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German Pages [529] Year 2019
EICHSTÄTTER STUDIEN
NEUE FOLGE Band 80
Sebastian Kießig / Marco Kühnlein (Hg.) Anthropologie und Spiritualität für das 21. Jahrhundert
EICHSTÄTTER STUDIEN Im Auftrag von Professoren der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt herausgegeben von Konstantin Maier und Erwin Möde NEUE FOLGE BAND 80 Sebastian Kießig / Marco Kühnlein (Hg.) Anthropologie und Spiritualität für das 21. Jahrhundert
VERLAG FRIEDRICH PUSTET REGENSBURG
Sebastian Kießig / Marco Kühnlein (Hg.)
Anthropologie und Spiritualität für das 21. Jahrhundert Festschrift für Erwin Möde
VERLAG FRIEDRICH PUSTET REGENSBURG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
ISSN 0170-9402 ISBN (Print) 978-3-7917-3110-0 © 2019 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlag: Martin Veicht, Regensburg Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany 2019
eISBN 978-3-7917-7256-1 (PDF)
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Inhaltsverzeichnis Sebastian Kießig / Marco Kühnlein Vorwort.................................................................................................
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Prof. Dr. Gabriele Gien, Präsidentin der KU Grußwort...............................................................................................
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Helmut Radlmeier, Mitglied des Bayerischen Landtags Grußwort...............................................................................................
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Der Mensch als Geschöpf – Gottes- und Menschenbilder Daniela Riel Verloren, in sich gekehrt, barmherzig, ohne Neid: Als geliebtes Kind des Vaters leben Die Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) als Leitprogramm für ein Mensch-Sein im 21. Jahrhundert................................................
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Regina Meyer Aspekte zur Anthropologie bei Irenäus von Lyon Impulse für die Gegenwart.....................................................................
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Peter Bruns Beobachtungen zu Anthropologie und Seelenlehre des Narsai von Nisibis († nach 496).......................................................
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Marco Kühnlein Erfahrung statt Spekulation Zur Genese des Menschenbildes bei Johannes Cassian.........................
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Manfred Gerwing Homo – Deus Zur christlichen Vision vom Menschen im 21. Jahrhundert..................
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Inhaltsverzeichnis
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz Christus und der neue Mensch Skizze der Anthropologie Romano Guardinis........................................
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René Dausner Menschwerdung Phänomenologische Annäherungen an die Theologie der Offenbarung.......................................................... 107 Robert Rapljenović „The hearts of man were made great enough to contain God himself“ Hesychastische Anthropologie aus der Perspektive Orthodoxer Psychotherapie....................................................................
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Heinrich Petri Fragmente einer Anthropologie in den „Pensées“ von Blaise Pascal....
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Christoph Böttigheimer Wie weit reicht das „natürliche Licht menschlicher Vernunft“? Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie unter ökumenischer Rücksicht...............................................................
147
Tammo E. Mintken Platons theologische Kritik an der Vernünftelei....................................
159
Der Mensch als Suchender – Spiritualität und Ritual Ludwig Mödl Spiritualität ohne Gott............................................................................
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Jean Ehret Spiritualität als interaktives Beziehungsgeschehen von Gott, Welt und Ich Versuch einer dichten Begriffsbestimmung...........................................
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Inhaltsverzeichnis
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Michael Wohner / Marco Benini Die „Gebrauchsesoterik“ als Anfrage an den christlichen Glauben Überlegungen zum pastoralliturgischen Einsatz der „Volksfrömmigkeit“.........................................................................
203
Eva-Maria Gärtner Der Mensch als homo viator Pilgern als Option in postmoderner Zeit................................................
223
Jürgen Bärsch Wettersegen oder Blitzableiter? Anthropologie und Theologie im Spiegel der Benediktionsliturgie „aufgeklärter“ Ritualien..................................
231
Michael Remery The Tomb of St. Peter and Evangelization The allegorical and liturgical interpretation of the Vatican Basilica...... 245 Johannes Hofmann Der heilige Bischof Clemens von Rom – präsent in Ost und West.......
255
Bogdan Biela Spiritualität der Gemeinschaft Methodische Aspekte ausgehend von Johannes Paul II.........................
275
Andreas Wollbold Biblisch predigen....................................................................................
291
Georg Rubel „Selig die Armen im Geiste...“ (Mt 5,3) – Eine spiritualitätstheologische Lesart der matthäischen Makarismen...
303
Klarissa Humml Ignatianische Spiritualität im Apostolischen Schreiben Gaudete et exsultate...............................................................................
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Inhaltsverzeichnis
Der Mensch als Berufener – Gemeinschafts- und Lebensgestaltung Ulrich Hemel Mentale Architektur und Wirtschaftsanthropologie – eine Zukunftsaufgabe.............................................................................
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André Habisch / Laura Sasse / Claudius Bachmann Nachhaltigkeitsmanagement braucht Praktische Weisheit Eine systematische Reflexion.................................................................
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Sebastian Speer Gelebte communio und dienstleistungsorientierte Praxis Überlegungen aus dem Tourismus für die Pastoral................................ 365 Sebastian Kießig Eingeladen zum Fest des Glaubens und Introibo ad Altare Dei Der pastorale Dienst durch die Liturgie der Kirche...............................
383
Burkard M. Zapff Israel, der Einzelne und die Völker in Micha 6,1-8...............................
401
Lothar Wehr „Sorgt euch nicht um euer Leben!“ (Mt 6,25) Das Bild vom Menschen in der Verkündigung Jesu..............................
417
Ireneusz Celary Christliche Familie und gelebte Evangelisierung nach Papst Franziskus............................................................................
425
Walter Schmidt Anthropologie für das 21. Jahrhundert Wer sind wir? Wo gehen wir hin? „Sind berufstätige Frauen die besseren Mütter?“ – ein provokantes Thema..........................................................................
443
Andreas Weiß „Scis illos dignos esse?“ Zur „hinreichenden Reife“ als Eignungskriterium für Priesteramtskandidaten.....................................................................
455
Inhaltsverzeichnis
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Eckhard Frick SJ Einfühlung und Empathie: praktische Konsequenzen von Übersetzung und Rück-Übersetzung...............................................
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Thomas Schnelzer „In der Welt habt ihr Angst“ (Joh 16,33) Pastoralpsychologische Überlegungen zur Angstbewältigung..............
483
Elmar Kuhn Gedanken zu einer Anthropologie der Hoffnung, Wege zum Glücken des Menschseins....................................................
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Anhang Verzeichnis der Autorinnen und Autoren............................................... 523
Vorwort Das Nachdenken über den Menschen und seine Geistigkeit, seine Spiritualität ist für sich Bestandteil theologischen Erkennens, das bereits in der Heiligen Schrift grundgelegt wird und spätestens seit der kirchlich rezipierten anthropologischen Wende Mitte des 20. Jahrhunderts in der Theologie Bedeutung gewonnen hat. Überhaupt gehört die Wechselwirkung zwischen Mensch-Sein und der geistigen Dimension des Menschen als Ausdruck seiner Subjektivität seit einigen Jahrzehnten zu einem immer relevanter werdenden Forschungsfeld im Grenzbereich zwischen unterschiedlichen Kultur-, Natur- und Geisteswissenschaften. Anthropologie als Wissenschaft vom Menschen hat sich dabei als breit gefächerte Querschnittsaufgabe herausgebildet und nimmt auch innerhalb der Theologie einen wichtigen Platz ein. Speziell die Beziehung von menschlicher Existenz, praktizierter Spiritualität und konkreter Lebenswelt des Menschen wird seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wieder stärker fokussiert. Die in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes formulierte Aufforderung an Kirche und Theologie, durch einen interdisziplinären Diskurs die theologische Sensibilität für die Vollzüge der Welt anzureichern und sodann Antworten auf Fragen des Menschseins zu geben, welche den christlichen Glauben in sich tragen, bleibt Auftrag und Herausforderung einer jeden Zeit. Die Rezeption des Konzils ist noch lange nicht abgeschlossen. (Christliche) Spiritualität bleibt berechtigter Forschungsgegenstand von (theologischer) Anthropologie und wirkt ihrerseits auf diese ein. Der mit vorliegender Festschrift anlässlich seiner Emeritierung sowie zu seinem 65. Geburtstag im Oktober 2019 zu ehrende Prof. Dr. Dr. Erwin Möde hatte ein gutes Vierteljahrhundert den Lehrstuhl für Christliche Spiritualität und Homiletik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt inne und vertrat zudem für mehrere Jahre den Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie. Ihm war und ist der interdisziplinäre Diskurs zwischen der Forschung zur Christlichen Spiritualität und einer wissenschaftlichen Anthropologie ein stetes Anliegen. Exemplarischer Ausdruck davon sind die in vielen Jahren erarbeiteten und in der Reihe Eichstätter Studien N.F. publizierten Bände „Theologie und Spiritualität – Spiritualität der Theologie(n)“ (2007), „Christliche Spiritualität und Psychotherapie“ (2013), „Spiritualität – Introvision – Heilung“ (2015), „Spiritualität. Neue Ansätze im Licht der Philosophie und Theologie des Nikolaus von Kues“ (2017) oder „Spiritualität und Hermeneutik“ (2018). Bereits diese wenigen Publikationen Prof. Dr. Dr. Mödes weisen seinen innertheologisch-diskursiven sowie interdisziplinären Ansatz aus, weshalb dem Jubilar diese Festschrift mit dem Titel „Anthropologie und Spiritualität für das 21. Jahrhundert“ gewidmet ist. Mit dem vorliegenden Buch wird das langjährige akademische Wirken des Gefeierten in Lehre, Forschung und Transfer gewürdigt. Insgesamt 37 Autorinnen und
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Vorwort
Autoren haben sich beteiligt, um mit ihren Aufsätzen vom Jubilar aufgebrachte Themen, Methoden oder Anliegen so aufzugreifen, dass diese künftig eine noch breitere Aufmerksamkeit erfahren. Die Beiträge sind äußere Zeichen des Dankes für die langwährende kollegiale Wegbegleitung im akademischen Alltag, für die wissenschaftliche Förderung oder auch für die freundschaftliche Verbundenheit zwischen Autorinnen und Autoren und dem Geehrten. Wie das Œuvre Mödes sind auch die Beiträge vielschichtig und multiperspektivisch: Philosophie, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Soziologie ebenso wie Biblische, Historische, Systematische und Praktische Theologie – aus all diesen Blickwinkeln entfalten die Autorinnen und Autoren Gedanken zur Anthropologie, zur Spiritualität oder zu deren Wechselwirkung. Um die Beiträge inhaltlich zu gruppieren, ist die Festschrift in drei große Kapitel geteilt: „Der Mensch als Geschöpf – Gottes- und Menschenbilder“, „Der Mensch als Suchender – Spiritualität und Ritual“ sowie „Der Mensch als Berufener – Gemeinschafts- und Lebensgestaltung“. „Gott erschuf also den Menschen als sein Bild; als Bild Gottes schuf er ihn.“ (Gen 1,27) Ganz zu Beginn der Hl. Schrift wird der Mensch als Geschöpf dargestellt, dessen Beziehung zu seinem Schöpfer als „bildhaft“ zu verstehen ist. Bilder von Gott und Bilder vom Menschen sind also theologisch gesehen eine aus dieser Beziehungsgrundlage folgende Gegebenheit, mit der sich auch der zu Ehrende in vielfacher Weise beschäftigt hat. Gottes- und Menschenbilder entwickeln sich demnach nicht unabhängig voneinander, sondern stehen in Wechselwirkung miteinander. Das erste Kapitel behandelt solche konkreten biblisch-historisch gewachsenen Menschenbilder, setzt diese in den Kontext der Selbstmitteilung Gottes und geht der Frage nach der menschlichen Erkenntnisfähigkeit nach. „Doch ihre Augen waren gehalten, so dass sie ihn nicht erkannten.“ (Lk 24,16) Der Mensch als Suchender ringt mit seiner Vorstellung von Transzendenz, von Unendlichkeit, von Gott sowie mit dem Versuch der Selbstüberschreitung. Dieses suchende Ringen drückt sich in Formen von Spiritualität und Ritual aus, welche ihrerseits dem menschlichen Suchprozess Inhalt, Form und Ziel geben. Die Autorinnen und Autoren des zweiten Kapitels widmen sich daher dem Phänomen „Spiritualität“ in seiner gegenwärtigen Ausprägung und anthropologischen Dimension, erschließen rituelle und spirituelle Praxis und setzen für deren Entwicklung heute ausgehend von bedeutsamen Texten wie der Hl. Schrift Impulse oder auch Rahmen. „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh 10,10) Kraft seiner Existenz hat der Mensch als Berufener die Möglichkeit, das Entgegenkommen Gottes anzunehmen, indem er selbst zu einem Handelnden wird, der für die verantwortlich-positive Entwicklung des eigenen und anderen Lebens eintritt. Berufung umfasst demzufolge sowohl eine soziale als auch eine subjektbezogene Ebene: Es geht um Gemeinschafts- und Lebensgestaltung. Diesem anthropologischen Aspekt geht das dritte Kapitel der Festschrift nach. Die Artikel disku-
Vorwort
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tieren Entwürfe für eine zukunftsweisende Gestaltung von Ökonomie und Pastoral und erörtern die Beziehung von Gemeinschaft und Individuum. Ferner thematisieren sie die familiäre und persönliche Lebensgestaltung, wobei die sich ergänzenden Beiträge von Psychologie und Glaube zum Glücken menschlichen Lebens einbezogen werden. Eine akademische Festschrift ist das Werk vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Als langjährige Assistenten von Prof. Dr. Dr. Möde und als Herausgeber danken wir daher an erster Stelle allen Professorinnen und Professoren sowie allen Kolleginnen und Kollegen, welche Zeit und Kreativität aufgewandt haben, um Aspekte oder Beiträge des wissenschaftlichen Werkes des Geehrten aufzugreifen und diese mit jeweils eigenem Zugang in einem Beitrag zu besprechen. Ferner bedanken wir uns bei der Präsidentin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Frau Prof. Dr. Gabriele Gien, sowie bei Herrn Helmut Radlmeier MdL für ihre Grußworte. Herzlich bedanken möchten wir uns bei den Drittmittelgebern, die diese Festschrift finanziell unterstützt und damit ermöglicht haben: Gedankt sei dem Bistum Regensburg, der Heimatdiözese unseres Jubilars, der geschätzten Eichstätter Universitätsgesellschaft e.V., dem seit langem unserer Universität wohlwollend verbundenen Alfons-Fleischmann-Verein e.V. sowie verschiedenen Unternehmen aus der Privatwirtschaft. Des Weiteren gilt unser Dank jenen, welche uns in unterschiedlichen Funktionen bei der Publikation dieses Sammelbandes unterstützt haben: Herrn Dr. Rudolf Zwank vom Verlag Friedrich Pustet für sein motivierendes Lektorat und die Verlagnahme, Herrn Prof. em. Dr. Konstantin Meier für die Aufnahme in die Reihe Eichstätter Studien und die großzügige Bezuschussung sowie Frau Julia Muchewicz für wertvolle Übersetzungsarbeiten an einigen Manuskripten. Ein aufrichtiger Dank gilt Frau Magdalena Branner für ihren wiederholten und unermüdlichen Dienst bei der Korrektur und Formatierung des Manuskripts! Am Ende dieses Vorworts gilt der explizite Dank und das persönliche Wort dem Jubilar selbst: Werter Herr Prof. Dr. Dr. Möde! Als akademischer Lehrer haben Sie uns in wichtigen Phasen der wissenschaftlichen und beruflichen Qualifizierung begleitet und gefördert, als Dienstvorgesetzter den Facettenreichtum des Universitätsbetriebs eröffnet und als Theologe zum kreativen Nachdenken angeregt. Zugleich aber haben Sie uns jene Freiheiten gelassen, um eigene Gehversuche in Forschung und Lehre zu unternehmen. Diese wohlwollende Begleitung in einer für uns konstitutiven Phase unseres Lebens soll einen äußeren Dank durch diese Publikation erfahren, von der wir hoffen, dass sie Ihnen Freude bereitet. Stellvertretend für alle Autorinnen und Autoren dieser Festschrift, für die zahlreichen Gratulanten und Gratulantinnen sowie für die vielen akademischen Wegbegleiterinnen und -begleiter wünschen wir Ihnen anlässlich der Emeritierung sowie
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Vorwort
zu Ihrem 65. Geburtstag alles Gute, weiterhin viel Schaffenskraft und Gottes Segen für Ihren weiteren Lebensweg! Eichstätt, 10. Juli 2019, am Gedenktag der Hll. Könige Knud, Erik und Olaf
Sebastian Kießig und Marco Kühnlein
Grußwort der Präsidentin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Festschriften sind in der Regel Publikationen, die anlässlich eines Geburtstages – in diesem Fall dem 65. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. Erwin Möde – auf eine wissenschaftliche Laufbahn und ihre Ergebnisse zurückblicken. Dabei stellt sich die Frage nach dem abschließenden Charakter eines solchen Unterfangens: Ist das Wirken des zu Ehrenden mit Erscheinen der Festschrift beendet? Ein Blick auf das wissenschaftliche Œuvre von Prof. Möde spricht eindeutig dagegen: Der gebürtige Landshuter begnügte sich nicht mit einem Studium der Katholischen Theologie, sondern absolvierte auch ein Psychologiestudium. Er ist an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt nicht nur seit 1998 Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Spiritualität und Homiletik, sondern seit 2013 zusätzlich Inhaber des Lehrstuhls für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie. Entsprechend breit fächert sich sein Forschungsinteresse auf christlich-anthropologische Zugänge zu Themen der Persönlichkeitsbildung, (Psycho-)Therapie, Christlicher Spiritualität, Religiöser Sozialisation sowie Bibelhermeneutik. Prof. Möde ist Autor von zahlreichen wissenschaftlichen Artikeln, vierzig Sammelbänden und Monographien sowie journalistischen Beiträgen. Zudem ist er in wissenschaftlichen Netzwerken und Berufsverbänden engagiert. Während seines Wirkens an der KU richtete er gemeinsam mit anderen Forschenden der KU zahlreiche Symposien auch für ein breites Publikum aus: Die interdisziplinäre Ringvorlesung fragte unter anderem „Kann Glaube heilen? Von der therapeutischen Kraft des Glaubens“ oder beschäftigte sich mit dem Thema „Krisen - personal und sozial lösen“. Diese Titel stehen stellvertretend für das breite Themenspektrum Mödes, das sich auch im vorliegenden Band zeigt. Die Festschrift enthält biblisch-historische und systematische Perspektiven auf das Menschsein sowie Reflexionen auf die praktischlebensweltliche Situation des Subjekts. Kurzum bieten sich Anstöße zur Frage: Was ist der Mensch? Zwar geht Prof. Möde in den Ruhestand, aber wissenschaftlich wird er gewiss nicht leiser werden. Gottes Segen und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Prof. Dr. Gabriele Gien Präsidentin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Grußwort des Landtagsabgeordneten des Stimmkreises Landshut „Sieh‘ nach den Sternen, hab‘ acht auf die Gassen“: Dieses Dichterwort scheint mir wie ein Leitgedanke Leben, Werk und Wirkung von Prof. Dr. Dr. Erwin Möde zu durchziehen und zu prägen, dieses großen Sohnes unserer an Geschichte so reichen Stadt Landshut und unseres gottgesegneten Bayernlandes. Ich erinnere mich gerne an das 60-jährige Jubiläum der KLJB Frauenberg bei Landshut vor wenigen Jahren, bei dem Herr Prof. Möde die Festmesse zelebrierte. Ein Gewitterregen führte zur Auflösung des Feldgottesdienstes. Das klamme Gefühl, das die Teilnehmer in nasser Festkleidung spürten, verflog, löste sich in der Kirche, in die man flüchtete, auf in der Wärme der Worte des Geistlichen Prof. Möde, als er die jungen Leute der KLJB gemahnte, sich stets des Zeichens ihres Wappen bewusst zu sein: Des himmelwärts gerichteten Kreuzes und des Pfluges. Sie sollten einen das Leben überschauenden Blick erstreben, aber zugleich geerdet, ihrer Wurzeln gewahr bleiben. Prof. Erwin Möde ist sich stets seiner Wurzeln bewusst geblieben, hat die Verbindung zu Frauenberg, wo seine Wiege stand, immer gepflegt, im besten Sinne des Wortes. Viele Bürger unserer Heimat freuen sich, wenn sie ein „Wort zum Sonntag“ in der Landshuter Zeitung aus der Feder des Eichstätter, eigentlich Landshuter Professors für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie lesen. Sie strömen in die Bernlochner Säle, wenn Prof. Möde einen stets vielbeachteten Vortrag im Rahmen eines Vortragszyklus der Mediengruppe der Heimatzeitung hält. Und die Landshuter freuen sich, wenn der Theologe, der die Priesterweihe durch Kardinal Joseph Ratzinger erhielt, unseren späteren „bayerischen Papst“, immer wieder am öffentlichen Leben der Stadt Anteil nimmt. Ich persönlich danke ihm, dass ich ihn einmal als Redner für einen großen Neujahresempfang meiner Partei, der CSU, gewinnen konnte. Ich bin überzeugt, dass die tiefe Verwurzelung in der Heimat dem Gelehrten Prof. Möde in seiner Studienzeit, in allen Jahren der wissenschaftlichen Qualifikation und als Professor, ebenso wie bei Forschungsaufenthalten von Rom bis Buenos Aires stets eine Quelle der Kraft geblieben ist. Diese Kraft wünsche ich ihm zu seinem 65. Geburtstag für noch viele weitere Jahre. Herzlich Ihr Helmut Radlmeier MdL CSU-Abgeordneter des Bayerischen Landtags
Der Mensch als Geschöpf – Gottes- und Menschenbilder
Verloren, in sich gekehrt, barmherzig, ohne Neid: Als geliebtes Kind des Vaters leben
Die Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) als Leitprogramm für ein Mensch-Sein im 21. Jahrhundert
Daniela Riel
1. Lk 15,11-32 als Paradigma wider die Hartherzigkeit Tag für Tag machen politische Spannungen, kriegerische Auseinandersetzungen, Terroranschläge, bedrohliche Naturphänomene, der deutlich spürbare Klimawandel und vieles mehr die Brüchigkeit und stete Gefährdung der Welt kund. Es gibt ihn einfach nicht auf dieser Erde, den Ort, an dem dauerhaft Frieden und Sicherheit regieren, an dem es keine Sorgen und Nöte gibt. Was für die Welt im Ganzen gilt, ist auch für den Menschen selbst als Teil dieses Universums auszusagen. Er erfährt immer wieder seine Grenzen und seine Bedrohtheit: durch Krankheit, durch Scheitern von Beziehungen, durch Versagen, durch Ohnmacht, durch Streit und Zwietracht. Sogar in seinem Inneren trägt der Mensch beständig den Kampf zwischen einander widerstrebenden Emotionen und Absichten aus. Die Rivalität von Egoismus und hingebender Selbstlosigkeit in jedem Einzelnen benennt zwei zentrale Pole dieser inneren Auseinandersetzung. Diese geht dabei nicht selten zugunsten der übersteigerten Selbstliebe aus, die dann Gefahr läuft, aus dem Lot zu geraten. Das rechte Maß steht auf dem Spiel. Biblisch ausgedrückt neigt der gefallene Mensch zum „Herz von Stein“ (Ez 36,26), zur Hartherzigkeit (vgl. Mk 10,5), welche die Brüchigkeit menschlicher Existenz einerseits deutlich vor Augen führt, andererseits zugleich wesentlich mitbedingt. Neid, Missgunst, mangelnde Vergebungsbereitschaft oder fehlender Wille zum Eingeständnis der eigenen Schuld sind Symptome einer Hartherzigkeit, die den Menschen innerlich gefangen nimmt und ihm so das von Jesus verheißene Leben in Fülle (vgl. Joh 10,10), das ein Leben in wahrer Freiheit ist, verwehrt. Ähnlich ergeht es schon den Pharisäern und Schriftgelehrten zur Zeit Jesu. Sie mühen sich energisch um dieses Leben in Fülle und merken dabei nicht, wie sehr sie auf sich selbst fixiert sind, indem sie Zöllnern und Sündern die liebende Annahme durch Gott und Mensch verweigern. In solch eine
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Daniela Riel
Situation hinein (vgl. Lk 15,1-3)1 erzählt Jesus das allseits bekannte Gleichnis vom verlorenen Sohn (vgl. Lk 15,11-32), das trotz seines hohen Alters als Programmrede für ein Mensch-Sein im 21. Jahrhundert verstanden werden kann. Die drei Akteure – Vater, jüngerer und älterer Sohn – können als Identifikationsfiguren begriffen werden,2 die zusammen die eine Wirklichkeit menschlicher Existenz abbilden. Alle drei Personen agieren in einem nicht enden wollenden, gegenseitigen Kräftemessen im Inneren des Menschen, der einmal mehr seine Verlorenheit erfährt (jüngerer Sohn), ein anderes Mal sich zur Barmherzigkeit durchringen kann (Vater) und ein drittes Mal Zorn und Neid nicht aus seinem Herzen zu verbannen vermag (älterer Sohn). Ausgehend von dieser Grundthese sollen im Folgenden die in der Parabel vom verlorenen Sohn auftretenden Charaktere nacheinander untersucht werden, um davon Haltungen für ein gelingendes und erfülltes Mensch-Sein im 21. Jahrhundert abzuleiten – Haltungen, die den Menschen dem verheißenen Leben in Fülle näherzubringen vermögen, weil sie seiner eigentlichen Bestimmung sowie seiner eigentlichen Würde entsprechen: ein Leben wider die Hartherzigkeit zu führen.
2. Der jüngere Sohn: Rückkehr aus der Verlorenheit Wegen seines Lebenswandels gilt der jüngere Sohn als Typus des verlorenen Sohnes, der aufgrund von Verschwendung und Maßlosigkeit in einem fernen Land in große Not gerät. Seine Lebensweise spiegelt die der hellenistischen Umwelt der Christen vertraute Figur des liederlichen Sohnes wider, der als filius luxuriosus über seine Verhältnisse lebt3 und so in gewisser Weise als Inbegriff des Sünders gelten kann. „Das Gleichnis […] malt zuerst den Weg ins Elend aus, den der Sünder nimmt.“4 Der durch die Lebensweise heraufgeführte äußere Mangel ist dabei zutiefst Ausdruck der inneren Not dessen, der in zunehmender Entfernung vom Vater seine Sohnschaft preisgibt und damit seine eigene Würde verkennt, ja mit 1
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Zur Ausgangssituation, die als Protest der Pharisäer und Schriftgelehrten auf Jesu Gemeinschaft mit Sündern und Zöllnern beschrieben werden kann, vgl. z. B. Dillmann, Rainer / Mora Paz, César, Das Lukas-Evangelium. Ein Kommentar für die Praxis, Stuttgart 2000, 282. – Zu den Schrifttexten vgl. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz (u. a.), Stuttgart 2016; Das Neue Testament. Griechisch und Deutsch. Griechischer Text: 27. Auflage des Novum Testamentum Graece in der Nachfolge von Eberhard und Erwin Nestle gemeinsam verantwortet von Barbara und Kurt Aland (u. a.). Deutsche Texte: Revidierte Fassung der Lutherbibel von 1984 und Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift 1979, Stuttgart 52007; Haubeck, Wilfrid / Siebenthal, Heinrich von, Neuer sprachlicher Schlüssel zum griechischen Neuen Testament. Bd. 1: Matthäus bis Apostelgeschichte, Gießen 1997, 454-459. Vgl. Dillmann / Mora Paz (wie Anm. 1), 287; Kremer, Jacob, Lukasevangelium (NEB 3), Würzburg 42004, 160. Vgl. Wolter, Michael, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 529; vgl. N. N., Art. ἀσώτως, in: EWNT2 Bd. 1, hier 425. Söding, Thomas, Eine Frage der Barmherzigkeit. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,1132), in: IKaZ 45 (2016) 215-229, hier 219.
Die Parabel vom verlorenen Sohn als Leitprogramm
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Füßen tritt. Auf der Ebene der Deutung der Parabel offenbart sich diese Tragik der Vater-Sohn-Beziehung besonders eindringlich. Denn „[b]ei der Erzählfigur des Vaters handelt es sich um eine stehende Metapher, von der jeder Leser sofort weiß, dass mit ihr Gott gemeint ist […].“5 Damit umschreibt die Parabel die Beziehung des Menschen zu Gott, die einem Kindschaftsverhältnis gleicht (vgl. Röm 8,15; Gal 4,6). Alles nimmt seinen Ausgang mit der Bitte des jüngeren Sohnes an den Vater, ihm sein Erbteil unmittelbar auszubezahlen (vgl. V. 12),6 womit die Absicht einhergeht, den Vater zurückzulassen und ein selbstbestimmtes Leben in der Fremde zu führen (vgl. V. 13). Weil Palästina in der damaligen Zeit aufgrund von Kriegen, hohen Steuern und Hungersnöten ein typisches Auswanderungsland darstellt, aus dem viele in der Hoffnung auf eine neue, bessere Zukunft aufbrechen, 7 besteht noch nicht im Faktum des Weggangs das schuldhafte Vergehen des Sohnes8, wenngleich sein Elend damit seinen Ausgang nimmt. Denn losgesagt vom Vater gerät er in Not. Die zunächst nur äußerlich vollzogene Trennung spiegelt die innerliche Ablösung vom Vater wider. In je größere Distanz zum Vater sich der Sohn begibt, desto größer werden Mangel, Verkommenheit und Verfall. 9 Auf maßlose Verschwendung folgt sich stetig steigernde Bedrängnis, die sich bis zum drohenden Tod zuspitzt (vgl. V. 17). Als Schweinehirt begibt er sich in Sklaverei; denn der Kontakt zu unreinen Tieren bedeutet für einen Juden eine unermessliche Erniedrigung, die ihm zu allem Unglück nicht einmal das Überleben sichern kann, insofern er die Schweine um ihr Futter beneidet.10 „Tiefer kann ein Jude nicht fallen […].“11 Nicht nur, dass er sich mit Schweinen abgeben muss, sondern den unreinen Tieren widerfährt sogar mehr Fürsorge als dem Sohn. Nichts darf den Schweinen vorenthalten werden, um die Not des Sohnes auch nur ein kleines Biss-
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Wolter (wie Anm. 3), 529. Vgl. ebd., 530. Dahinter steht das im deutschen Recht als Abschichtung bezeichnete Phänomen, bei dem ein Erbberechtigter noch zu Lebzeiten des Erblassers abgefunden wird und in Folge dessen seinen Erbverzicht erklärt (vgl. ebd., 531). 7 Vgl. Dillmann / Mora Paz (wie Anm. 1), 284. – Anders Hotze, Gerhard, So ist Gott (Lk 15,1-32), in: Heil, Christoph / Hoppe, Rudolf in Zusammenarbeit mit dem Collegium Biblicum München (Hgg.), Menschenbilder – Gottesbilder. Die Gleichnisse Jesu verstehen, Ostfildern 2016, 108-123, hier 116: Er ist der Meinung, zur Zeit Jesu habe die Wirtschaft geblüht, Hungersnöte seien ausgeblieben. Doch unabhängig davon ist der Wunsch junger Menschen, in die Ferne zu ziehen, ein bis heute bekanntes Phänomen, das zunächst einmal frei von jeder Wertung ist. 8 Weder die Bitte um die Ausbezahlung seines Erbteils noch der Aufbruch in die Ferne werden getadelt, sondern erst die Verschwendung des empfangenen Besitzes (vgl. dazu Kremer [wie Anm. 2], 158). 9 Vgl. Bovon, François, Das Evangelium nach Lukas. Teilband 3: Lk 15,1-19,27 (EKK 3/3), Zürich (u. a.) 2001, 42. 10 Vgl. Dillmann / Mora Paz (wie Anm. 1), 284; vgl. auch Kremer (wie Anm. 2), 158. – Neutestamentlich gesprochen versinnbildlichen Schweine die Unreinheit (vgl. Mk 7,6) und dienen höchstens als Beheimatung für Dämonen, die ausgetrieben worden sind (vgl. Mk 5,11-16); vgl. dazu Ostmeyer, Karl-Heinrich, Dabeisein ist alles (Der verlorene Sohn) Lk 15,11-32, in: Zimmermann, Ruben in Zusammenarbeit mit Detlev Dormeyer (u. a.) (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 618-633, hier 625. Dies unterstreicht ihren geringen Stellenwert für Juden. 11 Söding (wie Anm. 4), 219.
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chen zu lindern. Die Schweine werden demnach höher gewertet als der Sohn, 12 womit die Paradoxie ihren Höhepunkt erreicht. Dies lässt erahnen, welch unfassbar große Verachtung dem jüngeren Sohn in jüdischen Augen widerfährt, und zwar letztlich verursacht13 durch sein eigenes Tun. Denn „[d]ie Zuflucht bei einem Heiden und das Hüten unreiner Tiere (vgl. Lev 117) sind zudem Symptome seines Abfalls von der väterlichen Religion.“14 In der jüdischen Tradition besagt eine Überlieferung, dass Israel umgekehrt, sobald es Karob essen muss, jene Frucht also, die hier mit κεράτια (vgl. V. 16) beschrieben ist.15 Der jüngere Sohn ist sogar noch tiefer gefallen; ihm bleibt nicht einmal Karob. Er befindet sich daher in einer nicht mehr steigerbaren Notsituation,16 in der er zur Besinnung kommt. „Lukas schreibt: ‚Er ging in sich‘ (Lk 15,17). Das ist ein Schlüsselsatz biblischer Psychologie. Im frühjüdischen ‚Testament des Joseph‘ ist es mit dem Bestehen einer Versuchung verbunden (TestJos 3,9). Aber auch die stoische Philosophie kennt den Ausdruck, um den Prozess der Selbsterkenntnis zu beschreiben.“17 Seine Verlorenheit kommt ihm zu Bewusstsein, wie das ἀπόλλυμαι andeutet, das so viel wie vergehen, umkommen, verlorengehen18 besagt. Das Verb übersteigt in seinen Bedeutungsdimensionen den irdischen Bereich, indem es ein definitives Versagen und Zugrundegehen bezeichnen kann, wobei es sowohl die Freiheit des Menschen als auch die reelle Möglichkeit des endgültigen Scheiterns ernst nimmt. 19 Der junge Mann verspürt Reue, als er erkennt, wie sehr er seine Sohnschaftswürde verwirkt hat:20 „Ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn gerufen zu werden“ (so eine wörtlichere Wiedergabe von V. 19). Die im Griechischen verwendete Passivform von καλῶ steht synonym zu sein.21 Das Fehlverhalten des jüngeren Sohnes bleibt demnach nicht nur äußerlich von dem jungen Mann, sondern verändert, ja verfälscht sein Inneres. Während er nun selbst zutiefst Mangel leidet, erinnert er sich an das Wohlergehen der Knechte seines Vaters: den μίσθιοι (V. 17) geht es deswegen gut, weil sie beim Vater sind; Distanz zum Vater bedeutet demnach Not, Nähe hingegen ein gutes Leben.22 Daher fasst der Sohn den Entschluss, zum Vater heimzukehren. Er bringt die Bereitschaft mit, künftig ein einfacher Knecht zu sein, wenn er nur wieder in der Nähe des Vaters bleiben darf. Die innere Einkehr wird so zum 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Vgl. Wolter (wie Anm. 3), 533. Der Sohn konkurriert sozusagen mit den Schweinen um die Nahrung und darf ihnen dabei nichts wegessen (vgl. ebd.). Die Situation erinnert zunächst an den klassischen Tun-Ergehens-Zusammenhang (vgl. Söding [wie Anm. 4], 219f). Kremer (wie Anm. 2), 158. Vgl. Wolter (wie Anm. 3), 533, der sich auf einen R. Acha zugeschriebenen Ausspruch bezieht; vgl. auch Hotze (wie Anm. 7), 117. Vgl. Ostmeyer (wie Anm. 10), 625, der unter Bezugnahme auf Heininger das Elend als tiefstmöglich beschreibt. Söding (wie Anm. 4), 220. Vgl. Kretzer, Armin, Art. ἀπόλλυμι, in: EWNT2 Bd. 1, 325-327, hier 325. Vgl. ebd., 327, u. a. unter Rekurs auf Oepke. Vgl. Söding (wie Anm. 4), 220. Vgl. Bovon (wie Anm. 9), 49. Vgl. Wolter (wie Anm. 3), 534. – Der Überfluss der Knechte steht in scharfem Kontrast zur Not des Sohnes (vgl. Kremer [wie Anm. 2], 158).
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„Angelpunkt des Gleichnisses“23. Das In-sich-Gehen hängt dabei zentral mit der Situation der eigenen Verlorenheit zusammen, die erkannt und angenommen wird. So verweist der Beginn von V. 17, εἰς ἑαυτὸν δὲ ἐλθών, auf den Abschluss desselben Verses: ἀπόλλυμαι. Das Verloren-Sein wiederum hängt im Kern mit dem Eingeständnis der eigenen Schuld zusammen (vgl. V. 18: ἥμαρτον). „Das Verb ἁμαρτάνω, ‚(ver)fehlen‘ hat in der Septuaginta die religiöse Bedeutung ‚sündigen‘ angenommen. […] Ohne genauer festzustellen, worin seine Sünde besteht, wird sich der jüngere Sohn doch bewusst, dass er die von Gott gewollte Ordnung gestört und seinem Vater Unrecht getan hat.“24 Die Verlorenheit des jüngeren Sohnes besteht demnach aufgrund der Schuld, die er auf sich geladen hat. Als Sünder leidet er Mangel in der Erfahrung der Trennung von seinem Vater, die er selbst verursacht hat. Doch er ist bereit, seine Verfehlung offen einzugestehen. So kehrt er nach Hause zurück. Bei seinem Vater angekommen, tritt der jüngere Sohn in den Hintergrund. Abgesehen von dem ausgesprochenen Schuldbekenntnis bleibt seine Reaktion auf den überschwänglichen Empfang des Vaters verborgen. Mutmaßlich ist er fähig, die Vergebung des Vaters anzunehmen und so trotz des Eingeständnisses seiner eigenen Unwürdigkeit (vgl. V. 19) die Würde der Sohnschaft neu entgegenzunehmen und von vorne zu beginnen. Es gelingt ihm, sich in das Tun des Vaters einzureihen, ja ihn walten zu lassen. Der ältere Sohn hingegen tut sich damit sehr schwer.
3. Der ältere Sohn: Bleiben in der Verlorenheit In weltlichen Maßstäben gemessen, erscheint der ältere Sohn als der Benachteiligte, als der, dem Ungerechtigkeit widerfährt – und so fühlt er sich auch. Als er nach getaner Arbeit vom Feld nach Hause zurückkehrt und durch den Knecht über das Geschehene informiert wird, empfindet er tiefen Zorn (vgl. V. 28). „Etliche biblische Texte erwähnen den Zorn der Gerechten gegenüber dem, was ihnen als ungerechtfertigte Vorzugsbehandlung der Schuldigen erscheint. Schon im Alten Testament wird an diesem Neid Kritik geübt und im Neuen jeglicher Zorn verurteilt (vgl. Mt 5,22 und Jak 1,20).“25 Dabei entpuppt sich das Gerechtigkeitsempfinden des älteren Sohnes mehr und mehr als Selbstgerechtigkeit, hingegen nicht als wirkliche Vollkommenheit. Den Maßstab für diese Einschätzung gibt ebenfalls die Beziehung zum Vater vor, deren Status quo besonders deutlich an den Worten des älteren Sohnes an den Vater abzulesen ist: „Siehe, so viele Jahre schon diene ich dir und nie habe ich dein Gebot übertreten“ (V. 29). Das im Griechischen verwen-
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Bovon (wie Anm. 9), 42. Ebd., 48. Ebd., 51.
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dete δουλεύω, das zur Wortfamilie von δοῦλος, Knecht/Sklave, gehört,26 offenbart das volle Ausmaß der tragischen Vater-Sohn-Beziehung. Der ältere Sohn versteht sein Leben beim Vater als Unterwerfung und handelt aus reinem Pflichtgefühl, wenn er die Gebote des Vaters berücksichtigt. 27 Er beschreibt sich als „Befehlsempfänger, der gehorsam alles tut, was der Vater ihm gebietet.“ 28 Er verkennt damit seine Sohnschaft, indem er sich als Knecht erfährt, der sklavenhaft zu dienen und Gebote einzuhalten hat. Obwohl er sich äußerlich nie vom Vater wegbewegt hat, ist er ihm innerlich so fern wie der jüngere Sohn in der Fremde. Wie der jüngere Sohn als Verlorener bei einem Bürger jenes Landes sklavenhaft Dienst tun muss, so begreift der ältere Sohn paradoxerweise das Sein beim Vater als Sklavendienst. Damit ist er ebenfalls „ein verlorener Sohn, weil er seine Kindschaft verkannt hat“29, letztlich sogar in noch tragischerer Weise als der jüngere. Denn im Gegensatz zu seinem Bruder wird er sich nicht bewusst, dass das Leben beim Vater Wohlergehen bedeutet. Er versklavt sich selbst, weil es ihm nicht gelingt, die Würde seiner Sohnschaft anzunehmen, aus ihr zu leben und sie auszukosten. So bleibt er in seiner Verlorenheit. Er „begreift […] überhaupt nicht, was ihm alles zusteht.“30 Daraus erwächst seine Sorge, zu kurz zu kommen, benachteiligt und nicht genügend wertgeschätzt zu werden. Hier entspringen sein Neid, seine Eifersucht und sein Zorn, die seine innere Geknechtetheit nur noch größer machen. Er vergleicht sein Verhalten mit dem des Bruders und kommt zu dem Schluss, er selbst habe ein festliches Mahl verdient.31 Dabei spiegelt der ältere Sohn eine natürliche Reaktion des Menschen wider, die vermutlich die größten Sympathien des Lesers weckt. Jeder Mensch neigt dazu, sich sein Wohlergehen durch die eigene Leistung und das eigene Wohlverhalten selber verdienen zu wollen. Bringt dieses gewiss mühevolle Tun nicht den erwarteten Lohn, wird es nicht wertschätzend belohnt, so stellen sich nicht selten Unzufriedenheit und Ärger ein, zumal, wenn ein anderer ohne die entsprechende Leistung das ersehnte Gut erhält. Daher empfindet der 26
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Die Wiedergabe des Verbs im Deutschen verdeutlicht ebenfalls den Zusammenhang mit der Sklaverei, indem es als Sklavendienst tun, dienen wiedergegeben werden kann (vgl. Weiser, Alfons, Art. δουλεύω, in: EWNT2 Bd. 1, 844-852, hier 844). Im Vergleich mit διακονέω liegt der Akzent dieser Wortfamilie sogar auf der Herausstellung des sklavenhaften, abhängigen Dienstverhältnisses (vgl. ebd., 845f unter Rekurs auf Tuente). Vgl. Bovon (wie Anm. 9), 51. Söding (wie Anm. 4), 223; vgl. auch Schneider, Gerhard, Das Evangelium nach Lukas. Kapitel 1124 (ÖTBK 3/2), Gütersloh (u. a.) 19842, 329f. Söding (wie Anm. 4), 223. – Bei beiden Söhnen ist eine Tendenz erkennbar, sich vom Vater wegzubewegen, wohingegen der Vater stets bemüht ist, seine Söhne zurückzuholen zu sich, wie sich noch deutlicher zeigen wird (vgl. zu den beiden Bewegungen zwischen dem Vater und seinen Söhnen Ostmeyer [wie Anm. 10], 621, der sich auf Eichholz stützt). Bovon (wie Anm. 9), 52. Vgl. Schneider (wie Anm. 28), 330. Das Verhalten des älteren Sohnes erinnert an ein Leistungsdenken. Schneider selbst sieht zwar weniger eine Verurteilung einer Art Leistungsfrömmigkeit in Blick als vielmehr die Verurteilung der Weigerung zur Freude über die Umkehr (vgl. ebd.). Doch der Wurzelgrund der Verweigerung der Freude liegt sicher auch in einem Leistungsdenken begründet. – Zum Vergleich des eigenen Wohlverhaltens des älteren Sohnes mit dem Schlechtverhalten des jüngeren Sohnes vgl. auch Wolter (wie Anm. 3), 538f.
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ältere Sohn tiefe Missgunst; er vermeidet es sogar, von dem Zurückgekommenen als Bruder zu sprechen.32 Lediglich ein ὁ υἱός σου οὗτος (V. 30) bringt er im Gespräch mit dem Vater über die Lippen. Die Botschaft dieser distanzierten 33 Worte ist klar: „‚Dieser da‘ (herabwürdigend) mag vielleicht ‚dein Sohn‘ sein, mein Bruder ist er nicht.“34 Sie offenbaren die Verbitterung und Hartherzigkeit des älteren Sohnes,35 der nur auf sich selbst, nicht aber auf das Schicksal des jüngeren Bruders zu schauen vermag. Er übersieht die Verlorenheit seines Bruders, dessen Leben auf dem Spiel stand.36 Der Vater lehrt seine beiden Söhne, dass es in seinen Augen nicht auf Leistung und Erfolg ankommt, sondern zuallererst auf die Würde der Sohnschaft, die unentgeltlich vom Vater geschenkt wird und die umgekehrt dem Vater die gebührende Liebe erweist. Der Vater folgt in seinem Verhalten gegenüber seinen Söhnen der Logik dieser Liebe und Barmherzigkeit.
