprüchlichkeiten selbst befasst. In ähnlicher Weise finden sich die strategischen Akteure innerhalb der Sozialpartnerschaft in widersprüchlichen Handlungsfeldern wieder, die sich auch im öffentlichen Diskurs widerspiegeln. Die nachfolgenden Kapitel widmen sich der Analyse der narrativen Aushandlung von Widersprüchlickeiten im öffentlichen Diskurs der Sozialpartnerschaft. 3
Diskursanalyse als Methode und Kontext
Diesem Artikel liegt ein Verständnis von Diskursanalyse als Methode zugrunde, das in der Organisationsforschung häufig zu finden ist (Vaara und Tieniari 2002). Ähnlich wie bei Vaara und Tieniari (ebd.) wird mit der Diskursanalyse als Methode untersucht, wie organisationale Phänomene durch Sprache in einer Form sozialer Aushandlung hervorgebracht werden. Diese narrative Form sozialer Aushandlung wird deshalb als relevant betrachtet, da im Diskurs die soziale Realität konstruiert wird, die öffentliche Diskussion also sogenannte performative Konsequenzen in Unternehmen haben kann (Balogun et al. 2014; Foucault 1980, 1982). Konkret und im vorliegenden Kontext bedeutet dies, dass Sprache, Erzählungen und Darstellungen der Sozialpartner über Digitalisierung und die öffentliche Diskussion darüber mitformen, wie die Situation individueller Beschäftigter am digitalisierten Arbeitsplatz gestaltet wird.
Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung
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Ausgehend von diesem Diskurskonzept und dem Kontext der Sozialpartnerschaft in Deutschland wird im Folgenden analysiert, wie die Situation individueller Beschäftigter in der digitalisierten Arbeitswelt durch die Sozialpartner diskursiv konstruiert wird und welche Widersprüchlichkeiten aufgezeigt werden. Dabei wird der öffentliche Diskurs innerhalb der Sozialpartnerschaft in Deutschland, der sich mit Fragen der Digitalisierung befasst, betrachtet. Im Jahr 2014 hat die Bundesregierung mit der „Digitalen Agenda 2014-2017“ ein Papier veröffentlicht, das sich mit der digitalen Strategie befasst und unter anderem explizit die Arbeit in der digitalen Wirtschaft thematisiert und damit auch die Akteure im Bereich der Arbeitsbeziehungen betrifft. Nach der Veröffentlichung haben die Akteure der verschiedenen Ebenen des „umkämpften Terrains“ (Edwards 1979; Nienhüser 2020) der Arbeitsbeziehungen in Deutschland neue Strategien formuliert: Auf der Makroebene agieren Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften als überbetriebliche – oder: meta-organisatorische – Akteure (Ahrne und Brunsson 2005). Auf einer Meso-Ebene gibt es Betriebsräte für Verhandlungen auf Unternehmensebene und auf der Mikro-Ebene verhandeln Einzelpersonen und deren Arbeitgeber über ihre Beziehungen. Ausgehend von dem beschriebenen Kontext werden in diesem Beitrag Publikationen von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Behörden und Tagesmedien betrachtet. Für die Analyse wurden Textdokumente aus dem öffentlichen Diskurs ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der „Digitalen Agenda 2014-2017“3 (BMWi 2014) der Bundesregierung gesammelt. Es wurden hierbei Print- und OnlineMedien berücksichtigt, die eine breite Leserschaft in der Unternehmenslandschaft haben, ebenso wie Veröffentlichungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) und Veröffentlichungen von Akteuren der Sozialpartnerschaft. Die Auswahlkriterien waren – neben der Rolle innerhalb der Sozialpartnerschaft – der Verbreitungsgrad der Medien (bundesweit, Auflagenzahl), Größe der Organisationen (z. B. Gewerkschaften) und kritische Medien, die sich speziell mit der digitalisierten Arbeit und Gesellschaft auseinandersetzen (z. B. Telepolis). Tabelle 1 gibt einen Überblick über die betrachteten Medien und die Quellen. Bei der Auswertung der Daten wurde abduktiv vorgegangen. Hierzu folgte die Analyse folgenden vier Schritten gemäß Vaara (2010): Zunächst wurden die Foschungsfragen festgelegt: Wie wird die Situation des Individuums am digitalisierten Arbeitsplatz im Diskurs konstruiert? Welche Widerprüchlichkeiten gibt
3
Berücksichtigt wurden Veröffentlichungen von 2014 bis 2017 und kurz danach.
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Tabelle 1: Überblick über die Textdaten Medium
Quelle
Printmedien
Süddeutsche Zeitung (SZ) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) Die Zeit Handelsblatt (HB) ManagerMagazin
Online-Medien
Telepolis-Blog SpiegelOnline
Publikationen von Behörden
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)
Publikationen von Akteuren innerhalb der Sozialpartnerschaft
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) Fachgewerkschaft für die Beschäftigten der Post, Postbank, Telekom und Call-Center (DPVKOM)
es? Wie werden diese Widersprüchlichkeiten aufgelöst? In einem zweiten Schritt wurden die Dokumente unter Berücksichtigung der Forschungsfragen durchgesehen und dann selektiert, um den Textkorpus zu reduzieren. Die ausgewählten Texte wurden genauer gelesen und im Abgleich mit vorhandenen Ideen aus der wissenschaftlichen Literatur kodiert. Dieses Vorgehen entlang der vorhandenen Forschung verhindert, dass die Analyse rein subjektiv und interpretativ geschieht (Vaara 2010). Der letzte Schritt, die Zusammenstellung der Ergebnisse und die Generalisierung erfolgten somit im Wechselspiel zwischen Interpretation von Empirie und Theorie (ebd.). Die Kodierung erfolgte in einem dreistufigen Prozess, indem (1) empirische Themen identifiziert, (2) zu Kategorien (Widersprüchlichkeiten) zusammengefasst und (3) diese Widersprüchlichkeiten dann wiederum in drei Arten von Widersprüchlichkeiten subsummiert wurden: Handlungs-, Technik- und Organisationsambiguitäten. 4
Ergebnisse: Widersprüchlichkeiten im öffentlichen Diskurs
Bei der Auswertung der Daten ließen sich unterschiedliche Arten von Widersprüchlichkeiten finden, die in drei übergeordnete Dimensionen zusammengefasst werden: Widersprüchlichkeiten in individuellem Handeln bei der Nutzung
Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung
Abbildung 1:
Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung – eine Übersicht Organisationsambiguität
Technikambiguität
Handlungsambiguität
Transparenz
Flexibilisierung
Vernetzung
Automatisierung
Datafizierung
Assistenz
Sophistication
Empowerment
Autonomie
Kompetenzverlust
Entlastung Leistungsverdichtung Informiertheit Überwachung Verlust von Arbeitsplätzen Neue Tätigkeiten
Offenheit Geschlossenheit Agilität Stabilität Visibilität Anonymität
• • • • • •
• • • • • •
Zwang
•
Professionalisierung
Beteiligung
•
•
Kontrolle
•
•
Selbstbestimmung
•
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digitaler Technik und neuer Arbeitsweisen (Handlungsambiguität), Widersprüchlichkeiten aus den technischen Beschreibungen heraus (Technikambiguität) und letztlich Widersprüchlichkeiten aus den spezifischen Arten und Weisen, wie Arbeit organisiert ist (Organisationsambiguität). Alle drei Dimensionen und darunter zu fassende Kategorien, ebenso wie empirische Beispiele, werden im Folgenden genauer dargestellt. Abbildung 1 stellt die identifizierten Widersprüchlichkeiten überblicksartig dar. 4.1
Handlungsambiguität
Eine Gruppe von Widersprüchlichkeiten, die im öffentlichen Diskurs identifiziert wurde, betrifft die Handlungen und Handlungsfähigkeit von individuellen Beschäftigten bei der Nutzung digitaler Technik und neuer Arbeitsweisen. Drei zentrale, in sich widersprüchliche Konzepte sind: (a) Autonomie, (b) Empowerment und (c) eine so genannte Sophistication, d. h. Verfeinerung oder Erweiterung menschlicher Fähigkeiten. (a) Autonomie. Ein zentrales Argument, das sich im öffentlichen Diskurs über die Digitalisierung wiederfindet, ist, dass Beschäftigte durch die Nutzung digitaler Technologien und neuer Arbeitsweisen individuell mehr Autonomie erreichen. Grundsätzlich versprechen neue Technologien und Arbeitsweisen, etwa mobiles Arbeiten oder die Möglichkeit von Arbeit im Homeoffice, mehr Selbstbestimmung, etwa in Form einer „größere[n] Souveränität der Beschäftigten hinsichtlich des Ortes und des Zeitpunktes der Erbringung von Arbeitsleistungen“ (DGB 2016, S. 1; DGB 0080).
Daneben werden jedoch auch die uneindeutigen Folgen von Autonomie angesprochen: Individuelle Beschäftigte sind z. B. auch außerhalb der Arbeitszeiten erreichbar (DGB 2015; DGB 0268). Es findet eine neue Form von Kontrolle statt – genauer: eine Art internalisierte Selbstkontrolle von Beschäftigten zur ständigen Erreichbarkeit. Organisationale Verantwortung wird auf individuelle Beschäftigte abgewälzt: „Diesen Widerspruch zu lösen, liege dann in der Eigenverantwortung der Beschäftigten“ (DGB 2015; DGB 0268). Dieses Zitat steht exemplarisch für einen im Diskurs häufiger als gangbar genannten Umgang mit den Widersprüchlichkeiten, die scheinbar auf organisationaler Ebene nur schwer auflösbar sind und nur in Eigenverantwortung von individuellen Beschäftigten gelöst werden können. (b) Empowerment. Digitale Tools können dazu genutzt werden, dass Beschäftigte mehr an unternehmerischen Entscheidungen beteiligt werden. In diesem
Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung
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Zusammenhang sind im Diskurs auch sehr deutlich interessenspolitische Aussagen zu finden. Die BDA schreibt zum Beispiel: „Bestehende betriebsverfassungsrechtliche Strukturen werden durch die Digitalisierung jedoch eine Veränderung erfahren. Dabei ist die zurzeit gewahrte Balance zwischen unternehmerischer Entscheidungsfreiheit und Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten zu achten“ (BDA 2015, S. 8; BDA 0054).
Auf der anderen Seite können eine stärkere Beteiligung und Empowerment verbunden sein mit einem zunehmenden Zwang für einzelne Beschäftigte, sich selbst einzubringen und für sich selbst zu sorgen, gerade im Kontext individueller Gesundheit. Ein naheliegendes Argument im Umgang mit dieser Ambivalenz ist, ähnlich wie im Autonomie-Diskurs (siehe vorheriger Abschnitt (a)), dass Empowerment auch mit einer stärkeren Verantwortlichkeit des Individuums einhergeht. Das BMAS veröffentlichte auf seiner Homepage die Handlungsempfehlungen der Arbeitsgruppe Plattform „Digitale Arbeitswelt“. Dieser Textausschnitt zeigt das Spannungsfeld zwischen Empowerment einzelner Beschäftigter und der (organisationalen) Verantwortung zur kollektiven Gestaltung eines guten Arbeitsumfelds auf: „Individuelles Verhalten ist dabei nicht von den Verhältnissen, in die es eingebettet ist, zu trennen. ‚Empowermentʻ-Ansätze, die auf eine Änderung des individuellen Verhaltens zur Vermeidung gesundheitlicher Risiken abzielen, sind zwar wichtig und wirkungsvoll, greifen aber als alleiniges Instrument in vielen Fallkonstellationen zu kurz. Vielmehr gilt der Grundsatz ‚Verhältnisprävention geht vor Verhaltenspräventionʻ“ (BMAS 2017, S. 7; BMAS 0092).
In diesem Beispiel finden sich erste Lösungsvorschläge zum Umgang mit diesen Spannungsfeldern – weg von der individuellen Ebene hin zur organisationaler Verantwortung und der Berufung auf Grundsätze. (c) Sophistication. Ein großer Vorteil des Einsatzes digitaler Technologien liegt darin, dass sie menschliche Fähigkeiten erweitern können, so dass Beschäftigte schneller oder besser arbeiten. Im Diskurs werden hier zum Beispiel „Hoffnungen auf Effizienzsteigerungen“ (DGB 2016, S. 1; DGB 0080) genannt. Neben der Wahrnehmung von digitaler Technik als einer Erweiterung von menschlichen Fähigkeiten in Form von Kompetenz- und Leistungssteigerung spricht der DGB (DGB 2016, S. 1; DGB 0080) beispielsweise von einer möglichen „De-Qualifizierung“, also einem Kompetenzverlust unter den Beschäftigten hinsichtlich ihrer ursprünglichen Tätigkeiten. Zum Umgang mit dieser potenziellen Fehlentwicklung des Kompetenzverlustes ist die Erweiterung der Fähigkeiten mit einem „Qualifizierungsbedarf“ (BMAS 2017; BMAS 0087) verbunden und damit, dass sich Indivi-
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duen neue digitale Kompetenzen aneignen müssen. Hierfür plädiert z. B. die BDA in Förderausschreibungen für die Aus- und Weiterbildung in digitalen Kompetenzen: „Ziel muss es daher sein, ‚digital illiteracyʻ zu verhindern und auf breiter Front die notwendigen Kompetenzen auszubauen – auch im Hinblick auf während des Erwerbslebens notwendige Phasen der Weiterbildung.“ (BDA 2015, S. 7; BDA 0059).
4.2
Technikambiguität
Die zweite Gruppe von Widersprüchlichkeiten, die identifiziert wurde, betrifft die Eigenschaften von neuen Technologien und deren Auswirkungen auf die Situation von individuellen Beschäftigten. Im Bereich der Eigenschaften von Technik wurden folgende drei widersprüchliche Konzepte aus dem öffentlichen Diskurs erfasst: (a) Assistenz, (b) Datafizierung und (c) Automatisierung. (a) Assistenz. Oftmals werden Technologien als Werkzeuge betrachtet, die Menschen helfen, ihre Arbeit einfacher, schneller oder besser zu erledigen. Hier ist etwa die Rede vom „kollaborative[n] Roboter“ (BMAS 2017; BMAS 0084). In Verbindung damit steht das Versprechen einer Entlastung durch digitale Assistenzsysteme. Der DGB schrieb 2017 zum Beispiel von „eine[r] Entlastung von körperlich schweren Tätigkeiten oder zu hoher Arbeitsintensität“ (DGB 2016, S. 1; DGB 0080) und von einer „Verbesserung der ergonomischen Bedingungen“ (ebd.). Auf der anderen Seite wird innerhalb der Gewerkschaften vor allem das Argument aufgegriffen, wie die digitale Asssistenz zu einer Leistungsverdichtung führt. Die IG BAU verwies beispielsweise auf ihrer Internetseite in einer Zusammenfassung über den DGB Index ‚Gute Arbeit‘ auf die erhöhte Arbeitsmenge durch Digitalisierung und den entstehenden Zeitdruck: „Digitalisierungsprozesse werden derzeit so durchgeführt, dass sie mit erhöhter Arbeitshetze verbunden sind.“ (DGB Index Gute Arbeit 2016, S. 3, IG BAU 0006)
Im Umgang mit dieser Uneindeutigkeit wird etwa dahingehend appelliert, die Möglichkeiten der digitalen Technologien stärker in den vorhandenen Arbeitsschutz zu integrieren und so mit ihm zu vereinbaren. Der DGB titelte 2015 zum Beispiel unter Berufung auf eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie zur Erreichbarkeit bei mobilem Arbeiten:
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„Ständige mobile Erreichbarkeit stresst: Arbeitsschutz oft missachtet“ (DGB 2015; DGB 0268).
An anderen Stellen wird im Umgang mit Widersprüchlichkeiten auf Wissenslücken hingedeutet. Hier werden etwa Aufrufe für mehr Forschung zu Ambivalenzen geäußert. So veröffentlichte der DGB das Redemanuskript seines Vorsitzenden Reiner Hoffmann für die Tagung Arbeitsforschung 2015: „Es geht auch um den Einsatz technischer Assistenzsysteme, wobei sich hier möglicherweise Zielkonflikte anbahnen. Ein Beispiel, dass [sic!] zeigt, wie ambivalent die digitalen Möglichkeiten sind – und warum wir die Unterstützung der Arbeitsforschung brauchen. Wir brauchen deshalb, und das ist ein großer Schwerpunkt, nachhaltige Ansätze für einen modernen Arbeitsschutz – zum Beispiel für den Umgang mit virtuellen Realitäten.“ (DGB 2015, S. 5; DGB 0055).
(b) Datafizierung. Grundsätzlich werden die Chancen der Datafizierung von Arbeit, also der vermehrten Sammlung und Auswertung von Daten über Beschäftigte und ihre Arbeitsausführung, für eine stärkere Informiertheit und bessere Entscheidungen diskutiert. Hier kommt vor allem die „Intelligenz der Algorithmen“ (BMAS 2017; S. 147; BMAS 0088) zum Einsatz. Ein Beispiel ist etwa, wenn intelligente Arbeitskleidung zum Gesundheitsschutz eingesetzt wird: „Die gespeicherten Informationen werden am Ende der Schicht von der oder dem Beschäftigten zur Selbstkontrolle genutzt und bei Bedarf zur Information an die Betriebsärztinnen bzw. Betriebsärzte oder Physiotherapeutinnen bzw. Physiotherapeuten weitergegeben. Anhand der Messungen lässt sich frühzeitig erkennen, ob Schwellenwerte überschritten werden. Als Konsequenz können Schicht- und Einsatzpläne geändert und Betriebsärzte sowie Physiotherapeuten gezielt eingesetzt werden. Die gesammelten Daten aller Beschäftigten im Rettungsdienst können außerdem für das Betriebliche Gesundheitsmanagement genutzt werden.“ (BMAS 2017, S. 20; BMAS 0091)
Die gesammelten Daten führen zu mehr Informiertheit von einzelnen Beschäftigten, sie können auch für eine bessere Organisation von Abläufen genutzt werden. Während die zusätzlichen Daten die Möglichkeit auf faktenbasierte Entscheidungen bieten, stellt sich mit der zunehmenden Datafizierung auch die Gefahr der Überwachung ein, die Rede ist vom „gläsernen Beschäftigten“ (DGB 2015, S. 7; DGB 0054): „Die Digitalisierung der Arbeitswelt setzt Datensicherheit für die Betriebe und Datenschutz für die Beschäftigten voraus. Big Data und die Schnittstellen von Mensch und Maschine stellen uns vor große Herausforderungen, denn es bieten
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sich immer größere Möglichkeiten für Leistungs- und Verhaltenskontrollen.“ (DGB 2015, S. 7; DGB 0054)
Die Thematik der Überwachung wird deshalb noch schwerwiegender, da Beschäftigte oftmals nicht wissen, welche Daten gesammelt werden und wie die Algorithmen funktionieren. Im Hinblick auf die mögliche Überwachung wird seitens der Arbeitnehmervertretungen für die Mitbestimmungspflicht (z. B. bei Microsoft Office 365 (DGB 2017, DGB 0271)) plädiert, für Information oder – erneut Richtung individueller Verantwortung – für Vertrauen der Beschäftigten. (c) Automatisierung. Auch mit der Automatisierung gehen Widerprüchlichkeiten einher. So wird durchaus diskutiert, wie durch die Übernahme bestimmter, überwiegend operativer Tätigkeiten, die Chance „auf neue und höherwertige Tätigkeiten“ (DGB 2016, S. 1; DGB 0080) für Beschäftigte besteht. Neben neuen Tätigkeiten jedoch ist Automatisierung häufig mit dem Rationalisierungsgedanken verbunden und der Sorge vor dem Verlust von Arbeitsplätzen. Gerade im Zusammenhang mit der Automatisierung findet sich der Begriff „Arbeitplatzverlust“ (Telepolis 2018, Telepolis 0002). Aber auch von der möglichen Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen ist die Rede, etwa in den Anforderungen des DGB an ein Weißbuch „Arbeiten 4.0“: „Gleichzeitig besteht aber das Risiko, dass die Digitalisierung zu Arbeitsplatzverlusten, einer Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen (. . . ) führt“ (DGB 2016, S. 1; DGB 0080).
Die Gefahr einer Prekarisierung wird vor allem im Zusammenhang mit Plattformarbeit (Gig- und Crowdwork) diskutiert – die bislang kaum gewerkschaftlich organisiert ist und innerhalb derer eine kollektive Arbeitnehmervertretung weitgehend unüblich ist (z. B. DGB 2015, S. 5; DGB 0055). 4.3
Organisationsambiguität
Zuletzt zeigte die Analyse, dass neue Standards bei der Arbeitsorganisation widersprüchlich sind. Diese betreffen die Beschäftigten mittelbar oder unmittelbar. Drei widersprüchliche Ideen, die sich als neue Organisationeformen bei der Digitalisierung im öffentlichen Diskurs ableiten lassen, sind: (a) Vernetzung, (b) Flexibilisierung und (c) Transparenz. (a) Vernetzung. Vernetztes Arbeiten wird im Diskurs in vielerlei Kontexten verwendet. So ist einerseits die Vernetzung zwischen strategischen Akteuren in der Sozialpartnerschaft wichtig für eine „Beschäftigungssicherung“ (BMAS
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2017; BMAS 0087). Daneben wird die soziale Vernetzung über Technologien von Beschäftigten zunehmend wichtiger, da „die Arbeitswelt zunehmend durch wissensbasierte, kreative sowie flexible und freiberufliche Tätigkeiten geprägt ist“ (BMAS 2016, S. 19; BMAS 0058). Diese (soziale) Vernetzung betrifft nicht nur Menschen, sondern auch Technik: „Indem alles digital miteinander kommuniziert, soll die Fabrik intelligent werden, deshalb heißt es manchmal auch ‚Smart Manufacturingʻ, ‚Smart Factoryʻ oder ähnlich. Voraussetzung ist, dass alles vernetzt ist.“ (IGBCE 2015; IGBCE 0159).
Im Zusammenhang mit Vernetzung wird also Offenheit und Durchlässigkeit gefordert. Zugleich wird vor dem Argument der Sicherheit jedoch auch gleichzeitig für Geschlossenheit, Selektion und Exklusivität plädiert. Dies wird etwa am Beispiel von Zusammenarbeit zum Wissensaustausch deutlich: „Bei der digitalen Sicherheit spielt die verwendete Chip-Technik eine Schlüsselrolle. Insbesondere kleinere und mittelgroße Betriebe sollten maßgeschneiderte Prozessoren von spezialisierten Halbleiter-Herstellern verwenden. Sie können digitale Arbeitsprozesse steuern und dienen gleichzeitig als sehr wirksamer Plagiatsschutzʻ“ (Handelsblatt 2016, HB 0387).
(b) Flexibilisierung. Ein zentraler Aspekt, der Organisationen bei der digitalen Transformationen beschäftigt, ist die zunehmene Flexibilisierung. Diese findet sich auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Formen wieder und betrifft beispielsweise flexible Arbeitszeitmodelle, aber auch das Arbeiten in Betrieben soll in flexiblen und agilen Formen zu mehr Innovation verhelfen: „Die Antwort auf die Frage, wie Industrie 4.0 gestaltet werden soll, liegt in Prozessen sozialer Innovation, die partizipativ und agil organisiert sind.“ (BMAS 2016, S. 50; BMAS 01111)
Nichtsdestotrotz ist Flexibilisierung neben Agilität auch durch Stabilität bedingt. Die BDA zum Beispiel verankerte den widersprüchlichen Gedanken an Flexibilisierung unter Beibehaltung bisheriger Praktiken bereits 2015 in ihrem Positionspapier zu Digitalisierung: „Eine Flexibilisierung der Arbeitsorganisation, gerade mit Blick auf den Arbeitsort, ermöglicht mobiles Arbeiten oder das Arbeiten im Home-Office. Die gewonnenen Freiräume bei flexibler Arbeitsorganisation werden ergänzt oder kombiniert mit flexiblen Arbeitszeitmodellen, (...) Die Digitalisierung bietet zwar neue technische Möglichkeiten für die Vereinbarkeit, aber grundlegende Rahmenbedingungen, wie z. B. der weitere Ausbau bedarfsdeckender und hochwertiger Ganztagskitas und Ganztagsschulen oder familienpolitische Leistungen, die keine Fehlanreize setzen, der Erwerbstätigkeit fernzubleiben, behalten ihre wesentliche Bedeutung.“ (BDA 2015, S. 4 f.; BDA 0059)
202
Verena Bader
Dieser Textausschnitt zeigt, dass hier Widersprüchlichkeiten dadurch gehandhabt werden, dass eventuelle Fehlentwicklungen aus Sicht des Arbeitgebers verhindert werden, indem auf gängige Praktiken und Regeln verwiesen und die neuen Arbeitsweisen somit eingeschränkt werden. (c) Transparenz. Transparenz ist mittlerweile ein sehr bedeutendes Schlagwort, das im Diskurs zur Digitalisierung der Arbeitswelt auf vielfältigste Weise und in unterschiedlichen Kontexten auftaucht. Transparenz steht eng im Zusammenhang mit der Datafizierung (siehe auch Abschnitt 4.2) und Überwachung, kann jedoch auch noch einmal gesondert als Organisationsambiguität aufgeführt und erläutert werden. Die Forderung nach einer Verankerung von Transparenz in der digitalen Organisationskultur ist deshalb ambivalent, da es einerseits die Sichtbarkeit (Visibilität) von Informationen mit einschließt. Auf der anderen Seite wird, um Fehlentwicklungen von Überwachung entgegenzuwirken, auch eine Kultur der Anonymität gefördert: „Schließlich lassen Big Data sowie der damit verbundene technische Fortschritt die Grenzen zwischen Anonymität und Personenbezug zunehmend verschwimmen, sodass mittlerweile mit einigem Recht die Forderung erhoben wird, die Anonymität von Daten nicht als gesicherten Zustand anzusehen, sondern ihren Fortbestand einer regelmäßigen Kontrolle zu unterziehen. Sofern neuere Techniken eine Re-Identifizierung von ursprünglich anonymen Beschäftigtengesundheitsdaten ermöglichen sollten, würde das Datenschutzregime somit wieder zum Tragen kommen.“ (BMAS 2017, S. 37; BMAS 0078)
An diesem Beispiel zeigt sich die Komplexität und Dynamik vom Umgang mit Widersprüchlichkeiten: So können im Umgang mit Widersprüchlichkeiten (z. B. der Datafizierung, Informiertheit – Überwachung) neue Widersprüchlichkeiten hervorgerufen werden (z. B. Transparenz: Visibilität – Anonymisierung). Es zeigt auch, dass die identifizierten Widersprüchlichkeiten miteinander in Verbindung stehen und sich dynamisch entwickeln können. 5
Abschließende Diskussion und Implikationen
In diesem Beitrag wurden die Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung, wie sie im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs konstruiert werden, analysiert. Er schließt damit an den Gedanken an, dass der „Digitalisierungsdiskurs in seiner Wirkmächtigkeit für betriebliche Entscheidungs- und Aushandlungsprozesse unterschätzt“ wird (Pfeiffer 2019, S. 232). Zwar wurde in der Forschung zu Informationssystemen bereits darauf hingewiesen, dass bestimmte Deutungsmuster und Narrative über Technologien eine Rolle für die Technologieakzeptanz in
Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung
203
Organisationen spielen (Doolin 2003; Orlikowski und Gash 1994; Treem et al. 2015). Nichtsdestotrotz herrscht noch wenig Wissen darüber, wie in einem übergeordneten, gesellschaftlichen Diskurs bestimmte Deutungsmuster über Technologien generiert werden. Die vorliegende Studie geht einen ersten Schritt in diese Richtung, indem drei Arten von Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung identifiziert werden: Handlungsambiguitäten, Technikambiguitäten und Organisationsambiguitäten. Diese Ergebnisse zeigen, dass Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung nicht nur in Organisationen existieren oder entstehen, wie sie in den vorhandenen empirischen Studien, etwa zum Autonomie-Paradox (Mazmanian et al. 2013) oder zum Transparenz-Paradox (Stohl et al. 2016), analysiert wurden. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass die Situation des Individuums zwischen diesen Widersprüchlichkeiten bereits im öffentlichen Diskurs, also außerhalb von Organisationen konstruiert wird (Delbridge und Keenoy 2010; Helfen und Sydow 2013). Da der sozialpartnerschaftliche Diskurs ein von Interessen bestimmtes Feld darstellt (Pfeiffer 2019), wäre im ersten Schritt davon auszugehen, dass sich die Akteure in ihren Argumenten gegeneinander entlang ihrer Interessen positionieren. Die Analyse zeigte jedoch, dass sich die Akteure innerhalb der Sozialpartnerschaft oftmals nicht eindeutig zu den Versprechen und Drohungen der Digitalisierung zuordnen. Dieses Ergebnis ist insofern interessant, da der Aufbau einer Art Gegenmacht zwischen den Sozialpartnern aufgrund der Unabsehbarkeit, Komplexität und Widersprüchlichkeiten (Griffith 1999) der Digitalisierung über die Wahl von spezifischen Gegenargumenten oder Kritik nicht immer möglich ist. Zwar vertreten die unterschiedlichen Gruppen auch klassische Interessen (z. B. indem die BDA sich für unternehmerische Entscheidungshoheit ausspricht oder der DGB für den Beschäftigtenschutz plädiert) (Pfeiffer 2019). Trotzdem lassen sich im Kontext der Widersprüchlichkeiten nicht fortgängig klassische Machtaushandlungen in Form von Gegenargumenten finden. Sogenannte Wettbewerbe zwischen Deutungsmustern (framing contests) (Kaplan 2008) sind hier eher eingebettet in einen gemeinsamen narrativen Sinnerschließungsprozess zwischen den Sozialpartnern (narrative sensemaking) (Cunliffe und Coupland 2012), in dem Widersprüchlichkeiten erkannt und mögliche Strategien im Umgang mit ihnen diskursiv erschlossen werden. Die Widersprüchlichkeiten können dabei als sogenannte Antenarrative bezeichnet werden (Vaara und Tieniari 2011), sie sind Teil der gemeinsamen Sinnerschließung und stellen unterschiedliche Alternativen für die Gestaltung der digitalisierten Arbeitswelt dar. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem sozialpartnerschaftlichen Umgang mit den Widersprüchlichkeiten. In der Forschung werden bereits seit Längerem die Entwicklungen einer Individualisierung (Hornberger 2002) und Verantwortungsverschiebungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-
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Verena Bader
seite (Weil 2014) diskutiert. Auch die vorliegende Analyse zeigte, dass die Verantwortung bei der Auflösung von Widersprüchlichkeiten im Diskurs immer mehr auf das Individuum übertragen wird. Es wurde aber auch deutlich, dass der sozialpartnerschaftliche Diskurs diese Tendenz abschwächen kann, indem an organisationale und kollektive Verantwortung erinnert wird. Dabei verwenden die sozialpartnerschaftlichen Akteure einschränkende Argumente, mit denen mögliche Fehlentwicklungen aus den Widersprüchlichkeiten heraus verhindert werden können: So etwa berufen sich die Akteure häufig auf das bestehende Recht und etablierte Institutionen, etwa indem an Arbeitsschutz (Arbeitnehmerseite) oder Arbeitsanreize (Arbeitgeberseite) erinnert wird. Die Diskussion um Plattformarbeit stellt in diesem Kontext ein interessantes Beispiel dar: Plattformen treten als Intermediäre zwischen Auftraggebenden (Kunden) und Auftragnehmenden (Arbeitenden) auf. Die Neuartigkeit dieser technikgestützten Arbeitsorganisation kann als rechtlich noch unbesetztes Terrain gesehen werden. In diesem Zusammenhang besteht die Gefahr einer Institutionalisierung prekärer Arbeitsformen (Helfen 2015). Die Diskussion über die Anwendbarkeit der etablierten Rechtsinstrumente auf Plattformarbeit und die Einbindung in sozialpartnerschaftliche Strukturen kann als Institutionalisierungsprozess gedeutet werden, der noch nicht abgeschlossen ist und die Forschung in Zukunft weiter beschäftigen sollte. Die Analyse zeigt, wie es den Sozialpartnern diskursiv und aus der Sicherheit ihrer etablierten Interessenvertretungen heraus gelingen kann, auch in der digitalisierten Welt gute Arbeitsbedingungen für individuelle Beschäftigte zu gestalten. Der Umgang mit Widersprüchlichkeiten selbst sollte in diesem Zusammenhang durchaus aktiver diskutiert werden. Strategien zur Auflösung von Widersprüchlichkeiten können im Diskurs viel mehr auf der Ebene organisationaler und kollektiver Anstrengungen denn auf individueller Beschäftigtenebene entworfen werden. Denn durch die Wirkmächtigkeit dieses Diskurses können mögliche Drohungen zum Teil bereits verworfen und die Versprechen der Digitalisierung nicht einstimmig, aber gemeinsam verwirklicht werden. Literatur Acquier, A., Daudigeos, T. und Pinkse, J. 2017. Promises and paradoxes of the sharing economy: An organizing framework. Technological Forecasting and Social Change, 125, 1-10. Ahrne, G., und Brunsson, N. 2005. Organizations and meta-organizations. Scandinavian Journal of Management, 21(4), 429-449. Bader, V. und Buhr, D. 2020. Die Ambivalenz des Neuen. Sozialer Fortschritt durch Plattformen, Blockchain und KI? WISO Diskurs, Bonn. Bader, V. und Kaiser, S. 2017. Autonomy and control? How heterogeneous sociomaterial assemblages explain paradoxical rationalities in the digital workplace. management revue, 28(3), 338-358.
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Titel
BDA 0054
2015
BDA 0059
2015
Arbeitswelt 4.0 – Chancen nutzen, Herausforderungen meistern – Positionen der BDA zum Grünbuch „Arbeiten 4.0“ des Bundesministeriumsfür Arbeit und Soziales Chancen der Digitalisierung nutzen – Positionspapier der BDA zur Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt
BMAS 0058
2016
Forschungsbericht 467 – Chancen und Risiken der Digitalisierung der Arbeitswelt für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung
BMAS 0078
2017
Forschungsbericht 482 – Digitalisierung und Beschäftigtendatenschutz
BMAS 0084
Digitalpolitik für einen fairen Interessenausgleich von Wirtschaft, Arbeit und Verbrauchern Fachkräftesicherung weiterdenken – Digitalisierung braucht Qualifizierung
BMAS 0087
2017
BMAS 0088
2017
Werkheft 03 – Weiter Lernen
BMAS 0091
2017
Gute Praxis - Gesundheit und Teilhabe in der Arbeitswelt 4.0 – Sammlung betrieblicher Gestaltungsbeispiele
URL, falls vorhanden (letzter Zugriff 14.8.2020) https://www.bmas.de/SharedDocs/Down loads/DE/Thema-Arbeitsmarkt/ Arbeiten-4-0/stellungnahme-bda.pdf?__ blob=publicationFile&v=3 https://arbeitgeber.de/www%5Carbeitge ber.nsf/res/BDA_Chancen_Digitalisieru ng.pdf/$file/BDA_Chancen_Digitalisie rung.pdf https://www.bmas.de/SharedDocs/Down loads/DE/PDF-Publikationen/For schungsberichte/fb-467-digitalisierungbehinderung.pdf?__blob=publication File&v=3 https://www.bmas.de/SharedDocs/Down loads/DE/PDF-Publikationen/For schungsberichte/fb482-digitalisierungund-beschaeftigtendatenschutz.pdf? __blob=publicationFile&v=1 https://www.bmas.de/DE/Presse/Presse mitteilungen/2017/positionspapierdigitalpolitik.html https://www.bmas.de/DE/Presse/Meldun gen/2017/5-innovationstag-fachkraefteregion.html https://www.bmas.de/SharedDocs/Down loads/DE/PDF-Publikationen/a877-03werkheft-3.pdf?__blob=publication File&v=2 https://www.bmas.de/SharedDocs/Down loads/DE/PDF-Publikationen/a887praxissammlung-gesundheit-teilhabearbeitswelt-4-0.pdf?__blob= publicationFile&v=3
Widersprüchlichkeiten der Digitalisierung
Kürzel
Jahr
Titel
BMAS 0092
2017
Handlungsempfehlungen der Plattform „Digitale Arbeitswelt“ für gesunde Arbeit, gute Arbeitsgestaltung und berufliche Teilhabe
BMAS 0111
2016
Werkheft 01 – Digialisierung der Arbeitswelt
DGB 0054
2015
DGB 0055 DGB 0080
2015
Arbeit der Zukunft - Gute Arbeit in digitalen Zeiten: Anforderungen an eine moderne Arbeitspolitik – Rede Reiner Hoffmann beim Digitalisierungskongress Tagung Arbeitsforschung Keynote – Reiner Hoffmann Grundlegende Anforderungen an ein Weißbuch „Arbeiten 4.0“
DGB 0268 DGB 0271 HB 0387 IG BAU 0006
2015
IGBCE 0159 Telepolis 0002
2015
Die Fabrik weiß wieʼs geht
2018
Negative Langzeitkonsequenzen bis in die neuronalen Strukturen hinein
2016
2017 2016 2016
Ständige mobile Erreichbarkeit stresst: Arbeitsschutz oft missachtet Darum ist Microsoft Office 365 ein Fall für den Betriebsrat Digitalisierung – Groß denken, klein anfangen, früh anpassen Arbeitshetze und Arbeitsintensivierung bei digitaler Arbeit – DGB-Index Gute Arbeit
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URL, falls vorhanden (letzter Zugriff 14.8.2020) https://www.bmas.de/SharedDocs/Down loads/DE/PDF-Meldungen/2017/ abschlussbericht-handlungsempfeh lungen-plattform-digitale-arbeitswelt. pdf?__blob=publicationFile&v=3 https://www.bmas.de/SharedDocs/Down loads/DE/PDF-Publikationen/werkheft01.pdf?__blob=publicationFile&v=3 -
https://www.bmas.de/SharedDocs/Down loads/DE/Thema-Arbeitsmarkt/ Arbeiten-4-0/stellungnahme-dgb-bundes vorstand.pdf?__blob=publicationFile &v=2 https://www.dgb.de/themen/++co++42a 9edc4-fd46-11e4-912c-52540023ef1a https://www.dgb.de/themen/++co++034 2f31e-6c85-11e7-b8f9-525400e5a74a Handelsblatt print: Nr. 189 vom 29.09.2016 Seite 040 / Specials https://igbau.de/Binaries/Binary9608/D GB-Index-Gute-Arbeit-2017-Digitali sierung-und-Arbeitsintensivierung.pdf https://2019.igbce.de/industrie-4-0-diefabrik-weiss/101092 https://www.heise.de/tp/features/Negativ e-Langzeitkonsequenzen-bis-in-die-neu ronalen-Strukturen-hinein-3855582.html ?seite=all
Plattformgenossenschaften: mehr Mitbestimmung durch die digitale Renaissance einer alten Idee? Laura Thäter und Thomas Gegenhuber Abstract Plattformgenossenschaften stellen einen Gegenentwurf zu den bestehenden Organisationsformen im digitalen Kapitalismus dar. Basierend auf demokratischen Prinzipien versprechen digitale Kooperativen, einen Beitrag zu einer gerechteren und nachhaltigeren Wirtschaftsordnung und damit zur mehr Partizipation und Mitbestimmung für Beschäftigte1 zu leisten. Die Herausforderungen und Grundprämissen, die zur Etablierung notwendig sind, werden in diesem Beitrag anhand von Praxisbeispielen analysiert und diskutiert. 1
Die Grenzen des Silicon-Valley-Modells
Der amerikanische Markt für Taxi- und Mobiliätsservices ist heiß umkämpft. Uber und Lyft kämpfen um die Dominanz. Um erfolgreich in den Markt einzutreten, muss es ein weiterer Mitbewerber schaffen, rasch Kunden (Nutzer bzw. Konsumenten) und Fahrer (Arbeiter bzw. (Leistungs-)anbieter) zu akquirieren, um für beide Parteien eine gute Matching-Qualität herzustellen. Der Gedanke dahinter ist einfach: Kunden, die zu lange auf ein Taxi warten müssen, werden einen Service nicht noch einmal nutzen – und das Gleiche gilt für die Taxifahrer, wenn sie keine Aufträge bekommen. Da es für Fahrer bei den Taxi-Plattformen prinzipiell möglich ist, mehrere Apps von verschiedenen Geräten aus gleichzeitig zu verwenden, um die Auftrags- und Ertragsoption zu optimieren (sogenanntes Multi-Homing oder Switching), müssen die Taxi- und Mobilitätsservice-Anbieter einen Anreiz für die Fahrer schaffen, damit die Fahrer auf der jeweils eigenen Plattform den Fahrservice anbieten. Die Taxi-App Juno hat sich angesichts der Konkurrenzsituation zum Start des Unternehmens im Jahr 2016 als das Anti-Uber präsentiert. Nach dem Motto: 1
Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_13
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Laura Thäter und Thomas Gegenhuber
Uber behandelt die Fahrer schlecht, bei uns ist das anders rekrutierte Juno Uber-Fahrer in New York City. Dabei arbeitete Juno mit folgendem Anreizsystem: Ein neuer Fahrer erhält entweder $100 bar auf die Hand oder kann Anteile an Juno erwerben. Eine Win-Win-Situation für die Fahrer und das Unternehmen zugleich. Wenn Juno erfolgreich ist, haben auch die Mitarbeiter etwas davon, unterstreicht auch der Juno-Manager in einer Präsentation für potenzielle Fahrer: „Now, once Juno goes public? And is traded on the stock exchange? You’re an owner. You profit from that. You can sell your shares, you can hang on to them. But you’ll profit from the growth of this company.“ (Kolhatkar 2016)
Die anfängliche Euphorie rund um Juno verflog jedoch schnell. Das Programm wurde im Jahr 2017 eingestellt, nachdem Juno für $ 200 Millionen von der TaxiApp Gett übernommen wurde. Ein Juno-Fahrer sagte dazu: „They promised to be better than Uber […] but they broke their promise.“ (Brustein 2017) Da sich die Fahrer betrogen sehen, hat Junos Scheinversprechen nun ein gerichtliches Nachspiel (Hawkins 2017). Dieses Extrembeispiel illustriert die Limitation im Silicon-Valley-Modell des digitalen Unternehmertums. Das Selbstverständnis dieses Modells basiert auf risikokapitalgetriebenem Wachstum, technologischem Fortschritt als Selbstzweck und Heilsbringer sowie einem Laissez-Faire-Ansatz, der staatlicher Regulierung ablehnend gegenübersteht (Nachtwey 2019; Precht 2018).2 Partizipation und Mitbestimmung werden im Silicon-Valley-Modell de facto ignoriert, wenn nicht gar als Hindernis für unternehmerische Tätigkeit begriffen (vgl. O’Mara 2019). Während Partizipation beschreibt, dass Plattformen ihren Crowdworkern ermöglichen, ihre Stimme zu erheben und mit diesen in Dialog zu treten (Ellmer et al. 2019), meint Mitbestimmung eine gesetzlich verankerte Vertretung (z. B. Betriebsrat) oder ein kodifiziertes Mitspracherecht, verankert in die Genese einer Organisationsform (z. B. Genossenschaft) (Gegenhuber et al. 2018). Zwar ist ein Verhalten wie das von Juno von kooperativen Plattformen in Deutschland, in denen die freiwilligen Partizipationsmechanismen (ebd.) sowie Kooperation mit Gewerkschaften ausgeprägter sind (Testbirds 2017; Gier 2017), nicht zu erwarten.3 Trotzdem haben auch genossenschaftliche Plattformen Limitationen, die aus ihrer Steuerungsform resultieren.
2 3
Unternehmen wie Facebook begrüßen zunehmend Regulierungsmaßnahmen, welche die eigene Marktposition stärken (besonders wenn man im Gegensatz zu (potenziellen) Mitbewerbern die finanziellen Ressourcen besitzt, diese Regulierungen auch umsetzen zu können). Natürlich ist es nicht auszuschließen. In diesem Zusammenhang macht es Sinn zu erwähnen, dass die Studie von Gegenhuber et al. (2018) auf der Analyse von nur sechs Plattformen basiert, auch die Ombudsstelle bzw. der Code-of-Conduct wird nur von einer bestimmten Anzahl an Plattformen unterstützt.
Plattformgenossenschaften: Mitbestimmung durch die digitale Renaissance einer alten Idee?
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Wie gerade erwähnt werden zunehmend digitale Genossenschaften als Gegenentwurf zu dem risikokapitalgetriebenen Silicon-Valley-Modell als eine alternative Organisationsform diskutiert (Scholz 2017). Das Konzept verspricht die Rückbesinnung auf faire Arbeitsbedingungen, mehr Mitbestimmung und mehr Gerechtigkeit. Welche Chancen diese Idee bietet, vor welchen Herausforderungen das Konzept steht und welche Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung geschaffen werden müssen, soll im Folgenden diskutiert werden. 2
Digitale Genossenschaften – ein Gegenentwurf für mehr Gerechtigkeit
Digitale Plattformen sind die Organisationsform des 21. Jahrhunderts. So wie die letzte industrielle Revolution um Fabriken organisiert wurde, gehen die heutigen revolutionären Impulse von digitalen Plattformen aus (Kenney und Zysman 2016, S. 62). Plattformen nehmen die Rolle eines Mittelmanns zwischen der Angebots- und der Nachfrageseite ein, wobei die ursprüngliche Wertschöpfung seitens der Nutzer und nicht durch die Plattform selbst geschieht (Kirchner und Schüßler 2018; von Hippel 2017). Der Wert von Austauschplattformen besteht in der Organisation des Zugangs zu Gütern, Informationen und Dienstleistungen. Plattformen sind darauf ausgerichtet, an dem Austausch zwischen den Akteuren auf der Plattform zu verdienen. Anders als traditionelle Organisationen haben Plattformen jedoch üblicherweise keine Verfügungsgewalt oder Besitz an den auf der Plattform getauschten Gütern4 (Van Alstyne et al. 2016; Evans und Schmalensee 2016; Kostakis und Bauwens 2014; Zhu und Iansiti 2019). Die Geschäftsmodelle in der digitalen Ökonomie sind, im Vergleich zu traditionellen Geschäftsmodellen, leicht zu skalieren. Zum einen, weil die Vervielfältigung der Produkte quasi ohne zusätzliche Kosten möglich ist. Zum anderen, weil die Plattformen lediglich die Rolle des Vermittlers einnehmen: Bei steigender Nachfrage entstehen deshalb für den Plattformanbieter keine zusätzlichen Kosten für Ressourcen (Schneider 2018a). Gegenüber Plattformen werden folgende Kritikpunkte vorgebracht: Crowdworker werden von marktdominanten Plattformen abhängig; sie haben keine Möglichkeit, gegen willkürliche Entscheidungen von Plattformen Einspruch zu erheben, Plattformen nutzen ihre Macht, um die Preise für Arbeit zu drücken, Crowdworker verfügen nur über eine mangelhafte soziale Absicherung und Plattformen halten sich vorsätzlich nicht an geltendes Arbeitsrecht (Irani 2015; 4
Auch dieses Prinzip wird aufgeweicht. AirBnB beginnt etwa, eigene Unterkünfte zu eröffnen. Amazon steht in Kritik, nicht nur Marktorganisator zu sein, sondern das gesammelte Wissen des Marktplatzes zu nutzen, um zunehmend mit Eigenprodukten die Produkte von Marktplatzteilnehmer zu verdrängen.