4. Der Vater und seine beiden Söhne: Barmherzigkeit besiegt die Verlorenheit Das Gleichnis handelt im Kern von der Liebe, die der Vater seinen Söhnen erweist.37 Es will erhellen, was wahre Vaterschaft und wahre Sohnschaft meint. Die beiden so unterschiedlichen Söhne stehen stellvertretend für die Menschheit insgesamt, in der die von Gott geschenkte Kindschaft auf ganz verschiedene Art und Weise verstanden und gelebt wird. Zwei grundlegende Typen begegnen in dem Brüderpaar. Für den Menschen heute sind daher beide Söhne bedeutsam, wenngleich ihm auch das Verhalten des Vaters als Vorbild und Ansporn dienen soll. Dabei fordert das Tun des Vaters heraus, weil es fern aller Hartherzigkeit barmherzig, verständnisvoll, einfühlsam und vor allem ohne Groll oder Stolz zutiefst selbstlos ist. „Als er [der jüngere Sohn, Anm. d. Verf.] sich aufmacht und zu seinem Vater geht, sieht ihn dieser schon von ferne; er hat offensichtlich nach ihm Ausschau gehalten und empfindet Mitleid, als er ihn sieht (V 20b). Er läuft ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn (V 20c). Die nachdrückliche Schilderung dessen, was der Vater unternimmt, dient der Hervorkehrung seiner verzei32 33 34
Vgl. Schneider (wie Anm. 28), 330. Vgl. Dillmann / Mora Paz (wie Anm. 1), 286. Bovon (wie Anm. 9), 52; zum „verächtlich-distanzierend[en]“ Verhalten des Älteren vgl. auch Hotze (wie Anm. 7), 113. 35 Vgl. Pesch, Wilhelm, Art. ὀργίζομαι, in: EWNT2 Bd. 2, 1297, hier 1297: „Das Zürnen des älteren Bruders […] offenbart dessen Unbarmherzigkeit und Hartherzigkeit und steht als Gegenbild zur Liebe des Vaters“. 36 Verteidigend für den älteren Sohn kann allerdings angeführt werden, dass er bisher lediglich von einem Knecht von dem Geschehen erfahren hat. Der Knecht selbst fasst das Geschehen nur sehr bruchstückhaft zusammen; letztlich trivialisiert er, weil er das Schicksal, die persönliche Lebensgeschichte des jüngeren Sohnes ausspart (vgl. dazu Wolter [wie Anm. 3], 537f). Die Tiefendimension des Vorgangs – die Heimkehr des wirklich Verlorenen, sein Schuldeingeständnis und die liebende Vergebung des Vaters – bleibt dem älteren Sohn damit zunächst verborgen. 37 Vgl. Schneider (wie Anm. 28), 328.
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henden Liebe (VV 20b.22-24).“38 Dem unrein gewordenen Sohn wird besonders durch Umarmung und Kuss augenscheinlich Vergebung erwiesen. 39 Schon bevor der jüngere Sohn sein Schuldbekenntnis sprechen kann, nimmt ihn der Vater wieder vollständig als Sohn an; er wird rehabilitiert in seiner Sohneswürde. 40 Entscheidend ist das Mitleid, das Sich-Erbarmen des Vaters (vgl. V. 20: ἐσπλαγχνίσθη),41 das ihn veranlasst, jede Etikette beiseite zu schieben. Es stört ihn nicht im Geringsten, dass Rennen kein dem Stand des Familienoberhauptes entsprechendes Verhalten darstellt.42 Dieses Mitleid des Vaters macht seine innere Freiheit offenbar, die ihn davon befreit, gesellschaftlichen Konventionen oder der Meinung anderer zu folgen. Er handelt und entscheidet so, wie es ihm sein Herz, seine Liebe eingibt: er lässt sich in seinem Inneren anrühren43 von der Not seines Sohnes. Das Sehen und Erbarmen-Haben begegnet dabei schon in der Geschichte Gottes mit seinem Volk, etwa in der Exodus-Episode, die mit dem Sehen des Elends Israels durch Gott ihren Ausgang nimmt (vgl. Dtn 26,7).44 Im übertragenen Sinn sieht Gott die Verlorenheit seiner Kreatur; dieses Sehen verheißt Heil. So bringen die Einkleidung durch den Vater, der Ring und die Schuhe in der Parabel die Wiedereinsetzung in die Sohneswürde zum Ausdruck,45 d. h. konkret heilvolles, neues Leben; die Verlorenheit gehört fortan der Vergangenheit an (vgl. V. 24). Vergebung und Versöhnung sollen Freude auslösen, wie die Aufforderung des Vaters zu fröhlichem Feiern und Beisammensein aufzeigt (vgl. V. 23). Die Freude bleibt nicht auf die unmittelbar betroffenen Personen – Vater und Sohn – beschränkt, sondern soll auf alle übergehen, die zur Hausgemeinschaft gehören. Denn Vergebung und Versöhnung bleiben nicht ohne Folgen für das Miteinander insgesamt. Daher wiegt die Weigerung des älteren Bruders, hineinzugehen (vgl. V. 28), besonders schwer. Doch der Vater versteht es, sich auch auf seinen älteren Sohn zuzubewegen. „Das verweigerte εἰσελθεῖν des Sohnes findet sein unmittelbares Gegenüber […] im ἐξελθών des Vaters.“46 Wie er also auf seinen jüngeren Sohn zugeht, so auch analog auf den älteren. 47 Die väterliche Antwort auf den lautstark formulierten Ärger des älteren Sohnes ist ergreifend, wie schon die liebevolle Anrede mein Kind verdeutlicht (vgl. V. 31).48 Diese vertraute Bezeichnung hebt auf die persönliche Ebene, auf die innere Bindung ab.49 Damit will der Vater den Sohn 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Ebd., 329. Vgl. Kremer (wie Anm. 2), 159; Dillmann / Mora Paz (wie Anm. 1), 285. Vgl. Schneider (wie Anm. 28), 329. Vgl. Bovon (wie Anm. 9), 49. Vgl. ebd. So die Übersetzung von Dillmann / Mora Paz (wie Anm. 1), 285 für das Sich-Erbarmen. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Wolter (wie Anm. 3), 538. Vgl. Bovon (wie Anm. 9), 49. Vgl. ebd., 52. Vgl. Dillmann / Mora Paz (wie Anm. 1), 286. Dem Vater geht es demnach zuallererst nicht um ein Verhalten oder ein Tun seiner Söhne, sondern um deren Beziehung zu ihm (vgl. dazu Wolter [wie Anm. 3], 540).
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gleichsam aufrütteln, indem er ihm zuspricht, was er übersieht: Du bist mein geliebter Sohn! Werde endlich Sohn! Lebe endlich als mein Sohn! „Das Willkommen für seinen Bruder gibt ihm [dem Älteren, Anm. d. Verf.] die Chance, […] sich selbst zu erkennen; als Kind seines Vaters, als Bruder seines Bruders, als Glied der Familie, als Teil der Festgesellschaft.“50 Der Vater ist demnach bemüht, dem älteren Sohn seine Kindschaft ins Bewusstsein zu rufen – eine Kindschaft, die sowohl Auswirkungen auf die Beziehung zum Vater als auch auf die Geschwister, konkret den jüngeren Bruder, hat. Als Kind des Vaters zu leben bedeutet grundlegend, immer beim Vater zu sein und über alles verfügen zu können, was dem Vater gehört (vgl. V. 31), das heißt letztlich, Leben zu haben.51 Kind des Vaters zu sein bedeutet weiter, die Geschwister liebend als solche anzunehmen. Deswegen stellt der Vater dem abgrenzenden dieser dein Sohn (vgl. V. 30) des älteren Sohnes bewusst das dieser dein Bruder gegenüber (vgl. V. 32).52 Er appelliert dadurch indirekt an das Herz des Älteren, Härte, Strenge und Verurteilung zurückzustellen und stattdessen barmherziger Liebe Raum zu schaffen. Durch seine Worte versucht der Vater, bei seinem Erstgeborenen einen Denkprozess anzustoßen, der mit dem Insich-Gehen des Jüngeren verglichen werden kann, weil dieser zu derselben Erkenntnis führen soll, nämlich: zum Begreifen dessen, was Vaterschaft und Sohnschaft eigentlich bedeuten, worin dann wiederum der Schlüssel zum Entfliehen aus der Verlorenheit begründet liegt. Dem Kind geht es gut, wenn es einfach nur beim Vater ist, sich seiner Liebe öffnet und diese Liebe in seinem eigenen Leben wirksam werden lässt. Dabei lebt der Vater eine Liebe vor, die dem Kind die Freiheit schenkt,53 zu gehen und wiederzukommen, selbst zu entscheiden und Entscheidungen auch zu revidieren. Die einzige Forderung, die vom Vater ergeht, ist der Aufruf zur Freude, an der demnach kein Weg vorbeiführt. Dieser Appell trifft einen wunden Punkt im Menschen. Denn eigentlich will niemand erfüllende Freude missen und doch rauben so oft Neid, Missgunst, Ärger und Stolz der Fröhlichkeit den Platz im Inneren des Menschen, der dann der Hartherzigkeit verfällt. Ein Insich-Gehen kann hier einen Gesinnungswechsel initiieren, der befreiend wirkt. Es zeigt sich erneut, wie sehr die Parabel vom verlorenen Sohn grundlegende Themen des Mensch-Seins berührt und daher großes Anknüpfungspotential für eine christliche Anthropologie bietet. Deswegen sollen abschließend ausgehend von Lk 15,11-32 einige Haltungen und Handlungsmaximen benannt werden, die dem Menschen im 21. Jahrhundert in seiner Lebensgestaltung hilfreich sein können.
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Söding (wie Anm. 4), 223. Vgl. Wolter (wie Anm. 3), 540. Wolter stellt u. a. dar, dass derjenige tot und verloren ist, der vom Vater getrennt ist; beim Vater zu sein bzw. zum Vater zurückzukehren hingegen, bedeutet Leben (vgl. ebd.). – Die Botschaft des Vaters könnte man mit Bovon auch wie folgt zusammenfassen „Fühle dich frei, du bist hier zu Hause“ (Bovon [wie Anm. 9], 52). 52 Vgl. Wolter (wie Anm. 3), 540; vgl. zur Herausstellung der Beziehung zum jüngeren Bruder auch Dillmann / Mora Paz (wie Anm. 1), 286. 53 Dies zeigt sich darin, dass „[d]er Vater […] niemanden fest[hält]“ (Ostmeyer [wie Anm. 10], 629).
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5. Mensch-Sein im 21. Jahrhundert Die Auseinandersetzung mit anthropologischen Fragestellungen ist allgegenwärtig, auch im Neuen Testament. „Der Mensch ist ein zentrales Thema der neutestamentlichen Texte und von ihm ist stets in seiner Relation zu Gott die Rede. […] Es wird nicht nur der einzelne Mensch betrachtet, vielmehr wird er stets auch in seiner Beziehung zu seinen Mitmenschen und zur Welt insgesamt wahrgenommen. […] Wird diese Relation des Menschen zu Gott und zu seinen Mitmenschen im konkreten Leben ignoriert, dann existiert er in einem fundamentalen Selbstmissverständnis. Das ist für die neutestamentlichen Texte Sünde. Die Sünde stört die gute Entfaltung des menschlichen Lebens.“54 Repräsentativ für diese grundlegenden Facetten menschlichen Daseins – Beziehung zu Gott, Beziehung zu den Mitmenschen/ zur Schöpfung, Störung durch die Sünde – steht die Parabel vom verlorenen Sohn,55 die genau diese drei Dimensionen aufgreift, um wegweisend für eine gelingende Lebensgestaltung zu sein. Dabei scheut die Parabel nicht den Blick in die Niederungen menschlicher Existenz, indem sie einerseits den Verfall des jüngeren Sohnes drastisch vor Augen führt und andererseits die möglichen Abgründe des menschlichen Herzens offenlegt, wenn der Zorn und Groll des älteren Bruders schonungslos dargestellt werden. Der Vater kann die positiven Seiten des Menschen hervorheben. Zwar repräsentiert der Vater im Gleichnis an erster Stelle Gott, doch die Figur wird transparent auf jeden Menschen hin. Steht dabei das barmherzige Verhalten Gottes als Faktum fest, so bedeutet die Gestalt des Vaters für den Menschen den Appell zum ebenso barmherzigen Handeln.56 Beide Deutungsebenen der Figur des Vaters sind für den Menschen heute bedeutsam. Insgesamt nimmt die Parabel das Mensch-Sein sehr realistisch in Blick, weil sowohl die negativen Seiten als auch die positiven Möglichkeiten menschlicher Existenz herausgestellt werden. Insofern ein Mensch selten ganz schlecht und zugleich selten ganz gut ist, kann sich jeder auch heute noch in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn wiederentdecken, und zwar in allen drei Hauptpersonen. Es ist möglich, das Kräftemessen dieser drei Charaktere im Inneren eines Menschen positiv zu beeinflussen, indem der Mensch an seiner Selbsterziehung sowie an seiner Selbstwertschätzung arbeitet. Die folgenden Haltungen, verstanden als Maximen für ein Mensch-
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Landmesser, Christof, Der Mensch im Neuen Testament, in: Oorschot, Jürgen van (Hg.), Mensch (UTB 4763; ThTh 11), Tübingen 2018, 65-104, hier 65, zitiert nach: GoogleBooks, URL: https://books.google.de/books?id=R-pEDwAAQBAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbsVie wAPI&redir_esc=y#v=onepage&q&f=false [Zuletzt aufgerufen am 19. Mai 2019]. 55 Hotze erkennt generell in den „Gleichnisse[n] von Lk 15 […] Schlüsseltexte für das Menschenund Gottesbild im Neuen Testament“ (Hotze [wie Anm. 7], 119). 56 Interessanterweise verwendet das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ebenfalls eine Form von σπλαχνίζομαι und benennt damit das zentrale Handlungsmotiv des Samariters; der Samariter nimmt daher gleichsam an dem Sich-Erbarmen Gottes Maß und erfüllt auf diese Weise den göttlichen Willen (vgl. zu diesem Zusammenhang Walter, Nikolaus, Art. σπλαχνίζομαι, in: EWNT2 Bd. 3, 633f, hier 634).
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Sein im 21. Jahrhundert, veranschaulichen exemplarisch, wie dies konkret gelingen kann.
5.1 εἰς ἑαυτὸν ἐλθών (V. 17) oder: Die Bereitschaft zu Selbstreflexion und Selbstkritik Die Schlüsselpassage für das Geschick des jüngeren Sohnes stellt seine innere Einkehr dar, die den ersten Schritt der μετάνοια57 markiert und so die Wende in seinem Leben einleitet. Den Tod vor Augen kommt er zur Besinnung, woraus er zwei Erkenntnisse gewinnt: zum einen, dass Beim-Vater-Sein Überfluss, mit anderen Worten also Leben in Fülle bedeutet (vgl. V. 17); zum anderen, dass er Schuld auf sich geladen hat, die ihn seiner eigentlichen Würde, seiner Sohnschaft, beraubt (vgl. V. 18f). Das heißt, indem er in sich geht, erkennt er zunächst tiefer, wer der Vater ist. Dieses Verstehen des Vaters wiederum führt ihn zu einer besseren Erkenntnis seiner selbst, die zuallererst Eingeständnis des eigenen Fehlverhaltens bedeutet. Im lukanischen Kontext erinnert besonders die erste Dimension des Insich-Gehens in gewisser Weise auch an das marianische συμβάλλουσα ἐν τῇ καρδίᾳ αὐτῆς (Lk 2,19). Maria bedenkt all das Ungewöhnliche, das Gott in ihrem Leben wirkt, indem sie es in ihrem Herzen reflektiert, um so die Geschehnisse und damit Gott selbst tiefer zu ergründen. Sie will den wahren Sinn erfassen.58 Das Wirken Gottes betrifft sie zuinnerst; es ist zentral für ihr Selbstverständnis als Mutter Jesu. Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis stehen daher in tiefem Zusammenhang. Zurückkehrend zur Parabel vom verlorenen Sohn ermöglicht ein Wachsen in der Gotteserkenntnis im übertragenen Sinn ein umfassenderes Verstehen der eigenen Existenz, was sogar die Fähigkeit miteinschließt, Schattenseiten, Schuld und Versagen miteinzubeziehen. Indem der Blick auf diese dunklen Seiten zugelassen wird, beginnt ein Annehmen der eigenen Fehler. Dies schafft die Voraussetzung, sich selbst zu vergeben sowie anderen gegenüber das eigene Schuldiggeworden-Sein einzugestehen. Wirkliches Miteinander wird ermöglicht.
5.2 ἀπόλλυμαι (V. 17) oder: Die Gotteskindschaft neu entdecken Eng im Zusammenhang mit dem Schuldig-Werden des Menschen steht eine zweite Grundhaltung, die dem Einzelnen zum Gelingen seiner Existenz verhelfen kann. 57
Das Wort steht für die Umkehr, Bekehrung, Buße, die im lukanischen Kontext häufig in Verbindung mit der Vergebung begegnet (vgl. Merklein, Hans, Art. μετάνοια, in: EWNT2 Bd. 2, 10221031, hier 1022; 1028) und damit auch in den Kontext der Parabel vom verlorenen Sohn passt, wenngleich das Wort darin nicht explizit verwendet wird. 58 So lautet eine mögliche Übersetzung des Verbs (vgl. Hofius, Otfried, Art. συμβάλλω, in: EWNT2 Bd. 3, 683-685, hier 684). Die Grundbedeutung zusammenwerfen (vgl. ebd.) erweckt den Eindruck, dass in der Reflexion nichts ausgelassen wird und daher der Versuch unternommen wird, sorgfältig die Bedeutung des Ganzen zu ermitteln.
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Das Eingeständnis des eigenen Versagens eröffnet die Erkenntnis, dass jeder auf Gott angewiesen ist, nicht im Sinne eines unfreien Abhängigkeitsverhältnisses, sondern im Sinne einer entlastenden Zusage. Am Tiefpunkt seiner Existenz wird sich der jüngere Sohn seiner Verlorenheit in der Lossagung vom Vater bewusst, während eine tragende Beziehung zum Vater das eigene Wohlergehen sichert. Daher kehrt er nach Hause zurück und darf sich fortan wieder vom Vater umsorgt wissen. Er muss sich sein Wohlergehen nicht selbst verdienen, sondern darf es unentgeltlich aus den Händen des Vaters in Empfang nehmen. Daraus kann für den gläubigen Menschen heute eine Lebenseinstellung erwachsen, die sicherlich das Eigene tut – im Falle des Sohnes, heimzukehren zum Vater und die Vergebung anzunehmen –, das Entscheidende – hier die Versöhnung – jedoch von Gott erwartet.59 Diese Haltung schließt die Bereitschaft zum Dienst mit ein, wie die Bitte des verlorenen Sohnes, „mach mich zu einem deiner Tagelöhner“ (V. 19), verdeutlicht. Sie ist ein Sich-Einfügen in das Wollen und Bestimmen des Vaters, das, wie die Parabel verdeutlicht, nur eines anzielt: seinen Söhnen die Würde ihrer Kindschaft bewusst zu machen, nicht hingegen deren Knechtschaft. Dies ist die Grundlage für ein Leben in der Festfreude, die der Vater vorlebt. In der Gemeinschaft mit ihm wurzelt die Freude.60 Dabei findet sogar die Klage Raum, wie das Gespräch des älteren Sohnes mit dem Vater vor Augen führt (vgl. V. 29). Auch für heute gilt es, die Vaterschaft Gottes zusammen mit der eigenen Gotteskindschaft neu zu entdecken und wirklich auszukosten. So werden wirkliches Gottvertrauen und eine positiv verstandene Sorglosigkeit – nicht zu verwechseln mit einer Gedankenlosigkeit oder Gleichgültigkeit – ermöglicht, die die Grundlage für ein Sich-freuen-Können wider den Neid darstellt.
5.3 ἐσπλαγχνίσθη (V. 20) oder: Der Barmherzigkeit Raum schaffen Wer sich der eigenen Gotteskindschaft bewusst ist, wer um seine Würde weiß und aus ihr lebt, für den gibt es keinen Grund mehr zu egoistischem Verhalten, zu Selbstsucht, Stolz, Zorn oder Missgunst. Die Überwindung aller lähmenden Hartherzigkeit kann so gelingen und Beziehungen können dauerhaft ermöglicht werden. Jemand, der die eigenen Fehler erkennt sowie die immer wieder aufs Neue durch Gott gewährte Vergebung zu schätzen weiß, geht gütiger mit der Schuld anderer um. Anstelle eines Herrschen-Wollens über andere oder eines Strebens nach Überlegenheit vermag eine Anerkennung des Gegenübers als gleichberechtigten Partner zu treten, wie es die Begegnung zwischen Vater und heimkehrenden Sohn beispielhaft vormacht. „Der Vater fällt dem Sohn um den Hals; der Kuss zielt
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In gewisser Weise handelt es sich dabei um so etwas wie „Synergie“ wie Hotze (wie Anm. 7), 121 im Blick auf das Zueinander von göttlicher Güte und Reue des Sünders in der lukanischen Soteriologie formuliert. 60 Vgl. Ostmeyer (wie Anm. 10), 628.
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damit notwendig auf das Gesicht. D. h., beide begegnen sich auf Augenhöhe, der Sohn wird als gleichberechtigt angenommen.“61
5.4 οὐκ ἤθελεν εἰσελθεῖν (V. 28) oder: Sich der Eigenverantwortlichkeit bewusst sein Wie das Beispiel des älteren Sohnes zeigt, entscheidet der eigene Wille, ob der Einladung zum fröhlichen Fest gefolgt oder der Eintritt in die Feiergemeinschaft verweigert wird. Das eigene Wollen legt fest, ob die Sohnschaft anerkannt und gelebt wird oder Aufbegehren gegen den Vater gewählt wird. Letztlich liegt damit das Geschick eines jeden in der eigenen Hand. Lukanisch hängt dieser Sachverhalt mit der Entscheidung für oder gegen das Himmelreich zusammen, genauer: für oder gegen das aktive Hineingehen in das Himmelreich. „Die metaphorische Transparenz des Gleichnisses auf Gottes himmlische Welt hin erlaubt es den Lesern, sich von der Weigerung des Sohnes ‚Hineinzugehen‘ an den entsprechenden Vorwurf gegen die Rechtsgelehrten in 11,52 erinnern zu lassen (αὐτοὶ οὐκ εἰσήλθατε). Auch 13,24 stellt mit der Aufforderung: ‚Strengt euch an, durch die enge Tür hineinzukommen (εἰσελθεῖν)‘, und der Rede von solchen, die ‚versuchen werden hineinzukommen (ζητήσουσιν εἰσελθεῖν) und es nicht können‘, einen Assoziationszusammenhang bereit, denn hier geht es ebenfalls um die Teilnahme an einem Festmahl (13,28f).“62 Diese Eigenverantwortlichkeit wird nicht durch das Entgegengehen des Vaters (vgl. V. 28) gemindert; sie bleibt bis zuletzt bestehen. Insofern das endgültige Verhalten des älteren Sohnes nicht erzählt wird, ist der Leser am Ende der Parabel selbst in die Entscheidung gerufen. 63 Seine Verantwortung leuchtet so bereits in dem Gleichnis auf.
5.5 εὐφρανθῆναι δὲ καί χαρῆναι ἔδει (V. 32) oder: Wahre Freude erkennen und auskosten In der Parabel stehen beide Söhne repräsentativ für den Menschen, der wahre Freude sucht, die als Ausdruck eines erfüllten, glücklichen Lebens als Sinnbild für das ersehnte Heil des Menschen gedeutet werden kann. Indem der ältere Sohn ein fröhliches Beisammensein mit seinen Freunden als sein Glück begehrt, erhofft er wie der jüngere Sohn, unabhängig und losgelöst von seinem Vater Freude zu erleben.64 Doch „Freude hat allein im Hause des Vaters und mit ihm ihren Platz.“65 Diese Erkenntnis stellt das Eintrittstor in ein erfülltes und zufriedenes Leben dar. 61 62 63 64 65
Ostmeyer (wie Anm. 10), 626. Wolter (wie Anm. 3), 538. Vgl. etwa Schneider (wie Anm. 28), 328. Vgl. Ostmeyer (wie Anm. 10), 627. Ebd., 628.
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Für den Menschen heute, der auf vielerlei Weise versucht, sein Glück zu erlangen und zu sichern – durch beruflichen Erfolg, durch luxuriöse Lebensgestaltung, durch Streben nach Ruhm und Anerkennung etc. – bedeutet dies, darauf Acht zu geben, sich nicht im Konsumdenken zu verlieren und dabei eine innere Leere zu fördern, die dauerhaft lediglich die Gemeinschaft mit dem Vater aufzufüllen vermag. Eine Wiederentdeckung der christlichen Freude, die in dem Bewusstsein wurzelt, mit dem Vatergott Beziehung zu haben, ist der Weg zu einem zufriedenen Leben, das anstelle von Neid und Zorn die Barmherzigkeit als eine frei machende Form des Umgangs miteinander verinnerlicht.
6. Fazit und Ausblick Wer die Parabel vom verlorenen Sohn nach dem Mensch-Sein im 21. Jahrhundert befragt, der erhält klare Maximen für ein gelingendes und Gott wohlgefälliges menschliches Leben. Der Mensch im 21. Jahrhundert muss dabei beides sein: verlorener Sohn und barmherziger Vater – jemand, der wie der jüngere verlorene Sohn die eigene Schuld und Verlorenheit eingesteht und jemand, der wie der Vater zur Vergebung bereit ist; jemand auch, der, wie die Figur des älteren verlorenen Sohnes mahnt, zur Überwindung von Neid und Zorn bereit ist, um der Sohnschaft und mit ihr der Liebe Raum zu geben. Verloren, in sich gekehrt, barmherzig, ohne Neid – so kann menschliche Existenz grundlegend umschrieben werden; zwischen diesen Polen ereignet sich menschliches Leben auch heute. Das EntgegennehmenKönnen der Sohnschaftswürde aus den Händen des Vaters stellt in all dem den Schlüssel zum erlösten Mensch-Sein dar. Alles hängt daran, als geliebtes Kind des Vaters zu leben. Gelingt dies, dann erfüllt sich die Verheißung aus dem Buch Ezechiel auch heutzutage: „Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres. Ich beseitige das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch.“ (Ez 36,26)
Aspekte zur Anthropologie bei Irenäus von Lyon
Impulse für die Gegenwart
Regina Meyer
1. Anthropologie und Spiritualität heute? – Herausforderungen, Chancen, Probleme „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ (Ps 8,5)1 – diese Frage nach dem, was den Menschen ausmacht, was ihn als Menschen in seinen Relationen bestimmt, wurde bereits in biblischer Zeit gestellt. Bis heute aber beschäftigt sie Denkende verschiedenster Disziplinen und Provenienzen mit der Suche nach einer Antwort. Diese Frage betrifft dabei nicht nur die Anthropologie, sondern sie bezieht in letztere auch die Spiritualität als Beziehung(-suche/-aufbau) zu Gott mit ein. Ziel ist es, eine jeweils für ihre Zeit gültige Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“ zu geben. Im beginnenden 21. Jahrhundert stehen Anthropologie und Spiritualität dabei vor neuen Herausforderungen und Problemen, die aber zugleich auch eine Chance zur Vertiefung und zum Überdenken bisheriger Konzepte bergen. So kann man in der immer stärker globalisierten Gesellschaft eine zunehmende Individualisierung, Zentrierung auf die innerweltlichen Vollzüge des Menschseins verbunden mit einem gesteigerten Hedonismus sowie einer Jenseitsvergessenheit feststellen; zudem werden christliche Anthropologie und Spiritualität von vielen Menschen angefragt und angezweifelt, da diese als etwas Gestriges und Unmodernes angesehen werden. Hinzu kommt eine zunehmende Technisierung, die nicht nur die Arbeitswelt betrifft, sondern die auch immer mehr Raum im Privaten einnimmt, man denke beispielsweise nur an Smart Homes oder die Möglichkeiten im Rahmen der verschiedenen Techniken des Human Enhancement. Ebenso kommen anthropologische Fragestellungen im Kontext der Auseinandersetzung mit der humanitas und 1
Die Zitate aus der Bibel sind hier und im Folgenden, falls nicht anders vermerkt, aus der Einheitsübersetzung entnommen (Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, herausgegeben im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz, der Schweizer Bischofskonferenz, des Erzbischofs von Luxemburg, des Erzbischofs von Vaduz, des Erzbischofs von Straßburg, des Bischofs von Bozen-Brixen, des Bischofs von Lüttich, Stuttgart 2016).
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den Menschenrechten vermehrt zum Tragen. Andererseits aber lässt sich bei vielen Menschen auch eine Sehnsucht nach einer Anthropologie und Spiritualität wahrnehmen, die ihnen Hilfestellung bei ihrer Antwortsuche auf ihre existentiellen Fragen bietet. Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?“ lohnt neben biblischen und systematischen Ansatzpunkten auch ein Blick in die Geschichte. Bei einem solchen sticht unter anderem der frühchristliche Autor Irenäus von Lyon († um 200) hervor, der diese Frage in einer Zeit verschiedenster Herausforderungen und Anfragen, beispielsweise durch die Gnosis und ihrem dualistischen Menschenbild, aus christlicher Perspektive zu beantworten sucht. Auffällig dabei ist seine Verbindung von Anthropologie und Spiritualität, aus der heraus er seine beiden erhaltenen Werke – die fünf Bücher der Entlarvung und Widerlegung der sogenannten Erkenntnis (Adversus haereses)2 sowie die Ἐπίδειξις τοῦ ἀποστολικοῦ κηρύγματος, die Darlegung der apostolischen Verkündigung (Epideixis)3 – verfasst. Auf seine Sichtweise des Menschen soll zunächst geblickt werden, bevor auf deren Aktualität und Anknüpfungspunkte für eine Anthropologie und Spiritualität für das 21. Jahrhundert kurz eingegangen wird.
2. Gloria enim Dei vivens homo… – anthropologische Aspekte bei Irenäus von Lyon Die Theologie des Bischofs von Lyon ist in ihren Ansätzen zutiefst von seinen Auseinandersetzungen mit den Irrlehren seiner Zeit geprägt. Aus diesem Grund findet sich bei ihm kaum eine systematische Theologie, wie sie heute von den verschiedenen Disziplinen und Konfessionen betrieben wird, sondern er wendet sich einzelnen Meinungen und Lehren der verschiedenen Häresien zu, die er zu widerlegen sucht.4 So lässt sich die von Irenäus vertretene Theologie im Ganzen als eine solche beschreiben, in welcher als Ausgangspunkt aller Überlegungen Christus, der wahre Mensch und wahre Gott, steht. Ergänzt wird diese Christozentrik durch eine Orientierung an der Heilsgeschichte sowie durch eine Bibeltheologie, bei der ausdrücklich die Zusammengehörigkeit und Einheit der beiden Testamente betont wird.5 2 3 4
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Vgl. Irenäus von Lyon, Adversus haereses – Gegen die Häresien. Buch I-V, übersetzt und eingeleitet von Norbert Brox, Freiburg i. Br. u. a. 1993-2001 (FC 8/1-5). Vgl. Irenäus von Lyon, Epideixis – Darlegung der apostolischen Verkündigung, übersetzt und eingeleitet von Norbert Brox, Freiburg i. Br. u. a. 1993 (FC 8/1). Aus diesem Grund kann es im Folgenden bei dem Versuch der Darstellung der Anthropologie des Irenäus von Lyon nicht vermieden werden, dass es an einigen Stellen zu Redundanzen und Überschneidungen kommt. Grund für diese starke Betonung ist mitunter die Widerlegung der Lehre der Ebioniten und Markions (um 85-160), die besonders gegenüber dem Alten Testament skeptisch waren bzw. dieses zurückwiesen, vgl. Wehnert, Jürgen, Art. Ebioniten, Ebionäer, in: LThK3 3, 43-431; Löhr, Winrich,
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Im Hinblick auf seine Überlegungen zur Anthropologie stellt vor diesem Hintergrund im vierten Buch von Adversus haereses seine kurze Charakterisierung der Beziehung zwischen Gott und Mensch eine Kernaussage dar: Gloria enim Dei vivens homo, vita autem hominis visio Dei.6 An seiner Verfasstheit muss sich der Mensch orientieren, um durch die Ausrichtung auf die gloria Dei lebendig zu werden.7 Denn Gott wird nicht aus eigener Kraft heraus vom Menschen erkannt, sondern der Mensch wird von Gott aus Liebe heraus dazu befähigt, ihn zu erkennen. Um die wahre Teilhabe an Gott (visio Dei) und damit verbunden am wahren Leben zu ermöglichen, wurde der unsichtbare Gott in seinem menschgewordenen Sohn sichtbar.8 Der in diese Dynamik hineingenommene Mensch lässt sich nach Irenäus in dreifacher Weise beschreiben – als Geschöpf Gottes (1), das geschaffen ist als imago et similitudo (2) und das aus Geist, Seele und Leib besteht (3).
2.1 Der Mensch – Geschöpf Gottes Bei einer näheren Betrachtung der oben angeführten Kernaussage wird deutlich, dass die Ehre und Schau Gottes nicht nur einmal, sondern zweimal von Irenäus bei seiner Charakterisierung des Menschen angesprochen wird; sie ist sowohl der Ausgangspunkt (Gloria enim Dei) als auch der Zielpunkt (visio Dei) des Menschen, der gleichsam von seiner Relation zu Gott eingerahmt wird – sowohl bei der protologischen Erschaffung des Menschen, bei der ihm der Lebensatem eingehaucht wird und er so zu einem lebendigen Wesen wird (vgl. Gen 2,7), als auch bei seiner eschatologischen Vollendung (visio Dei). Der Mensch wird dabei zweimal angesprochen, zum einem als derjenige, der belebt wird (vivens homo), zum anderen als derjenige, dessen Leben sich auf die Schau Gottes ausrichten soll (vita autem hominis).9
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Art. Markion, in: Reallexikon für Antike und Christentum 24 (2012), 147-173. Für eine Charakterisierung der Theologie des Irenäus von Lyon vgl. z. B. Minns, Denis, Irenaeus, London 1994 (Outstanding Christian Thinkers); Behr, John, Ascetism and Anthropology in Irenaeus and Clement, Oxford 2000, hier 23-34; Krannich, Torsten, „Gott, der du es durch die Füllen deines Erbarmens gut mit uns meintest“ (haer. 3,6,4). Heil bei Irenäus von Lyon, in: Frey, Jörg / Krauter, Stefan / Lichtenberger, Hermann (Hrsg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung, Tübingen 2009, 559-569 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 248). Irenäus, adv. haer. IV,20,7 (wie Anm. 2) (FC 8/4, 166). Irenäus spricht in Zusammenhang mit der Lebendig-Machung nicht von einer reinen Verwandlung in etwas Lebendiges (animatio), sondern von einer Belebung (vivificatio). Vgl. z. B. Irenäus, adv. haer. IV,20,5 (wie Anm. 2) (FC 8/4, 160-162). Vgl. z. B. Irenäus, adv. haer. IV,14,1 (wie Anm. 2) (FC 8/4, 104-106); vgl. hierzu auch Donovan, Mary Ann, Alive to the Glory of God. A Key Insight in St. Irenaeus, in: Theological Studies 49 (1988), 283-297; Tenace, Michelina, Dire l’uomo. Dall’immagine di Dio alla somiglianza. La salvezza come divinizzazione, Rom 22005, hier 114-127. Vgl. hierzu und im Folgenden dieses Kapitels Steenberg, Matthew Craig, Irenaeus on Creation. The Cosmic Christ and the Saga of Redemption, Leiden / Boston 2008, hier insbesondere 21-38; Behr (wie Anm. 5), 35-87; Minns (wie Anm. 5), 36-82; Dirscherl, Erwin, Grundriss Theologischer Anth-
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In einem ersten Schritt10, zunächst den Menschen als Geschöpf Gottes in den Blick nehmend, ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass für Irenäus an der Schöpfung und an der Erschaffung des Menschen immer die ganze Trinität, Vater, Sohn und Hl. Geist, beteiligt ist: „Darum wird in all dieser Zeit der am Anfang geformte Mensch durch Gottes Hände, das heißt durch den Sohn und den Geist, nach seinem Bild und Gleichnis.“11 Dabei versteht er die Schöpfung selbst als eine creatio ex nihilo,12 mit der strikt die Schaffung des Menschen aus dem Vater durch den Sohn im Hl. Geist verbunden ist. Zugleich liegt aus anthropologischer Perspektive betrachtet in Bezug auf den Menschen eine creatio continua vor, das heißt der eine Gott ist immer in allen Menschen, in der einen Menschheit durch alle Zeiten hindurch schaffend und wirkend präsent; dabei wird zugleich dem Menschen die Erde als Erbschaft versprochen.13 Somit lebt der Mensch nicht durch seinen Lebensatem allein aus sich heraus, sondern er benötigt als geschaffenes Wesen Gott, durch den der Mensch dazu befähigt wird, das Leben je neu zu empfangen und so Anteil an der Unvergänglichkeit (incorruptibilitas) und Ehre (gloria) Gottes zu erhalten. Von besonderer Bedeutung ist für den Bischof von Lyon dabei, dass der Mensch immer der Sphäre des Kreatürlichen, des Geschaffenen angehört, nicht auf irgendeine Art und Weise der Gottes. Der Mensch ist in seiner innersten Natur immer materiell, weltlich, geschaffen und somit auch sterblich, was durch die Verwendung der Begriffe terra und plasmatio / plasmare in Bezug auf die Schaffung des Menschen verdeutlicht wird.14 Oder um es anhand eines Bildes zu verdeutlichen: Gott Vater selbst ist der Töpfer, der mit seinen beiden Händen, dem Sohn und dem Hl. Geist, etwas aus Lehm bildet. Dabei stellt sich der Töpfer selbst zunächst in seinem Kopf die Gestalt des Menschen vor, bevor er diesen mithilfe seiner beiden Hände und nach seinem Bild und ihm ähnlich (imago et similitudo;
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ropologie. Die Entschiedenheit des Menschen angesichts des Anderen, Regensburg 2006, hier 125127. Der zweite Schritt, der sich auf das Leben des Menschen bezieht wird im nächsten Kapitel (2.2. Der Mensch – geschaffen als imago et similitudo) im Zusammenhang mit der Frage nach imago und similitudo behandelt. Denn im Rahmen dieser beiden Begrifflichkeiten thematisiert Irenäus von Lyon auch das mögliche Streben des Menschen nach der Schau Gottes und der eschatologischen Vollendung in der Herrlichkeit des Vaters. Irenäus, adv. haer. V,28,4 (wie Anm. 2) (FC 8/5, 216-217): Et propter hoc in omni tempore, plasmatus in initio homo per manus Dei, hoc est Filii et Spiritus, fit secundum imaginem et similitudinem Dei. Der Bischof von Lyon spricht nicht nur an dieser Stelle, sondern vielmehr über seine ganzen Werke verteilt immer wieder von den beiden Händen Gottes; vgl. u. a. ders., epid. 11; 55 (wie Anm. 3) (FC 8/1, 40; 71); ders., adv. haer. V,1,3 (wie Anm. 2) (FC 8/5, 28-30); ebd. V,15,2 (wie Anm. 2) (FC 8/5, 128-130). Vgl. z. B. ders., epid. 5 (wie Anm. 3) (FC 8/1, 35-36); ders., adv. haer. II,30,9 (wie Anm. 2) (FC 8/2, 262-266). Vgl. z. B. ebd., V,36,3 (FC 8/5, 272-276). Vgl. z. B. ebd., V,16,1 (FC 8/5, 134).
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vgl. Gen 1,26-27) lebendig werden lässt. Diesem Ergebnis seiner Formung haucht er anschließend seinen Lebensatem ein (vgl. Gen 2,7).15
2.2 Der Mensch – geschaffen als imago et similitudo Neben der Charakterisierung des Menschen als ein Geschöpf Gottes ist für Irenäus von Lyon weiterhin die Frage bedeutsam, wie genau der Mensch in seiner Geschöpflichkeit im Allgemeinen näher zu beschreiben sei. Eine zentrale Stellung innerhalb seiner Überlegungen zur Anthropologie nehmen dabei die beiden Begriffe imago und similitudo ein, die den Menschen als Bild und Ähnlichkeit darstellen. Beide Größen – wenn auch nicht unbedingt in ihrer vollendeten Form – stehen in jedem einzelnen Menschen und in der Menschheit als Ganzer in Beziehung miteinander.16 Inhaltlich leichter in diesem Begriffspaar zu bestimmen ist dabei die imago, das Geschaffensein des Menschen als Abbild.17 Da allerdings ein Abbild nie ohne ein Urbild geformt werden kann, bedeutet dies im Hinblick auf den Menschen Folgendes: „Das Bild Gottes ist aber der Sohn, nach dessen Bild auch der Mensch geworden ist.“18 Das imago Dei Sein des Menschen ist dabei nicht Ausdruck von etwas Immateriellen, sondern es findet sich im menschlichen Leib.19 Um dies zu verwirklichen, ist das Muster, die Form für die Abbildhaftigkeit des Menschen der inkarnierte Sohn, der wahre Gott und wahre Mensch, der selbst materielle Gestalt angenommen hat. Damit aber offenbart der Mensch in seiner leiblichen Verfasstheit zugleich auch Gott selbst. Blickt man auf die similitudo, so ist die Bestimmung des von Irenäus intendierten Inhaltes hier weniger deutlich.20 Ausgehend vom Griechischen muss hierbei zwischen der ὁμοιότης einerseits und der ὁμοίωσις andererseits unterschieden werden.21 Der erste der beiden Begriffe ist dabei auf die Freiheit und die Rationalität des Menschen zu beziehen, die auch nach dem Sündenfall erhalten bleiben. In der ὁμοιότης ist auch der Bezug zum freien Willen des Menschen enthalten, der 15 16 17
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21
Vgl. zum Bild des Schöpfers Ladaria, Luis, Il Dio vivo et vero. Il mistero della Trinità, Casale Monferrato 42007, hier 172-173. Vgl. z. B. Irenäus, adv. haer. V,6,1 (wie Anm. 2) (FC 8/5, 56-60); ebd., V,1,3 (FC 8/5, 28-30); ebd., V,16,1 (FC 8/5, 134). Vgl. auch Donovan (wie Anm. 8). Zum Begriff der imago bei Irenäus vgl. u. a. Boersma, Hans, Accommodation to What? Univocity of Being, Pure Nature, and the Anthropology of St Irenaeus, in: International Journal of Systematic Theology 8 (2006), 266-293, hier 275-280, 286-292; Steenberg (wie Anm. 9), 29-38; Behr (wie Anm. 5), 86-92; Donovan (wie Anm. 8); Minns (wie Anm. 5), 56-76. Irenäus, epid. 22 (wie Anm. 3) (FC 8/1, 47). Vgl. z. B. ders., adv. haer. V,6,1 (wie Anm. 2) (FC 8/5, 56-60). Vgl. zur similitudo z. B. ebd., V,36,3 (FC 8/5, 272-276); ebd., III,18,1 (FC 8/3, 218-220); ebd., V,16,2 (FC 8/5, 134-135). Vgl. außerdem Behr (wie Anm. 5), 86-92; Boersma (wie Anm. 17), 275280, 286-292; Minns (wie Anm. 5), 56-76. Zur Begründung dieser Entscheidung vgl. u. a. die Argumentation bei Fantino, Jacques, L’homme image de Dieu. Chez saint Irénée de Lyon, Paris 1986, hier 110-118.
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seinen Ausdruck in der Wahl-, Entscheidungs- sowie Glaubensfreiheit findet. Diese unveräußerlichen menschlichen Eigenschaften bilden die Grundlage und ermöglichen eine direkte Verbindung zwischen Gott und Mensch, für die Antwort des Menschen gegenüber Gott. Zugleich ermöglicht sie die Annahme bzw. Ablehnung der Gabe des Geistes. Mit letzterer verbunden ist die zweite Bedeutungsdimension von similitudo. Die ὁμοίωσις kann als die Ähnlichkeit verstanden werden, welche die Menschheit zunächst verloren, in Christus dann aber wiedergewonnen hat. Das heißt, während die erste Bedeutungskomponente der similitudo zu den anthropologischen Grunddaten zu zählen ist, die jedem Menschen im geistigen Bereich zukommt, ist die zweite Bedeutungskomponente eine christologisch begründete. Sie wird dem einzelnen Menschen, nicht der Menschheit als ganzer, je mehr zu eigen, desto mehr er sich dem Urbild, dem wahren Menschen und wahren Gott, Christus annähert. Die immer weitere Verähnlichung mit Christus, das Wiedereröffnen des Weges hin zur ὁμοίωσις ermöglicht die Gabe des Hl. Geistes. Am Ende dieses durch den Geist angestoßenen Reifungsprozesses des Menschen steht das Erlangen der Unvergänglichkeit (incorruptibilitas) und Vergöttlichung (deificatio). Mit der inhaltlichen Ausgestaltung von imago und similitudo einher geht für Irenäus von Lyon der Gedanke der Rekapitulation: „Vielmehr nahm er [Christus, R. M.] Fleisch an und wurde Mensch, um die langzeitige Entwicklung der Menschen in sich zusammenzufassen, indem er uns kurz und bündig das Heil gewährte, damit wir das, was wir in Adam verloren hatten, nämlich Bild und Gleichnis Gottes zu sein, in Christus Jesus zurückerhielten.“22 In dieser von Christus her entfalteten imago-Theologie ist Christus, nicht Adam das lebendige Paradigma für die imago und die similitudo. Für Adam dagegen ist dies eine eschatologische, keine protologische Realität. Daher ist jeder Mensch dazu aufgerufen, sich diesem eschatologischen Ziel immer weiter anzunähern, ihm immer näher zu kommen.
2.3 Der Mensch – Geist, Seele und Leib Auf einer dritten Annäherungsebene an den Menschen beschäftigt sich Irenäus von Lyon in seinem Werk mit der genauen Verfasstheit des Menschen – mit seinen Bestandteilen sowie deren Zusammenspiel: Es sind „drei Größen […], aus denen
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Irenäus, adv. haer. III,18,1 (wie Anm. 2) (FC 8/3, 220-221): sed quando incarnatus et homo factus, longam hominum expositionem in seipso recapitulavit, in compendio nobis salute praestans, ut quod perdideramus in Adam, id est secundum imaginem et similitudinem esse Dei, hoc in Christo Iesu reciperemus. Zum Gedanken der Rekapitulation bei Irenäus vgl. ebd., III,18,7 (FC 8/3, 232-236); ebd., III,21,10 (FC 8/3, 270-272); ebd., III,22,3 (FC 8/3, 276-278); Steenberg (wie Anm. 9), 29-38; Behr (wie Anm. 5), 86-92; Sesboüé, Bernard, Zeit und Ewigkeit bei Irenäus von Lyon, in: Raffelt, Albert (Hrsg.), Weg und Weite. Festschrift für Karl Lehmann, Freiburg i. Br. u. a. 2001, 133-145; Sesboüé, Bernard, Irenäus von Lyon. Mann der Kirche und Lehrer der Kirche, in: Arnold, Johannes u. a. (Hrsg.), Väter der Kirche. Ekklesiales Denken von den Anfängen bis in die Neuzeit. Festgabe für Hermann Josef Sieben SJ zum 70. Geburtstag, Paderborn u. a. 2004, 105-126.
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[…] der vollständige Mensch besteht, nämlich aus Fleisch, Seele und Geist“23. Betrachtet man diese in einem ersten Schritt einzeln, so lassen sich alle drei voneinander anhand der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften unterscheiden. Da aber diese Unterscheidung keine Trennung beinhaltet, ist anschließend das Augenmerk auch auf deren Zusammenwirken im Menschen zu legen. Das Fleisch, der Körper oder Leib des Menschen wurde bereits oben im Zusammenhang mit der Schaffung des Menschen aus Lehm anfanghaft thematisiert.24 Dieser ist aus der Erde selbst von den beiden Händen Gottes gemacht. Als solcher stellt er ein Instrument dar, das durch die Seele belebt, inspiriert und somit zusammengehalten wird – er ist der Teil des Menschen, der „gerettet und geformt wird“25. Die Seele, der nach Irenäus eine Mittelposition zwischen Leib und Geist zukommt und die in der Rationalität und Freiheit verortet werden kann, ist der Ort des lebensspendenden Atems, durch den der Mensch von Gott ins Leben gerufen wird. Sie nimmt als immaterieller Bestandteil die Gestalt des Körpers an, ist unsterblich und aus dem Nichts von Gott geschaffen. Sie besitzt dabei aber das Leben nicht aus sich selbst heraus, sondern hat Anteil am Leben Gottes: „Wie aber der beseelte Leib zwar nicht die Seele selbst ist, aber an der Seele doch teilhat, solange Gott das will, so ist auch die Seele ihrerseits nicht das Leben selbst, hat aber teil am Leben, das Gott ihr geschenkt hat.“26 Der Geist schließlich ist das Eingangstor für den Geist Gottes. Er gehört nicht vollständig zum Menschen, sondern wird ihm gegeben, um den Menschen zu retten und zu gestalten. Sein Vorhandensein im Menschen ist dabei nicht zwingend; ohne ihn würde er ein belebtes, fleischliches Wesen sein. Aufgabe des Geistes ist es, den Menschen zur Vervollkommnung und Gottähnlichkeit zu führen.27 Blickt man nun auf das Zusammenspiel dieser drei Bestandteile im Menschen, so lässt sich dieses am ehesten mit den Jahresringen eines Baumstammes vergleichen. Im Innersten findet sich der Geist, der mit der Seele, dem nächsten Ring in einer wechselseitigen Beziehung steht. Jene wiederum befindet sich im Austausch mit dem Leib, der als äußerster Ring, an dem zugleich auch die Rinde, die Haut, 23
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Irenäus, adv. haer. V,9,1 (wie Anm. 2) (FC 8/5, 74-75): tria ex quibus […] perfectus homo constat, carne, anima et spiritu. Zu den drei Teilen des Menschen im Werk des Lyoner Theologen vgl. beispielsweise ebd., II,13,3 (FC 8/2, 94-96); ebd., II,34,3-4 (FC 8/2, 292-294); ebd., IV,praef. 4 (FC 8/4, 14-16); ebd., V,6,1 (FC 8/5, 56-60); ebd., V,7,1 (FC 8/5, 62-64); ebd., V,8,2 (FC 8/5, 68-70); ebd., V,12,2 (FC 8/5, 94-96). Vgl. weiterhin Boersma (wie Anm. 17), 286-292; Tenace (wie Anm. 8), 118-127; Minns (wie Anm. 5), 76-80; Steenberg (wie Anm. 9), 38-41; Behr (wie Anm. 5), 86115. Vgl. dazu oben 2.1 Der Mensch – Geschöpf Gottes. Irenäus, adv. haer. V,9,1 (wie Anm. 2) (FC 8/5, 74-75): salvatur et formatur. Ebd., II,34,4 (wie Anm. 2) (FC 8/2, 294-295): Sicut autem corpus animale ipsum quidem non est anima, participatur autem animam quoadusque Deus vult, sic et anima ipsa quidem non est vita, participatur autem a Deo sibi praestitam vitam. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass bei Irenäus an keiner Stelle davon ausgegangen wird, dass der prälapsarische Mensch schon den Geist Gottes hatte. Es wird nur von der Einhauchung des Lebensatems (animatio), nicht aber von der Belebung durch den Geist (vivificatio) gesprochen. Letztere ist vielmehr als eine Folge ersterer zu betrachten; denn die animatio ist zwar als ein Werk des Hl. Geistes zu verstehen, aber nicht mit der Erfüllung mit diesem gleichzusetzen.
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als Verbindung zur Außenwelt zu finden ist, in Relation mit der übrigen Schöpfung tritt. Der Seele kommt dabei eine ähnliche Position zu wie dem Wagenlenker in Platons Phaidros.28 Sie ist hin- und hergerissen zwischen den Forderungen, die einerseits vom Geist, andererseits vom Leib an sie herangetragen werden. Folgt sie dabei aber auf Dauer denjenigen des Leibes, missbraucht sie die ihr gegebene Freiheit. Sie schließt sich dadurch in die menschliche Natur ein und wird zur Erde; dies mündet schließlich im Tod. Gehorcht sie dagegen dem Geist, erhält sie Anteil an der Freiheit der Kinder Gottes und erlangt so die Unvergänglichkeit (incorruptibilitas).
3. Impulse für die Gegenwart Betrachtet man als Mensch von heute diese christologisch begründete und zentrierte Anthropologie und Spiritualität des Irenäus von Lyon, finden sich hier in ihrer Gesamtschau einige Ansatzpunkte, die auch in der heutigen Zeit lohnenswert sind. Aus diesen soll im Folgenden aber nur ein miteinander in Beziehung stehendes Themenfeld herausgegriffen werden – die Menschlichkeit (humanitas) und damit verbunden die Menschenrechte.29
3.1 Humanitas und Menschenrechte Mit dem lateinischen Begriff humanitas wird sowohl die Mitmenschlichkeit und Menschenliebe als auch das Menschsein im Sinne von geistiger und sittlicher Bildung bezeichnet.30 Sie bringt zum Ausdruck, dass alle Mitglieder des menschlichen 28
Zum Bild des Wagenlenkers vgl. Platon, ΦΑΙΔΡΟΣ – Phaidros, in: ders., Phaidros. Parmenides. Briefe, bearbeitet von Dietrich Kurz, griechischer Text von Léon Robin, August Diès und Joseph Souilhé, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher und Dietrich Kurz, Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. von Gunther Eigler, Bd. 5, Darmstadt 1983, 227a-279c, hier 246a-247e. 29 Ebenso interessant wäre beispielsweise ein Gespräch der Anthropologie und Spiritualität des Irenäus von Lyon mit aktuellen Herausforderungen rund um bioethische Fragestellungen und den damit verbundenen anthropologisch-philosophischen Diskursen und Ansätzen. Dies kann hier allerdings nicht geleistet werden. 30 An dieser Stelle soll nur ein kurzer Einblick in die Begriffs- und Ideengeschichte der humanitas einerseits und der Menschenrechte andererseits gegeben werden. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung innerhalb des Christentums und hier wiederum auf die Antike gelegt; philosophische und andere Einflussfaktoren auf die Herausbildung und nähere Bestimmung der beiden Begriffe werden in dem hier angestrebten stichwortartigen Überblick außen vor gelassen beziehungsweise als bekannt vorausgesetzt. Für nähere Angaben und weiterführende Darstellung vgl. z. B. Wolgast, Eike, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, Stuttgart 2009; Grimal, Pierre, Römische Kulturgeschichte, Darmstadt 1961; Chadwick, Henry, Christentum und Humanität / Christianity and Humanity, in: Köpf, Ulrich (Hrsg.), Christentum und Humanität. Christiantiy and Humanity, Tübingen 1992, 8-33; Baranzke, Heike, Menschenwürde und Menschenrechte. Vom Anspruch der Freiheit in Recht, Ethik und Theologie, in: Baranzke, Heike u. a. (Hrsg.), Handeln
Anthropologie bei Irenäus von Lyon
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Geschlechts – unabhängig von Hautfarbe, Religion, Sprache, geistigem Vermögen, etc. – miteinander so verwandt sind wie die Mitglieder ein und derselben gens. Daraus abgeleitet bringt sie die Vorstellung ins Bild, wie der Mensch seiner Natur nach idealiter zu verstehen sei. Aufgrund dieser engen Zusammengehörigkeit aller Menschen zielt sie auf eine gegenseitige Solidarität ab, die die Aufgabe des Staates mit einschließt, die Würde und die Rechte jedes einzelnen Menschen zu garantieren. Als ein Wurzelgrund für diese Entwicklung ist neben der antiken Philosophie das Christentum zu benennen. Hierbei von besonderer Bedeutung ist das Verständnis des Menschen als imago Dei, mit dem in der Theologie die Gleichheit aller Menschen einhergeht. Stellt man die humanitas in diesen Bezugsrahmen, so bildet sie die Grundlage für die Entwicklung der Menschenrechte, der Menschenrechtskonventionen sowie des Humanitären Völkerrechts und des Roten Kreuzes dar. Dies zeigt sich beispielsweise im Handeln des Genfer Geschäftsmannes und ersten Friedensnobelpreisträgers Henry Dunant (1828-1910), der angesichts seiner Erfahrungen in der Schlacht von Solferino (1859), in die er eher zufällig hineingeriet, Hilfsmaßnahmen für die Verwundeten aller Parteien aus dem Gedanken „tutti fratelli“ – alle Menschen sind Brüder – heraus organisierte; aus diesen Bemühungen entwickelte sich die heute in allen Kriegs- und Krisengebieten tätige Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegungen. Des Weiteren bilden sich aus dieser auch die großen internationalen Abkommen und Konventionen heraus, als Beispiel sei nur auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 hingewiesen.
3.2 Einige Bemerkungen hierzu aus der Perspektive des Irenäus von Lyon Irenäus von Lyon prägt mit seiner christozentrischen Anthropologie und Spiritualität, wie sie oben dargestellt wurde, die Entwicklung der Ideen von humanitas und Menschenrechten mit. Aufgrund der allen Menschen gleich zu eigen seienden Verfasstheit als trichotomes Geschöpf Gottes, das sich nach der vollen, eschatologischen imago und similitudo sehnt, besteht nach Irenäus eine grundlegende Einheit und Solidarität der Menschheit in Adam und damit untereinander. Die gemeinsam geteilte Geschöpflichkeit ist zudem auch der Ansatzpunkt, an dem nach dem Lyoner Theologen die humanitas zum Tragen kommt; denn diese stellt für ihn ebenfalls einen dem menschlichen Wesen eingeschriebenen Charakterzug dar. Mit seiner Anthropologie und Spiritualität legt Irenäus von Lyon Grundlagen für die heutige Auseinandersetzung mit der humanitas und den Menschenrechten. Denn er regt durch seine Darstellung und sein Verständnis des einzelnen Menschen verantworten. Grundlagen – Kriterien – Kompetenzen, Freiburg i. Br. u. a. 2010 (Theologische Module 11), 47-93; Krug von Nidda, Roland, Henry Dunant. Begründer des Roten Kreuzes. 18281910, in: Grassl, Erich (Hrsg.), Kampf ohne Waffen. Helfer der Menschen. Henry Dunant. Wilhelm Löhe. Florence Nightingale. Dominikus Ringeisen. Albert Schweitzer, Donauwörth 1967, 7-34.
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sowie der Menschheit als Ganzer je neu dazu an, sich vor dem Hintergrund seiner Anthropologie und Spiritualität mit den Herausforderungen und Anfragen unserer Zeit zu beschäftigen. Egal, ob es um weltweite Menschenrechtsverletzungen oder Folter geht, oder ob es um die Schaffung einer gemeinsamen Basis für ein Gespräch um die inhaltliche Fassung der humanitas oder um die Aufgaben und die Verbindlichkeit des Roten Kreuzes geht, oder ob die Abfassung verbindlicher rules of engagement angezielt wird: der Ansatz des Lyoner Theologen ruft uns dazu auf, sowohl die Einheit der Menschen als Geschöpf Gottes als auch die Solidarität aufgrund der Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht in diese Fragestellungen und Themenbereiche einzubeziehen.
Beobachtungen zu Anthropologie und Seelenlehre des Narsai von Nisibis († nach 496)
Peter Bruns Weder im Alten noch im Neuen Testament begegnen wir einer eingehenden Anthropologie und damit verbundenen Psychologie als einer systematischen Lehre vom Menschen und seiner „Seele“. Die Heilige Schrift 1 betrachtet den Menschen vielmehr in seiner leibseelischen Ganzheit und würdigt sein Leben und Handeln vor allem in seiner Relation zu Gott, seinem Schöpfer. Der biblische Befund (vgl. Gen 2,7), wonach erst durch das Einhauchen des Lebensodems das menschliche Staubgebilde zu einer „lebenden Seele“ und damit zu einem Lebewesen im strengen Sinne geworden ist, wirft die Frage auf, wie dieses geistliche Leben in der heutigen geistigen Verfassung Europas2 konkret gelebt werden kann. Als profunde Kenner der menschlichen Seele und als Meister des geistlichen Lebens 3 haben die orientalischen Väter dem modernen Gottsucher durchaus einiges zu sagen. Unser Beitrag beschränkt sich im Folgenden auf einen prominenten Dichtertheologen der heute fast vergessenen „Kirche des Ostens“, die gegenwärtig durch die gravierenden politischen Umwälzungen im nördlichen Irak in ihrer Existenz ernstlich bedroht ist.
1. Narsai – Leben und Werk Narsai (syr. Narsaï, gräzisiert Narses) wurde nach dem Zeugnis des Barhadbeschabba4 und der Chronik von Seert5 um 399 in einem kleinen Dorf namens cAin 1
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Vgl. Möde, Erwin, Studie zur Biblischen Anthropologie: ein Beitrag zur Spiritualitätstheologie. Edition Psychosymbolik, München 1994; ders., Fundamentaltheologie in postmoderner Zeit: Ein anthropotheologischer Entwurf. Edition Psychosymbolik, München 1994. Vgl. Möde, Erwin, Europa braucht Spiritualität (= Quaestiones Disputatae 263), Freiburg i. Br. 2014. Vgl. hierzu den Klassiker Viller, Marcel / Rahner, Karl, Aszese und Mystik in der Väterzeit. Ein Abriss der frühchristlichen Spiritualität, Freiburg 1939 (1989). Sowohl in seiner Kirchengeschichte, Kap. 31, als auch in seiner „Geschichte der Schulgründungen“ widmet Barhadbeschabba, der Bischof von Halwan (6. Jh.), dem Dichter und Theologen Narsai einen eigenen Abschnitt, vgl. Nau, François (éd.), Histoire du bienheureux défunt Mar Narsès; d’où il était et quel était le mode de son enseignement, in: Patrologia Orientalis, t. IX, 588615; Scher, Addai (éd.), Cause de la fondation des écoles, in: Patrologia Orientalis, t. IV, 381-387; zur allgemeinen Orientierung über den Dichtertheologen vgl. Baumstark, Anton, Geschichte der syrischen Literatur, Bonn 1922, 109-113.
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Dulbe („Platanenquelle“) im Distrikt Macaltâ6 im Westen des Sasanidenreiches nahe des Tigris geboren. Seine früheste Jugend verbrachte er bei seinem Onkel in einem Kloster nahe bei Kfar-Mari (Beth-Zabdai); nach dem Studium war er dort als Lehrer tätig, später siedelte er zwecks weiterer theologischer Forschungen nach Edessa über. Narsai wurde nach dem Tod seines Onkels selbst zum Abt des Klosters von Kfar-Mari gewählt, um es bald darauf wieder zu verlassen und die Studien 435 in Mopsuestia bei dem Theodor-Nachfolger Theodul fortzuführen. 437 wurde er Leiter der Theologenschule von Edessa. Zusammen mit seinem Freund und späteren Bischof Ibas übertrug er die Werke Theodors von Mopsuestia und Diodors von Tarsus ins Syrische. Nach der Absetzung des Ibas 457 wurde Narsai wegen seiner exzessiven Zweinaturenlehre („Nestorianismus“) von Bischof Nonnus aus Edessa vertrieben und suchte deshalb außerhalb des Römischen Reiches im persischen Nisibis Zuflucht, wohin ihm alsbald Barsauma und die gesamte edessenische Gelehrtenschule folgen sollten. Dieser Einrichtung stand er 40 Jahre lang bis kurz vor seinem Tod (502) als angesehener Lehrer vor. Narsai war Asket mit herausragenden intellektuellen Qualitäten, welcher der aufstrebenden nestorianischen Bewegung im Perserreich seine Feder lieh. Seine weitgespannte literarische Aktivität erstreckte sich auf die Felder der Liturgie, der Trinitätslehre sowie der Exegese, in der er weitgehend der antiochenischen Tradition folgte. Schwerpunkt bildet hier die Schöpfungslehre. Insgesamt werden ihm 360 Homilien7 (syr. memrê) liturgisch-pastoralen Inhalts zugeschrieben, von denen eine Vielzahl Eingang ins chaldäische Brevier gefunden haben. In der Christologie erwies sich der Dichter als energischer Gegner des Jakob von Sarug und eifriger Apologet der drei Lehrer Diodor, Theodor und Nestorius, was ihn alsbald in Konflikt mit der reichskirchlichen Orthodoxie brachte und zum Anlass seiner Emigration wurde. Narsais allseits erforschte diphysitische Christologie trägt indes nur indirekt etwas zu unserer anthropologischen Fragestellung bei, insofern nämlich der ewige, dem Vater wesensgleiche Logos einen vollkommenen Menschen, bestehend aus Leib und Seele, angenommen und mit sich prosopisch (nicht hypostatisch!) geeint hat. Daher wird die Christologie nur dort besonders berücksichtigt
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Vgl. Scher, Addai (éd.), Histoire Nestorienne inédite, in: Patrologia Orientalis, t. VII, 114-117. Vgl. Fiey, J. Marie, Assyrie Chrétienne, t. II, Beirut 1965, 685. Von den „Gesamtausgaben“, die allerdings nur einen Bruchteil der unter dem Namen „Narsai“ überlieferten Homilien enthalten, seien erwähnt: Mingana, Alphonse, Narsai doctoris Syri homiliae et carmina I-II, Mossul 1905 [nur syr. Text]; Shimun xxiii, Eshai (ed.), Homilies of Mar Narsai I-II, (Patriarchal Press) San Franciso (Cal.) 1970 [nur syr. Text]; Kritischer Text mit englischer Übersetzung: McLeod, Frederick G., Narsai’s Metrical Homilies on the Nativity, Epiphany, Passion, Resurrection and Ascension (PO XL/1), Turnhout 1979; Gignoux, Philippe, Homélies de Narsaï sur la création (PO XXXIV/3-4), Turnhout 1968; eine kleine Auswahl syrischer Texte mit deutscher Übersetzung findet sich bei Feldmann, Franz, Syrische Wechsellieder von Narsai, Leipzig 1896. In liturgiegeschichtlicher Hinsicht bedeutsam ist: Connolly, Don R.H., Liturgical Homilies of Narsai, Cambridge 1909. Eine gute Einführung in das bereits edierte Werk bietet Brock, Sebastian P., “The published verse homilies of Isaac of Antioch, Jacob of Serugh, and Narsai: index of incipits”, in: Journal of Semitic Studies 32 (1987), 279-313.
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werden können, wo sie unmittelbar auf Narsais Seelenlehre und vice versa diese auf das Christusbild eingewirkt hat.
2. Anthropologische Konstanten Anthropologische Fragen werden in der Alten Kirche, wenn sie nicht in einem eigenen Traktat „Über die Seele“ behandelt werden, zumeist im Zusammenhang mit der Schöpfungslehre diskutiert. Auch der syrische Exeget Narsai macht hiervon keine Ausnahme. Die Seelenlehre ist bei ihm eingebettet in eine allgemeine Kosmologie, die sich vor allem in den Homilien (syr. memrê)8 über die Schöpfung findet, da nach seinem antik-christlichen Verständnis der Mensch als Mikrokosmos den Makrokosmos widerspiegelt. Darüber hinaus widmet sich Narsai in der 39. Homilie9 explizit der Leib-Seele-Problematik. Der Fokus der älteren Forschung10 war allerdings ausschließlich auf den hellenistischen Hintergrund gerichtet, während die zeitgenössische iranische Geisteswelt 11 der christlichen Perserschule von Edessa und Nisibis ausgeblendet wurde. Es ist zwar davon auszugehen, dass Narsai wie alle Absolventen der edessenischen Schule des Griechischen mächtig war – hat er doch seine Sprachbegabung nicht zuletzt durch seine eigenen Übersetzungen der
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Das syrische Wort lässt sich mit Rede, Predigt, Lehrgedicht, Traktat im Deutschen wiedergeben. Deutsche Übersetzung bei Allgeier, Arthur, Ein syrischer Memrâ über die Seele in religionsgeschichtlichem Rahmen, in: Archiv für Religionswissenschaft 21 (1922), 360-396; syr. Text bei Mingana (wie Anm. 7), homiliae II, 238-254. Der vollständige Titel, von Allgeier in seiner Übersetzung ausgelassen, lautet: „Memrâ neununddreißig über den Vorzug der Seele und wie sie den Leib versorgt, in dem sie wohnt.“ Im Folgenden greifen wir zwar auf Allgeiers im Grunde zuverlässige Übertragung zurück, werden aber die einschlägigen Passagen nochmals ins Deutsche übersetzen. 10 Vgl. Allgeier (wie Anm. 9), Memrâ über die Seele, 360-364. Allgeiers religionsgeschichtliches Denken kreist einseitig um die griechische (Göttin) Psyche und ihre Verehrung; er resümiert, a.a.O., 393: „Narses folgt in der Lehre von der Erschaffung des Menschen der Bibel, in der Beschreibung der Menschennatur ist er von der Philosophie des Westens beeinflusst, und dogmengeschichtlich wird er durch zwei Eigentümlichkeiten charakterisiert: durch den Kreationismus und die Annahme des Paradieses als Aufenthaltsort der Verstorbenen bis zum allgemeinen Gericht.“ Gleichzeitig muss Allgeier zugestehen, dass sich unter den bekannten frühchristlichen Darstellungen über die Seele keine finde, welche etwa als nächste Quelle für Narses in Betracht kommen könnte. Neben westlichen wird man daher auch nach östlich-iranischen Modellen Ausschau halten müssen, deren Spur Allgeier (wie Anm. 9), 395, nicht verfolgt hat. 11 Zur Anthropologie und Makrokosmos-Mikrokosmos-Problematik der alten Iraner vgl. Widengren, Geo, Iranische Geisteswelt von den Anfängen bis zum Islam, Baden-Baden 1961, 47-76; Casartelli, L.C., La philosophie religieuse du Mazdéisme sous les Sassanides, Paris 1884, 121-136. Was die komplexe Quellenlage der Iraner anbelangt, so beschränken wir uns im Folgenden auf den Weisheitstraktat Mainyo-i-Khard (Spirit of Wisdom), der mit einiger Sicherheit in die sassanidische Epoche datiert werden kann, vgl. dazu von Spiegel, Friedrich, Avesta. Die heiligen Schriften der Parsen. Aus dem Grundtexte übersetzt mit steter Rücksicht auf die Tradition. Bd. I. Der Vendidad, Leipzig 1852, 138. Ausgabe bei: West, Edward William, The Book of the Mainyo-i-Khard or the Spirit of Wisdom, (London 1871) repr. Amsterdam 1979.
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großen Theologen unter Beweis gestellt –, so darf dennoch nicht seine geistige Beheimatung im spätantiken Sasanidenreich12 außer Acht bleiben.
2.1 Adam als Band der Schöpfung Das Bekenntnis zu dem einen Schöpfergott gehört zum Grundbestand des christlichen Glaubens. Auch die syrischen Väter (Aphrahat und Ephräm) haben sich seit dem vierten Jahrhundert intensiv mit der Erschaffung der Welt und des Menschen auseinandergesetzt. Insbesondere die permanente Diskussion mit dem Dualismus, oder genauer dem persischen Manichäismus13, hat der ostsyrischen Schöpfungslehre ihr unverwechselbares Gepräge gegeben. Innerhalb des syrischen Sprachraumes steht der Dichtertheologe Narsai nicht erst am Anfang der dogmengeschichtlichen Entwicklung, er tritt vielmehr in die breiten Fußstapfen Ephräms, weiß aber in Form und Inhalt seiner Homilien durchaus eigene schöpfungstheologische Akzente zu setzen. Ephräm der Syrer hatte in seinem Genesiskommentar14 ein solides Fundament gelegt, auf dem die nachfolgenden Theologengenerationen aufbauen konnten. Von dem großen Exegeten und Theologen Theodor von Mopsuestia 15 übernahm Narsai den Gedanken, dass der Mensch aufgrund seiner Leib-Seele-Dualit16 von Gott zu einem idealen Bindeglied zwischen der materiellen und immateriellen Kreatur bestimmt sei. Darin liegen auch seine wesenhafte Gottähnlichkeit und einzigartige Würde begründet: „Ein König wird in seinem Bildnis17 geehrt, mag er auch fern sein oder nah, Der Schöpfer wollte in Adams Bildnis die Vernunftwesen weise machen. In der Welt, der Königsstadt, setzte der Schöpfer sein Bildnis, Im sichtbaren Bildnis macht er die Kraft seiner Verborgenheit kund. Mit seinem Bildnis versah der Schöpfer die Schöpfung, als er sie begründete, Damit sie (die Geschöpfe) in der Liebe zu Adam seiner eigenen Liebe glichen. Er machte ihn zu einem Verwandten der Engel durch die Geistseele Und band ihn an die stummen Kreaturen18 durch das Gefüge seiner Glieder. 12 13 14 15 16
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Zu Narsais Beziehungen zu den Persern vgl. Baumstark (wie Anm. 4), 109f. Vgl. Gignoux (wie Anm. 7), hom. V,381-414. Vgl. Kremer, Thomas, Mundus Primus. Die Geschichte der Welt und des Menschen von Adam bis Noach im Genesiskommentar Ephräms des Syrers, Löwen 2012. Vgl. Norris, R.A., Manhood and Christ, Oxford 1963, 146-149. Wir sprechen hier nicht von Leib-Seele-Dualismus, sondern von Zweiheit bzw. Dualität, da Narsai im Gegensatz zu den Manichäern oder Zoroastriern nirgends einen unüberbrückbaren Dualismus zwischen geistiger und materieller Welt behauptet. Das syr. Wort çalmâ (hebr. )צלםspielt in seiner Bedeutung von imago, simulacrum, idolum auf Gen 1,27 und Dan 3,1 an. Die Stummen sind die nicht mit Sprache und daher auch nicht mit Vernunft begabten Kreaturen (ἄλογα, muta); ihnen stehen die melîlê, die Vernunftbegabten (griech. λογικά), gegenüber. Zu ihnen gehören die Engel und die Geistseelen. Der Mensch hingegen ist sowohl aus einem stummen als auch einem redebegabten, vernünftigen Bestandteil gebildet.
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‚Es formte der Herrgott den Adam, Staub von der Erde, Und hauchte ihm den Geist des Lebens ein und machte ihn lebendig und vernünftig.‘ (Gen 2,7)“ 19 In seiner sichtbaren Leib-Seele-Einheit stellt Adam für die Schöpfung ein Bildnis des unsichtbaren Schöpfers dar. Ihm eignet eine besondere, königliche Würde, da er Gottes himmlische Herrschermacht auf Erden20 repräsentiert. Wie im Bildnis die Macht Gottes, sein Glanz und seine Pracht gegenwärtig sind und von ihm her auf die Umgebung ausstrahlen, so ist dem Menschen göttliche Verfügungsgewalt verliehen. Wie der persische Großkönig21 in seiner Hauptstadt und im ganzen Reich in den einzelnen Provinzen ein Bildnis seiner Herrschaft aufrichtet, so steht der Mensch in seiner Gottähnlichkeit als Gottes Hoheitszeichen in der Welt. Auf Grund seiner dualen Struktur mit Leib und Seele kann er gleichzeitig sowohl mit der vernunftbegabten Kreatur der Geistwesen (Engel) kommunizieren, als auch über die unvernünftige, stumme Tierwelt herrschen. Adams Gottähnlichkeit besteht daher weder einseitig in seinen geistigen Fähigkeiten oder seiner besonderen Geistnatur noch in der äußeren Gestalt des Leibes (aufrechter Gang etc.), sondern in der wesenhaften Einheit der Zweiheit von Geist und Materie. So kann Narsai die wesenhafte Verschiedenheit von Seele und Leib hinnehmen, ohne darüber dem persischen Dualismus zu verfallen: „Mit Leib und Seele kommt der Mensch aus dem (Mutter-)Leib hervor; Ein sichtbarer Leib und eine verborgene Seele, ein doppeltes Gefäß22. Kunstvoll ist seine Zusammensetzung gebildet durch zwei Gestalten: Der Leib ist Staub, die Seele Geist, zusammen ein Mensch. Einen Menschen nennen die Menschen Leib und Seele Wegen der Liebe des Schöpfers, der sie (ehelich?) verband. Eins ist der Leib und eins die Seele des einen Menschen, Eins ist der Wink (remzâ), welcher täglich Menschen in Menschen bildet. Aus dem Leibe bildet der Wink einen anderen Leib Und wie diese Seele des einen Menschen sind alle Seelen. Sehr gleicht ein Leib dem anderen und eine Seele der anderen Wie das Sein jedes Tages dem früheren Tage gleicht. Nicht neu erschafft der Schöpfer des Alls einen Menschen; Siehe, von dem Menschen, den er am Anfang schuf, stammen die Menschen. 19 20
Gignoux (wie Anm. 7), hom. IV,1-10. Die imago-Dei-Vorstellung wird auch bei Theodoret von Cyrus als Herrscherwürde des Menschen gedeutet, vgl. hierzu die Ausführungen bei Gignoux (wie Anm. 7), 449-453. 500. 21 Eine umfassende Darstellung der iranischen Königsideologie würde den engen Rahmen unserer Untersuchung sprengen, einen guten Überblick über die Sasanidenzeit findet man bei Widengren, Geo, Die Religionen Irans, Stuttgart 1965, 310-319, bei den Achämeniden 151-155, bei den Parthern 236-242. 22 Zum griech. Hintergrund für die Vorstellung vom Leib als Gefäß der Seele vgl. Allgeier (wie Anm. 9), 376, Anm. 1.
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Peter Bruns Aus dem einen Leib sind alle Leiber, die waren und die sein werden, Auch die Natur der Seelen ist eins wie diejenige, die war. Eins ist der Wink, der im Anfang Leib und Seele erschaffen hat, Seine Kraft eilt mit all seinen Schöpfungen dahin bis ans Ende.“23
Das syrische Wort nâšâ (vgl. hebr. )אנושist wie „Adam“ im strengen Sinn ein Kollektivbegriff, der „die Menschen“ oder „den Menschen“ schlechthin bezeichnet. Der individuelle Mensch hingegen ist bei Narsai der barnâšâ („Menschenkind“, vgl. hebr. )בן אנוש. In dem einen Urmenschen Adam ist die gesamte Menschheit mit Leib und Seele wie in einer korporativen Persönlichkeit prinzipiell enthalten, so dass sich ihre individuelle Ausprägung durch Zeugung und Fortpflanzung vom Stammvater lückenlos herleiten lässt. Die weltimmanente Wirkkraft des transzendenten Schöpfers, welche die einzelnen Leiber und Seelen hervorbringt, nennt Narsai etwas kryptisch den „Wink“24. Es bleibt indes unklar, ob dieser syrische Begriff eine Hypostasierung des göttlichen Sinnes (griech. Νοῦς) oder Gedankens (griech. Λόγος) im strengen Sinne bezeichnet. Ernste philologische Bedenken stehen dieser Deutung im Wege. Schwierig bleibt darüber hinaus die terminologische Abgrenzung des „Winks“ zu anderen Aktivitäten des Schöpfers wie etwa seiner Willensanstrengung (syr. çebyânâ)25 oder dem göttlichen Wort, das aus dem Nichtsein ins Sein ruft. Ohne Zweifel handelt es sich hierbei um einen Schlüsselbegriff in der Schöpfungstheologie Narsais. 26 Er unterstreicht die dem Menschen unerreichbare Geschwindigkeit des schöpferischen Handelns Gottes, bei welchem Befehl und Ausführung in eins fallen, auch wenn zwischen beiden ein zeitlicher oder räumlicher Abstand zu vermuten wäre. 27 Im zeitgenössischen Kontext wäre noch an die besondere Rolle des großköniglichen Befehls (pers. fermân) zu denken, der das Reich lenkt, ihm Wohlfahrt, Sicherheit und Ordnung schenkt. 28 In Analogie hierzu und vorbehaltlich der größeren Unähnlichkeit denkt sich Narsai das göttliche Weltregiment.
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Allgeier (wie Anm. 9), 376: Mingana (wie Anm. 7), homiliae II,243,7-19. Syr. remzâ. Allgeier (wie Anm. 9), 365, Anm. 4, sieht darin einen Terminus, um die göttliche Person zu umschreiben, vergleichbar dem targumischen mêmrâ und dem griechischen λόγος. Doch wird der Logos im Syrischen gerne mit melltâ übersetzt. Der talmudische Hintergrund wäre eher mit hebräisch „ רמזAndeutung“ gegeben. Das Verbum רמזbezeichnet das Zuwinken mit der Hand oder dem Kopf als Zeichen der Zustimmung, vgl. Levy, Jacob, Wörterbuch über die Talmudim und Midraschim, Berlin / Wien 1924, Bd. IV, Sp. 453b-454a. Vgl. den Index zu „volonté“ bei Gignoux (wie Anm. 7), 294b. Ungleich häufiger begegnet remzâ, von Gignoux mit „signe divin“ übersetzt, vgl. Gignoux (wie Anm. 7), 293b. Zur Schöpfungslehre vgl. Jansma, Taeke, Études sur la pensée de Narsaï. L’homélie № XXXIV (= II in der Ausgabe von Gignoux, „Au commencement): essai d’interprétation, in: L’Orient Syrien 11 (1966), 147-168. 265-290. 393-429. Vgl. Gignoux (wie Anm. 7), 23. Vgl. West (wie Anm. 11), Mainyo-i-Khard, 148.
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2.2 Die ontischen Qualitäten der Seele Mit der Gedankenwelt der zeitgenössischen Perser teilt Narsai nicht wenige philosophische Vorstellungen von den hervorstechenden Eigenschaften der menschlichen Seele, zu denen vor allem ihre wesenhafte Unsterblichkeit und Leidensunfähigkeit gehört. Letztere Qualität dominiert die christologische Diskussion jener Tage, die ganz um die Unwandelbarkeit und Unveränderlichkeit des Gott-Logos kreist. Mutatis mutandis spiegelt sie sich auch in der Anthropologie und Seelenlehre wider, wenn Narsai seine monophysitischen Widersacher als Theopaschiten29 direkt attackiert: „Der Glaube sandte sie (die Engel) zu ihrer Verwandtschaft (der Menschheit), Und sie nahmen dort die Verborgenheit ihrer Geistseele in den Blick, Als geistig und unsterblich glaubten sie ihr Wesen, Wie sie selbst geistig und unsterblich sind, Von derselben Art der überragenden Art 30 ist ihre Art, Sie ist nicht zusammengesetzt und unsichtbar, Von demselben Geschlecht ist ihr Geschlecht ohne Herkunft, So existiert sie in derselben Gestalt aus dem Nichts. O Natur der Menschenseele und der Geistwesen, Welche das unsterbliche Leben besitzen wie ihr Schöpfer!31 O Menschen, deren innere Seele unsterblich ist, Sie nannten ihren Schöpfer in ihren Streitigkeiten einen Toten.“ 32 Die Rede vom „Tode Gottes“33, wie sie in einigen monophysitischen Kreisen üblich ist, erscheint Narsai unsinnig angesichts der simplen Tatsache, dass selbst die kreatürliche Seele wie die Gottheit wesenhaft Unsterblichkeit besitzt. Die Leidensunfähigkeit der Seele angesichts der Leidensfähigkeit des Leibes stellt ein Grundaxiom in Narsais Anthropologie und Christologie dar, weshalb er sehr häufig auf sie zu sprechen kommt: „Nicht wird sie durch die Leidensempfänglichkeit der Leiden des Leibes verletzt, 29
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Vgl. hierzu Gignoux (wie Anm. 7), hom. VI,391-446. Es ist Gignoux durchaus zuzustimmen, wenn er Narsais Ausführungen als Vorwegnahme der späteren theopaschitischen Diskussionen des sechsten Jahrhunderts unter Kaiser Justinian I. begreift. Wörtlich: die „Art der Artenart“, eine Steigerung, um die Sublimität der Engel und der Geistseele hervorzuheben. Narsai reflektiert hier nicht auf die maßgebliche Stelle 1 Tim 6,16: Die Unsterblichkeit der menschlichen Geistseele ist eine kreatürliche, von ihrem Schöpfer gewollte Wirklichkeit. Die Seele ist von Gott aus dem Nichts als unzerstörbare Einheit geschaffen. In ihrer wesenhaften Einheit liegt auch ihre Unzerstörbarkeit begründet, denn nur zusammengesetzte Dinge können wieder in ihre Einzelteile zerfallen. Gignoux (wie Anm. 7), hom. VI,381-392. Wie die meisten strengen Antiochener hadert auch Narsai mit der Idiomenkommunikation der Monophysiten und Chalcedonier. Leidensaussagen sind ausschließlich auf den angenommenen Menschen zu beziehen, nicht aber auf den unwandelbaren Gott-Logos.
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Peter Bruns Nicht geht sie zugrunde, wenn das Kleid ihrer Bedeckung zugrunde geht. Erhaben ist sie über den Tod und die Verletzungen. Nicht kann sie gesehen und körperlich angefasst werden. Lebendiger Geist ist sie und leicht sind ihre Flügel, um in die Luft zu fliegen, Sie wird nicht wie die Glieder durch die Schlingen des Todes erfasst.“34
Narsais Seelenlehre weiß sich gänzlich der Bilderwelt der Psalmen verpflichtet: „Unsere Seele ist wie ein Vogel der Schlinge des Jägers entkommen…“, liest die syrische Bibel der Peschitta (Ps 123,7). Man muss daher nicht erst die entfernte hellenistische Geisteswelt35 bemühen, um diesem Vers halbwegs einen Sinn abringen zu können. Als Vergleichspunkt zwischen Seele und gefiedertem Wesen wäre die beschwingte Leichtigkeit zu nennen, mit der sich beide fortzubewegen wissen, aber auch ihre Ängstlichkeit und natürliche Scheu, tödlichen Gefahren geschickt auszuweichen.36 Die wesenhafte Unsterblichkeit der Seele gehört zu den Grundgedanken der zeitgenössischen persischen Religionsphilosophie, ja, sie ist so konstitutiv, dass sie im Thronnamen des Chosrau Anoschurwan37 („Der mit der unsterblichen Seele“) einen prominenten politischen Repräsentanten gefunden hat: „Denn am Ende vermengt sich der Leib mit dem Staub, und die Bedeutung ist bei der Seele. Daher muss ein jeder Mühe aufwenden für die Seele und Acht haben auf Pflichten und gute Werke…. Und vom Awesta ist klar: Nichts wurde von dem mitgenommen, der nicht die Seele mitnahm, und er wird fernerhin nichts mitnehmen, wenn er nicht die Seele mitnimmt.“ 38 Ein frommer Zoroastrier hat sich stets vier Dinge vor Augen zu halten: die Wandelbarkeit der irdischen Dinge, den Tod des Leibes, die Rechenschaft für die (unsterbliche) Seele und die Furcht vor der Hölle.39 Den traurigen Umstand, dass sich die Menschen nur wenig um das Geschick ihrer Seele scheren, führt die persische Weisheitsliteratur auf das trügerische Wirken dämonischer Mächte zurück. 40 Auch in diesem Punkte dürfte eine gewisse Konvergenz im Denken des christlichen Mönches Narsai und der orientalischen Weisheitslehrer 41 bestehen. 34 35
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Allgeier (wie Anm. 9), 387; Mingana (wie Anm. 7), homiliae II,249,12-16. Allgeier (wie Anm. 9), 384, Anm. 3, vertritt unter Berufung auf Weicker, Georg, Der Seelenvogel, Leipzig 1902, eine etwas gekünstelte Interpretation, wenn er im Schmetterling eine Verkörperung der Psyche in Beziehung auf Eros erblickt. Vgl. die direkte Anrede an die Seele bei Allgeier (wie Anm. 9), 384: „O Vogel, dessen Flügel rascher sind als die eines Vogels; Er besitzt einen Leib und mag doch nicht von ihm wegfliegen.“ (Mingana [wie Anm. 7], homiliae II,247,17f). Vgl. hierzu Nöldeke, Theodor, Tabari – Geschichte der Perser und der Araber zur Zeit der Sasaniden, (1879) repr. Leiden 1879, 151-168; 253-264. Er galt als weiser König, der eine gewisse Vorliebe für die Philosophie hegte, vgl. ders., 160, Anm. 3. Mainyo-i-Khard, cap. I,22-29: West (wie Anm. 11), 127. Vgl. Mainyo-i-Khard, cap. XVIII: West (wie Anm. 11), 152. Mainyo-i-Khard, cap. XVIII, nennt insbesondere den Dämon der Habgier (Âzh dêv) als Urheber der Täuschung. Er bringt durch seine maßlose Konkupiszenz die Seelen aus dem Lot. Zur Welt der Dämonen bei den alten Persern vgl. Casartelli (wie Anm. 11), 135f.