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Laura Thäter und Thomas Gegenhuber
Pasquale 2017; Scholz 2016; Cutolo und Kenney 2019; Rosenblat 2018; Fernández-Macías 2018; Pazaitis et al. 2017; Prassl und Risak 2015; Weil 2017).5 Um diesen negativen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen und Gigworkern eine Alternative zu bieten, ist das Konzept der digitalen Genossenschaften erdacht worden. Diese neue, solidarische Organisationsform bedient sich des historischen Prinzips der Genossenschaften, das vor mehr als 200 Jahren in Großbritannien seinen Anfang fand, und überträgt dieses in die digitale Welt (Schneider und Scholz 2015; Scholz 2017). Eine digitale Genossenschaft ist eine Plattform, die den Nutzern oder denen, die ihre Dienste über die Plattform anbieten, gehört und von ihnen gemeinschaftlich und demokratisch geleitet wird (Sutton et al. 2016). Die Vision, die diesem Konzept zu Grunde liegt, ist der Gedanke auf demokratischer Basis, gerechte, sichere und menschenwürdige Arbeitsverhältnisse mit Hilfe moderner Technologien zu schaffen (Schneider und Scholz 2015). Weitere Wertvorstellungen, die dieser Idee zu Grunde liegen, sind Transparenz, Offenheit, Gerechtigkeit und die Steigerung des Gemeinwohls (Schneider 2018a). Im Modell der digitalen Genossenschaften wird der Gewinn, der über die Plattform erwirtschaftet wird, wie bei traditionellen Genossenschaften auch an die Arbeiter (möglicherweise auch Nutzer) beitrags- bzw. anteilsabhängig ausgeschüttet (Scholz 2017).6 Zum einen garantiert diese Organisation den Arbeitern ein höheres Einkommen, da die Marge, die normalerweise an die Vermittlungsplattform abgeführt wird, an die Arbeiter und Nutzer ausgeschüttet und zudem teilweise in die Weiterentwicklung der Plattform investiert werden kann (Schneider 2018a). Dies wiederum trägt zum langfristigen Bestehen der digitalen Genossenschaft und zu ihrer Wettbewerbsfähigkeit bei (Scholz 2017). Außerdem stellt das Organisationsmodell sicher, dass die Arbeiter ein wirkliches Mitsprache- sowie Mitgestaltungsrecht hinsichtlich der Entwicklung der Plattform haben (Schneider und Scholz 2015). Die amerikanische Plattformkooperative Up&Go, die Reinigungskräfte vermittelt, setzt das Modell der digitalen Genossenschaft bereits erfolgreich um. Während Arbeiter auf Plattformen wie TaskRabbit dreißig Prozent des 5
6
Da auf Grund der Kürze der Abhandlungen im Folgenden überwiegend auf die negativen Auswirkungen der Plattformorganisation eingegangen wird, soll hier kurz erwähnt werden, dass die Organisation über Plattformen auch positive Aspekte mit sich bringt. Plattformorganisationen bieten bspw. Arbeitnehmern, die im traditionellen Wirtschaftssystem benachteiligt bzw. zu wenig berücksichtigt werden (z. B.: alleinerziehende Mütter, Studierende, Rentner oder Menschen mit psychischer Beeinträchtigung) eine Chance, sich an produktiven Prozessen zu beteiligen (Bauer und Gegenhuber 2015; 2017). Bei Plattformen im Allgemeinen ist die Unterscheidung in die traditionellen Kategorien Arbeiter und Nutzer (Konsument) schwammig, denn Arbeiter können auch gleichzeitig Nutzer der Plattform sein, dies ist jedoch nicht zwingend der Fall (Cova und Dalli 2018).
Plattformgenossenschaften: Mitbestimmung durch die digitale Renaissance einer alten Idee?
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Umsatzes als Vermittlungsgebühr abführen müssen, sind es bei Up&Go lediglich fünf Prozent (Beckedahl und Kaiser 2017). Von diesen fünf Prozent werden wiederum zwei Prozent in die Weiterentwicklung der Plattform investiert (Thompson 2019). Außerdem entscheiden die Mitarbeiter, die gleichzeitig auch Up&Goʼs Gründer sind, demokratisch und transparent über die Weiterentwicklung der Plattform und über ihre Führungs- und Organisationsstrukturen (Scholz 2017). Die Chancen, die digitale Genossenschaften mit sich bringen, sind vor allem aus Arbeitnehmerperspektive vielversprechend. Die langfristige Orientierung, die im Gegensatz zur kurzfristigen, Profit maximierenden Ausrichtung der risikokapital-getriebenen Plattformen steht, verspricht eine höhere Jobsicherheit und die Möglichkeit zur sozialen Absicherung und Vorsorge. Die demokratische, dezentrale Organisationsstruktur bietet den Arbeitern ein größeres Maß an Transparenz, mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten und Schutz vor willkürlichen Entscheidungen (Scholz 2017). Das in der Einleitung diskutierte Beispiel von Juno wäre bei einer Genossenschaft unwahrscheinlicher. Die Genossenschaftsplattformen zielen darauf ab, den Arbeiter echte Flexibilität und Autonomie sowie die Möglichkeit zur Weiterbildung und -entwicklung zu bieten. Das dadurch geschaffene wertschätzende Arbeitsklima trägt zu einer höheren Mitarbeitermotivation und -zufriedenheit bei. Statistiken zur höheren Produktivität der Arbeiter sowie zu einer besseren internen Kommunikation und dem höheren Informationsaustausch unterstützen den vermuteten positiven Effekt der demokratischen Organisationsform (Schneider 2018b).7 Des Weiteren weisen, laut den Befürwortern der digitalen Genossenschaftsbewegung, digitale Kooperativen im Vergleich zu traditionellen Plattformen eine größere Resilienz in Zeiten wirtschaftlich schwieriger Phasen sowie eine höhere Überlebensrate in den ersten fünf Jahren auf (80 % bei Kooperativen und 41 % bei nicht genossenschaftlichen Organisationen; Schneider 2018b). In Tabelle 1 sind die Charakteristika der beiden Plattformtypen noch einmal zusammengefasst und gegenübergestellt.
7
Die Möglichkeit, dass Akteure Genossenschaftsorganisationen schaffen, in denen schlechte Arbeitsbedingungen herrschen, ist jedoch nicht auszuschließen.
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Tabelle 1:
Gegenüberstellung von Unternehmensplattformen und Plattformgenossenschaften Unternehmensplattformen
Plattformgenossenschaften
Güter
private bzw. Clubgüter
private bzw. Clubgüter
Governance Form
Eigentums- und Entscheidungsstrukturen folgen Shareholder-Logik
Self-Ownership
Handlungsorientierung
Gewinnmaximierung
Etablieren einer nachhaltigen Organisationsform in einer digitalen Ökonomie
Werte
- Marktdominanz und Skalierung als zentrales Ziel um langfristig Gewinne zu maximieren und Interessen von Investoren zu befriedigen
- Demokratische, wenn möglich auch dezentrale Organisation
- Partizipation als funktionales Instrument um Crowdworker Turnover zu reduzieren
- Transparenz im unternehmerischen Handeln
3
- Partizipation und Mitbestimmung der Schlüsselstakeholder (z. B. der Crowdworker)
- Faire, auskömmliche Löhne für Crowdworker
David gegen Goliath: Chancen und Herausforderungen
Trotz aller positiven Intentionen steht das Konzept der digitalen Kooperativen noch am Anfang und muss einige Hürden überwinden, bevor es sich etablieren und gegenüber den mächtigen Wettbewerbern behaupten kann (Schneider 2018a). Zunächst stellt sich die Frage nach der Finanzierbarkeit. Kapital wird benötigt, um eine digitale Genossenschaft erst einmal ins Leben rufen zu können. Der herkömmliche Weg, um eine Unternehmung in der Anfangsphase zu finanzieren, ist durch Unterstützung von Risikokapitalgebern. Da der Grundgedanke digitaler Genossenschaften aber im Widerspruch zu dieser Finanzierungsmethode steht, der eine langfristige Rechenschaftspflicht gegenüber den Kapitalgebern und eine nachhaltige Gewinnorientierung zu Grunde liegt, sind alternative Finanzierungsmethoden notwendig. Vor diesem Hintergrund ergeben sich mehrere Finanzierungsmöglichkeiten: Crowdfunding, Zusammenarbeit mit Investoren, die die genossenschaftliche Organisationsform unterstützen, und die Finanzierung
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über Finanzinstitutionen, die selbst auf einer genossenschaftlichen Basis beruhen (z. B. Genossenschaftsbanken). Der Blick nach Italien zeigt eine weitere Möglichkeit zur Lösung des Finanzierungsproblems auf: Die italienische Verfassung räumt genossenschaftlichen Organisationsformen einen besonderen Status und Unterstützung ein (Seifert 2018). Außerdem wurde ein Mutualitätsfond eingerichtet, in den bestehende Genossenschaften fünf Prozent ihrer Gewinne einzahlen, um mit diesen Mitteln wiederum Neugründungen von Genossenschaften zu unterstützen und so die Frage nach Finanzierungsmöglichkeiten zu beantworten (Kiesswetter 2016). Loomio, eine digitale Genossenschaft, die eine Software entwickelt, um kollaborative Entscheidungsprozesse einfach und effizient zu gestalten, ist ein weiteres gutes Beispiel dafür, dass eine erfolgreiche Finanzierung ohne Risikokapitalgeber möglich ist. Die neuseeländische Kooperative hat erfolgreich Investoren gefunden, die von der genossenschaftlichen Organisation überzeugt sind und bereit waren, ein Startkapital von knapp einer halben Million US-Dollar zur Verfügung zu stellen (Schneider 2018a). Eine weitere Hürde, vor der digitale Kooperativen stehen, bevor sie sich am Markt positionieren können, ist rechtlicher Natur. Der Aufwand, der betrieben werden muss, um als Genossenschaft anerkannt zu werden, ist teuer und zeitintensiv (Gorenflo 2015). Um dieses Problem zu überwinden, ist staatliche Unterstützung gefragt, indem die bürokratischen Hürden zur Gründung einer Genossenschaft minimiert werden.8 Außerdem gibt es bereits Rechtsberatungen, beispielsweise Coop Legal Services in Großbritannien, die auf die genossenschaftliche Organisationsform spezialisiert sind und die ihre Dienste gegen eine geringe Aufwandsentschädigung, teilweise sogar kostenfrei, anbieten. Eine dritte Möglichkeit ist außerdem die Zusammenarbeit mit bereits bestehenden Genossenschaften, die basierend auf ihrer Erfahrung und mit ihrem Netzwerk unterstützen können. Die wohl kritischsten Punkte sind aber dennoch die Fragen nach der Wettbewerbsfähigkeit, dem Marktzugang und der Skalierbarkeit des genossenschaftlichen Plattformmodells. Um wettbewerbsfähig zu sein, müssen digitale Genossenschaften ein attraktives Produkt zu einem attraktiven Preis anbieten (Gorenflo 2015). Digitale Kooperativen können hier von ihrer Organisation ohne Mittelsmann profitieren. Da die Marge für den Mittelsmann wegfällt, kann der Produktpreis ohne negative Auswirkungen auf das Einkommen der Mitglieder der Genossenschaft verringert werden. Außerdem können digitale Kooperativen durch die Nutzung und den Austausch von Open-Source-Software und Technologien 8
Um für dieses Ansinnen staatliche Aufmerksamkeit zu generieren, ist in Deutschland beispielsweise bereits eine Online-Petition für sogenannte Mini-Genossenschaften ins Leben gerufen worden (Pompey 2019), die eine einfachere Genossenschaftsgründung fordert.
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wie Blockchain profitieren. Eine enge Zusammenarbeit und gemeinschaftliche Ressourcennutzung mit anderen Genossenschaften zusammen können die Höhe der anfallenden Fixkosten reduzieren und dadurch den Endpreis für Dienstleistungen und Produkte senken (Bauwens und Kostakis 2017). Eva, beispielsweise, ist eine kanadische, digitale Genossenschaft, die anteilig Fahrern und Mitfahrern gehört (sogenanntes Ride-Sharing) und Blockchain-Technologie nutzt, um eine gerechtere Alternative zum bisherigen Angebot zu schaffen. Auch durch die Entwicklung eines Platform-Toolkits, mit dem angehenden digitalen Genossenschaften die nötigen Mittel, wie zum Beispiel Software-Tools, zur Verfügung gestellt werden, um leicht und effizient eine Plattform bauen zu können, können Plattformgenossenschaften leichter konkurrieren (Schneider 2018b). Die Frage nach Skalierbarkeit ist eng verbunden mit der Überwindung von Netzwerkeffekten. Die marktdominierenden Plattformen wissen Netzwerkeffekte zu nutzen und langfristig von ihnen zu profitieren. Dennoch ist es nicht unmöglich, sie zu überkommen, wie das Beispiel des einst größten chinesischen RideSharing-Anbieters Didi zeigt: Didi war gerade profitabel geworden, als ein neuer Akteur in den chinesischen Markt eintrat und den Fahrern bessere Konditionen bot. Dies hatte zur Folge, dass Didi beträchtliche Marktanteile verlor (Zhu und Iansiti 2019). Weshalb konnte Didi trotz der mächtigen Marktposition seine Monopolstellung nicht halten? Erstens, weil es in der digitalen Plattformökonomie grundsätzlich einfacher ist, ein Angebot zu skalieren, als dessen Marktanteil zu verteidigen. Zweitens, weil nicht nur die Stärke der Netzwerkeffekte, sondern auch die Fähigkeit, die Nutzer zu halten und eine starke Position innerhalb des Ökosystems, in dem eine Organisation handelt, einzunehmen, ausschlaggebende Erfolgsfaktoren sind (ebd.). Digitale Genossenschaften haben in diesem Zusammenhang mehrere Vorteile, die sie für sich nutzen können. Erstens, machen die Eigentumsstrukturen, die nicht nur Arbeitern, sondern auch Nutzern ein Teileigentum an der Plattform einräumen können, sie weniger anfällig für eine Substitution durch Wettbewerber. Der Grund hierfür ist, dass diese Strukturen eine höhere Nutzerloyalität schaffen. Resonate, das kooperativ organisierte Äquivalent zum Musikstreamingdienst Spotify, nutzt diese Multi-Stakeholder-Strukturen und gehört zu 45 % den Künstlern (Anbieter), die ihre Musik auf der Plattform anbieten, zu 35 % den Resonate-Nutzern (Konsumenten) und zu 20 % den Mitarbeitern der Plattform selbst (Beckedahl und Kaiser 2017). Was die Loyalität der Nutzer genossenschaftlich organisierter Plattformen außerdem erhöhen könnte, ist die Datensouveränität, die die gemeinschaftliche Organisationsform ermöglicht. Durch die kollektive Organisation der Plattformen kann eine digitale Genossenschaft ein Ausmaß an Transparenz und Einsicht in die Nutzung der Daten gewähren, die nicht-genossenschaftliche Plattformen
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nicht bieten können (Zuboff 2015). Gerade in unserem Zeitalter, in dem Datenschutz eine wichtige Rolle spielt, könnte dies das ausschlaggebende Argument für die Nutzung der genossenschaftlichen und gegen die Nutzung einer anders organisierten Plattform sein (Beckedahl und Kaiser 2017). Außerdem verleihen die Möglichkeit der engen Zusammenarbeit und die dadurch entstehende starke Position im eigenen Netzwerk digitalen Genossenschaften einen weiteren Vorteil. In diesem Zusammenhang spielt der Unterschied zwischen lokalen und globalen Netzwerkeffekten eine ausschlaggebende Rolle. Je nach Service oder Produkt, das angeboten wird, spielen Netzwerkeffekte auf lokaler Ebene eine größere Rolle als auf globaler Ebene. Um bei dem Beispiel der Ride-Sharing-Plattformen zu bleiben: Für Nutzer an einem bestimmten Ort ist nicht relevant, wie viele Fahrer weltweit für einen Anbieter fahren, sondern nur, wie viele Fahrer an diesem bestimmten Ort für den besagten Anbieter fahren. Grundsätzlich ist es also einfacher, mit Plattformen zu konkurrieren, deren Erfolg auf lokalen Netzwerkeffekten beruht (Zhu und Iansiti 2019). Vielleicht ist das der Grund, warum es ausgerechnet im Mobilitätssektor bereits viele genossenschaftlich organisierte Alternativen zu den Plattformgiganten wie Uber und Didi gibt. Die bereits erwähnte Ride-Sharing-Plattformgenossenschaft Eva oder Denver Green Taxi sind Beispiele, die sich bereits am Markt etabliert haben (Scholz 2017). Auch der Staat spielt bei der Frage nach Marktzugang eine wichtige Rolle. Schließlich ist es seine Aufgabe, einen fairen Wettbewerb zu ermöglichen und für gerechte, rechtmäßige Beschäftigungsverhältnisse zu sorgen sowie Arbeitnehmer vor Ausbeutung zu schützen (Scholz 2017). Eine strengere Regulierung der Plattformgiganten wird schon seit längerem gefordert. Die Gründe dafür sind vielseitig: Die Plattformen zerstören lokale Industrien, haben negative Auswirkungen auf die kommunale Entwicklung und verletzen geltendes Recht. Airbnb, die größte Home-Sharing-Plattform ist dafür ein gutes Beispiel: Die Hotelindustrie fährt hohe Verluste ein, die Mietpreise in den Metropolen der Welt steigen so sehr an, dass die Bewohner kaum noch in der Lage sind, sich ihren Wohnraum zu finanzieren, und Airbnb hält sich nicht an geltende staatliche Regulationen (Dickinson 2018). Eine strengere Regulierung der marktbeherrschenden Plattformen könnte sich auch positiv auf den Erfolg digitaler Genossenschaften auswirken, da die Wettbewerbsbedingung klarer wäre und der Marktzugang erleichtert würde (Scholz 2016). Die kommunale Verwaltung Barcelonas geht hier mit einem guten Beispiel voran und unterstützt Kooperativen gezielt (Beckedahl und Kaiser 2017; Bria et al. 2017). Beispielsweise hat die Stadt den Impetus Plan ins Leben gerufen, der ein weitreichendes Maßnahmenpaket zur Stärkung sozial- und solidarwirtschaftlicher Unternehmen umfasst. Dieser beinhaltet nicht nur Finanzierungshilfen, sondern zielt auch auf die Vernetzung der Kooperativen ab (Bland 2019).
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Tabelle 2: Herausforderungen für digitale Genossenschaften und Lösungsansätze anhand von Beispielen Herausforderungen 1. Finanzierung
Lösungsansatz
Praxisbeispiele
Crowdfunding als Beitrag für die Startfinanzierung
Erste Crowdfunding-Plattform zur Unterstützung von Genossenschaften bei der Startfinanzierung, wie zum Beispiel Crowdfunding.coop in Dänemark, sind im Aufbau (Nielsen 2019). Die digitale Genossenschaft Loomio wurde von Investoren finanziert, die die Genossenschaftsorganisation unterstützen
Investoren, die die genossenschaftliche Organisationsform unterstützen (z. B. Genossenschaftsbanken) Staatliche Unterstützung 2. BürokratiStaatliche Untersche Hürden stützung & Marktzugang
Genossenschaftlich orientierte Rechtsberatungen
Staatlicher Mutualitätsfond nach italienischem Beispiel Petition für Mini-Genossenschaften in Deutschland Die EU Kommission hat im Rahmen der Digital Single Market Strategy bereits ein Maßnahmenpaket für mehr Fairness, Transparenz und gegen unfairen Wettbewerb in der Plattformökonomie erarbeitet und ein Expertengremium berufen, das über die Entwicklungen in der Plattformökonomie berichten soll und u.a. effektive Regulierungsmaßnahmen erarbeiten soll (EC 2019). Unterstützung von Kooperativen nach dem Beispiel Barcelonas Im Koalitionsvertrag der großen Koalition wird die Förderung deutscher und europäischer Player in der Plattformökonomie als Ziel ausgegeben. Dazu sollen die bürokratischen Hürden minimiert werden. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie fordert stärkeres Kartellrecht zur Unterstützung von Genossenschaften (BMWI 2019) Coop Legal Services in Großbritannien
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Herausforderungen
3. Wettbewerbsfähigkeit
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Lösungsansatz
Praxisbeispiele
Zusammenarbeit mit bestehenden Kooperativen
Die Genossenschaft für Selbstständige, SMartDE, bietet Genossen an, die Freiheit der Selbstständigkeit mit der Sicherheit des Angestelltendaseins zu verbinden. Um die Organisation weiterzuentwickeln, tauscht SMartDE sich intensiv mit den Partnerorganisationen in neun Ländern aus. Up&Go verlangt mit 5 % eine deutlich geringere Vermittlungsgebühr als vergleichbare Unternehmensplattformen (z. B. Task Rabbit 30 %). Dabei wird ein Teil der Gebühr in die Weiterentwicklung der Plattform reinvestiert.
Vermittlungsgebühr ist kleiner als bei Plattformen, welcher einer Risikokapitallogik folgen. Daher kann die Gebühr reduziert werden kann Nutzung von opensource-Software
Das Plattform-Toolkit stellt digitalen Kooperativen die nötigen Softwaremittel zur Verfügung, um eine wettbewerbsfähige Plattform zu bauen Nutzung von demo- Eva nutzt Blockchain-Technologie, um eine kratischen Technolo- Alternative zu Uber zu bieten gien (z. B. Blockchain) Datensouveränität Datensouveränität könnte den USP für digitale Genossenschaften darstellen Gesetzliche Rahmenbedingungen, die Datensourveränität unterstützen bzw. ergänzen (z. B. „Daten-für-alle“-Initiative der SPD) Nutzer des Musik-Streamingservices Resonate können bereits mitbestimmen, wie ihre Daten verwendet werden Enge ZusammenSMartDE tauscht sich intensiv mit Partnerarbeit mit anderen organisationen in neun Ländern aus Kooperativen
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Herausforderungen 4. Skalierbarkeit & Überwindung von Netzwerkeffekten
Lösungsansatz
Praxisbeispiele
Nutzung von MultiStakeholder-Eigentumsstrukturen Kooperatives Ökosystem nutzen und stärken
Resonate gehört zu 45 % den Künstler, zu 35 % den Nutzer und zu 25 % den Mitarbeiter
Nutzung lokaler Netzwerkeffekte
4
Ziel im Koalitionsvertrag: genossenschaftliche Organisationsform fördern. Auch die Grünen unterstützen dieses Ziel (CDU 2018). SPD spricht sich explizit für die Förderung digitaler Kooperativen aus (DGRV 2017; Heide 2018) Denver Green Taxi konzentriert sich auf den lokalen Markt in Denver und versucht, so mit Uber konkurrieren
Fazit
Digitale Genossenschaften haben das Potenzial, zu einer gerechteren Arbeitswelt und nachhaltigeren Wirtschaftsordnung beizutragen. Trotz einiger Herausforderungen könnten sie eine Alternative zu bisherigen Organisationsformen im digitalen Kapitalismus darstellen, wenn sie es schaffen, genug Aufmerksamkeit für ihr Konzept zu erzeugen und genügend Ressourcen zu mobilisieren. Staatliche Unterstützung sowie eine enge Zusammenarbeit zwischen den bereits bestehenden Kooperativen stellen Grundbedingungen für den Erfolg des Konzepts dar. Da sich alle bestehenden Beispiele digitaler Genossenschaften noch in der Anfangsphase befinden, bleibt abzuwarten, ob sich einige von ihnen, zumindestens lokal, im Wettbewerb gegen die risikokapitalgetriebenen Plattformen durchsetzen können. Die Multi-Stakeholder-Strukturen scheinen zumindest augenscheinlich ein guter Ansatzpunkt zu sein, um die Dominanz einer Interessensgruppe zu verhindern. Darüber hinaus macht diese Eigentumsstruktur digitale Genossenschaften widerstandsfähiger gegenüber der Versuchung einer Rückkehr zur dominanten Organisationsform in der Plattformökonomie.9
9
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und weiterentwickelte Fassung des Artikels „Plattformgenossenschaften: die digitale Renaissance einer alten Idee“, der in der Zeitschrift „Neues Archiv für Niedersachsen“ (11/2019), S. 106-118, erschienen ist.
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Kapitel IV: Gestaltung von Partizipation und das Individuum am digitalisierten Arbeitsplatz
Neuverhandlung oder Verfestigung von Geschlechterungleichheiten? Effekte digitalisierter und mobiler Arbeit auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Anwesenheitskulturen und die Veränderung von Tätigkeiten Tanja Carstensen Abstract Mit der aktuellen Digitalisierung der Arbeit vollziehen sich Prozesse, die auch geschlechterpolitisch relevant sind. Erwartungen werden vor allem hinsichtlich Veränderungen in drei Feldern formuliert: (1) neue Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch digitale und mobile Arbeit, (2) neue Profilierungsmöglichkeiten und Karrierechancen für Beschäftigte durch digitale Sichtbarkeiten sowie (3) Veränderungen von Bewertungen geschlechtstypischer Tätigkeiten. Diese drei Felder untersucht das Forschungsprojekt „Wandel der Geschlechterverhältnisse durch Digitalisierung“ (gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung). Der Beitrag stellt Ergebnisse aus den im Rahmen des Projektes geführten qualitativen Interviews mit Beschäftigten, Betriebsräten und Personalverantwortlichen vor und verfolgt die Frage, inwiefern in Digitalisierungsprozessen Geschlechterungleichheiten neu verhandelt und/oder verfestigt werden bzw. inwiefern Veränderungen und Verschiebungen von Geschlechterverhältnissen durch die Digitalisierung der Arbeitswelt in der betrieblichen Praxis zu beobachten sind. Die Ergebnisse zeigen, dass die Digitalisierung und die damit verbundenen Neuorganisationen von Arbeit zwar keine grundlegenden, aber graduelle Effekte auf die Geschlechterverhältnisse haben. Bestehende ungleiche Arbeitsteilungen werden kaum in Frage gestellt, gleichzeitig lassen sich aber kleinere Erleichterungen und Entspannungen hinsichtlich der Vereinbarkeit durch flexibles Arbeiten sowie Möglichkeiten für Teilzeit arbeitende Frauen, ihren Arbeitsumfang zu erhöhen, identifizieren. Neue digitale Profilierungsmöglichkeiten entstehen hingegen bisher kaum. Und nicht zuletzt finden sich erste Hinweise auf Rationalisierungen verwaltender (Frauen-)Tätigkeiten und Arbeitsverdichtungen in hochqualifizierten (Männer-)Tätigkeiten.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_14
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Tanja Carstensen
Einleitung
Bis heute sind sowohl Arbeit als auch Technik hochgradig vergeschlechtlicht. Technischer Wandel war historisch aber auch immer wieder Anlass, Arbeitsbedingungen und Geschlechterverhältnisse neu zu verhandeln. Auch mit der aktuellen Digitalisierung der Arbeit vollziehen sich Prozesse, die geschlechterpolitisch relevant sind. Erwartungen werden hier zurzeit vor allem hinsichtlich Veränderungen in drei Feldern formuliert: (1) Die verschiedenen Formen der Entgrenzung und Flexibilisierung durch digitale und mobile Technologien und die Ermöglichung neuer Formen zeit- und ortsunabhängigen Arbeitens verändern die Bedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Sorgearbeiten. Mit Homeoffice und mobiler Arbeit, am Wochenende und im Urlaub, etabliert sich ein Arbeiten immer und überall als neuer Normalzustand. (2) Internet, soziale Medien, digitale Kommunikations-, Konferenz- und Projektorganisationssoftware verändern zudem Formen und Orte der Zusammenarbeit. Enterprise 2.0 oder Social Collaboration etablieren zusätzliche Gelegenheiten – neben Meetings, aber auch neben Teeküche und Flur –, in denen Arbeit und Leistungen sichtbar werden können. Neben neuen Anforderungen an die Beschäftigten wie Selbstpräsentation, Sharing und vernetztes Arbeiten verändern sich in diesem Zuge möglicherweise auch Anwesenheitskulturen und damit verbundene Profilierungsmöglichkeiten. Dies könnte positive Effekte auf die Karrierechancen von Menschen mit eingeschränkter Anwesenheit aufgrund von Kinderbetreuungsaufgaben haben. (3) Und schließlich spricht einiges dafür, dass sich durch den Einsatz digitaler Technologien Tätigkeiten und die Bewertungen dieser verschieben; bestimmte Tätigkeiten fallen weg, werden durch Technik ersetzt, neue werden erforderlich. Damit könnten sich auch geschlechtliche Konnotationen und geschlechterdifferenzierende Zuordnungen von Tätigkeiten und Berufen verschieben. Diese drei Felder untersucht das Forschungsprojekt „Wandel der Geschlechterverhältnisse durch Digitalisierung“ (gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung). Der vorliegende Beitrag stellt Ergebnisse aus den im Rahmen des Projektes geführten qualitativen Interviews mit Beschäftigten, Betriebsräten und Personalverantwortlichen vor und verfolgt dabei die Frage, inwiefern in arbeitsbezogenen Digitalisierungsprozessen Geschlechterungleichheiten neu verhandelt und/oder verfestigt werden bzw. inwiefern Veränderungen und Verschiebungen von Geschlechterverhältnissen durch die Digitalisierung der Arbeitswelt in der betrieblichen Praxis zu beobachten sind. Hierfür wird zunächst ein kurzer Überblick über Wandel und Kontinuitäten von Geschlechterungleichheiten in Bezug auf Arbeit und Technik gegeben (2). Anschließend werden die in Diskursen über die Digitalisierung verhandelten Erwartungen skizziert (3). Nach der Beschreibung des
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methodischen Vorgehens (4) folgt die Vorstellung einiger Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt (5). Der Artikel endet mit einem Fazit und Ausblick (6). 2
Fortbestehende Geschlechterungleichheiten in Arbeit und Technik
Sowohl Technik als auch Arbeit sind bis heute hochgradig vergeschlechtlicht. Trotz gestiegener Frauenerwerbstätigkeit und Gleichheitsentwicklungen ist Erwerbsarbeit nach wie vor vertikal und horizontal nach Geschlecht segregiert (Aulenbacher 2010). Zum einen sind Aufstiegschancen ungleich, es finden sich mehr Männer als Frauen in hochbezahlten Arbeitsverhältnissen und Führungspositionen, Frauen stoßen noch immer an die gläserne Decke (Holst und Kirsch 2016). Zum anderen strukturiert sich der Arbeitsmarkt in Männer- und Frauenberufe, und hier zeigt sich ebenfalls eine ungleiche Bewertung, sowohl hinsichtlich gesellschaftlicher Anerkennung als auch hinsichtlich der Bezahlung. Vor allem aber ist die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern hinsichtlich bezahlter und unbezahlter Arbeit ungleich. Die Erwerbsquote lag 2016 bei den Frauen bei 73,4 Prozent, bei den Männern bei 81,7 Prozent (Bundesagentur für Arbeit 2018, S. 5). Zwar hat sich der Abstand hier in den letzten Jahrzehnten deutlich verringert, allerdings bestehen hinsichtlich des Umfangs der wöchentlichen Arbeitszeit nach wie vor deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Teilzeit arbeiteten in 2017 7,1 Mio. Frauen, aber nur 1,9 Mio. Männer. Bemerkenswert ist zudem, dass die Anzahl der Vollzeit erwerbstätigen Frauen seit 2007 nicht gestiegen ist, sondern nach wie vor bei 7,8 Mio. liegt (ebd., S. 9). So ist es wenig verwunderlich, dass unter Eltern das Familienmodell aus Vollzeit arbeitenden Vätern und Teilzeit arbeitenden Müttern in der Bundesrepublik das am weitesten verbreitete ist (2012: 38,4 Prozent; Statista 2014), gefolgt von 29,4 Prozent, bei denen nur der Vater erwerbstätig ist und erst dann mit 13,8 Prozent Paare, in denen beide Vollzeit erwerbstätig sind. Dass Frauen in Partnerschaften mit Kindern mehr arbeiten als Männer, kommt nur bei 6,3 Prozent vor, davon arbeiten in 5,3 Prozent der Fälle nur die Frauen, in 1 Prozent der Fälle arbeiten die Mütter Vollzeit und die Väter Teilzeit. Und auch nur bei 1,6 Prozent arbeiten beide Teilzeit (Statista 2014). Passend hierzu sind deutlich mehr Frauen mit den unbezahlten Sorgearbeiten, vor allem Kinderbetreuung und Hausarbeit, beschäftigt (Statistisches Bundesamt 2015; Winker 2015). Selbst in Partnerschaften mit Kindern, in denen beide Vollzeit arbeiten, verwenden Frauen deutlich mehr Zeit auf Kinderbetreuung und Haushalt als Männer (Hobler et al. 2017). Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist damit noch immer vor allem ein Frauenproblem. Insgesamt verschärfen sich zudem seit Jahren nicht nur die Anforderungen und Belastungen im Bereich der
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Erwerbsarbeit, sondern auch die Bedingungen für gute Sorgearbeit (vgl. Winker und Carstensen 2007; Winker 2015). Gleichzeitig sind die Entwicklungen höchst widersprüchlich. Im „flexibilisierten Kapitalismus“ (Lenz et al. 2017) finden sich neben diesen resistenten Ungleichheiten diverse Gleichheitstendenzen. Weibliche Potenziale werden zunehmend nachgefragt, Geschlechterrollen flexibilisiert, Männer als neue Väter adressiert, und auch betriebliche Ansätze zu Gleichstellung und Diversity verweisen auf eine Öffnung und Sensibilisierung für Gender-Themen – und zeigen gleichzeitig auch die Verwertbarkeit dieser Vielfalt. Auch Technik war historisch und ist bis heute tief vergeschlechtlicht und dabei in vielerlei Hinsicht eine Männerdomäne. Stereotype Zuschreibungen von Kompetenzen und Fähigkeiten und hartnäckige Vorstellungen weiblicher Technikdistanz prägen den Zugang zu und die Nutzung von Technik maßgeblich, technische Berufe weisen bis heute einen deutlich höheren Männeranteil auf. In diesem Spannungsfeld von Technik, Arbeit und Gender zeigen sich somit historisch gewachsene, starre Strukturen, Retraditionalisierungen sowie sich teilweise reorganisierende komplexe, widersprüchliche und flexibilisierte Strukturen. Dabei hat sich historisch auch hier immer wieder gezeigt, dass es mit der Einführung neuer Technologien zu Umbewertungsprozessen von Arbeit kommen kann. Wajcman (2004) weist darauf hin, dass jede neue Technologie immer auch Anlass sein kann, Geschlechterverhältnisse neu zu verhandeln, Instabilitäten in Machtverhältnisse zu bringen und beispielsweise Rollenzuschreibungen und Arbeitsteilungen in Bewegung zu setzen (Carstensen 2015; 2019; Kutzner 2018). 3
Die Verhandlung von „Gender“ in Digitalisierungsdiskursen
Diese Möglichkeiten für Umbrüche und Neuverhandlungen spiegeln sich nicht zuletzt in den medialen, politischen und unternehmerischen Diskursen, die die Verbreitung digitaler Technologien seit einigen Jahren intensiv begleiten. Gender und Fragen nach den geschlechterrelevanten Konsequenzen der Digitalisierung haben inzwischen einen festen Platz in diesen Debatten (Carstensen 2019). So fragt beispielsweise das Handelsblatt „Bringt die Digitalisierung mehr Frauen in den Chefsessel?“ (Wagner-Fuhs 2016) und die Aachener Zeitung „Weibliches Know-how zählt mehr: Nützt die Digitalisierung Frauen?“ (Kruthaup 2016). Hier werden bereits verschiedenste Hoffnungen und Befürchtungen sichtbar: Bessere Karriere- und Aufstiegschancen; aber auch neue Anforderungen an Kompetenzen. Die, positiven wie negativen, Erwartungen an Veränderungen der Geschlechterverhältnisse sind dabei teilweise weitreichend. Die ehemalige Generalsekretärin der FDP Nicola Beer geht davon aus, dass es nie „bessere Chancen,
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gerade für Frauen, immer wieder neu einzusteigen, sich neu aufzustellen und sich neu zu erfinden“, gab und dabei „auch die Gehaltsunterschiede zwischen Frauen und Männern geringer werden“ (Beer 2016, § 15). „Die Digitalisierung wird viele Herausforderungen, aber noch mehr Chancen für jeden und jede von uns bringen. Nutzen wir sie, ob als Gründerinnen, als Mütter, Ingenieurinnen, ob beruflich oder ganz privat. Sie ist uns auf den Leib geschrieben, denn die Digitalisierung ist weiblich!“ (ebd.)
Insbesondere für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie werden neue Chancen ausgemacht. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (2015, § 23) betont beispielsweise, dass die „technischen Möglichkeiten der digitalen Arbeit […] neue Chancen der zeitlichen, räumlichen und organisatorischen Flexibilität“ eröffnen: „Arbeitsformen wie Vertrauensarbeit, Homeoffice, mobiles und flexibles Arbeiten gewinnen zunehmend an Bedeutung. Social Collaboration, Open Innovation, virtuelle Präsenz lassen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit fließend werden. Die digitale Vernetzung kann dadurch den Wünschen vieler Beschäftigter entgegenkommen, denn sie bietet die Chance zur Erhöhung des selbstbestimmten Handelns sowie der besseren Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit, Familie und Beruf“ (ebd., § 23)
Neue Technologien werden oftmals von solch euphorischen Diskursen begleitet. Ob und inwiefern Teile dieser weitreichenden Erwartungen in der betrieblichen Praxis bereits verwirklicht sind, wird im Folgenden gezeigt. 4
Ziel, Methode und Sample
Das Forschungsprojekt „Wandel der Geschlechterverhältnisse durch Digitalisierung“ setzt an diesen Erwartungen an und verfolgt die Fragestellung, inwiefern sich mit der Nutzung von digitalen Technologien und den damit verbundenen Änderungen und Neuregelungen der Arbeitsorganisation in der konkreten betrieblichen Praxis sowie im Alltag genderrelevante Veränderungen erkennen lassen. Dabei werden die drei Felder untersucht, in denen zurzeit am ehesten Veränderungen erwartet werden: (1) neue Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Sorgearbeiten durch digitale und mobile Arbeit, (2) neue Profilierungsmöglichkeiten und Karrierechancen für Beschäftigte durch digitale Sichtbarkeiten sowie (3) Veränderungen von Bewertungen geschlechtstypischer Tätigkeiten. Hierfür werden zurzeit qualitative Leitfadeninterviews mit Beschäftigten, Mitgliedern des Betriebsrates und Personalverantwortlichen geführt. Die untersuchten Unternehmen und Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie digitale
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und mobile Technologien (insbesondere Smartphone, Laptop, Internet, Social Media sowie Collaboration-Software) nutzen und zumindest teilweise die Möglichkeit zu zeitlich und räumlich flexibler Arbeit haben. Außerdem werden insbesondere Eltern interviewt. Der vorliegende Text basiert auf der Auswertung von 12 Interviews (9 Frauen, 3 Männer; davon 7 mit Kindern), die in einem industriell produzierenden Fallbetrieb geführt wurden, in dem Büroangestellte, durch Betriebsvereinbarungen geregelt, die Möglichkeit zu mobiler Arbeit und Homeoffice haben, insbesondere in Notfällen. Die Interviews wurden mit der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 1997) ausgewertet. 5
Digitalisierung der Arbeit = neue Geschlechterverhältnisse?
Die Interviews zeigen, dass im Kontext der Digitalisierung Arbeit in der Tat neu gestaltet wird und dies auch die Geschlechterverhältnisse betrifft. 5.1
Neue Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Sorgearbeiten durch digitale und mobile Arbeit
Bereits seit den 1980er Jahren wird die Erwartung formuliert, dass digitale Technologien durch die Flexibilisierung von Arbeitsorten und Arbeitszeiten die Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erhöhen könnten. Insbesondere Teleheimarbeit wurden Chancen für Verschiebungen der Arbeitsteilungen zwischen den Geschlechtern zugeschrieben, was sich auch teilweise empirisch belegen ließ (Winker 2001). Die gegenwärtige Arbeitswelt ist allerdings von einer weiteren Entwicklung geprägt: Mit der zunehmenden beruflichen Nutzung von mobilen Geräten lässt sich mittlerweile die Normalisierung eines Arbeitens immer und überall beobachten. Mit der Möglichkeit, die Erwerbsarbeit (noch weiter) aus den zeitlichen und räumlichen Strukturen zu lösen und flexibel jederzeit und von überall zu arbeiten, könnten, so erste Untersuchungen, auch für Menschen mit Sorgeverpflichtungen – das heißt vor allem Frauen – neue Freiräume der Alltagsgestaltung entstehen (Wischermann und Kirschenbauer 2015). Zeitsouveränität, Reduzierung der Zeit für Arbeitswege und eine flexiblere Alltagsgestaltung ermöglichen, Erwerbsarbeitszeiten und -orte an die Bedürfnisse der Sorgearbeit anzupassen. Arbeiten können mit nach Hause oder möglicherweise auch mit auf den Spielplatz genommen werden; Büroarbeitszeiten können um weitere Arbeitszeiten ergänzt werden.
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5.1.1
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Erhöhung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit von Müttern in Teilzeit durch ortsflexibles digitales Arbeiten
Ein erster empirischer Befund macht zunächst deutlich, dass die Möglichkeit zu mobiler Arbeit und Homeoffice Teilzeitbeschäftigten erlaubt, ihre vertraglich vereinbarte Stundenzahl zu erhöhen und damit nicht nur mehr, sondern auch eine interessantere Tätigkeit mit mehr Entwicklungsmöglichkeiten ausüben zu können. Einige der interviewten Frauen betonen zunächst, dass sie ihr Alltagsarrangement aus Erwerbsarbeit und Zeit für Kinderbetreuung nicht überstrapazieren möchten. Auch wenn sie gern erwerbstätig sind, kommt zum Ausdruck, dass ihnen Zeit mit den Kindern ebenfalls sehr wichtig ist. So beschreibt eine Angestellte mit zwei Kindern: „also 28 Stunden für mich mit zwei Kindern ist - mehr würde ich jetzt glaube ich nicht, im Moment erst mal nicht machen. […] Es wird sich wahrscheinlich wieder regeln, wenn der Sohn dann auch in die Kita geht […] wobei mir der Freitagstag eigentlich auch heilig ist und es ganz schön ist, mal einen Tag nur was mit den Kindern zu machen und auch mal wieder - genau, nicht von der Arbeit zu stressen, nach Hause zu kommen und zu gucken, ob man noch was macht.“
Zusammen mit Wegezeiten, Verkehrsproblemen und der Erfahrung, dass durch Krankheit der Kinder oftmals der Alltag durcheinandergerät, beschreiben einige der Interviewten ihre zeitlichen Möglichkeiten für Erwerbsarbeit als begrenzt, wie beispielsweise diese Angestellte, die ein Kind hat und deren Arbeitsweg durch ein verkehrstechnisch belastetes Nadelöhr führt: „Genau, das ist für mich ein ganz großer Punkt, weil ich die [Name eines Verkehrsabschnitts] kreuzen muss. Das heißt, das war einer der Gründe, warum ich immer gesagt habe, freitags würde ich lieber nicht arbeiten.“
Ein Effekt des vereinbarten Angebots von mobilem, digitalem Arbeiten ist nun die Möglichkeit, mehr Stunden arbeiten zu können, nicht zuletzt, weil Wegezeiten gespart werden. Die Interviewte ist von Teilzeit auf Vollzeit – und damit auf eine interessantere Tätigkeit – gewechselt, als ihr mobile Arbeit angeboten wurde. Dies wurde für sie mit ihrem Kind und einem langen Arbeitsweg nur möglich – ohne, „dass ich mich völlig zerreißen muss“ –, weil sie nun teilweise zuhause arbeitet. „Mir wurde das angeboten im Rahmen eines Jobwechsels. […] Also man hat mir gesagt, wenn du – wenn man gerne umsteigen – wenn der Bedarf wäre bei mir, wieder Vollzeit zu kommen und ich mich – mir den Job vorstellen könnte, dann könnte man das durchaus arrangieren, dass man in dem Rahmen auch eine Stelle etablieren kann, die mir entgegenkommt, weil ich halt diese Fahrprobleme auch angebracht habe, die genau damals auch aktiv waren. Also ich habe durchaus über eine Stunde nach Hause gebraucht.“
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Nicht unentscheidend für diese betrieblichen Angebote ist hierbei der Betriebsrat, der in seiner Arbeit explizit gleichstellungspolitische Ziele verfolgt und Frauen nachdrücklich zu möglichst hohen Stundenzahlen rät. So beschreibt eine Betriebsrätin: „So, und ganz ehrlich, wenn ich Frauen berate während der Schwangerschaft, so nach dem Motto, welche Karriereoptionen willst du? Wie stellst du dir den Wiedereinstieg vor, ist meine Empfehlung immer, so viel Stunden wie möglich.“
Eine andere Betriebsrätin betont, dass Frauen nach der Elternzeit mindestens mit 25 Stunden pro Woche wieder anfangen sollten zu arbeiten, in Hinblick auf Entwicklungsmöglichkeiten, Einkommen und Rente. Mit flexibler und digitaler Arbeit wird dies meist realisierbar. Frauen mit Kindern, die möglicherweise defensiv eine geringere Stundenzahl vertraglich vereinbaren würden, um ihr Alltagsmanagement nicht überzustrapazieren, werden so motiviert, etwas mehr zu arbeiten und dadurch Aufstiegschancen und Rente zu verbessern sowie interessantere Tätigkeiten zu erhalten. Damit zeichnen sich zwar keine neuen Geschlechterarrangements ab, dennoch ermöglichen digitale Arbeitsformen hier immerhin kleine Verschiebungen hinsichtlich des Umfangs weiblicher Erwerbstätigkeit. 5.1.2
Entspannung, zeitliche und emotionale Entlastung
Ein weiterer wichtiger Effekt der digital gestützten Möglichkeiten flexibler Arbeit ist, dass einige der interviewten Frauen mit Kindern betonen, dass allein das Wissen um die Möglichkeit, im Notfall zuhause bleiben zu können, ohne dass es ein größeres Problem ist, ihren Alltag deutlich entspannt, und das sowohl zeitlich als auch emotional. Vor allem nimmt die betriebliche Regelung Stress und Druck aus Situationen wie einer Krankheit der Kinder. An dem folgenden Zitat wird deutlich, wie belastend es sein kann, spontane Lösungen für Situationen zu finden, in denen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zusammenbricht, wie es eine weitere Angestellte mit zwei Kindern beschreibt: „Man hat eigentlich – ja, also man hat mehr Ruhe, ne? Also man hat ein besseres Gefühl, wenn man in dem Moment merkt, oh Scheiße, das Kind ist krank. Dann weiß ich im Hinterkopf, ach ich = ich muss jetzt nicht gucken, wie ich meine Mutter organisiert kriege oder irgendeinen Babysitter. Ich weiß sofort, okay, ich habe die Möglichkeit. So, und dann ist man eigentlich auch – geht man halt viel gelassener mit der Situation dann direkt um, ne?“
Bemerkenswert ist in diesem Zitat und vielen ähnlichen Schilderungen in anderen Interviews mit Frauen aber auch, dass die Väter jeweils kaum oder gar nicht vorkommen. Die Verantwortung und Aufgabe, die Situation mit dem kranken
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Kind zu lösen, wird selbstverständlich akzeptiert; Rollenzuschreibungen werden an dieser Stelle nicht in Frage gestellt. Gleichzeitig scheint auch die Inanspruchnahme der gesetzlichen Möglichkeit, sich wegen Krankheit des Kindes freistellen zu lassen, dem Anspruch und der Anforderung, immer zu arbeiten und ansprechbar zu sein, zu weichen. Die digitalen Technologien haben eine ermöglichende Funktion in diesem Arrangement; viel entscheidender für die emotionale Entlastung scheint aber gegenseitiges Verständnis für solche Situationen in den einzelnen Abteilungen zu sein sowie eine gute Kommunikation mit den Vorgesetzten. Ist dies gegeben, wird das Homeoffice mit krankem Kind als unkompliziert und entlastend beschrieben, wie die bereits zitierte Interviewte beschreibt: „Ich habe zwei kleine Kinder, die sind immer irgendwie krank. […] Ja, typische Situation, wir wachen morgens auf und mein Großer hat Fieber. Ja, dann schreibe ich eine Whatsapp. [lacht] […] an meinen Vorgesetzten [...] sage hier, [Name Sohn] hat Fieber, ich würde gerne Homeoffice machen. Und er sagt, ja, geht klar. Dann wähle ich mich von zu Hause ein, da gibt es so ein – so ein, ich weiß gar nicht, wie es heißt, Connector irgendwas, da gibt man ein Passwort ein und bekommt dann so eine Nummer, dann wählt man sich da ein und dann ist man eigentlich im [Firmen]-Netz. So, und dann ist, das fiebernde Kind liegt dann auf der Couch, und ich sitze dann daneben mit meinem Laptop und arbeite.“
Deutlich wird hier, ähnlich wie unter 5.1.1, dass keine Hinweise auf grundlegende Veränderungen in der Arbeitsteilung von Frauen und Männern zu finden sind, dass aber einzelne Belastungs- und Stressfaktoren in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie reduziert werden können. Technik ist dabei eine Grundlage, die Verbindung zum Büro herzustellen; klare Regelungen und eine familienfreundliche Unternehmenskultur sind aber vermutlich entscheidender. 5.1.3
Verunsichtbarung von Mehrarbeit und Vereinbarkeitsleistungen
Dass Beschäftigte im Homeoffice das Gefühl haben, sich beweisen zu müssen, und gegen das Vorurteil anarbeiten, zuhause weniger zu arbeiten, ist bekannt. Deutlich wird auch in den Interviews an vielen Stellen, dass im Homeoffice insgesamt mehr gearbeitet wird. Eine Interviewte begründet dies mit der eingesparten Wegezeit: „Der Aufwand ist es, ne? Man spart – also ich spare eine Stunde, also morgens halbe und abends halbe Stunde Fahrzeit. Die arbeitet man länger. Also ich kann definitiv sagen, dass ich zu Hause mehr arbeite als hier. Und ja, das heißt, man - dieser ganze Stress, ich meine das immer in Anführungszeichen jetzt bitte, es ist ja jetzt – klingt jetzt ein bisschen [lachend:] albern vielleicht. Aber mit = mit Anziehen, mit = mit fertig machen, man sitzt halt einfach zu Hause und = und = und es ist einfach“
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Auch andere beschreiben, dass sie zuhause „durchaus ein bisschen mehr“ schaffen. Oftmals wird der Homeoffice-Tag sogar dazu genutzt, besonders viel abzuarbeiten: „Da bin ich eigentlich auch froh darum, weil man bekommt halt mehr erledigt an dem Tag dann. […] Also man weiß, das ist der Tag, wo man viel Mengen, also Quantität weggearbeitet bekommt.“ Diese bekannten Phänomene der Mehrarbeit im Homeoffice sind aus Geschlechterperspektiven für Frauen in Teilzeit besonders virulent. Daneben ist noch ein weiterer Aspekt relevant, der zum einen auf die Arbeitsverdichtung und die kaum in der Arbeitszeit zu bewältigende Arbeitsmenge verweist, zum anderen verdeutlicht, inwiefern digitale und mobile Technologien dazu führen, dass immer mehr Situationen als Erwerbsarbeitszeit nutzbar gemacht werden, ohne dass dies – innerbetrieblich oder gesellschaftspolitisch – sichtbar wird. Eine Studie aus Island, die Führungskräfte interviewt hat, zeigt, dass auch die Zeit mit Kindern, u. a. am Wochenende, nach Möglichkeit für Erwerbsarbeit genutzt wird. Hier sagt ein Manager mit zwei Kindern: “‘It is important for me to work on the sofa, but not in a separate room. That is actually the only way for me to use the three hours I have with my kids also for work’” (Rafnsdóttir und Júliusdóttir 2018, S. 87). Wenn beinahe jede Situation als Erwerbsarbeitszeit genutzt, dadurch in der Tat mehr Arbeit erledigt und so der Alltag optimiert werden kann, kann dies, wie bereits beschrieben, zu einer Normalisierung der gleichzeitigen Erfüllung von Erwerbsarbeits- und Sorgearbeiten führen. Digitale Technologien erweisen sich dabei als Hilfsmittel, die gestiegenen Anforderungen in allen Bereichen besser zu bewältigen und über Multitasking, permanente Erreichbarkeit und das ständige Erledigen von Erwerbsarbeitsaufgaben zwischendurch mehr schaffen zu können. Probleme der Vereinbarkeit bzw. die Unvereinbarkeit von Erwerbsarbeitsansprüchen mit anderen Lebensbereichen werden damit noch stärker als bisher individualisiert gelöst – weil es technisch möglich ist – und damit als gesellschaftlich und betrieblich zu lösende Probleme dethematisiert (auch Carstensen 2019). 5.2
Neue Profilierungsmöglichkeiten und Karrierechancen für Beschäftigte durch digitale Sichtbarkeiten
Neben der Flexibilisierung von Arbeitszeiten und -orten verändern sich zudem die Möglichkeiten, im Arbeitsumfeld trotz körperlicher Abwesenheit präsent zu sein. Internet- und Social-Media-Angebote verschieben betriebliche Öffentlichkeiten und etablieren neue Orte der betrieblichen Kommunikation und Zusammenarbeit; auf unternehmensinternen Plattformen und Firmen-Social-Networks werden gemeinsame Projekte bearbeitet, Ideen entwickelt und Vorschläge disku-
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tiert. Diese werden zu relevanten Informations-, Kommunikations- und damit auch Selbstpräsentationsräumen, die ortsunabhängig die Darstellung der eigenen Arbeitsleistung ermöglichen. Sie schaffen damit auch neue Profilierungsmöglichkeiten und das Potenzial, auch bei Abwesenheit durch digitale Selbstpräsentation im Unternehmen sichtbar zu sein. Somit ist zumindest denkbar, dass bisherige Präsenzkulturen aufbrechen könnten (Carstensen 2019; Bultemeier und Marrs 2016). Die Problematik (maskuliner) Anwesenheitskulturen, bei der insbesondere Frauen, die beispielsweise früher Feierabend machen, auch weniger sichtbar im Unternehmen sind als ihre männlichen Kollegen, könnte sich damit verändern. Wie bereits in 5.1 deutlich wurde, sind die Erfahrungen mit der digitalen Verbindung ins Büro durchaus positiv. Viele beschreiben die Technik als komfortabel und das Angebundensein so, als wäre man im Büro: „Man ist trotzdem genauso dabei und genauso aktuell wie jemand, der sich dann hier um diesen Tisch setzt. Man kann sich einfach einklinken.“ 5.2.1
Herstellung von Sichtbarkeit und Kontrollierbarkeit durch enge Kommunikation – aber keine Profilierung?
Gleichzeitig wird deutlich, dass eine hohe Sensibilität dafür besteht, bei körperlicher Abwesenheit die eigene Aktivität sichtbar zu machen. Eine interviewte Angestellte, die Vollzeit arbeitet und davon einen Tag im Homeoffice, beschreibt dies folgendermaßen: „Ich melde mich auch relativ häufig bei meinen Kollegen […]. Und die sehen und merken, ich bin permanent in diesen Themen drin. Das bedeutet, die wissen, wenn ich da jetzt anrufe oder sehen zum Beispiel auch über Link, sie ist grün, sie ist online, dann = dann weiß sie, was ich möchte. Ich schicke denen E-Mails zu, in denen ich Rückfragen beantwortet haben möchte oder vielleicht Dinge weiter delegiere. Also sie kriegen schon mit, dass ich an Bord bin und auch aktiv.“
Als neue Anforderung mobilen, digitalen Arbeitens kommt offensichtlich hinzu, die eigenen Aktivitäten und Arbeitsleistungen offensiv zu zeigen und damit Sichtbarkeit und Kontrollierbarkeit herzustellen. Gleichzeitig findet sich aber auch an vielen Stellen wiederum eine Distanzierung von offensichtlichen Profilierungsversuchen über digitale Medien. Eine Betriebsrätin beschreibt dies folgendermaßen: „Es gibt Kollegen, die grundsätzlich gerne sonntags abends 22 Uhr noch mal ein paar Mails schicken, auch freitags abends dann noch mal so um 23 Uhr, als wären sie jetzt erst fertig geworden mit ihren Gedanken. […] Aber das sind Einzelfälle. Also die kann man wirklich vernachlässigen, das sind Einzelfälle. […] Das wären die, die sonst
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auch hier im Büro noch säßen um 22 Uhr und dem Werkschutz sagen, nein, lass das Licht noch ein bisschen an.“
Zu exponierte digitale Zurschaustellung der eigenen Arbeit und der eigenen Person gilt offensichtlich als übertrieben und unangemessen, während gleichzeitig aber Praktiken eingeübt werden, mit digitalen Technologien Aktivität und Engagement zu zeigen und sichtbar zu machen. 5.2.2
Aufwertung von Anwesenheit
Dieses Bild wird vervollständigt durch Äußerungen, die deutlich machen, dass Anwesenheit nicht an Bedeutung verliert – ganz im Gegenteil hat es teilweise den Anschein, dass sie gerade durch die Möglichkeiten, verteilt und virtuell zusammenzuarbeiten, aufgewertet wird: Ein Betriebsrat betont: „Die besondere Zeit zusammen ist wertvoller als dieses hochfragmentierte ‚ist mir egal, wo ich bin, ich kann von überall arbeiten‘.“ Hinsichtlich der aus Geschlechterperspektive relevanten Frage, ob Personen mit Sorgeverpflichtungen die geringere Anwesenheitszeit durch digitale Sichtbarkeit ausgleichen können, finden sich in der Empirie weder Praktiken, die dies bereits zeigen könnten, noch positive Einschätzungen bei den betrieblichen Akteurinnen. Eine Betriebsrätin betont gerade für Frauen nach der Elternzeit die Notwendigkeit, körperlich anwesend, sichtbar und ansprechbar zu sein. Die informelle und nicht-digitale Kommunikation sei entscheidend für Arbeitsprozesse und auch Karrieren: „Die entscheidenden Gespräche oder die entscheidenden Meetings sind immer im Persönlichen. Und auch da, ich habe den offiziellen Teil, und natürlich habe ich beim Treppe runtergehen den informellen Teil. Oder jetzt gerade beim Mittagessen, ach, da setzt sich der noch mal dazu und dann kann ich gleich ein paar Themen anstoßen. Das ist entscheidend. Es gibt die offizielle Kommunikation, aber die informelle ist viel entscheidender. […] Ja? Netzwerken, Strippen ziehen. Und das mache ich nicht über WebEx.“
Insgesamt finden sich damit kaum Hinweise auf neue Profilierungsmöglichkeiten und Karrierechancen durch digitale Kommunikationstools. 5.3
Veränderungen von Bewertungen geschlechtstypischer Tätigkeiten: Rationalisierung und Arbeitsverdichtungen
Mit den digitalen Technologien verändern sich auch Arbeitsinhalte, Arbeitsplatzprofile und Tätigkeiten; zudem verändern sich Berufe und Berufsbilder. Auch dies kann genderrelevante Effekte haben. So wird denkbar, dass sich hieran auch eine Neubewertung von geschlechtlich konnotierten Tätigkeitsfeldern
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anschließt und Digitalisierung die Wertschätzung von Tätigkeiten verändert. Bultemeier und Marrs (2016, S. 7) weisen beispielsweise auf die steigende Bedeutung kommunikativer, sozialer und integrativer Kompetenzen für kollaboratives und vernetztes Arbeiten hin und deuten dies als Chance für Frauen. Feministische Arbeitsforscherinnen diskutieren zudem die Potenziale für Verschiebungen in den geschlechterdifferenten Konnotationen von Arbeit und Tätigkeiten (Huws 2014). Hierbei geht es um die Frage, ob sich Zuschreibungen von als typisch männlich bzw. als typisch weiblich geltende Tätigkeiten verschieben und möglicherweise Stereotype in Frage gestellt werden. Historisch finden sich hierfür einige Beispiele: So lässt sich beobachten, dass zuvor angesehene Männerberufe zu prestigearmen Frauenberufen wurden und umgekehrt. In den Interviews wird vor allem ein Punkt deutlich. In dem untersuchten Fallbetrieb wurden in den letzten Jahren vor allem die Sekretärinnen-Tätigkeiten umorganisiert; vieles davon erledigen Führungskräfte mit Hilfe von digitalen Technologien nun selbst. Eine Betriebsrätin beschreibt die Entwicklungen so: „was man gesehen hat, über die letzten 10, 20 Jahre […]. Es gibt kaum noch Sekretärinnen oder wirklich Assistenten, ja, also in den seltensten - also doch, hat man vielleicht einen pro riesen Bereich, weil eben dieser ganze administrative Packen total reduziert ist dadurch, dass eben – […] Der Direktor bucht seine Reise selber. Wofür braucht der eine Sekretärin, ne? […] Hier konkret bei uns, glaube ich, waren - ja, in bei dem ersten Schritt der Digitalisierung mit Sicherheit Frauen mehr betroffen, weil eben die Sekretärinnen-Positionen wegfallen. Männer fühlten sich davon mehr betroffen, weil sie auf einmal alles selber machen müssen an ihrem PC.“
Das hat also zwei Effekte: Die Jobs bzw. Teile der Tätigkeit von (weiblichen) Verwaltungstätigkeiten werden rationalisiert; die Tätigkeitsbereiche von (eher männlichen) Führungspositionen werden erweitert, was zu einer Arbeitsverdichtung führt. Interessanterweise handelt es sich damit nur bedingt um eine technikbezogene Rationalisierung, weil die Tätigkeiten nicht komplett weggefallen sind, sondern nur verlagert wurden. 6
Fazit: kleine Verschiebungen und Verfestigung von Ungleichheiten?
Dieser kurze Überblick über erste Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt zeigt, dass die Digitalisierung und die damit verbundenen Neuorganisationen von Arbeit in der Tat Effekte auch hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse haben. Allerdings sind dies weniger grundlegende Veränderungen, weder hinsichtlich Karrierechancen und Bewertungen von Tätigkeiten noch hinsichtlich der grundsätzlichen Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit und den Geschlechterarrangements. Die Effekte sind vielmehr nur graduell: So lassen sich kleinere
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Erleichterungen und Entspannungen im (Arbeits-)Alltag durch flexibles Arbeiten finden, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie insbesondere bei spontanen Notfällen erleichtern; zudem gibt es Hinweise darauf, dass digitales, mobiles und flexibles Arbeiten von Frauen mit Kindern dazu genutzt wird, ihre Arbeitszeit zu erhöhen, was sowohl hinsichtlich der materiellen Absicherung als auch hinsichtlich der Entwicklungsmöglichkeiten im Unternehmen positive Effekte für Frauen auf Teilzeitstellen haben kann. Es zeigt sich aber auch, dass ein Teil der Vereinbarkeitsprobleme und -leistungen durch unsichtbare Mehrarbeit, Multitasking und auf Kosten der Zeit mit den Kindern gelöst wird. Die ungleiche Verteilung von unbezahlter Arbeit, die Anstrengungen der Vereinbarkeit und nicht zuletzt die hohe Arbeitsmenge werden dadurch gleichzeitig tendenziell unsichtbarer. Deutlich wurde auch, dass digitale Zusammenarbeit routinierter und selbstverständlicher wird und technologisch und arbeitsorganisatorisch oftmals reibungslos funktioniert, dass aber Anwesenheit aufgrund der Möglichkeiten zur informellen Kommunikation gleichzeitig wichtiger denn je scheint, gerade für Frauen nach der Elternzeit. Die Erfahrungen aus der betrieblichen Praxis zeigen zudem wenig Anzeichen für digitale Profilierungsmöglichkeiten jenseits körperlicher Anwesenheit, verweisen aber dennoch darauf, dass die digitale Sichtbarmachung und die Herstellung der Kontrollierbarkeit der Arbeit im Homeoffice von den Beschäftigten als Anforderung und Aufgabe ernst genommen werden. Und schließlich geben die Ergebnisse erste Hinweise auf Dynamiken der Verschiebung von Tätigkeiten. Interessant hierbei ist, dass Berufe mit verwaltenden Tätigkeiten reduziert werden, dass diese Tätigkeit aber nur zum Teil durch Technik ersetzt, vielmehr vor allem durch Technik erleichtert und dann in der Folge höherqualifizierten Bereichen zusätzlich aufgelastet werden. Dieses Verhältnis aus Rationalisierung und Arbeitsverdichtung ist zum einen hinsichtlich der entstehenden Belastungen relevant, zum anderen werden, wie im untersuchten Fallbetrieb, Geschlechterdimensionen sichtbar, wenn verwaltende (Frauen-) Tätigkeiten eingespart werden und hochqualifizierte (Männer-)Tätigkeiten an Arbeitsverdichtung gewinnen. Das markanteste Ergebnis ist sicherlich, dass keinerlei neue Geschlechterarrangements durch die Digitalisierung erkennbar sind; Arbeits- und Rollenteilungen zwischen den Geschlechtern werden nicht in Frage gestellt. Im Falle der Frauen, die auf Teilzeitstellen arbeiten, stabilisieren die neuen Arbeitsformen das Zuverdienermodell, wenngleich die Ungleichheiten im Arbeitsumfang zwischen den Geschlechtern durch eine größere Teilzeit von Frauen sinken. Alltagsbelastungen können punktuell reduziert werden. Letztlich wird aber vor allem deutlich, dass alle beobachteten Arrangements und Veränderungen der Logik folgen, gerade auch als Frau mit Kind(ern) als „unternehmerisches Selbst“ (Bröckling 2007) zu handeln, möglichst viel zu arbeiten, möglichst viel (gleich-
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zeitig) zu schaffen, karriereorientiert zu handeln, sich dabei aber auch – mehr oder weniger alleinverantwortlich – qualitativ und quantitativ gut um die Kinder zu kümmern und gleichzeitig den Vereinbarkeitsaufwand unsichtbar zu machen. Digitale Technologien sind hierfür die idealen Hilfsmittel der Alltags- und Lebensplanungsoptimierung; gesellschaftspolitische Aushandlungen dazu, wie bezahlte und unbezahlte Arbeit (geschlechter-)gerechter gesellschaftlich verteilt und organisiert werden können, bleiben dabei weitgehend aus. Für die betrieblichen Akteure und deren Möglichkeiten, die Digitalisierung der Arbeit mitzugestalten, geben diese Ergebnisse wichtige Hinweise. Die positiven Effekte auf Entlastungen, höheres Einkommen durch eine höhere Wochenarbeitszeit sowie Entwicklungsmöglichkeiten verweisen auf die Bedeutung flexibler Arbeitsarrangements. Gleichzeitig braucht es beim Personalmanagement wie bei den Mitbestimmungsagierenden aber auch eine Sensibilität für die Dynamiken der Verunsichtbarung von Mehrarbeit, Belastungen, Arbeitsverdichtungen und Vereinbarkeitsproblemen. Neben gut funktionierenden digitalen Technologien sind betriebliche Regelungen und gleichstellungssensible und familienfreundliche Arbeitskulturen entscheidende Stellschrauben. Literatur Aulenbacher, B. 2010. Rationalisierung und der Wandel von Erwerbsarbeit aus der Genderperspektive. In: Böhle, F., Voß, G.G. und Wachtler, G. (Hrsg.). Handbuch Arbeitssoziologie. Wiesbaden: Springer VS, 301-328. Beer, N. 2016. Frauen müssen Vorreiterrolle bei Digitalisierung übernehmen. FDP. https://www.fdp. de/frauen_frauen-muessen-vorreiterrolle-bei-digitalisierung-uebernehmen (letzter Zugriff 23.05.2019). Bröckling, U. 2007. Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bultemeier, A. und Marrs. K. 2016. Frauen in der digitalen Arbeitswelt von morgen. München. www.frauen-in-karriere.de/wp-content/uploads/2017/01/Handlungsbrosch%C3%BCre_Frauenin-der-digitalen-Arbeitswelt-von-morgen.pdf (letzter Zugriff 23.05.2019). Bundesagentur für Arbeit, und Statistik Arbeitsmarktberichterstattung. 2018. Blickpunkt Arbeitsmarkt –Die Arbeitsmarktsituation von Frauen und Männern 2017. Nürnberg. https:// statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Personengruppen/generischePublikationen/Frauen-Maenner-Arbeitsmarkt.pdf (letzter Zugriff 23.05.2019). Bundesministerium für Bildung und Forschung. 2015. Bekanntmachung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von Richtlinien zur Förderung von Maßnahmen für den Forschungsschwerpunkt „Arbeit in der digitalisierten Welt“ im Rahmen des FuE-Programms „Zukunft der Arbeit“ als Teil des Dachprogramms „Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“. www.bmbf.de/foerderungen/bekanntmachung-1017.html (letzter Zugriff 23.05.2019). Carstensen, T. 2015. Im WWW nichts Neues. Warum die Digitalisierung der Arbeit Geschlechterverhältnisse kaum berührt. luXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, 3, 38-43.
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Tanja Carstensen
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Digitales Ideenmanagement als Mitbestimmung 4.0? Chancen und Herausforderungen der Partizipation von Mitarbeitenden in betrieblichen Veränderungsprozessen Caroline Ruiner, Vera Hagemann, Marc Hesenius und Matthias Klumpp Abstract Die Akzeptanz neuer Technologien im Arbeitsprozess wird durch die Teilhabe von Mitarbeitenden1 am Veränderungsprozess gefördert. Eine direkte Partizipation kann insbesondere über ein digitales Ideenmanagement ermöglicht werden, das bestehende Konzepte wie Kontinuierliche Verbesserungsprozesse oder Betriebliches Vorschlagswesen weiterentwickelt. Ziel dieses Beitrages ist es, eine innovative Organisation und Gestaltung des digitalen Ideenmanagements zur Förderung der Partizipation von Mitarbeitenden bei Veränderungsprozessen aufzuzeigen und die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen zu diskutieren. Adressiert wird damit, wie digitale Technologien genutzt werden können, um neue Formen der Beteiligung und demokratische Arbeitsformen zu fördern. Im Ergebnis werden ein Prozessmodell des digitalen Ideenmanagements mit den handlungsrelevanten Elementen vorgestellt und die Chancen und Herausforderungen einer Implementierung in der betrieblichen Praxis kritisch diskutiert. 1
Einleitung
In Organisationen finden Projekte zur Implementierung von Digitalisierungsschritten häufig Top-Down initiiert durch Führungskräfte statt. Die Akzeptanz neuer Technologien am Arbeitsplatz ist jedoch größer, wenn die Mitarbeitenden am Veränderungsprozess teilhaben und die Herausforderungen der Transformation partnerschaftlich von Organisation, Betriebsräten und Mitarbeitenden getragen und gestaltet werden (BMAS 2017; Rogers 2003). Hierbei kann ein Ideenmanagement unterstützen, welches das Sammeln, Sortieren, Bewerten und 1
Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_15
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Verwerten von Verbesserungsvorschlägen umfasst (Kunert 2014). Es wird der Vorschlag neuer Ideen und damit eine direkte Partizipation der Mitarbeitenden gefördert und somit ermöglicht, dass spezifisches Wissen über Arbeitsprozesse, Chancen und Schwachstellen einfließt. Ziel dieses Beitrages ist, eine innovative Organisation und Gestaltung eines digitalen Ideenmanagements zur Förderung der Partizipation von Mitarbeitenden bei Veränderungsprozessen aufzuzeigen und die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen zu diskutieren. Adressiert wird damit, wie digitale Technologien genutzt werden können, um neue Formen der Beteiligung und demokratische Arbeitsformen zu fördern. Der Beitrag ist so aufgebaut, dass zunächst die Veränderungen von Organisationen und die Relevanz der Partizipation von Mitarbeitenden aufgezeigt werden, um darauf basierend bisherige Konzepte des betrieblichen Ideenmanagements und die Rolle der betrieblichen Mitbestimmung zu diskutieren. Schließlich wird ein Konzept, dessen Aufbau und Bestandteile für ein digitales Ideenmanagement vorgestellt und Chancen und Herausforderungen sowie Erfolgsfaktoren und Handlungsempfehlungen für die betriebliche Praxis reflektiert. Der Beitrag endet mit einem Fazit und Ausblick. 2
Wandel von Organisationen und die Partizipation von Mitarbeitenden
Der Wandel von Arbeit impliziert ebenfalls einen Wandel von Organisationen. Gleichzeitig lassen sich neue Erwartungen und Werte von Mitarbeitenden beobachten, die Ideen und Vorschläge zur Gestaltung von Veränderungsprozessen beitragen wollen. Hierzu ist deren direkte Beteiligung und Partizipation jenseits formeller Strukturen erforderlich. Dies kann insgesamt in einer Demokratisierung von Organisationen resultieren. 2.1
Betriebliche Mitbestimmung und die Partizipation von Mitarbeitenden
Im betrieblichen Alltag und insbesondere bei organisationalen Veränderungsprozessen ist die Mitbestimmung und Partizipation von Mitarbeitenden zentral, da hierüber die Akzeptanz neuer Technologien am Arbeitsplatz gefördert wird. Mitbestimmung adressiert demokratische Beteiligungsstrukturen für Mitarbeitende in Organisationen und impliziert deren Einflusschancen und Mitwirkungsmöglichkeiten auf institutioneller Ebene durch gewählte Betriebsräte. Im dualen System der Interessenvertretung verhandeln entsprechend Instanzen der Mitbestimmung auf der betrieblichen Ebene über die Bedingungen von Arbeit mit dem Management bzw. den Führungskräften (Müller-Jentsch 1986). In den Verhandlungen zwischen Betriebsräten und Management geht es vor allem um
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die Gestaltung und Kontrolle der Arbeitsbedingungen und Beschäftigungsverhältnisse, die im Rahmen von Betriebsvereinbarungen geregelt werden. Im Wesentlichen umfasst die Arbeit des Betriebsrates soziale, personelle und wirtschaftliche Angelegenheiten, den Gesundheitsschutz sowie die Arbeitsplatzgestaltung. Dabei besteht die Beziehung zwischen Betriebsrat und Management aus gegenseitigen Pflichten wie die Informationspflicht des Managements über wirtschaftliche Angelegenheiten des Unternehmens und zur vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und Management (Keller 1999; Ruiner und Wilkesmann 2016). Partizipation geht über den Begriff der Mitbestimmung hinaus und charakterisiert diverse Formen faktischer, nicht institutionalisierter und informeller Beteiligung der Organisationsmitglieder. Im Gegensatz zur Mitbestimmung wird nicht von einem strukturellen Interessenkonflikt ausgegangen, vielmehr kann durch Partizipation auch die Organisation weiterentwickelt werden (Hauser-Ditz et al. 2008; Ittermann 2009). Direkte Partizipation meint dabei eine Beteiligungsform, bei der die Mitarbeitenden ohne über den Umweg eines institutionalisierten Vertretungsorgans wie den Betriebsrat persönlich aktiv werden und ihre Interessen oder Vorstellungen selbst artikulieren können (Friedrichsmeier und Wannöffel 2010). Dies ist anschlussfähig an die Diskussion um Prosuming. Die konzeptionelle Vorstellung eines Prosumers als Wortkombination aus Konsument und Produzent hat insbesondere in digitalen Kontexten an Bedeutung gewonnen (Ritzer und Jurgenson 2010). Dabei übernehmen Konsumenten eines Produktes oder einer Dienstleistung einzelne Teiltätigkeiten im Rahmen der Produkt- oder Dienstleistungserstellung, was in digitalen Leistungskontexten insbesondere in Bezug auf die Bereitstellung von Daten im Rahmen von Online-Kommunikations- und Werbenetzwerken vergleichsweise einfach gelingt und erfolgreich eingesetzt wird (Beer und Burrows 2010; Zwick et al. 2008). Auch für die Betrachtung von Mitarbeitenden in Organisationen ist dieses Konzept geeignet, weil es verdeutlichen kann, wie diese an der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen mitwirken können. Auch das ursprünglich aus der Psychologie stammende Konzept des Empowerment (Rappaport 1981), das auf eine Befähigung zum eigenen Handeln setzt, erweist sich in diesem Zusammenhang als relevant. Dies war in der Entwicklungsgeschichte primär auf benachteiligte Gruppen ausgerichtet wie sozioökonomisch schlechter gestellte Personen (Cornwall 2016). Mittlerweile wird der Ansatz jedoch auf andere Anwendungsfelder übertragen, insbesondere die Befähigung zu eigenverantwortlichem Handeln und die Ausweitung von Handlungsspielräumen in Organisationen (Amor et al. 2020).
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Die Relevanz der Partizipation von Mitarbeitenden wird auch im Kontext der Diskussion um die Demokratisierung von Organisationen herausgestellt. Gleichermaßen wird deutlich, dass sich im Zusammenhang mit den skizzierten Entwicklungen der Aufgabenbereich von Betriebsräten als betrieblichem Mitbestimmungsorgan, das klassisch die Interessen der Mitarbeitenden gegenüber dem Management vertritt, wandelt. 2.2
Demokratisierung von Organisationen
Anknüpfend an die Debatte um den Wandel von Arbeit und Organisationen geht es bei einer zunehmenden Demokratisierung darum, Mitarbeitende stärker in Entscheidungen einzubinden und die dazu erforderliche Transparenz zu schaffen (Hackl et al. 2017; Laloux 2015). Aus der Perspektive von Individuen stehen entsprechend die Selbstbestimmung und Selbststeuerung von Arbeit, persönliche Entwicklung und Entfaltung eigener Interessen sowie sinnhafte Arbeit im Vordergrund (Sattelberger et al. 2015). Aus Perspektive von Organisationen geht es im Wesentlichen um die Vorstellung, dass die demokratische Partizipation von Mitarbeitenden die Effizienz und Effektivität steigern kann (Dörre 2015). Auch Sattelberger, Welpe und Boes (2015) konstatieren, dass organisationale Veränderungen notwendig sind, um die Partizipation der Mitarbeitenden zu stärken. Die Demokratisierung von Organisationen umfasst Strukturen, die Mitarbeitenden Einfluss auf die Organisation, die Arbeit in der Organisation und die Formen der Zusammenarbeit ermöglichen. Der demokratischen Einbindung von Mitarbeitenden wird zugeschrieben, zu einer gesteigerten Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit der Organisation beizutragen, da bessere Entscheidungen getroffen werden, indem auf das Wissen und die Ideen der Mitarbeitenden zurückgegriffen, die Motivation gesteigert und das unternehmerische Denken gestärkt wird, dass eine höhere organisationale Identifikation der Mitarbeitenden besteht und deren Innovations- und Kooperationsfähigkeit gefördert wird (Strobel et al. 2013). Insbesondere der Trend zur Digitalisierung bietet die Möglichkeit für Mitarbeitende, ihre Arbeit zu gestalten, deren Partizipation zu stärken und entsprechend Mitsprache in der Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu haben. Ein digitales Ideenmanagement kann dazu beitragen, systematisch und kontinuierlich die Perspektive der Mitarbeitenden einzuholen und Veränderungen wie Digitalisierungsprozesse bottom-up zu gestalten. Mit der demokratischen Organisation verändert sich entsprechend das Verhältnis von Individuen bzw. Mitarbeitenden zur Organisation. Es geht nicht mehr darum, dass sie geführt und kontrolliert werden. Vielmehr erhalten sie eine größere Autonomie und Mitbestimmungsmöglichkeiten.
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Bisherige Konzepte des betrieblichen Ideenmanagements und die Einbindung von Mitarbeitenden
Der Rückgriff auf das Erfahrungswissen und die Kreativität der Mitarbeitenden ist für betriebliche Veränderungsprozesse zentral, da Organisationen hierüber entscheidende Hinweise auf Potenziale für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit als Produkt- oder Prozessinnovation erhalten können. Die historische Entwicklungsgenese wird für die zwei Hauptformen des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses und des betrieblichen Vorschlagswesens vorgestellt, bevor auf die Entwicklungsbedarfe in Richtung eines digitalen Ideenmanagements eingegangenen wird. 3.1
Kontinuierliche Verbesserungsprozesse
Die Konzeption kontinuierlicher Verbesserungsprozesse (KVP) wird als Management-Instrument des Qualitätsmanagements verstanden und entwickelte sich im Kontext der Lean-Management-Überlegungen. Als Kernelement wird der PDCA-Zyklus (Plan, Do, Check, Act) verstanden, der beispielsweise als Durchführungsform in Qualitätszirkeln dafür sorgen soll, dass fortlaufend Ideen für Verbesserungen aufgegriffen, bewertet und möglichst umgesetzt werden (GarzaReyes et al. 2018; Gunasekaran et al. 2019; Prashar 2017). Die Grundidee einer organisationalen Fähigkeit zur Selbstverbesserung liegt beispielsweise auch der Qualitätszertifizierung nach ISO 9001 zu Grunde. Dabei spielen Mitarbeitende eine zentrale Rolle, allerdings werden auch gezielt Methoden wie Qualitätsteams und Qualitätszirkel bestehend aus mehreren Mitarbeitenden genutzt, um über die Perspektive einzelner Mitarbeitenden hinauszuweisen (Blaga und Jozsef 2014; Hosseinabadi et al. 2013). Als Kritik wird dem KVP gegenüber geäußert, dass der Gedanke einer fortlaufenden Verbesserung historisch schon länger in Organisationen verankert ist (genuine Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit) und nicht zwingend eines neuen Labels bedarf (Holtskog 2013). Zudem wird angeführt, dass eine Reihe von Voraussetzungen für eine erfolgreiche KVPImplementierung gegeben sein muss, wie beispielsweise klar strukturierte Produkte und Prozesse sowie Verantwortlichkeiten (Gamme und Lodgaard 2019). 3.2
Betriebliches Vorschlagswesen
Das betriebliche Vorschlagswesen (BVW) ist ein partizipatives Instrument zur Optimierung von Prozessen oder Produkten und verfolgt das Ziel, das Ideen- und Innovationspotenzial von Mitarbeitenden in einer Organisation zu nutzen. In
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Deutschland wurde das BVW erstmals 1872 von Alfred Krupp in Essen umgesetzt, indem die Geschäftsleitung offiziell darauf hinwies, Verbesserungsvorschläge seitens der Mitarbeitenden offen entgegenzunehmen. Konkret ist das BVW eine organisationsinterne Einrichtung zur Förderung, Begutachtung, Anerkennung und Umsetzung von Verbesserungsvorschlägen der Mitarbeitenden (Dombrowski et al. 2007; Nickel 1999). Charakteristisch ist, dass die Verbesserungsvorschläge in der Regel außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit erarbeitet werden und sowohl kleinere als auch größere Veränderungen betreffen können. Zudem beziehen sich im Unterschied zum KVP die Verbesserungsvorschläge nicht auf den unmittelbaren Aufgaben- und Pflichtbereich der einreichenden Mitarbeitenden (Crespo et al. 2009). Die von den Mitarbeitenden eingereichten Verbesserungsvorschläge werden von Vorgesetzten und/oder Fachleuten begutachtet. Im Falle einer Umsetzung des Verbesserungsvorschlages bekommen die Mitarbeitenden unter bestimmten Voraussetzungen einen Teil der dadurch erzielten Einsparungen als Prämie ausgeschüttet. Der klassische Prozess eines BVW für die Einreichung, Begutachtung und Umsetzung von Verbesserungsvorschlägen ist standardisiert und unterliegt vorgegebenen Regeln (Dombrowski et al. 2007). Gesetzlich gerahmt wird das BVW durch §612 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), so dass ein Unternehmen verpflichtet ist, seinen Mitarbeitenden eine Vergütung auszuzahlen, wenn es den Verbesserungsvorschlag eines Mitarbeitenden umsetzt und daraus einen Nutzen zieht. Zur Höhe der Prämie gibt es keine Regelungen. Ebenso existieren keine gesetzlichen Vorgaben zum Prozess und der inhaltlichen Gestaltung des BVW, jedoch ist nach §87 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bei der Einrichtung eines BVW vorgeschrieben (Dombrowski et al. 2007). Aufgrund der recht komplexen Abläufe eines BVW wird dieses eher als träge wahrgenommen und kann lange Reaktions- und Durchlaufzeiten von der Einreichung eines Vorschlages bis zu seiner Umsetzung aufweisen (Crespo et al. 2009). Das fehlende bzw. zeitlich stark verzögerte Feedback in Bezug auf die eingereichten Vorschläge an die Mitarbeitenden führt auf lange Sicht zu einer Demotivierung und dazu, dass das BVW nicht gelebt wird. Das digitale Ideenmanagement soll u. a. dazu dienen, diesem problematischen Umstand entgegen zu wirken. 3.3
Forschungs- und Entwicklungsbedarf
Die Entwicklung eines digitalen Ideenmanagements basiert auf den beiden etablierten Konzepten KVP und BVW, kombiniert deren Vorteile und reduziert die Nachteile. Die bisherigen Konzepte lassen sich wie folgt gegenüberstellen (siehe Tabelle 1).
Chancen und Herausforderungen der Partizipation von Mitarbeitenden
Tabelle 1:
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Gegenüberstellung KVP und BVW KVP
BVW
Initiative / Trigger
Fortlaufend, top-down
Anlassbezogen, bottom-up
Beteiligte
Teams aus Mitarbeitenden
Einzelne Mitarbeitende
Dauer / Zeitraum
Fortlaufend / auf unbestimmte Zeit
Einzelprojekte nach Ideeneingabe der Mitarbeitenden
Zielstellung
Qualitätsverbesserung in der Breite
Identifikation von möglichst hochwertigen Ideen (Werttreiber)
Ausrichtung
Fortlaufende, inkrementelle Fortentwicklung
Einzelne, möglichst weitgehende Verbesserungsideen
Vorteile
Übergreifende Betrachtungsperspektive, fortlaufende Befassung mit Optimierungsthemen, Möglichkeit der Themenvorgabe, Möglichkeit der Betrachtung spezifischer Bereiche
Motivation der Mitarbeitenden (Eigeninitiative), BottomUp-Ansatz, offener Innovationsansatz (keine inhaltlichen Vorgaben)
Nachteile
Top-Down-Ansatz (ggf. fehlende Motivation)
Fehlende übergreifende und langfristige Orientierung
Rückläufiger Ideenstrom nach einer produktiven Anfangsphase
Die Vorteile beziehen sich bei KVP auf eine übergreifende Betrachtungsperspektive, fortlaufende Befassung mit Optimierungsthemen, Möglichkeit der Themenvorgabe sowie Möglichkeit der Betrachtung spezifischer Bereiche. Beim BVW sind als Vorteile die Eigeninitiative und Motivation der Mitarbeitenden, der Bottom-Up-Ansatz und die Möglichkeit, ohne inhaltliche Vorgaben Ideen einzureichen, herauszustellen. Die Nachteile beziehen sich im KVP-Fall entsprechend auf den Top-Down-Ansatz und im BVW auf die fehlende übergreifende und langfristige Orientierung. Bei beiden gleichermaßen besteht die Gefahr eines rückläufigen Ideenstroms. Ein digitales Ideenmanagement kann nun so gestaltet werden, dass es die jeweiligen Vorteile kombiniert und die Nachteile reduziert. Es kann angenommen werden, dass die beiden bis dato getrennten Konzepte im Zuge einer digitalen Weiterentwicklung kombiniert werden können, insbesondere in Hinblick auf die interaktiven Elemente in beiden Konzepten. So ist zu erwarten, dass im Zuge digitaler Lösungen die gezielte Einreichung von Vorschlägen initiiert werden kann, wodurch klassische Prozesselemente des BVW mit einer initiativen Vorgehensweise des KVP kombiniert werden. Gleichzeitig können spezifische Themenbereiche und Lösungsfragestellungen vorgegeben wer-
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den, was sich inhaltlich sehr nah an KVP-Qualitätszirkeln befindet. Zusätzlich können mit digitalen Möglichkeiten mehrere Mitarbeitende gemeinsam als Team an Ideen arbeiten, was über die bis dato weitgehende Einzelbearbeitung im BVW hinausgeht und eher dem Charakter des KVP entspricht. Zudem können Bestandteile aus neuen Konzepten wie dem Prosuming und dem Empowerment integriert werden. Das Konzept des Prosuming kann in einzelnen Elementen eines digitalen Ideenmanagements angewendet werden: Während in traditionellen Systemen eines BVW einzelne Mitarbeitende als Konsumenten des Systems Ideen einreichen und am Ende eine Bewertung erhalten (passive Rolle nach Einreichung der eigenen Idee), können partizipatorische Elemente (Abstimmung, Selektion, Kommentierung) im Rahmen eines digitalen Ideenmanagement als Prosuming beschrieben werden (aktive und passive Rolle nach Ideeneinreichung, insbesondere digitale Partizipation). Damit sind derartige Elemente eines digitalen Ideenmanagements auch hochgradig anschlussfähig an die im Rahmen des Prosuming geführte Diskussion zu den damit verbundenen Vorteilen (z. B. Motivation, Einbindung, Individualisierungsmöglichkeiten). Ein digitales Ideenmanagement greift zudem das Konzept von Empowerment dahingehend auf, dass interaktive Elemente zur Bewertung und Weiterentwicklung von Ideen den Mitarbeitenden die partizipativen Ressourcen an die Hand geben können, in größerem Umfang eigenverantwortlich an der Weiterentwicklung der Organisation mitzuwirken. Wie darauf aufbauend ein digitales Ideenmanagement ausgestaltet werden kann, wird das folgende Kapitel behandeln. 4
Digitales Ideenmanagement
Zur Konzeption eines digitalen Ideenmanagements kann auf umfassende Erfragungen des Einsatzes von Mitarbeiterbeteiligungsmöglichkeiten zurückgegriffen werden. Im Folgenden werden der Aufbau und die Bestandteile des digitalen Ideenmanagements vorgestellt, die Chancen und Herausforderungen reflektiert und Erfolgsfaktoren und Handlungsempfehlungen für eine Mitbestimmung 4.0 in der betrieblichen Praxis diskutiert. 4.1
Aufbau und Bestandteile des digitalen Ideenmanagements
Abbildung 1 stellt die wesentlichen Schritte und Aktivitäten des digitalen Ideenmanagements im Prozess dar und zeigt einzelne Schritte für die Einbindung relevanter organisationaler Akteure und die Rolle des Human Resource (HR) Management (HRM) als HR Business Partner auf.
Abbildung 1:
Idee
Formulierung im System (App/Terminal): Problem Idee Bereich Umsetzungsvorschlag Nutzen/Verbesserung Investition
Prüfung durch die Fachabteilung Transparenz Eingang Bearbeitungsstand Entscheidung Schnelligkeit
Bearbeitung
Entscheidung
Entscheidungsfindung durch Gremium (inkl. Fachvertetung) Einbindung des Betriebsrates Kommunikation Transparenz Nachvollziehbarkeit Entscheidungskriterien
Schnelligkeit Feedback Einbindung der Mitarbeitenden Schaffung geschützter Räume
Umsetzung
Prämierung
Prämierung Honorierung realisierter und/oder eingereichter Ideen
Chancen und Herausforderungen der Partizipation von Mitarbeitenden
Prozessmodell digitales Ideenmanagement
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Die einzelnen Schritte umfassen die Ideeneinreichung, die Bearbeitung im System, die Entscheidung über die Ideen, deren Umsetzung und die Prämierung der Einreichenden. In der Betrachtung der einzelnen Schritte wird deutlich, dass im Fokus des angestrebten digitalen Ideenmanagements insbesondere diese Aspekte stehen: – die Transparenz und Nachverfolgbarkeit der Ideen sowohl während der Erarbeitung als auch bei der nachfolgenden Implementierung in Organisationen, – die Bewertung der Ideen sowohl auf Ebene des Entscheidungsgremiums als auch auf Ebene der Mitarbeitenden sowie – die Zusammenarbeit innerhalb der Organisation und über Organisationsgrenzen hinaus (im Sinne von Co-Creation und Open Innovation (Chesbrough 2006)). Das Ideenmanagement wird als Responsive Web App entwickelt, wodurch eine automatische Anpassung der Anwendung an das verwendete Endgerät (z. B. Desktop-PC oder Mobilgerät) ermöglicht wird. Außerdem soll der Einsatz von Cloud Native-Technologien dafür sorgen, dass sowohl eine Installation als Cloud-basierter Dienst als auch eine Installation im Betrieb vor Ort möglich ist. Im Folgenden wird zunächst auf die Beteiligten eingegangen, die innerhalb des Ideenmanagements eine bestimmte Rolle mit spezifischen Aktivitäten und Verantwortlichkeiten einnehmen. Anschließend werden die einzelnen Schritte innerhalb der Anwendung sowie die involvierten Rollen und ihre Tätigkeiten beschrieben. 4.1.1
Rollen und Nutzende
Im gesamten Prozess des digitalen Ideenmanagements sind unterschiedliche Nutzende mit verschiedenen Rollen involviert. Jede Rolle übernimmt die Verantwortung für einzelne Schritte innerhalb des Gesamtprozesses und ist direkt mit einer Challenge verknüpft. Letztlich werden über die Rollen insbesondere Zugriffsrechte und Sichten gesteuert. Mitarbeitende können mehrere Rollen innerhalb einer Challenge haben. Folgende Rollen sind involviert: – Administratoren sind für die interne Verwaltung des Systems (Nutzerverwaltung etc.) verantwortlich und nicht am eigentlichen Prozess des Ideenmanagements beteiligt. – Initiierende erstellen die Challenge und sind für den Gesamtablauf (z. B. Bestimmung der Gutachtenden) verantwortlich. – Einreichende reichen Ideen ein. Sie können sowohl Mitarbeitende der Organisation als auch von Partnern sein, um die Optimierung organisationsübergreifender Prozesse zu ermöglichen (z. B. großer Lieferketten).