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Die wesenhafte Unsterblichkeit der Seele macht sie zum Lebensprinzip des Leibes, das der toten Materie ihren Stempel aufdrückt, wie Narsai in plastischen Bildern darzustellen weiß: „Das Gewand (syr. naħtâ) seines Leibes hat dein Wille aus Lehm gewoben, Wie ein Siegel hast du darauf deine Seele gedrückt, die Leben besitzt. Kraft der Lebendigkeit seiner Seele lebt und geht die tote Welt (syr. calmâ)42 ihren Gang Und in ihrem Lichte zieht sie dem Hafen des Friedens 43 zu. Wie ein Leuchter (syr. qandîlâ) ist die Seele im Tempel des Leibes44 aufgehängt Und leuchtet mit dem Öl des vernünftigen, unsterblichen Lebens. Die Aufgabe des Lichtes erfüllt ihr Leben dem toten Körper, Und wenn sie es hinwegnimmt, herrscht Finsternis über die Glieder. Eine Fackel (syr. šrâgâ) ist ihr Wort und weist ihm das Licht des Lebens Und im Haupte seines Leibes leuchtet ihre Stimme wie eine Lampe (syr. lampêdâ).“45 Die Seele als Siegel des Leibes erscheint als gängiges Motiv östlicher Anthropologie; auch hier müssen wir nicht zuallererst an die σφραγίς der Platoniker46 denken. Viel näher liegt die Vorstellung der bei den Persern überaus beliebten Tonsiegel 47, die als Analogie zur Leib-Seele-Einheit des Menschen herhalten müssen. Das Siegel wird in den noch feuchten Lehm – ein Gleichnis für die adamitische Natur – gedrückt, der anschließend getrocknet oder gebrannt wird, um seine endgültige Form zu erhalten. In derselben Weise prägt die Seele die materielle Struktur ihres Leibes, der durch die je spezifische Prägung zu ihrem unverwechselbaren Eigentum wird. Der Leib ist nach der Genesis dem Lehm des Ackerbodens entnommen; er wird von Narsai aber auch als Gewand der ursprünglich nackt gedachten Seele verstanden.48 Dies stellt insofern keinen Bruch mit der Gedankenwelt der Perser
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Vgl. Allgeier (wie Anm. 9), 385, Anm. 2. In seinem Körper schleppt der Mensch ein Stück vergänglicher Welt (syr. calmâ = hebr. )עולםmit sich herum. Durch seine Leiblichkeit bleibt er daher wesentlich dem jetzigen Äon verhaftet, während er mit seiner unsterblichen Seele den künftigen vorwegnimmt. „Hafen des Friedens“ meint die glückliche Heimkehr der Seele nach ihrer irdischen Irrfahrt; zur Metapher der Seereise als Sinnbild des Lebens vgl. auch Allgeier (wie Anm. 9), 391. Zum Tempel des Leibes vgl. Allgeier (wie Anm. 9), 385: „In Leib und Seele hast du gebaut, vollendet den Tempel seines Lebens, dass Sprachfähige und Stumme darin einen einzigen Lobpreis darbringen.“ (Mingana [wie Anm. 7], homiliae II,248,5f). Allgeier (wie Anm. 9), 385f; Mingana (wie Anm. 7), homiliae II,248,6-13. So bei Allgeier (wie Anm. 9), 385, Anm. 1. Zur iranischen Siegelkunst vgl. Gyselen, Rika, Sasanian Seals and Sealings in the A. Saeedi Collection (= Acta Iranica 44), Löwen 2007. Vgl. Allgeier (wie Anm. 9), 384: „O (Baumwoll-)Hemd (syr. kûtainâ) voller Motten der gemeinen Leiden, mit dem die Seele, die Verwandte der Engel, bekleidet ist. O Lebendigkeit! Obwohl sie eine Bedeckung nicht nötig hat, ist sie mit einem vergänglichen Kleid angetan und stolz darauf!“ (Mingana [wie Anm. 7], homiliae II,247,15-17); Beim Hinscheiden aus diesem Leben verlässt die Seele nackt ihr Haus, vgl. Allgeier (wie Anm. 9), 386: „Nackt zieht sie aus ihrem Hause aus, die
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dar, als auch die kostbaren Seidenstoffe49 geprägt werden und durch Aufdruck ihre typische Kennzeichnung erhalten. Die Seele durchleuchtet gleichsam die tote, dunkle Materie des Körpers, ein Bild, das über die Vorstellung des Neuen Testamentes (Mt 5,15) weit hinausgeht, aber die Bildwelt der syrischen Bibel50 berührt und den gedanklichen Horizont der persischen Religionsgeschichte 51 teilt. Das Zusammenspiel von lebenspendendem Geist und toter Materie, von Bewusstsein und Unbewusstem, Leib und Seele ist gottgewollt und bindet zwei völlig verschiedene Seinsweisen in einer einzigen Kreatur zusammen, wie Narsai in seiner Exegese die beiden Verse Gen 1,26 und 2,7 miteinander kombiniert und paraphrasiert: „Kommt, lasst uns den Menschen machen, vernünftig, nach unserem Bild, Und durch die Verwandtschaft seiner Seele und seines Leibes alles zusammenbinden. So soll er den Himmlischen verwandt sein durch das Leben der Seele, Auch nahe sein den körperlichen Dingen durch das Gefüge des Leibes… Durch eine verborgene Hand bewege ich seinen verächtlichen Staub, Aus meinem lebendigen Mund hauche ich in ihn den Lebensgeist… So nahm der Herr den verächtlichen Staub vom Erdboden (syr. âdamtâ) Und bildete den Erdling (syr. âdâm), ein vernünftiges Gebilde aus Lehm. Er blies in seine Nase den Lebensodem aus dem Hauch seines Mundes, Und Adam wurde zur lebendigen Seele, einem sprechenden Gefäß.“ 52 Als Lebensprinzip in der toten Materie des Leibes übernimmt die Seele den Part des göttlichen Geistes in der sichtbaren Schöpfung. Ihre lebenserhaltenden Funktionen sind in Analogie zur göttlichen Schöpfermacht zu denken: „Durch die Lebendigkeit der Seele hat ER uns geschenkt, dass unser zeitliches Leben Bestand hat, Sobald wir unsterblich geworden sind, bewahrt er uns durch die Kraft des Geistes.“53
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Herrin des Leibes, wie eine Verbannte macht sie sich von hinnen an einen anderen Ort.“ (Mingana [wie Anm. 7], homiliae II,249,2f). Die frommen Zoroastrier haben indes der reinen Baumwolle den Vorzug vor der kostbaren Seide gegeben, und zwar nicht nur aus ökonomischen Gründen; diese sei zwar bequemer für den Körper, jene aber reiner für die Seele. Baumwolle wird nämlich aus den heiligen Elementen der Erde und des Wassers gewonnen und ist daher auch kultisch rein, während die Seidenraupe als unreines und damit für die Seele des Gläubigen eher schädliches Tier angesehen wird, vgl. Mainyo-i-Khard, cap. XVI,64f: West (wie Anm. 11), 151. Die syrische Peschitta liest zu Spr 20,27: „Eine Leuchte des Herrn (syr. šrâgeh de-mâryâ) ist der Odem für die Menschen, er überprüft die Kammern des Leibes.“ Der Odem (syr. nešamtâ) entspricht der Seele (syr. naphšâ). Das persische Lehnwort šrâgâ meint die Fackel, mit der ein dunkles Gewölbe ausgeleuchtet wird. Vgl. hierzu Casartelli (wie Anm. 11), 131. Das menschliche Bewusstsein wird von den Persern oft mit einer Fackel oder Lampe verglichen. Gignoux (wie Anm. 7), hom. I,149-166. Ebd., hom. IV,426f.
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Mit ihrer Gottebenbildlichkeit ist noch eine weitere Qualität der menschlichen Seele verbunden: ihre Personalität, genauer gesagt, ihre triadische Struktur, ist auch für Narsai insofern in der imago-Dei-Lehre begründet, als der Mensch in seiner leib-seelischen Ganzheit ein Abbild des dreieinigen Gottes darstellt: „Durch unsere Seele hat Er uns einen Erweis für die drei Personen (syr. qnômê) der Wesenheit gebildet, Des Sohnes und des Geistes vom Vater her wie Logos (syr. melltâ), Leben und Seele. Zusammen mit der Seele werden das Wort und die Lebenskraft geboren, Mit dem Vater zusammen existieren Sohn und Geist ohne Anbeginn. Beide Kräfte begleiten die Seele, das Wort und die Lebensmacht mit ihr, Beide Mächte sind zusammen mit dem Vater, der Sohn und der Geist ohne Anbeginn, Der Sohn, gezeugt ohne Anbeginn, und der Geist, der vom Vater ausgeht, Eine Geburt, ein Hervorgang, eine Gleichheit in der Natur. Der Geist existiert vom Vater her, wird aber nicht mit dem Namen ‚Gezeugter‘ bezeichnet, Keineswegs ist er fremd in der Natur und von der Ordnung der Namen her.“54 Es ist hier allein schon aus Platzgründen nicht der rechte Ort, in extenso auf die Trinitätslehre der Ostsyrer55 einzugehen, die im Wesentlichen die Position Theodors von Mopsuestia und der Kappadokier rekapituliert. Auffallend ist hier der psychologische Aspekt in Narsais Trinitätslehre, die in ihrer konkreten Ausprägung ein wenig an westliche Äquivalente56 erinnert. Der Gefahr einer rein modalistischen Interpretation, die deshalb besteht, weil die menschliche Seele als eine Person gedacht werden muss, kann Narsai dadurch elegant entgehen, dass er den hypostatischen Charakter (syr. qnômâ) von Logos und Geist gebührend herausstellt. Ihm ist es zunächst nur um die Analogie zwischen Schöpfer und Geschöpf zu tun: wie die eine Seele nie ohne Vernunft oder ohne Lebensgeist gedacht wird, so kann auch Gott nicht ohne sein Wort oder seinen Odem existieren. Es handelt sich hierbei freilich um eine echte Analogie, einer Ähnlichkeit mit einer je größeren Unähnlichkeit: „Es gleicht ihr Vergleich ein klein wenig der Erklärung der Personen: Ihre Natur dem Vater, ihr Wort dem Sohn und ihr Leben dem Geiste. 57 Nicht nach ihrer Natur gleicht ihre Natur der Natur des Verborgenen, sondern im Geheimnis (syr. b-râzâ) entsprechend dem Erweis ihres Vorzuges. 54 55 56
Ebd., hom. III,71-80. Zur Trinitätslehre Narsais und Theodors vgl. Gignoux (wie Anm. 7), 432-440. 472-477. Vgl. hierzu Schmaus, Michael, Die psychologische Trinitätslehre des heiligen Augustinus, Münster 1927. 57 Allgeier (wie Anm. 9), 366, Anm. 4, hält Narsai für einen Trichotomisten. Doch legt sich die Dreiteilung der Seele von der Dreiheit der göttlichen Personen nahe.
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Peter Bruns Sie ist viel geringer als die unermessliche Wesenheit, Wie der Schatten des Körpers geringer als der Körper ist. Das Wesen existiert, und es gibt keinen Anfang für seine Dauer, Sie aber ist begrenzt, und unter die Zeit gebunden ist ihr Gefüge. Die Kraft des Schöpfers begabte sie mit der Kraft der Vernünftigkeit, dass sie lebe und den toten Leib, in dem sie weilt, belebe. In Gestalt einer Quelle, welche Leben58 emporsprudeln lässt, hat Er sie in den Körper gesetzt, Durch sie werden die stummen Sinne befeuchtet, dass sie Früchte bringen.“59
Wie die Seele die Gliedmaßen ihres Leibes gleichmäßig durchdringt und sie doch übersteigt, so ist auch die weltüberlegene Gottheit unerforschlich in der kreatürlichen Welt präsent, ohne in ihr aufzugehen: „Er (der Forscher) möge zeigen, wie die Seele inmitten der Glieder wohnt, Allem verborgen ist und die Kraft ihrer Wirkweise offenbart, Wie auch sie zwei Kräfte in ihrer Natur besitzt Und sie in ihr und außerhalb von ihr unterschiedslos existieren, Wie die Kraft ihrer Lebendigkeit in allen Regungen dahineilt Und ihre Leichtigkeit durch dichte Körper nicht behindert wird, Wie das Wort von ihr außerhalb des Leibes aufbricht Und sich doch weder von ihrer Seite entfernt noch von allen Dingen.“ 60 Dass die Seele unterschiedslos den ganzen Leib ausfüllt, das Geistige also durch die materielle Struktur nicht behindert wird, ist eine philosophische Ansicht, die auch von den meisten Zoroastriern61 geteilt wird. Spezifisch christlich hingegen ist der Gedanke einer Einhauchung durch den dreieinigen Gott. Die personale Struktur der menschlichen Geistseele mit ihrer Dreiteilung Natur, Vernunft und Leben verdankt sich wesentlich ihrem Abbildcharakter der göttlichen Trinität. Mit der Personalität der Seele ist schließlich ihre Entscheidungsfreiheit zwischen Gut und Böse verbunden. Auf Grund ihrer geistigen Natur kommuniziert sie als menschliches Aktzentrum in guten Gedanken, Worten und Werken mit den Engeln, bei allen bösen Aktivitäten hingegen haben die Dämonen ihre Hand mit im Spiel. Sehr häufig stellt Narsai die Seele als Kampfplatz zwischen Engeln und Dämonen dar, indem er den verschiedenen Teilen jeweils die Tugenden und die Laster zuordnet. Dabei geht der Riss durch die Leib-Seele-Einheit des Menschen hindurch:
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Allgeier liest hier mayye (Wasser) anstatt ħayye (Leben); es ist wohl eher an lebendiges Quellwasser als an ein stehendes Zisternenwasser gedacht. Allgeier (wie Anm. 9), 366: Mingana (wie Anm. 7), homiliae II,239,15-24. Gignoux (wie Anm. 7), hom. II,153-161. Vgl. Mainyo-i-Khard, cap. XLVIII,10: „Die Wohnung der Seele ist der gesamte Leib wie die Form des Fußes im Stiefel.“: West (wie Anm. 11), 174.
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„In übertragenem Begriff hat ihr Trieb62 Anteil an dem, was nicht ihr eigen ist. Verschieden sind die Leidenschaften, die zu ihrer Natur und zur Natur des Leibes gehören, Aber wegen der Liebe, siehe, so heißt es von ihnen: einer ist der Mensch. Zu ihr gehört die Eifersucht, die Natter63, welche in den Gedanken lauert, Zu ihr gehört der Zorn, der durch die verfluchte Schlange versinnbildlicht wird; Zu ihr gehört der Stolz, der Wildesel 64, welcher sich gegen die Unterwerfung sträubt, Und die Ruhmsucht, der Fuchs65, der die Löwen verhöhnt; Zu ihr gehört das Murren, die Motte66, die das Gewand der Liebe zerfrisst, Und die Verleumdung, der Strick, welcher fängt, die lauteren Herzens sind; Zu ihr gehört der Jähzorn67, der Groll und der Mord, Sie sinnt darauf, Unrecht dem zurückzuzahlen, der ihr weh tat; Zu ihr gehören die Leidenschaften und die Reue der Seele über ihre Taten, Und sie fleht inständig um Erbarmen für ihre Verschuldungen.“ 68 Tugend- und Lasterkataloge sind aus der antiken christlichen Literatur, besonders im Zusammenhang mit der Sittenunterweisung, nicht wegzudenken. Auch die persische Weisheitsliteratur69 kennt zahllose Laster der menschlichen Seele: Ver62 63
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Syr. yaçrah (hebr. )יצר הרעmeint in der rabbinischen Literatur zumeist den (bösen) Antrieb, der mit dem Engel des Bösen identisch sein kann, vgl. Levy (wie Anm. 24), Bd. II, Sp. 258b-259a. Allgeier (wie Anm. 9), 381, Anm. 2, denkt an die verfluchte Paradiesesschlange (Gen. 3,14), was für den folgenden Vers sicherlich zutrifft; im Übrigen wäre auch an die Fauna der Psalmen zu denken, vgl. Ps 91,13. Syr. gârsâ (pers. garza) meint kein harmloses Kriechtier, sondern die tödliche Giftschlange, vgl. Carolus Brockelmann, Lexicon Syriacum, Halis Saxonum 21928, col. 134a. Allgeier (wie Anm. 9), 381, Anm. 4, vermutet, dass Narsai „in der Beurteilung dieses Tieres einer landfremden moralischen Topologie gefolgt“ sei. Doch darf der Wildesel (syr. crâdâ) nicht mit dem geduldigen Lasttier (syr. ħemârâ) verwechselt werden. Sein störrisches Temperament und seine ungezügelte Geilheit (syr. carâdûtâ) verweigern jede Form der Unterwerfung unter das Sittengesetz. Als Beiname tauchte „der Wildesel“ (pers. gôr) bei dem ungestümen Prinzen Bahrâm V. auf, der als Geisel unter den Araberstämmen der Wüste aufwuchs und sich durch seinen kriegerischen Charakter einen Namen machte. Für die Rabbinen gehört der Wildesel nicht zu Haustieren und ist daher unrein, vgl. Levy (wie Anm. 24), Bd. III, Sp. 696b. Allgeier (wie Anm. 9), 382, Anm. 1, übersetzt taclâ (ein Tier der Gattung vulpes, vgl. Mt 8,20) mit „Schakal“. Die Feindschaft zwischen Fuchs und Löwe ist legendär. Sie spielt in den persischen Märtyrerakten des Pusai (BKV2 22,61) eine besondere Rolle. Der Großkönig ist derjenige, der die Christen wie ein Löwe anbrüllt, doch diese höhnen wie Füchse spöttisch zurück. In der indischen Tierfabel wie Kalîla wa-Dimna nimmt der Löwe stets den Part des Königs ein, vgl. hierzu Schulthess, Friedrich, Kalîla und Dimna, (Berlin 1911/Straßburg 1912) repr. Amsterdam 1982, Kap. I (1-51). Syr. sâsâ: Allgeier (wie Anm. 9), 382, Anm. 3: Die Motte zerstört die menschliche Pracht, vgl. Ps 39,12. Sie begegnet häufig in der syrischen Peschitta und bei den Vätern Aphrahat und Ephräm, vgl. die Belege im Einzelnen bei Brockelmann, Lexicon, col. 486b-487a. Bei Ephräm (HdF 30,8; 87,4.9f) ist es die von den Griechen (Arianern) aufgebrachte Motte des Disputs, die das Gewebe des reinen Taufglaubens zersetzt. Syr. aktâ, vgl. Allgeier (wie Anm. 9), 382, Anm. 2. Gemeint ist der gegen den Bruder gehegte Groll, der das Opfer unwirksam macht, vgl. Mt 5,23. Allgeier (wie Anm. 9), 380-382: Mingana (wie Anm. 7), homiliae II,245,23-246,5. Aus der Fülle des Materials sei hier verwiesen auf Mainyo-i-Khard, cap. II,8-33: West (wie Anm. 11), 129f.
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leumdung, Gier, Zorn, Neid, Lust etc. Die Laster offenbaren bei Narsai eher die animalische Seite der Leib-Seele-Beziehung70, daher ist auch seine Anthropologie mit einem gewissen zoologischen Interesse gepaart. Jede sittliche Tat der Seele bringt die in der menschlichen Natur verborgene Unterscheidungsgabe zum Vorschein: „Adam war gebildet und geschmückt mit Leib und Seele gleichermaßen, Verborgen war seine Unterscheidungsgabe (syr. parôšûtâ) bis zur Gebotsübertretung. Das Gebot war wie ein Schmelzofen und führte Adam in die Prüfung; Es offenbarte sich seine Unterscheidungsgabe, die in seiner Natur (syr. b-keyâneh) nicht fehlte.“71 Jede sittliche Tat der Seele zeitigt ihre metaphysischen Konsequenzen. Auf Grund ihrer geistigen Verwandtschaft mit der himmlischen Welt löste Adams Seele durch ihre Ursünde im Himmel tiefe Trauer aus: „Es trauerten die Geisterheere, als sie die Schande des Ehrenvollen (Adam) sahen, Alle hüllten sich in Traurigkeit darüber, dass sich der Freigeborene in Knechtschaft übte, Sie, die sich freuten ob seiner Schöpfung und angesichts seines Aussehens jubelten, Da sie sahen, dass ihre eigene Natur seine Seele belebte, Sie empfanden liebevolles Mitleid, als der Tod über Adam zur Herrschaft kam.“ 72 Aber auch nach dem Sündenfall kümmern sich insbesondere die Schutzengel um das Geschick der ihnen anvertrauten Seelen. Sie gehen sogar so weit, dass sie sich für sie in die Schlacht mit den Dämonen werfen: „Zur Hilfe für unsere Seele stürzen sie sich in den Kampf mit ihren Gefährten 73, Lasst uns sie ermuntern, dass sie wiederum für unseren Sieg streiten! Durch ihren Kampf halten sie den Streit mit den Teufeln von uns fern. Lasst uns dem guten Herrn Dank abstatten, dass er sie gerüstet hat! Sie vertreiben die Dämonen von unserem Heerlager, damit sie uns nicht schaden. Lasst uns preisen den Namen dessen, der sie band aus Liebe für unsere Seele.“ 74 Narsais Angelologie erscheint ihrem Betrachter hoch entwickelt, was nicht zuletzt an dem spezifischen religiösen Umfeld des persischen Christentums 75 liegen dürf-
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Narsai kennt die Schwerkraft der Fleischeslust, welche die Glieder des Leibes wie einen Lastkorb zu Boden zieht, vgl. Mingana (wie Anm. 7), homiliae II,340,11f. Gignoux (wie Anm. 7), hom. IV,61-64. Ebd., IV,274-278. Gemeint sind die Dämonen, welche die gleiche Natur wie die Engel und die Geistseelen besitzen. Gignoux (wie Anm. 7), hom. V,523-528.
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te. Zusammen mit der armenischen76 und abweichend von der frühen syrischen Tradition77 kennt Narsai besondere Aufgaben des persönlichen Schutzengels für die Seelen. In diesem Punkte stimmt er auch mit einigen Vertretern der lateinischen Theologie78 überein. Er scheint darüber hinaus der Weisheitstradition des Sasanidenreiches verpflichtet zu sein, die in den sog. Fravaschis 79, den Schutzgeistern der Seelen, eine den Engeln und Erzengeln der christlichen Tradition verwandte Vorstellung besitzt. Es handelt sich hierbei um Wesen von komplexer Natur 80; sie sind als Schutzgeister oder Genien das himmlische Gegenüber zur irdischen Existenz des Frommen, gleichsam ihr höheres, geistiges Selbst oder überirdisches Urwesen. Nach dem Tode des Leibes vereinigt sich nach dem Glauben der Zoroastrier die menschliche Geistseele (urwân) mit ihrem himmlischen Urbild. Als Ahnengeister sind die Fravaschis Gegenstand einer weitverbreiteten, volkstümlichen Verehrung. Doch nicht nur als Ahnengeister, sondern mehr noch als Schutzengel der Frommen genießen die Fravaschis bei den alten Persern höchstes Ansehen. Sie umringen den Thron des Hochgottes Ahura Mazda und beschirmen in Gestalt bewaffneter Panzerreiter die Himmelsfeste gegen den Ansturm der Dämonen. Im steten Kampf gegen die bösen Kreaturen streiten sie als Bundesgenossen des Ahura Mazda gegen Ahriman und sein Teufelsheer. Bereits im Awesta 81 werden sie als gut bewaffnet geschildert, und in der kommenden Welt geleiten sie die Seelen der Frommen himmelwärts. Von dieser speziellen Form des Seelengeleits soll noch im Folgenden die Rede sein.
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Zu den guten Geistern, ihren Funktionen im religiösen Kosmos und ihrer Verehrung durch die Gläubigen vgl. Casartelli (wie Anm. 11), 66-81. So schreibt Eznik von Kołb um 440 in seinem apologetischen Werk De Deo § 141: „Im Übrigen wissen wir den Heiligen Schriften gemäß, dass die Engel zur Aufgabe haben, Menschen, Völker und Königreiche zu schützen, gemäß dem, was sie sagen: ‚Er hat die Grenzen der Völker festgesetzt nach der Zahl der Engel Gottes.‘ (Dtn 32,8) Ferner gemäß dem, was er (Jesus) im Evangelium sagt: ‚Hütet euch, dass ihr keinen dieser Geringen verachtet; denn ihre Engel schauen allzeit das Antlitz meines Vaters, der im Himmel ist!‘ (Mt 18,10) So hat er auf gewisse Weise kundgetan, dass sich bei jedem Menschen ein besonderer Schutzengel aufhält.“ Vgl. hierzu Cramer, Winfried OSB, Mt 18,10b in frühsyrischer Deutung, in: Oriens Christianus 59 (1975), 130‒146. Eznik weicht von frühen Syrern wie Aphrahat und Ephräm ab, die Mt 18,10 auf die aufsteigenden Gebete der Gläubigen, nicht aber die Schutzengel beziehen. Vgl. etwa Hieronymus, In Evangelium Matthaei commentarii 3,18,10: Magna dignitas animarum, ut unaquaeque habeat ab ortu nativitatis in custodiam sui angelum delegatum. Mainyo-i-Khard, cap. LXII,23: „Die Götter und die heiligen Urgeister haben neunundneunzigtausend neunhundert neunundneunzig (d. h. unendliche viele) Schutzgeister (fravash) der Frommen als Schutz für den Körper des Sâm (eines iranischen Helden) aufgeboten, so dass die Dämonen und Hexen ihn nicht quälen würden.“: West (wie Anm. 11), 56. 175f. Vgl. Widengren (wie Anm. 21), 20f. Vgl. ebd., 22, unter Berufung auf Yast 13,45. Narsais Beschreibung des gut gepanzerten Engelheeres, das die Dämonen vom christlichen Heerlager fernhält, trägt unverkennbar persisches Kolorit und ist gewiss von dem wuchtigen Auftreten der schweren Kataphrakteinheiten her inspiriert.
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3. Eschatologischer Ausblick Die eschatologischen Anschauungen Narsais greifen auf ein Feld über, das vom persischen Christentum und dem zeitgenössischen Zoroastrismus gleichermaßen heftig umkämpft war. Fünf umfangreiche Homilien mit mehr als dreitausend Versen behandeln eschatologische Fragen wie das Geschick der vom Leib getrennten Seele, den Zwischenzustand der Gerechten, das Erscheinen des Antichristen, die Wiederkunft Christi sowie die allgemeine Auferstehung des Fleisches und die Neugründung (tûqânâ) der künftigen Welt. Aus Platzgründen beschränken wir uns auf einige wenige Aspekte der Seelenlehre und Eschatologie. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass für Narsai die Unsterblichkeit der Seele keine Gnade ist, sondern eine notwendige Folge ihrer geistigen Natur. Der ewige, zeitüberlegene Gott hat die Engel und die Seelen der Menschen mit der gleichen, unvergänglichen Natur82 ausgestattet: sie sind geistig, unkörperlich und einfach, d. h. nicht zusammengesetzt. Es gehört zu den Kennzeichen der materiellen Schöpfung, dass sie zusammengesetzt und von Natur aus auf Zerfall hin angelegt ist. Auch der Mensch ist auf Grund seiner dualen Leib-Seele-Struktur ein recht fragiles Gebilde, das „Band der Schöpfung“, welches im Tode gewaltsam auseinandergerissen wird. Wegen ihrer substantiellen Einfachheit kann die Seele jedoch nicht aufgelöst werden, während ihr Leib verwest. Daher erleidet sie bei ihrem Hinübergang in die andere Welt ein anderes Geschick. Die Seele des Frevlers macht dabei die Bekanntschaft mit dem plötzlich auftauchenden Gerichtsdiener 83, während die Seele des Gerechten von ihrem Schutzengel schon erwartet wird: „Einer von den Engeln steigt zu ihr am Tage des Hinscheidens herab Und führt sie dahin fort, wo es vom Schöpfer befohlen ist. Wie ein Wegführer geleitet der Geist (rûħâ) die Geistige, Bis sie in das Haus der Wohnungen zu ihren Gefährtinnen eintritt. Dieser Engel, der sie im Leben hienieden behütete, Er zeigt ihr, wo sie bis zur Auferstehung wohnen soll. Auf Erden wohnen zu bleiben, wurde allen Seelen geboten, Einige von ihnen in Eden und andere an einem für sie bestimmten Ort. Am Ort Eden weilt die Seele der Wahrheitsliebenden Und diejenige der Frevler84 an Orten jenseits von ihnen. Inmitten des Paradieses weilen die Gerechten, dem Geiste, nicht dem Leibe nach, Indem sie sich nach der Schöpfung des Höhenreiches sehnen.“ 85
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Vgl. Gignoux (wie Anm. 7), hom. V,183-188. questionarius, aus dem Lateinischen ins Syrische eingedrungenes Fremdwort (vgl. Mt 27,65f). Er hat das Gefängnis unter sich, vgl. auch Allgeier (wie Anm. 9), 386, Anm. 5. 84 Man denke etwa an die Seele des reichen Prassers, der dem armen Lazarus in Abrahams Schoß nur von einem unüberwindlichen Abgrund aus zusehen kann, vgl. hierzu Siman, E. Pataq, Narsaï. Cinq homélies sur les paraboles évangélique, Paris 1984, 40-60. 85 Allgeier (wie Anm. 9), 387f: Mingana (wie Anm. 7), homiliae II,249,16-24.
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Narsais eschatologische Anschauungen scheinen kein Fegefeuer im strengen Sinne vorauszusetzen. Inwieweit sie sich mit Hippolyt 86 und anderen Orientalen in westlicher Tradition decken, kann hier nicht erörtert werden. Sie entsprechen aber durchaus landläufiger syrisch-orientalischer Überlieferung (Aphrahat, Ephräm und späteren Autoren)87 und treten darüber hinaus in Konkurrenz zu den zeitgenössischen persischen Vorstellungen, wie sie vor allem von der Weisheitsliteratur 88 vertreten werden. Narsai beschreibt den Zwischenzustand der Geistseele, die im Augenblick des Todes an einen bestimmten Ort geht, um dort auf die Auferstehung des Fleisches am Ende der Zeiten zu warten. Auch wenn das Endgericht noch nicht stattgefunden hat, so werden doch die Seelen gleichsam vorsortiert: der Geist (rûħâ) der Gerechten geht ins Paradies89 ein, welches noch ein Bestandteil der Erde, nicht aber des Himmels ist, während die anderen an einem nicht näher bestimmten Ort ausharren. Die Seele empfängt in der Zwischenzeit weder Lohn noch Strafe, empfindet weder Freud noch Leid, hört aber wegen ihrer wesenhaften Unsterblichkeit nicht zu existieren auf. Sie befindet sich in einer Art Schwebezustand ist zur Untätigkeit verurteilt, sie ruht wie auf einem bequemen Kissen bis zur Erweckung ihres Leibes. Biblisches Vorbild für eine reumütige Seele ist der gerechte Schächer, dem der Herr das Paradies verhieß (vgl. Lk 23,43): „Durch den Schächer zeigte er, dass es möglich ist, gerecht zu werden; Denn die Größe seines Frevels hinderte ihn nicht einzutreten, Durch die eine Seele, welche eintrat, gab er bezüglich jedermann die Offenbarung, Dass sie nicht gehindert werden einzutreten, wenn sie nur wollen. Die Seele90 unseres Herrn und des Schächers traten zuvorderst ein, Und so wurde der Weg, an den Ort Eden zu gelangen, gebahnt. In Eden treten alle Seelen ein, welche Leiden erduldeten, 86 87
Vgl. Allgeier (wie Anm. 9), 388, Anm. 1. Zu den eschatologischen Vorstellungen der Syrer vgl. auch Braun, Oskar, Moses bar Kepha und sein Buch von der Seele, Freiburg i. Br. 1891. 88 Die Seelenreise ist ein beliebtes Thema bei den alten Persern, vgl. Mainyo-i-Khard, cap. II,110ff; es wäre hier noch eigens der Himmelsgeist Rashn zu erwähnen, der wie der Erzengel Michael die Taten der ankommenden Seelen genauestens abwiegt. Auch der religiöse Erbauungsroman des Ardai Viraf behandelt vornehmlich eschatologische Themen wie die Himmelsreise der Seele und das Individualgericht nach dem Tode, vgl. Vahman, F., Ardâ Wirâz Nâmag. The Iranian ‚Divina Commedia‘, London/Malmö 1986. 89 Vgl. Allgeier (wie Anm. 9), 388: „Ein Teil der Erde ist auch das Paradies, so schön es auch ist, vergänglich ist die Speise seiner Früchte wie alle Früchte… der erste Adam schloss seine Türe vor den Menschen, der zweite Adam aber öffnete seine Türe, und der Schächer trat ein…“ (Mingana [wie Anm. 7], homiliae II,250,5-10). Zur syrischen Tradition (Ephräm etc.) vgl. auch Minganas umfangreiche Anm. 1 auf derselben Seite. Auch Ephräm lokalisiert das Paradies im oberen Bereich über der Erde und unter dem Himmel, vgl. dazu Brock, Sebastian P., St. Ephrem the Syrian. Hymns on Paradise, New York 1990. 90 Für die ostsyrische Christologie ist es wichtig, dass der unwandelbare Logos einen vollkommenen Menschen aus Leib und Seele angenommen hat, dass der Logos also nicht wie bei Apolinarius an die Stelle der Geistseele getreten ist. Während der drei Tage, da der Leib Christi im Grabe ruhte, war nach Narsai die Seele offensichtlich nicht in der Vorhölle oder Scheol, sondern mit den Gerechten im Paradies.
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Peter Bruns Dort ruhen sie wie auf einem Bett der Annehmlichkeit. Wie im Schlafe hören sie dort mit den Arbeiten auf Und gebrauchen die Verstandeskraft in ihnen nicht.“91
Narsais Konzept vom „Seelenschlaf“ setzt freilich die wesenhafte Unsterblichkeit des Geistes voraus. Die Seele gilt ihm zwar als die bessere Hälfte des Menschen, da sie sein Lebens- und Energiezentrum ausmacht, doch kann sie ohne ihren Leib, die andere Hälfte, nicht agieren. Im Tode ist der Mensch daher reine, d. h. noch nicht aktivierte Potenz. Seine Seele besitzt zwar „Logos“, Sprechvermögen und Verstandeskraft (melîlûtâ), kann aber in Ermangelung ihres Leibes nicht reden. Narsai kennt viele Bilder92 für die menschliche Leib-Seele-Einheit, deren Band im Tode zerrissen wird. Der Leib ist das Werkzeug der Seele, er verhält sich zu ihr wie das Schiff zum Steuermann und wie das Kunstwerk zu seinem Künstler. „Auferweckung“ der Toten meint daher für Narsai vor allem die Reaktivierung des menschlichen Leibes mitsamt seinen physischen und geistigen Fähigkeiten. Sie geht dem Endgericht unmittelbar voraus und bildet den Auftakt zur vollkommenen Erneuerung des Kosmos. Mit dieser Konzeption des „Seelenschlafes“ 93 steht Narsai in einer längeren, über Theodor von Mopsuestia bis auf Aphrahat und Ephräm zurückreichenden syrischen Tradition. So versteht er seine Seelenlehre und Anthropologie zugleich als Antwort auf die Herausforderungen seiner durch die tiefe Religiosität des Zoroastrismus geprägten Zeit.
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Allgeier (wie Anm. 9), 389: Mingana (wie Anm. 7), homiliae II,250,17-251,4. Vgl. Allgeier (wie Anm. 9), 390f. Vgl. Krüger, Paul, Le sommeil des âmes dans l’ouvre de Narsaï, in: L‘Orient Syrien 4 (1959), 193210.
Erfahrung statt Spekulation
Zur Genese des Menschenbildes bei Johannes Cassian
Marco Kühnlein
1. Differenzerfahrung und Heilssuche In seinem Beitrag „Was ist der Mensch? Christentum als Erlösungsreligion“ entwickelt der Gefeierte, Prof. Dr. Dr. Erwin Möde, das Zueinander von postmodernem Menschen und Christentum: Ausgangspunkt ist für ihn die „persönliche Heilssuche […], die stets von der Erfahrung der Heilsdifferenz ausgeht und begleitet wird.“ 1 Weil die menschliche Heilssuche eine anthropologische Tatsache sei, habe das Christentum dies existentiell ernst zu nehmen, wenn es als Erlösungsreligion gelten wolle. Im Ausgang von Eugen Biser folgert Möde, dass vorrangig nicht Moral, Askese oder Dogma, sondern das Therapeutische charakteristisch für das Christentum sein müsse.2 Dies bedeutet aber: „Therapeutik und theologische Anthropologie gehören in Praxis und Theorie zusammen und lassen so ‚Heilssuche als therapeutischen Prozess‘ erschließbar werden.“3 Mit den Schlagworten Erfahrung, Heilsdifferenz und Erlösung werden schwergewichtige Begriffe aufgefahren für eine theologische Anthropologie, welche als Wissenschaft vom Menschen in der menschlichen Erfahrung einen komplexen Erkenntnisgegenstand bearbeitet, in der wissenschaftliche Verobjektivierung und Reflexion dieser Erfahrungen eine relevante Aufgabe hat sowie durch die Bezugsetzung zum christlichen Glauben vor einer Herausforderung steht. Zweifelsohne hätten die Begriffe eine eingehende Diskussion verdient, was an dieser Stelle nicht geleistet werden soll. Dafür dienen sie als Rahmen für die nachfolgenden Überlegungen. Was nach Möde für das menschliche Individuum als Tatsache anzunehmen ist, nämlich eine aus persönlicher Differenz- bzw. Kontingenzerfahrung kommende Suche nach Erlösung oder Heil, gilt analog für die Suchbewegungen der Anthropologie im Makrokontext: Soziale, ökonomische, weltanschauliche oder andere Kri1
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Möde, Erwin, Was ist der Mensch? Christentum als Erlösungsreligion. Heilssuche als therapeutischer Prozess, in: Kümpers-Greve, Annelie / Gorschenek, Günter (Hgg.), Was ist der Mensch? (= Falkensteiner Gespräche 3), Münsterschwarzach 2014, 61-78, hier 62. Ebd., 64f. Ebd., 65.
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sen lassen sich als wesentliche Ausgangspunkte für die Reflexion des Menschen in der Gesellschaft, in der Wirtschaft, in seinem Transzendenzbezug usw. identifizieren, von denen unterschiedliche auf Zukunft hin ausgerichtete anthropologische Konzepte ausgehen (können).4 Diese Beobachtung, individuelle und kollektive Differenz- oder Krisenerfahrungen als Ausgangspunkt für menschliche (Heils-)Suche sowie für die Entwicklung neuer anthropologischer Konzepte zu begreifen, ist in gewissem Maß auch auf andere Epochen übertragbar. Anhand eines konkreten historischen Beispiels aus der Spätantike sollen in diesem Beitrag solche Wechselwirkungen zwischen krisenhafter Umbruchssituation und individueller Heilssuche einerseits und einem praxisnahen theologisch-anthropologischen Ansatz andererseits dargestellt werden.
2. Lebenswelt und Biographie des Johannes Cassian Johannes Cassian wird um 360 geboren5, wächst wohlbehütet in einem christlichen Elternhaus auf und genießt eine hohe wissenschaftliche Ausbildung. Auf einer Pilgerreise ins Heilige Land um das Jahr 380 schließt er sich in Bethlehem einer koinobitischen Gemeinschaft an, welche er jedoch bald wieder verlässt, um nach Ägypten weiter zu ziehen und dort das Leben eines Anachoreten zu führen. Die Begegnung mit den dortigen Mönchsvätern des Nildeltas und der Sketis haben ihn offensichtlich so beeindruckt, dass er nach einer kurzen Rückkehr nach Bethlehem erneut in die Sketis zieht. Hier kann er ein Leben der Abtötung unter strengster asketischer Disziplin führen und sich gleichzeitig mit den Lehren des Origenes beschäftigen, die ihm durch den dort lebenden berühmten Mönchsvater Paphnutius vermittelt werden. In Kellia und Nitria hat er alsdann Kontakt zu Macarius dem Alexandriner und Evagrius Ponticus, den beiden wichtigen Vertretern des zeitgenössischen Origenismus, welche er jedoch selbst nie erwähnt. 6 Dies verwundert wenig, wenn man bedenkt, dass genau zur betreffenden Zeit, an der Wende vom 4 5
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Vgl. Manemann, Jürgen, Ende des Menschen? Reflexionen im Zeitalter der Posttraditionalität (Erster Teil), in: Orientierung 65 (2001), Heft 21, 231-234, hier 231f. Die genaue Herkunft des Cassian kann man nicht mit absoluter Sicherheit feststellen. Die Forschung hat als Vorschläge die Dobrodscha, also Skythien am Schwarzen Meer, Gallien oder den Orient gemacht. Vgl. zur Diskussion: Prinz, Friedrich, Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jahrhundert), München 21988, 68, Anm. 129. Aufgrund des Namens, der wohl aus dem Osten kommt, seiner griechischen Sprachkenntnisse und seiner orientalisch beeinflussten Theologie scheint die Herkunft Cassians aus der Scythia Minor jedoch wahrscheinlich. Vgl. Stewart, Columba, Cassian the Monk (= Oxford Studies in Historical Theology 3), New York / Oxford 1998, 4-6. Ebd., 6-12. Vor allem Cassians Kontakt mit Evagrius Ponticus (345-399) scheint sehr prägend gewesen zu sein. Daher lassen sich viele Übereinstimmungen in beider Theologien finden. Vgl. dazu Ogliari, Donato, Gratia et Certamen. The Relationship between Grace and Free Will in the Discussion of Augustine with the so-called Semipelagians (= Bibliotheca ephemeridum theologicarum Lovaniensium 169), Leuven 2003, 265-271.
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vierten zum fünften Jahrhundert, der große Streit um die Lehren des Origenes ausbricht. Speziell der alexandrinische Patriarch Theophilus, ehemals selbst ein Anhänger des Origenes, geht ab dem Jahr 400 rigoros gegen die Origenisten Ägyptens, vor allem im Mönchtum, vor.7 Vermutlich unter diesem antiorigenistischen Druck entsagt Cassian der Wüste Ägyptens und gelangt, wie viele andere gebildet-asketische Mönche, nach Konstantinopel, wo er durch Johannes Chrysostomus 403 zum Diakon geweiht wird und die politischen Auseinandersetzungen um dessen Person miterlebt. 8 Von Konstantinopel aus kommt er über nicht genau rekonstruierbare Wege schließlich nach Marseille, mitten in der Zeit der sogenannten Völkerwanderung. Wenngleich diese aus der Distanz heutiger historischer Forschung zwar eher als langfristiger Transformationsprozess begriffen wird, darf jedoch das krisenhafte Erleben der Ereignisse jener Jahre, beispielsweise der Rheinübergang kriegerischer germanischer Gruppen nach Gallien um das Jahr 406, die mit dem Durchzug von Vandalen und anderen Gruppen durch Südgallien verbundenen Raubzüge oder die Einnahme und Plünderung Roms durch Alarich 410, bei den einzelnen Zeitgenossen wie Cassian und deren direkter oder indirekter Ausdeutung nicht vernachlässigt werden. „Was ist heil, wenn Rom zugrunde geht?“9 fragt der Kirchenvater Hieronymus mit dichterischem Ernst. Im Marseille jener Jahre begegnet Cassian einem zwar frühen, seiner Meinung nach jedoch eher defizitärem Mönchtum. Er ist dem Inselmönchtum von Lérins gewogen, welchem er schon aufgrund des räumlichen Kontakts, der spirituellen Ausrichtung und der theologischen Prägung10, aber auch wegen seiner strengen Regel sowie des hohen Bildungsstandards der Insassen nahesteht. Dagegen geizt er nicht mit Kritik an jenen Mönchen, die ohne Regel, feste Gemeinschaft oder Arbeit ihr Leben willkürlich führen. Diese Brüder, die – anders als er – nie die existentielle Erfahrung strenger Askese gemacht haben oder gar persönlich verfolgt worden sind, brauchen seiner Meinung nach die Impulse aus dem Mönchtum des Ostens. 11 Weil die „ungeregelte“ Form des Mönchtums den südgallischen Bischöfen ein Dorn im Auge ist12, beauftragt Bischof Castor von Apt den Johannes Cassian auf7
Vgl. genauer Baus, Karl / Ewig, Eugen, Die Reichskirche nach Konstantin dem Großen. Die Kirche von Nikaia bis Chalkedon, in: Jedin, Hubert (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 2,1, Freiburg i. Br. 31985, 127-134. Chadwick, Owen, John Cassian. A Study in primitive Monasticism, Cambridge 1950, 33-36. 8 Stewart (wie Anm. 5), 12-15. 9 Hieronymus, Epistulae, ed. Hilberg, Isidor, ed. al. Kamptner, Margit, CSEL 56/1, Wien u. a. 21996, hier Ep. CXXIII 16,4 (CSEL 56/1, 94): „[…] quid salvum est, si Roma perit?“ Man denke bspw. auch an die entsprechenden Passagen in den Büchern De Civitate Dei des Augustinus von Hippo. 10 Vgl. Prinz (wie Anm. 5), 95. 11 Holze, Heinrich, Erfahrung und Theologie im frühen Mönchtum. Untersuchungen zu einer Theologie des monastischen Lebens bei den ägyptischen Mönchsvätern, Johannes Cassian und Benedikt von Nursia (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 48), Göttingen 1992, 24f. 12 F. Prinz hat den politischen Vorteil der Gründungen von festen Klöstern in der damaligen Zeit herausgearbeitet. Seine Argumentation beruht auf der These, dass die Bischöfe im zerfallenden
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grund seiner biographischen Vergangenheit, die Lehre und Lebensweise der Orientalen dem Abendland zugänglich zu machen. Daraufhin gründet Cassian um 415 jeweils ein Frauen- und ein Männerkloster in der Stadt Marseille, welche sich somit von der Abgeschiedenheit des Inselklosters Lérins absetzen.13 Darüber hinaus verfasst er für die Mönche eine Reihe von Schriften, wobei er sich ganz selbstbewusst als ein Schüler der ägyptischen Mönchsväter bezeichnet, welcher deren Lehre vollständig und unversehrt seinen Lesern weitergeben will.14 Seine monastischen Leser hält Cassian dazu an, sich den Formen des östlichen spirituellen Lebens anzugleichen, weil diese noch am ehesten in der Tradition der frühen Urgemeinde Jerusalems stünden. Denn im Laufe der Zeit hätte sich, so seine These, vor allem durch die Heidenmission allerlei Laxheit in das Christentum eingeschlichen. So habe sich die Masse der Gläubigen mit einem Minimum an echter christlicher Lebensführung begnügt, wohingegen vor allem die Mönche und Anachoreten diesem Trend Widerstand geleistet hätten. Diese Rückbindung an das Ideal müsse nun jeder Einzelne in seinem gottgeweihten Leben anstreben. 15 Um dies zu erreichen, stellt Cassian keine Regel im strengen Sinn auf, sondern vielmehr konzentriert er sich auf die geistige Formung der Insassen der von ihm gegründeten Klöster. Diese Art der Unterweisung, welche also eher an den guten Willen und das moralische Streben der Klosterinsassen appelliert, ist prägend für Cassians Verständnis des Zusammenlebens.16 Die Männer und Frauen des geweihten Lebens sollen nach ihren individuellen Möglichkeiten und angepasst an die jeweiligen Umstände zu einer perfectio17 gelangen, wie es die Väter in der Wüste Ägyptens auf ihre Weise in origenistischer Tradition vorleben. 18
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Römischen Reich das durch die Flucht der Oberschichten entstandene Machtvakuum füllen und zur Sicherung ihrer Herrschaft gerne auf fest eingerichtete Klöster zurückgreifen. Herumziehende Mönche dagegen, wie sie scheinbar häufig bei den Anhängern des hl. Martin auftreten, könnten die sich neu etablierenden Machtverhältnisse unnötig stören. Vgl. dazu Prinz, Friedrich, Askese und Kultur. Vor- und frühbenediktinisches Mönchtum an der Wiege Europas, München 1980, 29-33. Holze (wie Anm. 11), 25f. Diese Abgrenzung scheint rein äußerlich zu sein. Vielmehr kann man eine gegenseitige Beeinflussung der Klöster von Marseille und Lérins annehmen. Vgl. Prinz (wie Anm. 5), 98; 100f. Iohannes Cassianus, Collationes XXIII, ed. Petschenig, Michael, ed. al. Kreuz, Gottfried, CSEL 13, Wien u. a. 2004 [Kurztitel Coll.], hier Coll. Praefatio 6 (CSEL 13, 4,25-28): „[…] ut nobis earundem traditionum memoriam plenam et sermonem ad dicendum facile conferre dignetur, quo tam sancte eas tamque integre quam ab ipsis accepimus explicantes ipsos […]“. Vgl. Coll. XVIII 5,2f. Lohse, Bernhard, Askese und Mönchtum in der Antike und in der alten Kirche (= Religion und Kultur der alten Mittelmeerwelt in Parallelforschungen 1), München u. a. 1969, 225f. Zwar hat Cassian das anachoretische Eremitentum Ägyptens aufgrund seiner eigenen Erfahrungen sehr geschätzt, doch ist für St. Viktor doch die koinobitische Lebensform in Anlehnung an Pachomius den Erfordernissen der Stadt Marseille angemessen gewesen. Vgl. Chadwick (wie Anm. 7), 46-53. Holze (wie Anm. 11), 27-30. Coll. XI 12; 15. Iohannes Cassianus, De institutis Coenobiorum et de octo principalium vitiorum remediis libri duodecim, ed. Petschenig, Michael, ed. al. Kreuz, Gottfried, CSEL 17, Wien u. a. 2004 [Kurztitel: Inst.], hier Inst. Praef. 9. Vgl. Holze (wie Anm. 11), 3. Leonardi, Claudio, Alle origini della cristianità medievale. Giovanni Cassiano e Salviano di Marsiglia, Spoleto 1978, 520.