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– Begutachtende bewerten die eingereichten Ideen mit Blick auf die Möglichkeiten zur Implementierung in Organisationen. Insbesondere wählen sie aus dem Pool der eingereichten Ideen jene aus, die im Public Voting zur Wahl stehen. – Abstimmende nehmen am Public Voting teil. 4.1.2
Einzelschritte
Die einzelnen Schritte orientieren sich am übergreifenden Prozess des Ideenmanagements (siehe Abbildung 1), operationalisieren jedoch die allgemeinen Schritte in konkrete Aktivitäten. Die Aktivitäten werden innerhalb der Anwendung einer bestimmten Rolle und deren Verantwortungsbereich zugeordnet. Abbildung 2 veranschaulicht die Operationalisierung des Prozesses sowie die Verantwortlichkeiten für die einzelnen Phasen. Im Folgenden werden die Aktivitäten beschrieben. 1
Initiierende
Initiierende
2
Challenge erstellen
Teilnehmende einladen
Initiierende
Initiierende
8
Umsetzungsstatus pflegen
Abbildung 2:
Einreichende
3
7
Feedback an Einreichende
Ideen einreichen
Begutachtende
4
Ideen begutachten
Initiierende
6
Gewinner bestimmen
Abstimmende
5
Ideen bewerten
Einzelschritte und Verantwortlichkeiten im digitalen Ideenmanagement
Schritt 1: Challenge erstellen: Die Initiierenden definieren die Challenge und beschreiben die Problemstellung sowie den betrieblichen Kontext. Dies kann auf unterschiedlichen Ebenen passieren; z. B. könnten Ideen zur Verbesserung einzelner Arbeitsschritte oder zur Optimierung ganzer Prozesse gesucht werden. Eine Challenge enthält: – eine allgemeine Beschreibung der Ziele sowie eventuell zu beachtende Rahmenbedingungen (Freitext), – verschiedene Termine, die den Ablauf strukturieren und Fristen für einzelne Aktivitäten setzen (z. B. der Beginn der Einreichungszeit), – die ausgelobten Preise (Freitext),
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– beliebige Dateianhänge sowie – eine Menge von Begutachtenden. Außerdem können Challenges auf verschiedenen Ebenen freigegeben werden: – Internal: Es können nur Personen Ideen einreichen und begutachten, die Mitarbeitende der Organisation sind; die Challenge wird aber organisationsweit ausgeschrieben. Identifizierendes Merkmal ist die in der E-Mail-Adresse angegebene Domain. Die Challenge ist organisationsweit einsehbar. – Open: Wie internal; zusätzlich kann die Challenge an organisationsfremde Personen weitergeleitet werden. – Invite: Es können nur explizit eingeladene Einreichende und Begutachtende teilnehmen. Schritt 2: Teilnehmende einladen: Im nächsten Schritt geben die Initiierenden die erstellte Challenge frei, woraufhin Einladungen verschickt werden. Einreichende haben außerdem die Möglichkeit, Teams zu bilden. Dazu können sie die Challenge gemäß der definierten Freigabe weiterleiten. Teammitglieder können entscheiden, ob sie als Mitglieder des Teams erkannt oder anonym bleiben wollen. Schritt 3: Ideen einreichen: Ab dem Termin zum Start der Einreichungszeit können Einreichende neue Ideen zur Challenge übermitteln. Einreichende sehen dabei ausschließlich ihre eigenen Einreichungen bzw. die Einreichungen aller Teams, denen sie angehören. Zur Definition von Ideen stellt das Ideenmanagement eine Umgebung bereit, bei der Notizen erfasst, aber auch z. B. Zeichnungen von Prozessmodellen erstellt werden können. Elemente der Idee können außerdem im Team diskutiert werden. Das Team kann die Idee zur Einreichung freigeben und alle zum Ende der Einreichungszeit als solche markierten Ideen nehmen an der folgenden Begutachtung teil. Schritt 4: Ideen begutachten: Die Begutachtenden prüfen alle eingereichten Ideen und diskutieren unterschiedliche Optionen. Zu jeder Idee gibt es eine Kommentarfunktion, die ausschließlich die Begutachtenden einsehen und verwenden können. Außerdem gibt es eine separate Kommentarfunktion, die die Begutachtenden für Diskussionen mit dem Team sowie Anmerkungen nutzen können, die sie dem Team mitteilen wollen. Optional besteht die Möglichkeit, dass Ideen nach der Begutachtung überarbeitet werden. Schritt 5: Ideen bewerten: Die Initiierenden schalten nach Eingang der Begutachtung durch die Begutachtenden sowie ggf. weiteren Diskussionen die Ideen zur öffentlichen Bewertung frei. Es kann außerdem ein Datum definiert werden, zu dem die Abstimmung geschlossen wird, man hat aber grundsätzlich die Mög-
Chancen und Herausforderungen der Partizipation von Mitarbeitenden
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lichkeit, die Abstimmung zu jeder Zeit zu verlängern. Die von den Begutachtenden ausgewählten Ideen werden von den Abstimmenden anonym bewertet, d. h. es ist zu keinem Zeitpunkt ein Rückschluss auf die Mitarbeitenden durch die anderen Beteiligten möglich. Der aktuelle Zwischenstand der Bewertung ist nicht für die Beteiligten sichtbar. Zum Einsatz kommt hier ein Modus mit 1-5 Sternen, der z. B. auch zur Bewertung in Online-Shops eingesetzt wird. Das Engagement der Abstimmenden wird über den Zeitraum eines Jahres verfolgt und am Ende jeden Kalenderjahres eine Statistik mit der Beteiligung erstellt. Die Bewertung ist bis zur Erreichung des von den Initiierenden definierten Datums möglich. Danach wird die Bewertung geschlossen, das Ergebnis aber erst nach Freigabe durch die Initiierenden veröffentlicht. Die Veröffentlichung enthält lediglich eine Zusammenfassung der Ergebnisse und keine Details, die den Rückschluss auf einzelne Abstimmende möglich machen könnten. Schritt 6: Gewinner bestimmen: Nach Ende der Bewertung veröffentlichen die Initiierenden die finalen Ergebnisse der Bewertung und ordnen den bewerteten Ideen die Preise zu. Schritt 7: Feedback an Einreichende: Alle Einreichenden erhalten Feedback zu ihren Ideen, wenn dieses nicht bereits in der Phase der Begutachtung und Überarbeitung (Schritt 4) übermittelt wurde. Hier sind unterschiedliche Kanäle denkbar (z. B. individuelle E-Mails oder Gespräche), sodass die eigentliche Umsetzung in der Hand der implementierenden Organisation liegt. Einreichende haben die Möglichkeit, eine Zusammenfassung des Feedbacks zur eingereichten Idee hinzuzufügen. Schritt 8: Umsetzungsstatus pflegen: Die Initiierenden sind dafür verantwortlich, den Status der Umsetzung für die Ideen zu pflegen, um eine Nachverfolgung zu ermöglichen. Allen Mitarbeitenden und insbesondere den Einreichenden wird so die Möglichkeit gegeben, die Arbeiten an der Umsetzung zu verfolgen. Ein derart gestaltetes digitales Ideenmanagement zeichnet sich durch die Kombination aus dem gezielten Auffordern zur Einreichung von Ideen (Challenges) als auch durch die Möglichkeit aus, dass Mitarbeitende selbstinitiiert jederzeit Ideen und Vorschläge einreichen können. Die Einreichung kann weitgehend barrierefrei über eine Webpage und/oder App auf allen Endgeräten (Smartphone Android/iOS, Tablet, PC) erfolgen und sogar Dateianhänge wie Abbildungen können integriert werden. Der Entscheidungsprozess der Ideeneinreichung wird so transparent gestaltet und einsehbar, dass Mitarbeitende den Status ihrer Einreichungen jederzeit prüfen können. Eine erweiterte Partizipation wird ermöglicht,
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indem Mitarbeitende die eingereichten Ideen kommentieren und bewerten (voten) können. Schließlich ist die Möglichkeit zur Einzelbearbeitung bzw. -einreichung sowie als Team gegeben, das sogar über Organisationsgrenzen hinaus zusammengesetzt sein kann und damit den Pool an innovativen Ideen erweitert. 4.2
Chancen und Herausforderungen des digitalen Ideenmanagements
In der betrieblichen Praxis bietet ein digitales Ideenmanagement wie vorgestellt insbesondere die Chance einer verstärkten Individualisierung, Nachvollziehbarkeit und Transparenz. So könnten Nutzende einer App beispielsweise eine Übersicht eigener eingereichter Vorschläge sehen und auch den Begutachtungsprozess live verfolgen. Dies wiederum kann die Motivation für weitere Ideeneinreichungen aus der Vorerfahrung der transparenten, schnellen und wertschätzenden Begutachtung der vormals eingereichten Ideen erhöhen, wodurch mit einer insgesamt und langfristig gesteigerten Zahl an Ideeneinreichungen zu rechnen ist. Das kann den Organisationen neue Innovations- und Wertschöpfungspotenziale eröffnen. Die Herausforderungen beziehen sich wie auch schon im BVW und KVP auf das Risiko eines rückläufigen Ideenstroms nach einer produktiven Anfangsphase (Crespo et al. 2009: Dombrowski et al. 2007; Gamme und Lodgaard 2019; Holtskog 2013; Nickel 1999). Dem kann in einer digitalen Ausgestaltungsform des Ideenmanagements durch die Schnelligkeit der Prozesse sowie spezifizierte Anreize entgegengewirkt werden. Gleichermaßen ist erwartbar, dass über die Nutzung einer App Sprachbarrieren bspw. durch eine Darstellung mit Icons verringert werden können und sowohl der Grad der Einbeziehung von Mitarbeitenden als auch deren Vertrauen steigt, wenn sie die Prozesse nachhalten können (Kim 2017). Zur Erhöhung der Akzeptanz ist zudem die Einbindung verschiedener organisationaler Akteure wie Fachvertreter, Betriebsräte sowie der Kollegschaft als Bewertende zielführend. Auch wenn die Programmierung einer Anwendung sowie die Ausgestaltung des Entwicklungsprozesses IT-Experten überlassen ist, so basiert die Funktionalität neuer Software auf der interdisziplinären Zusammenarbeit fachlicher Spezialisten und Nutzender, was durch neue Methoden und Werkzeuge gefördert wird (z. B. SCRUM, Design Thinking, Interaction Room (Book et al. 2017)). Gleichzeitig müssen technische Rahmenbedingungen beachtet werden. Mobile Geräte, insbesondere Smartphones, und der Trend zum Bring Your Own Device (BYOD) ermöglichen die niedrigschwellige, schnelle und zeitnahe Erfassung von Ideen – nicht nur innerhalb der Organisation, sondern gleichermaßen offline bzw. außerhalb des Netzwerks. Dazu ist eine Unabhängigkeit von Geräte- oder Plattformherstellern (oder gar einzelnen Gerätetypen) erforderlich. Bei allem Charme, den insbesondere die Möglichkeit von BYOD für ein digitales Ideenmanagement mit sich bringt, müssen
Chancen und Herausforderungen der Partizipation von Mitarbeitenden
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kritische Aspekte beachtet werden. So ist sicherzustellen, dass Mitarbeitende eine App des Arbeitgebers auf ihrem privaten Gerät installieren wollen und können (häufig ist bei Consumer-Geräten eine Installation nur über die App Stores der Plattformbetreiber möglich). Aus organisationaler Perspektive kann ein Ideenmanagement ein Sicherheitsrisiko sein, nicht nur aufgrund der Nutzung eigener Smartphones, sondern da die Ideen der Mitarbeitenden u. U. einen direkten Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg von Organisationen haben können. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten (Mitarbeitende, HR, Führungsebene) im Entwicklungsprozess. Unter Abwägung der Herausforderungen und Chancen kann ein professionell umgesetztes digitales Ideenmanagement Organisationen insbesondere in Hinblick auf die Belange der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit, aber auch in Bezug auf moderne Formen der Mitbestimmung und Aufgaben des HRM einen zentralen erfolgskritischen Beitrag leisten. 4.3
Digitales Ideenmanagement als Mitbestimmung 4.0? Erfolgsfaktoren und Handlungsempfehlungen für die betriebliche Praxis
Zur erfolgreichen Implementierung eines digitalen Ideenmanagements braucht es eine entsprechende Organisationskultur, die Innovationen und das Einreichen von Ideen unterstützt, die eingereichten Ideen wertschätzt und würdigt. Dabei ist ein gewisses Maß an Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Prozesse und Entscheidungen erforderlich. Dazu gehören auch klare Zielvorgaben und Kennzahlen für das digitale Ideenmanagement als Grundlage für die Entscheidungskriterien. Bei eingereichten Ideen wird ein zügiger Bewertungsprozess erwartet in dem Sinne, dass die Einreichenden schnell über den Prozess und die Ergebnisse der Entscheidungen informiert werden. Ebenfalls sollte die Implementierung und Prämierung von Ideen zeitnah erfolgen. Die Entscheidungen sind von qualifizierten Verantwortlichen zu treffen, ggf. sind einschlägige Personen der Fachabteilungen einzubinden. Eine abteilungsübergreifende Zusammenarbeit und Vernetzung der Mitarbeitenden ist förderlich, ebenso eine offene Fehlerkultur und die nicht-restriktive Einreichung von Vorschlägen. Schließlich braucht es zur nachhaltigen Implementierung die regelmäßige Prüfung und Weiterentwicklung des Ideenmanagements. Von besonderer Bedeutung für die betriebliche Umsetzung und das Leben eines erfolgreichen Ideenmanagements ist die Frage der Interaktion des Systems mit einem Lern- und Sozialklima der Organisation, das z. B. die Frage der Fehlertoleranz umfasst. Dabei ist die Rolle der Führungspersonen von großer Relevanz, die beispielsweise durch Video-Botschaften und kurze Kommentare in ein
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digitales Ideenmanagement eingebunden werden können, um Hierarchie- und Abteilungshürden in der persönlichen Wahrnehmung zu überwinden. Die bis dato bekannten bzw. vorgeschlagenen Erfolgsfaktoren für ein betriebliches Ideenmanagement sind für eine digitale Umsetzung insbesondere in den Punkten Offenheit und Transparenz relevant. Darüber hinaus sind aus praxisbezogener Sicht folgende Anforderungen zu stellen: – Die digitale Unterstützung sollte einfach zu handhaben sein und ergonomische Aspekte der User Experience (UX) berücksichtigen. – Der sozialen Interaktion ist eine hohe Aufmerksamkeit zu schenken, beispielsweise die Möglichkeit, Ideen als Teams einzureichen, um der angesprochenen Vereinzelung entgegenzuwirken. – Datenschutzrechtliche Anforderungen sind zu erfüllen, was insbesondere angesichts der Tatsache erschwert wird, dass häufig Anwendungen – durchaus erwünscht – auch auf privaten Endgeräten genutzt werden. Hier stehen die Organisationen in einer besonderen Verantwortung, sinnvolle Regelungen zu finden wie beispielsweise die Bereitstellung von Tablets oder anderer geeigneter Endgeräte. Das digitale Ideenmanagement verändert nicht nur die Einbindung von Individuen in die Organisation, sondern gleichermaßen die Funktionen und Rollen verschiedener organisationaler Akteure. Die Rolle des Betriebsrates als klassischem Interessenvertretungsorgan im Betrieb (Müller-Jentsch 1986) ist zentral und wandelt sich durch die neuen Möglichkeiten der Partizipation, Mitgestaltung und Mitbestimmung der Mitarbeitenden. Im Wesentlichen werden Betriebsräte dann nicht mehr nur zur Moderation der Arbeitsbeziehungen im Konfliktfall hinzugezogen. Vielmehr kann die Einführung eines digitalen Ideenmanagements die Kooperation fördern und stärker gemeinsam gestaltende Komponenten erhalten, indem sie in den Auswahl- und Entscheidungsprozess einbezogen werden. Gleichzeitig nimmt das HRM als HR Business Partner eine zentrale Rolle ein, denn erfolgskritische Faktoren sind eine aktive, engagierte und motivierte Beteiligung aller Mitarbeitenden, genauso wie die Akzeptanz des Ideenmanagements, was u. a. durch Fehlertoleranz sowie eine offene und auf Vertrauen basierende Führungskultur ermöglicht wird, welche die Eigeninitiative, Verantwortung und Selbststeuerung der Mitarbeitenden fördert. Das HRM kann entsprechend neue Technologien wie ein digitales Ideenmanagement nutzen, um eine größere Wirkung zu erzielen und die Wandlungs- und Innovationsfähigkeit der Organisation zu fördern (Cachelin 2014).
Chancen und Herausforderungen der Partizipation von Mitarbeitenden
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Fazit und Ausblick
Ziel dieses Beitrages war, eine innovative Organisation und Gestaltung des Ideenmanagements in digitalen Arbeitssystemen zur Förderung der Partizipation von Mitarbeitenden in Veränderungsprozessen aufzuzeigen und die damit verbundenen Herausforderungen und Chancen zu diskutieren. Das vorgestellte Konzept eines digitalen Ideenmanagements basiert auf den bestehenden Konzepten des KVP und des BVW und bezieht sich konzeptionell auch auf Elemente des Empowerment sowie des Prosuming und generell partizipativen Konzepten für Mitarbeitende. Das vorgestellte digitale Ideenmanagement ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie demokratische Teilhabeelemente insbesondere durch digitale Anwendungselemente in Organisationen gestärkt werden können. Konzeptionell liefert der Beitrag darüber hinaus den Hinweis, dass in digitalen Kontexten Inhalte der klassischen Konzepte KVP und BVW nicht mehr trennscharf unterschieden werden können, sondern inhaltlich verschmelzen. Zukünftige Entwicklungsschritte in Richtung eines digitalen Ideenmanagements umfassen die Feinkonzeption, die Umsetzung und den Test in Beispielorganisationen. Daneben besteht noch hinreichend Forschungsbedarf und Forschungsinteresse in Richtung der angestoßenen Überlegungen zur Förderung einer demokratischen Teilhabe von Mitarbeitenden durch ein digitales Ideenmanagement. Förderhinweis Die Forschungsarbeiten im Kontext dieses Beitrages wurden im Rahmen des Projektes „DIAMANT“ durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in der Durchführung des Projektträger gsub Berlin unterstützt (INQAProgramm, Förderkennzeichen EXP.00.00014.18 bzw. EXP.00.00124.19). Literatur Amor, A. M., Vázquez, J. P. und Faíña, J. A. (2020). Transformational leadership and work engagement: Exploring the mediating role of structural empowerment. European Management Journal, in press. Beer, D. und Burrows, R. (2010). Consumption, prosumption and participatory web cultures: An introduction. Journal of Consumer Culture, 10, 3-12. Blaga, P. und Jozsef, B. (2014). Human resources, quality circles and innovation. Procedia Economics and Finance, 15, 1458-1462. BMAS (2017). Weißbuch. Arbeit 4.0. Berlin. Book, M., Gruhn, V. und Striemer, R. (2017). Erfolgreiche agile Projekte – Pragmatische Kooperation und faires Contracting. Berlin: Springer Vieweg. Cachelin, J. L. (2014). HR-Kompetenzen in einer digitalen Welt. Personal Manager, 2, 22-24. Chesbrough, H. W. (2006). Open Innovation. Researching a New Paradigm. New York: Oxford University Press.
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Chancen und Herausforderungen der Partizipation von Mitarbeitenden
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Wie kann digitale Mitsprache in Organisationen gelingen? Zur Rolle von (datafizierter) Transparenz aus Sicht von Mitarbeitenden Markus Ellmer Abstract Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie digitale Mitsprache, verstanden als digital mediatisierte Mechanismen, durch die Mitarbeitenden1 in Organisationen ihre Meinung kundtun und in Entscheidungen partizipieren können, aus Sicht von Mitarbeitenden gelingen kann. Zur Beantwortung dieser Frage werden zwei Unternehmensfallstudien (PersCo und MöbelCo, Pseudonym) analysiert, welche das System UnternehmensSpiegel (USp, Pseudonym) zur Förderung digitaler Mitsprache ihrer Mitarbeitenden nutzen. Auf Basis der Adaptive Structuration Theory wird gezeigt, wie soziotechnische Strukturationsprozesse zu gelungener (PersCo) bzw. weniger gelungener Mitsprache (MöbelCo) aus Sicht der Mitarbeitenden führen. Der Beitrag schlussfolgert, dass im Kontext digitaler Mitsprache insbesondere die Transparenz des Managements über die Verwendung der gesammelten Inputs sowie der Zugang zu Mitsprache-bezogenen Daten von zentraler Bedeutung für deren Gelingen sind. 1
Einleitung
Der Begriff Mitsprache umfasst von Organisationen freiwillig initiierte Mechanismen, durch die Mitarbeitende in Organisationen ihre Meinung kundtun und an Entscheidungen partizipieren können (Lavelle et al. 2010; Wilkinson et al. 2013).2 Die Frage, wie Mitsprache in Organisationen gelingen kann, ist sowohl aus organisationaler als auch aus Sicht von Mitarbeitenden von hoher Bedeu1
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Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen. Der hier gewählte Begriff von Mitsprache fokussiert auf direkte Formen von Mitarbeiter-Partizipation, die individuelle Mitarbeitende adressieren, und grenzt sich daher von repräsentativen sowie gesetzlich verankerten Formen der Partizipation, wie etwa Mitbestimmung durch Betriebsräte, ab.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_16
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Markus Ellmer
tung. Haben Mitarbeitende die Gelegenheit, Vorschläge und Kritik in Bezug auf organisationale Abläufe einzubringen, kann Mitsprache zur Verbesserung und Flexibilisierung betrieblicher Abläufe sowie erhöhtem Mitarbeitenden-Engagement führen (Rees et al. 2013; Farndale et al. 2011). Aufseiten der Mitarbeitenden kann Mitsprache zu stärkerer Einbindung in betriebliche Entscheidungsprozesse führen, was in Folge zu mehr Demokratisierung und erhöhter Arbeitsqualität führen kann (Knudsen et al. 2011; Nienhüser 1998). Für das Gelingen von Mitsprache ist aus Sicht von Mitarbeitenden dabei insbesondere die Effektivität von Mitsprache (Pyman et al. 2006) von Bedeutung, also ob und wie das Management auf die getätigten Inputs reagiert (Burris 2012; Harlos 2001; Kaiser und Kozica 2015). Wie viele Bereiche im electronic Human Resource Management (eHRM) (Strohmeier 2007; Bondarouk und Ruël 2009) unterliegt auch Mitsprache dem Sog der Digitalisierung und Datafizierung. Digitale Formen der Mitsprache sind dabei insbesondere von Interesse, als sie im Gegensatz zu anderen MitspracheKanälen Kommunikationszusammenhänge zwischen Akteuren vervielfachen und zugleich informatisieren können (Carstensen 2016; Martin et al. 2015; Treem und Leonardi 2016; Gegenhuber et al. 2018). Während bisherige Forschungsbemühungen vorwiegend das Mitspracheverhalten von Mitarbeitenden in digitalen Kanälen untersucht haben (Martin et al. 2015; Mao und DeAndrea 2018; Holland et al. 2016), weiß man bisweilen nur sehr wenig über jene soziotechnischen Prozesse und Einflussfaktoren, welche zum Gelingen digitaler Mitsprache aus Sicht von Mitarbeitenden führen können. Im Zentrum dieses Beitrages stehen zwei Fallstudien der Unternehmen PersCo und MöbelCo, welche die Software UnternehmensSpiegel (USp, Pseudonym) verwenden, um die digitale Mitsprache ihrer Mitarbeitenden zu fördern. USp ist ein Softwaresystem, welches in kurzen, regelmäßigen Abständen anonyme MiniUmfragen zu Themen der Arbeitszufriedenheit an Mitarbeitende aussendet und ein Forum für anonyme Kommentare bereitstellt. Die Umfrageergebnisse und Kommentare werden in einem allgemein zugänglichen Dashboard zusammengefasst, was USp insgesamt zu einem guten Beispiel für die Digitalisierung und Datafizierung von Mitsprache macht. Im Laufe der Erhebung hat sich gezeigt, dass USp bei PersCo tendenziell sehr positiv aufgefasst wurde und Mitarbeitende das Gefühl hatten, mit USp ein effektives Mitsprache-Instrument zur Verfügung zu haben. Bei MöbelCo hingegen trat seitens der Mitarbeitenden hohe Skepsis gegenüber dem System auf und sie äußerten teils starke Bedenken über die Effektivität digitaler Mitsprache durch USp. Auf dieser Ausgangsbasis geht dieser Beitrag der Frage nach, unter welchen Bedingungen digitale Mitsprache in Unternehmen aus Sicht von Mitarbeitenden gelingen kann. Zur Beantwortung dieser Frage stützt sich der Beitrag auf den
Zur Rolle von (datafizierter) Transparenz aus Sicht von MitarbeiterInnen
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Ansatz der Adaptive Structuration Theory (AST) (DeSanctis und Poole 1994), welche auftretende Aneignungs- und Nutzungsmuster einer bestimmten Technologie in Abhängigkeit davon erklärt, wie die Funktionen dieser Technologie mit vorherrschenden organisationalen Institutionen im Handeln von Akteuren zusammenlaufen. Die Analyse zeigt, wie soziotechnische Strukturationsprozesse in den beiden Unternehmen zu jeweils unterschiedlichen Aneignungs- und Nutzungsmustern und damit zu positiven und negativen Mitsprache-Outcomes aus Sicht der Mitarbeitenden führen. Insgesamt zeigt sich, dass die Transparenz des Managements über die Verwendung der Mitsprache-Inputs sowie der Zugang zu Mitsprache-bezogenen Daten wichtige Eckpunkte von gelingender digitaler Mitsprache sind. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit über den Wert soziotechnischer Theorieperspektiven auf das Thema Mitsprache und Mitbestimmung. 2
Digitale Mitsprache aus Sicht der Adaptive Structuration Theory
In diesem Beitrag werden unter digitaler Mitsprache von Organisationen freiwillig initiierte, digital mediatisierte Mechanismen verstanden, durch die Mitarbeitende in Organisationen ihre Meinung kundtun oder in Entscheidungsprozessen partizipieren können. Prämisse ist dabei, dass die digitale Mediation von Mitsprache wichtige Implikationen für das Gelingen selbiger hat. Die Funktionen digitaler Technologien (etwa Kommentarfelder oder Dashboards) bieten eine Reihe an Möglichkeiten, das Mitsprache-Handeln auf bestimmte Art und Weise zu organisieren, was Kommunikationsbeziehungen, Informationsflüsse und folglich auch das Handeln beteiligter Akteure stark beeinflussen kann (Carstensen 2016; Treem und Leonardi 2016). Daher erscheint es von hoher Bedeutung, Technologie systematisch in die analytische Betrachtung miteinzubeziehen, um tiefgreifende Aussagen über das (Nicht-)Gelingen digitaler Mitsprache treffen zu können (Ellmer und Reichel 2018). Um ebendies zu gewährleisten, wird im Folgenden ein analytischer Rahmen auf Basis der Adaptive Structuration Theory (DeSanctis und Poole 1994) aufgespannt. Die AST benennt ein Modell, welches das Zusammenspiel zwischen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), sozialen Strukturen sowie menschlicher Interaktion beschreibt. Aufbauend auf den Grundannahmen der Strukturationstheorie nach Giddens (1986) gehen DeSanctis und Poole (1994) davon aus, dass sowohl Technologie als auch vorherrschende organisationale Institutionen (etwa Hierarchien oder Standardabläufe) den handelnden Akteuren Strukturen, also Regeln und Ressourcen, liefern, anhand derer sie ihr tägliches Handeln orientieren (siehe auch Orlikowski 1992). Diese Strukturen sind dabei
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Markus Ellmer
nicht dem Handeln außenstehend. Vielmehr werden soziale Strukturen erst durch das Handeln der Akteure hergestellt, reproduziert und verfestigt, können dadurch aber auch verändert werden. Die reziproke Interaktion von sozialer Struktur und Handlung wird als Strukturation bezeichnet. In diesem Bezugsrahmen wird auch Technologie als Quelle sozialer Strukturen verstanden und daher als Ansammlung potenzieller Elemente von Handlungsstrukturation aufgefasst, die zum Vorschein treten, wenn Akteure in ihrem Handeln auf diese zurückgreifen (Schüßler 2008). Die AST unterscheidet hier zwei Dimensionen: die strukturellen Funktionen (structural features) und die Wesensart der Technologie (spirit of technology). Unter die strukturellen Funktionen fallen die konkreten Handlungsmöglichkeiten, welche die Funktion einer Technologie den Akteuren bietet. Etwa kann eine Technologie Mitarbeitenden die Möglichkeit bieten, Anregungen anonym an Führungskräfte mittels eines Kommentarfeldes zu richten. Die Wesensart einer Technologie meint einen impliziten, normativen Rahmen, welches Verhalten und welche Nutzungsmuster im Hinblick auf einzelne Funktionen vonseiten der Entwickelnden beabsichtigt sind (Akrich 1992). Eine solche Absicht kann etwa sein, dass das oben genannte Kommentarfeld nur für konstruktive Anregungen an Führungskräfte verwendet werden soll. Die Kombination aus Funktionen und Wesensart definiert damit bestimmte Regeln und Ressourcen, durch welche Akteure ihr Handeln strukturieren können (und sollen). Um bestimmte Outcomes von Technologienutzung erklären können, betrachtet die AST nun jene soziotechnischen Strukturationsprozesse, die zeigen, wie diese technologischen Strukturen mit organisationalen Institutionen (vorherrschende Hierarchien, Standardabläufe etc.) im alltäglichen Handeln integriert werden und so zu neuen Regeln und Ressourcen der Handlungsstrukturierung führen. In einem ersten Schritt wird dabei betrachtet, welche Aneignungs- und Nutzungsmuster Akteure an den Tag legen. Mitarbeitende nutzen z. B. ein Kommentarfeld zum Geben von Feedback in Abhängigkeit davon, in welchem Ausmaß Feedback bereits eine Rolle in anderen Unternehmensprozessen spielt. Führungskräfte, ebenfalls geleitet von vorherrschenden organisationalen Institutionen, nutzen die Funktionen der Technologie, um auf dieses Feedback in einer bestimmten Art und Weise zu reagieren. Z. B. antworten sie auf einen Kommentar direkt im System, im Kontext eines Meetings oder lassen die Kommentare unbeantwortet. Die Ergebnisse dieser Aneignungs- und Nutzungsmuster werden in Folge zu emergenten Quellen von Strukturen, also sich anbahnenden Regeln und Ressourcen der Handlungsstrukturation. Über die Zeit entstehen aus diesen emergenten Strukturen neue, institutionalisierte soziale Strukturen, anhand derer Akteure ihr Handeln orientieren. Etwa kann es sein, dass sich über die Zeit die Regel ent-
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wickelt, dass Führungskräfte auf jeden abgegebenen Kommentar reagieren (müssen), wodurch das System von Mitarbeitenden als Ressource effektiver Mitsprache wahrgenommen wird. Es kann aber auch sein, dass die Systemfunktionen überhaupt nicht mehr genutzt werden, weil sich keine verbindlichen Regeln über deren Verwendung institutionalisieren und sie dadurch nicht als effektive Mitsprache-Ressourcen wahrgenommen werden. 3
Methodischer Hintergrund
Empirisch kann die Abbildung von sichtbaren Nutzungsmustern einer Technologie Hinweise auf tiefere Strukturationsmuster liefern, die zeigen, wie Regeln und Ressourcen aus verschiedenen Quellen in die Mitspracheaktivität von Mitarbeitenden miteinfließen (DeSanctis und Poole 1994). Um solche Nutzungsmuster umfassend abbilden und verstehen zu können, wurden zwei Fallstudien (Eisenhardt und Graebner 2007; Yin 2014) in den Unternehmen PersCo und MöbelCo im Zeitraum von Oktober bis November 2017 durchgeführt, welche das System USp zur Förderung von digitaler Mitsprache ihrer Mitarbeitenden nutzen. Das Management in beiden Unternehmen beabsichtigte, mit dem Einsatz von USp die Zufriedenheit der Mitarbeitenden in laufenden Veränderungsprozessen zu beobachten und Mitarbeitenden zugleich eine Form der Mitsprache zu geben, um in diesen Veränderungsprozessen partizipieren zu können. Da in beiden Unternehmen sowohl die Absichten als auch die verwendete Technologie identisch waren, erschien dieses Setting als besonders geeignet, um die einleitend eröffnete Forschungsfrage zu beantworten. Details zu den beiden Fallunternehmen PersCo und MöbelCo finden sich in Tabelle 1. Im Zuge der Fallstudien wurden insgesamt 19 halbstandardisierte Interviews mit Mitarbeitenden, Führungskräften und dem Top-Management in jedem Unternehmen durchgeführt. Die Fragen richteten sich vor allem auf Erfolgsgeschichten und Herausforderungen mit USp, die Beziehungen zwischen Mitarbeitenden und dem Management vor und nach der Einführung von USp sowie Fragen zum Einfluss der Mitarbeitenden mittels USp. Nach den Besuchen wurden gewonnene Eindrücke in Feldnotizen festgehalten, die jeweils als zusätzliche Datenpunkte dienten, um die jeweilige Situation bzw. vorherrschende Institutionen in den Fallunternehmen besser verstehen zu können. Zusätzlich zu den beiden Fallstudien wurde ein umfangreiches, halbstandardisiertes Interview mit den Gründern von USp durchgeführt, welches vor allem Fragen zur Entwicklung von USp und den Absichten hinter den einzelnen Funktionen beinhaltete. Zusätzlich
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Tabelle 1:
Markus Ellmer
Details zu den Unternehmensfallstudien PersCo
MöbelCo
Branche
Arbeitskräftevermittlung
Möbelindustrie
Größe
127
150
Mitarbeitende
Mitarbeitende
Untersuchte Abteilung
IT Recruiting (28 Mitarbeitende)
Verkauf (35 Mitarbeitende)
Locations
4
5
Struktur der virtuellen Teams
3 Teams, basierend auf den Standorten von PersCo (zwei kleine in ein Team zusammengefasst)
4 Teams, basierend auf den Standorten von MöbelCo (zwei kleine in ein Team zusammengefasst)
Anzahl der Interviews
9 (1 Top-Management; 2 Führungskräfte; 6 Mitarbeitende)
10 (1 Top-Management; 1 HRM; 2 Führungskräfte; 6 Mitarbeitende)
wurde Informations- und Werbematerial von USp analysiert, welches weitere Informationen zu den Absichten der Entwickler sowie Einblicke in die Erfahrungen anderer Unternehmen mit USp lieferten. Die Datenanalyse stützte sich auf das Codierungsparadigma der Grounded Theory (Corbin und Strauss 1990), einschließlich der Phasen der offenen, axialen und selektiven Codierung. Nach einer ersten Runde der offenen Codierung wurden für beide Organisationen jeweils induktiv Kategorien entwickelt, welche die vorherrschenden Nutzungsmuster und deren Outcomes widerspiegeln. Im Anschluss wurden axiale Kategorien entwickelt, welche Zusammenhänge zwischen den Nutzungsmustern und Outcomes illustrieren. In der Phase der selektiven Codierung wurde das entstandene Modell konsolidiert, sodass das Gelingen bzw. Misslingen digitaler Mitsprache über beide Fallunternehmen hinweg erklärt werden konnte. Um die Validität unserer Ergebnisse sicherzustellen, wurden die Ergebnisse in einstündigen Präsentationen jedem Fallunternehmen sowie den USp-Entwicklern vorgestellt. Dadurch konnten zusätzliche Perspektiven in die Dateninterpretationen miteinbezogen und das Erklärungsmodell zusätzlich verfeinert werden.
Zur Rolle von (datafizierter) Transparenz aus Sicht von MitarbeiterInnen
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Strukturelle Features und die Wesensart von UnternehmensSpiegel
Bevor die Ergebnisse im Detail geschildert werden, widmet sich dieser Abschnitt den strukturellen Features sowie der Wesensart von USp. USp ist ein browserbasiertes Software-as-Service-System (SaaS), mit dem Mitarbeitende in kurzen, regelmäßigen Abständen ihre Arbeitszufriedenheit über anonyme Mini-Umfragen rückmelden sowie anonyme Kommentare abgeben können. Abbildung 1 zeigt ein nachgebautes User-Interface von USp, welches die wichtigsten Funktionen aus Sicht der Mitarbeitenden zeigt. Das zentrale Element von USp ist eine Stimmungskennzahl, die im Dashboard am oberen Rand angezeigt wird. Diese Stimmungskennzahl basiert auf Items in Umfragen zu den sechs Fragekategorien Befinden bei der Arbeit, Wohlbefinden und Gesundheit, Arbeitsaufgaben, Arbeitsbedingungen, Organisationsklima und Identifikation mit dem Unternehmen (siehe Abbildung 1 unter dem Punkt „Kategorien“). Der Wert für jede Kategorie basiert auf den aggregierten Antworten auf fünf zugrunde liegenden Fragen (insgesamt 30). Der Link zu einer Umfrage mit zwei bis drei dieser Fragen wird, je nach Einstellungen, wöchentlich oder monatlich per E-Mail an die Mitarbeitenden gesendet. Die Fragen werden von einem Algorithmus zusammengestellt, der auf der Annahme basiert, dass Änderungen in den verschiedenen Fragekategorien zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten. Etwa verändert sich die Zufriedenheit mit der Entlohnung oder der physischen Arbeitsumgebung weniger häufig wie der Stress bei der Arbeit. Unternehmen können sich auch für zusätzliche Fragenkataloge gegen eine höhere Servicegebühr entscheiden. Diese umfassen z. B. Fragen zur Qualität interner Services oder IT-Sicherheit. Nutzende können anonyme Kommentare zu einzelnen Fragen oder auf allgemeiner Ebene in den Umfragen sowie direkt im Übersichts-Dashboard abgeben. Jeder Kommentar wird auf der rechten Seite der Benutzeroberfläche veröffentlicht (siehe Abbildung 1). Zur Spezifizierung der Umfrageergebnisse kann das Management virtuelle Teams zusammenstellen. Die Teammitglieder eines Teams können die Umfrageergebnisse und Kommentare ihres Teams immer einsehen. Das Management kann aber auch Zugang zu den Ergebnissen anderer Teams und/oder die Anzeige der aggregierten Ergebnisse der gesamten Organisation ermöglichen. In der Ergebnisübersicht bleiben die Personen dabei anonym (siehe Abbildung 1). Diese strukturellen Funktionen sind von den Entwicklern mit einem gewissen Spirit (oder Wesensart) versehen. Die Entwickler betonen insbesondere, dass mit USp Manager einen „Detektor“ bereitstellen möchten, um die allgemeine „Stimmung in einer Organisation dynamisch (…) erfassen“ und „rechtzeitig auf anstehende Probleme reagieren“ zu können (Int_Entwickler #1). Dadurch
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Abbildung 1:
Markus Ellmer
User-Interface von UnternehmensSpiegel (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an die empirischen Daten)
imstande, das Wohlbefinden der Mitarbeitenden auf einem hohen Niveau zu halten, soll USp helfen, die Produktivität der Angestellten zu steigern sowie Fluktuation und Krankenstände zu verringern. Für Mitarbeitende soll USp vor allem die Möglichkeit der Mitsprache bieten, um Verbesserungen am Arbeitsplatz aktiv zu fördern und an organisationalen Veränderungsprozessen zu partizipieren. Wie die Entwickler selbst schildern:
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„Das war das Ziel, den MitarbeiterInnen den gleichen Mehrwert zu bieten wie den Führungskräften. Weil die MitarbeiterInnen wirklich wissen: Sie werden gehört und die Situation für sie soll sich ja verbessern. Sie können sich anonym und ehrlich äußern, haben da einfach einen Kanal, wo sie wissen, sie werden gehört. Und Führungskräfte, auf der anderen Seite, haben den gleichen Mehrwert, weil sie einfach diesen Überblick haben.“ (Int_Entwickler I#1)
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Ergebnisse
Im Sinne des eben beschriebenen Spirits soll USp die Mitsprache von Mitarbeitenden ermöglichen und fördern, um positive Outcomes für die Organisation und Mitarbeitenden zu generieren. Wie sich im Laufe der Erhebungen herausgestellt hat, hat sich diese Absicht in den beiden Unternehmen jeweils recht unterschiedlich entfaltet. In Folge werden auf Basis der AST jene soziotechnischen Strukturierungsprozesse illustriert, welche zu jeweils unterschiedlichen Graden an gelungener Mitsprache aus Sicht der Mitarbeitenden geführt haben. 5.1
Digitale Mitsprache bei PersCo
PersCo ist ein seit ca. 19 Jahren existierendes Recruiting-Unternehmen, welches hochqualifizierte Mitarbeitende für die Bereiche IT, Wirtschaft und Technologie sowie Personalleasing/Contracting an seine Auftraggebenden vermittelt. Zum Zeitpunkt unserer Erhebungen beschäftigte PersCo an vier Standorten 127 Mitarbeitende. Für die Studie wurde die Sparte IT-Recruiting in der Firmenzentrale ausgewählt, wobei Interviews mit dem Top-Management, der HR-Managerin sowie Mitarbeitenden und Führungskräften der Abteilung IT-Recruiting durchgeführt wurden. Insgesamt wurden von der USp-Administratorin (HR-Managerin) drei große virtuelle Teams angelegt, welche die Mitarbeitenden in den jeweiligen Standorten repräsentierten (zwei kleinere Standorte wurden in einem virtuellen Team zusammengelegt, siehe Tabelle 1). Die resultierenden Teams zählten zwischen 12 und 50 Mitglieder, wobei das virtuelle Team des untersuchten Standorts eine Größe von 50 Personen hatte. Die Mitarbeitenden konnten jeweils nur die Ergebnisse des Standorts einsehen, an dem sie selber arbeiteten. PersCo war zum Erhebungszeitpunkt von starkem und schnellem Wachstum geprägt. Trotz dieses starken Wachstums war das Management bemüht, zentrale kulturelle Werte im Unternehmen aufrechtzuerhalten. Neben dem Erhalt einer hohen Mitarbeitendenzufriedenheit, hatte das Management die Absicht, allen Mitarbeitenden ein hohes Level an Wertschätzung, Vertrauen und Entwick-
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lungsmöglichkeiten entgegenzubringen und die dementsprechend flachen Hierarchien zu erhalten. Bei PersCo herrschte auch eine starke Feedbackkultur: Jeder Mitarbeitende darf laut Führungskräften „vom ersten Tag an“ (PersCoFK I#2) Vorschläge oder Kritik einbringen. Auch genießen die Mitarbeitenden bei PersCo ein hohes Maß an Transparenz über die Vorgänge im Unternehmen. Das Top-Management etwa hielt regelmäßig Präsentationen an jedem Standort, um alle Mitarbeitenden über die derzeitige Lage und künftige Pläne zu informieren. USp wurde demnach als Instrument eingesetzt, um diese kulturellen Pfeiler trotz der zahlreichen, wachstumsbedingten Veränderungen zu erhalten und insgesamt die positive Entwicklung von PersCo zu fördern. Betrachtet man die Nutzung von USp bei PersCo, kam es von Anfang an zu einer vergleichsweise umfassenden Aneignung der einzelnen Funktionen und die resultierenden Nutzungsmuster deckten sich weitgehend mit den von den Entwicklern beabsichtigten: Die Mitarbeitenden antworteten in den Umfragen ehrlich und äußerten proaktiv Vorschläge und Bedenken in den Kommentaren im Mini-Forum. Dies wurde insbesondere dadurch begünstigt, dass Mitarbeitende durch die großen virtuellen Teams eine hohe Anonymität ihrer Äußerungen gewährleistet sahen, was ihnen eine gewisse Sicherheit verlieh. Ein interessantes Aneignungsmuster war, dass Mitarbeitende nicht nur Beschwerden, sondern auch Lob via USp kommunizierten. Dies wurde vor allem dadurch ermöglicht, dass das Management Fragen in den USp-Katalog integrierte, durch die die Mitarbeitenden ihre Zufriedenheit mit den internen Services beurteilen und kommentieren konnten. Das Top-Management war stets bemüht, auf die eingebrachten Kommentare in möglichst umfassender und konstruktiver Weise zu reagieren. Neben den Antworten im System selbst wurden ausgewählte, meist komplexere Kommentare in den Standort-Meetings herangezogen, um die Anregungen bzw. Beschwerden zu thematisieren und zu diskutieren. Über die Zeit entwickelten sich diese emergenten Strukturen zu neuen institutionalisierten Strukturen. Aus Sicht der Mitarbeitenden reagierte das Management auf jeden Input in USp, was dazu führte, dass diese die Features von USp als effektive Mitsprache-Ressourcen im Sinne des intendierten Spirits wahrnahmen. Wie zwei Mitarbeitende von PersCo meinten: „Wenn man jetzt in einer Abteilung sieht, dass mehrere reinschreiben: Der Workload ist zu hoch – dann ist ganz klar ein Handlungsbedarf, dass da was gemacht wird. Und es wird dann auch was gemacht.“ (PersCoMA I#6) „Man kann Anregungen geben, die dann halt auf die Ebenen ganz oben gehen. Beispiel: Ich bin vielleicht nicht zufrieden mit einer Unternehmensinformation oder Transparenz, (…) [dann] geb‘ da nur einen 2er [in der Umfrage] und schreib dazu als
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Kommentar hinein: Ich finde, dass der Austausch von wichtigen Informationen forciert gehört. Dann ploppt das auf und dann bewirkt das i.d.R. was.“ (PersCoMA I#2)
Aus Sicht der Mitarbeitenden führten diese Strukturationsprozesse insgesamt zum Gelingen digitaler Mitsprache – insbesondere deshalb, weil die Mitarbeitenden das Gefühl hatten, dass das Management auf ihre digitalen Inputs reagierte und sie durch die Standortmeetings zudem auch Einblick hatten, wie ihre Inputs vonseiten des Managements verarbeitet wurden. 5.2
Digitale Mitsprache bei MöbelCo
MöbelCo ist ein traditionelles Unternehmen mit langer Firmengeschichte, welches Büromöbel und -konzepte vertreibt. Zum Zeitpunkt unserer Erhebungen zählte MöbelCo 150 Mitarbeitende. 35 dieser 150 Mitarbeitenden waren der Verkaufsabteilung zugeordnet, die sich auf insgesamt fünf Standorte verteilte. Im Zuge der Studie wurden an zwei Standorten Interviews mit dem Top-Management (hier: Verkaufsleitung), sowie ausgewählten Mitarbeitenden und deren direkten Vorgesetzten durchgeführt. Die virtuellen Teams bei MöbelCo wurden vom Verkaufsleiter ebenfalls auf Basis der verschiedenen Standorte zusammengestellt. Ein Team bestand aus Mitarbeitenden eines jeweiligen Standorts, zwei kleinere Standorte wurden wiederum in einem virtuellen Team zusammengefasst. Insgesamt waren in USp damit 4 Teams von 5 bis 10 Mitarbeitende inkl. Führungskräfte abgebildet. Die Mitarbeitenden von MöbelCo konnten die Ergebnisse ihres eigenen Teams, die der anderen Teams sowie die Gesamtergebnisse einsehen. Die Lage von MöbelCo war zum Erhebungszeitpunkt von starkem wirtschaftlichem Druck geprägt, der seit der Wirtschaftskrise 2008 in der Möbelbranche insgesamt Einzug gehalten hatte. Um diesem Druck auch künftig standhalten zu können, versuchte das Management einen Kulturwandel zu initiieren, um künftig eine effektivere Zusammenarbeit zu gewährleisten. Konkret beabsichtigte der leitende Verkaufsmanager, der erst seit gut zwei Jahren bei MöbelCo tätig war, flache Hierarchien gepaart mit einer offenen, feedbackorientierten Kommunikationskultur zu fördern, um durch ständiges Hinterfragen bestehender Abläufe Verbesserungen zu initiieren und flexibler auf etwaige Umweltveränderungen reagieren zu können. USp sollte helfen, diesen Wandel vorantreiben. Aufseiten der Mitarbeitenden wurde diese neue Umgangsform aber nur bedingt angenommen, weil der Großteil noch eher gegenteilige Umgangsformen aus früheren goldenen Zeiten der Möbelbranche gewohnt war. Diese von steilen Hierarchien geprägten organisationalen Institutionen waren daher nur schwer mit dem Spirit der Features in USp vereinbar. Wie uns eine langjährige Mitarbeiterin mitteilte:
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„Das ist auch vielleicht ein Problem, dass man nicht gewohnt ist, dass man seine Meinung offen sagen kann. (…) Ich habe nie die Möglichkeit gehabt, irgendwelche Meinungen zu sagen. Das war einfach nicht gewollt und ist nicht angehört geworden (…), da ist man skeptisch dabei.“ (MöbelCoMA I#5)
Die Aneignung des Systems durch die Mitarbeitenden verlief daher verhältnismäßig schwierig. Mitarbeitende waren es nicht gewohnt, Bedenken oder Verbesserungsvorschläge zu äußern und konnten nur schwer glauben, dass ihr Input nun plötzlich erwünscht war. Abgesehen davon meldeten viele zurück, dass es ihnen schwer fiel, ehrlichen Input zu geben, weil sie aufgrund der niedrigen Anzahl der Mitglieder in den virtuellen Teams ihre Anonymität gefährdet sahen. Diese Mangel an Anonymität war insofern ein Problem, als die Mitarbeitenden kein Bild davon hatten, wie das Top-Management ihre Inputs interpretiert und sie daher negative Konsequenzen für sich oder ihre Kollegen fürchteten. Eine Mitarbeiterin meinte etwa: „Soll ich jetzt die Fragen komplett offen und ehrlich beantworten? Weil ich ein bisschen immer im Hinterkopf habe ‚So jetzt muss ich aufpassen, sonst reite ich vielleicht irgendwen meiner Kollegen rein.‘“ (MöbelCoMA I#3)
Im Gegensatz zu PersCo nutzte MöbelCo die Erweiterung des Fragenkatalogs nicht, um Feedback für interne Services einzuholen. Insgesamt wurde USp als System angesehen, Beschwerden zu kommunizieren. Die Manager, zumeist ebenfalls noch an steile Hierarchien gewohnt, reagierten auf Kommentare entweder gar nicht oder lediglich mit „Danke für das Feedback“. USp wurde in der Zeit nach der Implementierung in etwaigen Meetings zwar herangezogen, dies flachte mit der Zeit allerdings stark ab. Wie bei PersCo entwickelten sich aus diesen emergenten Quellen von Strukturen über die Zeit institutionalisierte Strukturen. Mitarbeitende stellten vor allem fest, dass das Management fast keine Reaktionen auf die Inputs der Mitarbeitenden erkennen ließ. Dies führte zu der Wahrnehmung, dass USp für sie insgesamt keine effektive Ressource zur Mitsprache darstellt. Wie eine Mitarbeiterin mitteilte: „Und dass man wirklich sieht, es bewegt was. Das fehlt uns noch ein bisschen. Das man das sieht wirklich, wenn ich da einen Kommentar abgebe oder prinzipiell teilnehme, dass ich damit was bewege. Ich meine, das geht natürlich nicht schlagartig, aber zumindest eine Tendenz von Bewegung sollte man sehen.“ (MöbelCoMA I#5)
Ein Mitarbeiter von einem anderen Standort bestätigte diese Wahrnehmung. Ihm fehlte vor allem ein gemeinsames Aufarbeiten der Inputs in USp: „Also die gesamte Kurve, die geht jetzt ins Minus hinunter. Warum ist das so? Was müssen wir tun, dass das wieder nach oben geht? Und dass alle, nicht [am einzelnen
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Standort], sondern in den 4 Gruppen [virtuellen Teams], die wir sind (…) alle dann zusammen und schauen: Wie ist das, dass man da auf eine Linie kommt? Mir geht das ein bisschen ab.“ (MöbelCoMA I#2)
Der Mangel an Rückmeldungen seitens des Managements verstärkte zudem die Unsicherheit der Mitarbeitenden, wie die Inputs vor dem Hintergrund eingeschränkter Anonymität (zu kleine virtuelle Teams) vonseiten des Managements interpretiert werden würden. Aus Sicht der Mitarbeitenden führten diese Strukturationsprozesse daher eher zum Misslingen digitaler Mitsprache – insbesondere deshalb, weil die Mitarbeitenden das Gefühl hatten, dass das Management die digitalen Inputs in USp eher ignorieren würde und zudem große Unsicherheit darüber herrschte, wie die Inputs interpretiert und verwendet werden. Trotz dieser Tendenzen konnten die Mitarbeitenden von MöbelCo aus dem System aber auch Vorteile ziehen, die jenen bei PersCo verwehrt blieben. Dadurch, dass die MöbelCo-Mitarbeitenden die Ergebnisse und Kommentare aller virtuellen Teams einsehen und vergleichen konnten, bekamen sie über die Zeit wertvolle Einblicke in die frühere und aktuelle Stimmungslage der gesamten Vertriebsabteilung, welche teils stark zum Nachdenken über das generelle Miteinander anregte. Wie uns ein Mitarbeiter schilderte: „(...) weil so siehst du: Wie haben wir reagiert und wie reagieren die anderen? Weil die Themen sind gleich, die Einstellung ist ja im gesamt [MöbelCo] gleich. Was ja gut ist. Wenn ich das aber heute so mache, dass ich einsehe, wie reagiert jetzt [Standort 2] auf die Frage, haben die schlechtere [Werte] als sonst oder was, dann seh‘ ich (...): ‚Die sehen das anders.‘“ Die haben das Problem nicht, dafür haben sie aber wo anders eines. Ist schon interessant auch einmal zu sehen (…).“ (MöbelCoMA I#2)
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Diskussion
Die Ergebnisse zeigen, wie existierende organisationale Institutionen in den beiden Fallunternehmen mit den Strukturierungsangeboten von USp im Mitsprache-Handeln zusammenlaufen und über die Zeit zu verschiedenen institutionalisierten Nutzungsmuster führen, die jeweils andere Mitsprache-Outcomes zur Folge haben. Abbildung 2 fasst die beschriebenen Strukturierungsprozesse, welche zum (Nicht-)Gelingen digitaler Mitsprache führen, abstrahiert zusammen. Insgesamt geht daraus hervor, dass die Interaktion von organisationalen und technischen Strukturen über die Zeit in unterschiedliche Grade an Transparenz des Managements über die Verwendung der Mitsprache-Inputs sowie unterschiedliche Grade an Zugang zu interpretierbaren Mitsprache-bezogenen Daten
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Grad an gelungener digitaler Mitsprache aus MitarbeiterInnen-Sicht
Grad des Zugangs zu interpretierbaren Mitsprachebezogenen Daten
Grad an Transparenz des Managements über Verwendung der Inputs
Soziale Strukturen Hierarchien, Prozesse etc.
Technologische Strukturen Funktionen ‚Spirit‘
Strukturation
Abbildung 2:
Soziotechnische Strukturierungsprozesse und das Gelingen digitaler Mitsprache
mündet, welche wiederum unterschiedliche Grade an gelungener digitaler Mitsprache hervorbringen. Im Folgenden werden diese beiden Faktoren im Lichte bestehender Literatur diskutiert. Die Ergebnisse zeigen, dass das Ausmaß an Transparenz darüber, wie das Management die Inputs verarbeitet, den Mitarbeitenden zum einen die Effektivität ihrer Mitsprache demonstriert (Pyman et al. 2006; Burris 2012) und zum anderen ihre Inputs auch als erwünscht und vor allem als sicher wahrnehmen lässt (Morrison 2011). Dies scheint insbesondere im Kontext digitaler Mitsprache von hoher Bedeutung: Durch das digitale System werden einerseits die Inputs der Mitarbeitenden für alle ständig sichtbar abgebildet (siehe Abbildung 1), wodurch andererseits auch hohe Erwartungen entstehen, dass das Management auf diese Inputs reagiert. Wie die Fallstudie von PersCo zeigt, führte ein hohes
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Level an Transparenz dazu, dass Mitarbeitende ihre Inputs als effektiv, willkommen und sicher einstuften, was digitale Mitsprache aus ihrer Sicht gelingen ließ. Bei MöbelCo hingegen war dieses Level an Transparenz nicht präsent, was aufseiten der Mitarbeitenden zur Wahrnehmung führte, dass USp kein effektives Mittel für Mitsprache darstellt und dass das Einbringen von Inputs sogar mit einem gewissen Risiko behaftet ist (Burris 2012). Letztere Wahrnehmung wurde bei MöbelCo zusätzlich von den (zu) kleinen virtuellen Teams verstärkt, durch die Mitarbeitende ihre Anonymität gefährdet sahen, was insgesamt deren Bereitschaft dämpfte, Inputs in USp beizusteuern (Mao und DeAndrea 2018). Trotz der Zentralität von Transparenz über die Verwendung der gesammelten Mitsprache-Inputs zeigen die Ergebnisse auch, dass USp durch den umfassenden Zugang zu Mitsprache-bezogenen Daten (im Fall von USp etwa detaillierte Stimmungskennzahlen und Kommentare anderer virtueller Teams) aus Sicht der Mitarbeitenden ebenfalls positive Outcomes haben kann. Dies zeigte sich insbesondere bei MöbelCo, wo Mitarbeitende einen besonders offenen Zugang zu den in USp abgebildeten Daten genossen und dadurch wertvolle Einblicke in die frühere und gegenwärtige Situation des Unternehmens generieren konnten. Dies zeigt, dass der Zugang zu Mitsprache-bezogenen Daten bereits zu Ansätzen einer Art datenbasierten Demokratisierung führen kann, weil sich Mitarbeitende Einblicke verschaffen können, um die gegenwärtige Situation im Unternehmen zu beurteilen und in Folge reflektieren zu können. Dies kann eine wichtige und wertvolle Grundlage dafür schaffen, demokratische Prozesse in Organisationen zu fördern bzw. auch Verbesserungen im Unternehmen anzuregen. 7
Conclusio
Im vorliegenden Beitrag wurde durch einen Fallstudienvergleich auf Basis der AST gezeigt, dass digitale Mitsprache aus Sicht von Mitarbeitenden vor allem durch Transparenz vonseiten des Managements über die Verwendung der Mitsprache-Inputs sowie den Zugang zu Mitsprache-bezogenen Daten gelingen bzw. gefördert werden kann. Dabei wurde digitale Mitsprache als soziotechnisches Phänomen aufgefasst, welches erlaubt, die Beziehungen zwischen den Funktionen einer Technologie und existierenden organisationalen Strukturen explizit zu problematisieren. Der systematische Miteinbezug von Technologie in empirische Analysen könnte auch für künftige Themen der Mitsprache bzw. Mitbestimmung, vor allem im Kontext der Digitalisierung der Arbeitswelt, von Relevanz sein. Wie der Beitrag zeigt, kann ein solches Miteinbeziehen interessante Einblicke in die Dynamiken rund um Mitsprache zutage fördern, weil sichtbar wird, wie sich
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soziale und technologische Strukturen im Mitsprache-Handeln wechselseitig zum Positiven, aber auch zum Negativen verstärken können. Zudem konnte im Beitrag gezeigt werden, dass bereits kleine technische Details (wie etwa die Größe virtueller Teams in USp) große Unterschiede in den Outcomes von digitalen Mitspracheprozessen zur Folge haben können. Insgesamt betont dies die Bedeutung, Technologie genügend analytischen Raum in der Betrachtung digitaler Mitsprache und Mitbestimmung einzuräumen, um deren (Nicht-)Gelingen umfassender verstehen zu können. Literatur Akrich, M. 1992. The de-scription of technical objects. In: Bijker, W. E. und Law, J. (Hrsg.). Shaping technology/building society: Studies in sociotechnical change. Cambridge, London: MIT Press, 205-224. Bondarouk, T. und Ruël, H.J.M. 2009. Electronic human resource management: Challenges in the digital era. International Journal of Human Resource Management, 20 (3), 505-514. Burris, E. R. 2012. The risks and rewards of speaking up: Managerial responses to employee voice. Academy of Management Journal, 55 (4), 851-875. Carstensen, T. 2016. Social Media in der Arbeitswelt. Bielefeld: Transcript. Corbin, J. und Strauss, A. 1990. Grounded theory research: Procedures, canons, and evaluative criteria. Qualitative Sociology, 13 (1), 3-21. DeSanctis, G. und Poole, M. S. 1994. Capturing the Complexity in Advanced Technology Use: Adaptive Structuration Theory. Organization Science, 5 (2), 121-147. Eisenhardt, K. M. und Graebner, M. E.. 2007. Theory building from cases: Opportunities and challenges. Academy of Management Journal, 50 (1), 25-32. Ellmer, M. und Reichel, A. 2018. Unpacking the “e” of e-HRM: A review and reflection on assumptions about technology in e-HRM research. In: Stone, D. L. und Dulebohn, J. H. (Hrsg.). The brave new world of eHRM 2.0. Charlotte: Information Age Publishing, 247-278. Farndale, E., van Ruiten, J., Kelliher, C. und Hope-Hailey, V. 2011. The influence of perceived employee voice on organizational commitment: An exchange perspective. Human Resource Management, 50 (1), 113-129. Gegenhuber, Th., Ellmer, M. und Scheba, C. 2018. Partizipation von CrowdworkerInnen auf Crowdsourcing-Plattformen: Bestandsaufnahme und Ausblick. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Giddens, A. 1986. The constitution of society: Outline of the theory of structuration. Berkeley: Univ. of California Press. Harlos, K. P. 2001. When organizational voice systems fail. Journal of Applied Behavioral Science, 37 (3), 324-342. Holland, P., Cooper, B. K. und Hecker, R. 2016. Use of social media at work: A new form of employee voice? International Journal of Human Resource Management, 27 (21), 2621-2634. Kaiser, St. und Kozica, A. 2015. Zukunftsfähige Führung in fluiden Organisationen und modernen Arbeitswelten. In: Widuckel, W., de Molina, K., Ringlstetter, M. J. und Frey, D. (Hrsg.). Arbeitskultur 2020. Wiesbaden: Springer, 307-322.
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Kapitel V: Freiraum für neue Arbeitsweisen – rechtliche Perspektiven und die Zukunft von Arbeit und Betrieb
Neue Formen kollaborativer Herstellung und Entwicklung – eine orientierende Typologie Jan-Felix Schrape Abstract Im Kontext der digitalen Transformation der Gesellschaft rücken neben Dynamiken der Zentralisierung und Kommodifizierung in der Internetökonomie seit einigen Jahren auch neue Spielarten der offenen wie partizipativen Zusammenarbeit in den Aufmerksamkeitsbereich der sozialwissenschaftlichen Forschung. Vor diesem Hintergrund nimmt der vorliegende Beitrag die hierzulande bislang beobachtbaren Ausprägungen kollaborativer Herstellung und Entwicklung materieller Güter in den Blick: Nach einer historischen Einordnung erfolgt eine typologisierende Vermessung des Feldes, in der die sehr unterschiedlich ausgerichteten Spielarten offener Werkstätten und Labs entlang ihrer Zielsetzungen, ihrer vorherrschenden Koordinationsformen sowie ihrer Finanzierungsweisen voneinander abgegrenzt werden. Daran anknüpfend werden mit diesen technikvermittelten Kollaborationsformen einhergehende Potenziale und Risiken diskutiert. 1
Einleitung1
Untersuchungen zu dem Wandel der Entwicklungs- und Herstellungsmuster in der IT-Industrie zeigen auf, dass plattformbasierte Projektzusammenhänge zur kollaborativen Entwicklung quelloffener Software heute weniger in Konkurrenz zu bekannten Spielarten sozioökonomischer Koordination stehen, sondern diese vielmehr ergänzen und erweitern. Branchenfundamentale, softwaretechnische Strukturen werden seit der Jahrtausendwende vermehrt in internetbasierten Open-Source-Projekten entwickelt, die mittlerweile vorwiegend von in Unternehmen verorteten Entwicklern2 getragen werden und sich über korporative Zuwendungen finanzieren (Schrape 2018, 2017). Gleichzeitig wird weiterentwickelten Spielarten der offenen sowie partizipativen Entwicklung und Herstellung 1 2
Die diesem Text zugrundeliegende Forschung wurde durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_17
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nach wie vor das Potenzial zugesprochen, eine technikgestützte Antwort auf lange gehegte Hoffnungen auf eine Dezentralisierung bzw. Demokratisierung von Arbeit und Wirtschaft zu bieten (z. B. Kerschner et al. 2018; Mason 2015; Rifkin 2014). Nun geht es allerdings nicht mehr nur um digitale Inhalte und Produkte (Software), sondern explizit auch um die gemeinschaftliche Herstellung materieller Güter (Hardware) – von Formen freier Infrastrukturentwicklung über 3DDruckCommunities bis hin zu Repair Cafés und offenen Werkstätten. Im Anschluss an die ursprüngliche Idee der Commons-based Peer Production (Benkler 2002) zeichnen sich kontemporäre Diskurse um Prozesse distribuierter Produktherstellung und -entwicklung durch drei geteilte Grundannahmen aus (Schrape 2019a): – Technischen Infrastrukturen wird das Potenzial zugesprochen, die Verteilung von anwendungsorientierten Wissensbeständen wie auch die Koordination von gemeinschaftsbasierten Projektkontexten erheblich zu flexibilisieren. – Mit dieser Verringerung der Transaktionskosten soll nicht nur ein Relevanzverlust intermediärer Organisationen, sondern auch eine Verringerung von Einflussasymmetrien und Partizipationsoffenheit einhergehen. – Durch die technisch erleichterte Selbststeuerung und Koordination sollen kollaborativ strukturierte Arbeitskontexte zu schlagkräftigen Alternativen und zu eingespielten Mustern zentralisierter Industrieproduktion werden. Im Blickpunkt dieses Beitrages stehen vor diesem Hintergrund die hierzulande bis dato beobachtbaren Ausprägungen kollaborativer Herstellung und Entwicklung materieller Güter: Nach einer kurzen historischen Einordnung (Kap. 2) erfolgt eine typologisierende Vermessung des Feldes (Kap. 3), die sich an folgenden Fragestellungen ausrichtet: Steht die Entwicklung technischer Lösungen, die Herstellung bzw. Reparatur von Gebrauchsgütern oder wechselseitiges Lernen im Fokus (Zweck)? Werden Hobbyisten, Freiberufler oder Unternehmen adressiert (Zielgruppen)? Wird das Projekt durch die Community selbst, eine Dachorganisation, kommunale oder privatwirtschaftliche Stellen betrieben (Betreiber)? Werden Anschaffungs- und Betriebskosten über Mitgliedsbeiträge, private Spenden oder korporative Zuwendungen gedeckt (Finanzierung)? Durch welche Entscheidungswege zeichnen sich ihre Arbeitskontexte aus (Koordination)? Die Untersuchungen stützen sich auf die Auswertung empirischen Materials (u. a. Marktdaten, Projektdokumente, Webinhalte, Hintergrundgespräche) und vorliegende Klassifikationsarbeiten (u. a. Lange und Bürkner 2018; Schmidt und Brinks 2017; Simons et al. 2016). Abschließend werden mit diesen neuen technikvermittelten Kollaborationsformen verknüpfte Potenziale und Herausforderungen diskutiert (Kap. 4).
Neue Formen kollaborativer Herstellung und Entwicklung – eine orientierende Typologie
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Vom Whole Earth Catalog zur Maker Culture
Die Vorstellung, dass neue technische Lösungen oder die Umnutzung existenter Technologien zu sozial ausbalancierteren Wirtschafts- und Arbeitsweisen beitragen könnten, ist nicht erst mit der digitalen Transformation entstanden. Bereits der Whole Earth Catalog (WEC), der als eines der Zentralorgane der kalifornischen Gegenkultur der späten 1960er-Jahre gilt, richtete sich an der Überzeugung aus, dass technischer Fortschritt und soziales Gleichgewicht nicht notwendigerweise im Gegensatz zueinander stehen, und propagierte als Gegenreaktion auf die industrielle Arbeitsteilung eine Rückbesinnung auf Praktiken der individuellen Produktherstellung. Dementsprechend lag die Grundidee des WEC darin, technisches Know-how möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, um diese zur distribuierten Herstellung materieller Güter zu ermächtigen (Roszak 1986). Im Anschluss daran zeichneten sich auch die Umweltbewegungen der 1970er-Jahre in Europa und den USA durch eine Hinwendung zu dezentral organisierten Produktions- und Konsumweisen aus. Ihre konzeptuelle Basis bestand in zahlreichen großindustriekritischen Arbeiten, die von einer breiten Öffentlichkeit rezipiert wurden (u.a. Jungk 1973; Ullrich 1977). Insbesondere Ernst F. Schumachers (1973, S 117f.) Entwurf der „economics of permanence“ nahm wesentliche Ideen einer dezentralisierten Postwachstumsgesellschaft vorweg und sah den Schlüssel für das Überleben der Menschheit in einem veränderten Umgang mit existenten und künftigen Technologien: „[...] a technology with a human face, is in fact possible [...]. It serves production by the masses instead of mass production.” Danach bewegte sich der Diskurs allerdings zunächst in eine andere Richtung: weg von der Idee einer übergreifenden wirtschaftlichen Reorganisation und hin zu der sich ab Mitte der 1970er-Jahre verbreitenden Amateur-ComputingSzene als eine die materielle Welt ergänzende Subkultur (Kirk 2007). Als signaturgebend für die nachkommenden Diskussionen um das Web (2.0) sollte sich dabei zum einen der Glaube an die dezentralisierende Kraft der Computer- und Netzwerktechnologien erweisen, die nicht zuletzt in einer Auflösung eingespielter gesellschaftlicher Rollenverteilungen und in einem Relevanzverlust klassischer Organisationen münden sollte (Schrape 2019a). Zum anderen wurden bereits in dieser Computer Counter Culture wie auch im Free Software Movement ab den 1980er-Jahren online-basierte intermediäre Plattformstrukturen für die Diffusion nutzergenerierter Inhalte und die Koordination von Arbeitsprozessen unter örtlich verteilten Entwicklern erprobt (Worden 2012; Turner 2006). Neben der Erschließung der ökonomischen Potenziale der entsprechenden informationstechnischen Strukturen entlang von Konzepten wie Crowdsourcing
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(Howe 2008) und Open Innovation (Chesbrough 2003) erlebte die Vorstellung der kollaborativen Herstellung materieller Güter ab Mitte der 2000er Jahre eine umfassende Renaissance. Neue Technologien wie massentaugliche 3D-Drucker sollten nun im Verbund mit der intensivierten Vernetzung jene transformativen Möglichkeiten erschließen, die schon in den 1970er-Jahren angedacht wurden, aber nicht umgesetzt werden konnten. Chris Anderson (2013, S. 51) etwa kennzeichnete den 3D-Druck als Vorboten einer „new industrial revolution“, in deren Zuge sich eine dezentral organisierte Maker Economy herausbilden sollte, in der Produktideen allerorts materialisiert werden könnten: „Once again, new technology is giving individuals the power over the means of production, allowing for bottom-up entrepreneurship and distributed innovation.“ Und auch Autoren wie Jeremy Rifkin (2014) und Paul Mason (2015) stellten in diesem Sinne einen technikbeförderten Wandel kapitalistischer Wirtschaftsweisen in Aussicht. 3
Ausprägungen kollaborativer Herstellung und Entwicklung
Auch wenn sich die Erwartungen um die reformierende Kraft der Digitaltechnologien im allgemeinen öffentlichen Diskurs inzwischen reduziert haben, konnten sich nicht zuletzt unter dem Eindruck der genannten technikutopischen Vorstellungen in den zurückliegenden Jahren eine Vielzahl offener Projektzusammenhänge herausbilden, in deren Fokus die gemeinschaftliche Herstellung und Entwicklung materieller Produkte steht – von kleinen lokal verankerten Selbsthilfewerkstätten bis hin zu unternehmenszentrierten und überregional organisierten Makerspaces und Innovation Labs. Sowohl hinsichtlich ihrer strategischen Ausrichtung und ihrer anvisierten Zielgruppen als auch mit Blick auf ihre Finanzierung und Koordinations- bzw. Arbeitsformen heben sich diese Ausprägungen kollaborativer Projektarbeit allerdings sehr deutlich voneinander ab. 3.1
Selbsthilfewerkstätten
Offene Werkstätten (z. B. für die Fahrrad- oder KFZ-Reparatur) sind kein exklusives Phänomen der Gegenwart, sondern bereits seit den 1970er-Jahren Bestandteil alternativer städtischer Milieus. Ihre übergreifende Vernetzung und Koordination erfährt durch die Online-Technologien allerdings erhebliche Erleichterung, weshalb sich seit der Jahrtausendwende eine Vielzahl neuer Initiativen wie Repair Cafés, themenzentrierte offene Werkstätten und Do-it-yourself-Räume herausgebildet haben. Die 2011 in den Niederlanden gegründete Stiftung Stichting Repair Café listet für die BRD mehrere hundert ehrenamtliche Initiativen auf, die nach ihrem Grundkonzept arbeiten (https://repaircafe.org); das von der
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Stiftung anstiftung betriebene Netzwerk Reparatur-Initiativen listet über 700 derartiger Angebote in Deutschland auf (https://www.reparatur-initiativen.de); der 2009 gegründete Verbund Offener Werkstätten bietet Verweise zu 380 offenen Werkstätten (https://www.offene-werkstaetten.org), wobei hier zum Teil auch Makerspaces und FabLabs inkludiert werden (Stand: 10/2019). Die typische Selbsthilfewerkstatt wird ehrenamtlich von einer oder mehreren Personen betrieben und verfügt über eigene Räume sowie regelmäßige Öffnungszeiten; Repair Cafés hingegen finden zumeist in wechselnden Räumlichkeiten zu benannten Zeiten statt und werden mitunter auch von öffentlichen Einrichtungen wie Volkshochschulen angeboten. Mit früheren Ausformungen verbindet aktuelle Selbsthilfewerkstätten das Ziel, interessierte Laien und Hobbyisten durch die Verfügbarmachung von Werkzeugen und Hilfsmitteln sowie die Vermittlung des notwendigen Anwendungswissens zur Instandsetzung, Anpassung und Verbesserung von (Alltags-)Geräten und Produkten zu befähigen. Durch die Verringerung der Transaktionskosten in der digitalisierten Gesellschaft wird nun allerdings der wechselseitige Erfahrungsaustausch wie auch die Erarbeitung und Bereitstellung übergreifender rechtlicher sowie versicherungstechnischer Rahmenbedingungen und Absicherungen beträchtlich effektiviert, so dass Neugründungen oft ähnlich wie in einem Franchisesystem auf bereits ausgearbeiteten Grundlagen aufbauen können (Kannengießer 2018; Baier et al. 2016: 201ff.; Simons et al. 2016). Gemeinnützige Werkstätten werden häufig von Vereinen betrieben, decken ein breites Spektrum an Werkbereichen (z. B. Holz-, Metall-, Elektro-, Textilund Papierverarbeitung etc.) ab, administrieren eine Vielzahl an Klein- und Großgeräten bzw. Werkzeugen und sind in dementsprechend großen Räumlichkeiten untergebracht. Zur Finanzierung tragen öffentliche und zivilgesellschaftliche Förderstellen, mitunter auch Unternehmen (z. B. über Gerätespenden), regelmäßige Mieten (durch Schulen oder andere Bildungsstätten) sowie nicht zuletzt individuelle Gebühren bei, die sich an der Nutzungszeit und den in Anspruch genommenen Geräten und Verbrauchsmaterialien (z. B. Schleifpapier, Schrauben, Leim) ausrichten. Je nach Einweisungs- und Gerätebedarf beginnt die Nutzungsstunde bei 2 bis 7 Euro. Zum Teil wird einer gewerblichen Nutzung zu angepassten Preisen stattgegeben (eigene Recherche auf https://www.offenewerkstaetten.org). Die hinter den Selbsthilfewerkstätten stehenden NGOs und Vereine streben in vielen Fällen heterarchische Koordinationsweisen an, die sich an der Idealvorstellung der Selbstorganisation im Sinne der Commons-based Peer Production (Benkler 2002) oder an pragmatischer ausgerichteten Ideen wie der Teal Organization (Laloux 2014) ausrichten. Die konkrete Arbeit in den Werkstätten wird zumeist auf meritokratischer Basis koordiniert, d. h. Teilhabende mit Expertise
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(z. B. im Umgang mit Geräten) füllen verantwortungsvolle Positionen aus. Insbesondere kleinere Werkstätten weisen indes aufgrund von Beteiligungsvolatilitäten in der Regel eine Zentriertheit auf die gründenden Personen bzw. dauerhaft involvierte Mitglieder auf. Auch Repair Cafés, die in Deutschland zumeist ein ergänzendes Angebot kommunaler bzw. zivilgesellschaftlicher Träger darstellen, richten sich oftmals an langfristig aktiven Einzelpersonen aus. 3.2
Kollektiv verfasste Labs
Eng verwandt mit den schon lange operierenden Selbsthilfewerkstätten sind kollektiv verfasste offene Werkstätten wie FabLabs (fabrication laboratories) und Hackerspaces, die sich expliziter an der Vision einer digitalisierten Maker Economy (Anderson 2013) orientieren und primär Zugang zu digitalen Fertigungstechniken wie 3D-Druckern und Laser-Cuttern bieten. Das erste FabLab wurde 2002 von Neil Gershenfeld (2005) am Massachusetts Institute of Technology mit dem Ziel initiiert, interessierten Hobbyisten den Zugang zu komplexeren Produktionstechnologien zu ermöglichen und die entsprechenden Lernumgebungen bereitzustellen (vgl. „The Fab Carter“: http://fab.cba.mit.edu/about/ charter/). Neu- und Weiterentwicklungen werden in der Regel unter quelloffenen Lizenzen veröffentlicht, um den Wissensaustausch zu fördern. Die Website Fablabs.io, die zur internationalen Koordination dient, listet ca. 1.500 FabLabs oder ähnliche Werkstätten auf; für Deutschland sind es ca. 60 Labs (Stand: 10/2019). Die 2009 in den USA gegründete FabFoundation (2019) geht davon aus, dass für ein FabLab mit Standardausrüstung rund 110.000 US-Dollar Initialkosten für Hard- und Software entstehen, weshalb es nicht verwundert, dass hierzulande ein Gutteil der FabLabs von Universitäten und öffentlichen Stellen gefördert wird. Einem ähnlichen Impetus wie FabLabs folgen Hackerspaces, die auf den 1995 in Berlin im Umfeld des Chaos Computer Clubs gegründeten Kreativraum c-base zurückgehen, aber in ihrer Ausstattung deutlich diversifizierter sind und sich Hackerspaces.org (2019, §1) zufolge durch eine allgemeinere Ausrichtung kennzeichnen: „Hackerspaces are community-operated physical places, where people share their interest in tinkering with technology, meet and work on their projects, and learn from each other.“ Für Anfang 2019 listet die Website ca. 1400 aktive Hackspaces weltweit auf, davon 157 in der BRD, die unter Namen wie Chaostreff, Kiosk of Piracy oder shackspace auftreten, wobei die Übergänge zu FabLabs fließend bleiben. Ein Problem, welches Hackerspaces mit vielen anderen Formen offener Werkstätten gemeinsam haben und in der Szene mitunter durch die Gründung von dezidiert auf Frauen ausgerichteten Experimentierräumen (z. B. Heart of Code, Berlin) adressiert wird, besteht darin, dass sich dort
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„hauptsächlich technikinteressierte Männer zwischen 20 und 60 Jahren“ (Hepp et al. 2018, S. 109) aus vorrangig technisch orientierten Berufsgruppen treffen. Die meisten FabLabs und Hackerspaces sind kollektiv verfasst und operieren unter einem gemeinnützigen Verein mit einer ausdefinierten Satzung und einem gewählten Vorstand, der sich um administrative und organisatorische Belange, die Öffentlichkeitsarbeit und die Verwaltung der Maschinen kümmert sowie als Ansprechpartner für private wie öffentliche Förderstellen fungiert. Neben diesen Zuwendungen finanzieren sich die Communities vor allen Dingen über die Jahres- oder Monatsbeiträge der Vereinsmitglieder (ab 10 Euro/Monat) sowie Sachund Gerätespenden. Insbesondere in Hackerspaces bringen Besucher auch ihr eigenes Equipment ein. Die alltägliche Koordination erfolgt in Selbstorganisation über Mailing-Listen, Wiki-Plattformen und vor Ort. Strategische Entscheidungen werden durch den Vereinsvorstand, im Plenum und/oder in der demokratisch verfassten Mitgliederversammlung, die in der Regel jährlich stattfindet, getroffen. In langfristig bestehenden Fablabs und Hackerspaces kristallisieren sich zudem mit der Zeit oft benennbare Kerngruppen mit einer überblickbaren Anzahl an lebensphasenübergreifend aktiven Mitgliedern heraus, die sich als informelle Entscheidungsträger charakterisieren lassen (eigene Recherche; Hintergrundgespräche). 3.3
Spezialisierte Entwicklungsprojekte
Selbsthilfewerkstätten, FabLabs und Hackerspaces werden mitunter als Vorboten aufkommender postkapitalistischer Lebens- und Wirtschaftsweisen beschrieben (z. B. Baier et al. 2016); die einzelnen Teilhabenden zeichnen sich jedoch neben einer allgemeinen Technikbegeisterung nicht zwangsläufig durch einen ausgeprägten politischen Antrieb aus. Spezialisierte Projekte wie freifunk.net, Openwireless und Guifi.net fokussieren hingegen qua Anlage auf die subversive Entwicklung freier Infrastrukturen für eine marktunabhängige Vernetzung und Telekommunikation (Antoniadis 2016; Petersen 2014). Selbstverwaltung und Anonymität gehören zu den Grundsatzzielen aller entsprechenden Infrastrukturprojekte. Das 2002 gegründete freifunk.net ist dezentral organisiert und fußt auf dem Engagement von Privatpersonen, welche jeweils einen Freifunk-Router betreiben, die dynamisch miteinander verbunden werden. Die Router-Betreibenden sind meist in lokalen Gruppen organisiert; freifunk.net listet 448 dieser Communities für die BRD und Österreich auf (Stand: 10/2019). Als Spielfläche für Face-to-Face-Treffen wie auch als Nährboden für die Rekrutierung weiterer Router-Betreibenden dienen oft die örtlich gegebenen offenen Labs und Werkstätten – nicht zuletzt, da sich in ihren Milieus auf ein entsprechendes technisches Grundverständnis aufsetzen lässt. Als Dachorganisa-
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tion für die selbstorganisierten Communities dient der 2003 gegründete Förderverein Freie Netzwerke e.V. mit gewähltem Vorstand, der für die Öffentlichkeitsarbeit, Spendenkampagnen sowie die Vermittlung von Know-how zuständig ist und die Möglichkeit zu einer stimmlosen Fördermitgliedschaft bietet (60 Euro/Jahr, Stand: 10/2019). Auf lokaler Ebene werden einzelne FreifunkCommunities mitunter durch öffentliche Träger finanziell unterstützt sowie durch die Bereitstellung von Funknetzstandorten gefördert, so etwa durch die Medienanstalt Berlin-Brandenburg. Durch die Reformation des Telemediengesetzes sind die Betreiber freier WLANs seit 2017 in der BRD von der Haftung für Rechtsverstöße von Benutzenden befreit. Ein Problem, das freifunk.net und weitere dezentral organisierte Initiativen für freie Infrastrukturen kennzeichnet, ist indes die Volatilität des individuellen Engagements in den Communities (Fuchs 2017; Rettschlag 2016). 3.4
Korporativ betriebene offene Werkstätten
Von kollektiv verfassten offenen Werkstätten und subversiven Projektkontexten lassen sich korporativ betriebene Makerspaces unterscheiden, die entweder direkt von einer Bildungsinstitution (z. B. Universitäten) bzw. einem Unternehmen oder als eigene GmbH betrieben werden und auf die Verfügbarmachung von vielfältigen Technologien (u.a. Maschinen zur Metall-, Holz-, Textil- und Elektroverarbeitung, 3D-Drucker, Lasercutter) weitgehend ohne politische Ziele setzen: „Makerspaces […] became associated with a drive to enable as many craft to the most significant extent possible. […] Each craft area could be used both by hobbyists and professional craftsmen alike […]. More often than not, the spaces were structured along the lines of traditional businesses (instead of democratic collectives), due to the significant expense and energy involved in maintaining multiple types of professional-grade craft areas and training new members to use the tools responsibly.“ (Cavalcanti 2013, §10)
In den USA gründeten sich die ersten Makerspaces nach dem Launch der Do-itYourself-Zeitschrift Make: im Jahr 2005; in Deutschland eröffnete der erste Makerspace 2013 in Köln. Aufgrund hoher Anschaffungs-, Versicherungs- und Betriebskosten (ein professioneller Lasercutter etwa kostet mehrere 10.000 Euro) und dem großen Raumbedarf halten Makerspaces in der Regel eine Vielzahl an korporativen Kooperationspartnern, setzen höhere Mitgliedschaftsgebühren als Selbsthilfewerkstätten an, adressieren neben Amateuren auch (Start-up-)Unternehmen sowie Freelancer und sind Arbeitgeber für mehrere Mitarbeitende.
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Der größte Makerspace in der BRD wird von der UnternehmerTUM MakerSpace GmbH in München auf einer Fläche von 1500 Quadratmetern mit einem Maschinenpark von über 100 Geräten sowie 50 freien und festen Mitarbeitenden betrieben und verfügt neben seinem Hauptkooperationspartner BMW, der den Space als Innovationsinkubator nutzt, über weitere korporative Sponsoren wie Bosch und SAP. Die Tagesmitgliedschaft, die Zugang zum gesamten Makerspace bietet, kostet 60 Euro, die Monatsmitgliedschaft liegt bei 150 Euro. Rentner erhalten Rabatt; für Studierende gibt es Stipendienoptionen. Ansonsten wird nicht zwischen verschiedenen Anspruchsgruppen differenziert (Stand: 10/2019). Relativ zur jeweils gegebenen Ausstattung vergleichbare Preisstrukturen bieten Makerspaces an anderen Standorten (z. B. Tatcraft, Frankfurt a.M.; MotionLab, Berlin; Hafven, Hannover; Happylab, Berlin), die neben der individuellen Nutzung auch Kurse für Einzelpersonen, Unternehmen und Schulen anbieten. Dirk Rossberg, Geschäftsführer des UnternehmerTUM Maker Space, wirbt daneben um Kunden aus dem Handwerk (Sommer 2018). Größere Makerspaces stellen insofern eine professionalisierte Variante offener Werkstätten dar und sind in den meisten Fällen nicht mehr rein gemeinwohlorientiert, sondern verfolgen eine „Kultur der niederschwelligen Kommerzialisierung“ und werden „von etablierten Institutionen [...] als Instrument der eigenen Öffnungs- und Innovationsstrategie“ angesehen (Dickel 2019, S. 8). Auch aufgrund der engen Vernetzung mit Partnern sowie dem hohen betriebswirtschaftlichen Koordinationsaufwand gehen mit dieser Professionalisierung in aller Regel klare Führungsstrukturen mit hierarchischen Entscheidungsmustern und abgegrenzten Kompetenzbereichen für angestellte Mitarbeitende einher. Darüber hinaus werden Makerspaces von einem breit angelegten Ökosystem zur Vermarktung flankiert, welches u. a. aus dem Printmagazin Make: besteht, das seit 2012 auch in Deutschland erscheint sowie von zahlreichen Events begleitet wird. Sowohl die rückläufigen Zahlen zur verkauften Auflage des Make:Magazins (2015: ca. 36.000 Exemplare; 2019: ca. 27.000 Exemplare) sowie die Absagen einiger Maker-Konferenzen für 2019 (z. B. MakerCon, Heidelberg) deuten allerdings auf ein derzeit zurückgehendes öffentliches Interesse an diesen Formaten hin. 3.5
Unternehmenszentrierte Innovation Labs
Weniger an Commons-based Peer Production (Benkler 2002) und eher an dem Konzept der Open Innovation (Chesbrough 2003) orientiert sind auch unternehmenszentrierte Innovation Labs, die insbesondere von IT-nahen Konzernen komplementär zu ihren in der Regel nach wie vor gut geschützten internen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten (F&E) betrieben werden (Schrape 2019b).
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Sie dienen als Instrumente der kontrollierten Öffnung bzw. als Kollaborationsschnittstellen gegenüber Stakeholdern des Unternehmens (z. B. Kunden, Zulieferern, angrenzenden Marktteilnehmern, Start-Ups, Universitäten), fokussieren auf die Umsetzung und Weiterentwicklung von geschäftsrelevanten Ideen bzw. Prototypen und werden in ihrer strategischen Koordination entsprechend eindeutig durch das finanzierende Unternehmen angeleitet. Durch ähnlich enge Zielorientierungen zeichnen sich in der Regel politisch initiierte Living Labs bzw. Reallabore aus, die der Kooperation zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft dienen, sich an konkreten Problemstellungen (z. B. der Neugestaltung eines Stadtquartiers) ausrichten und zumeist im Kontext von öffentlich geförderten Forschungsprojekten betrieben werden (Schäpke et al. 2017; Meurer et al. 2015). Ein anstoßgebendes Beispiel für die Open-Innovation-Forschung (Hossain und Anees-ur-Rehman 2016) und ein Vorbild für die Einrichtung von OpenInnovation-Labs lieferte die International Business Machines Corporation (IBM): Als sich der Konzern Mitte der 1990er-Jahre mit schrumpfenden Märkten konfrontiert sah, entschied sich IBM für eine kontrollierte Öffnung seiner Innovationstätigkeiten, d. h. für die Initiierung von Kollaborationszusammenhängen mit Kunden und anderen Marktteilnehmenden, um von Synergieeffekten zu profitieren und neue Wissensquellen zu erschließen (z. B. in der quelloffenen Linux-Entwicklung). Damit ging jedoch kein Relevanzverlust geistiger Eigentumsrechte einher: 2018 führte IBM mit 9.000 Patenten nach wie vor die amerikanische Patentliste an (Capek et al. 2005; IFI 2019). Ebenso zeigen Studien zu dem Aufbau von User-Communities durch den Spielzeughersteller LEGO (Hienerth et al. 2014) und zu der kontrollierten Schaffung definierter Innovationsspielräume im Rahmen von App Stores (z. B. Apple App Store, Google Play) für auf mobile Geräte ausgerichtete Software (Chesbrough 2017; Ghazawneh und Henfridsson 2015), dass derartige Aktivitäten aus Firmensicht primär das Potenzial bieten, unternehmerisches Risiko zu reduzieren und Impulse für die eigene Produktentwicklung zu erlangen. Als ein Musterfall für offenes Innovationsmanagement und unternehmenszentrierte Innovation Labs werden u. a. durch die OECD (2009) die Telekom Innovation Laboratories (T-Labs) genannt, welche 2004 in öffentlich-privater Partnerschaft gegründet wurden, die zentrale F&E-Einheit der Deutschen Telekom und zugleich ein An-Institut der TU Berlin darstellen, ca. 300 Mitarbeitende beschäftigen (Stand: 10/2019) sowie zahlreiche Kooperationen mit internationalen Universitäten, industriellen Forschungseinrichtungen und Start-up-Unternehmen pflegen (Schmidt und Brinks 2017; Rohrbeck et al. 2015). Dabei steht weniger die Entwicklung tagesgeschäftsrelevanter Produkte als die Erarbeitung übergreifender Ökosysteme und die Erforschung zukünftiger Innovationsfelder wie der Wandel medialer Infrastrukturen, künstliche Intelligenz sowie die sozio-
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ökonomische Urbarmachung von Blockchain-Technologien im Mittelpunkt der Zusammenarbeit. Beschreibungen auf Arbeitgeberbewertungsportalen (z. B. Kununu), die ein hohes Maß an Bürokratie und Entscheidungsträgheit beklagen, legen freilich den Eindruck nahe, dass die T-Labs zumindest in ihren Kernbereichen eher hierarchischen Organisationsmustern folgen (Stand: 10/2019). 3.6
Genossenschaftlich organisierte Labs
Neben den beschriebenen, eher klassisch strukturierten Labs mit klarer Unternehmenszentrierung erweisen sich auch alternative Organisationsformen für die unternehmensübergreifende Entwicklung als stabil, welche sich an Kollaborationsmodellen aus der Open-Source-Softwareentwicklung orientieren. Eine mögliche Rechtsform kann in dieser Hinsicht die Genossenschaft sein, wie das 2005 in Baden-Württemberg (Stuttgart) gegründete Open Source Automation Development Lab (OSADL) zeigt: „Genossenschaften sind Kooperationen. Ihre Mitglieder schließen sich – durchaus eigennützig – zusammen, weil sie gemeinsam mehr erreichen können, als ihnen allein möglich wäre.“ (Blome-Dress et al. 2016, S. 19). Die OSADL eG ist ein Zusammenschluss von inzwischen über 80 Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagenbau, die Genossenschaftsanteile (á 1.000 Euro) und damit Mitgliedstatus erworben haben, darunter u.a. Trumpf, HOMAG und BMW Car IT. Ihr Ziel besteht darin, eine standardisierte und zugleich auf die Branche zugeschnittene Linux-basierte Betriebsumgebung für Automatisierungsprozesse zu entwickeln. Darüber hinaus erarbeitet OSADL Konzepte für die Implementierung entsprechender Open-Source-Systeme (OSS) in der Industrie (Pfeiffer et al. 2017, 2012). Formal strukturiert ist OSADL nach dem klassischen Genossenschaftsmodell: Das Geschäft wird durch einen Vorstand geführt, der durch einen Aufsichtsrat kontrolliert wird und von einer Generalversammlung nach Ende des Geschäftsjahres entlastet wird. Entwicklungsaufträge werden für die Komponenten vergeben, die von den Genossenschaftsmitgliedern angefragt wurden. Die Resultate dieser Entwicklungsprozesse werden frei abrufbar zur Verfügung gestellt. Dabei stehen ökonomische Anforderungen im Vordergrund: „Linux ist ja unter anderem deswegen erfolgreich, weil nichts unnötigerweise doppelt entwickelt wird“ (Emde 2014, S. 22). Da dabei jedoch die Erfordernisse der Automatisierungsindustrie zu kurz kämen, „müssen sich die Maschinenbauer zusammentun, müssen Geld in eine Gemeinschaftskasse einzahlen, aus der die speziell benötigte Software entwickelt wird [...]. OSADL organisiert die Gemeinschaftskasse“ (ebd.).
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Kollaborative Arbeitskontexte als Komplement und als Alternative
Die vorangegangenen Betrachtungen zeigen auf, dass sich viele der reflektierten, kontinuierlich aktiven, technikorientierten Kollaborationskontexte nicht als dezidierte Alternative zu industriellen Formen der Produktion und Entwicklung einordnen lassen und sich in der Selbstbeschreibung auch nicht als solche verstehen (Tab. 1). Sowohl mit Blick auf ihre Koordinations- und Finanzierungsstrukturen als auch ihre Ausrichtung und ihre Zielgruppen können unternehmenszentrierte Innovation Labs, genossenschaftlich strukturierte Kollaborationszusammenhänge wie OSADL und professionalisierte, als GmbH betriebene Makerspaces vorrangig als Komplement zu eingespielten korporativen F&E-Aktivitäten und Kooperationsweisen charakterisiert werden. Dieses Ineinandergreifen von offenen und firmeneigenen Innovationsaktivitäten ist an sich kein neues Phänomen, sondern wurde bereits von Allen (1983) unter dem Begriff Collective Invention mit Verweis auf zahlreiche Beispiele aus der Frühindustrialisierung beschrieben. Einen explizit auf Dezentralisierung und Selbstbefähigung gerichteten Impetus verfolgen hingegen offene und dem Anspruch nach heterarchisch strukturierte Selbsthilfewerkstätten, FabLabs und Hackerspaces, deren Koordination durch die Online-Technologien erhebliche Vereinfachung erfährt. Ab einer gewissen Größe bilden sich allerdings auch in diesen Projektzusammenhängen klare Zentrum-Peripherie-Differenzierungen mit eindeutigen Einflussasymmetrien heraus, ebenso wie sich die Abhängigkeiten zu externen Partnern ob der hohen Anschaffungskosten und regelmäßiger Finanzierungsbedarfe, die sich nicht alleine durch Nutzungs- und Mitgliedsbeiträge decken lassen, in der Regel intensivieren. Insbesondere mit Blick auf lokal verankerte Selbsthilfewerkstätten zeigt sich allerdings, dass zur Finanzierung offener Kollaborationskontexte nicht zwangsläufig nur Unternehmen, sondern auch öffentliche Förder- und Bildungseinrichtungen sowie zivilgesellschaftliche Stiftungen und NGOs beitragen können. Vor allen Dingen in diesen für Amateure und Laien niederschwellig zugänglichen Labs und Werkstätten, die sich bislang noch mehrheitlich als Nischenphänomene markieren lassen, ergeben sich auf der einen Seite erweiterte Freiräume für individuelles Experimentieren, wechselseitiges Lernen und neue Formen der Zusammenarbeit, da sich mit der digitalen Transformation sowohl die Verfügbarkeit technischer Geräte erhöht als auch der Austausch von Anwendungswissen vereinfacht haben. Insofern bieten offene Werkstätten durchaus das Potenzial, ein Bewusstsein für alternative Wirtschafts- und Arbeitsweisen zu schaffen. Auf der anderen Seite tritt inzwischen allerdings hervor, dass sich die regelmäßigen (oft männlichen) Nutzenden solcher Angebote aus eng definierten Bevölkerungsmilieus speisen und sich in langfristigen Projektkontexten regelmäßig ho-
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Tabelle 1:
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Offene Labs und Werkstätten – idealtypische Ausprägungen Selbsthilfewerkstätten
Kollektiv verfasste Labs
Spezialisierte Entwicklungsprojekte
Korporativ betriebene offene Werkstätten
Unternehmenszentrierte Innovation Labs
Genossenschaftliche Labs
z. B.
DIY-Räu- FabLabs, Freifunk.net, als GmbH me, Repair Hackerspaces openwireless betriebene Cafés Makerspaces
Open Innova- OSADL tion Labs eG
Zweck
Reparatur, Lernen, Erproben
Wissensvermittlung, Umsetzung
Entwicklung Projektvon freien umsetzung, Infrastruktu- Vermietung ren
Umsetzung korporativ relevanter Ideen
Zielgruppen
Hobbyisten, Laien
Hobbyisten und Amateure
Informierte Hobbyisten und Amateure
Amateure, Freelancer, Unternehmen
Ausgewählte PartizipieStakeholder rende Unund Start-Ups ternehmen
Betreiber
Verein, Einzelpersonen
Verein, Bildungsstellen
Community, Verein
Betreibende Initiierendes GenossenGmbH Unternehmen schaft
Finanzierung
Nutzungs- Mitgliedsbei- Ressourcen gebühr, träge, (Sach-) der MitglieMiete, För- Spenden der, Fördederung rung
Koordination
Heterarchisch, meritokratisch
Heterarchisch, meritokratisch, demokratisch
Orientierung
Selbstbefähigung
Selbstbefähi- Kollaboragung, Zugang tion, Dezentralität
Quelle: Eigene Überlegungen
Mitgliedsbeiträge, Gebühren, Partner
HeterarHierarchisch, chisch demokratisch
Entwicklung von OSS für Mitglieder
Initiierendes MitgliedsUnternehmen beiträge (Unternehmen) Hierarchisch
Demokratisch, hierarchisch
Zugang (für (Zukünftige) Kunden) Märkte
Standardisierung, Markt
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mogene Kerngruppen herausbilden, wodurch die Partizipationsschwellen für Außenstehende ansteigen können. Jenseits aller technischen Ermöglichung scheint die weitere Verbreitung offener Werkstätten als Inkubatoren für alternative Wirtschafts- und Arbeitsweisen mithin an die Schaffung probater gesellschaftlicher Rahmenbedingungen gekoppelt zu sein. Dies betrifft zum einen die Anschlussfähigkeit entsprechender Angebote über ohnehin technikaffine Bevölkerungsgruppen hinaus, welche sich, wie einige Repair Cafés vor Augen führen, auch durch eine engere Anbindung an vorhandene Bildungsstellen (z. B. Schulen, Volkshochschulen, Bibliotheken) steigern lässt. Und das betrifft zum anderen eine intensivere und dauerhafte politisch-öffentliche Förderung nicht nur von einzelnen Labs und Makerspaces, sondern insbesondere von längerfristigen Entwicklungsvorhaben zur Erarbeitung eines übergreifenden und situationsüberdauernden soziotechnischen Ökosystems für offene und gemeinwohlorientierte Kollaborationszusammenhänge. Literatur Allen, R. (1983). Collective Invention. Journal of Economic Behavior and Organization, 4(1), 1-24. Anderson, C. (2013). Makers. The New Industrial Revolution. New York: Random House. Antoniadis, P. (2016). Local Networks for Local Interactions: Four Reasons Why and a Way Forward. In: First Monday 21(12). http://firstmonday. org/ojs/index.php/fm/article/view/7123/5661 (letzter Zugriff 01.10.2019). Baier, A., Hansing, T., Müller, C. und Werner, K. (2016). Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis. Bielefeld: Transcript. Benkler, Y. (2002). Coase's Penguin, or, Linux and ‚The Nature of the Firm‘. Yale Law Journal, 112(3), 369-446. Blome-Drees, J., Bøggild, N., Degens, P., Michels, J., Schimmele, C. und Werner, J. (2016). Potenziale und Hemmnisse von unternehmerischen Aktivitäten in der Rechtsform der Genossenschaft. Münster: Lit. Cavalcanti, G. (2013). Is it a Hackerspace, Makerspace, TechShop, or FabLab? Make. http:// makezine.com/2013/05/22/the-difference-between-hackerspaces-makerspaces-techshops-andfablabs (letzter Zugriff 01.10.2019). Capek, P., Frank, S., Gerdt, S. und Shields, D. (2005). A history of IBM’s open-Source involvement and strategy. IBM Systems Journal, 44(2), 249-257. Chesbrough, H. W. (2003). Open Innovation: The new Imperative for Creating and Profiting from Technology. New York: Harvard Business Press. Chesbrough, H. W. (2017). The future of open innovation. Research-Technology Management, 60(1), 35-38. Dickel, S. (2019). User Labs. In: Blättel-Mink, B., Schulz-Schaeffer, I. und Windeler, A. (Hrsg.). Handbuch Innovationsforschung. Wiesbaden: Springer VS. Online first. DOI: 10.1007/978-3658-17671-6. Emde, M. (2014). Alles offenzulegen, ist das große Geheimnis. Interview. Mechatronik, 1-2, 22-23. FabFoundation (2019). How to Start a Fab Lab. http://www.fabfoundation.org/index.php/setting-upa-fab-lab/index.html (letzter Zugriff 01.10.2019).