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Sein Werk „Von den Einrichtungen der Klöster“ (De Institutis Coenobiorum), welches er bis zum Jahr 424 verfasst, die darauf bis zum Jahr 429 folgende, bereits zitierte Schrift „Unterredungen mit den Vätern“ (Collationes XXIII) sowie seine vom römischen Diakon und späteren Papst Leo in Auftrag gegebene antinestorianische Abhandlung „Über die Menschwerdung Christi“ (De incarnatione Domini contra Nestorium) um 430 zeugen von Cassians hoher theologischer Bildung. Aufgrund seiner Griechischkenntnisse beruft er sich gerne auf die orientalischen Wüstenväter, wobei er in den fiktiven Dialogen seiner Collationes nicht selten eigene theologische Ansichten verficht. Die reichhaltige Überlieferung von Cassians Œuvre nach seinem Tod um das Jahr 435 dürfte wohl der in der Benediktsregel vorkommenden Lektüre-Empfehlung zu verdanken sein.19 Diese kurzen biographischen Notizen mögen genügen, um zu zeigen, dass das Leben Cassians bis zur Abfassung seiner Schriften in hohem Maß von der Erfahrung der Differenz und Diskrepanz, auch der persönlich erlebten Heilsdifferenz geprägt war: Er erfuhr den Gegensatz zwischen aufblühenden Städten wie Byzanz und der Kargheit der Wüste Ägyptens, die Diskrepanz zwischen Prunk und Macht des kaiserlichen Hofs und der primitiven Rauheit der Anachoreten, den Widerspruch von politischem Erfolg und Scheitern am Beispiel des Johannes Chrysostomos, die Verschiedenheit von Leben in der Gemeinschaft und in der Einsamkeit, die Spaltung zwischen theologischen und spirituellen Traditionen bis hin zur Verfolgung, die Spannung zwischen asketischer Höchstleistung und einem kraftlos gewordenen monastischen Leben usw. Cassian bringt all diese Erfahrungen in seine Schriften ein, vor allem in die Gespräche in den Collationes. Sein Lebenswerk „entstand […] in der konkret gelebten Spiritualität, die auf die gewonnenen Erfahrungen und ein starkes spirituelles Fundament baute und antwortete.“ 20 Es ist daher nicht verwunderlich, dass Cassian in seinen Collationes in theologischanthropologischer Hinsicht andere Denkwege beschreitet als viele zeitgenössische
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Prinz (wie Anm. 5), 97-99, 471-473. Nürnberg, Rosemarie, Askese als sozialer Impuls. Monastisch-asketische Spiritualität als Wurzel und Triebfeder sozialer Ideen und Aktivitäten der Kirche in Südgallien im 5. Jahrhundert (= Hereditas – Studien zur Alten Kirchengeschichte 2), Bonn 1988, 36-40. Die genannte Datierung der Werke ist nicht ganz genau zu klären: Man kann daher nur Vermutungen anstellen, ob einzelne Passagen bewusst gegen Augustinus und dessen Gnaden- und Prädestinationsthesen der späten 420er Jahre gerichtet sind (s. u. Abschnitt 4), zumal er ihn kein einziges Mal erwähnt. Ob nämlich dessen Werke Cassian schon in Gänze bekannt gewesen sind, lässt sich heute nicht mehr eindeutig feststellen, ist aber wahrscheinlich. Chadwick (wie Anm. 7), 112f datiert den Beginn der antiaugustinischen Bewegung auf das Jahr 427 mit der Übermittlung einer Abschrift von Augustins De correptione et gratia. Dieses Ereignis sieht er als Grund für Cassians Abfassung von Coll. XIII und die darin enthaltenen „zweifelhaften“ Passagen. Vgl. ebd., 121; 126. Einen Überblick zum Diskussionsstand bietet Ogliari (wie Anm. 6), 133-135. 20 Ziegler, Gabriele, Frei werden. Der geistliche Weg des Johannes Cassian (= Münsterschwarzacher Kleinschriften 178), Münsterschwarzach 2011, 20.
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christliche Autoren. Mit exemplarischem Blick auf die Gottesbeziehung des Menschen und sein (Heils-)Streben21 soll dies im Folgenden dargestellt werden.
3. Sünde, Wille und Heil des Menschen – inhaltliche Aspekte der Anthropologie des Johannes Cassian Der Mönchsvater geht in den Collationes von der Güte der Schöpfung aus, die auf Gott, den Spender alles Guten zurückgeht. Nach seinem Bild ist der Mensch geschaffen, aber nicht unbedingt im wörtlichen, sondern im geistigen Sinn. 22 Daher kennt Adam als der Urtypus des Menschen im Urzustand alles, er wird versucht, aber um das sittlich Böse weiß er vor dem Sündenfall noch nicht. 23 Durch die Esslust getäuscht stimmt er dem Vorschlag Evas, die vom Teufel verführt worden ist, zu, gegen den Willen Gottes vom Baum zu essen.24 Dadurch übertritt er Gottes Gebot und verletzt so das in ihm angelegte Ebenbild. 25 Außerdem hält durch die Gier des Adam das körperliche Begehren und damit alle anderen sündhaften Neigungen in das Leben seiner Nachkommen Einzug, 26 weil der menschliche Wille geschwächt ist.27 Die direkten Folgen sind, dass Adam die Last der Arbeit und Eva die Schmerzen der Geburt ertragen muss. 28 Schließlich muss der Tod ein Ergebnis der Ursünde sein, weil Gott das Sterben, wie alles Schlechte, nicht erschaffen haben kann.29 Cassian bindet sich also in der Schilderung des Sündenfalles sehr stark an die biblische Überlieferung und sieht diesen nicht als einen totalen Bruch des Gott-Mensch-Verhältnisses an. Denn in Adams ursprünglicher Natur ist im Vergleich zu seiner postlapsarischen keine besondere Ausstattung oder Befähigung vorhanden. Eine Ausnahme bildet die gravierende Folge der Ursünde: der Tod.30
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Dieser Beitrag soll sich auf dieses begrenzte Themenfeld beschränken – wohlwissend, dass hinsichtlich der menschlichen Seelen- und Geistlehre Cassian als Vermittler östlicher Theologie ebenfalls viel zu bieten hätte. Coll. X 3,3 (CSEL 13, 288,18-21): „cumque ille non secundum humilem litterae sonum, sed spiritaliter imaginem dei ac similitudinem tradi ab uniuersis ecclesiarum principus explanaret […]“. Coll. XIII 12,2 (CSEL 13, 378,18-20): „concepit ergo Adam post praeuaricationem quam non habuerat scientiam mali, boni uero quam acceperat scientiam non amisit.“ Coll. V 4; VIII 9f. Vgl. zur cassianischen Dämonenlehre: Holze (wie Anm. 11), 223-226. Die Esslust als Ursache des Sündenfalles lässt wiederum auf Cassians monastisch-asketische Ausrichtung seiner Schriften schließen: er will seine Mitbrüder zum Fasten motivieren . Coll. V 6,1 (CSEL 13, 124,25f): „[…] non in quibus post praeuaricationem mandati imagine dei ac similitudine uiolata […]“. Coll. V 6,3; 10,1. Vgl. Hoch, Alexander, Lehre des Johannes Cassianus von Natur und Gnade. Ein Beitrag zur Geschichte des Gnadenstreits im 5. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1895, 39-46. Coll. XXIII 11-13. Coll. VIII 11. Coll. XIII 7,4; XXIII 11-13. Gross, Julius, Entwicklungsgeschichte des Erbsündendogmas im nachaugustinischen Altertum und in der Vorscholastik (5. – 11. Jahrhundert), in: Ders., Geschichte des Erbsündendogmas. Ein Beitrag zur Geschichte des Problems vom Ursprung des Übels, Bd. 2, München u. a. 1963, 27f. Wör-
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Folglich ist nach Cassian die Wirkung des adamitischen Sündenfalls auf die nachfolgenden Generationen ebenso beschränkt, denn Christus hat durch seinen Tod und seine Auferstehung alle gerettet, die durch die Sünde des Adam im Tod gefangen gewesen sind.31 Zwar hat der Stammvater durch seine Übertretung Unheil über alle gebracht, weil zuerst er und dann alle ihm nachfolgenden Generationen unter der schlechten Herrschaft der Sünde und des Teufels stehen, 32 jedoch bleibt Gott stets der wahre Herrscher der Menschen, weil er ja auch Herr über den Satan ist. Allerdings will der Höchste die Menschen, die freiwillig von ihm abgefallen sind, nicht gegen ihren Willen wieder zur ursprünglich angeborenen Freiheit zurückbringen, weil er somit ihre selbst verantwortete Freiheit einschränken würde. Nach der festgesetzten Zeit indes erlöst Christus die Menschen aus ihrer ererbten Lage, indem er sie von ihrem alten Herrn, dem Tod, befreit zum Preis seines eigenen Lebens.33 Somit steht der Mensch in seinem Leben gleichsam unter einem Gesetz der Sünde, weil er zwar den Geboten Gottes dienen möchte, aber durch den Abfall des Adam von der geistigen Anschauung hinabgleitet zur Beziehung zu den vergänglich geschaffenen Dingen und die Sorge um Weltliches. Dafür, so Cassian, sei niemand zu verurteilen, weil der Mensch durch die Schuld Adams zuweilen gegen seinen eigentlichen Willen – man könnte sagen: unbewusst – zum Sündigen gezwungen wird. Erst durch das Heilswerk Christi sind alle von diesem Gesetz der Sünde befreit.34 Was eine Vererbung der ersten Sünde bedeutet, legt Cassian freilich nicht eindeutig dar: Zwar kennt er ein peccatum orginale, welches aus der Konkupiszenz hervorgeht, und stellt diesem die aktuelle Sünde gegenüber. 35 An anderer Stelle behauptet er wiederum, dass niemand einem anderen gegen dessen Willen, somit auch nicht Adam seinen Nachkommen, ein sündhaftes malum, was die Erbsünde wäre, zufügen kann.36 Vielmehr ist in jedem Menschen schon das Prinzip des Kampfes zwischen Fleisch und Geist angelegt, den es zugunsten des Geistigen auszufechten gilt. Der Wille des Menschen unterliegt diesem Dualismus von Fleisch und Geist.37 So ist die Konkupiszenz nicht unbedingt als ein Übel zu ver-
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ter, Friedrich, Beiträge zur Dogmengeschichte des Semipelagianismus, Bd. 1 (= Kirchengeschichtliche Studien 5,1), Paderborn u. a. 1898, 47f. Cassian folgt der traditionellen Adam-Christus-Typologie. Vgl. bspw. Coll. V 6,2f (CSEL 13, 125, 11-14): „ideoque et ille Adam dicitur et iste Adam, ille primus ad ruinam et mortem, hic primus ad resurrectionem et uitam. per illum omne genus hominum condemnatur, per istum omne genus hominum liberatur.“ Coll. XXIII 12,1-3. Coll. XXIII 12,3-6. Coll. XXIII 13,1-3. Vgl. Wörter (wie Anm. 30), 50; 54f. Coll. XIII 7,3. Coll. VI 4,1. Eine Vererbung einer Sünde ist daher nach Cassian eigentlich nicht möglich, zumal er in Coll. VIII 25,1f kreatianistisch davon ausgeht, dass nicht, wie im Generationismus vermutet, eine Seele aus einer anderen hervorgeht, sondern allein von Gott dem guten Schöpfervater ins Dasein gerufen wird. Vgl. Gross (wie Anm. 30), 30. Coll. IV 7; 9-12. Vgl. Hoch (wie Anm. 26), 25-29. Daher ist auch die theoretische Sündlosigkeit, wie sie die Pelagianer lehren, als praktisch unmöglich abzulehnen. Im Gegenteil: durch eine solche
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stehen, da durch ihre Anfechtung der Geist zur Wachsamkeit herausgefordert wird und sie damit jeden vor stolzem Hochmut beschützt, was vor allem für die keusch lebenden Mönche von Bedeutung, ja ihnen sogar nützlich ist. 38 Überhaupt seien die menschlichen Regungen zunächst neutral einzuschätzen, da diese schon bei kleinen Kindern festgestellt werden, welche ja noch nicht zwischen gut und böse unterscheiden können.39 Daher können Kinder, egal ob getauft oder ungetauft, keine Schuld haben, zumal der Heilsratschluss Gottes ausdrücklich alle umfasst. 40 Mit diesem Konzept der Erbsünde, oder besser der Erbschuld korrespondieren Cassians Aussagen zur göttlichen Gnade, die er besonders in der XIII. Collatio unter dem Titel De protectione Dei entwickelt. Zunächst teilt er – durchaus in Übereinstimmung mit der spätaugustinischen Lehre – die Auffassung, dass nichts ohne die Zustimmung Gottes geschieht, der Personen gnadenhaft beruft und diese durch Gnade zur Vollendung führt. 41 Durch die gratia praeveniens bringt der Mensch positive Werke, sowie den dafür notwendigen guten Willen und die entsprechenden verlangenden Gedanken auf. 42 Dies gilt genauso hinsichtlich des initium fidei, dem Beginn der Umkehr und der Duldsamkeit im Leiden. 43 Ansonsten, so argumentiert der Massilienser mit Augustinus, wäre ein Gebet um Bekehrung oder Glauben, wie es beispielsweise Jesus für Petrus verrichtet hat, nicht sinnvoll. 44 So kann Gott selbst diejenigen, welche nichts Gutes wollen, berufen und zum Heil führen, indem er ihre Abwendung vom Bösen und von der Sünde bewirkt. Er kommt ihnen mit seiner Vorsehung und Barmherzigkeit zuvor.45 Aber nicht nur der Beginn des Heils ist auf Gott zurückzuführen, sondern ebenso die Vollendung durch die immer neue Unterstützung, die dem Menschen gewährt wird. Dies soll aber nicht Anlass zur Aufhebung der menschlichen Anstrengungen sein, sondern vielmehr bewusst machen, dass man sich ohne die Gnade Gottes die Vollendung nicht gleichsam verdienen kann.46
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Behauptung wird der Mönch in falsche Sicherheit gewogen. Vgl. Coll. IV 12,4. Hoch (wie Anm. 26), 106f. Coll. IV 14-16; ähnlich: ebd. I 19; VI 11; Inst. VIII 7. Vgl. Holze (wie Anm. 11), 154f; 220-223. Inst. VII 3,1. Coll. XIII 7,2. Vgl. Coll. III 15,1-2; 10,6; 20,1. Coll. XIII 3; 6. Coll. III 15,2 (CSEL 13, 87,7-9): „hic quoque et initium conuersionis ac fidei nostrae et passionum tolerantiam donari nobis a domino declarauit.“ Biblische Belegstellen ebd. 16,1-5. Cassian ist nicht der Begründer dieser Ansicht, wie Ogliari (wie Anm. 6), 291-296 nachgewiesen hat, sondern vielmehr derjenige, der sie in die westliche Theologie transformiert, so wie es schon ein Hilarius von Portiers versucht hat. Beim Thema initium fidei kann Cassian unter anderem auf Clemens von Alexandrien, Johannes Chrysostomus oder die kappadokischen Väter zurückgreifen. Coll. III 16,1-3. Coll. XIII 8,3 (CSEL 13, 371,18-23): „[…] adest igitur inseparabiliter nobis semper diuina protectio tantaque est erga creaturam suam pietas creatoris, ut non solum comitetur eam, sed etiam praecedat iugiter prouidentia, quam expertus propheta apertissime confitetur dicens: deus meus misericordia eius praeueniet me.“ Vgl. ebd. 8,4-9,1. Coll. III 15,2f (CSEL 13, 87,11-14; 21-26): „[…] dicens: confirma deus hoc, quod operatus es in nobis, ostendens non sufficere sibi salutis principia dono dei gratiaque conlata, nisi fuerint eadem
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Auf den Einwand des Germanus in Collatio XIII, dass es doch mehr als ungerecht sei, die Vollendung des menschlichen Lebens auf Erden durch Entsagung und Keuschheit nicht den Anstrengungen der jeweiligen Person zuzurechnen, sondern als von Gott geschenkt zu betrachten, lässt Cassian den Gesprächspartner Chäremon antworten, dass alles Gute von Gott komme und niemand ohne seine Hilfe zur Vollendung gelange.47 Hierauf fragt Germanus nun wieder, ob dies letztlich eine Aufhebung des freien Willens bedeute. Außerdem müssten alle tugendhaft lebenden Heiden zur Aufrechterhaltung ihres positiven Strebens entweder den vom Fall unbeeinträchtigten freien Willen noch besitzen oder die zuvorkommende Gnade Gottes zu ihren Taten erhalten, was aber beides ja unmöglich sei. 48 Nach der Entlarvung der heidnischen „Tugenden“ als unterdrückte Triebe49, behauptet Cassian in seinem Dialog jedoch – und hierin liegt ein bedeutender Unterschied zu Augustinus – dass es vorkommen kann, dass der Mensch selbst freiwillig die Initiative ergreift, Gutes zu tun, und er dabei von der gratia Dei unterstützt wird. Dies geschieht aus einer positiven Willensregung, die aus der natürlichen Güte des von Gott geschaffenen menschlichen Wesens erwächst, frei nach Röm 7,18: „Das Wollen liegt an mir, die Vollendung des Guten aber finde ich nicht.“50 Deshalb meint der Mönchsvater Cassian, dass die Gnade Gottes und der Wille des Menschen, der trotz des Sündenfalls zwar geschwächt, aber dennoch frei ist,51 nahezu untrennbar vereinigt und gemischt sind. Sie widersprechen sich nicht, weil keines der beiden durch das andere aufgelöst wird, sondern sie in Einheit, concordia, verbunden sind. Faktisch wirken sie synergetisch und zeitunabhängig zusammen. Daher ist zum einen die Behauptung, eine freie Entscheidung gehe der Gnade voran, nicht richtig, da dem ja schon das Beispiel der Bekehrung des Apostels Paulus und des Zöllners Matthäus widerspricht. Zum anderen ist es ebenso
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miseratione ipsius et cotidiana opitulatione perfecta. […] haec autem dicimus, non ut studium nostrum uel laborem atque industriam quasi inaniter et superfluo inpendenda uacuemus, sed ut nouerimus nos sine auxilio Dei nec adniti posse nec efficaces nostros esse conatus ad capessendum tam inmane praemium puritatis, nisi nobis adiutorio domini ac misericordia fuerit contributum.” Diese Notwendigkeit der begleitenden vollendenden Gnade gilt nach Cassian besonders für die mönchischen Bemühungen um die Vollkommenheit. Vgl. Coll. XIII 6,1ff. Coll. XIII 2f; ähnlich: ebd. 13. Vgl. Coll. XIII 4. Vgl. Leonardi (wie Anm. 18), 523f. Coll. XIII 5. Coll. XIII 9,4f (CSEL 13, 373,20-23; 374,4-10): „[…] nisi quod in his omnibus et gratia dei et libertas nostri declaratur arbitrii, quia etiam suis interdum motibus homo ad uirtutum adpetitus possit extendi, semper uero a domino indigeat adiuuari? […] ut autem euidentius clareat etiam per naturae bonum, quod beneficio creatoris indultum est, nonnumquam bonarum uoluntatum prodire principia, quae tamen nisi a domino dirigantur ad consummationem uirtutum peruenire non possunt, apostolus testis est dicens: uelle enim adiacet mihi, perficere autem bonum non inuenio.“ Vgl. zum Vorrang der Initiative des Menschen vor der Gnade Gottes auch Inst. XII 14. Dies ist jedoch nicht im Sinne einer pelagianischen absoluten Wahlfreiheit, sondern in einer origenistischen Bedeutung als natürliche Zuwendung an Gott zu verstehen. Vgl. Chadwick (wie Anm. 7), 122-124. Ogliari (wie Anm. 6), 130f. Weaver, Rebecca Harden, Divine Grace and Human Agency. A Study of the Semi-Pelagian Controversy (= Patristic Monograph Series 15), Macon 1996, 113f. Coll. XIII 10,1; 18,4.
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falsch zu meinen, dass die menschliche bona voluntas von der göttlichen Gnadengabe abhängig ist, weil schon Zachäus und der Schächer am Kreuz mit ihrem Verlangen dem Zuspruch Christi zuvorgekommen sind. 52 Cassian erklärt im Anschluss nochmals genauer, dass Gott, wenn er sieht, dass ein Mensch zum Guten neigt, ihm dann Gnadenhilfe schenkt. Andererseits verhilft er ihm, wenn er sieht, dass einer nicht will, dann durch Ermahnungen zu einem positiven Willen 53. Hierin richtet sich der Massilienser eindeutig sowohl gegen den pelagianischen Gedanken eines Vorrangs des freien Willens, als auch gegen den augustinischen Primat der Gnade, indem er beide Fälle des zuvorkommenden Willens und der zuvorkommenden Gnade für möglich erachtet. Denn für ihn ist klar, dass sowohl die Fähigkeit zur Erkenntnis des Guten durch die unverdorbene menschliche Natur, als auch die Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse unbeeinträchtigt vom Fall Adams vorhanden ist und damit der prinzipiell freie Wille in Zusammenarbeit mit der göttlichen Gnade der Vollendung entgegenstrebt.54 Zwar wirkt Gott durch seine Gnade bei allen Entscheidungen mit, doch belässt er dem Menschen die ihm in der Schöpfung zugestandene Freiheit der Entscheidung. 55 Daher muss man nicht nur das Böse dem menschlichen Willen zuschreiben, sondern auch seine Verdienste. 56 Wird also jemand durch die Sünde angefochten, so kann sein Wille mit Hilfe der Gnade Christi der Versuchung widerstehen oder durch das Fleisch veranlasst sich für das Böse entscheiden.57 Welche Menschen allerdings Gott zum Heil führt, ist laut Cassian mit irdischer Vernunft nicht einzusehen.58 Am allgemeinen Heilswillen Gottes für jeden Men-
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Coll. XIII 11,1f; 4. Die von Cassian geforderte mönchische perfectio ist somit eine Art ungleicher Synergismus von vorrangiger göttlicher Gnade und von freiem Wollen des Menschen gleichermaßen, der im Gebet seine Höchstform findet. Vgl. Holze (wie Anm. 11), 262-265. Nürnberg (wie Anm. 19), 50-52. Coll. XIII 11,5 (CSEL 13, 377,20f; 377,24-378,2): „nam cum uiderit nos deus ad bonum uelle deflectere, occurit, dirigit atque confortat. […] et rursus si nos nolle uel intepuisse perspexerit, adhortationes salutiferas admouet cordibus nostris, quibus uoluntas bona uel reparetur uel formetur in nobis.“ Deswegen besteht nach Cassian Coll. III 19 ein Intervall zwischen dem gottgewirkten initium voluntatis bonae und der perfectio virtutum, das dem menschlichen Willen zur Zustimmung oder Ablehnung einer Tat vorbehalten ist. Vgl. Ogliari (wie Anm. 6), 132f. Coll. XIII 12,7-13,1; ähnlich ebd. 18,4-5. Coll. XIII 18,5 (CSEL 13, 395,28-396,1): „sic enim uniuersitatis deus omnia in omnibus credendus est operari, ut incitet, protegat atque confirmet, non ut auferat quam semel ipse concessit arbitrii libertatem.“ Coll. XIII 12,5 (CSEL 13, 379,24-380,1): „unde cauendum nobis est, ne ita ad dominum omnia sanctorum merita referamus, ut nihil nisi id quod malum atque peruersum est humanae adscribamus naturae.“ Vgl. Gross (wie Anm. 30), 32f. Coll. XIII 14,8. Eine Prüfung des Glaubens hält Cassian im positiven Sinn sogar als pädagogische Einübung in die Beharrlichkeit im Guten für notwendig (Inst. VIII 7). Durch diese Übung gestärkt kann der Mönch durch seine Anstrengung unter Zuhilfenahme der Gnade Gottes im Kampf gegen das Böse zur Vollendung gelangen (Coll. IV 7,2; 15,1). Vgl. Holze (wie Anm. 11), 154f; 221f. Coll. XIII 15,1; 17,1. Hier verwendet der Mönchsvater das augustinische Argument der Unergründlichkeit von Gottes Heilsratschluß ironischerweise für seine Zwecke. Vgl. Weaver (wie Anm. 50), 113.
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schen will er jedoch unweigerlich festhalten und brandmarkt jegliche Art von auswählender Prädestination als Vergabeprinzip der göttlichen Gnade: „Der Wille Gottes bleibt unveränderlich bestehen: Der Mensch ist nicht erschaffen, um zu sterben, sondern um in Ewigkeit zu leben. […] Wenn Gott nicht den Willen hat, dass einer von den Kleinsten verlorengeht, wie sollte man ohne ungeheuerliche Gotteslästerung meinen, dass er nicht umfassend alle, sondern nur einige anstatt aller retten will?“59 Gott will also nicht das Verderben des Menschen, weil er ihn mit dem freien Willen zum Guten und zur Erlösung fähig gemacht hat. Der Mensch selbst bringt den guten Willen auf oder dieser wird von Gott entfacht. Immer aber begleitet und stärkt Gottes Güte diesen guten Willen. 60 Somit sind allein die gegenwärtige Handlung und der momentan bestehende Wille des Menschen für eine unterstützende Erwählung oder eine Verwerfung seitens Gottes ausschlaggebend. 61
4. Zu den Quellen und Prinzipien der Anthropologie Cassians in den Collationes Cassian greift mit dem dargestellten anthropologischen Entwurf, insbesondere in den Collationes, zweifelsohne die von Origenes grundgelegte Tradition des Ostens auf, die ein Zusammenspiel von menschlichem Willen und göttlicher Gnade in Einheit betonen. Dem folgt beispielsweise Gregor von Nazianz, indem er diese Art von Synergismus annimmt – allerdings stets unter einem Vorrang des göttlichen Beistandes, der zusammen mit dem menschlichen Willen das Gute wirkt. 62 In Abwehr des Manichäismus spricht Gregor von Nyssa sogar von einer aktiven Teilhabe des Menschen im Heilsgeschehen. Dieser besitzt selbst nach dem Sündenfall eine gewisse Wahlfreiheit, die durch Christus gnadenhaft wieder erneuert wird. Zusammen mit der helfenden Gnade kann sodann der Mensch wieder das Gute erreichen, sofern sein Wille unter deren Vorrang danach strebt. Beide durchdringen sich aber nach Gregor so, dass der Anfang des Guten mal der Gnade und mal dem 59
Coll. XIII 7,1f (CSEL 13, 368,28f; 369,13-16): „propositum namque dei, quo non ob hoc hominem fecerat ut periret, sed ut in perpetuum uiueret, manet inmobile. […] qui [i. e. Deus] enim ut pereat unus ex pusillis non habet uoluntatem, quomodo sine ingenti sacrilegio putandus est non uniuersaliter omnes, sed quosdam saluos fieri uelle pro omnibus? Ergo quicumque pereunt, contra illius pereunt uoluntatem […]“. Übersetzung: Johannes Cassian, Unterredungen mit den Vätern. Collationes Patrum, Bd. 2, Collationes 11 bis 17, übers. und erl. v. Ziegler, Gabriele (= Quellen der Spiritualität 9), Münsterschwarzach 2014, 111f. 60 Coll. XIII 7,1. Vgl. zu Coll. XIII die ausführliche Darstellung bei Ogliari (wie Anm. 6), 133-153. 61 Coll. XVII 25,14f. Vgl. Gross (wie Anm. 30), 34. 62 Hauke, Manfred, Heilsverlust in Adam. Stationen griechischer Erbsündenlehre. Irenäus, Origenes, Kappadozier (= Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien 58), Paderborn 1991, 515-517.
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Menschen zufällt, selbst wenn dieser ohne die göttliche Hilfe nichts vollbringen kann. Dieser Synergismus bewirkt: Je mehr eine Person nach dem Guten strebt, umso mehr wird ihr die Barmherzigkeit Gottes zuteil und umgekehrt. 63 So postulieren Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa in der Tradition des Origenes ein gewisses Maß an freiheitlichem Mitwirken des Menschen zum eigenen Heil, doch darf dabei nicht übersehen werden, dass schon der Letztgenannte streng davon ausgegangen ist, dass der Gnade Gottes der entscheidende Beitrag im Heilsgeschehen vorbehalten ist. Origenes, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz ist von der Intention her gemeinsam, dass ihre jeweiligen Gnadenlehren, die zudem nicht als eigene Traktate ausformuliert sind, in Abwehr gegen fatalistische Häresien entstanden sind und schon allein deswegen dem freien Willen des Menschen eine Beitragsmöglichkeit eingeräumt ist.64 Diese Ansichten in der origenistischen Tradition sind für Cassian eine Quelle von Material, das er während seiner Orient-Reise kennengelernt hat und nun eigenständig weiterführt.65 Im Gegenzug lassen sich bei den Ansätzen Cassians deutliche Unterschiede im Vergleich zur Theologie des Aurelius Augustinus feststellen, dem führenden Theologen seiner Zeit im weströmischen Reich. Mit Blick auf den Sündenfall Adams, vor allem in Hinsicht auf die Vererbung der Sünde, die Bedeutung der Konkupiszenz sowie die Natur des Menschen unterscheiden sich beide merklich. Der Mönchsvater spricht nicht mehr von Erbsünde im augustinischen Sinne, sondern in östlicher Manier eher von eine auf Adam zurückführbare Erbschuld, wodurch er aber, im Gegensatz zu den Pelagianern, eine schadhafte Beeinträchtigung der nachfolgenden Generationen impliziert.66 Darum bejaht Johannes Cassian zusammen mit Augustinus sowohl eine Lehre der zuvorkommenden, der verwirklichenden und der Beharrlichkeit schenkenden Gnade. Zugleich spricht er jedoch im Unterschied zum Bischof von Hippo davon, dass die menschliche Willens- und Wahlfreiheit nicht aufgelöst ist, und räumt ihr ein Mitbestimmungs- oder sogar Initiativrecht ein.67 Es geht ihm gleichsam um eine Vergemeinschaftung von menschlichem Willen und göttlichem Heilswillen durch die Gnade. An einem allgemeinen 63
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Ebd., 592-596. Ganz ähnlich findet sich dieser Ansatz bei Basilius, der die Verähnlichung mit Christus dem Synergismus von Willen und Gnade unter deren Vorrang postuliert. Vgl. ebd., 456459. Ebd., 344-348. Auch Augustinus hat in Abwehr des Manichäismus, ähnlich wie die Kirchenväter des Ostens, bspw. in De libero arbitrio, die Freiheit des Willens besonders betont. Origenes und die in seiner Tradition stehenden Schriftsteller sind somit indirekt die Vorbereiter der in Südgallien kursierenden Thesen, selbst wenn sie stets den Vorrang der Gnade betont haben. Sie als Pelagianer oder „Semipelagianer“ zu bezeichnen verbietet sich jedoch. Vgl. ebd., 436; 718. Bereits Wörter (wie Anm. 30), 48, 58, Hoch (wie Anm. 26), 24-69, später Gross (wie Anm. 30), 31 sowie Chadwick (wie Anm. 7), 123f halten entgegen der vor allem in systematischen Einführungen und Übersichtswerken häufig vorkommenden Auffassung fest, dass Cassian und Augustinus in der Frage der Erbsünde nicht dieselben Auffassungen vertreten haben. Doch selbst neuere Monographien, wie z. B. Weaver (wie Anm. 50) oder Ogliari (wie Anm. 6), stellen diese Differenzen nicht ausführlich dar. Sie erwähnen – wenn überhaupt – nur in Nebenbemerkungen Cassians Auffassung vom Fall Adams. Nach Chadwick (wie Anm. 7), 119 sieht Cassian also die augustinische Theologie als Neuerung.
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Heilswillen Gottes und einer echten Heilsperspektive für jeden kann daher nach Cassian kein Zweifel bestehen. Daher ist für ihn eine allein nach göttlicher Prädestination vergebene Gnade, durch die nach Augustinus wenige Menschen das ewige Heil erreichen, unannehmbar.68 Als Hintergrund des cassianischen Ansatzes ist wiederum das mönchische Milieu zu sehen, dem die Eigenverantwortlichkeit für asketische Leistungen verdeutlicht werden soll: Jeder Gottgeweihte muss selbst unter Zuhilfenahme der göttlichen Gnade darum kämpfen, das Gute in der Enthaltsamkeit, im Fasten, im Gebet etc. zu erreichen. In der Intention und folglich in der Sache unterscheidet sich Cassians anthropologischer Ansatz damit von dem in Augustinus‘ späten Traktaten. Ähnlich wie seinen orientalischen Vorbildern geht es dem Mönchsvater also in den Collationes nicht in erster Linie um die systematische Festlegung einer Lehre, sondern um die Erbauung seiner Leser.69 Weil er keine Regel oder keine Lehre entfalten möchte, bedient er sich der äußeren Form des Dialogs. In den Gesprächen entwickeln sich die Gedanken von erfahrenen Mönchsvätern und den Gesprächspartnern gleichsam organisch. Dem Thema nach möchte Cassian, wie er im Prolog sagt, in den Collationes „von den äußeren und sichtbaren Verhaltensweisen […] zu der unsichtbaren Verfassung des inneren Menschen übergehen.“ 70 Bei seinem Ansatz scheinen ihm drei Prinzipien wichtig. Durch die Reduzierung auf den Mikrokosmos des zwischenmenschlichen Gesprächs zwischen wenigen Personen, entgeht der Autor der Versuchung generalisierende anthropologische Aussagen zu treffen. Es lässt sich beobachten, wie er anhand konkreter Beispiele von einzelnen Mönchen und deren Erfahrungen seine Gedanken entwickelt. Die implizite Aufforderung, dass die Bezugnahme auf die konkrete Existenz eines Menschen und seine Lebenswelt insbesondere im Feld der Anthropologie eine wesentliche Voraussetzung für ein realitätsnahes Bild vom Menschen liefert, klingt banal. Cassian möchte dies aber einer in Traktaten denkenden Theologie ins Gedächtnis rufen, indem er seinen Lesern rät, eine Präferenz „[…] allen katholischen Vätern, welche die Vollkommenheit des Herzens nicht im leeren Schlagabtausch von Worten, sondern in der Sache und in der Praxis gelernt haben […]“71, zu geben. 68
Inwieweit die cassianische Position in der Vorherbestimmungsfrage mit der östlichen Theologie übereinstimmt ist noch nicht geklärt. Zur Klärung eignet sich Hausammann, Susanne, Der umgeworfene Spiegel. Grundprobleme der Willensfreiheit in der orthodoxen Tradition des Ostens im Vergleich zu den Westkirchen, Neuenkirchen 2009, v. a. 50ff. 69 Ogliari (wie Anm. 6), 150-153. 70 Coll. Praef. 5 (CSEL 13, 4,13-15): „proinde ab exteriore ac uisibili monachorum cultu […] ad inuisibilem interioris hominis habitum transeamus […]“. Übersetzung: Johannes Cassian, Unterredungen mit den Vätern. Collationes Patrum, Bd. 1, Collationes 1 bis 10, übers. und erl. v. Ziegler, Gabriele (= Quellen der Spiritualität 5), Münsterschwarzach 2011, 54. Vgl. zum Anliegen Cassians in den Collationes Holze (wie Anm. 11), 26-28. 71 Coll. XIII 18,4 (CSEL 13, 395,19-21): „et idcirco hoc ab omnibus catholicis patribus definitur, qui perfectionem cordis non inani disputatione uerborum, sed re atque opere didicerunt […]“. Übersetzung: Ziegler (wie Anm. 59), 134. Ähnlich Inst. XII 13; 19.
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Darin klingt bereits die Skepsis Cassians gegenüber einer Schultheologie und ihrer Anthropologie an. Sie birgt deutlich die Gefahr, dass sie zu einer abstrakten Selbstinterpretation des Menschen bis hin zu einer anthropomorphen Selbstkonstruktion wird. In der von ihm gewählten Form des Dialogs hingegen müssen sich die Ansichten bewähren, erhalten Wider- oder Zuspruch, gelangen zu einer feineren Justierung, werden mit Aussagen aus der Bibel und der Erfahrung abgeglichen usw. Der zweckfreie Austausch über das Menschsein im Kontext des Glaubens steht für ihn höher als theoretische Argumentation, so dass er behaupten kann: „Falls etwas, was menschliche Beweisführung und Vernunft durchaus spitzfindig gesammelt hat, dieser Wahrnehmung [i. e. dem Postulat einer fortbestehenden Entscheidungsfreiheit des Menschen] zu widersprechen scheint, so muss man dies eher übergehen als es zum Niederreißen des Glaubens heranzuziehen. Wir kommen zum Glauben ja nicht durch die Vernunft, sondern zur Vernunft durch den Glauben […].“72 Schließlich empfiehlt Cassian als wesentliche Instanz in der anthropologischen Diskussion die Erfahrung. Weil sie zwar hinterfragbar aber nicht ohne weiteres hintergehbar ist, kommt ihr bei jeder Beweisführung Bedeutung zu. Er rät, Gewährsleuten zu folgen, „die sowohl die Größe der Gnade wie die Winzigkeit der menschlichen Entscheidungsfreiheit nicht an wortreichem Geschwätz, sondern mit der Erfahrung als Führerin messen“73. Für das cassianische Verständnis vom Menschen, seinem Willen und Streben ist also die Erfahrung konstitutiv, vor allem jene, die Menschen existentiell berührt in der Abgeschiedenheit der Wüste gemacht haben.74 Erfahrung ist für ihn in diesem Zusammenhang keine individualistische Momentaufnahme, sondern eine „geleitete und gehaltene Erfahrung“ 75, die an die Überlieferung rückgebunden ist. Diese Prinzipien haben Folgen für Cassians Blick auf den Menschen und auf seine Existenz in der Welt. Anders als bei vielen anderen christlich-asketischen Autoren geht es ihm bezüglich der Lebenspraxis nicht um eine utopische Perfektionierung des Menschen: „Keine abstrakte Norm, sondern das Maß des Möglichen wird von Cassian […] zur Aufgabe der Mönche erklärt. Dadurch erweist er sich als ein besonnener, dem Rigorismus ablehnend gegenüberstehender Lehrer des monastischen Lebens, der nicht nur von seiner Biographie, sondern auch von seiner geistigen Haltung her eine Mittlerstellung zwischen Ost und West einnimmt […]“. 76 An 72
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Coll. XIII 18,5 (CSEL 13, 396,1-5): „si quid sane uersutius humana argumentatione ac ratione collectum huic sensui uidetur obsistere, uitandum magis est quam ad destructionem fidei prouocandum (non enim fidem ex intellectu, sed intellectum meremur ex fide […])“. Übersetzung: Ziegler (wie Anm. 59), 134f. Vgl. auch Coll. XIII 9,1; XXIII 21,3. Coll. XIII 18,1 (CSEL 13, 394,13-15): „[…] qui non loquacibus uerbis, sed experientia duce uel magnitudinem gratiae uel modulum humani metiuntur arbitrii […]“. Übersetzung: Ziegler (wie Anm. 59), 133. Vgl. auch Coll. XIII 18,2; 6,3. Vgl. Coll. Praef. 5-7. Holze (wie Anm. 11), 143. Zur Bedeutung der monastischen Erfahrung bei Cassian vgl. ebd., 141147. Ebd., 31. Vgl. auch ebd., 57f; 124.
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vielen Beispielen ließe sich zeigen wie er zu maßvollem Handeln mit Verweis auf Erfahrung und Praxis anhält, beispielsweise beim Fasten oder beim Gebet. Auch für Cassians Theologie und Anthropologie sind die Prinzipien des Konkreten und der Praxis, des vom Glauben begleiteten Dialogs und des Erfahrungsrückbezugs in Verbindung mit dem rechten Maß leitend. Nach Cassian erfährt der Mensch seine eigene Schwäche, die eigenen Fähigkeiten und die Gnade Gottes unterschiedlich und individuell.77 Die cassianische Position in den Fragen der Erbsünde, des menschlichen Willens und der göttlichen Gnade stellt demnach nicht ein aus rationalen Gründen deduktiv erschlossenes Gesamtkonzept, sondern vielmehr eine sich aus Erfahrung fügende Collage, einen induktiven Suchprozess dar. Das macht seine theologische Position, sein Menschenbild keineswegs unverbindlich, wie beispielsweise die Kritik an ihm und seinen Collationes während des „semipelagianischen“ Streits zeigt.
5. Resümee Johannes Cassian lebt in einer Umbruchszeit, die stark von geopolitischen, religiösen und kirchlichen Krisen geprägt ist. Er verarbeitet in seinen Werken, vor allem in den Collationes, die Erfahrung der damit einhergehenden Konflikte ebenso wie persönliche Differenzerfahrungen und lässt sich zugleich davon inspirieren. Ausgehend von den Prinzipien des Konkreten und der Praxis, des vom Glauben begleiteten Dialogs und des Erfahrungsbezugs vermag er den Blick zunächst auf den Menschen zu richten, um daraus dessen Verhältnis zu Gott und Optionen für Heilswege zu entwickeln. Man könnte sagen: Durch ein der westlichen Theologie seiner Zeit nicht (mehr) präsentes Ressourcement 78 wendet der Mönchsvater einen induktiven Ansatz an, um die Frage nach dem Heil des Menschen neu in den Blick zu nehmen. Damit ist Cassian ein gutes Beispiel dafür, wie Biographie, individuelle Erfahrung und persönliche Spiritualität greifbaren Einfluss auf Genese und Inhalt eines Menschen- und Gottesbildes nehmen. Auf theologisch-inhaltlicher Ebene wahrt der Mönchsvater damit einen Ausgleich zwischen einem dem christlichen Glauben widersprechenden Fatalismus einerseits und einer der Realität nicht gerecht werdenden Überhöhung menschlicher Fähigkeiten und Freiheit – ein Dualismus, der auch dem 21. Jahrhundert nicht fremd ist. Faktisch lässt Cassian sein Menschenbild nicht von abstrakten Gottesbildern und Argumentationsmustern dominieren, sondern setzt verschiedene Traditionen und Spiritualitäten als rückgebundene Erfahrungen dialogisch zueinander ins 77 78
Ebd., 144f. Zur Notwendigkeit einer „anamnetischen Anthropologie“ vgl. Manemann, Jürgen, Ende des Menschen? Reflexionen im Zeitalter der Posttraditionalität (Zweiter Teil), in: Orientierung 65 (2001), Heft 22, 242-246.