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Mehr individuelle Beteiligung durch stärkere kollektive Mitbestimmung – gerade in einer globalisierten und digitalisierten Arbeitswelt Michael Bolte Abstract Um die zweifellos in unserer individualisierten Gesellschaft vorhandenen Bedürfnisse nach mehr individueller Beteiligung am Arbeitsplatz realisieren zu können, bedarf es einer weiterentwickelten und deutlich gestärkten kollektiven Mitbestimmung. Diese zentrale These widerspricht einer oft gehörten Zukunftsvorhersage, dass Selbstbestimmung an die Stelle der Mitbestimmung treten wird, es in der digitalisierten Arbeitswelt also keinen Bedarf an kollektiven Interessenvertretungsstrukturen mehr gibt. Basierend auf der gewerkschaftlichen Offensive Mitbestimmung wird insbesondere die Weiterentwicklung der kollektiven Mitbestimmungsstrukturen in den Fokus genommen. Zum einen lässt sich ein Zuwachs von individueller Beteiligung nur mit Hilfe von schützenden Leitplanken ermöglichen, die wiederum nur kollektiv durch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen realisiert werden können. Zum anderen müssen sich allerdings auch die Mitbestimmungsstrukturen und -prozesse weiterentwickeln (können). Eine reine Stellvertreterpolitik durch Interessenvertretungsgremien ist aufgrund von heterogener werdenden Wünschen und Bedürfnissen der Menschen immer weniger praktikabel.1 Anhand von betrieblichen Beispielen wird der Frage nachgegangen, wie Beschäftigte an kollektiven Mitbestimmungsprozessen beteiligt werden können, um letztendlich ein Mehr an individueller Selbstbestimmung zu erreichen.
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Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_18
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Einleitung
Der 4. Februar 1920 jährte sich jüngst zum 100. Mal. Dieser Mittwoch war ein besonderer Tag, nicht nur weil der damalige Reichspräsident Friedrich Ebert seinen 49. Geburtstag beging. Vielmehr trat am 4. Februar 1920 das Betriebsrätegesetz in Kraft – der Ursprung der noch heute gültigen Betriebsverfassung in Deutschland. Nach Außerkraftsetzung durch die Nationalsozialisten machte das Kontrollratsgesetz Nr. 22 von 1946 den Anfang. Dem folgte 1952 das Betriebsverfassungsgesetz, das 1972 grundlegend neugefasst und 2001 das letzte Mal reformiert wurde. Der nahende 100. Geburtstag löst ambivalente Reaktionen aus. Eine davon ist zurecht der Wunsch, dem Erfolgsmodell Mitbestimmung zu seiner Beständigkeit gratulieren zu wollen. 1.1
Zur Beständigkeit gratulieren…
Sozialpartnerschaftliche Gestaltung auf Tarif- und Betriebsebene ist eine tragende Säule der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland – in Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität genauso wie in der Krise. Nicht ohne Grund ist die positive Rolle der betrieblichen Mitbestimmung – insbesondere in der Krise 2008/09 – vielfach herausgehoben worden. Stellvertretend für die vielen anderen Würdigungen bezeichnete der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck (2016) die Mitbestimmung als ein „Kernelement der Kooperationskultur“. Selbstverständlich herrschen in tarifgebundenen Betrieben mit Betriebsrat bessere Arbeitsbedingungen als in nicht tarifgebundenen ohne Interessenvertretung. Ein offenes Geheimnis ist überdies, dass diese mitbestimmten Betriebe im Schnitt auch wirtschaftlich besser dastehen (Jirjahn 2010) – Mitbestimmung ist also nicht nur ein Gewinn für die Beschäftigten, sondern auch für die Betriebe. 1.2
… oder den Stillstand überwinden?
Eine kollektive Interessenvertretung sorgt in der überwiegenden Mehrzahl der mitbestimmten Betriebe und Dienststellen für mehr Demokratie, gibt den Beschäftigten eine Stimme und macht sie so erst zu Bürgern im Betrieb. Es mehren sich aber auch Negativbeispiele: Wahlbehinderungen oder sogar -verhinderungen, unzureichende Einbindung von Betriebs- und Personalräten, Verneinung legitimierter Mitbestimmungsrechte u. v. m. (Behrens und Dribbusch 2017). Die Mängelliste im Betriebsratsalltag ist lang. Zwar stellen Nienhüser et al. (2016, S. 161) fest, dass die Einstellung zur Mitbestimmung in der Gesamtgesellschaft
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weiterhin „überaus positiv“ ist, finden aber bei einer einzigen abgrenzbaren Personengruppe auch in großem Maße negative Einstellungsmuster: bei Arbeitgebern. Auch wenn die Zahlen für 2018 Anlass zur Hoffnung auf eine Trendwende geben, sinkt die Tarifbindung in Deutschland ebenso wie die Abdeckung der Betriebe durch Betriebsräte (Ellguth und Trinczek 2016) seit Jahren langsam, aber leider kontinuierlich (vgl. zur Tarifbindung Kohaut 2019 und zu den Betriebsräten Ellguth 2019). Demnach drängt sich auch eine andere Reaktion als die Gratulation zum 100. Geburtstag auf: der Wunsch, den andauernden „mitbestimmungspolitischen Stillstand“ (Hoffmann 2016, S. 6) endlich überwinden zu wollen. Dabei fußt die Betriebsverfassung auf der Annahme, dass der kontinuierliche Veränderungsprozess der Arbeitswelt eine ebenso stetige Anpassung der Mitbestimmungsrechte zur Folge haben sollte. In der Beschlussempfehlung zum Betriebsverfassungsreformgesetz 2001, also der bis dato letzten Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, ist die gewollte Dynamisierung deutlich benannt: „Die Strukturen in den Betrieben und Unternehmen haben sich in den letzten Jahren grundlegend geändert, ohne dass die organisationsrechtlichen Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes angepasst worden sind. Die Zahl der Betriebsräte ist zurückgegangen. Die Reform soll die betriebliche Mitbestimmung im Interesse der Beteiligung und Motivation der Arbeitnehmer stärken sowie Arbeitgebern und Betriebsräten wieder eine zukunftsfähige Grundlage für ihre Zusammenarbeit schaffen. Um eine moderne und flexible Betriebsverfassung zu schaffen, die in der Lage ist, die bestehende Wirklichkeit in den Unternehmen und Betrieben einzufangen, Spielraum auch für die Zukunft zu geben und die zunehmende Erosion der betrieblichen Mitbestimmung zu stoppen, sieht der Gesetzentwurf folgende wesentliche Neuerungen vor: ...“ (Deutscher Bundestag 2001a, S. 1f)
Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung, die man in diesem Kontext als eine Beschleunigung von Veränderungen fassen könnte, wird die Notwendigkeit einer dynamischen Betriebsverfassung überdeutlich. Noch einen Schritt weitergedacht, sollten sich die gesetzlichen Regelungen nicht reaktiv zur Arbeitswelt verhalten, sondern – im metaphorischen Sinne – die arbeitsweltlichen Strömungen vorwegnehmen und damit ihre sozialpartnerschaftliche Gestaltung erst ermöglichen. 2
Zeit für einen neuen Versuch
Es ist Zeit für einen neuen Anlauf, den mitbestimmungspolitischen Stillstand zu überwinden. Einen detaillierten Vorschlag zur Reform der gesetzlichen Grundlagen und einer Erweiterung und Modernisierung der Mitbestimmungsrechte
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haben der DGB (2016) und seine Mitgliedsgewerkschaften mit der Offensive Mitbestimmung präsentiert. Erweiterte Mitbestimmungsrechte sind aber nur ein Teil der aktuellen Herausforderung, die Betriebsverfassung für die sozialpartnerschaftliche Gestaltung von Guter Arbeit in einer digitalisierten Arbeitswelt fit zu machen. Unter dem Stichwort Individualisierung kommt ein gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozess hinzu, der natürlich auch Auswirkungen darauf hat, was die Beschäftigten von ihren Betriebsräten erwarten. „Gleichzeitig haben sich auch die Ansprüche der Arbeitnehmer an ihre Interessenvertretung geändert. Viele Arbeitnehmer haben an ihrem Arbeitsplatz einen breiten Entscheidungsspielraum bekommen, der mit einer entsprechenden Verantwortung einhergeht. Sie erkennen die Notwendigkeit einer betrieblichen Interessenvertretung an, wollen jedoch stärker in die Angelegenheiten miteinbezogen werden, die sie selbst oder ihre unmittelbare Arbeitsumgebung betreffen. Sie wollen die Themen mitbestimmen, denen sich der Betriebsrat annehmen soll und wollen in Prozesse integriert werden, die zu wichtigen Entscheidungen des Arbeitgebers über Inhalt sowie Bestand des Arbeitsverhältnisses oder zur Gestaltung der Arbeitsorganisation führen.“ (Deutscher Bundestag 2001b, S. 25)
Diese Zeilen klingen hochaktuell, stammen aber wiederum aus dem Entwurf des Betriebsverfassungsreformgesetzes von 2001, sind also knapp 20 Jahre alt und zudem – um dies vorweg zu nehmen – leider immer noch nicht erfüllt. Die Interessen der Beschäftigten werden in Summe betrachtet heterogener. Hinzu kommt, dass – aus Betriebsratssicht – nicht nur die Interessen divergieren, sondern auch die Beschäftigtengruppen selbst vielfältiger werden. Die Frage, für welche Personengruppen im Betrieb2 ein Betriebsrat eigentlich zuständig ist (Leih- und Werkvertragsbeschäftigte, Dual Studierende, Beschäftigte outgesourcter Betriebsteile etc.), ist nicht mehr in allen Fällen trivial. Für Betriebsund Personalräte wird es komplexer, zunehmend divergierende Interessen zur Zufriedenheit aller Beschäftigten zu vertreten. In den Betrieben und Dienststellen formulieren letztere selbstbewusster denn je den Wunsch nach individuellen Gestaltungsoptionen. Im Hinblick auf die lauter werdenden Forderungen der – oft gut qualifizierten – Beschäftigten nach mehr Selbstbestimmung, sprachen nicht wenige schon 2001 vom Ende der Betriebsräte als Instrumente einer reinen – und scheinbar veralteten – Stellvertreterpolitik. „Selbstbestimmung statt Mitbestimmung“ (Kotthoff 2001, S. 11) war bei vielen das Motto der Stunde. Und heute – in Zeiten der Digitalisierung, also einer erneuten Phase der dynamischen Veränderungen – werden diese Stimmen wieder lauter. Sattelberger sieht nicht nur in einem Ma2
Neben dem Arbeitnehmerbegriff bedarf auch der Betriebsbegriff einer Aktualisierung (DGB 2016, S. 9).
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nagement des Befehls und Gehorsams ein Hindernis auf dem Weg zum Unternehmensbürger. Diese Rolle schreibt er auch pauschal den Betriebsräten und Gewerkschaften zu, die seiner Meinung nach „lernen [müssen; M.B.], dass die Unmenge an Schutzrechten in den Zeiten des industriellen Turbo-Kapitalismus nötig war, im Übergang zur digitalisierten Ökonomie jedoch zunehmend untauglich oder gar kontraproduktiv ist“ (Sattelberger 2015, S. 13). Bei den Verfechtern von Selbstbestimmung statt Mitbestimmung wird dabei gern verschwiegen, dass diese Selbstbestimmung vollständig von der Gunst des Arbeitgebers abhängig ist – ohne kollektiven Schutz also jederzeit und ohne Begründung auch wieder genommen werden kann. Mitbestimmungsrechte auf Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes sind völlig zu Recht an das Betriebsratsgremium gebunden. Nur dieses genießt einen besonderen Schutz, damit es auch selbstbewusst mit dem Arbeitgeber auf Augenhöhe streiten kann. Gibt es keinen Betriebsrat, verfallen diese Rechte. Sie können weder von sogenannten alternativen Vertretungsorganen (Hauser-Ditz et al. 2009) noch von einzelnen Beschäftigten in Anspruch genommen werden. Dieser Zusammenhang wurde beispielsweise beim Hamburger Spieleentwickler goodgame (vgl. Demling 2016) idealtypisch deutlich. Trotz öffentlicher Berichterstattung und offensichtlich rechtswidriger Behinderung einer Betriebsratswahl wurde beim damaligen Branchenprimus mit mehr als 1.000 Mitarbeitern ein alternatives Vertretungsorgan vom Arbeitgeber eingesetzt. Allerdings geriet die Firma bald darauf in Schieflage und musste mehrere Hundert Beschäftigte entlassen. Da es keinen rechtmäßig gewählten Betriebsrat gab, geschah dies ohne Sozialplan für die Beschäftigten. Kollektive Mitbestimmung ist weiterhin essentiell, um gute Arbeitsbedingungen zu gestalten und zu erhalten. Statt mitbestimmungspolitischem Stillstand ist im Gegenteil eine Stärkung und Erweiterung der Mitbestimmung notwendig: also mehr individuelle Selbstbestimmung durch erweiterte kollektive Mitbestimmung. 3
Hybride Beteiligung – von der Ausnahme zur Regel
Im Jahr 2001 wurden im Betriebsverfassungsreformgesetz neue Partizipationsmöglichkeiten für Beschäftigte eingeführt – verstanden als eine Art hybride Beteiligung. Die Beschäftigten können – in Ausnahmefällen und unter ganz bestimmten Voraussetzungen – in den Mitbestimmungsprozess eingebunden werden. Kurz gefasst spielen die neuen Beteiligungsmöglichkeiten in der betrieblichen Praxis aus verschiedensten Gründen bis heute so gut wie keine Rolle (Be-
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cker et al. 2008; Weigel und Vogel 2018). Das Betriebsverfassungsreformgesetz ist hinter seinen eigenen Ansprüchen zurückgeblieben. Andere gesetzliche Möglichkeiten, die Beschäftigten an der Gestaltung ihrer eigenen Arbeitswelt umfassender zu beteiligen, wurden bis heute nicht geschaffen. Idealtypisch steht dem die Erwartungshaltung der individualisierten Beschäftigten gegenüber: Eine eigenständige Gestaltung weiter Teile der eigenen Arbeitsbedingungen sollte die Regel sein und nicht die seltene Ausnahme. Beteiligung von Beschäftigten an der (sozialpartnerschaftlichen) Gestaltung von Arbeitsbedingungen hat damit (mindestens) zwei Ebenen: eine kollektive und eine individuelle. Zum einen die Einbindung von Beschäftigten in kollektive Prozesse. Diese direkte Einbindung in Prozesse, die scheinbar ausschließlich von gewählten Stellvertretern betrieben werden, hat eine lange gewerkschaftliche Tradition – beispielsweise in einem Kerngebiet der Gewerkschaften, der Tarifpolitik. Relativ am Anfang einer Tarifrunde steht idealtypisch die Diskussion über die Forderungen. Diese werden von den Gewerkschaftsmitgliedern in den Betrieben und Dienststellen intensiv diskutiert, die Ergebnisse werden gesammelt und schließlich von einer zentralen Stelle zu einem Forderungskatalog verdichtet. Der Kreis schließt sich nach den Verhandlungen, wenn die Verhandlungsergebnisse wiederum von den Mitgliedern der Gewerkschaftsbasis angenommen werden müssen. Positive Folge der Beteiligung von Beschäftigten ist eine Erhöhung der Zielgenauigkeit ihrer Interessenvertretung. Dieses Prinzip betrifft die Arbeit von Betriebsräten bzw. von Gewerkschaften und gewerkschaftlichen Gremien, also von kollektiven Mitbestimmungsprozessen im Allgemeinen. Denn wie beschrieben werden die Interessen der Beschäftigten zunehmend heterogener und damit auch von den Betriebsräten schwieriger zu vertreten. Man denke allein an die vielen verschiedenen individuellen Interessenlagen bzgl. souveräner Gestaltung der eigenen Arbeitszeit, die den betrieblichen Flexibilisierungsanforderungen nicht schutzlos preisgegeben werden dürfen (Reuyß et al. 2016). Das ist aber nur eine Ebene der Beteiligung. Individuelle Gestaltungsspielräume der Beschäftigten müssen als weitere Ebene hinzukommen, um dem gesamtgesellschaftlich durch die Individualisierung vorangetriebenen Veränderungsprozess Tribut zu zollen. 4
Gute Beispiele weisen den Weg
Für die zentralen Tarifforderungen – also vor allem Wochenarbeitszeit und Entgelt – ist der beschriebene Beteiligungsprozess der Gewerkschaftsmitglieder eingespielt. Die Praxis zeigt eine Weiterentwicklung bzw. eine Ausweitung auf
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neue Themen. Aktuelle Tarifverträge erreichen eine neue Qualität bezüglich betrieblicher Öffnungsklauseln und der individuellen Wahlmöglichkeiten, wie zuerst das Beispiel des Tarifvertrags von 2016 der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) mit der Deutschen Bahn AG zeigte. Die stellvertretende Vorsitzende und Verhandlungsführerin der EVG, Regina Rusch-Ziemba (2016), stellt die Bedeutung der Ergebnisse einer Mitgliederbefragung wie folgt dar: „Die Befragung hat kein eindeutiges Meinungsbild für eine allgemeine Forderung nach mehr Urlaub, mehr Geld oder einer Arbeitszeitverkürzung ergeben. Die Interessen und Bedürfnisse unserer Mitglieder sind ganz unterschiedlich. Unser erklärtes Ziel war es deshalb, eine überzeugende und das Votum der Mitglieder aufgreifende Lösung zu finden. Dazu mussten wir weg von den traditionellen Herangehensweisen.“
Die tariflichen Sozialpartner setzten erstmals auf ein Wahlmodell bzgl. der vereinbarten zweistufigen Entgelterhöhung von insgesamt 5,1 %. Die Beschäftigten der Deutschen Bahn AG können nach diesem Tarifvertrag wählen, in welcher Form sie die zweite Stufe (2,6 %) des Tarifabschlusses erhalten möchten: 2,6 % Lohnerhöhung, sechs Tage zusätzlichen Urlaub oder lieber eine um eine Stunde verkürzte Wochenarbeitszeit. Der Tarifabschluss galt nicht unmittelbar auf betrieblicher Ebene, sondern musste über Betriebsvereinbarungen umgesetzt werden, so dass letztlich individuelle Gestaltungsoptionen realisiert werden konnten. Die Beschäftigten entschieden ausschließlich nach eigener Interessenlage – eine Genehmigung des Arbeitgebers war im Regelfall nicht notwendig. In der deutschen Tariflandschaft war das ein Novum. Und es wurde von den Beschäftigten gut angenommen – die Entnahmen in Form des erhöhten Monatsentgelts (42%) oder in Form eines erhöhten Jahresurlaubs (56 %) halten sich die Waage, allein die Verminderung der Wochenarbeitszeit wurde weniger nachgefragt. Inzwischen ist die EVG-Wahloption nach Auslaufen des Tarifvertrags von 2016 auch im Folgevertrag übernommen – die individuelle Wahloption ist damit wiederum erweitert worden. Auch in anderen Tarifverträgen wurden letztlich erfolgreich größere individuelle Wahloptionen vereinbart. So sieht das Potsdamer Modell – verhandelt von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) Nordost und dem Arbeitgeberverband Nordostchemie für die ostdeutschen Bundesländer – einen individuell zu gestaltenden Arbeitszeitkorridor zwischen 32 und 40 Wochenstunden vor. Mit einem Tarifabschluss zur Wahlarbeitszeit kann ab Beginn des Jahres 2018 auch die Metall- und Elektroindustrie aufwarten – vereinbart haben ihn die IG Metall und der Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Im Zentrum steht hier eine Wahlmöglichkeit bezüglich einer reduzierten Vollzeit (bis zu 28 Std./Woche) und die Wahl der Umwandlung eines Teils des Tariflichen Zusatzgeldes (T-Zug)
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für bestimmte, besonders belastete Personengruppen wie Eltern mit kleinen Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen und Menschen in Schichtarbeit. Im Gegenzug erhalten die Betriebe erweiterte Möglichkeiten der Arbeitszeitflexibilisierung. Auf Basis von Haustarifverträgen wurden teilweise noch weitergehende Optionsräume geschaffen, im Organisationsbereich von ver.di etwa bei der Deutschen Post oder beim Nahverkehr Bayern. Direkte Folge der umfangreichen Einbindung von Gewerkschaftsmitgliedern in die Forderungsdiskussion war und ist eine zielgenauere Abbildung der Beschäftigteninteressen. Mehr direkte Beteiligung der Beschäftigten erhöht zudem die Transparenz der Mitbestimmungsprozesse und damit gleichzeitig die Akzeptanz der Akteure. Obwohl die Betriebsratswahlen ohnehin regelmäßig eine höhere Wahlbeteiligung als politische Wahlen haben – 2018 waren es 75,5 % durchschnittliche betriebliche Wahlbeteiligung (Demir et al. 2018) –, steigern direkte Beteiligungsmöglichkeiten zusätzlich die demokratische Legitimation der Arbeit von Betriebsräten und Gewerkschaften. Es lohnt deshalb darüber nachzudenken, ob nicht weitere Gestaltungselemente in die Hände der Beschäftigten selbst gelegt werden können und welche Rahmungen dafür erforderlich wären. 5
Betriebsvereinbarungen als Leitplanken für individuelle Gestaltung
Betriebsvereinbarungen nehmen nicht nur Themen aus tariflichen Öffnungsklauseln auf, sondern setzen auch darüber hinaus auf aktuelle Formen der Beteiligung, um den Beschäftigten mehr individuelle Gestaltungsoptionen zu ermöglichen. Ein typisches Beispiel dafür wurde 2018 mit dem Deutschen BetriebsrätePreis in der Kategorie Innovative Betriebsratsarbeit ausgezeichnet (Herrmann 2019): Der Betriebsrat von Volkswagen Hannover hat sich auf die Fahnen geschrieben, zusammen mit den Beschäftigten ein Produktionskonzept für elektrisch betriebene Fahrzeuge zu entwickeln, das nicht ausschließlich den Unternehmensinteressen einer effektiveren digitalen Fertigungslinie entspricht, sondern auch die berechtigten Interessen der Beschäftigten nach ‚Guter Arbeit‘ berücksichtigt. Als Ergebnis steht ein sehr umfassendes Gestaltungskonzept, das Themen der Qualifizierung, der Arbeitszeitflexibilisierung und Leistungsvereinbarungen ebenso umfasst wie Fragen der Führungskultur oder des Einsatzes von neuen Technologien. Für die zielgenaue Ausgestaltung der vielfältigen Maßnahmen
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und Prozesse sorgten etliche Workshops mit den jeweils betroffenen Beschäftigten, deren Ergebnisse vorerst in eine Pilotvereinbarung einflossen, die nun erprobt und optimiert werden kann. Auffällig ist die Erkenntnis von Betriebsrat und Personalabteilung, dass die Beschäftigteninteressen nicht – wie vielleicht noch vor zehn Jahren – automatisch als bekannt gelten können, sondern aktiv mit ihnen erarbeitet werden müssen. Doch nicht nur bzgl. der Beteiligungsformen ist ein Paradigmenwechsel bei der sozialpartnerschaftlichen Gestaltung von Guter Arbeit im Gange, sondern auch in der Gewährung von individuellen Frei- und Gestaltungsräumen. Kaum ein Themengebiet wird dabei auf allen Ebenen, aber natürlich auch im Betrieb so kontrovers diskutiert wie das mobile Arbeiten bzw. als Sonderfall davon das Homeoffice. Die teilweise gegensätzlichen Interessen der verschiedenen Beschäftigtengruppen werden hier besonders deutlich – die Arbeitszeitwünsche reichen von völlig regellos und spontan, wann und wie lange die Beschäftigten arbeiten möchten, bis hin zu möglichst planbaren und regelmäßigen Arbeitszeiten mit frühzeitiger Festlegung. Und selbstverständlich müssen sich Arbeitgeber und Beschäftigte nicht darüber einig sein, wann, wie lange und zu welchem Preis ihre Arbeitsleistung abrufbar sein soll. Auch hier haben sich Eckpunkte für eine neue Herangehensweise gebildet.3 Im Zentrum steht dabei, Homeoffice nicht mehr als Incentive für einige wenige zu betrachten, sondern den Beschäftigten grundsätzlich das Recht zu geben, sich begründungsfrei für (oder gegen) mobile Arbeit zu entscheiden. Gerade im Vergleich mit den Vereinbarungen zur Teleheimarbeit, die seit den 1990er Jahren noch in vielen Betrieben und Dienststellen gelten, werden die Unterschiede deutlich. Die Beschäftigten sind nicht mehr der Gunst des Vorgesetzten ausgeliefert, den sie um die Erlaubnis bitten müssen, von zu Hause aus arbeiten zu dürfen. Stattdessen sind es die Vorgesetzten, die im Zweifel belegen müssen, warum mobile Arbeit im Einzelfall aus betrieblichen Gründen nicht möglich ist. Die Betriebsvereinbarung bildet nur noch einen Rahmen für die Entscheidungen der Beschäftigten. Auch die sich daraus ergebenden konkreten Abstimmungsprozesse verlaufen dezentraler als zu Zeiten der Teleheimarbeit. Abgestimmt und ggf. angepasst wird die konkrete Ausgestaltung von den Beschäftigten selbst, zusammen mit den Personen, die direkt betroffen sind – also das eigentliche Team (Arbeitsgruppe, Abteilung) und direkte Vorgesetzte. Betriebsrat, Personalabteilung etc. sind mitunter in diese Abstimmungsprozesse gar nicht eingebunden, sondern treten erst dann in Erscheinung, wenn diese zu scheitern drohen. (Nies und Vogl 2013) 3 Als erstes bekannt geworden ist die Vereinbarung zur mobilen Arbeit bei BMW, weil sie 2014 den Betriebsräte-Preis in Gold bekam. Inzwischen gibt es ähnlich lautende Vereinbarungen in vielen Unternehmen.
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Fazit
Beschäftigte in einer individualisierten und digitalisierten Arbeitswelt haben nicht immer andere Interessen als vor 50 Jahren, aber mit Sicherheit weniger einheitliche. Das macht die Aufgabe der Betriebsräte, diese Interessen zu erfassen und letztlich zu vertreten, zunehmend schwieriger. Die mit dem Betriebsverfassungsreformgesetz 2001 eingeführten Möglichkeiten zur Beteiligung von Beschäftigten am kollektiven Mitbestimmungsprozess der Betriebsräte sind – trotz berechtigter juristischer Kritik – weiterhin gut und wichtig, aber nur eine Seite der Medaille. Mindestens ebenso wichtig wird es für Betriebsräte (und auch für Unternehmen bzw. ihre Personalabteilungen, die an einer erhöhten Bindung ihrer Beschäftigten – Stichwort: Fachkräftemangel – interessiert sind) sein, Leitplanken für die Beschäftigten zu setzen, damit diese ihre eigenen Arbeitsbedingungen mit dem Arbeitgeber auf Augenhöhe verhandeln können. Selbstbestimmung lässt sich nur auf der Basis von kollektiver Mitbestimmung bzw. von kollektivem Schutz nachhaltig erreichen. Um Gute Arbeit in einer digitalisierten Arbeitswelt gestalten zu können, müssen Mitbestimmungsprozesse transparenter und zielgenauer werden und die beschriebenen Beteiligungsebenen noch besser ineinandergreifen: zum einen die Beteiligung der Beschäftigten am Mitbestimmungsprozess und zum anderen die selbstverantwortliche Gestaltung der eigenen individuellen Arbeitsbedingungen. Diese Ebenen bedingen einander – ohne Mitbestimmung wird es keine Selbstbestimmung geben und umgekehrt. Literatur Becker, K., Brinkmann, U. und Engel, Th. 2008. „Hybride Beteiligung“ im Betrieb? Sachkundige Beschäftigte und Arbeitsgruppen. WSI-Mitteilungen, 6, 305-311. Behrens, M. und Dribbusch, H. 2017. Wahlbehinderungen sind kein Einzelfall. Arbeitsrecht im Betrieb, 1, 14-16. Demeling, A. 2016. „Die Feel-Bad-Manager“, https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/ goodgame-betriebsrat-wird-vom-management-bekaempft-a-1072512.html (letzter Zugriff: 03.12.2019). Demir, N., Funder, M., Greifenstein, R., Kißler, L. und Maschke, M. 2018. Trendreport Betriebsratswahlen 2018. Mitbestimmungsreport Nr. 45. https://www.boeckler.de/pdf/p_mbf_report_ 2018_45.pdf (letzter Zugriff: 27.05.2019). Deutscher Bundestag. 2001a. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung – Drucksache 14/5741 – Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVerf-Reformgesetz), BTDrucksache 14/6352. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/063/1406352.pdf (letzter Zugriff 03.06. 2019).
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Freiraum des Betriebsverfassungsgesetzes für eine agile Mitbestimmung Thomas Hey und Marnie Plehn Abstract In Anbetracht der voranschreitenden Entwicklung neuer Arbeitsprozesse durch die Digitalisierung sieht sich das zuletzt 2001 umfassend reformierte BetrVG vor Herausforderungen gestellt. Die §§ 87, 97, 111 BetrVG zählen zu den wichtigsten Regelungen innerhalb der Debatte um technische Änderungen im Betriebsablauf und der Handhabung der Betriebsorganisation im Lichte digitaler Trends. Neben dem digitalen Fortschritt nehmen auch team- und grenzüberschreitende Arbeitsstrukturen zu, sodass der klassische Betriebsbegriff an Grenzen stößt, und auch bei der Betriebsratsarbeit wächst zunehmend der Wunsch und das Bedürfnis nach Digitalisierung. Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) liefert in einigen Bereichen gute Ansätze, um auf digitalisierungsbasierende Änderungen zu reagieren, insbesondere bei der Fortbildung von Arbeitnehmenden.1 Allerdings bergen andere Regelungen wie die zur zwingenden Mitbestimmung aufgrund ihrer allgemeinen Formulierungen noch Konfliktpotenzial. Die Rechtsprechung hat den Weg in eine digitale Betriebsverfassungswelt insbesondere durch ihre Erweiterungen des Betriebsbegriffes bereits vorgezeichnet. Letztlich ist aber der Gesetzgeber gefragt, flexible Normen zu schaffen, damit die Digitalisierung durch die gesetzlichen Strukturen nicht eingeengt, sondern gefördert wird. 1
Digitalisierung und Mitbestimmung – Wo gibt es Konflikte?
Die allgegenwärtige Digitalisierung wirkt sich auch auf die betriebliche Mitbestimmung aus. Die hohe Geschwindigkeit der Veränderung und Erweiterung digitaler Möglichkeiten wird aufgrund des Betriebsverfassungsgesetzes ausgebremst. Dies wird unter anderem am Beispiel der Betriebsratswahl deutlich, die strengen formellen Anforderungen unterliegt. Das BetrVG wurde zuletzt im Jahr 1
Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_19
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2001 reformiert. Diese Reform brachte vor allem Änderungen beim Betriebsbegriff, beim Wahlverfahren und dem Arbeitnehmerbegriff. Grundlegend bestehen die Vorschriften des BetrVG nahezu unverändert seit dem Jahr 1972.2 Neben geringfügigeren Gesetzesänderungen in der Zwischenzeit beruht die betriebliche Mitbestimmung im Grundsatz auf gesetzlichen Regelungen, die mindestens 18 Jahre alt sind. Diese kollidieren an verschiedenen Stellen mit dem technologischen Fortschritt. Unternehmen sind gezwungen, zum Erhalt ihrer Konkurrenzfähigkeit und zur Stärkung ihrer Attraktivität als Arbeitgeber in der globalisierten Welt mit den technischen Entwicklungen mitzuhalten. Die im BetrVG vorgesehenen Mechanismen der Betriebsratsbeteiligung sind oft starr und stehen der digitalen Weiterentwicklung des Unternehmens im Weg. Die Folgen dieser Kollision betreffen Arbeitgebende und Arbeitnehmende gleichermaßen: Unternehmen werden in ihrer wettbewerblichen Anpassungsfähigkeit eingeschränkt und die Effektivität der betrieblichen Mitbestimmung durch den Betriebsrat wird gemindert. 2
„Der Klassiker“, § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG
Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG wird immer praxisrelevanter. Nach dieser Vorschrift, die aus dem Jahr 1972 stammt, ist der Betriebsrat zwingend bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen zu beteiligen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen. 2.1
Wortlaut des Gesetzes und Auslegung des Bundesarbeitsgerichtes
Obwohl der Wortlaut des § 87 Abs.1 Nr. 6 BetrVG vorsieht, dass die technische Einrichtung zur Überwachung der Arbeitnehmer bestimmt sein muss, erweiterte das Bundesarbeitsgericht (BAG) den Anwendungsbereich der Vorschrift auf technische Einrichtungen, die zur Überwachung objektiv und unmittelbar geeignet sind.3 Die grundlegende Entscheidung des BAG dazu wurde im Jahr 1975 getroffen und begründete den umfassenden Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes des Arbeitnehmers.4 Diese sehr weitgehende Rechtsprechung ist heute, fast 45 Jahre später, kaum noch zeitgemäß. Jedes Smartphone ist inzwischen in der Lage, die Nutzeraktivi2 3 4
Vgl. JuS 2002, 521 ff.; https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw10-kalender blatt-mitbestimmungsgesetz-414734. Ständige Rspr. BAG, Beschl. v. 9. 9. 1975 – 1 ABR 20/74, NJW 1976, 261. BAG, Beschl. v. 9. 9. 1975 – 1 ABR 20/74, NJW 1976, 261 (262).
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täten nachzuverfolgen und zu speichern. Selbst einfache Microsoft OfficeAnwendungen können zum Erheben von verhaltens- und leistungsbezogenen Daten verwendet werden und auch moderne Kraftfahrzeuge sind regelmäßig mit einem GPS-Empfänger ausgestattet, über den der Standort des Dienstwagens durch den Arbeitgeber jederzeit abgerufen werden kann. Das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers ist im digitalen Zeitalter von mindestens genau so hoher Bedeutung wie im Jahre 1975, sodass das Mitbestimmungsrecht bei der Überwachung von Arbeitnehmern im Grundsatz auch heute noch wichtig ist. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung bleibt aber die Frage, wie die betriebliche Mitbestimmung effizienter gestaltet und im Einklang mit dem digitalen Fortschritt angepasst werden kann. 2.2
Möglichkeiten zur Optimierung des Mitbestimmungsprozesses
Es ist regelmäßig nicht das Mitbestimmungsrecht selbst, das den digitalen Fortschritt des Unternehmens einschränkt, sondern vielmehr der Mitbestimmungsprozess. Gerade bei der Einführung von technischen Einrichtungen bedarf es zunächst eines umfassenden Verständnisses von Betriebsrat und Arbeitgeber, wozu die einzelne Anwendung geeignet und imstande ist. Konflikte könnten in der Praxis oft dadurch entstehen, dass der Betriebsrat den Eindruck gewinnt, über die einzuführende Anwendung nicht ausreichend informiert zu sein. Im Zweifel versucht der Betriebsrat in diesen Fällen, auf eine Mitbestimmung hinzuwirken, um die Arbeitnehmer vor etwaigen verdeckten Eingriffen des Arbeitgebers zu schützen. Im Fall der verweigerten Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG führt dies die Betriebsparteien letztlich in die Einigungsstelle – im schlimmsten Fall nach mehreren Monaten interner Verhandlungen und anschließender gerichtlicher Einsetzung eines Vorsitzenden. Unter Umständen kann sich die Einführung einer technischen Einrichtung auf diese Weise über mehrere Jahre verzögern. Beim Verständnis der Anwendung ist es hilfreich, wenn sich die Betriebsparteien auf eine gemeinsame Wissensquelle einigen. In größeren Betrieben kann der Betriebsrat zur Vorbereitung des Verhandlungsprozesses zusätzlich einen ITAusschuss nach § 28 BetrVG bilden. Möglich ist auch die gemeinsame Beauftragung eines sachkundigen Arbeitnehmers oder eines externen Sachverständigen, der die technische Einrichtung und ihre Auswirkungen auf den Arbeitsalltag der Arbeitnehmer vorstellt.5 Initiativrecht als vielversprechende Möglichkeit im digitalen Umbruch Mit dem umfangreichen digitalen Umbruch der Arbeitsorganisation eröffnet auch das 5
Mit diesem Vorstoß ebenfalls, BMAS, Weißbuch Arbeiten 4.0, 159.
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seit 2001 bestehende Initiativrecht des § 97 Abs. 2 BetrVG neue Informationsund Mitbestimmungsmöglichkeiten des Betriebsrates.6 § 97 Abs. 2 BetrVG wird relevant, wenn der Arbeitgeber Änderungen im Betriebs- bzw. Arbeitsablauf plant, die besondere Fähigkeiten und Kenntnisse bei den Arbeitnehmern voraussetzen und absehbar ist, dass die betroffenen Arbeitnehmer diesen Qualifikationen nicht gerecht werden. Kostenintensive Investitionen wie Hardware, Software, dazugehörige Updates, computergesteuerte Maschinen sowie die Implementierung neuer Verfahren können fehlgehen, wenn die in den betroffenen Bereichen tätigen Arbeitnehmer abgehängt werden. Der Betriebsrat hat dabei im Wesentlichen drei Rechte: das Initiativrecht zur Ermittlung der Weiterbildungsmaßnahmen aus § 96 Abs. 1 Satz 2 BetrVG, ein Vorschlagsrecht bezüglich des Weiterbildungsbedarfs nach § 96 Abs. 1 Satz 3 BetrVG und ein Mitbestimmungsrecht bei der Durchführung digitaler Weiterbildungsmaßnahmen nach § 97 Abs. 2 S. 1 BetrVG. 2.3
Welche Schulungen kann der Betriebsrat fordern?
Gegenstand des Mitbestimmungsrechtes aus § 97 Abs. 1 BetrVG ist auch die Einführung betrieblicher Bildungsmaßnahmen. Dabei handelt es sich um Maßnahmen, die dem Arbeitnehmer Kenntnisse und Erfahrungen vermitteln, die der Ausfüllung seines Arbeitsplatzes und seiner beruflichen Tätigkeit dienen.7 Die Berufsbildungsmaßnahme muss deshalb einen Bezug zu den Arbeitsaufgaben des Arbeitnehmers aufweisen. Der Begriff der betrieblichen Bildungsmaßnahme ist dabei nach herrschender Ansicht nicht räumlich, sondern funktional zu verstehen: Es ist nicht relevant, ob die betriebliche Bildungsmaßnahme in der Betriebsstätte durchgeführt wird, sondern ob der Arbeitgeber die Maßnahme selbst veranstaltet oder trägt.8 Sofern der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung aufgrund von Umstrukturierungen, z. B. durch die Digitalisierung der Arbeitsmittel nicht mehr ordnungsgemäß ausführen kann, kann der Betriebsrat Bildungsmaßnahmen fordern, um das Qualifizierungsdefizit des Arbeitnehmers zu beseitigen. Das BetrVG differenziert dabei zwischen inner- und außerbetrieblichen Bildungsmaßnahmen. Maßgebliches Abgrenzungskriterium ist der tatsächliche oder rechtliche Einfluss, den der Arbeitgeber auf die Durchführung der Bildungsmaßnahme hat. 6 7 8
Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG § 97 Rn. 20. BAG Urteil v. 24.8.2004 – 1 ABR 28/03, NZA 2005, 371; Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/ Linsenmaier, BetrVG § 97 Rn. 21. Raab, NZA 2008, 270.
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Innerbetriebliche Bildungsmaßnahmen
Handelt es sich um eine innerbetriebliche Bildungsmaßnahme, so hat der Betriebsrat gemäß § 98 Abs. 1 BetrVG ein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der Durchführung der Maßnahme, aus § 98 Abs. 2 BetrVG ein Widerspruchsrecht hinsichtlich der beauftragten Person und gemäß § 98 Abs. 3 BetrVG ein Vorschlagsrecht bezüglich der teilnehmenden Arbeitnehmer. So können im Rahmen der innerbetrieblichen Bildungsmaßnahmen zum einen der Umgang mit veränderten digitalisierten Betriebsstrukturen (bspw. Schulungen im Umgang mit neuer Software) begleitet, als auch digitale Lernformate eigenständig angewandt werden, um die Qualifizierungsdefizite zu beseitigen. Bei der Einführung agiler Arbeitsmethoden muss daher für den Einzelfall ermittelt werden, ob das Qualifizierungsdefizit Schulungen notwendig macht. 2.3.2
Außerbetriebliche Bildungsmaßnahmen
Bei außerbetrieblichen Bildungsmaßnahmen hat der Betriebsrat lediglich ein Vorschlagsrecht gemäß § 98 Abs. 3 BetrVG hinsichtlich der teilnehmenden Arbeitnehmer. Dieses Vorschlagsrecht besteht jedoch nur, wenn der Arbeitgeber die Teilnehmer für die Bildungsmaßnahme freistellt oder die Kosten vollständig oder teilweise übernimmt.9 In dem Rahmen kann der Betriebsrat die besonders förderungsbedürftigen Arbeitnehmer auswählen und für die außerbetrieblichen Bildungsmaßnahmen vorschlagen. Jedoch kann der Betriebsrat nach § 97 Abs. 2 BetrVG gegen den Willen des Arbeitgebers nicht erreichen, dass Gewerkschaften oder gewerkschaftsnahe Einrichtungen digitale Weiterbildungsmaßnahmen für Arbeitnehmer durchführen.10 2.4
Effektivität im Rahmen der Digitalisierung
Das BetrVG bietet im Zusammenhang mit der digitalen Weiterbildung also Informations- und Initiativrechte, die dem Betriebsrat insgesamt effektive Möglichkeiten geben, Qualifikationsdefiziten zu begegnen. Zu beachten ist jedoch, dass die Komplexität moderner Informationssysteme umfangreiche betriebliche Änderungen nach sich zieht, die für den Arbeitgeber sehr teuer sein können. Damit einhergehend sind folglich auch kostspielige Schulungsmaßnahmen, die den Arbeitgeber finanziell überfordern könnten. Im Fall des § 98 Abs. 1 BetrVG besteht das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates lediglich hinsichtlich des 9 Raab, NZA 2008, 270. 10 Kleinebrink, DB 2018, 254.
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„Wie“ und nicht des „Ob“ der Bildungsmaßnahme, sodass die Entscheidung der Durchführung bei dem Arbeitgeber alleine verbleibt.11 Dagegen können gemäß § 97 Abs. 2 BetrVG im Anschluss an Digitalisierungsmaßnahmen umfangreiche Schulungen der Belegschaft im Hinblick auf das dadurch entstehende Qualifikationsdefizit notfalls im Wege der Anrufung einer Einigungsstelle durch den Betriebsrat erzwungen werden, wobei in diesem Fall die Einigungsstelle über das „Ob“ und „Wie“ der betrieblichen Bildungsmaßnahme entscheidet.12 Soweit sich der Arbeitgeber jedoch die Entscheidung über die Digitalisierungsmaßnahmen oder der konkreten technischen Änderungen vorbehält, können noch keine Maßnahmen erzwungen werden.13 Letztlich kann der Arbeitgeber die Einigungsstelle aber im Streitfall kaum vermeiden. Es empfiehlt sich daher, den Betriebsrat frühzeitig einzubeziehen, wenn absehbar wird, dass Bildungsmaßnahmen sinnvoll werden, um Verzögerungen vorzubeugen. 3
Wo bleibt es bei einem reinen Informationsrecht?
Das Betriebsverfassungsrecht eröffnet dem Betriebsrat allgemein Informationsrechte bezüglich seiner Aufgaben (§ 80 Abs.1 BetrVG). In Bezug auf strukturelle Änderungen im Rahmen von Digitalisierungsmaßnahmen innerhalb des Betriebes ermöglicht das Betriebsverfassungsrecht dem Betriebsrat gemäß § 90 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG zusätzlich ein Informationsrecht über die Planung von technischen Anlagen seitens des Arbeitgebers und insofern eine frühzeitige Möglichkeit des Betriebsrates, sich mit strukturellen technischen bzw. digitalen Änderungen innerhalb des Betriebes zu befassen.14 Der Begriff der technischen Anlage erfasst dabei Maschinen, Geräte, Roboter, Computer und Hilfsmittel, die unmittelbar oder mittelbar dem Arbeitsablauf dienen, ihn ermöglichen oder erleichtern sollen, und bezieht sich sowohl auf den Fabrikations- als auch den Verwaltungsbereich.15 Dieses Informationsrecht steht im Wechselspiel mit dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 97 Abs. 2 BetrVG. Solange die Durchführung von Bildungsmaßnahmen noch nicht geplant ist oder erforderlich wird, bleibt es zwar 11 Raab, NZA 2008, 270, 272 ; BAG, Urteil vom 24.8.2004 – 1 ABR 28/03, NZA 2005, 371. 12 Raab, NZA 2008, 270, 272; Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG § 97 Rn. 34. 13 Richardi BetrVG/Thüsing, BetrVG § 97 Rn. 18. 14 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG § 90 Rn. 8. 15 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier,BetrVG § 90 Rn. 20a, 21; DKKW/Klebe, BetrVG, § 90 Rn. 8.
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bei einem reinen Informationsrecht. Letztlich sichert das Informationsrecht aber die effektive Wahrnehmung des Mitbestimmungsrechtes gemäß § 97 Abs. 2 BetrVG, da schon im Rahmen der Planung einer Einführung technischer Anlagen eine Information durch den Arbeitgeber erfolgen muss. 4
„Der digitale Betriebsrat“
Die Digitalisierung im Unternehmen betrifft zwar überwiegend die Optimierung von Arbeitsprozessen, wirft aber gleichzeitig die Frage auf, ob die Einrichtung von digitalen Strukturen bei der Betriebsratswahl und der Betriebsratstätigkeit zweckmäßig und wirtschaftlich ist. Dabei sind die Betriebsratswahl, die Betriebsratssitzungen sowie Beschlüsse und Betriebsversammlungen aus praktischer Sicht grundsätzlich digitalisierbar, das BetrVG in seiner aktuellen Fassung lässt den Betriebsräten dafür jedoch nur wenig Spielraum. 4.1
Digitale Betriebsratswahl
Die Betriebsratswahl an sich ist aufgrund der Anforderungen der Wahlordnung 2001 einer Digitalisierung unzugänglich. Die Abgabe der Wählerstimme kann nach § 126 BetrVG i.V.m. §§ 11 Abs. 1 S. 2 und 24 Abs. 1 Wahlordnung 2001 nur durch Stimmzettel in den vorgesehenen Wahlumschlägen oder durch Briefwahl erfolgen. Allein die Auswertung des Wahlergebnisses kann mithilfe digitaler Technik abgewickelt werden.16 Eine digitalisierte und dynamische Abwicklung von Betriebsratswahlen durch die Bereitstellung von Onlinewahl-Plattformen bspw. im Intranet oder durch Wahlcomputer lässt die geltende Rechtslage bisher nicht zu.17 Der Wortlaut der Wahlordnung und das BetrVG sehen keine Online-Stimmabgabe vor. Für eine Auslegung der Vorschriften über den Wortlaut hinaus fehlen Indizien, die die Möglichkeit einer Online-Wahl zumindest andeuten.18 Das Bedürfnis der Arbeitnehmer nach flexibler Gestaltung des Betriebsratswahlprozesses lässt sich schon anhand der zunehmenden Wahrnehmung der Briefwahlmöglichkeit feststellen.19 Angesichts des zunehmenden Wandels der Arbeitsstrukturen, wie zum Beispiel durch die Einführung eines digitalen Ar16 Fündling/Sorber, NZA 2017, 552, 553; Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, § 14 WO 2001 Rn. 1; Richardi/Forst, BetrVG, § 14 Rn. 3; GK-BetrVG/Kreutz,§ 18 Rn. 35. 17 LAG Hamburg Beschl. v. 15.2.2018 – 8 TaBV 5/17, AuR 2018, 440; Fündlings/Sorber, NZA 2017, S. 552, 553; Harms/Steinau-Steinrück/Thüsing, BB 2016, 2677. 18 BVerfG, Beschl. v. 27.1.1998 – 1 BvL 22-93. 19 Harms/Steinau-Steinrück/Thüsing, BB 2016, 2677.