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Verhältnis. Ebenso stellt er nicht Leistungsdenken oder moralische Fragen ins Zentrum seines Nachdenkens über den Menschen, obwohl er beides in seinem Leben zu genüge kennen gelernt hat. Christlicher Glaube an die Gnade Gottes und Glaubenserfahrung sind für ihn Hilfe und Rahmen, um menschliches Leben zu gestalten.79 Oder anders: Auf neue Weise erschließt Cassian seiner Zeit angesichts von Differenz- und Kontingenzerfahrung das therapeutische Potential des Christentums für das konkrete Leben des Menschen vor Gott. Den Theologen und Seelsorgern seiner und unserer Tage, die konfrontiert sind mit solchen Erfahrungen ihrer Glaubensgeschwister, gibt er an die Hand: „Lerne aus deiner eigenen Erfahrung mit denen, die sich abmühen, mitzuleiden und die Gefährdeten auf keinen Fall mit bedrohlicher Verzweiflung in Schrecken zu versetzen oder ihr Leiden durch harte Worte zu verschlimmern. Vielmehr erquicke sie mit sanftem und süßen Trost und, wie das Gebot des Salomo, des Größten unter den Weisen, sagt: ‚Zögere nicht, auszulösen, die zum Tode geführt werden; loszukaufen die Todgeweihten.‘ (Prov 24,11) Lerne von dem Vorbild unseres Erlösers, das geknickte Rohr nicht zu brechen und den glimmenden Docht nicht auszulöschen (vgl. Mt 12,20) […].“80
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Vgl. Ziegler (wie Anm. 20), 92-94. Coll. II 13,10 (CSEL 13, 56,21-57,1): „disce itaque tuis exemplis laborantibus conpati et periclitantes nequaquam perniciosa desperatione terrere nec durissimis sermonibus asperare, sed potius leni blandaque consolatione reficere, et secundum praeceptum sapientissimi Salomonis eruere eos qui ducuntur ad mortem et redimere eos qui interficiuntur ne parcas, nostrique saluatoris exemplo harundinem quassatam non conterere et linum fumigans non extinguere […]“. Übersetzung: Ziegler (wie Anm. 70), 104.
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Zur christlichen Vision vom Menschen im 21. Jahrhundert
Manfred Gerwing Wohin tendiert die Welt? Was steht auf der Agenda der Menschheitsgeschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Was wird die Zukunft bringen? Yuval Noah Harari versucht, die Fragen zu beantworten. Der Historiker aus Profession wirft den Blick ausnahmsweise einmal nicht in die Vergangenheit, sondern in die Gegenwart und Zukunft. Er wird zum Propheten aus Passion. Allerdings untermauert er seine prospektiv ausgerichteten Thesen mit historischen Kenntnissen und geschichtlichen Perspektiven, wissenschaftlich fundiert, sprachlich versiert und doch alles andere als sedativierend. Die Menschheit habe sich, so eine der Hauptthesen des Buches, inzwischen aus dem bittersten Elend befreit. Sie sei dabei, sich eine neue Agenda zu setzen. Sie wolle nicht mehr nur Elend verhindern, sondern das Glück für alle schaffen. Sie strebe danach, „Menschen in Götter zu verwandeln und aus dem Homo sapiens den Homo deus zu machen.“1 Der erste Teil des Buches schildert in zahlreichen Geschichten mit Fakten und Zahlen, wie der Mensch, dieser im Vergleich zu anderen Lebewesen körperlich schwache und höchst fragile Organismus, es überhaupt schaffen konnte, sich gegenüber allen anderen durchzusetzen und die Welt zu verändern. Er konnte sich durchsetzen, weil nur er „ein intersubjektives Sinngeflecht erzeugen“ könne. Diese Kompetenz sei es, was auf der Sachebene den Menschen vom Tier unterscheide. „Eine Katze, die vor einem Mauseloch wartet, mag die Maus nicht sehen, kann sich aber sehr gut vorstellen, wie die Maus aussieht und sogar wie sie schmeckt. Doch soweit wir wissen, können sich Katzen nur Dinge vorstellen“, die sie gesehen haben. „Dinge, die sie nie gesehen oder gerochen oder geschmeckt haben, können sie sich nicht vorstellen – also den US-Dollar, das Unternehmen Google oder die Europäische Union.“2 Nur der Mensch könne das. Im weiteren Verlauf des Buches wird in die Gegenwart und in die Zukunft geschaut. Entwicklungen und Trends werden ausgemacht bzw. im Blick auf die 1
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Harari, Yuval Noah, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Wirthsohn, München 132018, 34; dazu meine Rezension Gerwing, Manfred, Homo Deus, in: Diakonia 49 (2018), 140-142. Harari (wie Anm. 1), 207.
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nächsten hundert Jahre hochgerechnet. Dabei zeigt sich ein Menschenverständnis, das von der Normativität des Faktischen bzw. des vermeintlich Faktischen, weil hochgerechneten Zukünftigen ausgeht. Zwei Momente seien zu beobachten, die sich im Laufe der Menschheitsentwicklung immer mehr aufeinander zubewegten und sich schließlich immer mehr zu einer Synthese vermengten: Die Bereitschaft, Fähigkeit und Willigkeit des Menschen, intersubjektive Sinngeflechte zu generieren und sich und die ganze Gesellschaft immer mehr nach der Art eines Algorithmus zu organisieren. Dabei verschwindet nicht nur in praxi die Grenze zwischen Mensch und Tier, sondern auch die Grenze zwischen Mensch und Maschine. Sie verschwindet, weil der Mensch, einmal das algorithmische Erfolgsrezept gefunden, sich immer mehr zu optimieren wünsche, bis hin zur absoluten Perfektion. So meint er z. B., unsterblich werden zu können, d. h. den Tod durch Einpflanzung von Maschinen und künstlichen Ersatzteilen so lange hinauszögern zu können, wie es ihm beliebt. Im Jahr 2045 könnte es schließlich so weit sein. Dann gebe es ein Leben ohne Tod. Transhumanismus, Posthumanismus, Superbiologie liefern die Stichworte. Wer das Buch liest, erkennt, wie notwendig es ist, immer wieder neu über das Leben und das menschliche Zusammenleben auf unserem Planeten nachzudenken. Was ist der Mensch? Ist er wirklich nur Algorithmus? Was soll der Mensch wollen, wonach soll er streben? Muss er sich nicht bescheiden, von seinen Allmachtsplänen abrücken und Gelassenheit üben, auch und gerade der Technik gegenüber? 3 Das christliche Menschenverständnis vermag bei der Beantwortung der hier nur angedeuteten Fragen Orientierung zu bieten. Selbst „religiös unmusikalische“ Denker wie Jürgen Habermas, Peter Sloterdijk und Norbert Bolz fordern ja seit langem intensiv geführte Transformationsprozesse, in denen sich z. B. die jüdischchristliche Rede von „der Gottebenbildlichkeit des Menschen in die gleiche und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen“ verdichte. 4 Nicht von ungefähr soll also im Folgenden auf die theologische Anthropologie des Nikolaus von Kues (1401-1464) und damit auf einen christlichen Denker verwiesen werden, der sich zu Beginn der Neuzeit nicht nur durch „religiöse und kulturelle Vielfalt“, sondern durch diverse Krisenphänomene in Gesellschaft und Kirche herausgefordert sah. 5 Sein Denken ist von Pluralität und Rationalität geprägt. Seine Vision vom Menschen gibt gerade auf dem Hintergrund der angedeuteten Prognosen zu denken. 6 3 4
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Vgl. Sloterdijk, Peter, Nach Gott, Berlin 2018, bes. 300-331. Habermas, Jürgen, Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates. Stellungnahme, in: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 34 (2004), 2-4, hier 4; vgl. auch Bolz, Norbert, Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen, München 2008, 49. Vgl. Möde, Erwin, Cusanus als universeller Denker spiritueller Theologie, in: Spiritualität. Neue Ansätze im Licht der Philosophie und Theologie des Nikolaus von Kues, hrsg. von Erwin Möde, Regensburg 2017, 95f. Vgl. dazu die sorgfältige Studie von Riedenauer, Markus, Pluralität und Rationalität. Die Herausforderung der Vernunft durch religiöse und kulturelle Vielfalt nach Nikolaus Cusanus, Stuttgart 2007, bes. 221-329.
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*** Das cusanische Konzept vom Menschen rekurriert auf die in der scholastischen Tradition viel beachtete Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Dieser Rekurs aber geschieht in denkbar unscholastischer Weise. Seine Schrift De visione Dei, auf die ich mich bei der Skizzierung des hier zur Rede stehenden anthropologischen Konzepts vornehmlich stütze, gibt ein gutes Beispiel dafür.7 Cusanus hat nie „weniger ‚scholastisch‘ geschrieben“8 als in dieser 1453 verfassten Schrift. 9 Dabei handelt es sich durchaus nicht nur um eine Frage des Stils und des Tons. Vielmehr geht es um eine inhaltliche Bestimmung, die aber, was in der Forschung oft übersehen wird, von seinem Spätwerk De apice theoriae her interpretiert werden muss.10 Jedenfalls ist Cusanus davon überzeugt: Der Mensch ist ein Sinnenwesen, er braucht zum Denken und für das Denken die konkrete Vorstellung, die auch sinnenhafte repräsentatio.11 Er benötigt das Bild; mehr noch: der Mensch selbst ist Bild, Bild Gottes, der in Jesus Christus, dem wahren Bild Gottes, auf uns zugekommen ist.12 Insofern ist der Mensch, genau genommen, Bild des Bildes Gottes, Bild Jesu Christi. In De visione Dei geht es Cusanus darum, im Blick auf den allsehenden Blick Christi zu erkennen, wie der unsichtbare Gott doch sichtbar ist; und zwar im Blick auf all das, was vom allsehenden Blick angesehen wird, vor allem aber im Blick auf den, der um den Blick des allsehenden Blicks ebenso weiß wie vom erwidernden Blick des Angeblickten, vor allem also im Blick auf den Menschen. Cusanus besteht darauf, dass die Frage nach dem Menschen, geschaffen nach dem Bild
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Das komplex-komplizierte Menschenverständnis des Nikolaus von Kues kann hier nicht in seiner Gänze vorgestellt werden. Es kann lediglich unter der selektiven Fragestellung nach einer zeitgemäßen Anthropologie zu Wort kommen. Vgl. Gerwing, Manfred, „Multas autem figuras facit“. Zum Menschenverständnis des Nikolaus von Kues, in: Glaube in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von dems., Münster 2015, 187-205. 8 Flasch, Kurt, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesung zur Einführung in seine Philosophie, Frankfurt a. M. 22001, 386. 9 Nikolaus von Kues, De visione Dei. Ediert von Adelaida D. Riemann, Hamburg 2000 (= Opera omnia, iussa et auctoritate academiae litterarum Heidelbergensis ad codicum fidem edita. VI). Deutsche Übersetzung von Helmut Pfeiffer, Trier 1985 (= Nikolaus von Kues. Textauswahl in deutscher Übersetzung Bd. 3: De visione Dei. Das Sehen Gottes). 10 Nikolaus von Kues, De apice theoriae 16, 1-13 (28). Zitiert wird aus der Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt: Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Werke. Lateinisch-deutsch. Bd. 4. Mit einer Einleitung von Karl Bormann, Hamburg 2002. Der lateinische Text ist der kritischen Edition der Heidelberger Ausgabe Nicolai de Cusa omnia opera entnommen. 11 Vorstellung und Denken sind nicht identisch, aber wo eine Erfahrung ausfällt, kommt eine Erkenntnis zu kurz, vgl. Aristoteles, Analytik II, I c. 18, 81a 38f. 12 Casarella, Peter, Selbstgestaltung des Menschen nach Nikolaus von Kues und modernes Verständnis des Menschen: Aufgezeigt an Hans-Georg Gadamer, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 31 (2006), 29-52, hier 48.
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Gottes (vgl. Gen 1,26), auf Gott verweist und ebenso wenig trivial selbstverständlich ist wie die christliche Botschaft mit ihrer Gottesrede. 13 Die kusanische Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen kommt nicht scholastisch daher. Sie kommt aber erst recht nicht neuscholastisch zu Wort: Während die neuscholastische Rede von der so genannten „natürlichen Gottebenbildlichkeit“, die in der menschlichen Geistseele verortet wird, geradezu ein „Schulbeispiel“ darstellt, für das „Denken in zweierlei Ordnungen“, darf Cusanus als Paradigma des Zusammenfalls und Zusammenhangs des einen, wenngleich in sich differenzierten ordo gesehen werden.14 Um es noch deutlicher zu sagen: Cusanus vermeidet – und zwar bereits vom Ansatz her – genau das, was die neuscholastische Theologie kennzeichnet und bedauerlicherweise in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils nachwirkt, sofern sie vom Menschen spricht: das Trennungsdenken oder auch das „Denken in zwei Stockwerken“. Hier rächt sich die „Auslassung der Christologie aus der Lehre von der Gottebenbildlichkeit“.15 Es wird versucht, „an die christliche Anthropologie von außen heranzuführen und die Glaubensaussage von Christus dabei allmählich zugänglich zu machen.“ Dieser Versuch aber hat „zu der falschen Konsequenz verleitet, das Eigentliche des christlichen Glaubens als das vermeintlich weniger Dialogfähige vorderhand beiseite zu lassen.“16 Die anthropologischen Aussagen der Pastoralkonstitution tragen in Denk- und Lehrform das Signum neuscholastischer Theologie an sich. Diese Theologie „schied Glauben und Wissen, Philosophie und Theologie und begründete die Trennung damit, dass sie die natürliche Gotteserkenntnis von der Glaubenserkenntnis absonderte und den Menschen in den zwei verschiedenen Ordnungen der Natur und Übernatur betrachtete. In der natürlichen Ordnung versteht sich der Mensch aus sich selbst und in den Kategorien, die er an sich selbst entdeckt oder von der Gesellschaft her gewinnt.“17 Anders die differenzierende Scholastik. Sie sprach zwar ebenfalls von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in naturalibus, trennte diese aber keineswegs von der übernatürlich-christologischen Ebenbildlichkeit, noch sprach sie im Blick auf den Menschen von zwei verschiedenen Ordnungen. Im Gegenteil: Die Schule sah die Würde des Menschen gerade darin zum Zuge kommen, dass das gottgeschaffene, d. h. gottgegebene und gottgehaltene, mit einem Wort: das kreatianische Sein 13
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Schwaetzer, Harald, „Semen universale“. Die Anthropologie bei Nikolaus von Kues und Giovanni Pico della Mirandola, in: Nicolaus Cusanus zwischen Deutschland und Italien, hrsg. von Martin Thurner, Berlin 2002, 555-576 (= Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes Bd. 48). Riedenauer (wie Anm. 6), 333-393. Ratzinger, Joseph, Kommentar des ersten Kapitels des ersten Teils der Pastoralkonstitution Gaudium et spes, in: LThK2 XIV: Das Zweite Vatikanische Konzil III, 313-354, hier 331. Ebd. Gerwing, Manfred, Zur Würde der menschlichen Person im Zeugnis der Pastoralkonstitution Gaudium et spes, in: Weltoffen aus Treue. Studientag zum Zweiten Vatikanischen Konzil, hrsg. von Christoph Böttigheimer und Erich Naab, St. Ottilien 2009, 51-74, hier 57f (= Extemporalia Bd. 22).
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des Menschen in Jesus Christus erneuert und vollendet wird. Dieses in Christus erneuerte kreatianische Sein des Menschen bestimmt sodann sein spezifisches Sollen: In der Nachfolge Christi schreitet der Mensch auf ein und demselben Weg voran: von der Gottebenbildlichkeit, imago, zur Gottähnlichkeit, similitudo.18 Die mittelalterlichen Theologen rekurrierten dabei auf die Kirchenväter, die Gen 1,26 – „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich“ – in der Septuaginta lasen: „Lasst uns Menschen machen nach unserem Bild und unserer Ähnlichkeit“.19 Besonders durch das eingeschobene „Und“ zwischen „Bild“ und „Ähnlichkeit“ sahen sie sich veranlasst, einerseits zwischen imago und similitudo zu differenzieren, andererseits die Identität des Subjekts und des Prozesses nicht aufzugeben. Die Bedeutung dieser Differenzierungs- und Reflexionsgeschichte für die Theologische Anthropologie kann kaum hoch genug geschätzt werden. Sie liegt darin, dass „sie den dynamischen Charakter des menschlichen Seins begrifflich fassbar macht.“ Außerdem erlaubt es diese Differenzierung, „den Verlust der Gottesbeziehung durch die Sünde auszusagen und zugleich die bleibende geschöpfliche Hinordnung des Menschen auf Gott festzuhalten.“ 20 Die Dynamik aber, die in der Bestimmung des Menschen zum Bild Gottes liegt, wird in der mittelalterlichen Anthropologie, die Cusanus bei aller notwendigen Unterscheidung der theologischen Positionen rezipiert, wenngleich in völlig unscholastischer Weise, vor allem mittels der begrifflichen Differenzierung zwischen dem natürlichen, gnadenhaften und eschatologischen Bild Gottes disputiert und artikuliert.21 So greift etwa Bonaventura (1221–1274) auf das Bild von der Stufenleiter zurück, wenn es darum geht, den Weg des Menschen in Orientierung an Augustinus (354–430) als Itinerarium mentis in deum zu beschreiben. Er vermag dabei, fasziniert vom Weg des heiligen Franz von Assisi, die Verwirklichung des Menschen als des Bildes Gottes nach den drei Stadien von creatio, gratia und gloria meisterhaft zu Wort zu bringen. 22 Dieser Fortschritt des Menschen ist eine beständige Bekehrung zum Ursprung, der in Gott liegt, ja Gott selbst ist. Sie ist gnadenhafte Hinkehr zu Christus und fordert die Freiheit des Menschen heraus. Sie
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Hödl, Ludwig, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen und der sakramentale Charakter des Christen, in: Welt-Wissen und Gottes-Glaube in Geschichte und Gegenwart. FS für Ludwig Hödl, hrsg. von Manfred Gerwing, St. Ottilien 1990, 191-211, hier 202ff. Die traditionelle Differenzierung zwischen natürlicher Ebenbildlichkeit und gnadenhafter Gottähnlichkeit fand ebenfalls in Gen 1,26 ihren Anhalt: „Faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram.“ Dirscherl, Erwin, Grundriss theologischer Anthropologie. Die Entschiedenheit des Menschen angesichts des Anderen, Regensburg 2006, 113f. Langemeyer, Georg, Die theologische Anthropologie, in: Glaubenszugänge. Lehrbuch der Katholischen Dogmatik, Bd. 1, hrsg. von Wolfgang Beinert, Paderborn / München / Wien / Zürich 1995, 499-622, hier 540. Vgl. Kny, Christian, Kreative, asymptotische Assimilation. Menschliche Erkenntnis bei Nikolaus Cusanus, Münster 2018, 57-72 (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. NF Bd. 84). Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum IV, 1-8 (übers. und erl. von Marianne Schlosser), Münster 2004, 66-78.
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ist keineswegs ein notwendiger Prozess, sondern verlangt „spirituelles Training“, exercitia, Erziehung zur Selbsterziehung, mit einem Wort: Bildung. 23 Nikolaus von Kues spricht von der viva imago Dei, von dem dynamischlebendigen Bild Gottes, das der Mensch darstellt. Diese Lebendigkeit besteht nicht nur darin, dass der Mensch sich selbst zu sehen vermag, besteht also nicht nur in der Kompetenz zur Selbstreflexion, sondern vor allem darin, dass er, der Mensch, sich auf den hin, der ihn geschaffen hat, also auf seinen Bildner, auf Gott hin, entwerfen, umkehren und entwickeln kann. „So also wie unsere geistige Natur durch Gleichgestaltung zum Urbilde sich gottförmiger machen kann, so wird sie auch durch die Verunstaltung missgestalteter. Je mehr nun das lebendige Bild sich dem göttlichen Leben nähert, umso mehr lebt es und ist es freudig. Je mehr es aber vom göttlichen Leben abweicht und sich dem tierischen Leben vermischt, umso ähnlicher wird es dem Tode und Vergehen.“24 Nikolaus von Kues betont den dynamischen Charakter des Menschen. Es ist eine ständige Bekehrung zum Ursprung. Löst der Blick des Menschen sich allerdings von Gott, seinem Ursprung, so verfehlt er seine Bestimmung. Einzig im Sehen Gottes, der sich im Blick Christi zeigt, gerät der Mensch in Form, gewinnt er Gestalt und findet er seine übernatürliche Erfüllung. 25 *** Die Grundfrage, die in De visione Dei zu beantworten versucht wird, lautet: Wie kann der Mensch mit jener Wirklichkeit in Beziehung treten, die „alle Gott nennen“?26 Es geht Nikolaus von Kues nicht allein um Gott, sondern auch um den Menschen. Ihn, den Menschen, gilt es, „auf menschliche Weise“, d. h. auf jene Weise, die dem Menschen, wie Nikolaus ausführt, von Gott gewährt wird, zum Göttlichen hin zu erheben und „dabei wie in einer ganz köstlichen Probe jenes Mahl der ewigen Glückseligkeit vorauszuverkosten, praegustare, zu dem wir berufen sind im ‚Wort des Lebens‘ (1 Joh 1,1) durch das Evangelium Christi“.27 Nikolaus fordert sodann die Adressaten seiner Schrift, die Tegernseer Mönche, auf, ein bestimmtes Bild zu betrachten. Das Bild, ein kleines Tafelgemälde, zeigt Christus als einen „Alles-Sehenden, dessen Angesicht durch feinste Malkunst den
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Vgl. Sloterdijk, Peter, „Du musst dein Leben ändern“. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009, 428-449. Nikolaus von Kues, Brief an Albergati, CT IV, 3, p. 29, 31; zitiert auch bei Schwaetzer (wie Anm. 13), 555, der hierin eine Identität zum Menschenverständnis des Giovanni Pico della Mirandolla entdeckt. Riedenauer (wie Anm. 6), 308-315. „…quam omnes Deum nominant.“ Thomas von Aquin, Sth I, q. 2, a. 3. Nikolaus von Kues, De visione Dei 1 (wie Anm. 9); Kremer, Klaus, Praegustatio naturalis sapientiae. Gott suchen mit Nikolaus von Kues, Münster 2004, bes. 273-318; dass Cusanus im Rückgriff auf Bild, Symbol und Zahlenspiel bestimmte Denkstrukturen artikuliert, weist Platzer in ihrer Arbeit instruktiv nach; Platzer, Katrin, symbolica venatio und scientia aenigmatica. Eine Strukturanalyse der Symbolsprache bei Nikolaus von Kues, Frankfurt a. M. 2001.
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Eindruck erweckt, als ob es gleichsam alles ringsum betrachtet.“ 28 Dieses Bild nennt Cusanus „Ikone Gottes“, eicona Dei. Die Mönche sollen es „irgendwo, etwa an der nördlichen Wand“ befestigen, sich sodann um die Ikone herumstellen und sie, „nicht weit von ihr entfernt“,29 anschauen. Und was wird geschehen? Nikolaus sagt es ihnen voraus: „dem Bruder, der im Osten stehen wird, wird es scheinen, als blicke dieses Gesicht nach Osten, und dem Bruder, der im Süden steht, dass es nach Süden, und dem im Westen, dass es nach Westen blicke.“30 Und die Reaktion der Brüder? Nikolaus erwähnt sie ausdrücklich: Sie staunen darüber, „wie es möglich ist, dass die Ikone zugleich alle und jeden einzelnen anblickt.“ 31 Doch damit nicht genug. Geht nämlich „der Bruder, der im Osten stand, nach Westen“, so wird er „erfahren, dass der Blick so auf ihn im Westen gerichtet ist, wie vorher im Osten. Und da er weiß, dass die Ikone befestigt und nicht verändert worden ist, wird er über die Änderung des unveränderten Blickes staunen.“ 32 Dieses abermalige Staunen jedoch wird abgelöst durch eine weitere Entdeckung: Die Änderung des unveränderten Blicks geschieht als Veränderung, d. h. im Vollzug eines Prozesses, dessen Tempo der sich bewegende und dadurch seinen Ort verändernde Betrachter des Bildes bestimmt. „Und geht er, den Blick immer auf die Ikone heftend, von Westen nach Osten, so wird er erfahren, dass der Blick, visus, der Ikone immerzu mit ihm weitergeht.“33 Der Blick wird ihn, wo und wie auch immer er sich bewegt, nicht verlassen. Auch diese Entdeckung löst Staunen aus; jetzt aber wird darüber gestaunt, wie sich der Alles-Sehende „auf unbewegliche Weise bewegt.“34 Doch auch dieses Staunen ist nur Impulsgeber für neues Fragen und Forschen: „Und wenn einer […], während er sich von Westen nach Osten begibt, einen Mitbruder unter Hinschauen auf die Ikone von Osten nach Westen gehen heißt und er den Entgegenkommenden fragt, ob der Blick der Ikone sich jeweils mit ihm umkehre, und wenn er hört, dass er sich ebenfalls in entgegengesetzter Richtung bewegt, wird er ihm glauben müssen.“35
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Nikolaus von Kues, De visione Dei 2 (wie Anm. 9); eine „derartige Ikone hatte der Kardinal in der Kapelle seiner Stiftskurie zu Koblenz vor Augen (s. MFCG 2, 25). Den Tegernseern Benediktinern ließ er eine Kopie davon malen […]. Die Ikone und die Kopie sind freilich nicht mehr auffindbar. Doch das Christusbild, das spätestens 1458 in einen Schlussstein im Kreuzgang des Kueser St. Nikolaus-Hospitals vor dem Refektorium eingemeißelt wurde, sollte vermutlich an die Ikone zu Koblenz erinnern und vielleicht auch auf die Bedeutung des Bildes in De visione Dei hinweisen.“ Haubst, Rudolf, Vorwort zur deutschen Übersetzung von Helmut Pfeiffer, Trier 1985, 3; vgl. auch Cuozzo, Gianluca, Bild, visio und Perspektive. Cusanus und L. B. Alberti, in: Bocken, Inigo / Reinhardt, Klaus (Hgg.), Spiegel und Portrait. Zur Bedeutung zweier zentraler Bilder im Denken des Nikolaus Cusanus, Maastricht 2005, 177-196. Nikolaus von Kues, De visione Dei 2 (wie Anm. 9). Ebd., 3. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Die Reflexion dieses Experiments mit dem Bild lässt erkennen: Der Mensch ist stets und überall im Blick Gottes. Der Mensch ist ein von Gott angesehenes Wesen. Von Gott angesehen wird der einzelne Mensch, aber auch alle anderen Menschen, die Menschheit insgesamt wie jeder einzelne von ihnen zugleich. Der Blick verlässt niemanden; im Gegenteil: Es zeigt sich, dass dieser Blick „so aufmerksam für einen jeden Sorge trägt, als ob er sich allein um den, der erfährt, dass er angeschaut wird, und um keinen anderen kümmere, und zwar so sehr, dass auch von keinem, den er anblickt, begriffen werden kann, dieser trage auch für einen anderen Sorge.“36 Mehr noch: Es ist per experimentum „zu sehen, dass dieser so die aufmerksamste Fürsorge gegenüber dem geringsten Geschöpf hegt, als sei es das größte und das gesamte Weltall.“37 Sodann beginnt Cusanus, ausgehend von diesem „Experiment“ mit dem Bild, über Gott und den Menschen und das Verhältnis beider zueinander zu meditieren und zu reflektieren; und zwar auf höchstem intellektuellem Niveau. 38 Ohne einer denkfeindlichen Anschaulichkeit auf den Leim zu gehen, wagt er die Transformation durch Aufweis des Zusammenhangs, der „Vernetzung“, ja, des „Zusammenfalls der Gegensätze“, coincidentia oppositorum, von Abstraktion und Konkretion, von Natürlichkeit und Übernatürlichkeit, von schöpfungs- und heilsgeschichtlichem Gott-Ebenbild-Sein des Menschen.39 Der Zusammenfall der Gegensätze findet statt in Gott. Ja, Gott selbst ist diese Koinzidenz. Da der Mensch Abbild Gottes ist, wird diese coincidentia oppositorum sogleich auf den Menschen übertragen. „Der ist wahrhaft groß, der in sich klein ist“ (vere magnus est, qui in se parvus est),40 so heißt es in der vielfach unter dem Namen des Thomas von Kempen verfassten „Nachfolge Christi“.41 Das Werk ist die literarische Frucht der Devotio moderna, einer kirchlichen Erneuerungsbewegung von europäischem Format. 42 Hier wird eine Spiritualität gefordert, die, ebenso strukturell gesichert wie systematisch reflektiert, klar und eindeutig, gleichzeitig aber auch von religiöser Tiefe und 36
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Ebd., 4. Der Mensch steht damit im liebend vor- und fürsorgenden Blick Gottes, einem Blick, dem der Mensch in Freiheit zu antworten hat; vgl. Kremer, Klaus, Gottes Vorsehung und die menschliche Freiheit, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 18 (1989), 227252. Nikolaus von Kues, De visione Dei 4 (wie Anm. 9). Immer wieder kommt Cusanus auf das Bild zurück; Dupré, Wilhelm, Das Bild und die Wahrheit, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 18 (1989), 125-166; Eisenkopf, Anke, Das Bild des Bildes. Zum Begriff des toten und lebendigen Bildes in Idiota de mente, in: Bocken / Reinhardt (wie Anm. 28), 49-74. Nikolaus von Kues, De visione Dei 9, 32-37 (wie Anm. 9); Leinkauf, Thomas, Nicolaus Cusanus: eine Einführung, Münster 2006, 182-193. Kempen, Thomas von, De imitatione Christi. Libri quatuor, hrsg. von Tiburzio Lupo, Vatikanstadt 1982, hier I, 3 (= Storia e attualità 6). Gerwing, Manfred, Imitatio Christi, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, hrsg. von Robert-Henri Bautier u. a., Stuttgart / Weimar 1999 (Studienausgabe), 386f. Dazu Gerwing, Manfred, Devotio moderna oder: Zur Spiritualität des Spätmittelalters, in: „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, hrsg. von Jan A. Aertsen und Martin Pickavé Berlin / New York 2004, 594-615 (= Miscellanea Mediaevalia. Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln 31).
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pragmatischer Konsequenz ist. Sie zielt ab auf „Schauen“ und „Wirken“, contemplatio et actio. Die dabei angestrebte Koinzidenz aber wird nicht theoretischtheologisch begründet, sondern praktisch gelebt. Klein ist der, der „den Großen und Einzigen in sich aufnimmt und, auf seinen Eigenwillen verzichtend, den Willen Gottes tut.“43 In seiner Koinzidenzkonzeption sucht Cusanus diesen Zusammenfall des Größten mit dem Kleinsten theologisch zu fundieren. Dabei geht er von der allumfassenden Einheit aus, die der dreifaltige Gott selbst ist. Aus dieser Einheit lebt der Mensch. Immer wieder weist Nikolaus von Kues darauf hin, dass wir in unserem Denken und Handeln Einheit voraussetzen. 44 Dieses Eine ist allumfassend. Es steht nicht im Gegensatz zum Vielen. Es darf nicht in eine Reihe mit dem Vielen gestellt und somit endlich gedacht werden, sonst wäre das Eine und das Viele zusammen mehr als das Eine. Das Eine, das Cusanus anzielt, ist aber der eine Gott, über den, wie Nikolaus mit Anselm von Canterbury formuliert, nicht nur nichts Größeres gedacht werden könne, sondern der auch größer sei als all unser Denken. 45 Gott ist ein und alles, er ist alles in allem, das umfassende Eine, das Eine in allem. Bei der Frage, was diese Erkenntnis Gottes für den Menschen besagt, betont Nikolaus von Kues die Fähigkeit des Menschen zu staunen. Dreimal kommt Nikolaus von Kues auf dieses Staunen des Menschen sogleich zu Beginn des beschriebenen Sehprozesses zu sprechen. Das Staunenkönnen gehört ihm offensichtlich zu den höchsten Möglichkeiten der menschlichen Natur. 46 Die Tatsache, dass der Mensch zu staunen vermag, ist ihm Hinweis darauf, dass der Mensch hingeordnet ist auf die Erkenntnis des absoluten Weltgrundes. Er bestätigt damit das, was bereits Thomas von Aquin betonte: Das erste Erstaunen eröffnet einen Weg, an dessen Zielgeraden die visio beatifica steht, das stets beglückende Gewahren des letzten, unauslotbaren Grundes von allem: Der Mensch, ein Wesen, das aus dem Staunen nicht mehr herauskommt47 und dessen Verstand gerade so zur Vernunft kommt.48 43
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Kempen (wie Anm. 40), I, 3; Gerwing, Manfred, Thomas (Hemerken) a Kempis, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, hrsg. von Norbert Angermann u. a., Stuttgart / Weimar 1999 (Studienausgabe), 720. Beierwaltes, Werner, Nicolaus Cusanus. Innovation durch Einsicht aus der Überlieferung – paradigmatisch gezeigt an seinem Denken des Einen, in: „Herbst des Mittelalters“?, 2004, 351-370, hier 363f. Nikolaus von Kues, De visione Dei 1, 5 (wie Anm. 9); Anselm von Canterbury, Proslogion 2 sowie vor allem (!) Proslogion 15; Cuozzo, Gianluca, Anselm und Cusanus. Prolegomena zu einem Strukturvergleich ihres Denkens, in: Analecta Anselmiana 3 (1972), 112-140. Instruktiv zum „Naturverständnis“ generell Leinkauf, Thomas, Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Einleitung, in: Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Thomas Leinkauf unter Mitwirkung von Karin Hartbecke, Tübingen 2005, 1-19. Thomas von Aquin, Pol. 6,2; Sth I, II, 32.8: „Omnia admirabilia sunt delectabilia“, eine Erkenntnis, die sich u. a. auch auf Aristoteles stützt, Rhetorik I, 11, 11371 a30ff; vgl. Pieper, Josef, Was heißt philosophieren? Vier Vorlesungen, in: ders., Schriften zum Philosophiebegriff, hrsg. von Berthold Wald, Hamburg 1995, 15-70, hier 43-56. Gerade in „De visione Dei“ macht Nikolaus von Kues deutlich, dass die ratio in der Vernunft, intellectus, gründet und zugleich, die Koinzidenz denkend, in dieser in Form gerät.
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Doch das Staunen hat einen Grund. Es ist nicht das Erste. Es ist Folge von etwas. Es ist etwas Sekundäres. Dieses ist zwar auch wiederum Ursache von etwas, es bleibt aber gegenüber dem Ersten Zweites, auch wenn es als Zweites wiederum Ursache und damit Erstes für Anderes ist. Es zeigt sich im zur Debatte stehenden Experiment mit dem Bild das besondere Verständnis des Sehens Gottes. 49 Der Genitiv „Gottes“ kommt dabei zunächst als Genitivus subiectivus zu Geltung. Der Blick der „Ikone Gottes“ ist ein gemalter Blick. Aber er verweist auf das Sehen Gottes, genauer noch auf die Wahrheit, dass Gott in Christus den Menschen ansieht; und zwar in göttlicher, d. h. vollkommener und unüberbietbarer Weise.50 Und in der Tat kommt hier – gerade im Blick auf den Menschen – etwas zu Wort, was auch beim theologischen Nachdenken über den Menschen oft übersehen, aber schon in den alt- und neutestamentlichen Zeugnissen von der Gottebenbildlichkeit des Menschen deutlich wird. Bereits auf den ersten Seiten der Bibel – in Gen 1,26 – zeigt es sich, dass es nicht um eine satzhafte, definitive Wesensaussage des Menschen bzw. der menschlichen Geistnatur geht, sondern – im Blick auf den Menschen – um das Handeln Gottes: „Und Gott sprach: ‚Lasst uns den Menschen machen‘“. Am Anfang steht das Handeln Gottes. Dieses schöpferische Handeln Gottes in der Urgeschichte bildet die eigentliche „Definition“ des Menschen. Es ist ein Handeln Gottes, das nicht nur den Menschen „am Anfang“ erschafft, sondern das sich bleibend dem Menschen zuwendet. Nikolaus von Kues sieht diese Zuwendung Gottes zum Menschen im aktiven Sehen Gottes (Genitivus subiectivus) ausgedrückt und lässt sie zur komplex-komplizierten Geschichte der Zuwendung Gottes zum Menschen werden; und zwar dadurch, dass er das Sehen Gottes auch als Genitivus obiectivus geltend macht: der Mensch sieht Gott. Er sieht Gott in seiner uns zugewandten Ikone, d. h. er sieht Gott in Christus. Weil der Mensch zuerst von Gott in Christus gesehen wird und also ein ursprünglich und bleibend von Gott in Christus Angesehener ist, vermag er, der Mensch, auch Gott im Blick auf Christus zu sehen: Gottes Sehen (Genitivus subiectivus) ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass der Mensch Gott sieht.51 49
Vgl. Beierwaltes, Werner, Visio absoluta oder absolute Reflexion, in: Platonismus und Idealismus, hrsg. von Werner Beierwaltes, Frankfurt a. M. 1972, 144-175; ders., Visio absoluta. Reflexion als Grundzug des göttlichen Prinzips bei Nicolaus Cusanus, Heidelberg 1978 (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philos.-histor. Kl. 1978/1). 50 Nikolaus von Kues, De visione Dei 1, 5 (wie Anm. 9). 51 Ebd., 8, 29: „Nähre mich mit Deinem Blick, Herr, und lehre mich, dass Dein Blick jeden sehenden Blick und alles Sichtbare sieht, jeden Akt des Sehens, jede sehende Kraft und jede sichtbare Kraft und alles Sehen, das aus ihnen entspringt. Denn Dein Sehen ist Bewirken. Du siehst alles, der Du alles bewirkst.“ Ebd., cap. 9, 32: „Voll Bewunderung sehe ich, Herr, weil Du alles und die einzelnen anblickst – wie es auch dieses gemalte Bild darstellt, das ich anschaue –, dass in Deiner Sehkraft das Allgemeine mit dem Einzelnen ineins fällt (coincidit).“ Beierwaltes, Werner, Visio facialis. Sehen ins Angesicht. Zur Coincidenz des endlichen und unendlichen Blicks bei Cusanus, München 1988 (= Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philos.-histor. Kl. 1988/1); zum Begriff „Schöpfung“ und „schöpferisches Handeln“ Riccati, Carlo, „Processio“ et „explicatio“. La doctrine de la création chez Jean Scot et Nicolas de Cues, Napoli 1983.
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Heilsgeschichte ist Geschichte der Zuwendung Gottes zum Menschen. Das sich dank dieses Sehens Gottes ermöglichte Sehen Gottes seitens des Menschen ist eine Geschichte, die sich als Sehen des Sehens Gottes in ihrem kreatianischen Anfang, ihrem heilschaffenden Fortgang und ihrer eschatologischen Vollendung entfaltet. 52 Doch hier gilt es noch ein wenig genauer hinzuschauen und zu fragen: Wie dieses Sehen Gottes durch den Menschen genauer zu denken ist, was das mit dem Menschen selbst zu tun hat und über den Menschen aussagt? Sieht der Mensch Gott? Kann er überhaupt Gott erkennen, also jene Wirklichkeit „sehen“, „die größer ist als all unser Denken“, wie Cusanus doch mit Anselm betont? 53 Bei der Beantwortung dieser Frage muss das berücksichtigt werden, was Cusanus in seiner letzten Schrift De apice theoriae ausführt. In dieser, wenige Wochen vor seinem Tod verfassten Schrift, wird ausdrücklich betont, dass von dem dort Gesagten das in De visione Dei Ausgeführte zu interpretieren sei.54 In der genannten Schrift geht es Nikolaus von Kues um „das Können allen Könnens“, ohne das überhaupt nichts betrachtet zu werden vermag. Dieses Können allen Könnens ist das Können selbst, das posse ipsum. Es bildet den Gipfel des Sehens, die höchste Stufe der Kontemplation, apex theoriae.55 Alles eingeschränkte Können wird erst durch dieses Können ermöglicht. Es bezeichnet „weitaus zutreffender als das ‚Können-Ist‘ oder als irgendeine andere Benennung dasjenige […], ohne das nichts überhaupt sein noch leben noch erkennen kann.“56 Damit entdeckt Nikolaus die Einheit der Realität, ohne freilich die Vielheit zu übersehen. Es ist gerade umgekehrt: In der Vielheit, in der nicht zu überschauenden Pluralität und Individualität kommt die Einheit zur Erscheinung und zeigt sich die Wahrheit: Ursprung von allem ist das posse. Das Verfahren des Cusanus besteht darin, auf das jeweils Vorausgesetzte im konkret Gesetzten und vor Augen Liegenden zu achten. Es geht ihm, wie es bei Platon heißt, um die Erforschung des hypothesis, um zu dem zu gelangen, was keine weiteren Voraussetzungen hat, dem anhypotheton. „Sehen“ bedeutet für Cusanus also auf das Naheliegende, Konkrete, auf das „Dieses-Da“ zu achten, es zu sehen, es zu beachten: nicht zu negieren, sondern liebend zu erkennen, aber zugleich auch in ihm und durch es hindurch auf sein Vorausgesetztes und sein immer schon Geliebtsein zu blicken. Dieses Verfahren nennt Nikolaus resolutio oder auch intuitio57 Es verdeutlicht, dass Liebe im
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Vgl. Riedenauer (wie Anm. 6), 287-330. Nikolaus von Kues, De visione Dei 1, 5 (wie Anm. 9). Nikolaus von Kues, De apice theoriae 16 (wie Anm. 10), 1-13 (28). Ebd., 17, 3-5 (31). Dazu ausführlich Gerwing, Manfred, Was Gott vermag. Vom ‚Können selbst’ nach Nikolaus von Kues oder: Zur Fragwürdigkeit der Theodizeeproblematik, in: Jesus hominis salvator. Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. FS für Bischof Dr. Walter Mixa, hrsg. von Erwin Möde, Stephan E. Müller, Burkard M. Zapff, Regensburg 2006, 135-151, bes. 145-148 (= Eichstätter Studien Bd. 55). 56 Nikolaus von Kues, De apice theoriae 5 (wie Anm. 10), 1-5 (8); Gerwing, Was Gott vermag (wie Anm. 55), 139. 57 Gerwing, Was Gott vermag (wie Anm. 55), 144. Damit wird das Viele aber nicht zum bloßen „Schein“, sondern zur „Erscheinung“, apparitio. Auch das, was im Experiment mit dem Bild stau-
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Erkennen ist. Caritas est in ratione, wie Thomas bereits formulierte.58 Auch für Nikolaus von Kues ist sehen, erkennen und lieben eins. Denn die vernehmende Vernunft ist der teilnehmende Intellekt, der am Wesen der Dinge orientiert ist und gerade so in Form gerät und zur Fülle führt. Der intellectus schafft Beziehung, „Vernetzung“ und Begegnung in der resolutio. Gerade diese resolutio prägt das menschliche Sehen; und zwar radikal, von Grund auf, geradezu instinkthaft. 59 Dabei ist es die mens, der menschliche Geist, der das Können selbst in allen seinen vielfältigen Erscheinungen wahrnimmt und gerade darin seine Vorrangstellung allen sinnlichen Dingen gegenüber erkennt. „Videtur igitur mens se.“ 60 Der Mensch, so formuliert Cusanus, erkennt sich als Leib-Seele-Geist-Einheit und realisiert, dass er in seinem Selbstvollzug die Gegensätze von Geistigem und Körperlichem, von Kosmos und Geschichte einfaltet; und zwar auf denjenigen hin, der der absolute Zusammenfall aller Gegensätze darstellt: auf Gott hin. 61 Mit anderen Worten: der Mensch erkennt, dass er zwar ein Mikrokosmos, aber auch, dass er nicht das Können selbst, nicht das Können allen Könnens ist. „Vieles ist ihm ja nicht möglich.“62 Vergleichbare Überlegungen finden sich auch bei Martin Heidegger; und zwar in seinem berühmten Humanismusbrief. 63 Wir erinnern uns: Im Zuge seiner Reflexion über das Denken des Seins kommt er auf das „Vermögen“ zu sprechen. Der Genitiv im „Denken des Seins“ ist dem Philosophen Genitivus subiectivus wie Genitivus obiectivus. Das Denken ist Denken des Seins und ist des Seins, „insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört.“ 64 Das Denken gehört aber nicht nur dem Sein, sondern es hört, dem Sein gehörend, auch auf das Sein. „Als das hörend dem Sein gehörende ist das Denken, was es nach seiner Wesensherkunft ist.“65 Diese Wesensherkunft des Denkens – vom Sein her und auf das Sein hin –
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nend wahrgenommen wird, wird dadurch nicht etwa als bloßer Schein entlarvt, sondern erfährt durch diese resolutio allererst seine metaphysische Begründung. Thomas von Aquin, Summa theologiae IIa IIae q. 24, a. 1. Nikolaus von Kues, De theologicis complementis 4, 39-42; Gerwing, Was Gott vermag (wie Anm. 55), 145f. Nikolaus von Kues, De apice theoriae 24 (wie Anm. 10), 2 (36); dazu auch Álvarez-Gómez, Mariano, Die Lehre vom menschlichen Geist (intellectus/Vernunft) in den Sermones des Nikolaus von Kues, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 31 (2006), 211-240, hier 220f. Santinello, Giovanni, Das Leib-Seele Verhältnis nach Nikolaus von Kues. Zwischen Platon und Pomponazzi, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 13 (1989), 3-22. Nikolaus von Kues, De apice theoriae 24 (wie Anm. 10), 2-5 (36); Langemeyer (wie Anm. 20), 567; Gerwing, Was Gott vermag (wie Anm. 55), 147. Die Nähe ist von der Sache her zu begründen und darf nicht, wie bei Volkmann-Schluck, in die Sache hineingelegt werden; vgl. Flasch, Kurt, Philosophie hat Geschichte, Bd. 1: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart; Frankfurt a. M. 2003, 85; vgl. Schaeffler, Richard, Frömmigkeit des Denkens? Martin Heidegger und die katholische Theologie, Darmstadt 1978, 132f; auch Ch. Schönborn kommt im Zusammenhang mit Nikolaus von Kues auf Heidegger zu sprechen; Schönborn, Christoph, De docta ignorantia als christozentrischer Entwurf, in: Nikolaus von Kues. Einführung in sein philosophisches Denken, hrsg. von Klaus Jacobi 1979, 138-156, hier 140. Heidegger, Martin, Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1949, 7. Ebd.