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beitsplatzes20 oder mobilen Arbeitens, könnte die Wahlbeteiligung gehemmt werden, sodass langfristig die Bedeutsamkeit des Betriebsrates gefährdet ist.21 Daneben ist die Einführung einer digitalen Betriebsratswahl auch aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoll. Vor allem in großen Unternehmen mit mehreren Standorten, bei denen teilweise betriebsübergreifend ein Betriebsrat gewählt wird, würde eine digitale Betriebsratswahl auf Seiten des Wahlvorstandes weniger Aufwand und Zeit in Anspruch nehmen und wäre vor dem Hintergrund der gesetzlichen Freistellung kostengünstiger für das Unternehmen.22 Schon die Einrichtung von Online-Plattformen für die Betriebsratswahl wäre insoweit hilfreich. Mithilfe von digitalen Signaturen oder individueller Zugangsdaten für alle wahlberechtigten Arbeitnehmer könnte eine ordnungsgemäße Unterzeichnung der Wahlvorschläge und eine rechtssichere Durchführung der Betriebsratswahl sichergestellt werden. 4.2
Digitale Sitzungen und Beschlüsse des Betriebsrates
Für den Bereich der Betriebsratssitzungen und -beschlüsse gemäß §§ 30, 33 BetrVG stellt sich die Frage der flexibleren und zeitgemäßen Handhabung im Wege einer digitalisierten Ausgestaltung bereits aufgrund der im Betriebsverfassungsgesetz verankerten Möglichkeit der Aufstellung eines Gesamt- oder Konzernbetriebsrates sowie des unionsrechtlich eingerichteten europäischen Betriebsrates. Der Grund hierfür ist, dass die Ausweitung des Aufgabenbereiches des (Gesamt- bzw. Konzern-) Betriebsrates von einem regionalen zu einem überregionalen oder internationalen Maß erst Recht einer höheren Flexibilität bedarf. Darüber hinaus bestärken Themen wie die sich wandelnde Arbeitswelt die Bedürfnisse innerhalb größerer Unternehmen. Ein Anpassungsbedürfnis im Rahmen der Betriebsratsarbeit räumt sowohl die Bundesregierung23 als auch die rechtswissenschaftliche Literatur ein.24
20 Der digitale Arbeitsplatz ist u. a. ausgeformt durch eine autonome-multilaterale Struktur in flexiblen Projekt- und Netzwerkorganisationen vgl. Uffmann, NZA 2016, 977, 980; unter den digitalen Arbeitsplatz soll auch „Crowdwork“ fallen vgl. Cherry 2016; Saint Louis U. Legal Studies Research Paper Nr. 2016-2, 23; ausführlich BMAS. Digitale Arbeitswelt, 14, 18ff; BMAS Grünbuch Arbeit 4.0, 16f. 21 Mit einer Negativprognose hinsichtlich der Wahrnehmung von Arbeitnehmermitbestimmungsrechten, aufgrund zeitlicher und räumlicher Entgrenzung von Arbeit, BMAS, Grünbuch Arbeit 4.0, 69 a.E. 22 Harms/Steinau-Steinrück/Thüsing, BB 2016, 2677. 23 BMAS, Weißbuch Arbeiten 4.0, S. 11ff., 192. 24 Krause 2016b, S. 96 f.; ders. in NZA 2016, 1004 (1007); Seifert, Thesen zum 71. Deutschen Juristentag 2016a.
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Nicht jeder Verstoß gegen die formellen Anforderungen eines Betriebsratsbeschlusses führt zur Unwirksamkeit, sondern nur sogenannte qualifizierte Verstöße.25 Mit dem Übergang von der analogen zur digitalen Arbeitsweise einhergehende Formfehler bei Betriebsratsbeschlüssen könnten hingenommen werden, soweit der Einsatz digitaler Technik zur Vernetzung der Betriebsratsmitglieder im Rahmen von Betriebsratssitzungen nach geltender Gesetzeslage grundsätzlich möglich ist.26 4.2.1
Gebot der Nichtöffentlichkeit, § 30 S. 4 BetrVG
Das BetrVG sieht im Rahmen der Betriebsratssitzung das Gebot der Nichtöffentlichkeit vor (§ 30 S. 4 BetrVG), aus dem teilweise hergeleitet wird, dass ein Grundsatz der körperlichen Anwesenheit bestehe.27 Allerdings kann dem Grundsatz der körperlichen Anwesenheit aufgrund der gegenseitigen Hör- und Sichtbarkeit mittels Videokonferenz bereits Genüge getan werden, was ebenfalls die Funktionsfähigkeit einer effektiven mündlichen Beratung bedeutet.28 Des Weiteren kann die Wahrung des Gebotes der Nichtöffentlichkeit dadurch technisch sichergestellt werden, dass die Teilnahme über das Intranet des Unternehmens erfolgt. Zwar sind an das Gebot der Nichtöffentlichkeit regelmäßig hohe Anforderungen zu stellen,29 dennoch muss im Hinblick auf die Anpassung an den agilen Arbeitsmarkt eine effektive Arbeitnehmervertretung durch den Betriebsrat gewährleistet sein. Sofern sich viele Betriebsrats- und Betriebsratsersatzmitglieder auf Dienstreise befinden oder aufgrund anderer Gründe verhindert sind, erschwert die Anwesenheitspflicht die Betriebsratsarbeit im Allgemeinen und im Spezifischen ein schnelles Tätigwerden, was sich insbesondere bei personellen Einzelmaßnahmen wie der außerordentlichen Kündigung negativ auswirken kann.30 Ein restriktiveres Verständnis des Gebots der Nichtöffentlichkeit würde dazu führen, dass das Ziel des BetrVG, welches in der effektiven Beteiligung der Arbeitnehmer bei Mitbestimmungsprozessen besteht, unterlaufen wird. Insoweit muss die Betriebsratssitzung mittels Videokonferenz grundsätzlich zulässig sein, sofern nicht ein Betriebsratsmitglied widerspricht.31 25 BAG, Beschl. v. 22.1.2014 – 7 AS 6/13, BAG, NZA 2014, 441 (441); BAG, Beschl. v. 9. 7. 2013 – 1 ABR 2/13 (A), NZA 2013, 1433 (1436 f.). 26 Dahingehend Fündling/Sorber, NZA 2017, 552, 553. 27 So Fündling/Sorber, NZA 2017, 552, 553. 28 Butz/Pleul, AuA 2011, 213, 214; Fündling/Sorber, NZA 2017, 552, 553. 29 Jesgarzewski/Holzendorf, NZA Online Aufsatz 5/2012, 1,4; DKKW/Wedde, BetrVG, § 30 Rn. 12; § 33 Rn. 11; a.A. Butz/Pleul, AuA 2011, 213, 214. 30 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG § 33 Rn. 21c. 31 Ebenfalls Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG § 33 Rn. 21c; Fündling/Sorber, NZA 2017, 552, 553, 554.
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Dagegen findet sich z. B. im § 108 Abs. 4 AktG eine flexiblere Möglichkeit der Schaffung von Digitalisierungsprozessen für die Aufsichtsratsarbeit, die Ausnahmen von Beschlussfassung in Person vorsieht. Insofern kann die Beschlussfassung des Aufsichtsrats auch im Rahmen eines sog. Umlaufverfahrens durchgeführt werden. Aufgrund der restriktiven formellen Anforderungen des BetrVG bezüglich der Beschlussfassung verneint die Rechtsprechung die Möglichkeit des Umlaufverfahrens.32 Aus Sicht der Praxis erscheint es sinnvoll, dass der Gesetzgeber auch im Bereich des BetrVG nachbessert. 4.2.2
Möglichkeiten der digitalisierten Betriebsratsarbeit
Informations- und Beratungstermine sowie Organisationsbesprechungen können mittels Telefonkonferenzen, Echtzeit-Nachrichtendienstprogrammen (bspw. WhatsApp, Threema) und E-Mail durchgeführt werden, sodass eine höhere Flexibilität der Betriebsratsarbeit erreicht wird. Im Hinblick auf Verweigerung der Zustimmung durch den Betriebsrat nach § 99 Abs. 3 S. 1 BetrVG entschied das BAG, dass diese Mitteilung auch mittels E-Mail zulässig ist.33 Eine umfassendere Rechtsprechung in Bezug auf die Nutzung neuer Technik bei der Betriebsratsarbeit gibt es bislang nicht, allerdings ist mit Blick auf die vorstehende Entscheidung des BAG anzunehmen, dass das BetrVG in seiner jetzigen Fassung einer Digitalisierung nicht grundsätzlich entgegensteht. Daraus lässt sich ableiten, dass auch weitere Korrespondenz zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat oder lediglich betriebsratsinterne Korrespondenz digital transformiert werden kann, sodass dem Betriebsrat eine agile Arbeitsmöglichkeit unabhängig vom Betriebssitz ermöglicht wird. Dies gilt vor allem für Mitbestimmungsrechte und Benachrichtigungen, die eine gelockerte Form oder keine Form vorschreiben. Insbesondere Unterrichtungen im Rahmen des Konsultationsverfahrens gemäß § 17 Abs. 2 können in Textform gemäß § 126b BGB erfolgen und somit mittels Nachrichtendiensten oder E-Mail durchgeführt werden.34
32 LAG Köln, Beschluss vom 25. 11. 1998 - 2 TaBV 38/98, NZA-RR 1999, 245; ArbG Heilbronn v. 13. 6. 1989 4 Ca 116/89, BB 1989, 1897. 33 BAG, Beschl. vom 10. 3. 2009 - 1 ABR 93/07, BAGE 130, 1. 34 BAG, Urt. v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, NZA 2017, 175; ErfK/Kiel, KSchG § 17 Rn. 23; insbesondere § 111 BetrVG, Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG § 111 Rn. 103; BAG, Urteil vom 16.11.2017 – 2 AZR 90/17 (A), ArbR 2017, 591.
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4.3
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Digitale Betriebsversammlungen, § 42 Abs. 1 BetrVG
Im Rahmen von Betriebsversammlungen gilt nach § 42 Abs. 1 S. 2 BetrVG ebenfalls das Gebot der Nichtöffentlichkeit,35 sodass der Digitalisierungsprozess hier einer ähnlichen Problematik wie bei den Betriebsratssitzungen ausgesetzt ist. Eine effiziente und kostengünstigere Lösung vor allem für große Betriebe ist bislang nicht vorhanden.36 Zunächst müsste die Nichtöffentlichkeit der Versammlung technisch gewährleistet werden, sodass ausschließlich zugelassene Teilnehmer der Betriebsversammlung über einen digitalisierten Zugriff verfügen. Neben der technischen Sicherstellung einer nicht öffentlichen Versammlung muss auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers durch etwaige Audio- oder Videoaufzeichnungen beachtet werden,37 sodass eine Aufnahme vorher angekündigt werden muss. Hierdurch hat jeder Arbeitnehmer die Möglichkeit zu beantragen, dass die Aufzeichnung für die Dauer seines Redebeitrages ausgeschaltet wird.38 Bei Beachtung der vorstehenden Grenzen kann beispielsweise eine Übertragung der Betriebsratssitzung im Intranet39 erreicht werden und dadurch ortsabwesenden Arbeitnehmern die Teilnahme an der Betriebsversammlung ermöglicht werden. 4.4
Digitalisierung weiterer Tätigkeiten des Betriebsrates
Bereits mit Erlass seiner Geschäftsordnung kann der Betriebsrat über ein flexibleres Management der zukünftigen Geschäftsführung bestimmen. Insofern bestimmt der Betriebsrat auch über den Einsatz digitaler Technik bei Tätigkeiten, die nach dem BetrVG nicht streng formalisiert sind (z. B. die interne Kommunikation oder der formlose Austausch mit dem Arbeitgeber). Eine Begrenzung erfährt die Geschäftsordnung durch zwingendes Recht, sodass bspw. das Gebot der Nichtöffentlichkeit durch die Geschäftsordnung nicht abbedungen werden darf. Die Geschäftsordnung gemäß § 36 BetrVG selbst muss in Schriftform erlassen werden, welche die Unterzeichnung durch den Vorsitzenden einschließt.40 Für die Umsetzung der digitalisierten Geschäftsführung ist der Betriebsrat gemäß § 40 Abs. 2 BetrVG in einem erforderlichen Umfang mit digitaler Informations- und Kommunikationstechnik auszustatten, wobei diese dem betriebs35 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG, § 42 Rn. 43; GK-BetrVG/Weber, § 42 Rn. 48. 36 Fündling/Sorber, NZA 2017, 552, 554. 37 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG, § 42 Rn. 45. 38 Richardi BetrVG/Annuß, BetrVG § 42 Rn. 40; LAG München, Beschluss vom 15.11.1977 – 5 TaBV 34/77, DB 1978, 894. 39 Richardi BetrVG/Annuß, BetrVG § 42 Rn. 40. 40 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/LinsenmaierBetrVG/, § 36 Rn. 10.
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üblichen Standard entsprechen muss.41 Sprechstunden gemäß § 39 BetrVG lassen sich aufgrund ihrer Formfreiheit42 bereits heute mittels Videochat, wie Webex oder Skype, abhalten, sodass eine Digitalisierung in diesem Bereich die Flexibilität der Betriebsratsarbeit verbessert. Darüber hinaus kann der zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber monatlich stattfindende Informationstermin bzw. Jour Fixe nach § 74 BetrVG mittels Skype oder Webex durchgeführt werden, da für die Einberufung und Durchführung keine Formvorschriften bestehen.43 5
Der digitale Betrieb
In Zeiten der kontinuierlichen Veränderung liegt es auf der Hand, dass die Idee des Betriebes, die bei Verabschiedung des BetrVG vorherrschte, nicht mehr deckungsgleich mit der heutigen gesellschaftlichen Vorstellung ist. Als Konsequenz stellt sich die Frage, inwieweit der klassische Betriebsbegriff mit der Entwicklung moderner Betriebsstrukturen kollidiert und inwieweit die Entwicklung eines neuen Betriebsbegriffs sinnvoll ist. 5.1
Veränderung des klassischen Betriebsbegriffes?
Ein „Betrieb“ ist die organisatorische Einheit, in der Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam mit den notwendigen erforderlichen Betriebsmitteln einen arbeitstechnischen Zweck verfolgen bzw. versuchen zu erreichen.44 In bisheriger Vorstellung war dies immer ein gegenständlicher Betrieb, in dem der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer zusammen an einem Ort tätig sind und ein Produkt oder eine Dienstleistung erarbeiten. Dieser Begriff hat bereits in der Vergangenheit einen Wandel dadurch erfahren, dass z. B. bei Filialbetrieben oder bei großen Außendiensten dieser örtlich fixierte Betriebsbegriff nicht mehr funktioniert hat und häufig Regional- oder Flächenbetriebe gebildet wurden.45 Das Thema des Betriebsbegriffes erhält jetzt eine neue und viel größere Relevanz dadurch, dass im Wege der Digitalisierung eine Zusammenarbeit auch über die Grenzen hinweg möglich ist. Hinzu kommt mobiles bzw. agiles Arbeiten, das es den Beschäftigten ermöglicht, von überall aus zu arbeiten. In der Realität ist der virtuelle Betrieb daher längst grenzübergreifend existent. 41 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG § 40 Rn. 127, Däubler, AuR 2001, 285; Löwisch, BB 2001, 1744. 42 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG. § 39 Rn. 8. 43 BeckOK ArbR/Werner, BetrVG § 74 Rn. 6. 44 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG § 1 Rn. 63. 45 Kort, NZA 2013, 1318.
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5.2
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Herausforderungen bei der Betriebsratsarbeit
Die Grundidee des Betriebsbegriffs war, dass Menschen an einem Ort ein Werkstück zusammen produzieren oder eine Dienstleistung zusammen gestalten. Dies sollte über einen bestimmten Zeitraum geschehen, bis das gewünschte Arbeitsergebnis erreicht ist. Tatsächlich werden heute aber Menschen, die vielleicht gar nicht originär zusammenarbeiten, aufgrund eines Projektes kurzfristig in neuen Teams organisiert; unter Umständen auch nur für einen kurzen Zeitraum. So kann es z. B. sein, dass Menschen, die üblicherweise bestimmten Betrieben zugeordnet sind und dort auch vor Ort arbeiten, für ein umfangreiches und langwieriges Projekt monate- oder jahrelang betriebsübergreifend zusammengeführt werden. Daraus ergeben sich die folgenden Fragestellungen: – Bilden sie dann einen neuen Betrieb? Wie verhält sich dies mit unternehmens- und gar konzernübergreifenden Projekten? – Welche Betriebsvereinbarungen finden auf die Betroffenen Anwendung? – Müssen dann neue Betriebsräte gebildet werden? – Stellt jedes Projekt eine Betriebsänderung nach § 111 BetrVG dar? 5.2.1
Auswirkungen auf den Betriebsbegriff
Die beschriebenen Strukturen lassen sich nur schwer mit herkömmlichen Betriebsstrukturen vergleichen. Kennzeichnend für herkömmliche Betriebsstrukturen sind in der Regel bereichsspezifische Pyramidenstrukturen sowie eine bereichsübergreifende Gesamthierarchie innerhalb des Unternehmens.46 Charakteristisch für die veränderten vielschichtigen Strukturen, z. B. Scrum-47 oder Matrix-Strukturen, ist die mehrdimensionale Ausrichtung nach betriebswirtschaftlichen oder projektbezogenen Erwägungen. Arbeitsrechtlich wirkt sich dies dergestalt aus, dass die Arbeitsorganisation unabhängig von dem Arbeitgeber, mit dem der Arbeitsvertrag vereinbart wurde („Vertragsarbeitgeber“), organisiert wird und der Arbeitnehmer mehr als einem Weisungsgeber unterliegt.48 Bei mehrdimensionalen, internationalen Verflechtungen stellt sich auch die Frage nach der Anwendung des Betriebsbegriffes aus dem BetrVG. Dieser unterliegt im Grundsatz dem Territorialprinzip und umfasst damit nur im Inland gele-
46 Kort, NZA 2013, 1318 47 Bei einem Scrum handelt es sich um einen Projektmanagement-Rahmen, welcher vor allem im Rahmen der Softwareentwicklung Anwendung findet. Das Entwicklerteam nimmt nicht lediglich eine ausführende Tätigkeit wahr, sondern ihm wird Gestaltungsmacht über den Arbeitsprozess verliehen. Vgl. Heise/Friedl, NZA 2015, 129. 48 Kort, NZA 2013, 1318.
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gene Betriebe.49 Im Kontext von grenzüberschreitenden Konzernstrukturen hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Hessen in Bezug auf die Anwendung des Kündigungsschutzgesetz (KSchG) betont, dass für die Annahme eines deutschen Betriebes ein Mindestmaß an Organisation gegeben sein müsse. 50 Danach schade es nicht, wenn einzelne Teile einer Organisationseinheit keine einheitliche, in Deutschland ansässige Leitung haben.51 Diese Auffassung lässt sich auf den betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriff übertragen. Die Schaffung grenzübergreifender Arbeitsstrukturen lässt sich damit prinzipiell mit dem erforderlichen Mindestmaß an Organisation vereinbaren. 52 Für die Annahme des Betriebes ist es nicht entscheidend, ob die übergreifende Leitungsfunktion in dem Betrieb selbst bzw. in Deutschland angesiedelt ist. Die verfassungsrechtlich gebotene enge Auslegung des Betriebsbegriffs verbietet es, die Annahme des Betriebes davon abhängig zu machen, wie ein Unternehmen Berichtslinien organisiert, diese für einzelne Abteilungen oder Bereiche außerhalb ansiedelt und eine umfassende Leitung erst auf höherer Hierarchieebene oder außerhalb Deutschlands etabliert.53 Insgesamt ist eine Umgehung der Vorschriften des BetrVG durch mehrdimensionale Unternehmensstrukturen nicht ohne Weiteres möglich.54 5.2.2
Betriebszugehörigkeit betroffener Arbeitnehmer
Die Betriebszugehörigkeit ist ausschlaggebend für die Anknüpfung der Interessenvertretung. Im Kontext mehrdimensionaler Betriebsstrukturen ist daher zu erörtern, welchem Betrieb der Arbeitnehmer zuzuordnen ist. Nach der Zwei-Komponenten-Lehre begründet erstens die Eingliederung in den Betrieb, zweitens ein Arbeitsverhältnis mit dem Betriebsinhaber die Betriebszugehörigkeit.55 Diese Anforderungen wurden durch die Rechtsprechung jedoch sukzessive aufgeweicht bzw. sogar aufgegeben.56 Bei Auseinanderfallen der beiden Komponenten ist in differenzierender Betrachtung auf den Einzelfall abzustellen: Für eine Eingliederung in einen Betrieb genügt bereits eine „lockere Verbindung“ zum Vertragsarbeitgeber mit Indikatoren wie räumlicher Nähe oder
49 BAG, Beschl. v. 22.3.2000 – 7 ABR 34/98, NZA 2000. 1119; Fitting/Engels/Schmidt/ Trebinger/Linsenmaier, BetrVG § 1 Rn. 13. 50 LAG Hessen, Urteil v. 13. 04. 2011 – 8 SA 922/10. 51 Kort, NZA 2013, 1318. 52 Kort, NZA 2013, 1318. 53 LAG Hessen, Urteil v. 13. 04. 2011 – 8 SA 922/10. 54 So auch: Kort, NZA 2013, 1318. 55 Kort, NZA 2013, 1318. 56 Vgl. BAG, Beschl. v. 5.12.2012 – 7 ABR 48/11.
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Teilnahme. Unschädlich ist dabei, wenn der Arbeitnehmer noch einem zweiten Betrieb angehört. 57 Agile Teams mit freien Mitarbeitern oder externen Arbeitnehmern arbeiten in der Regel im Gleichlauf mit Arbeitnehmern des Vertragsarbeitgebers. Durch die für agile Arbeitsmethoden charakteristischen regelmäßigen Abstimmungsrunden findet eine enge Einbindung in den Arbeitsprozess statt.58 Dabei werden Räume des Vertragsarbeitgebers und dessen Arbeitsmittel genutzt. All dies spricht überwiegend für eine Eingliederung in den Betrieb des Auftraggebers, die insbesondere bei länger andauernden Projekten anzunehmen ist – dies auch vor dem Hintergrund, dass das Bestehen eines Arbeitsvertrages nach Abkehr von der Zwei-Komponenten-Lehre keine konstituierende Voraussetzung mehr für die Betriebszugehörigkeit darstellt.59 Liegt im Einzelfall eine doppelte Betriebsangehörigkeit vor, gelten für den Arbeitnehmer die Betriebsvereinbarungen beider Betriebe.60 5.2.3
Betriebsratswahlen nach §§ 7,8 BetrVG und Betriebsänderungen nach §§ 111, 112 BetrVG
Auch hinsichtlich der Betriebsratswahlen und möglichen Betriebsänderungen durch mehrdimensionale Betriebsstrukturen ergibt sich eine Vielzahl von schwierigen mitbestimmungsrechtlichen Fragen. Insbesondere die immer schneller werdende Welt der Projekte, Scrums, Crowdworking und anderer digitaler Arbeitsverteilungen führt in Konzernen, in denen viele Projekte ständig neu aufgesetzt, durchgeführt, aber auch wieder abgebrochen werden, zu Verwirrung. Die Frage ist also zunächst, wie sich die agilen Strukturen auf die Betriebsratswahlen, geregelt in §§ 7, 8 BetrVG, auswirken. Das aktive und passive Wahlrecht ist an die Betriebszugehörigkeit geknüpft. Gehört der Arbeitnehmer nach den obigen Voraussetzungen dem Betrieb des weisungsgebenden Projektleiters an, so sind nach jüngerer Rechtsprechung zu § 9 BetrVG auch diejenigen Arbeitnehmer wahlberechtigt, die einen anderen Vertragsarbeitgeber haben.61 Somit können sie ihr Wahlrecht weiterhin ausüben und zwar sowohl im Betrieb des Vertragsarbeitgebers als auch im Betrieb des Projektleiters.62 Die dargestellte Diversifikation der betrieblichen Struktur durch grenz- und konzernübergreifende Projektteams führt unter Umständen auch zu Betriebsänderungen und damit zur Anwendung des Beteiligungstatbestands aus § 111 57 58 59 60 61 62
Kort, NZA 2013, 1318. Günther/Böglmüller, NZA 2019, 417. Kort, NZA 2013, 1318. Kort, NZA 2013, 1318. BAG, Beschl. v. 5.12.2012 – 7 ABR 48/11. Richardi BetrVG/Thüsing, BetrVG § 7 Rn. 34.
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BetrVG. Eine Spaltung nach § 111 Nr. 3 BetrVG eines bisher organisatorisch einheitlichen Betriebes liegt dann vor, wenn eine neue, abtrennbare Einheit entsteht oder ein Betriebsteil ausgegliedert wird.63 Ob bei den projektbezogenen Änderungen in der Betriebsstruktur eine neue, abtrennbare Einheit entsteht oder der Betriebsteil ausgegliedert wird, bleibt zweifelhaft. Allein bei länger andauernden Projekten dürfte der Beteiligungstatbestand des § 111 S. 3 Nr. 3 BetrVG ausgelöst werden. Dabei ist nach herrschender Ansicht nicht maßgeblich, dass es sich um einen wesentlichen oder erheblichen Teil des Betriebes handelt,64 sondern dass eine „veräußerungsfähige Einheit“ abgespalten wird.65 Dies dürfte bei größer angelegten Projekten in der Regel der Fall sein, sodass die Beteiligungsrechte des Betriebsrates gewahrt bleiben. 5.3
Was ist zu tun?
Die dargestellten Fragestellungen schaffen das Bedürfnis nach arbeitsrechtlicher Sicherheit. Auf Seiten des Betriebsrates besteht das Bedürfnis, die Arbeitnehmerinteressen vollumfänglich wahrzunehmen. Dies muss in dem vom BetrVG vorgegebenen Maß auch in Zeiten veränderter Betriebsorganisation möglich sein. Insoweit besteht vor allem dahingehend Handlungsbedarf, die betriebliche Eingliederung von Projektarbeitnehmern bei der Abspaltung kleinerer Projektteams zu wahren, die nicht den Beteiligungstatbestand des § 111 S. 3 Nr. 3 BetrVG auslösen. Hier müsste der Gesetzgeber vermehrt die einzelnen Arbeitnehmer in den Blick nehmen, die sich in kleineren und kurzfristigen Projekten zusammenschließen. Eine weitere Herangehensweise, um den flüchtigen Unternehmensstrukturen zu begegnen, stellen freiwillige Vereinbarungen nach § 3 BetrVG dar. Hier besteht allerdings Reformbedarf dahingehend, dass die Möglichkeit geschafft werden muss, andere Arbeitnehmerstrukturen nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG zusätzlich zu Bestehenden zu gründen. Zudem sollten weitere betriebsverfassungsrechtliche Gremien nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG von den Mitbestimmungsorganen auch mit Mitbestimmungsrechten ausgestattet werden dürfen.66 Auf Arbeitgeberseite besteht primär das Bedürfnis der arbeitsrechtlichen Compliance und der Sicherheit, die gewählte Betriebsorganisation rechtssicher zu verwalten. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Mitwirkungstatbestände bei personellen Einzelmaßnahmen. 63 64 65 66
Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG § 111 Rn. 86. Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier BetrVG § 111 Rn. 87. BAG, Beschl. v. 10.12.1996 – 1 ABR 32/96. Vgl. Klebe, NZA-Beilage 2017, 77.
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Fazit
Das BetrVG setzt den Anwendern einerseits Grenzen, andererseits aber auch Möglichkeiten der agilen Mitbestimmung bei betrieblichen Umstrukturierungen im Rahmen von Digitalisierungsmaßnahmen. § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ist ein gutes Beispiel für eine Vorschrift, die für eine effektive Ausgestaltung der Interessen der Betriebsparteien nicht mehr ausreichend ist, da wegen der sehr allgemeinen Formulierung generell alle technischen Änderungen erfasst werden, sowie aufgrund der Möglichkeit verschiedene Wissensquellen heranzuziehen, ein erhöhtes Konfliktpotenzial besteht.67 Auch hinsichtlich des Übergangs hin zu einem digitalen Betriebsrat stellen die §§ 30, 33, 42 BetrVG bezüglich Betriebsratswahlen und -sitzungen Hürden dar, die eine digitale Betriebsratsarbeit erschweren. Auf der anderen Seite bieten die §§ 90, 97f BetrVG effektive Möglichkeiten des Betriebsrates, auf Digitalisierungsprozesse zu reagieren. Zunächst bieten die Informationsrechte eine effektive Evaluation des Fortbildungsbedarfs, dann kann diesem durch inner- und außerbetriebliche Schulungsmaßnahmen abgeholfen werden. Dies steht jedoch unter dem Vorbehalt einer zeitgemäßen Auslegung des Betriebsbegriffes. Dieser ist historisch bedingt räumlich-gegenständlich orientiert und hat daher Schwierigkeiten, die mannigfaltigen Ausprägungen der heutigen Arbeitswelt adäquat abzubilden. Es bleibt festzuhalten, dass das BetrVG in seiner jetzigen Fassung in einigen Punkten nicht mit der Digitalisierung Schritt halten kann. Gerade im Hinblick auf die Betriebsratsarbeit und dem zugrunde gelegten Betriebsbegriff offenbart sich Reformbedarf, um eine effektive betriebliche Mitbestimmung zu gewährleisten und Betrieben die Anpassung an die agile Arbeitswelt zu ermöglichen.
67 Ausführlich siehe Punkt 2. ff.
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Künstliche Intelligenz – Handlungsfeld für betriebliche Mitbestimmung und Arbeitsrechtsregulierung1 Thomas Klebe und Johanna Wenckebach Abstract Künstliche Intelligenz (KI) verändert die Arbeitswelt und prägt gesellschaftliche sowie rechtspolitische Debatten um Digitalisierung. Worum geht es, wenn von KI gesprochen wird? Der Aufsatz geht auf technische Entwicklungen und Begriffe wie Algorithmen, Maschinelles Lernen, starke und schwache KI ein. Und was bedeutet das für Akteure der betrieblichen Mitbestimmung?2 Der Beitrag zeigt Handlungsmöglichkeiten nach dem geltenden Recht auf – insbesondere dem Betriebsverfassungsgesetz sowie dem Datenschutzrecht. Es wird erläutert, welche Mitbestimmungsrechte greifen, und empfohlen, worauf bei der Vertretung der Interessen von Beschäftigten zu achten ist, wenn Betriebsvereinbarungen zur Einführung und Nutzung von KI-Systemen geschlossen werden. Im letzten Teil zeigt der Beitrag den rechtspolitischen Handlungsbedarf auf und macht konkrete Regulierungsvorschläge unter Bezugnahme auf die Expertengutachten der europäischen Kommission und der Datenethikkommission der Bundesregierung. 1
Einleitung
Künstliche Intelligenz (KI) prägt aktuell viele der Debatten um Digitalisierung. Die Bundesregierung verfolgt seit 2018 die Strategie künstliche Intelligenz. Bis 2025 wird Deutschland demnach insgesamt drei Mrd. € in diesem Bereich investieren und 100 neue Professuren schaffen (Bundesregierung 2018, S. 6, 12, 15; Heuzeroth 2018). Der Prozess ist bereits im Gange (Bundesregierung 2019). In der EU sollen in den nächsten zehn Jahren jährlich 20 Mrd. € aufgewendet wer-
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Diesem Beitrag liegt der Artikel von Thomas Klebe „Künstliche Intelligenz – eine Herausforderung für die Mitbestimmung“ zugrunde, der in der Zeitschrift Soziales Recht Ausgabe 3 im Juni 2019 erschienen ist. Im vorliegenden Beitrag wurde Literatur bis Februar 2020 berücksichtigt. Mit dem Ziel einer gendergerechten Sprache werden in dem vorliegenden Beitrag weitgehend genderneutrale Wendungen verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit durchgehend maskuline Formen verwendet. Die gewählte männliche Form bezieht sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2_20
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den.3 Bekannt ist auch, dass Länder wie China oder die USA sowohl staatlich als auch durch Firmen wie Amazon oder Alibaba deutlich massiver in diesem Bereich investieren. China hat z. B. angekündigt, bis 2020 einen KI-Markt von 150 Mrd. $ zu schaffen (Heuzeroth 2018).4 Gleichzeitig wird eine gesellschaftliche Debatte darüber geführt, wie mit selbstfahrenden Autos und Drohnen, autonomen Waffensystemen, Softwareagenten wie Bots im Finanzgeschäft oder Deep Learning in der medizinischen Diagnostik und den möglichen weiteren Entwicklungen in Zukunft umgegangen werden soll. Auf Ebene der EU hat die Europäische Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der neuen Technologien erste Antworten auf diese ethischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Herausforderungen zusammengestellt (Europäische Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der Neuen Technologien 2018). Sie hat dabei Werte wie Transparenz der Systeme, Achtung des menschlichen Selbstbestimmungsrechtes, Gerechtigkeit, demokratische Entscheidungswege und z. B. auch Datenschutz und Privatsphäre als Orientierungspunkte genannt.5 Dann folgten die „Ethischen Leitlinien für vertrauenswürdige KI“ einer von der Europäischen Kommission eingesetzten Expertengruppe (Hochrangige Expertengruppe für Künstliche Intelligenz 2019). Demnach sollte KI „rechtmäßig sein und somit alle anwendbaren Gesetze und Bestimmungen einhalten, sie sollte ethisch sein und somit die Einhaltung ethischer Grundsätze und Werte garantieren und sie sollte robust sein, und zwar sowohl in technischer als auch sozialer Hinsicht“ (Smuha 2019, S. 97 ff.). Deutlich konkretere Regulierungsvorschläge macht das seit Ende Oktober 2019 vorliegende Gutachten der Datenethikkommission (DEK 2019), dazu unten Abschnitt V. 2018 hatte die DEK bereits Empfehlungen für die Weiterentwicklung der Strategie der Bundesregierung gemacht (DEK 2018). Digitalisierung wird als wirtschaftliche, aber insbesondere als gesellschaftliche Entwicklung nur gelingen, wenn der Prozess demokratisch in den Betrieben ausgestaltet wird. Hierzu bedarf es der Mitbestimmung. Dieser Beitrag widmet sich deshalb betrieblichen Gestaltungsmöglichkeiten.
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Europäische Kommission, Koordinierter Plan für künstliche Intelligenz, COM (2018) 795 final, S. 3 und Annex, S. 5. Vgl. zur weiteren Entwicklung der KI das Interview mit Jürgen Schmidhuber in Wirtschaftswoche v. 2.11.2018, S. 66 ff., der eine kommende KI-Welle für das Netz der Maschinen voraussagt. Vgl. Europäische Kommission, Koordinierter Plan für künstliche Intelligenz, COM (2018) 795 final, S. 9 und Annex, S. 9, 20, die als wichtigen Grundsatz für die von ihr sogenannte »KI made in Europe« eine integrierte Ethik nennt.
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Begriffsfindung
Eine erste Schwierigkeit bereitet schon die Begriffsfindung, die für juristische Regulierung essentiell ist. Eine einheitliche Definition von Künstlicher Intelligenz gibt es nicht, auch die gesellschaftliche Debatte wird unter Zugrundelegung verschiedener Verständnisse geführt. Der Begriff geht ursprünglich auf den USamerikanischen Informatiker John McCarthy zurück, der ihn 1955 prägte. Er verwendete ihn erstmals in einem Förderantrag.6 Von heutigen Forschern wird die Definition allerdings als wenig brauchbar, da zu unkonkret angesehen (Ramge 2018; Zweig 2019). Die DEK weist die Bundesregierung auf die Notwendigkeit hin, den Begriff im Zuge der Weiterentwicklung ihrer „KI-Strategie“ zu klären (DEK 2018, S. 1). Die Expertengruppe der Europäischen Kommission hat eine Definition vorgenommen. Systeme der künstlichen Intelligenz (KI-Systeme) sind demnach „vom Menschen entwickelte Softwaresysteme (und gegebenenfalls auch Hardwaresysteme), die in Bezug auf ein komplexes Ziel auf physischer oder digitaler Ebene handeln, indem sie ihre Umgebung durch Datenerfassung wahrnehmen, die gesammelten strukturierten oder unstrukturierten Daten interpretieren, Schlussfolgerungen daraus ziehen oder die aus diesen Daten abgeleiteten Informationen verarbeiten, und über das bestmögliche Handeln zur Erreichung des vorgegebenen Ziels entscheiden. KI-Systeme können entweder symbolische Regeln verwenden oder ein numerisches Modell erlernen, und sind auch in der Lage, die Auswirkungen ihrer früheren Handlungen auf die Umgebung zu analysieren und ihr Verhalten entsprechend anzupassen“ (Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz 2019, S. 8). Die Expertengruppe verweist zudem darauf, dass KI als wissenschaftliche Disziplin mehrere Ansätze und Techniken wie z. B. maschinelles Lernen und Denken und die Robotik umfasst (ebd.). Von der DEK wird KI verstanden „als Sammelbegriff für diejenigen Technologien und ihre Anwendungen […], die durch digitale Methoden auf der Grundlage potenziell sehr großer und heterogener Datensätze in einem komplexen und die menschliche Intelligenz gleichsam nachahmenden maschinellen Verarbeitungsprozess ein Ergebnis ermitteln, das ggf. automatisiert zur Anwendung gebracht wird.“ (DEK 2018, S. 1). Zu unterscheiden ist zwischen starker und schwacher KI. Von starker KI wird dann gesprochen, wenn IT-Systeme in einem Trainingsprozess auf das Erkennen von Mustern und Korrelationen so ausgerichtet werden, dass sie z. B. aus vorhandenen Datenbeständen neue, eigene Ergebnisse entwickeln können. Ziel ist, Fähigkeiten des menschlichen Gehirns zu imitieren. Die Schritte zu solchen Ergebnissen können bei selbstlernenden Systemen nicht im Einzelnen nachvoll6
Abrufbar unter https://web.archive.org/web/20080930164306/http://www-formal.stanford.edu/ jmc/history/dartmouth/dartmouth.html (letzter Zugriff: 26.11.2019).
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zogen werden, konkrete Ergebnisse des Vorgangs sind nicht exakt vorhersehbar (Daugherty und Wilson 2018; Groß und Gressel 2016, 990 f.).7 Solche Systeme menschenähnlicher Intelligenz wurden bisher nicht entwickelt und werden von Experten frühestens für die Mitte dieses Jahrhunderts erwartet. Es bleibt abzuwarten, ob nicht auch hier die tatsächliche Entwicklung deutlich schneller verläuft und die Prognosen widerlegt. Schwache KI dagegen wird bereits in diversen gesellschaftlichen Bereichen eingesetzt, wie z. B. in der Medizin, bei der Bekämpfung des Klimawandels, der Vorhersage von Naturkatastrophen, bei rechtlichen Fragen, bei der Steuerfahndung (FAZ 2018), in Computerspielen oder auch zur Erzeugung von Kunstwerken.8 Sie kann menschliche kognitive Fähigkeiten in Teilbereichen ausführen und damit in Kooperation mit dem Menschen Einzelaufgaben bewältigen (Zweig 2019, S. 267). Eine Methode der schwachen KI ist Maschinelles Lernen. Dabei werden durch das Identifizieren von Mustern und Regelmäßigkeiten auf Basis großer Datenmengen (Big Data) und selbstlernender Algorithmen Erkenntnisse erzielt. Mithilfe von Trainingsdaten lernen Algorithmen und können immer genauere Schlussfolgerungen ziehen und Prognosen stellen. Einen Teilbereich des Maschinellen Lernens stellt das Deep Learning dar, das beispielsweise für die Spracherkennungssoftware Siri eingesetzt wird. Hierbei werden mathematische Transformationsprozesse in mehreren Schichten durchgeführt, in deren letzter Schicht eine Entscheidung getroffen wird. Ein Algorithmus ist eine – in Programmiersprache übersetzbare – Handlungsanweisung für die Lösung eines mathematischen Problems, wobei für die Lösung des Problems Eingaben (Input) durch den Algorithmus verarbeitet und in eine Ausgabe (Output) überführt werden (Zweig 2019, S. 50 ff.). 3
Anwendungsbereiche von künstlicher Intelligenz im Arbeitsleben
Zunächst lässt sich feststellen, dass schwache KI bereits heute in allen Bereichen des Unternehmens von der Forschung und Entwicklung über Logistik und Produktion hin bis zu Marketing, Vertrieb und After Sales Anwendung findet (Daugherty und Wilson 2018). Im Produktionsbereich werden sogenannte ko7 8
Vgl. z. B. das Interview mit Wolfgang Wahlster in Zeit Online v. 25.7.2018; vgl. auch Bundesregierung 2018, S. 4 f. Vgl. hierzu auch Brien, (2018), wo berichtet wird, dass die KI der Plattform Lawgeex in einem Test 20 US-Anwälte bei der Analyse von Verträgen sowohl in punkto Genauigkeit als auch bei der Dauer der Lösungsfindung klar hinter sich gelassen hat. Der Algorithmus brauchte nur 26 Sekunden und erreichte eine Genauigkeit von 94 %, während die Anwälte im Schnitt 92 Minuten brauchten und nur zu 85 % genau waren.
Künstliche Intelligenz – Handlungsfeld für Mitbestimmung und Arbeitsrechtsregulierung
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operative Roboter, Cobots, eingesetzt, Warenlager werden algorithmisch optimiert, Transportsysteme sind fahrerlos. Im Büro werden Texte elektronisch übersetzt, durch Robotics Process Automation (RPA) werden E-Mails kategorisiert und mit Antwortvorschlägen versehen (ebd.). In Call-Centern verstehen ChatBots menschliche Sprache und antworten, wie man es auch aus dem privaten Bereich mit Alexa und Siri kennt. Bei der Personalauswahl werden Algorithmen jedenfalls zur Vorauswahl von Bewerbern eingesetzt (Schmoll und Bader 2019). Darüber hinaus wird die Verknüpfung von IT- und Produktionstechnologien weiter ausgebaut. Maschinen kommunizieren direkt miteinander und mit Werkstücken/Teilen, überwachen und steuern sich selbst. Durch die Verarbeitung riesiger Datenmengen (Big Data) und deren lernende Aufbereitung (Smart Data) in Simulationssystemen wird die Fehlerfrüherkennung und die präventive Wartung/Instandhaltung weiter perfektioniert (Daugherty und Wilson 2018). Ziel ist eine vertikale Vernetzung im Unternehmen, ein durchgängiger Datenfluss und eine horizontale Vernetzung des Unternehmens im Wertschöpfungssystem.9 Ein Beispiel hierfür ist Airbus mit der Integration von Zulieferern und Kunden auf der Plattform Skywise. Mit der Integration der Zulieferer werden Lieferprobleme früh erkannt und sonst erforderliche Zeitpuffer eliminiert, mit der Integration von Kunden (Fluggesellschaften) werden riesige Datenmengen, die beim Betrieb der Flugzeuge anfallen, analysiert, um durch vorbeugende Wartung Defekte und Ausfallzeiten zu vermeiden (Hanke 2019). Dies alles verdeutlicht, welche Bedeutung bereits gegenwärtig, aber sicherlich extrem verstärkt in Zukunft das Verständnis von Algorithmen und Maschinellem Lernen und hierzu formulierte Antworten und Gestaltungsziele für die Interessenvertretung von Betriebsräten und Gewerkschaften haben. 4
Algorithmen und Betriebsratsrechte
Wie bereits der kurze Überblick im vorigen Abschnitt zeigt, werden die Digitalisierung und insbesondere auch Algorithmen die Betriebe und Unternehmen grundlegend verändern. Fragen der Beschäftigungssicherung und der beruflichen Fortbildung, des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, des Datenschutzes und der Wahrung von Persönlichkeitsrechten und der Gestaltung von Entscheidungsprozessen bei Personalfragen werden sich in einer neuen und ganz anderen Art und Weise für die Betriebsparteien stellen.
9
Vgl. z. B. Klebe, NZA-Beil. 3/2017, S. 77 mwN.; Jürgens/Hoffmann/Schildmann 2017; Reger (2018, S. 18) wirft die Frage auf, ob aktuell oder jedenfalls demnächst Unternehmensführungen die Pflicht haben, in der Vorbereitung von Leitungsentscheidungen KI einzusetzen.
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4.1
Thomas Klebe und Johanna Wenckebach
Informations- und Beratungsrechte
Es liegt auf der Hand, dass der Betriebsrat dann zunächst einmal über die geplanten Veränderungen informiert werden muss. Entsprechende Rechte folgen für ihn aus § 80 Abs. 2 i.V. m. Abs. 1 Nr. 1 und 2 BetrVG, wonach er z. B. die Aufgabe hat, die zugunsten der Beschäftigten geltenden Gesetze zu überwachen oder Maßnahmen, die dem Betrieb und der Belegschaft dienen, beim Arbeitgeber zu beantragen. Informationsrechte bestehen auch nach § 90 BetrVG wegen der Planung technischer Anlagen, von Arbeitsverfahren, Arbeitsabläufen und Arbeitsplätzen. Dabei sollen die Betriebsparteien die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit berücksichtigen.10 Über die Personalplanung hat der Arbeitgeber den Betriebsrat nach § 92 BetrVG zu informieren. Schließlich handelt es sich bei den angesprochenen Vorgängen um Themen, die auch in den Wirtschaftsausschuss jedenfalls nach § 106 Abs. 3 Nr. 3, 4, 5 und 10 BetrVG gehören. Besteht ein Aufsichtsrat, ist dieser nach § 90 AktG bei strategischen Entscheidungen wie den oben geschilderten Veränderungsprozessen einzubeziehen. Der Informationsanspruch des Betriebsrates ist fortlaufend und unaufgefordert vom Arbeitgeber zu erfüllen. Die Information hat rechtzeitig und umfassend, d. h. so früh wie möglich, zu erfolgen, damit die gesetzgeberische Intention erfüllt werden kann: Der Betriebsrat soll die Möglichkeit haben, auf die unternehmerische Entscheidung und deren Planung Einfluss zu nehmen.11 Die zur Durchführung seiner Aufgaben erforderlichen Unterlagen sind dem Betriebsrat nach § 80 Abs. 2 BetrVG zur Verfügung zu stellen bzw. nach § 90 Abs. 1 BetrVG vorzulegen. Unter „Vorlage“ ist ebenfalls, wenn erforderlich, eine Überlassung auf Dauer zu verstehen, da § 80 BetrVG als übergreifende Vorschrift zu sehen ist.12 Der Betriebsrat muss sich ein möglichst genaues Bild vom Umfang und den Auswirkungen der geplanten Maßnahme machen können. Dafür müssen ihm alle wesentlichen Tatsachen, Einschätzungen und Bewertungen zugänglich gemacht werden (Buschmann 2018; Klebe 2018; Fitting et al. 2018).13 Gerade bei KI ist es dabei auch erforderlich, dass die Arbeitsmittel und (Software-)Systeme für die Beschäftigten transparent sind und ihnen klar ist, welche genauen Anforderungen und Erwartungen bei der Erfüllung der Arbeitsaufgaben bestehen (Kothe 2015, S. 1417f.). 10 Vgl. auch Kohte, FS Klebe, 2018, S. 237, 238 f. 11 BAG, 11.12.2991 – 7 ABR 16/91 – AP Nr. 2 zu § 90 BetrVG 1972; Klebe 2018 (im Folgenden: DKKW), § 90 Rn. 19 mwN.; Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier (Hrsg.), BetrVG, 29. Aufl., München 2018 (im Folgenden: Fitting), § 90 Rn. 8 f.; Kohte, FS Klebe, 2018, S. 237, 239. 12 Vgl. DKKW-Klebe (Fn. 11), § 90 Rn. 25 f.; Fitting (Fn. 11), § 90 Rn. 12. 13 DKKW-Buschmann (Fn. 11), § 80 Rn. 97; DKKW-Klebe (Fn. 11), § 90 Rn. 23; Fitting (Fn. 11), § 90 Rn. 11.