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bleibt für das Denken bestimmend: das Denken denkt, indem es sich einer Sache (res) oder einer Person (persona) wesentlich annimmt. Sich jemandem oder einer Sache wesentlich annehmen, heißt, so Heidegger, aber nichts anderes, als sich liebend auf den oder das zu Denkende beziehen, heißt, kurz gesagt, lieben oder mögen. Was zur Rede steht, ist ein Denken, das als ein Lieben und ein Mögen in den Blick kommt. „Dieses Mögen bedeutet, ursprünglicher gedacht: das Wesen schenken. Solches Mögen ist das eigentliche Wesen des Vermögens, das nicht nur dieses oder jenes leisten, sondern etwas in seiner Her-kunft ‚wesen‘, das heißt sein lassen kann.“ Dieses Vermögen ist, wie Heidegger fortfährt, das eigentlich „Mögliche, jenes, dessen Wesen im Mögen beruht.“ 66 Das so verstandene „Vermögen“ ist ihm das Sein, das Denken „ereignet“ oder, wie Heidegger auch formuliert, das Sein, das Denken „vermag“. Gerade darin zeigt sich das Sein: „als das Vermögend-Mögende“, als das „Mögliche“. Allerdings: Das possibile, so sagt Heidegger in fast wörtlicher Entsprechung zu Nikolaus von Kues, ist „nicht das possibile einer nur vorgestellten possibilitas, nicht die potentia als essentia eines actus der existentia, sondern das Sein selbst, das mögend über das Denken und so über das Wesen des Menschen und das heißt über dessen Bezug zum Sein vermag.“67 Heidegger verweist auf den „anfänglichen Bezug des Seins zum Menschenwesen.“ Hier besteht ein wechselseitiger Rapport, auf den auch Nikolaus von Kues aufmerksam macht. Nun sei es aber schon „von weither“ Kennzeichen des „modernen Weltalters“, wie Heidegger betont, dass dieser Bezug des Seins in Vergessenheit geraten sei: zum Schaden für das Denken, vor allem aber zum Nachteil für die Entdeckung des Wesens des Menschen. Das Denken geht zu Ende. Es weicht „aus seinem Element“ und ersetzt „diesen Verlust dadurch, dass es sich als τέχνη, als Instrument der Ausbildung und darum als Schulbetrieb und später als Kulturbetrieb eine Geltung verschafft.“68 Der Mensch wird zum Macher. Er macht sich selbst zum Selbst-Gemachten, zum bestellten „Bestand“, das „auf der Stelle zur Stelle zu stehen“ hat.69 *** Damit knüpfe ich zum Schluss an das einleitend Ausgeführte an. Der Mensch wird zum Macher, zum homo faber. Ja, er ist es schon längst in einem Maße geworden, 66 67
Ebd. Ebd, 8; Meier-Oeser, Stephan, Potentia vs. Possibilitas? Posse!, in: Potentialität und Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik, hrsg. von Thomas Buchheim, Corneille H. Kneepkens und Kuno Lorenz, Stuttgart / Bad Cannstatt 2001, 237-253. 68 Heidegger, Humanismus (wie Anm. 64), 8. 69 Die Schickung, die den Menschen gerade unseres Zeitalters auf diesen Weg des Entbergens schickt, heißt „Ge-stell“. Dieses Geschick stellt den Menschen, fordert ihn heraus, „das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen.“ Was aber sind die „Bestände“? Sie sind die verfügbaren Stoffe und Potentiale, als deren Reservoir – wie die Kohlenberge und die Erzlagerstätte – das Seiende im Ganzen verstanden wird; Heidegger, Martin, Die Frage nach der Technik, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 21959, 13-44, hier 28.
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das, wie Harari feststellt, sich gegen den Menschen selbst wendet: Der Mensch entmachtet sich genau in dem Maße, in dem er sich selbst zu Gott aufzuschwingen sucht. Hararis Prognose vom Homo Deus zeigt es überdeutlich. Die Vision vom Menschen aber, die Nikolaus von Kues vorstellt, vermag Wege aus der Sackgasse zu weisen. Jedenfalls gibt sie zu denken: Erstens: Der Mensch bilde, so Nikolaus, in seinem Weltbezug die Unendlichkeit Gottes ab und vermag kraft seiner Leib-Geist-Seele-Einheit Geistiges und Körperliches zu einem Mikrokosmos einzufalten. 70 Die mens viva zeigt sich als vis creativa, aber eben nicht als das Können selbst, nicht als das Können allen Könnens.71 Der Mensch ist geschaffen nach dem Bild Gottes, aber er ist nicht Gott selbst. Der Mensch vermag nicht alles, und ob er das, was er vermag, auch wirklich mag, ist eine Frage der Freiheit, die sich gerade angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen mit ihrer gefährlichen Verbindung zur globalen Digitalisierung und Algorithmisierung des Menschen stellt. Zweitens: Nikolaus von Kues erinnert im Rekurs auf das christliche Menschenverständnis daran, dass der „wahre Mensch“ gerade nicht der Mensch ist, so wie er ist. Die „Normativität des Faktischen und Hochgerechneten“ vermag keineswegs die Basis einer Verständigung über das Humanum und über den Menschen zu bieten. Der Bezug auf das Wesen des Menschen und auf die Verwirklichungsbedingungen seiner Freiheit dürfen nicht fehlen, einer Freiheit, die zur Umkehr, Veränderung und Erneuerung bewegt. Der dynamische Charakter des menschlichen Seins, begrifflich festgehalten in der Differenzierung von imago und similitudo, erlaubt einerseits, den Verlust der Gottesbeziehung durch die Sünde auszusagen und zugleich die bleibende geschöpfliche Hinordnung des Menschen auf Gott festzuhalten. Darüber hinaus hält Nikolaus von Kues fest, dass die Fehlbarkeit des Menschen beim Gebrauch seiner Freiheit keineswegs allein in der mangelnden „Solidarität mit seinen Mitmenschen“ besteht, sondern zuvor und zunächst in der Selbstverfehlung des Menschen selbst. Drittens: Nikolaus von Kues stellt in De visione Dei die Existenzsituation des Menschen unverkürzt vor Augen. Der Mensch steht im Blick Gottes. Er ist ein von Gott liebend Angesehener. Der Mensch sieht und erkennt ebenfalls. Er ist offen für das Ganze und damit wahrheitsfähig. Ja, das Sehen Gottes erweist sich als die Bedingung der Möglichkeit für das Sehen und Erkennen des Menschen. Sein Verstand kommt zur Vernunft, weil der Geist des Menschen naturhaft, d. h. dank seines von Gott Geschaffenseins offen ist für das Ganze der Wirklichkeit. Harari aber geht in seinem Buch über den Menschen der Zukunft strikt von der sozialen Kon70 71
Zum Einfaltungs-Ausfaltungs-Theorem vgl. Leinkauf, Nicolaus Cusanus (wie Anm. 39), 102-110. Nikolaus von Kues, De coniecturis I, 1. Diese Schrift enthält eine explizite Anthropologie, die es verdiente, auch unter dezidiert theologischer Perspektive analysiert und reflektiert zu werden. Bormann, Karl, Übereinstimmung und Verschiedenheit der Menschen, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 14 (1980), 62-68; Bredow, Berda von, Der Geist als lebendiges Bild Gottes (mens viva imago Dei), in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 13 (1978), 58-67.
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struktion der Wirklichkeit aus. Sie wird zwar stets desaströser und wendet sich schließlich mit dramatischen Folgen gegen den Menschen und die Menschheit selbst. Dennoch wird sie als solche nicht in Frage gestellt. Die Wahrheitsfähigkeit des menschlichen Geistes kommt zum Erliegen. Der erkenntnistheoretische Realismus eines Platon und Aristoteles werden negiert, während der extreme Konstruktivismus als einzige Möglichkeit des Erkennens von Welt entfaltet wird. Da die Selbstüberschreitung des menschlichen Geistes auf Wirklichkeit hin kaum noch wahrgenommen wird, verbleibt alles in den selbstgenügsamen Grenzen eines Konstrukts, das mit Hilfe von Maschinen und Algorithmen zur Perfektion getrieben werden kann, sich aber schließlich selbst destruiert. Die These des Cusaners indes lebt von der Offenheit des menschlichen Geistes für das Ganze der Wirklichkeit. Viertens: Der Mensch ist nicht Gott. Die Stärke des Menschen ist zugleich seine Grenze, seine Begrenzung zugleich seine Stärke. Der Mensch ist Geschöpf Gottes. Er ist ganz und gar von Gott her und auf Gott hin. Nikolaus unterstreicht den Gedanken von der Unauslotbarkeit und Nicht-Definierbarkeit des Menschen, ja der Schöpfungswirklichkeit insgesamt sowie der einzelnen res naturales. Damit ist das christliche Menschenbild keine feststehende, keine statische Größe. Es ist voller Dynamik und Bezogenheit. Cusanus betont: Der Mensch ist von vornherein in der Vielfältigkeit der Dinge und im konkreten Umgang mit den Dingen dieser Welt Gott begegnet. Gott ist ihm alles in allem (vgl. 1 Kor 15,28). Er ist in allen Dingen zu suchen und alles, was ist und wird, ist auf Gott hin auszulegen und in Gott hineinzufalten.72 Fünftens: Nikolaus von Kues erinnert daran, dass jeder Mensch einzigartig sei. Jeder Mensch steht im Blick Gottes so, als ob Gott nur ihn anschaue, nur ihn liebe. Und er darf gewiss sein: Er ist einzigartig, eine absolute Singularität. Er darf aber zugleich darüber staunen und sich daran erfreuen, dass es zahllose Menschen gibt: eine Pluralität in Singularität und eine Singularität in Pluralität. Zum Ich gehört das Du. Sie bilden ein Wir. Jeder einzelne und alle zusammen geben in ihren vielfältigen Verhältnissen, Bezügen und Relationen ein Exempel für die „unendliche Ähnlichkeit der Kraft Gottes“, die „nur in vielen Bildern [...] entfaltet werden kann“: „Multas autem figuras facit, quia virtutis suae infinitae similitudo non potest nisi in multis perfectiori modo explicari.“73 Der einzelne Mensch ist für Nikolaus von Kues deutlicheres Bild Gottes, sofern er in Beziehung zu Gott, zu sich selbst und zu anderen Menschen und zur Schöpfungswirklichkeit steht, ja in Gemeinschaft mit anderen lebt, als wenn er nur für sich allein lebt. Erst im Blick auf andere und in Kommunikation mit anderen vermag der einzelne seine Individualität, seine Singularität und Personalität und darin seine Gottebenbildlichkeit erkennend und liebend auszuprägen. „Alle Menschen sind für jeden einzelnen gut und nützlich. 72
Kremer, Klaus, Gott – in allem alles, in nichts nichts. Bedeutung und Herkunft dieser Lehre des Nikolaus von Kues, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 17 (1986), 188-219; ders., Praegustatio naturalis sapientiae. Gott suchen mit Nikolaus von Kues, Münster 2004, 273-318. 73 Nikolaus von Kues, De visione Dei 25, 117 (wie Anm. 9).
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Wären sie nicht unzählbar, dann könntest Du, unendlicher Gott, nicht auf die bestmögliche Weise erkannt werden. Jeder Mensch sieht in Dir, mein Gott, etwas; würde dies nicht dem anderen enthüllt, so könnten sie Dich, ihren Gott, nicht auf die beste mögliche Weise erkennen. Die von Liebe Erfüllten enthüllen sich gegenseitig ihre Geheimnisse. Damit wird die Erkenntnis des Geliebten [cognitio amati] vergrößert.“74 Mit anderen Worten: Nicht im Geklonten, künstlich Begrenzten, Definierten, Imitierten, Kopierten und maschinell Genormten, sondern gerade in der einmalig einzigartigen Person und Persönlichkeit, im einmalig Geliebten und staunend Liebenden ist die unendliche und alles umgreifende Fülle Gottes (vgl. Joh 10,10) zu erkennen. Auf ihn hin gilt es, sich selbst hin auszufalten und sich so ausfaltend Gott einzufalten. Diese höchstmögliche Einfaltung ist dann erreicht, wenn der Mensch Gott und Gott Mensch ist. Sie wurde, so Nikolaus, ein für alle Mal in Jesus Christus erlangt. „In seiner Vernunft kommt die Vollendung der schaffbaren Natur zur Ruhe. Denn er ist das letzte und vollkommenste und unvermehrbare Bild Gottes. Ein derartiges höchstes Abbild kann es nicht noch einmal geben. Alle anderen vernunfthaften Geister sind Abbilder nur durch die Vermittlung dieses Geistes. Und je vollkommener sie sind, umso mehr sind sie ihm ähnlich.“ 75 Christus ist das eikon Gottes im Menschen: nicht als eine feste und fixierte Gestalt mit bestimmten und normierten Wesensmerkmalen, sondern als ständig fließende Gottesoffenbarung: in der Präsenz Gottes und seiner erkennend-liebenden Zuwendung. Das Sein des Menschen ist Bezogensein auf dieses eikon Gottes, dessen posse ipsum das Maß des menschlichen Mögens ist und sich als Imitatio Christi, die auch die Kreuzesnachfolge nicht ausschließt, erweist. Der Mensch vermag, wie Heidegger betont, das Mögen,76 ohne doch selbst das Mögen zu sein, und gestaltet gerade so – im Vermögen des Mögens – aus den Gegensätzen selbst sich selbst und die Welt. Die Kreativität des Menschen, „der subjektive bestimmende Aspekt der menschlichen Welterkenntnis und Weltgestaltung“ rückt seit Cusanus deutlich „in den Blick einer Theologie der Ebenbildlichkeit“, findet aber auch hier ihre gerade heute bedenkenswerte Grenze.77
74 75 76 77
Ebd. Ebd., 25, 118. Heidegger, Humanismus (wie Anm. 64), 8. Langemeyer (wie Anm. 20), 567.
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Skizze der Anthropologie Romano Guardinis
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz Wo Einer in Christus ist, da ist neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, siehe, neu ist es geworden! 2 Kor 5,171
1. Neuwerden: Sich Christus auftun „Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen.“ So lautete Guardinis Thema auf dem Berliner Katholikentag 1952. Der Satz ist bekannt und (deswegen) überhört. Denn wer kennt Gott? Allerdings tiefer bedacht: Wer könnte einen solchen Satz aussprechen, derart lapidar, ohne in den Radius Gottes gelangt zu sein? Ohne Überhebung und aus Vertrautheit mit dem Werk Guardinis läßt sich sagen, er habe sich und sein Denken beständig „hinübergespannt zu Ihm“. Mehr noch: „Er hat es vielen verschwiegen, wie tief er Gott den Vater angebetet hat, und wie vertraut ihm die Schönheit Christi war“2, bezeugt der Freund Heinrich Kahlefeld. Und wie Vielfalt und Tiefe der Arbeiten Guardinis beweisen, leuchtet in dieser gespannten Haltung Wunderbares und Großes auf. So stellt sich immer wieder die Frage, worin die einzigartige Thematik dieses Werkes besteht, worin seine Grundanschübe liegen, warum es unterschiedlichste Menschen – und in welcher Zahl! – mitnahm, in welchem Ziel es sich bündelt. Der hier unterbreitete Vorschlag lautet: Guardini hat Christus, den Lebendigen, als Kraft des Werdens gedacht und erfahren. Als Kraft des Ur-Anfangs in der Schöpfung, denn der Vater schafft nach dem Credo alles durch den Sohn. Dann aber wird Christus tiefer noch der zweite Anfang der Welt in der Erlösung – denn diese ist „größer als die Schöpfung“: „Und wenn schon das Schaffen, welches 1 2
Übersetzung von Romano Guardini, in: In Spiegel und Gleichnis. Bilder und Gedanken, Mainz 1932, 118. Kahlefeld, Heinrich, Ansprachen am 17.10.1968, 5, und am 6.10.1968, 4, in St. Laurentius München (Archiv Gerl-Falkovitz).
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macht, daß das Nichtseiende werde, ein undurchdringliches Geheimnis ist, so ist allem Menschenblick und Menschenmaß vollends entrückt, was das heißt, daß Gott aus dem Sünder einen Menschen macht, der ohne Schuld dasteht. Es ist ein Schöpfertum aus der reinen Freiheit der Liebe. Ein Tod liegt dazwischen, eine Vernichtung. [...] [Gottes] Unbegreiflichkeit trifft das Herz.“3 Letztlich ist noch ein dritter Anfang angekündigt, in welchem der Menschensohn kommen wird, um eine neue Erde und einen neuen Himmel zu schaffen – apokalyptisch, das heißt: alles aufdeckend. Von diesem zweiten, „dem anderen Anfang“ her skizziert Guardini den „neuen Menschen“, der sich in das zweite Werk Gottes, die Erlösung und Umwandlung der Welt, einsetzen läßt. Das „Werk“ – ein Wort, auf dem die Arbeit von Burg Rothenfels und die lebenslange Ausfaltung der christlichen Existenz fußten, ein Wort, in dessen Bewegtheit und eschatologischen Weitblick Guardini die Jugend und die Hörer in der Universität mitnahm. Auch Adam und Eva waren zum Werk bestimmt, verfehlten es aber; dennoch besteht die Aufgabe fort und muß erschwert fortgeführt werden, allerdings neu ermöglicht in der Initiative Christi. Im Werden liegt Freiheit, in der Freiheit entscheidet sich Schicksal, und Guardini wagte es, vom Schicksal Christi, ja Gottes überhaupt, am Menschen zu sprechen.4 Aber auch vom Schicksal des Menschen an Gott, der sich mit ihm konfrontiert. Daraus erhob sich lebendig die Passion – Leiden und Leidenschaft – Christi, und darin wird auch der Mensch lebendig, der sich in den Lichtraum seiner Initiativen stellt. „Gott ist gar nicht so, daß er eine fertige Wirklichkeit und auszuführende Forderungen entgegenstellt. Sondern er hat die Fülle der fordernden Wirklichkeit und zu erratenden, mit rechter Initiative u. Schöpfersch. zu erfassenden Möglichkeit erzeugt. Die Welt wird tatsächlich so, wie der Mensch sie macht.”5 Vielen gelingt die Zumutung des Neuen nicht, einige aber treten an: „Die Bedeutung der Heiligen […] liegt darin, daß in ihrem Dasein der Vorgang der Neuwerdung, bei uns überall verhüllt und gestört, mit einer besonderen Deutlichkeit, Energie und Verheißungskraft durchdringt.“6 Bis zum letzten unvollendeten Werk „Die Existenz des Christen“7 läuft die Frage mit, zu welcher Umgestaltung denn das christliche Bewußtsein und das christliche Tun herausgefordert und befähigt seien. „Werden“ geschieht bereits im rechten Gebet: „Etwas von Christus zu erkennen oder in der Nähe des Herrn zu weilen, ist in sich schon ein heiliges Geschehen. So oft irgendein Zug seiner heiligen Gestalt lebendig wird, oder ein Wort von Ihm uns berührt, bedeutet schon das ein inneres Werden.“8 3 4 5 6 7 8
Guardini, Romano, Der Herr. Betrachtungen über das Leben und die Person Jesu Christi, Würzburg 1937, 168f. Ebd., 18f. Guardini, Romano, Nietzsche-Entwurf (1930er Jahre; Archiv Mooshausen); die Überschrift über dem Zitat lautet: Initiativisches und Produktives // Ethos und Gotteswirklichkeit. Guardini, Romano, 1945. Worte zur Neuorientierung, Ostfildern 2015, 142. Postum hg. v. Messerschmid, Felix, Paderborn 1970. Guardini, Romano, Vorschule des Betens, Mainz 21948, 172.
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Von dieser Neuwerdung ausgehend ist Guardinis Theologie – anders als bei vielen – nicht zuerst Anthropologie, sondern zuerst Rede vom göttlichen Logos, zuerst Rede von der Initiative Christi, zuerst Rede von seinem sich mitteilenden Werk. Zu Gott hat der Mensch die Knie zu beugen9, um dann in ihm herrlich zu werden. Christus ist die Sichtbarkeit Gottes; weder der Vater noch der Geist sind für uns anschaulich. Aber in Christus kann Gott gesehen werden – und der Mensch begreift sich selbst neu.
2. Die Kraft des Anfangs Aus der Offenbarung steigt ein Unergründliches auf: das Geheimnis des neuen Anfangs, Gott selbst ist Anfang: bereshit und arche, wie die Genesis und der Johannesprolog identisch formulieren. Guardini liebt das Wort Anfang, er verwendet es neunmal in seinen Titeln, prägt es um zu „Anfangskraft“, sogar „Neuheitskraft“10. Anfang ist Ungeheures, Ungeheuerliches, nicht und niemals zu begreifen, „Ur-Sprung“11, „Ur-Neues“12 – grundlos einfachhin da. Alles Grundlose aber ist Geheimnis; auch das Kind gehört in dieses Geheimnis wie die Quelle, wie der Same13, wie alles vorher nicht Dagewesene, das zuerst winzig und plötzlich erscheint und zu einem Großen wird. „Das ist ja doch das Geheimnis des Kindes: Anfangstiefe, Fülle der Zukunft, Gabe und Beginn der Lebensleistung zugleich.“14 Guardinis Hineintasten in diese „Anfangstiefe“ gerät sofort in ein dichtes Netz von gedanklichen Beziehungen: immer mehr Spannungsbögen werden aufeinander durchsichtig. Meisterhaft, mit sicherer Begabung und Zucht des Nach-Denkens entflicht Guardini, was sonst zwar gelebt, aber selten in seiner NichtSelbstverständlichkeit aufgehellt wird. Was ist Anfang? Anfang ist mehr als ein Startpunkt, der sofort verlassen wird. Schon das ist dem alltäglichen Denken nicht selbstverständlich. Und in derselben Gedankenbewegung: Auch das Ende ist nicht einfach Punkt und Abbruch. „Anfangen geht durch sein [des Menschen] ganzes Leben, und das Enden beginnt bereits mit dem ersten Atemzug.“15 Freilich gibt es einen Anfang, der sofort versinkt, wenn er getan ist: Ihn nennen die Lateiner initium, den zeitlichen Start. Aber Guardini hat den „währenden“ Anfang im Auge, den, der sich durchhält: Ihn nennen die Lateiner principium, der alles Kommende beherrscht. „Das Leben entspringt nicht 9 10 11 12 13 14 15
So übersetzt Guardini Eph 3,14, in: ders. (wie Anm. 1), In Spiegel und Gleichnis, 119. Guardini, Romano, Anfangen und Enden, in: Weihnachten und Neues Jahr. Gedanken zur Klärung, Würzburg 1954, 35. Guardini, Romano, “Anfang”. Eine Meditation, Privatdruck München 1962, 5. Guardini, Romano, Der Anfang aller Dinge. Meditationen über Genesis, Kapitel I - III, Würzburg 1961, 123. Guardini, “Anfang” (wie Anm. 11), 4f. Ebd., 5. Guardini, Anfangen und Enden (wie Anm. 10), 30.
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nur in der ersten Stunde, gleichsam ein für allemal, so daß es dann in gerader Richtung weiterginge, sondern es steigt immerfort aus der Tiefe herauf, aus dem Verborgenen ins Offene; aus dem, was noch nicht ist, ins Wirkliche.“16 So vollzieht sich Schöpfung weiterhin; wie der Logos Gott sichtbar macht, macht sie den Logos sichtbar. Dieser „Anfang ist unerschöpflich“17, endlos kraftvoll. Aus seiner Endlosigkeit stammt alles neue Beginnen, seine Kraft macht das Leben möglich.18 Jeder neue Morgen hebt an aus derselben Kraft19 – überhaupt wo Neuheit ist, Überraschendes, Einbruch, Aufwecken, lebt sie aus dem ersten, unvergänglichen, „währenden“ Anfang20; deswegen die Wichtigkeit des Morgens, für die Liturgie, für die Arbeit, für das Dasein überhaupt. Man kann den Gedanken auch sinnvoll von seinem anderen Ende her formulieren: Wo immer Zukunft als das Neue und Überraschende, nicht zu Berechnende verplant wird, ist diese erste, alles tragende, alles wollende Kraft ausgeschlossen, unwirksam. Dort herrscht nicht mehr die Pneumatik der geschenkten Zukunft, sondern die Geistlosigkeit des Verschlossenen.
3. Die Kraft des Anrufs In welche geheimnisvolle Tiefe dringt die Anfangskraft? Diese Frage führt in die Mitte der Existenz, in ihren „Urbereich“21. Guardini nennt die tiefste Bestimmung des Menschen Angerufensein (im Wortsinn von Person). Anfang ist Anruf. Und es ruft ein Wille22, nicht einfachhin eine gestaltlose Ur-Macht, eine dumpfe, unbewußte All-Natur. Ein ungeheurer Wille schafft mich rufend, wie ich bin, selig, daß ich bin. In diesem Anruf bin ich nicht Kopie, Sklave, ersetzbar von Tausenden, sondern ich bin frei, einzig, „ins Eigensein gegeben“23. Dieser Wille ist Glück24, unerhörte Seligkeit. Es ist die Seligkeit, gewollt zu sein, wofür Guardini den Ausdruck „Gnade“ nimmt25, aber dieses Wort nicht als frommes Versatzstück gemeint, sondern als „Geschenk“, grundlos umsonst. „Diese Liebe hat aber keinen ‚Grund’. Sie ist sich selbst Grund. Wenn sie waltet, fragt der von ihr Gemeinte nicht mehr nach einem Warum – es sei denn, um Anlaß zum Dank und zur Wiederliebe zu haben.“26 Das Ur-Geschenk ist „innige Selbstvergewisserung“27, das Glück dazusein. 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26
Ebd., 31. Ebd., 120. Ebd., 32f und 34. Ebd., 31. Guardini, “Anfang” (wie Anm. 11), 16. Guardini, Romano, Anfang. Eine Auslegung der ersten fünf Kapitel von Augustins Bekenntnissen, München 21950, 14. Guardini, Der Anfang aller Dinge (wie Anm. 12), 17 und 25. Guardini, Romano, Die Annahme seiner selbst, Würzburg 1955, 19. Ebd. Guardini, “Anfang” (wie Anm. 11), 14. Guardini, Anfangen und Enden (wie Anm. 10), 9.
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„Damit ist gesagt, daß der Mensch aus der Welt hinaus in Gottes Höhe, und von Gott her in die Tiefe der Welt hinein gebaut ist. Ein wunderbares und furchtbares Dasein. Nach der Weise der Brücke ist der Mensch gebaut. Er ist kein Naturwesen, aber auch kein Engel. Ein Entwurf auf etwas Ungeheures hin, ein Plan zu einem Werke göttlicher Schöpfermacht. Den ersten Menschen aber ahnen wir als ein wunderbares Geheimnis unberührter Frische, reiner Kraft, leuchtender Schönheit, aller Verheißungen voll. [...] Als große herrliche Wesen. Sie müssen etwas von dem an sich gehabt haben, was man nachher ‚Götter’ genannt hat, etwas von anderswoher Kommendes, etwas Mythisches. Sie hätten uns wohl erdrückt durch die Mächtigkeit ihrer Existenz. [...] Es ist etwas sehr Tiefes, wenn der Gedanke der ersten Menschen wirklich lebendig wird...“28 Aber eben diese Größe war die Versuchung; nicht weil der Mensch klein, sondern weil er groß gedacht war, fiel er.
4. Verlust des Anfangs Und Verschließung ist möglich: Man kann sich zwar nicht gegen die Urtatsache wehren, sich geschenkt zu sein; anders ausgedrückt: man kann sich nicht gegen die Seligkeit wehren, gewollt zu sein – und doch wird eben das versucht, von jedem Menschen seit Adam. Warum das so ist, wie das sein kann, gehört in den unentschlüsselbaren Bereich der Sünde. Sie ist in ihrem Urbestand (der freilich nicht „stand“hält) „empörte Endlichkeit“29. Empörung gegen das Geschenktsein nämlich, Empörung gegen den Dank. Daraus aber dann die Preisgabe, das Verworfensein, die Angst.30 Guardini hat immer der Angst als „Grundexistential“ des Menschen widersprochen, wie es die Existenzphilosophie als Urangst des Geworfenseins behauptete.31 Angst ist vielmehr ein Zweites, nach der Verweigerung des Geliebtseins nämlich, aber das Erste ist Geliebtsein und Wiederlieben. „(Liebe) ist die Macht des Anfangs schlechthin“32, heißt es wörtlich.
5. Das Werden des neuen Menschen: im zweiten Anfang Alles Werdende hat seinen Ursprung in der Lebendigkeit des Logos, der schaffend anruft, Welt durchstrahlt, zur Begegnung anbietet. Gott ist nicht einfach „Sein“, er 27 28 29 30 31
32
Guardini, Der Anfang aller Dinge (wie Anm. 12), 12 und 23. Guardini, Romano, Gestalten aus der Heilsgeschichte. Fünf Morgenbetrachtungen, in: Burgbrief 2 (1933), 17ff. Guardini, Die Annahme seiner selbst (wie Anm. 23), 19. Vgl. ebd., 19; Guardini, Der Anfang aller Dinge (wie Anm. 12), 23. Vgl. Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara, Romano Guardini und Martin Heidegger. Person als Antwort auf Existenz?, in: Reifenberg, Peter (Hg.), Einladung ins Heilige. Guardini neu gelesen, Würzburg 2010, 173-195. Guardini, “Anfang” (wie Anm. 11), 9.
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ist mehr als das: „Keinen Begriff kann man auf Gott ohne weiteres übertragen, nicht einmal das „esse“ in seiner einfachsten Form. Das Sein bedeutet bei Gott etwas anderes.”33 Immer schon ist göttliches Sein auch Wirken und Wirklichkeit. Aus der Menschwerdung des Logos erhebt sich der neue, der andere Anfang, die „zweite Schöpfung“, der „neue Mensch“: „Was heißt Glauben? Aus Christus heraus, aus seinem Worte, aus seinem Bilde, aus seinem Leben, aus der Kraft seines erlösenden Todes und seiner Auferstehung überzeugt sein, daß die Welt nicht ist, wie sie sichtbar scheint. Sie ist auch das, aber zugleich mehr als das. Sie ist nicht darin versiegelt, sondern durch die Erlösung ist in ihr ein neuer Anfang geschehen. Von dorther geht eine zweite Schöpfung vor sich. Der Glaube aber hat es daraufhin gewagt und hält fest, daß dieses Werden der neuen Schöpfung sich in jedem Menschen vollziehen kann, durch jedes Wort, durch jedes Geschehen. Quer durch alles hindurch vollzieht sich das Werden des neuen Menschen, der gebildet wird nach dem Bilde Christi, auf die Herrlichkeit der Kinder Gottes hin. Der Glaubende aber stellt sein lebendiges Sein diesem Werden zur Verfügung. Er nimmt es in seine Verantwortung auf. Er selbst wirkt es, ‚zusammen’ mit Gott. Denn es soll sich ja nicht bloß an ihm zutragen, sondern es kann sich nur durch Freiheit verwirklichen; wohl von Gott gewirkt, aber im lebendigen Wollen und Wirken des Menschen, das heißt, in seinem Glauben.“34 Und die Sünde? „Gott überlässt den Menschen der abfallenden Bewegung, der Sünde nicht. [...] Die Sünde ist da und muss in irgendeiner Weise aufgearbeitet werden. Sie kann nicht in sich beruhen. Eine Art des Aufarbeitens wäre unser Verlorensein gewesen, dadurch, dass die Welt ins Nichts geschleudert worden wäre. In der griechischen Mythologie gibt es eine Ahnung davon, dass Gott so hätte sein können. Gott aber hat ein Herzensband geknüpft zwischen sich und den Menschen. So ist er bis in den innersten Raum meines Daseins gegangen, der der vorbehaltenste zu sein scheint: bis in den Raum meiner Verantwortung. Wo ich mit meiner Schuld stehe, kommt kein Mensch hin. Ja, wollte einer mir meine Schuld abnehmen, so würde ich mich wehren: Mit meiner Schuld nimmst du mir auch meine Würde. (Aber) Gott kann bis in meine Verantwortung gelangen, ohne meine Würde anzutasten. [...] In dem Maße ist Gott zu uns gekommen, dass Christus sagen kann: Deine Sünde ist meine Sünde, meine Sühne ist Deine Sühne; meine Heiligkeit gehört Dir. Christliches Dasein ist ein Leben aus dieser Einheit mit Christus. Es besteht im tiefsten darin, dass ich in einer anderen Person, in Christus existiere.“35
33
Mitschrift der Guardini-Vorlesung: Die christliche Gotteswirklichkeit (WS 1925/26 Berlin), in: „Lauterkeit des Blicks“. Unbekannte Materialien zu Romano Guardini, hg. v. Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara, Heiligenkreuz 2013, 206. 34 Romano Guardini, Zitat, in: Christliche Verwirklichung, hg. v. Schmidthüs, Karlheinz, Rothenfels 1935, 5; Vgl. Guardini, Vorschule des Betens (wie Anm. 8), 19f. 35 Asam, Rosl, Mitschrift “Stille Tage in Burg Rothenfels“ 1932 (Archiv Gerl-Falkovitz).
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6. Begegnung von Welt und dem erlösten Menschen So sind Welt und Mensch, wieder in die Offenheit Christi gestellt, einander zutiefst verwandt: in Ursprung, im Fall, im Erlöstsein, in der pneumatisch zu wirkenden Zukunft. Aber all diese Dynamiken geschehen nicht über den Kopf des Geschöpfes hinweg. Christlich formuliert: In der Begegnung gerade des erlösten Menschen mit der Welt geschieht eine Inkarnation, die Inkarnation eines noch nicht Dagewesenen. „Die Welt ist nicht fertig. Und nicht nur deshalb, weil sie sich noch weiterentwickeln, Dieses und Jenes werden müßte. Es ist tiefer gemeint. ‚Die Welt’ sind nicht die Dinge draußen für sich allein, sondern das, was in der Begegnung zwischen dem Menschen und ihnen wird. [...] innerlich werdendes Außen, und hinausgetragene Innerlichkeit. [...] Ist Hand, die erst ganz sie selbst wird an der Frucht, die sie greift; Boden, der erst zum Acker wird, wenn der Mensch ihn pflügt und besät. [...] Und auch nicht nur ‚das Ding’ und ‚den Menschen’; die gibt es ja nicht. Es gibt diese Zypresse, wie sie da gewachsen ist; an dieser Stelle zum Hang, wo der Windstrom, der immer abends herabkommt, sie von der Seite trifft. [...] Hierin besteht der Schöpferdienst, zu dem Gott den Menschen gerufen hat: daß immerfort, in seiner Begegnung mit den Dingen, die eigentliche Welt werde. Daß er selber erst werde, indem er an die Dinge gerät; schaut, versteht, liebt, an sich zieht und abwehrt, schafft und gestaltet. Daß die Dinge sie selbst erst ganz werden, wenn sie in den Bereich des Menschengeistes, seines Herzens und seiner Hand gelangen. Diese Welt wird immerfort; leuchtet auf und erlischt wieder.“36 Welt ist auch bei Guardini ontologisch zu denken, nicht aber statisch; sie vollzieht sich vielmehr in Relationsontologie, in einem Sein der Beziehung. Guardini ist im Tiefsten ein Denker des Werdenden, der Apokalypse: des Sich-Eröffnenden. Ihm stellt sich der Mensch mit Wagnis und Verantwortung, mit Erraten, mit Schaffen zur Verfügung, im „Verstehen des Einmaligen; Erraten des hier und nur hier Möglichen; Gefühl für das, was es noch nicht gibt. Auch die Freiheit hat einen andern Charakter. Die innere Initiative stellt sich dem Einvernehmen zur Verfügung; löst sich für das Neue; errät und schafft. Das Wertbild aber, das hier hervortritt, wird entscheidenderweise von der Verantwortung für das, was es noch nicht gibt, vom Wagnis und von der Entdeckung bestimmt.“37 Welt ist nicht einfach „da“, sie wird erst voll erfaßt, sie wird sie selbst im Charakter der Begegnung: des gegenseitigen Herauslockens und der Befruchtung durch den Menschen, und zwar den durch Christus erlösten. Allerdings ist noch einmal dagegenzuhalten, daß Guardini sehr wohl die Gefahr des Werdens sieht, ja in der Führung der Jugendbewegung sogar das Schwergewicht auf das Sein verlegt, vor allem am Anfang um 1920: „Katholischer Geist stellt das Sein vor das Werden und vor das Schaffen. [...] Der Vorrang, von dem 36
Guardini, Romano, Tagebuch / Aus Oberitalien, in: ders., In Spiegel und Gleichnis (wie Anm. 1), 18f. 37 Guardini, Romano, Einführung, in: Jean-Pierre Caussade, Ewigkeit im Augenblick. Von der Hingabe an die göttliche Vorsehung, Freiburg 41955, 1-20; hier 9.
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hier die Rede ist, meint ein Vorstehen in der Ordnung; ein Übergeordnetsein im Ganzen des Lebens. [...] Er stellt die Wahrheit vor die Tat. Die Autorität vor das persönliche Urteil, das Recht der Allgemeinheit vor das des einzelnen. Die Überlieferung und ihre lebendige Fortbildung vor die Forderung des Augenblicks.“38 Zugleich muß man in solchen Zeilen die Adressaten mitlesen, nämlich die Autonomie Kants und die Verführung Nietzsches, des Prototyps eines entfesselten Selbst-seins, in dem sich das Werden überschlägt: „Ob die Form oder die Fülle, die Ordnung oder der dunkle Drang, Gestalten oder Schaffen? Allgemeines oder Besonderes, Sinn oder Werden und Tat? Der Zusammenhang oder der Augenblick? Apollo oder Dionysos? Und er beantwortet die Frage – wiederum sei es gesagt: auf das Ganze und Allgemeine hin, und tausend Einschränkungen zugegeben – für die erste der beiden Reihen. Das Ganze des Lebens bejahen, aber in diesem Ganzen den Mächten den Vorrang geben, denen er den innersten Gesetzen alles Seins gemäß zukommt, das ist katholischer Geist.“39 Doch tritt im Abwägen der beiden Pole des Daseins später, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, stärker das neue Werden, der neue Mensch hervor: „Mein Leben ist eine Stelle – und zwar jene, die mich angeht –, wo Gott handelt. Mein Dasein ist eine Werkstatt, in der Er schafft. Aus mir soll Neues hervorgehen. Christliches Handeln und Schaffen aber ist ein Tun des Menschen im Einvernehmen mit dem Tun Gottes. Voll Demut [...]; voll Bereitschaft zum Gehorsam, weil daraus etwas werden soll, das nur von Gott her werden kann; zugleich aber auch in lebendiger Zuversicht, weil jeder Mensch eine Ausgangsstelle *– und zwar die jeweils entscheidende und unersetzliche –* des göttlichen Schaffens ist. Gewiß sind die Normen der Ethik, die Gebote der christlichen Sittenlehre, die Regeln der gläubigen Weisheit und die Ordnungen der Kirche maßgebend. Darüber darf aber nicht übersehen werden, was aus keinen Normen, Geboten, Regeln und Ordnungen, sondern nur aus der jeweils sich von Gott her bildenden Situation entnommen werden kann. Das geht in keine allgemeinen Begriffe ein, denn es ist das jeweils Neue, jeweils Einmalige. Und es ist nicht wenig, vielmehr die Hälfte des Daseins.“40 Solches Werden ist daher nicht einfach Eigenleistung, erst recht nicht Ausdruck der unsicheren und kompensierenden menschlichen Stellung in der Welt (wie es die zeitgleiche Anthropologie Schelers und Gehlens sieht). Werden ist Anruf, und zwar zur Freiheit, Werden ist Auftrag, Imperativ und Wille des Schöpfers, der sein Geschöpf stark und schaffend sehen will. Der Mensch ist omnipotentia sub Deo, „Allmacht unter Gott“, wie Guardini zustimmend Anselm von Canterbury zitiert.41
38 39 40
Guardini, Romano, Neue Jugend und katholischer Geist, Mainz 31921, 15f. Ebd., 18. Guardini, Vorschule des Betens (wie Anm. 8), 196f. Die Stelle zwischen * steht nur im Ms., 151 (Archiv Gerl-Falkovitz). 41 Guardini, Der Herr (wie Anm. 3), 104.
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7. Not und Segen der Entscheidung: Der Jakobskampf Weshalb aber hat der Schöpfer – man kann sagen – gewagt, das gefährliche Instrument freier Entscheidung seinem Geschöpf in die Hand zu geben? An entlegener Stelle hat Guardini eine wunderbare Auslegung dieser Frage versucht; sie führt in eine großentworfene Deutung des Menschen hinein. Entfaltet wird die Deutung anhand von Jakobs Kampf mit Gott.42 Dieser Kampf in Kapitel 32 der Genesis eröffnet einen geheimnisvollen Zusammenhang, der dem unmittelbaren Begreifen nur wenig mitteilt. Trotzdem bleibt der Text haften; er ist auch im Namen „Israel“ = Gottesstreiter haften geblieben bis auf den heutigen Tag. Alle sind Kinder Jakobs der geistigen Abstammung nach, Kinder der Erwählung: Alle sind dem Ringkampf des Urvaters entsprossen und mit ihm gesegnet. Der Jakobskampf erzählt nicht, wie es vor langer Zeit, weit zurückliegend, gewesen ist, sondern wie die bleibende Prägung auf dem Geschlecht der Gottesstreiter aussieht, das Siegel, unter dem alle Künftigen antreten. Solche Geschichte ist währendes Geschehen, sie gilt für das ganze Haus Jakob, und man tut gut daran, die Kraft des Geschehens als die große Linie zu begreifen, unter der die Kinder Jakobs in die Zukunft geschickt werden. Und dennoch sich verfehlen können. Entziffern wir mit Guardini die Erzählung: Jakob, der Flüchtling vor dem betrogenen Bruder Esau, kehrt nach Jahren in der Fremde reich in die Heimat zurück, der Segen seines Vaters Isaak hat sich ausgewirkt: Frauen, Kinder, Herden zeigen sichtbar die Huld Gottes; Reichtum hat sich im Überfluß eingestellt. Esau, der den Betrug nicht vergessen hat, zieht ihm jedoch entgegen, und Jakob bleibt am sicheren Ufer zurück, er fühlt den Kampf voraus und fürchtet ihn. Es wird sich erweisen, ob der sichtbare Segen anhält oder ob Jakob erschlagen wird. Anstelle des Bruders aber, dem er ausweicht, ringt plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, ein Unbekannter mit ihm – ein Engel, ein Bote? Oder Gott selbst? Zu dem Unbekannten gehört schon, daß diese Frage sich nicht schließt, auch am Ende nicht. Der Kampf ist sonderbar: „ein dunkles Ineinander von Übermacht und Schwächersein zugleich“43. Jakob siegt nach der endlosen Nacht, aber er hinkt, denn der andere hat seine Übermacht leichthin demonstriert – er brauchte Jakob nur zu berühren. Aber auch umgekehrt: Jakob hinkt, aber er siegt, denn der mächtige Unbekannte zeigt sich am Ende überwunden. Die Sonne geht auf, und Jakob trägt einen neuen Namen; damit trägt er eine neue Bestimmung und wird in ihr ein zweitesmal und diesmal rechtmäßig den Bruder bezwingen, nämlich durch Versöhnung. Jakob ist nach Guardini einer der Großen in den Stationen des Heils, ein Mann der Kraft und Schläue. Er gerät in das Geheimnis Gottes, in die schwer zu bestehende Nähe zu Gott und wird darin gezeichnet. Er ist Begründer eines königlichen und hinkenden Geschlechts, das bis zum heutigen Tage fortdauert. 42 43
Guardini, Romano, Jakobs Kampf mit Gott, in: Werkhefte junger Katholiken 1, 8 (1932), 1f. Ebd., 2.