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Erst nach Abschluss der Informationsphase ist dann die Beratung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat durchzuführen. Die Beratungsrechte können nach richtiger Auffassung mit dem Unterlassungsanspruch des Betriebsrates, auch per einstweiliger Verfügung, gesichert werden, wenn die Information des Arbeitgebers nicht ausreichend ist (ebd.). Gerade dies ist in der Praxis häufig ein Problem: Die Information erfolgt zu spät, nur scheibchenweise oder Entscheidungen sind bereits getroffen (ebd.). Schließlich entsteht bei den Informationsrechten generell noch ein weiteres Problem, wenn das Unternehmen (der Betrieb) eine ausländische Mutter hat. Hier ist die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes (BAG 2018) zu restriktiv. So soll der Betriebsrat z. B. kein Informationsrecht haben, wenn Aktienoptionen nicht vom Arbeitgeber, sondern von der ausländischen Muttergesellschaft gewährt werden. Dem kann nicht gefolgt werden. Auch wenn die Leistung durch die Muttergesellschaft erfolgt, bleibt es dabei, dass diese ausschließlich wegen des Arbeitsverhältnisses gewährt wird und Arbeitsentgelt ist. Hiermit wird kollektiv oder/und individuell die Arbeit der Beschäftigten honoriert bzw. eine besondere Motivierung für die Arbeit angestrebt. Der Arbeitgeber macht sich die Leistung zu eigen. Er hat deshalb zu informieren und auch die Einhaltung von Mitbestimmungsrechten (z. B. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG) sicherzustellen. Dies wird durch die steuerliche Bewertung bestätigt (Klebe 2018). Der Arbeitgeber ist auch in diesem Falle zur Abführung der Steuern der Beschäftigten verpflichtet (§ 38 Abs. 1 Nr. 3 EStG). Nicht zuletzt dieser Umstand zeigt, dass er die entsprechenden Informationen, z. B. über die Gewährung von Aktienoptionen oder Gratifikationen, hat und anderweitige Erklärungen Schutzbehauptungen sind, um den Betriebsrat ins Leere laufen zu lassen. 4.2
Handlungsfelder und Rechte des Betriebsrates
Zu den wichtigsten Handlungsfeldern des Betriebsrates gehören Beschäftigungssicherung und Qualifizierung, aber auch der Gesundheitsschutz von Beschäftigten und vor allem der Datenschutz. Die Mitbestimmungsrechte sind dabei den neuen Herausforderungen der Betriebsratsarbeit nicht in allen Bereichen ausreichend angepasst. 4.2.1
Beschäftigungssicherung und Qualifizierung
Hinsichtlich der arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen der Digitalisierung und insbesondere des wachsenden Einsatzes von lernenden Computersystemen auf die Beschäftigung gibt es sowohl optimistische als auch pessimistische Studien. Zurecht wird aber darauf hingewiesen, dass es sich um Prognosen mit jeweils unsicheren Faktoren handelt (Ramge 2018). Daugherty und Wilson (2018) etwa
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heben in ihrer Analyse, die auf einer Studie mit 1.500 Unternehmen basiert, die lernende Computersysteme einsetzen, hervor, dass die größten Produktivitätssteigerungen zu erzielen sind, wenn Mensch und Maschine zusammenarbeiten und nicht miteinander konkurrieren. Gleichwohl werden durch den Einsatz von Algorithmen Arbeitsplätze wegfallen, weil viele Prozesse neugestaltet und automatisiert werden. Andere, neue Arbeitsplätze werden entstehen. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen zu den Auswirkungen der Digitalisierung insgesamt.14 Diese legen nahe: Durch intensive Weiterbildung wird die Möglichkeit bestehen, viele Beschäftigte für Arbeitsplätze, die sich durch die Transformation ändern oder neu entstehen, zu qualifizieren. Zwingend nötig ist allerdings ein entsprechender Gestaltungswille in den Betrieben, aber auch hinsichtlich der gesetzlichen Rahmenbedingungen von Weiterbildung in der Politik. Der Betriebsrat kann nach § 92a BetrVG Vorschläge zur Sicherung und Förderung der Beschäftigung machen. Sie werden sich aus den Informationen des Arbeitgebers und der Beratung mit ihm ergeben. Zudem hat der Betriebsrat die Möglichkeit, die Beschäftigten zu befragen und nach § 80 Abs. 2 S. 4 BetrVG sachkundige Arbeitnehmer als Auskunftsperson heranzuziehen. Schließlich besteht auch nach § 80 Abs. 3 BetrVG und erleichtert nach § 111 S. 2 BetrVG die Möglichkeit, Sachverständige zu seiner Unterstützung heranzuziehen (Däubler 2018). Zur Sicherung der Beschäftigung selbst stellt das Gesetz nur eingeschränkte Mitbestimmungsmöglichkeiten zur Verfügung: Nach §§ 111 f. BetrVG kann der Betriebsrat mit einem Interessenausgleich, der allerdings nicht erzwingbar ist, versuchen, die Betriebsveränderung selbst zu gestalten. Kommt der Interessenausgleich zustande, ist er nach richtiger Auffassung auch einklagbar (Däubler 2018).15 Ansonsten bleiben nur die Möglichkeiten des Sozialplans, nämlich wirtschaftliche Nachteile für die Beschäftigten auszugleichen. Voraussetzung ist in jedem Falle, dass eine Betriebsveränderung vorliegt. Hierfür kommen bei der Digitalisierung generell und spezifisch beim Einsatz schwacher KI § 111 S. 3 Nr. 4 („Grundlegende Änderungen der Betriebsorganisation […] oder der Betriebsanlagen“) und Nr. 5 BetrVG („Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden und Fertigungsverfahren“) in Frage. Bei den Betriebsanlagen reicht auch die Änderung einzelner, wenn es sich um solche handelt, die in der Gesamtschau von erheblicher Bedeutung für den gesamten Betriebsablauf sind. Ist die Bedeutung zweifelhaft, ist letztlich auf die Zahl der Arbeitnehmer (siehe § 17 Abs. 1 KSchG), die von der Änderung der Betriebsanlagen betroffen werden, abzustellen. Ähnlich ist die Beurteilung bei den Arbeitsmethoden und Fertigungsverfah14 Vgl. die Nachweise bei Klebe, NZA-Beil. 3/2017a, S. 77, 79 f. 15 LAG München, 16.7.1997 – 9 TaBV 54/97 – AuR 1998, 89.
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ren (Däubler 2018).16 Auch hier kann der Betriebsrat seine Rechte nach § 112 Abs. 2 BetrVG mit dem Unterlassungsanspruch, gegebenenfalls per einstweiliger Verfügung, sichern (ebd.).17 Freilich ist das dann ein Problem, wenn die Einführung von schwacher KI ein schleichender Prozess ist. In Hinblick auf die Weiterqualifizierung der Beschäftigten ist insbesondere das Initiativrecht des Betriebsrates nach § 97 Abs. 2 BetrVG von Bedeutung. Er kann bei Plänen des Arbeitgebers, die dazu führen, dass die Beschäftigten ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können, die Einführung von Maßnahmen der betrieblichen Berufsbildung einfordern und ggf. über die Einigungsstelle durchsetzen („Anpassungsqualifikation“). Nach § 98 BetrVG bestimmt er auch bei der Durchführung der betrieblichen Bildungsmaßnahmen mit. 4.2.2
Arbeits- und Gesundheitsschutz
Die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates ergeben sich aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 und § 91 BetrVG. Der Letztere hat allerdings wegen seiner extrem hohen Anforderungen in der betrieblichen Praxis keine Bedeutung. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG setzt eine Rahmenvorschrift voraus, die unmittelbar oder mittelbar dem Gesundheitsschutz dient und dem Arbeitgeber für seine Maßnahmen einen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum lässt. Dieser ist dann von den Betriebsparteien gemeinsam auszufüllen.18 Als Rahmenvorschriften bei KI-Anwendungen kommen z. B. die Regelungen des ArbSchG und auch der BetrSichV in Frage (Klebe 2018).19 Die Rechte des Betriebsrates beginnen dabei sinnvollerweise mit der Gefährdungsbeurteilung, bei der er ein Mitbestimmungsrecht u. a. nach § 5 ArbSchG in Verbindung mit § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG hat. Eine Gefährdung kann sich z. B. aus unzureichender Qualifikation und Unterweisung der Beschäftigten oder aus psychischen Belastungen bei der Arbeit ergeben (§ 5 Abs. 3 Nr. 5, 6 ArbSchG). Beschäftigte und insbesondere auch Vorgesetzte sind also gründlich auf den Einsatz von KI vorzubereiten. Ihre betriebliche Anwendung ist mit den konkreten Auswirkungen genau zu analysieren. So wird sich z. B. die Frage stellen, ob psychische Belastungen insbesondere dann zunehmen, wenn es zu veränderten Weisungsstrukturen kommt, der Algorithmus sozusagen zum Vorgesetzten wird, 16 BAG, 26.10.1982 – 1 ABR 11/81 – AP Nr. 10 zu § 111 BetrVG 1972; BAG, 23.8.1990 – 6 AZR 528/88 – AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge Keramikindustrie; DKKW-Däubler (Fn. 11), § 111 Rn. 107, 109, 114. 17 DKKW-Däubler (Fn. 11), § 112, 112 a Rn. 52 ff. mwN. 18 Vgl. z. B. BAG, 28.3.2017 – 1 ABR 25/15 – NZA 2017, 1132, 1135 f.; BAG, 18.7.2017 – 1 ABR 59/15 – NZA 2017, 1615, 1616. 19 DKKW-Klebe (Fn. 11), § 87 Rn. 239 ff., 249.
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oder ob der Einsatz von schwacher KI das Arbeitstempo für Beschäftigte in der Zusammenarbeit gesundheitsgefährdend steigert. Entsprechende gesundheitsfördernde Maßnahmen lassen sich dann, wenn sich eine konkrete Gefährdung, also potenziell gesundheitlich schädliche Einflüsse oder die Möglichkeit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung, feststellen lässt, z. B. im Rahmen von § 3 ArbSchG durchsetzen (Fieseler und Berger 2018).20 Als Mittel der Gefährdungsbeurteilung kann grundsätzlich auch eine Befragung der Beschäftigten durchgeführt werden.21 Nach §§ 3-6 BetrSichV (Kohte 2015) muss für Arbeitsmittel ebenfalls eine Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich physischer und psychischer Belastungen durchgeführt werden. Sie dürfen erst eingesetzt werden, wenn auch die erforderlichen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind (Kohte 2018). Auch hier hat der Betriebsrat Mitbestimmungsrechte nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG bei der Analyse und den erforderlichen Maßnahmen. 4.2.3
Beschäftigtendatenschutz
Eine zentrale Bedeutung kommt auch dem Beschäftigtendatenschutz zu. Algorithmische Systeme verwenden aber riesige Datenmengen. Die Aufgabe, diese Daten der Beschäftigten zu schützen, obliegt auch dem Betriebsrat. 4.2.3.1
Die allgemeine Rechtslage
Maßgeblich sind hier insbesondere das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und das Bundesdatenschutzgesetz. Zu § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG gibt es ausführliche BAG-Rechtsprechung.22 Danach besteht ein Mitbestimmungsrecht, wenn personenbeziehbare Daten technisch erfasst oder/und verarbeitet werden. Es kommt nicht auf eine Kontrollabsicht des Arbeitgebers an oder darauf, ob mit den Daten überhaupt eine sachgerechte Beurteilung von Beschäftigten möglich wäre. Die Erfassung und Verarbeitung, z. B. auf der Basis einer Betriebsvereinbarung, muss das Persönlichkeitsrecht der Beschäftigten und zwingende gesetzliche Vorschriften beachten. Danach können Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht nur gerechtfertigt sein, wenn sie geeignet, erforderlich und bei Berücksichtigung der 20 Vgl. BAG, 18.7.2017 – 1 ABR 59/15 – NZA 2017, 1615, 1616; BAG, 21.11.2017 – 1 ABR 47/16 – NZA 2018, 380, 383; BAG, 24.4.2018 – 1 ABR 6/16 – NZA 2018, 1565, 1573 f.; LAG Köln, 20.8.2018 – 9 TaBV 32/18 – ZBVR online 2019, 6 Rn. 15 ff.; Fieseler/Berger, NZA 2018, 1520 ff. 21 BAG, 21.11.2017 – 1 ABR 47/16 – NZA 2018, 380, 383. 22 Vgl. zuletzt BAG, 13.12.2016 – 1 ABR 7/15 – NZA 2017, 657, 661; BAG, 25.4.2017 – 1 ABR 46/15 – NZA 2017, 1205, 1209; vgl. auch Treber, FS Klebe, 2018, S. 388 ff.; zu Dohna-Jäger, FS Klebe, 2018, S. 101 ff.; Klebe, AuR 2017, 307 ff.
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garantierten Freiheitsrechte angemessen sind, um den verfolgten legitimen Zweck zu erreichen. Dies führt im dritten Prüfungsschritt zu einer Interessenabwägung: Die Schwere des Eingriffes in das Persönlichkeitsrecht darf nicht bei einer Gesamtabwägung außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe stehen (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne).23 4.2.3.2
Regelungsansätze bei schwacher KI
Die Grundsätze der Rechtsprechung sind also klar. Bei Anwendungen von KI mit personenbeziehbaren Daten – und dies wird sehr häufig der Fall sein –, besteht also ein Mitbestimmungsrecht. Doch hier stellen sich nun sehr praktische Fragen. Wenn Systeme sich mithilfe Maschinellen Lernens ständig selbst weiterentwickeln und Ergebnisse, wenigstens teilweise, nicht bis ins Letzte vorhersehbar sind, müsste im Grunde bei jeder Änderung der Betriebsrat sein Mitbestimmungsrecht ausüben. Dies wird kaum realistisch sein und würde beide Betriebsparteien völlig überfordern. Die Ausübung der Mitbestimmung bei KI-Anwendungen wird sich also von der bisher üblichen bei technischen Einrichtungen unterscheiden müssen. Ein Weg, diese praktischen Probleme mit einer Betriebsvereinbarung anzugehen, ist, anonymisierte Daten zu verarbeiten.24 In einer Vielzahl von Fällen ist der Personenbezug für das Ergebnis irrelevant. Um Missbrauchsgefahren zu begegnen, werden zudem technische Lösungen, wie sie auch die DSGVO z. B. in Art. 25 anspricht, erforderlich sein, also feste Standards, die bei jeder Anwendung automatisch implementiert und nicht jedes Mal neu zu vereinbaren sind. Bei der Definition des Algorithmus müssen demzufolge z. B. bereits Löschfristen festgelegt werden. Personenbeziehbare Daten sind zu aggregieren. Wichtig wäre auch, wie Eder (2018) vorgeschlagen hat, dass bei der Definition des Algorithmus eine mitbestimmungsfreundliche Technikgestaltung und mitbestimmungsfreundliche Voreinstellungen berücksichtigt werden. Ein Verwertungsverbot von personenbeziehbaren Daten und Auswertungen zur Leistungs- und Verhaltenskontrolle oder zu personellen Einzelmaßnahmen lässt sich auch auf der Basis der DSGVO in einer Betriebsvereinbarung festlegen. Werden die Daten nicht grenzüberschreitend verarbeitet, ist Art. 1 Abs. 3 nicht einschlägig, erfolgt der Vorgang grenzüberschreitend, wird der freie Verkehr der Daten nicht eingeschränkt, sondern nur ihre Verwendung. Auch eine Zertifizierung von KI-Anwendungen, die die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten schützen, wäre sinnvoll (Bundesregierung 2018). Zudem muss gewährleistet sein, dass sowohl die verwendeten Daten als auch die Methode des Algorithmus nachvoll23 BAG, 25.4.2017 – 1 ABR 46/15 – NZA 2017, 1205, 1209. 24 Vgl. auch die Verordnung (EU) Nr. 1807/2018 v. 14.11.2018 zum freien Verkehr nichtpersonenbezogener Daten in der Europäischen Union, ABl. 2018, L 303/59.
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ziehbar ist (Eder 2018; Zweig 2019). Schließlich wird es wichtig sein, dass die Betriebsparteien Prozessvereinbarungen treffen, die es ihnen ermöglichen, Arbeitsweise und Entscheidungen der KI zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Hierfür sind auch befristete Regelungen bzw. Pilotprojekte geeignet, die u. a. Informations-, Beratungs- und Kontrollrechte für den Betriebsrat präzisieren. Es bedarf eines Tests des Systems, um Fehlerquellen zu identifizieren (Zweig 2019). Und schließlich: Es wäre ein Albtraum, wenn Algorithmen so definiert würden und arbeiteten, dass sie menschliche Störungen ausschließen. Die Position der Arbeitgeber (BDA 2018) erkennt zwar die neue Problematik im § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, bietet allerdings keine angemessenen Lösungen an. Allein die Beschleunigung von Mitbestimmungsverfahren durch vorläufige einseitige Arbeitgeberentscheidungen oder die Ablehnung der von der Bundesregierung in ihrer KI-Strategie angesprochenen Ergänzung der Vorschrift durch Hinzuziehung eines Sachverständigen und eines Beschäftigtendatenschutzgesetzes sind keine verantwortlichen Vorschläge, sondern erkennbar ausschließlich interessendominiert. Schließlich ist für den Datenschutz in einer globalisierten Welt von großer Bedeutung, dass Standards gesetzt werden, die die Persönlichkeitsrechte weltweit schützen. In diesem Zusammenhang ist es durchaus aufschlussreich, dass Facebook verkündet hat, die EU-Standards weltweit anzuwenden, und Tim Cook, der CEO von Apple, die DSGVO für vorbildlich, auch für die USA, hält (Pennekamp und Lindner 2018). 4.2.4
Personalentscheidungen
Wie oben erwähnt, werden Algorithmen auch bei Personalentscheidungen eingesetzt (Schmoll und Bader 2019; Dzida 2017). So dienen sie z. B. der Vorauswahl bei Einstellungen. Ob Algorithmen objektiver urteilen als Menschen, ist erheblich in Zweifel zu ziehen (Hegemann 2019). So sagen Algorithmen in Strafverfahren die Rückfälligkeit bei Afroamerikanern zu Unrecht öfter als hochwahrscheinlich vorher. Oder anders formuliert: Wenn Trainingsdaten Diskriminierungen enthalten, fließen sie auch in die Bewertungen und Ergebnisse mit ein (Zweig 2019). Die Diskriminierungsverbote des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gelten selbstverständlich auch beim Einsatz von Algorithmen (Nollert-Borasio et al. 2019). Der Betriebsrat hat somit allen Grund, seine bei der Personalauswahl bestehenden Rechte sorgfältig wahrzunehmen. Er sollte sich also, wenn ein Algorithmus verwendet wird, hierüber sehr umfassend informieren und prüfen, ob er diskriminierungs- und vorurteilsfrei ist; ob er tatsächlich in der Lage ist, eine vernünftige, faire Entscheidung zu treffen. Hierfür ist insbe-
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sondere zu fragen, mit welchen Daten der Algorithmus trainiert wurde.25 Zudem sollte ein Algorithmus nur bei der Vorauswahl eingesetzt werden. Die endgültige Entscheidung müssen immer Menschen treffen. Dies gibt auch Art. 22 DSGVO vor, wonach eine Entscheidung, die gegenüber einer Person rechtliche Wirkung entfaltet oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt, nicht ausschließlich durch eine automatisierte Verarbeitung getroffen werden darf.26 In Erwägungsgrund 71 zur DSGVO wird als Beispiel ein Online-Einstellungsverfahren ohne jegliches menschliches Eingreifen genannt. Der Ausnahmetatbestand der ausdrücklichen Einwilligung wird nur in seltenen Fällen gegeben sein. Eine wirksame Einwilligung setzt die Informiertheit der betroffenen Person, die Bestimmtheit der Erklärung und ihre Freiwilligkeit voraus. Die Anforderungen an die Informiertheit werden sowohl den DatenInput, die Logik und Struktur des Algorithmus wie auch seine Entscheidungskriterien umfassen (Weichert 2018).27 Von einer Freiwilligkeit wird man nur bei gleicher Augenhöhe sprechen können, die zwischen den Parteien im Arbeitsverhältnis und bei Bewerbungen typischerweise nicht gegeben ist. Ein mitbestimmungsrechtlicher Ansatz für den Betriebsrat, das Einstellungsverfahren und sonstige personelle Maßnahmen transparent und für die Betroffenen nachvollziehbar, diskriminierungsfrei und fair zu regeln, ergibt sich aus § 95 und §§ 99, 102 BetrVG. In Betrieben mit mehr als 500 Arbeitnehmern hat der Betriebsrat bei Auswahlrichtlinien ein Initiativrecht. Aber auch in kleineren Betrieben, in denen der Betriebsrat kein Initiativ-, sondern nur ein Zustimmungsbzw. Zustimmungsverweigerungsrecht hat, wird eine systematische Analyse der Personalentscheidungen häufig ergeben, dass der Arbeitgeber auch ohne schriftliche Fixierung Richtlinien vorgibt und beachtet. Diese sind dann mitzubestimmen (Klebe 2018) und können das Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrates bei personellen Einzelmaßnahmen nach § 99 Abs. 2 Nr. 2 BetrVG auslösen. Nach § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG kann der Betriebsrat im Übrigen auch die Zustimmung verweigern, wenn die personelle Maßnahme gegen ein Gesetz, wie beispielsweise die DSGVO, verstößt. Wichtig ist aber vor allem, dass der Betriebsrat beim Einsatz von KI in einem ersten Schritt über § 95 BetrVG das Auswahlverfahren im Sinne einer fairen Behandlung von Bewerbern und Beschäftigen gestaltet. Da die Auswahlrichtlinien auch Kündigungen betreffen,28 25 Einen Fragenkatalog hat Zweig 2019, S. 285 zusammengestellt. 26 Vgl. im Einzelnen Weichert 2018 (im Folgenden: DWWS), Art. 22 DSGVO Rn. 25 ff.; Däubler 2018, S. 296. 27 DWWS-Weichert (Fn. 26), Art. 22 DSGVO Rn. 25 ff., 46 ff.; vgl. auch § 6a BDSG-alt. 28 Nach richtiger Auffassung können Auswahlrichtlinien nicht nur Reglungen für betriebsbedingte, sondern auch für personen- und verhaltensbedingte Kündigungen aufstellen; vgl. DKKW-Klebe (Fn. 11), § 95 Rn. 29 f. mwN.; das BAG lässt im Übrigen den Widerspruch nach § 102 Abs. 3
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besteht zu § 102 BetrVG, wie auch das Widerspruchsrechtes des Betriebsrates nach § 102 Abs. 3 Nr. 2 BetrVG zeigt, ebenfalls eine enge Verbindung. 4.2.5
Weisungsrecht des Arbeitgebers
Denkbar ist auch, dass durch Algorithmen Auswahlentscheidungen zum Einsatz von Beschäftigten getroffen oder den Beschäftigten Vorgaben gemacht werden, z. B. eine bestimmte Reihenfolge der zu erfüllenden Aufgaben vorgegeben wird. Däubler (2018, S. 298) hat zu Recht auf § 106 GewO hingewiesen, wonach das Direktionsrecht „nach billigem Ermessen“ auszuüben ist und zudem auf Art. 22 DSGVO. Um diese Problematik zu lösen, geht er davon aus, dass Vorgaben eines Algorithmus nicht als Anweisung, sondern als Empfehlung zu qualifizieren sind und daher keine rechtlich bindende Wirkung haben (Däubler 2018; Ivanova et al. 2018). 5
Regelungsbedarf
Der Einsatz von KI-Systemen stellt völlig neue Anforderungen auch an das Handeln der Betriebsparteien. Ein Nachvollziehen und Verstehen insbesondere von Algorithmen ist dabei unverzichtbar. Es muss immer klar sein, wann und wo algorithmische Entscheidungen zum Einsatz kommen, und auch, welche Daten und Methoden dabei verwendet werden. Nur auf dieser Basis kann der Betriebsrat seine Mitbestimmungsrechte im Sinne der Beschäftigten ausüben. Darüber hinaus ist solche Transparenz auch für die Beschäftigten unverzichtbar. Dies entspricht auch den Forderungen der DEK an die Bundesregierung, die insbesondere Transparenz, Erklärbarkeit und Nachhaltigkeit als einen Grundsatz für verantwortungsvollen Umgang mit algorithmischen Systemen benennt (DEK 2019). Die Europäische Expertengruppe macht zu Recht deutlich, dass eine Beteiligung der Interessenträger während des gesamten Lebenszyklus des KISystems erforderlich ist. Sie verlangt eine Schulungs- und Ausbildungsförderung mit dem Ziel, allen Interessenträgern Kompetenzen auf dem Gebiet der vertrauenswürdigen KI zu vermitteln (Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz 2019). Es ist erforderlich, dass Mitbestimmungsrechte, wie dies auch die Bundesregierung in ihrem Strategiepapier (2018) anspricht, den beschriebenen Entwicklungen angepasst werden. Dabei sind allerdings die Passagen, die die Absicht beschreiben, klarzustellen, dass die §§ 90, 95 BetrVG auch auf KI Anwendung BetrVG dementsprechend für alle diese Kündigungen zu, vgl. BAG, 6.12.1979 – 2 AZR 1055/77 – AP Nr. 2 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung.
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finden, ebenso überflüssig wie die Möglichkeit für die Betriebsparteien, sich gemeinsam im Rahmen von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG auf einen externen Sachverständigen zu einigen (Bundesregierung 2018). Ersteres ist, wie gezeigt, ohnehin der Fall, letzteres ist bei einer Einigung immer möglich. Sinnvoll wäre vielmehr, den Einsatz von KI bei allen Personalentscheidungen ausdrücklich auf Vorprüfungen zu begrenzen und entsprechend § 111 S. 2 BetrVG, allerdings unabhängig von der Betriebsgröße, dem Betriebsrat im Rahmen von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG das Recht zu geben, Sachverständige ohne vorherige Zustimmung des Arbeitgebers einzuschalten, wenn dies, wie im Regelfall, erforderlich ist. Noch besser wäre allerdings, dieses Recht generell zu geben und den § 80 Abs. 3 BetrVG in diesem Sinne zu novellieren. Gleichzeitig sollten die Mitbestimmungsrechte generell den aktuellen Entwicklungen angepasst werden.29 Hierzu gehören die folgenden Aspekte: – § 92a BetrVG sollte zu einem Mitbestimmungsrecht erweitert werden, damit sich der Betriebsrat wirksamer für Beschäftigungssicherung einsetzten kann; – bei der betrieblichen Weiterbildung sollte ein generelles Initiativrecht des Betriebsrates geschaffen werden; – der Betriebsrat sollte ein Mitbestimmungsrecht bei der Personalbemessung und Arbeitsorganisation erhalten, wie dies Karl Fitting bereits 1986 (S. 27, 37ff.) vorgeschlagen hat; – § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG sollte als generelles Initiativrecht ausgestaltet und um ein Mitbestimmungsrecht beim Datenschutz und zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten ergänzt werden. Und schließlich: Ein Beschäftigtendatenschutzgesetz ist sinnvoll und überfällig (Bundesregierung 2018; DGB 2018). Auch die DEK regt einen entsprechenden politischen Prozess an (DEK 2019). Nur so wird sich der von der Bundesregierung formulierte Anspruch eines menschenzentrierten Einsatzes von KI in der Arbeitswelt einlösen lassen. Nicht umsonst hat die DEK einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit auf die Frage verwandt, wie den Vorgaben unserer Verfassung bei der Datennutzung zur Geltung verholfen werden kann (ebd.). Laut der Europäischen Expertengruppe braucht eine vertrauenswürdige KI einen menschenzentrierten Ansatz (Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz 2019). Sie hat die Grundrechte, Gesetze und ethischen Werte der Gesellschaft einzuhalten, was eigentlich selbstverständlich, aber trotzdem erwähnenswert ist. Hierbei werden die Menschenwürde, Persönlichkeits-, Freiheits- und Bürgerrechte und Grundprinzipien wie Nichtdiskriminierung, Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit genannt. Zudem wird eine Anleihe aus 29 Vgl. z. B. Klebe, NZA-Beil. 3/2017a, S. 77, 80 ff.
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der Medizin und dabei aus dem Verhältnis zwischen Arzt und Patient (Gillen 2019) genommen: KI ist zum Wohl der Menschen (als Nutzer) einzusetzen, sie darf dabei keinen Schaden verursachen, hat die Selbstbestimmungsrechte der Menschen zu achten, soll gerecht und fair sein. Darüber hinaus muss sie nachvollziehbar und erklärbar sein. Es soll zudem immer erkennbar sein, ob Nutzer es mit einer Maschine oder einem Menschen zu tun haben. Scoring, also die Bewertung und Überwachung von Bürgern durch Algorithmen, wird als Grundrechtsverletzung eingestuft und zwar sowohl, wenn sie durch den Staat erfolgt als auch durch „private Akteure“ (Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz 2019, S. 4; Yogeshwar 2019, S. 9), womit auch Arbeitgeber erfasst sind. Die Gruppe weist darauf hin, dass Transparenz keine Abhilfe für die Grundrechtsverletzungen schafft und es vielmehr die Möglichkeit geben muss, sich solchen Systemen zu entziehen, ohne dass daraus Nachteile entstehen. Die Expertengruppe nimmt zudem darauf Bezug, dass insbesondere im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein Macht- und Informationsungleichgewicht besteht (Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz 2019). Daneben fordert die Expertengruppe u. a. einige technische Voraussetzungen für die Anwendung von KI. Die ethischen und gesetzlichen Voraussetzungen sollen schon im Design des Algorithmus implementiert werden. Der Algorithmus muss vor der Anwendung in besonderer Weise getestet und validiert werden, er muss verlässlich (robust), transparent, nachvollziehbar und erklärbar sein. Fairness im Zusammenhang mit KI bedeutet für die Expertengruppe schließlich auch die Möglichkeit, sich gegen Entscheidungen der KI-Systeme und der sie betreibenden Menschen zu wehren und einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, wobei hier auf die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft gemäß Artikel 12 der EU-Grundrechtecharta verwiesen wird (ebd.). Dies sind alles wichtige Punkte, die allerdings nicht ausreichen – es bedarf roter Linien. Erforderlich sind verbindliche Richtlinien oder Gesetze für die Anwendung von KI. Es kann nicht vom guten Willen der Produzierenden und Anwendenden abhängen, ob Regeln eingehalten werden, oder von einer „aufgeklärten Einwilligung“ (Yogeshwar 2019, S. 9) Betroffener. So ist eine umfassende Auswertung von personenbezogenen Daten hin zu einem vollständigen Persönlichkeitsprofil auch in der Privatgesellschaft ebenso zu untersagen wie z. B. die Erfassung und Darstellung der sozialen Beziehungen der Beschäftigten in einem Betrieb (Social-Graph-Systeme). Entscheidungen, die Auswirkungen auf Menschen haben, wie z. B. eine Personalauswahl oder Kreditvergaben, sollten am Ende von einem Menschen, der auch die Verantwortung trägt, getroffen werden. Zudem sollte immer für Menschen die Möglichkeit bestehen, in laufende KI-Prozesse einzugreifen.
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Nötig sind weitergehende Regeln, die für Programme Grenzen ziehen, so z. B., dass sie nicht einer vollständigen Durchleuchtung von Menschen oder deren Manipulation dienen dürfen. Die konkreten Vorschläge der DEK zur Regulierung, die explizit darauf hinweist, dass ethische Grundsätze eine rechtliche Regulierung nicht ersetzen (DEK 2018, 2019), sind insofern zu begrüßen. Regulatorische Instrumente und Anforderungen an algorithmische Systeme sollen nach der DEK u. a. Korrektur- und Kontrollinstrumente, Vorgaben für die Transparenz, die Erklärbarkeit und die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse sowie Regelungen zur Zuordnung von Verantwortlichkeit und Haftung für den Einsatz umfassen (ebd.). Die Vorschläge der DEK bedürfen nun einer Konkretisierung und einer Übersetzung für das Arbeitsrecht und einer Verzahnung mit bestehender Regulierung. Das vom BMAS ab März 2020 geplante KI-Observatorium (Bundesregierung 2019) ist deshalb ein Schritt in die richtige Richtung. Wichtig sind zudem die Vorschläge, die von Randow (2014) zum öffentlichen Vergaberecht gemacht hat. So sollten Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden, die ihre Beschäftigten konsequent in Seminaren über ethische Grundsätze schulten. Das Schadensersatz- und Arbeitsrecht könne zudem auf einen Ethik-Kodex verweisen und ethisches Programmieren müsse Teil des Prüfungsstoffs an Universitäten und Schulen werden. Die DEK erwägt, den Betreibern die gesetzliche Pflicht aufzuerlegen, sich zu den Regeln eines „Algorithmic Accountability Codex“ (DEK 2019, S. 24) zu bekennen. Aber auch die Entwickler von KI brauchen eine Orientierung und Regeln, auf die sie sich in Konfliktfällen berufen können. Dies wird von Berufsverbänden der Informatiker in Deutschland (Gesellschaft für Informatik e.V. 2018) und den USA (Association for Computing Machinery 2018) auch so gesehen. Zusätzlich zu den zuvor genannten roten Linien in der Anwendung ist also eine Entwicklung von konkreten und vor allem verbindlichen Standesregeln empfehlenswert – eine Art hippokratischer Eid für Informatiker. Solche Regeln müssen für Programme Grenzen ziehen, so z. B., dass sie nicht einer vollständigen Durchleuchtung von Menschen oder deren Manipulation dienen dürfen. Sie können als Grundlage für Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen dienen,30 aber auch eine verlässliche Orientierung und Rechtfertigung für Whistleblower darstellen. Und schließlich: Wichtig könnte auch die Bildung einer Art Algorithmen-TÜV sein, einer unabhängigen Prüfstelle, die zertifiziert.31 Auch hierzu liegen Vorschläge der DEK vor (DEK 2019).
30 BAG, Urteil vom 24. Mai 1989 – 2 AZR 283/88. 31 Vgl. auch oben unter IV.2.c(2).
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Autorinnen und Autoren Dr. Verena Bader ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Personalmanagement und Organisation am Institut für Entwicklung zukunftsfähiger Organisationen an der Universität der Bundeswehr München. Ihre Forschungsinteressen liegen an der Schnittstelle von Informationssystemen, Organisationstheorie und Arbeit. Insbesondere beschäftigt sie sich mit Forschungsfragen zu digitalen Technologien und (lernenden) Algorithmen in ihrer Beziehung zu Menschen sowie deren Auswirkungen auf Arbeit und Organisation. Karl-Heinz Brandl war als Industriemeister Elektrotechnik 20 Jahre bei der Deutschen Telekom AG im Geschäftskundenbereich beschäftigt. Ab 2000 war er als Projektleiter im ersten arbeitnehmerorientierten Tele-Arbeits-Beratungsprojekt OnForTe (Online Forum Telearbeit) aktiv. Anschließend hat er als Geschäftsführer der quid! GmbH Datenschutzstandards entwickelt sowie als Geschäftsführer der ver.di-innotec gGmbH Betriebsräte bei der Einführung neuer Technologien beraten. Ab 2010 leitete er das IKT-Projekt bei der ver.di Bundesverwaltung, ab 2015 leitete er den Bereich Innovation und Gute Arbeit bei der ver.di Bundesverwaltung. Seit dem 01.01.2020 baut er das Forschungsprojekt zum Thema Beschäftigtendatenschutz bei der Input Consulting gGmbH auf. Dr. Michael Bolte arbeitet in der Abteilung Grundsatzangelegenheiten und Gesellschaftspolitik des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Berlin. Dr. Tanja Carstensen, Soziologin, Institut für Soziologie, Ludwig-MaximiliansUniversität München, zurzeit Leitung des Projektes „Wandel der Geschlechterverhältnisse durch Digitalisierung“ (gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung). Von 2003 bis 2015 Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Arbeit-GenderTechnik der Technischen Universität Hamburg, seit 2016 am Lehrbereich Soziologie und Gender Studies der LMU München. 2018 Vertretung der Professur für Soziologie an der Universität Hohenheim. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie des Internets und der Digitalisierung, Wandel und Kontinuitäten in Geschlechterverhältnissen, Wandel der Arbeit; insbesondere: veränderte Anforderungen und Belastungen, neue Alltagspraxen und Subjektivierungsweisen, Verschiebungen und Verfestigungen sozialer Ungleichheiten, betriebliche Gestaltungs- und Aushandlungsprozesse neuer Technologien sowie individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit im digitalen Wandel.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 V. Bader und S. Kaiser (Hrsg.), Arbeit in der Data Society, Zukunftsfähige Unternehmensführung in Forschung und Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32276-2
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Dr. Elke Eller ist seit Oktober 2015 Mitglied des Vorstandes für das Ressort Personal sowie Arbeitsdirektorin der TUI Group. Darüber hinaus war sie von 2015 bis 2019 Präsidentin des Bundesverbandes für Personalmanager (BPM). Vor ihrer Tätigkeit bei der TUI AG war Eller bei der Volkswagen AG, wo sie seit 2007 Mitglied des Vorstandes im Geschäftsbereich Personal und Organisation bei der Volkswagen Financial Services AG war. Seit 2012 war sie Mitglied des Markenvorstandes im Geschäftsbereich Personal von Volkswagen Nutzfahrzeuge. Stationen vor ihrem Wechsel in die Industrie waren Leitungsfunktionen in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, beim Vorstand der Industriegewerkschaft Metall sowie bei der Otto-Brenner-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung. Dr. Markus Ellmer ist aktuell als UX and Innovation Researcher bei TeamEcho tätig, wo er an der userzentrierten (Weiter)Entwicklung digitaler HR-Technologie mitwirkt. In seiner Forschung beschäftigt er sich vorwiegend mit IT-basiertem Management von Arbeit aus arbeits-, wissens- und techniksoziologischen Perspektiven. Dazu zählen insbesondere digitale Formen von Mitsprache/Mitbestimmung, datengetriebene HRM Praktiken (insbesondere HR Analytics) sowie plattformbasiertes Management von Arbeit im Kontext von Crowd- und Gigwork. Prof. Dr. Thomas Gegenhuber promovierte an der Johannes Kepler Universität Linz. Thomas Gegenhuber blickt mit organisationstheoretischen Perspektiven auf Phänomene der digitalen Transformation, wie etwa crowd-getriebene Organisationsformen, Offenheit als Organisationspraxis (Open Strategy, Open Innovation und Open Government), Cultural Entrepreneurship in einer digitalen Ökonomie sowie die gesellschaftlichen Konsequenzen der Digitalisierung. Seine Forschung wurde unter anderem in Long Range Planning, Business & Society, Organization, Human Relations und Information & Organization publiziert. Dr. Detlef Gerst leitet das Ressort „Zukunft der Arbeit“ beim Vorstand der IG Metall. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Arbeitspolitik, Gestaltung von Produktionssystemen, agile Unternehmen, Digitalisierung von Arbeit, Industrie 4.0 und Künstliche Intelligenz. Dr. Michael Gogola arbeitet in der Grundlagenabteilung sowie der Abteilung Arbeit & Technik der Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier (GPA-djp), hat an der Universität Wien zu arbeitsrechtlichen Fragestellungen der ortsgebundenen Plattformarbeit dissertiert und beschäftigt sich unter
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anderem mit den Themen Arbeitszeit, Digitalisierung und Datenschutz sowie mit Rechtsfragen der modernen Arbeitswelt. Prof. Dr. Vera Hagemann ist Professorin für Personalwesen/-psychologie im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kompetenzerwerb, High Responsibility Teams, Feedback sowie Veränderungen der Arbeits- und Führungsbeziehungen und Anforderungen und Ressourcen der Mitarbeitenden in sich wandelnden Arbeitskontexten aufgrund von Digitalisierung. Heiner Heiland, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Organisationssoziologie an der TU Darmstadt und forscht zu plattformvermittelten Dienstleistungen und der Digitalisierung der Arbeit. Dr. Marc Hesenius ist Postdoc am Lehrstuhl für Software Engineering der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Entwicklungsprozesse und -werkzeuge für datengetriebene Anwendungen sowie den technischen Aspekten von Mensch-Maschine-Interaktion, insbesondere Gestensteuerung. Thomas Hey ist als Partner der Praxisgruppe Internationales Arbeitsrecht bei Bird & Bird LLP in Düsseldorf tätig. Als Fachanwalt für Arbeitsrecht verfügt er über mehr als 20 Jahre Erfahrung und berät Mandanten insbesondere aus den Bereichen Banken- und Finanzdienstleistungen, Life Science und Healthcare, Einzelhandel und Konsumgüter sowie Sicherheit, Verteidigung und Raumfahrt. Thomas Hey ist spezialisiert auf individuelles und kollektives Arbeitsrecht sowie Dienstvertrags- und Sozialversicherungsrecht. Zu seinen Beratungsschwerpunkten zählen die Verhandlungen mit Gewerkschaften, Personal- und Betriebsräten sowie die Begleitung von Transaktionen und Umstrukturierungen. Zusätzlich berät Thomas Hey intensiv zur unternehmerischen Mitbestimmung (Aufsichtsund Verwaltungsräte). Außerhalb seiner rechtsanwaltlichen Tätigkeit publiziert Thomas Hey regelmäßig zu aktuellen Themen und Fragestellungen des Arbeitsrechtes wie Arbeit 4.0 und Digitalisierung. Marco Holzapfel ist Mitbestimmungslotse und begleitet Betriebsräte und Arbeitgeber zeitgleich in Veränderungsprozessen. Er war in leitenden HR-Positionen in unterschiedlichsten Unternehmen verschiedener Branchen. Er kennt beide Seiten der Betriebsparteien, da er selbst einmal im Betriebsrat war und auch diese Perspektive kennen und schätzen gelernt hat. Er ist Interessensvernetzer und bietet eine in der Praxis bewährte Kombination aus Prozessbegleitung, Sachverständi-
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gentätigkeit und Moderation im praktischen Umgang mit betrieblicher Mitbestimmung für beide Betriebsparteien aus einer Hand. Moritz Hütten ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Darmstadt Business School und Fellow am Center for Sustainable Economic and Corporate Policy. Er schloss sein Studium mit einem Master in Wirtschafts- und Finanzsoziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ab. Seine Forschung konzentriert sich auf normative und soziale Implikationen der Blockchain-Technologie. Zuvor arbeitete er an verschiedenen Forschungsprojekten der h_da, der Universität Frankfurt am Main sowie des Forschungszentrums SAFE Sustainable Architecture for Finance in Europe, unter anderem zu den Themen Bankenregulierung in Europa und Financial Literacy. Prof. Dr. Stephan Kaiser ist seit dem Jahr 2009 Universitätsprofessor an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Seine Promotion und Habilitation erfolgten an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Organisationstheorie, Arbeit und Personalwesen. Dr. Thomas Klebe ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Apitzsch/Schmidt/Klebe und wissenschaftlicher Berater des Hugo Sinzheimer Institutes für Arbeitsrecht, das er 2010 gegründet und bis 2019 geleitet hat. Er war in unterschiedlichen Funktionen für den Vorstand der IG Metall tätig, in den letzten Jahren als deren Justitiar. Er ist ehrenamtlicher Richter im ersten Senat des Bundesarbeitsgerichtes und Mitherausgeber und Autor von Kommentaren zum Betriebsverfassungsrecht. Daneben hat er zahlreiche Veröffentlichungen zum Arbeitsrecht publiziert mit dem Schwerpunkt Mitbestimmungsrechte und Datenschutz bei technologischen Veränderungen und der Globalisierung der Unternehmen. Tätigkeit in zahlreichen Aufsichtsräten, wie z. B. bei Daimler und Opel, und Mitherausgeber der Neuen Zeitschrift für Arbeitsrecht. Prof. Dr. Ulrich Klüh ist seit Oktober 2015 Professor für Volkswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Makroökonomik und Wirtschaftspolitik an der Darmstadt Business School. Er ist zudem Gründungsmitglied und Sprecher des Direktoriums am Center for Sustainable Economic and Corporate Policy. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre in Frankfurt/Main und Berkeley/USA promovierte er an der Munich Graduate School of Economics der LMU München. Nach seiner Promotion zum Thema Finanzkrisen arbeitete er als Volkswirt beim Internationalen Währungsfonds in Washington D.C./USA. Später wechselte er zum Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwick-
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lung und war dort als Generalsekretär tätig. Unmittelbar vor dem Ruf an die Hochschule Darmstadt war Klüh Direktor der Sparkassenakademie der Sparkassen-Finanzgruppe Hessen-Thüringen, wo er u. a. den Bereich Grundlagenresearch sowie zahlreiche Veranstaltungen zu volkswirtschaftlichen und finanzwirtschaftlichen Themen verantwortete. Die Forschungsschwerpunkte von Herrn Klüh umfassen neben geld- und finanzpolitischen Fragen insbesondere auch die Bereiche sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Theoriebildung und Dogmengeschichte. Prof. Dr. Matthias Klumpp ist Professor für Logistikmanagement an der FOM Hochschule Essen und Projektleiter am Fraunhofer-Institute für Materialfluss und Logistik (IML) Dortmund. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Digitalisierung, Qualifizierung, Mensch-Maschine-Interaktion und Nachhaltigkeit in globalen Wertschöpfungsketten. Shirley Ogolla ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Alexander von HumboldtInstitut für Internet & Gesellschaft und erforscht dort den Einsatz von digitalen Technologien am Arbeitsplatz. Sie studierte Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Sorbonne University in Paris und der New York University. Fernab vom akademischen Elfenbeinturm übersetzt sie ihre akademischen Arbeiten in interaktive Kunstinstallationen für die breite Öffentlichkeit. Marnie Plehn ist als Rechtsanwältin in der Praxisgruppe Internationales Arbeitsrecht bei Bird & Bird LLP in Düsseldorf tätig und berät in- und ausländische Mandanten insbesondere aus den Bereichen Technologie und Kommunikation, Personaldienstleistungen sowie Einzelhandel und Konsumgüter. Zu ihren Beratungsschwerpunkten zählen das individuelle und kollektive Arbeitsrecht sowie das Dienstvertrags- und Sozialversicherungsrecht. Im Rahmen ihrer Tätigkeit begleitet Marnie Plehn die Gestaltung und Auflösung von Arbeits- und Dienstverträgen, die Verhandlungen mit Betriebsräten und Gewerkschaften sowie Restrukturierungen. Dr. Kerstin Rego arbeitet derzeit in einem Forschungsprojekt zu „Digitaler Prozesssteuerung in der Industrie 4.0“ an der Johannes Kepler Universität in Linz, Österreich. Ihr aktueller Forschungsschwerpunkt liegt im Verhältnis von Organisation und Digitalisierung. Dabei interessiert sie sich insbesondere für Veränderungen in den innerorganisationalen Akteurskonstellationen, die sich im Zuge von Digitalisierungsprozessen ergeben. Zuvor hat sie 2018 mit einer Arbeit über das Emotionsmanagement in der gynäkologischen Profession an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der TU Chemnitz promoviert.
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Prof. Dr. Caroline Ruiner ist seit Oktober 2019 Unversitätsprofessorin für Soziologie an der Universität Hohenheim. Zuvor war sie Juniorprofessorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Arbeits- und Organisationssoziologie an der Universität Trier. Sie wurde 2018 an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum habilitiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neue Arbeitsbeziehungen (New Employment Relationships) sowie die Auswirkungen des Wandels von Arbeit auf individueller, organisationaler und überbetrieblicher Ebene. Dr. Katharina Schiederig ist seit August 2019 als Global Lead Diversity & Inclusion für die TUI Group tätig. Von 2017-2019 leitete sie die Geschäftsstelle des Bundesverbands der Personalmanager (BPM) in Berlin. Zuvor arbeitete die promovierte Politologin als HR-Trainerin mit Fokus Diversity Management und gründete ein HR-Start-up. Von 2012-2017 war Katharina Schiederig für das Beratungsinstitut EAF Berlin tätig. Von 2009-2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität und setzte sich mit den Perspektiven für eine zukunftsorientierte Personalpolitik auseinander. Dr. Jan-Felix Schrape (PD) ist akademischer Mitarbeiter des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. Arbeitsschwerpunkte: Technik-, Medien- und Innovationssoziologie, soziologische Theorie. Aktuelle Publikationen: The Promise of Technological Decentralization. A Brief Reconstruction. In: Society 56(1), 2019; Verteilte Innovationsprozesse: Collective Invention – User Innovation – Open Innovation. In: Handbuch Innovationsforschung, 2019; Collectivity and Power on the Internet. A Sociological Perspective, 2018 (zus. mit Ulrich Dolata). Laura Thäter ist Masterandin an der Leuphana Universität Lüneburg und Alumna der Bayerischen Elite-Akademie. Sie interessiert sich für die nachhaltige und gerechte Gestaltung der Plattformökonomie. Ihr Fokus liegt dabei momentan auf Ungleichheitsfragen im Kontext digitaler Arbeitsmärkte. Prof. Dr. Hendrik Send ist Professor für Betriebswirtschaft, insbesondere Marketing an der Hochschule Anhalt und leitet dort den Masterstudiengang OnlineKommunikation. Er promovierte an der Universität St. Gallen zum Thema Innovations-Communities und Ideengenerierung im Internet und forscht am Alexander von Humboldt-Institut für Internet & Gesellschaft zu digitalen Innovationen.
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Dr. Johanna Wenckebach, Ass. jur., ist wissenschaftiche Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht der Hans-Böckler-Stiftung und Lehrbeauftragte der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Tätig als Aufsichtsrätin und ehrenamtliche Richterin am Arbeitsgericht Berlin. Sie war Juristin und Tarifsekretärin der IG Metall Bezirksleitung Berlin-Brandenburg-Sachsen und hat in dieser Funktion u. a. Betriebsräte beraten. Wissenschaftliche Mitarbeit in verschiedenen arbeits- und sozialrechtlichen Forschungsprojekten, u. a. an den Lehrstühlen von Prof. Dr. Eva Kocher, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), und Prof. Dr. Felix Welti, Universität Kassel, sowie Prof. Dr. Guy Davidov, Hebräische Universität Jerusalem (Israel). Zahlreiche Veröffentlichungen zum Arbeits- und Sozialrecht. Prof. Dr. Werner Widuckel ist Inhaber einer Professur für Personalmanagement und Arbeitsorganisation an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er forscht und lehrt zu folgenden Themen: Wandel der Arbeit, Mitbestimmung, Organisationsgestaltung, Diversity und Personalführung. Er war zwischen den Jahren 1985 und 2005 leitender Referent des Gesamt- und Konzernbetriebsrates der Volkswagen AG und zwischen 2005 und 2010 Arbeitsdirektor und Personalvorstand der Audi AG.