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Kann man aber mit Gott wirklich kämpfen? Gibt es wirklich eine Entscheidung für ihn oder gegen ihn? Guardini sieht in der biblischen Überlieferung ein Doppeltes: Sie kennt Gott als den, dem nichts widersteht. Sie kennt ihn aber auch als den, der seine Übergröße zurücknehmen kann. Der Souverän kommt bittend, etwa in Nazareth; er kommt im Maß des Menschlichen, läßt sich fragen und gibt Auskunft. In der Jakobsgeschichte ist beides verbunden: der Unwiderstehliche und der Bezwingbare. Was bedeutet es, daß er im Kampf kommt oder seinen Boten zum Kämpfen schickt, dabei siegt und doch nicht siegt? Offenbar will er, so Guardini, daß der Mensch mit ihm kämpft, ja in geheimnisvoller Weise ihn bezwingt. Hier öffnet Guardini eine wunderbare Aussage über Gott und den Menschen: Gott will den Menschen ringen sehen – gerade weil er ihn als sein Bild geschaffen hat. Auch das gehört zum Ebenbild: nicht als Marionette und Befehlsempfänger geschaffen zu sein, mit dem Gott leichtes Spiel hätte, sondern als Freier, Starker zu leben, zu schaffen, zu gestalten, was zum eigenen Leben dient. Hier liegt die wunderbare Herausforderung zur Entscheidung: Die Liebe will, daß man mit ihr kämpft, daß man um Klärung für sein eigenes Leben kämpft, daß man sich kämpfend mit allen Fragen auf Gott einläßt. Es ist Liebe, die den Menschen nicht als bloßes Kind will. Natürlich gibt es das kindliche Dasein, das Gott nahesteht und dem er sich in rein vollendender Weise kundgibt. So muß man sich wohl die Kinder denken, die früh sterben: Guardini meint, daß Gott hier etwas an der Lebensleistung ergänzt oder daß ein solches Leben als reine Gabe gelebt und abgepflückt wird. Aber das normale Dasein kennt nicht diese Form der frühen Begabung und Vollendung. Seine Normalität besteht im Treffen auf Widerstände, Ungelegenes, Verqueres auch im eigenen Herzen. Die mitgegebene Natur, der Umgang mit Freunden und Gegnern will bestanden werden, und das macht einerseits müde, andererseits ruft es sonst unentbundene Kraft heraus. Die Geschichte Jakobs klärt auf, daß in den Widerständen – zunächst ist ja nur der Bruder und Feind Esau erwartet – ein anderer uns antritt oder anspringt: ein Geheimnisvoller, der sein Visier nicht lüftet. Und er zeigt Macht: Wollte er, so würden wir unterliegen; er zeigt aber auch Bezwingbarkeit: Wollen wir, so können wir eine ganze Nacht lang kämpfen und ihn um Segen bitten. Dieses Ineinander von Herausforderung und Segen, von Widerstand und Sieg, von Nacht und schließlichem Sonnenaufgang ist eine Botschaft vom Wesen Gottes und Wesen des Erwählten. Was als Widerstand und scheinbare Zerstörung kommt, kommt – wenn der gute Kampf gekämpft ist – als Segen. Gottes Macht kommt nicht zerbrechend. Sie fordert ein Äußerstes an Kraft, ein optimum virtutis, aber sie überwältigt nicht. In der Gestalt des Widerstandes will sie als Liebe erfaßt werden. Dies als Ermutigung für die kommenden Generationen, in der Nacht des Kampfes wie Jakob auszuhalten, bis die Sonne aufgeht. Es ist ja alles erkämpft, im Ringen gegen ihn, mit ihm. „Sein schöpferisches Meinen: das ist mein Anfang [...] Die Wurzeln meines Wesens liegen in dem seligen Geheimnis, daß Gott gewollt hat, ich solle sein.“44 44
Guardini, Der Anfang aller Dinge (wie Anm. 12), 17.
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Gerade darin fordert er den Menschen heraus zur „Annahme seiner selbst“, zur Annahme eines Wachsens zur Größe, zur Annahme des Ringens mit seinem Ursprung. Daß der Mensch nicht zu einem Automatismus verurteilt ist, sondern sich entscheiden kann, zur eigenen Kraft greifen kann, sieht Guardini als eine der gewaltigsten unter den großen Gaben des Ebenbildes. Von daher nochmals ein Griff zum ursprünglich paradiesischen Entwurf und der menschlichen Tragik, die sich aufbrechen läßt und von Christus aufgebrochen wurde. „Mein Anfang sind ja doch jene Gestalten von lieblichster Herrlichkeit. In ihnen habe ich begonnen. Die lichte Fülle ihrer Verheißungen ist ja der Ausgang meines Daseins [...] Wie soll man es nur ausdrücken, jenes Unsagbare, das aus der Mitte des eigenen Wesens zu ihnen hinschwingt? [...] In mir, als Jetzigem, ist noch das, was einst gewesen war, die Fülle der Unschuld, der schönen, lichten Kraft, das einstige heilige Dasein, aber verloren [...]. [...] Diesem Dasein ist etwas Unsagbares eigen und entglitten. [...] Dahinein spricht Christus Sein Wort. Er erst löst das Unbegreifliche, das dunkle Geheimnis, wie ich bin, indem Er in ihm selbst zeigt, was sein soll, und verheißt, was werden wird.“45 Das scheint die Mitte von Guardinis Denken zu treffen: sein eschatologischer Blick auf das Ringen Gottes mit dem Menschen. Aufbrechen aus dem Dunkel der Sünde heißt, sich in die Herausforderung Christi zu stellen, das Werden auf Ihn hin zu wollen. Mit aller Kraft – denn es gehört zur Größe der Gnade, daß sie unsere Mitwirkung wünscht. Im dritten Neuwerden der Schöpfung, in der Apokalypse, werden diese noch undurchschauten Zusammenhänge dann endlich geöffnet. „Gott muß uns ‚unbekannt’ sein. Doch gerade seine Unbekanntheit geht uns an. Sie ist das Kostbarste. Sie verheißt uns Heimat. Unsere Seele wittert im Unbekannten das Eigentliche, woraus sie lebt, und den Ort, wo sie hingehört.“46
45 46
Guardini, Romano, Gestalten aus der Heilsgeschichte, in: Fünf Morgenbetrachtungen, in: Burgbrief 2 (1933), 19. Guardini, Romano, Predigten zum Kirchenjahr, hg. v. Becker, Werner, Leipzig 1965, 77.
Menschwerdung
Phänomenologische Annäherungen an die Theologie der Offenbarung
René Dausner
1. Einleitung Der Gedanke der Inkarnation ist für das christliche Glaubensverständnis nicht nur von konstitutiver Bedeutung, sondern gilt zugleich als spezifischer Differenzpunkt im Unterschied zum islamischen und jüdischen Gottesverständnis. 1 Denn auch wenn in allen drei Religionen die Offenbarung durch das göttliche Wort zentral ist, erscheint die christliche Vorstellung, dass dieses Wort Gottes in dem einen und einzigen Menschen Jesus von Nazareth in einem wörtlichen Sinn und somit leibhaftig zur Welt gekommen sei, für das Judentum und den Islam inakzeptabel. Zu groß ist die Sorge, Gottes Unendlichkeit würde durch diese Form der Inkarnation verendlicht, Gottes Transzendenz immanentisiert, Gottes Größe auf das Maß des Endlichen reduziert. Franz Rosenzweig argwöhnte gar, im Gedanken der Inkarnation breche „[d]as zuinnerst in jedem Christen unvertilgbare Stück Heidentum“ 2 hervor. Der Verdacht einer Verendlichung Gottes wird zudem genährt, wenn der Ausdruck „Inkarnation“ „gewöhnlich mit Menschwerdung Gottes übersetzt“3 wird, wie es unter dem entsprechenden Lemma in dem Lexikon des Dialogs aus dem Jahr 2013 geschieht, das „Grundbegriffe aus Christentum und Islam“ zu erläutern sucht. Gegenüber der verkürzten und theologisch misslichen Formel von der Menschwerdung Gottes gilt es, den Inkarnationsgedanken als das „Geheimnis der Menschwerdung des Wortes Gottes“ zu umschreiben, wie es Karl Rahner in seinem Beitrag Zur Theologie der Menschwerdung getan hat. Die differenzierte Rede von der Inkarnation als Geheimnis der Menschwerdung des Wortes Gottes bringt zwei 1
2 3
Vgl. Valentin, Joachim, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Wie kommt Gott in die Welt? Fremde Blicke auf den Leib Christi, Frankfurt a. M. u. a. 2009, 11-22, 11; Vgl. Ders., Wie kommt Gott in die Welt? Christliche und islamische Variationen eines Themas, in: ebd., 156-175. Rosenzweig, Franz, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1988, 388. Pesch, Otto Hermann, Inkarnation, in: Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam. Band 1: Abendmahl – Kult. Im Auftrag der Eugen-Biser-Stiftung hg. v. Richard Heinzmann, Freiburg i. Br. 2013, 349f, 349.
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theologisch bedeutsame Präzisierungen zum Ausdruck: 1.) das Inkarnationsgeschehen ist ein bleibendes Geheimnis, und 2.) die Inkarnation bleibt auf das ewige Wort Gottes als den aus Gott geborenen ‚Sohn‘ bezogen und wahrt somit die für die Trinitätstheologie zentrale Differenzierung der göttlichen Realität, die keine Addierung oder Multiplizierung bedeutet. Im Fortgang seines Beitrags gibt Karl Rahner der Theologie einen Rat, der mir für die Disziplin der Fundamentaltheologie bedeutsam erscheint und mich zu den nachfolgenden Überlegungen motiviert hat. Mit Blick auf die Inkarnation als „Mitte der Wirklichkeit, aus der wir Christen leben“, schreibt Rahner: „Wir sollten also in der Theologie und im christlichen Leben über diese Mitte nachdenken. Und manchmal weniger über tausend andere Dinge reden. Denn dieses Geheimnis ist unerschöpflich, und verglichen mit ihm, sind die meisten anderen Dinge, über die wir reden, belanglos.“4 Der Gedanke der Inkarnation ist für die Entwicklung des Offenbarungsverständnisses vom Ersten zum Zweiten Vatikanum aufschlussreich. Mit Blick auf die Offenbarungskonstitution Dei Verbum des Zweiten Vatikanums ist mit Christoph Böttigheimer festzuhalten: „Bereits im Prooemium klingt an, dass es im Folgenden um die innere Erschließung der Offenbarung Gottes gehen wird“ 5. Die konsequente Weiterentwicklung des Offenbarungsdenkens vom Ersten zum Zweiten Vatikanum hat die „biblische, pastorale und ökumenische Dimension“ 6 der Offenbarung berücksichtigt. Diesen Prozess hat die künftige Fundamentaltheologie im Blick auf den jüdisch-christlichen sowie auf den christlich-islamischen Dialog – und somit in interreligiöser Perspektive – aufzugreifen und fortzuführen. Das vornehmliche Ziel der nachfolgenden Überlegungen, mit denen ich einen ehrenden Beitrag für den Eichstätter Kollegen Erwin Möde leisten möchte, besteht darin, angesichts der berechtigten Anfragen aus dem interreligiösen Diskurs die christliche Rede von der Inkarnation hinsichtlich ihrer offenbarungstheologischen Plausibilität zu bedenken.
2. Epiphanie statt Inkarnation? – oder: Der Inkarnationsgedanke bei Navid Kermani Eine erste Annäherung an den Gedanken der Inkarnation bietet die Ästhetik. Bekanntlich misst der Islam in offenbarungstheologischer Hinsicht dem Koran als dem hörbaren Wort Gottes höchste Bedeutung bei; vor diesem Hintergrund ergibt 4 5
6
Rahner, Karl, Zur Theologie der Menschwerdung, in: STh 4 (21961), 137-153, 137. Böttigheimer, Christoph, Lehrbuch der Fundamentaltheologie. Die Rationalität der Gottes-, Offenbarungs- und Kirchenfrage, Freiburg i. Br. 22012, 474. „Das konziliare Offenbarungsver-ständnis bringt das ganze Heilsgeschehen auf den Offenbarungsbegriff und kann unterschiedlich umschrieben werden: als dialogisch, personalistisch, kommunikativ, interaktionistisch oder kommunikationstheoretisch-partizipativ“. Fries, Heinrich, Fundamentaltheologie, Graz u. a. 1985, 312.
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sich, um mit Angelika Neuwirth zu sprechen, eine „schwer zu verkennende Analogie von Christus und Koran als ‚Verkörperungen‘ des Wortes Gottes“ 7. Der Vergleich zwischen islamischer und christlicher Theologie betrifft somit weniger die historischen Personen Jesus und Muhammad, als vielmehr die offenbarungstheologische Frage nach einer Konkretion und Erfahrbarkeit des Wortes Gottes: nach christlicher Theologie in Jesus Christus, nach muslimischer Theologie im Koran. Gegenüber der christlichen Rede von Inkarnation wäre nach islamischer Offenbarungstheologie das Äquivalent eher in der „Inlibration“8 zu suchen, also in der Buchwerdung des Wortes Gottes, sowie in der „Intonisation“ 9, also in der Rezitation des Wortes Gottes in arabischer Sprache.10 Eine Konzentration auf die Ästhetik des Akustischen wirft darüber hinaus die Frage nach einer Ästhetik des Optischen und somit nach der Sichtbarkeit Gottes auf. Generell ist festzuhalten: Das Bilderverbot bildet eine gemeinsame Basis jüdischer, christlicher und islamischer Theologie, wenn auch in differenzierter Form. In konsequenter Ausbuchstabierung des biblischen Bilderverbotes heißt es in Sure 6,103: „Die Blicke erreichen Ihn nicht“. Und gleichsam als eine koranische Exegese von Ex 33, in der Mose Gott bittet, seine Herrlichkeit sehen zu dürfen, lautet die in der nachfolgenden Sure überlieferte Antwortet Gottes folgendermaßen: „,Du wirst mich nicht sehen. Aber schau den Berg an! Falls er (bei meinem Erscheinen) fest auf seiner Stelle bleibt, wirst du mich sehen.‘ Als nun sein Herr dem Berg erschien, ließ er ihn (durch seine bloße Gegenwart) zu Staub zerfallen. Und Mose fiel (wie) vom Blitzschlag getroffen (bewußtlos) zu Boden.“ (Sure 7,143; Übers. R. Paret) Der Islam lehnt eine Sichtbarkeit Gottes in unserer raum-zeitlichen Erfahrungswelt ab. „Daß Gott keine Gestalt angenommen hat und der Mensch das Göttliche deshalb auch nicht sehen kann, gilt dem Islam als unumstößlich.“ 11 Mit diesen Worten kommentiert der Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels 2015, Navid Kermani, die zuvor zitierten Koranverse über die Unsichtbarkeit Gottes. Überraschenderweise bleibt Kermani bei diesem Befund allerdings nicht stehen. In 7
Neuwirth, Angelika, Das Wunder des Koran, in: Wunder. Katalog zur Ausstellung der Deichtorhallen Hamburg und der Siemens Stiftung. Hg. v. Tyradellis, Daniel u. a. Köln 2011, 217-226, 222. Der Begriff geht zurück auf den amerikanischen Philosophiehistoriker Harry Wolfson, vgl. Ansorge, Dirk, Transzendenz Gottes und Inkarnation. Positionen und Perspektiven christlicher Theologie im Gespräch mit jüdischem und islamischem Denken, in: ThPh 84 (3/2009) 394-421, 401. 9 Neuwirth (wie Anm. 7), 226. 10 Nach der Lehre der Hanbaliten habe sich Gottes Wort im Koran und in dessen Rezitation gleichsam inkarniert. (Ansorge [wie Anm. 8], 401). Mit Dirk Ansorge ist allerdings die für eine Offenbarungstheologie zentrale Rückfrage zu stellen: „Wie kann in der Rezitation des Koran das Wort Gottes als eben das, als welches es gelten soll – als Wort Gottes nämlich – identifiziert werden, ohne sich auf bloß äußerliche Autoritäten zu stützen?“ (Ebd., 402). Ahmad Ibn-Hanbal (gest. 855): „Der Rechtsgelehrte und Theologe Ahmad ibn-Hanbal lehrte Mitte des 9. Jahrhunderts in Bagdad und begründete eine der vier traditionellen Rechtsschulen im sunnitischen Islam.“ (Ebd., 398, Anm. 18). Gegenüber den sog. Mu’taziliten, deren Auffassung zufolge „allein die menschliche Vernunft zu annähernd gültigen Aussagen über Gott“ gelangen könne (Ebd., 397), bestritten deren Gegner, zu denen Ibn-Hanbal gehörte, die Möglichkeit vernünftiger Gotteserkenntnis. „Gotteserkenntnis und Glaubensgewissheit seien allein aus dem Koran zu gewinnen – so ihre These.“ (Ebd., 398). 11 Kermani, Navid, Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München 2015, 85. 8
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seinem Buch Ungläubiges Staunen. Über das Christentum setzt sich Kermani vielmehr mit insgesamt 40 christlichen Bildmotiven auseinander und bietet somit einen beeindruckenden Diskurs nicht nur in kunstgeschichtlicher, sondern auch in theologischer Hinsicht. Mit dem Gedanken der Inkarnation setzt sich Kermani an verschiedenen Stellen seines Buches auseinander, stets vor dem Hintergrund der eigenen, islamischen – v. a. mystisch geprägten – Theologietradition und zugleich mit Blick auf die christliche Sichtweise. Anhand eines Bildmotives möchte ich einige der Überlegungen Kermanis zum Inkarnationsgedanken rekapitulieren. Grundlegend für diese Näherungsweise ist der Aspekt der Schönheit Gottes, dem der habilitierte Orientalist bereits in seiner Dissertation mit dem Titel Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran (1999) eingehender nachgegangen ist. Zentraler Ansatzpunkt, um von der Schönheit Gottes aus islamischer Perspektive zu sprechen, ist ein Hadith, also ein mündlich überliefertes Wort des Propheten Muhammad, in dem von der Schönheit Gottes die Rede ist. „Ich sah“, heißt es dort, „meinen Herrn in der schönsten Gestalt, als einen bartlosen Jüngling mit vollem, lockigem Haar auf dem Thron der Gnade, seine Füße im Grünen, mit goldenen Sandalen.“ 12 Mit Bezug auf diesen Prophetenspruch schreibt Kermani eine Bildmeditation (Gott I) zu dem kunstgeschichtlich bedeutsamen Mosaik „Der gute Hirt“, das auf die erste Hälfte des 5. Jhs. datiert und sich im Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna befindet. Die Darstellung des bartlosen Jünglings, der als guter Hirt die Schafe hütet, deutet Kermani einerseits als eine Illustration des zitierten Prophetenwortes. Mit Bezug auf die christliche Theologie hält Kermani dabei fest, dass der Koran Jesus „ausdrücklich den masîh, den Christus also,“ nenne und „bis hin zur jungfräulichen Geburt alle Wunder“ bejahe. 13 Andererseits aber betont Kermani die klare Grenzund Trennlinie, die von jeder islamischen Theologie gegenüber der christlichen Theologie festgehalten werde: „Jesus sei nicht Gott.“14 Kermani, der mit Friedrich Wilhelm Graf als „ein moderner Mystiker“15 bezeichnet werden kann, greift zur Begründung auf den innerchristlichen Streit zwischen Arianismus und Orthodoxie, hier im Sinne der frühkirchlichen Konzilien, zurück. Die arianische Ablehnung des im nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis verwendeten Begriffs homoousios, der die Wesensgleichheit von Gott Vater und Gott Sohn betont, habe der Wahrung des Monotheismus in der Trinitätstheologie gedient. Arius aber verstand den Logos als das höchste Geschöpf, das in, nicht aber vor aller Zeit geschaffen worden sei. Kermani sieht in der arianischen Interpretation einen Einspruch, den nach der Ablehnung des Arianismus der Islam substantiell zur Sprache bringt, und folgert daher: Der Sohn „sei nicht eins mit dem Vater, sondern dessen Abbild, 12 13 14 15
Zit. ebd. Ebd., 89. Ebd. Interview im Deutschlandradio Kultur, vgl. http://www.deutschlandradiokultur.de/navid-kermaniunglaeubiges-staunen-versenkung-in.950.de.html?dram:article_id=329498 [Zuletzt aufgerufen am 16. April 2019].
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Christus nicht im wörtlichen Sinne Inkarnation, eher schon Epiphanie.“ 16 Mit dieser Unterscheidung zwischen Inkarnation und Epiphanie gesteht Kermani zwar zu, dass Jesus Christus eine „Erscheinung Gottes“17 sei, nicht aber – um es mit dem Konzil von Chalcedon zu formulieren – „vollkommen derselbe in der Gottheit“ und „vollkommen derselbe in der Menschheit“18. Für die christliche Theologie ergeben sich aus Navid Kermanis differenzierter Auseinandersetzung mit dem Inkarnationsgedanken zentrale Fragen: Was bedeutet es, wenn Kermani eine Inkarnation im wörtlichen Sinn ablehnt, an anderer Stelle aber die „Inkarnation als ein Prinzip“19 zu verstehen gibt und die Epiphanie Gottes in Jesus für akzeptabel erachtet? Welche Konsequenz ergäbe sich, wenn eine Bildwerdung Gottes in dem Menschen Jesus von Nazareth denkbar erscheint für die Frage nach einer Epiphanie der Transzendenz Gottes in menschlicher Gestalt?
3. Die absolute Transzendenz im inkarnierten Subjekt – oder: Der Inkarnationsgedanke bei Emmanuel Levinas Gegenüber der vehementen Vorbehalte des Inkarnationsgedankens im Islam und der elaborierten Inkarnationstheologie im Sinn der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus, dem Christus, wird dem Judentum eine mittlere Position zugeschrieben. Während Martin Buber in einem Vortrag aus dem Jahr 1930 die Inkarnations- und Zäsurlosigkeit des Judentums zugunsten einer jüdischen Gottunmittelbarkeit hervorhob20, formulierte der jüdische Gelehrte Michael Wyschogrod dezidiert eine Inkarnationstheologie, die das Volk Israel als Inkarnation Gottes deutet. 21 Eine Eingrenzung des Inkarnationsgedankens auf einen einzigen Menschen allerdings bleibt jüdischem Denken ebenso fremd wie der islamischen Theologie. Umso bemerkenswerter ist die Thematisierung des Inkarnationsgedankens, die Emmanuel Levinas in seiner phänomenologisch geprägten Philosophie entwickelt hat. Besondere Aufmerksamkeit verdient im Kontext inkarnatorischer Offenbarungstheologie der Beitrag Ein Gott Mensch? (Un Dieu Homme?), der auf einen Vortrag zurückgeht, den Levinas im Rahmen der Jahrestagung „Qui est JésusChrist?“ der sog. Woche der katholischen Intellektuellen im Jahr 1968 in Paris 16 17 18
Kermani (wie Anm. 11), 89. Ebd. Dekrete der Ökumenischen Konzilien. Bd. 1: Konzilien des ersten Jahrtausends. Hg. v. Josef Wohlmuth, Paderborn u. a. 21998, 86. 19 Ebd., 51. 20 Buber, Martin, Die Brennpunkte der jüdischen Seele, in: Ders., Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, Darmstadt 1993, 196-206. 21 Wyschogrod, Michael, Inkarnation aus jüdischer Sicht, in: EvTh 55 (1995) 13-28; Vgl. Henrix, Hans Hermann, Inkarnation: Tiefster Glaubensunterschied und stärkstes Bindeglied, in: FrRu Neue Folge 15 (2008), 16-25; Vgl. Ders., Inkarnationslosigkeit im Judentum?, in: Ders., Judentum und Christentum. Gemeinschaft wider Willen, Gütersloh 2004, 156-174.
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gehalten hat. Levinas nennt zwei Aspekte, die für die Frage, wer Jesus Christus sei, aus philosophischer Perspektive relevant sind: zum einen den Aspekt der Erniedrigung Gottes (humiliation), zum anderen den Aspekt der Stellvertretung (subsitution). Die Frage nach der Inkarnation des Subjekts ist für beide Aspekte relevant und stellt daher ein Verbindungsglied beider Theologoumena dar, die Levinas in philosophischer Hinsicht zu deuten sucht. Die beiden Aspekte, die mir für den Inkarnationsgedanken sowie für das Denken der Offenbarung Gottes von fundamentaler Bedeutung erscheinen, möchte ich in aller Kürze skizzieren. Im ersten Gedankengang arbeitet Levinas heraus, dass die Frage nach einer Offenbarung Gottes der doppelten Gefahr eines Pantheismus sowie einer absoluten Abstraktion entgehen müsse. Zentral ist daher die Frage, wie die göttliche Transzendenz in die Immanenz einbrechen kann, ohne einerseits ihre Transzendenz zu verlieren und ohne andererseits die Immanenz zu negieren. Mit der Logik sei diese Erfahrung der Transzendenz als Erfahrung nicht zu erreichen; denn jede Alterität werde im Denken aufgelöst, der „außer-ordentliche Mehrwert einer Nähe von Endlichem und Unendlichem“22 gehe verloren. Die einzige Weise, diese außerordentliche Offenbarung zu denken, geschieht Levinas zufolge im Modus radikaler Erniedrigung. Die Wahrheit ist nur dann als Erniedrigung der Transzendenz zu verstehen, wenn sie eine verfolgte und somit auch eine letztlich umstrittene Wahrheit ist.23 Zur Beschreibung dieser verfolgten Wahrheit verwendet Levinas Ausdrücke der Demut und der Erniedrigung, die nicht zufällig an die biblische Sprache erinnern: Der Anspruch dieser Wahrheit sei der „Anspruch eines Bettlers und Heimatlosen, der nichts hat, wohin er sein Haupt legen könnte“24; die Wahrheit „nimmt nicht Platz in der Welt, in der sie sogleich aufginge, als wäre sie nicht von jener Welt.“25 Die Bezüge zur christlichen Deutung Jesu von Nazareth sind augenfällig. Entscheidend für das Verständnis dieser Transzendenz, die nicht in Immanenz aufgeht, sondern als Transzendenz und somit als „nichtassimilierbare Andersheit“ in Gestalt der Erniedrigung erscheint, ist „absolute Unterscheidung zu allem, was sich zeigt“. Kennzeichnend für diesen Gedanken ist eine bleibende Ungleichzeitigkeit zwischen Transzendenz und Immanenz. Für Levinas ist die uneinholbare Verschiebung in der Zeit, die er Diachronie nennt, der Modus des Erscheinens von Transzendenz. Auf anachronistische, paradox anmutende Weise gehe das Austreten aus der Ordnung dem Eintritt voraus. Die Frage nach der Inkarnation wird an diesem Punkt virulent. Denn die beschriebene, anachronistische Erscheinungsform der Transzendenz in der Immanenz sei nur indirekt, nur im Modus einer Spur zugänglich. Spur (trace) bedeutet für Levinas – auf eine Kurzformel gebracht – „die Nähe Gottes im Antlitz meines 22
Levinas, Emmanuel, Un Dieu Homme?. Hg. von Rolf Kühn, Religio und passio. Texte zur neueren französischen Religionsphilosophie, Würzburg 2014, 40-49, 42. „Der Gedanke der verfolgten Wahrheit erlaubt uns, dem Enthüllungsspiel, bei dem die Immanenz immer gegen die Transzendenz gewinnt, ein Ende zu bereiten.“ (Ebd., 44). 24 Ebd., 43. 25 Ebd., 44. 23
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Nächsten.“ Es kann nicht verwundern, dass Levinas große Sympathie hatte für die Perikope vom Weltgericht in Mt 25,31-4626: Auf die Frage, wo und wann eine Begegnung mit dem Menschensohn stattgefunden habe, antwortet Jesus bekanntlich mit Verweis auf die Begegnung mit den Marginalisierten: den Hungrigen und Durstigen, den Fremden und Nackten sowie den Kranken und Inhaftierten. Levinas versteht daher den Einbruch des Unendlichen nicht als eine Aufhebung des Unendlichen; da der Gedanke des Unendlichen sich auf paradoxe Weise selbst transzendiere, weil er unendlich viel mehr denkt, als er denkt, könne sich das Unendliche nicht „in einem Begehrlichen inkarnieren“27. Für die Frage nach der Inkarnation ergibt sich nach Levinas eine gravierende Konsequenz: Inkarnation ist kein Beschreibungsmodus, um die Unendlichkeit Gottes zu umschreiben; ein solches Verständnis würde die Transzendenz Gottes aufheben und die Unendlichkeit verendlichen. Vielmehr erscheint die Unendlichkeit inkarniert im nicht ausgesuchten Anderen, dessen Nähe sich mir so aufdrängt, dass das Subjekt eine Kernspaltung, ein inneres Zerrissenwerden, erfährt. Dadurch wird zugleich deutlich, was bei Levinas Offenbarung des Unendlichen im Endlichen bedeutet: „Offenbarung geschieht durch denjenigen, der sie empfängt“28. Damit kommt bereits der zweite Aspekt, die Stellvertretung, zur Sprache. Trotz der Bedeutung der Leiblichkeit, die mit den Aspekten der Nähe und des Antlitzes im ersten Gedankengang angeklungen ist, verwendet Levinas den Begriff der Inkarnation explizit erst im zweiten Gedankengang, in dem das Subjekt von der Stellvertretung her verstanden wird. Bei dem Begriff Stellvertretung (subsitution) handelt es sich um einen zentralen, aber auch schnell missverständlichen Begriff des Levinas’schen Denkens, der in streng phänomenologischer Diktion auf das Subjekt, d. h. das je eigene Selbst als Erfahrungs- und Erkenntnisort bezogen ist.29 Der Begriff der substitution meint bei Levinas eine Stellvertretung, zu der das inkarnierte Ich in der Begegnung mit der Alterität herausgefordert ist, noch bevor es eine Entscheidung zu treffen vermochte. „Das Ich“, so Levinas, „ist in sich, eingepfercht in sich, ohne Zuflucht zu irgend etwas in seiner Haut – unwohl in seiner Haut“30. Levinas betont in diesem Kontext, dass Inkarnation „keinerlei metaphorischen Sinn“ habe, sondern im allerwörtlichsten Sinn des Wortes verstanden werden muss, um das Selbstsein des jeweiligen Ich zu verstehen. Die Rede vom inkarnierten Subjekt deutet den Gedanken der Inkarnation im Sinn eines inkarnierten Subjektseins, für das einerseits eine Begegnung mit der Alterität dessen leibhaftige Not und Hilfsbedürfigkeit zum Ausdruck bringt und andererseits das Sub26 27 28 29
Vgl. Jes 58,6f. Levinas, Un Dieu Homme? (wie Anm. 22), 46. Levinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br. 21998, 341. Vgl. auch: Hailer, Martin, Stellvertretung. Studien zur theologischen Anthropologie, Göttingen 2018. 30 Fortsetzung des Zitats: „wobei diese Inkarnation keinerlei metaphorischen Sinn hat, sondern der allerwörtlichste Ausdruck einer absoluten Rückläufigkeit (récurrence) ist, die jede andere Sprache nur annähernd wiedergeben könnte. Das Selbstsein ist kein inkarniertes Ich, zusätzlich zu seiner Verbannung in sich, ein der Beleidigung, der Anklage, dem Schmerz Ausgesetzt-sein.“ (Ebd., 48).
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jekt herausfordert, nicht mit schönen Worten, sondern mit gebender Hand auf diese Not zu reagieren. Welche Konsequenz ergibt sich aus dem wörtlichen Verständnis der Inkarnation für den christlichen Inkarnationsgedanken?
4. Menschwerdung des Wortes und Wortwerdung des Menschen – oder: Der Inkarnationsgedanke im Kontext einer Theologie der Offenbarung Die beiden zuvor dargestellten Gedankengänge von Navid Kermani und Emmanuel Levinas bringen ein spannungsvolles Zueinander zum Ausdruck, das sich für ein christliches Verständnis des Inkarnationsgedankens als höchst produktiv erweist. Denn während der eine die allerwörtlichste Bedeutung und somit die leibliche Dimension sowohl des Subjekts als auch der Alterität betont, akzentuiert der andere die bildhafte, reproduzierbare Darstellung und somit die Frage nach einer möglichen Versprachlichung singulärer Ereignisse. Im phänomenologischen Denken von Levinas kommt diese Spannung in der Gegenüberstellung von Gesagtem (Dit) und Sagen (Dire) zum Ausdruck, insofern der Infinitiv des Verbs eine Dimension der Unendlichkeit benennt, die immer erst im Nachhinein, flektiert und gebeugt, in die Zeit und somit zur Sprache gebracht werden kann. Mit Blick auf den Inkarnationsgedanken wird eine grundlegende Problematik deutlich, die in der gegenwärtigen Philosophie weiterführend bedacht wird. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels hat diese Spannung sehr treffend benannt, indem er im Kontext seiner Überlegungen zu den „Aporien des Unendlichen“ zwei Fragen formuliert hat, die mir für den christlichen Inkarnationsgedanken im bereits entwickelten interreligiösen Diskurs bedeutsam erscheinen. Die Fragen lauten: „Wie kann man Unendliches denken, ohne es zu verendlichen? Wie kann man es denken, ohne den Ausgangspunkt zu verleugnen, von dem aus es gedacht wird?“31 Die Schwierigkeit, die in diesen Fragen deutlich wird, ist eben die Schwierigkeit, die sich im Inkarnationsgedanken als Offenbarung des Wortes Gottes in dem Menschen Jesus von Nazareth gezeigt hat. Mit den Einwänden, die im interreligiösen Diskurs laut werden, ist die Transzendenz des Geschehens festzuhalten; gegen die Einwände ist zu betonen, dass die Transzendenz sich in der Immanenz gezeigt hat, ohne ihre Transzendenz zu verlieren. Dabei gilt es, im christlichen Inkarnationsgedanken aufzuweisen, wie Kermanis Hinweis auf die Epiphanie und das Denken des inkarnierten Subjekts bei Levinas sich spannungsvoll ergänzen. Eine Hilfe bieten die neutestamentlichen Texte selbst, wenn sie davon sprechen, dass Jesus sowohl als das ewige Wort Gottes, durch das alles geworden und das selbst Fleisch geworden sei (Joh 1,1-3.14), als auch als das „Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15) zu verstehen sei. Josef Wohlmuth, der das Theologoumenon von Gotteswort 31
Waldenfels, Bernhard, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012, 53.
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im Menschenwort phänomenologisch reflektiert hat, gibt daher zu bedenken: „In der fleischlichen Gestalt des Wortes, so bekennt der christliche Glaube, ist das Wort Offenbarung, indem auch Jesu Leben und seine leibhaftige Existenz bis hinein in den Tod Wort wird.“32 Die christliche Theologie ist somit von einer doppelten, gegenläufigen Bewegung geprägt: Einerseits gilt das Bemühen dem Aufweis, dass die Unendlichkeit und Transzendenz Gottes in dem einen Menschen Jesus von Nazareth offenbar geworden sei; andererseits wird herausgearbeitet, dass dieses geschichtliche Ereignis sich als geschichtliches Ereignis selbst transzendiert und je neu zur Sprache gebracht werden kann. Deutlich wird diese Bewegung etwa, wenn Papst Leo der Große in einer seiner Weihnachtspredigten konstatiert: „Die Worte des Evangeliums und der Propheten … entflammen unseren Geist und lehren uns, die Geburt des Herrn, das Geheimnis des Wortes, das Fleisch geworden ist, nicht so sehr als eine Erinnerung an ein vergangenes Ereignis zu verstehen, sondern vielmehr als eine Tatsache, die sich vor unseren Augen abspielt … Es ist, als würde uns am heutigen Hochfest noch einmal verkündet: ‚Ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr‘“.33 Die Vergegenwärtigung des Vergangenen als Vergangenen ist eine der zentralen Aufgaben einer kommenden Theologie der Offenbarung in phänomenologischer Wendung.
5. Ausblick Der interreligiöse Diskurs, den ich mit N. Kermani und E. Levinas aufgegriffen habe, verdeutlicht die Radikalität des Inkarnationsgedankens und führt zu einer notwendigen Vertiefung und Intensivierung der christlichen Offenbarungstheologie. Inkarnation lässt sich, wie aus der eingangs zitierten Formulierung von Karl Rahner hervorgeht, als Geheimnis der Menschwerdung des Wortes Gottes verstehen. Wichtig dabei ist, dass der Geheimnisaspekt nicht nur die Seite Gottes, sondern auch die Seite des Menschen betrifft. Theologie und Anthropologie werden somit zu sich gegenseitig erhellenden Annäherungsweisen an das Geheimnis der Inkarnation – und umgekehrt. Die Inkarnation ist demnach nicht nur die Offenbarung Gottes, sondern auch des Menschen als eines Geheimnisses. In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanums heißt es daher: „nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes (klärt sich) das Geheimnis des wahren Menschen wahrhaft auf. […] Christus, der schlechthin neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen 32
Wohlmuth, Josef, Die Tora spricht die Sprache der Menschen. Theologische Aufsätze und Meditationen zur Beziehung von Judentum und Christentum, Paderborn 2002, 70. 33 Leo der Große, Sermo 29,1 (In Nativitate Domini IX), in: PL 54, 226-229.
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selbst den Menschen voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung.“ (GS 22) Inkarnation bedeutet demnach: Dieser Mensch Jesus von Nazareth ist als Mensch die Offenbarungsgestalt Gottes, wobei von der Einzigartigkeit dieses einen Menschen her das Geheimnis nicht nur Gottes, sondern zugleich des wahren Menschseins als Geheimnis zugänglich wird. Um des Inkarnationsgedankens willen bleibt auch die historisch-kritische Exegese ein unverzichtbarer Bestandteil theologischer Reflexion, um jede Form der Mythisierung zu unterbinden. 34 Die Inkarnation als Geheimnis der Menschwerdung des Wortes Gottes in Jesus von Nazareth kann daher nicht abgrundtief genug hinsichtlich der menschlichen und göttlichen Dimension zugleich gedacht werden. Der interreligiöse Diskurs liefert dabei einen wertvollen Beitrag, um diese Abgründigkeiten des Unendlichen im Endlichen und gegenüber dem Endlichen auszuloten.
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Klinger, Elmar, Jesus und das Gespräch der Religionen. Das Projekt des Pluralismus, Würzburg 2006, 36. Wenn Elmar Klinger angesichts der „Menschlichkeit des Menschen“ Jesu von Nazareth die „Einzigartigkeit Jesu“ zu klären suchte, um von dieser Einzigartigkeit aus die Einzigartigkeit aller Menschen hervorzuheben, steht nichts weniger zur Debatte als dieses Geheimnis der Menschwerdung des Wortes Gottes.
„The hearts of man were made great enough to contain God himself “
Hesychastische Anthropologie aus der Perspektive Orthodoxer Psychotherapie
Robert Rapljenović Ein bemerkenswertes Spezifikum des Lehrstuhles für Christliche Spiritualität und Homiletik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt unter Leitung des Lehrstuhlinhabers Prof. DDr. Erwin Möde ist der Forschungsschwerpunkt „Spiritualität im ökumenischen Spannungsfeld zwischen West- und Ostkirche“1, der im Hinblick auf das internationale und interkonfessionelle Priesterseminar Collegium Orientale Eichstätt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat. Während in der Westkirche eine beklagenswerte Diastase zwischen Theologie und Heiligkeit (Hans Urs von Balthasar) entstanden ist2, entwickelte sich in der Ostkirche das Verhältnis von Theologie zur Spiritualität geradezu als Antithese zur abendländischen rational-wissenschaftlichen Theologie3. Nicht selten leidet moderne ostkirchliche Theologie deshalb an einer undifferenzierten Abqualifizierung, als vermeintlich „unwissenschaftlich“ oder nichtssagend „mystisch“4. Der Anspruch, west- und ostkirchliche Spiritualitäts- und Theologiebegriffe in einen Dialog treten zu lassen, schließt deshalb ein bedeutendes Forschungsdesiderat. Dies ist umso erfreulicher, da die zumeist gemeinten West- und Ostkirchen tatsächlich eine Kirchentradition 1
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Vgl. Möde, Erwin, Theologie der Spiritualität an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt: Geschichte, Eigenart und wissenschaftliche Einbindung des Faches, in: Möde, Erwin (Hg.), Christliche Spiritualität und Wandel: Beiträge zur aktuellen Forschung (Glaube und Ethos Bd. 8), Berlin 2008, 11-22, hier 20. Vgl. Štrukelj, Anton, Kniende Theologie, St. Ottilien 2004, 11-23. Zum Verständnis hesychastischen Theologie in der postmodernen Literatur, vgl. Romanides, John S., Patristic Theology, Tagarades 2008; Vlachos, Hierotheos, Orthodox Psychotherapy. The science of the Fathers, Levadia 2017 (11994), 36-41. Auf dem Berg Athos, einem bedeutenden Zentrum hesychastischer Theologie, gilt der Begriff „mystisch“ nicht selten als pejoratives Epitaph: „Wenn eine Katze sich in der Sonne räkelt, dann kann dies als ‚mystisch‘ verschrien werden.“ (Anonymer Mönchsausspruch) Hesychastische Theologie wird hingegen als eigene empirische Wissenschaftsform (in Abgrenzung zur westlichen) gesehen. Ein tatsächliches Problem ist hingegen die inhärente Gefahr eines Unfehlbarkeitsglaubens bei einigen Vertretern, wodurch antiwestliche und antiökumenische Ressentiments unnötigerweise zementiert werden. Demut und Dialog wären jedoch auch in diesen Fragen eher im Geist des Hesychasmus.
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darstellen: die des römischen Kaiserreiches. Eine Erforschung ostkirchlicher Spiritualität ist damit zugleich eine Betrachtung der eigenen Wurzeln aus neuer Perspektive. Aber es gibt daneben für die Westkirche einen weiteren Grund, ostkirchliche Spiritualität nicht zu vernachlässigen. In Mittel- und Osteuropa wurde die Ostkirche insbesondere im 20. Jahrhundert durch einen aggressiven staatlichideologischen Atheismus bekämpft. Seit den 1990er Jahren erholten sich die einzelnen orthodoxen Landeskirchen davon und verzeichneten einen kirchlichen Neuanfang. Für die Wissenschaft bietet sich hier ein regelrechtes „Laborexperiment“, bei dem z. T. konfessionell und spirituell entwurzelte Menschen wieder zurück zum Glauben finden. Gerade die Praktische Theologie könnte von intensiver Forschung in diesem Bereich nicht unwesentliche Erkenntnisse für gelingende und scheiternde Ansätze gewinnen. Der vorliegende Artikel möchte Prof. DDr. Erwin Möde in dieser Festschrift dadurch ehren, dass sein ostkirchliches Forschungswerk durch zwei Schlaglichter zeitgenössischer orthodoxer Spiritualität bereichert wird. Zum einen soll, den Anforderungen nach Erwin Möde an das Fach Spiritualität folgend, die hesychastische Spiritualität der orthodoxen Kirche in seiner spirituellen Tradition, Transformation und (insbesondere) aktuellen Gestaltung analysiert und interpretiert werden.5 Dazu wird die Wiederbelebung des Mönchtums in der MakedonischOrthodoxen Kirche (MOK) am Beginn des 21. Jahrhundert herangezogen, die als gelungenes Beispiel moderner hesychastischer Spiritualität gilt, aber in der westlichen Forschungsliteratur praktisch unbemerkt geblieben ist. Wegen der gebotenen Kürze beschränken wir uns auf einige essentielle Aspekte dieser Spiritualität und der Theologie dieser Spiritualität. Zum anderen soll aus dieser Spiritualitätsbetrachtung versucht werden, eine hesychastische Anthropologie abzuleiten. Freilich müssen beide Schlaglichter Stückwerk bleiben. Die Spiritualität als Ausgangspunkt für eine orthodoxe Anthropologie zu wählen, ist im Übrigen keine methodologische Verrenkung. Die hesychastische Theologie, wie noch gezeigt werden wird, stellt an den Anfang jeder Theologie – also auch einer theologischen Anthropologie – die orthodoxe praktische Spiritualität.6
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Vgl. Möde (wie Anm. 1), 14. Vgl. Vlachos, Orthodox Psychotherapy (wie Anm. 3), 36-41.
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1. Aktuelle Gestaltung hesychastischer Spiritualität am Beispiel der MOK 1.1 Kontext: Wiederbelebung des monastischen Lebens in Nordmakedonien Zur Zeit der staatlichen Unabhängigkeit (1991) des heutigen Nordmakedoniens gab es dort nahezu kein monastisches Leben – allerdings gab es durchaus monastische Berufungen, die in anderen Kirchen lebten und wirkten. Eine Wende trat mit dem bewussten Versuch einer Neubelebung des Mönchtums in der MOK ab 1995 ein. Diese Initiative ist eng verknüpft mit der Person des Metropoliten Naum (Zvonimir) Ilievski (* 1961), der in diesem Jahr als Priestermönch vom Heiligen Berg Athos in seine makedonische Heimat zurückkehrte und zum Bischof der Eparchie Strumica (in der Antike: Tiveriopol) geweiht wurde. Noch im selben Jahr wurden die Klöster des hl. Jovan Bigorski (gegründet 1020) und der Allheiligen Gottesgebärerin Eleusa (gegründet 1080) in Veles neubelebt. Schon 1996 wurden weitere Klöster erneuert und weibliche Ordensgemeinschaften gegründet. Die neuen Klöster sind durchweg kleine zönobitische Gemeinschaften, nach dem Vorbild des Mönchslebens auf dem Athos, die auf ihre Umgebung geistig einwirken sollen.7 Nicht so sehr das gemeinschaftliche Stundengebet, sondern das hesychastische Gebetsleben steht im Mittelpunkt der neu entdeckten Spiritualität. Das Zusammenleben soll weniger durch strenge Disziplin und Vorschriften, wie in großen Klöstern nötig, gestaltet sein, sondern durch eine Art Familienleben und persönliche Begleitung. Geistiger Vater (gr. gerontas) aller Ordensschwestern und -brüder ist Metropolit Naum selbst. Seine Vorträge über die hesychastische Spiritualität an Universitäten in verschiedenen Ländern zogen eine nicht geringe Zahl monastischer Berufungen nach sich. Selbst katholische Theologiestudentinnen und -studenten wechselten zur MOK, um die hesychastische Spiritualität in den Klöstern Makedoniens leben zu können. In Makedonien selbst wurden immer mehr Klöster erneuert oder neu gegründet. Eintritte von jungen Erwachsenen samt ihrer Eltern – freilich in getrennte Klöster – verwirrten die bisher areligiöse makedonische Öffentlichkeit, trugen jedoch zugleich zum weiteren Anwachsen der neuen hesychastischen Bewegung bei. Heute gibt es 20 Klöster mit über 100 Ordensleuten. Die Erneuerung des monastischen Lebens in Makedonien scheint ein überdurchschnittlich positives Ergebnis vorweisen zu können und ist zweifelsohne mit der Person des Metropoliten Naum sowie der hesychastischen Spiritualität verknüpft. Die bescheidenen materiellen Mittel der Klöster und die im Vergleich zu bspw. russischen oder ukrainischen Großklöstern geradezu spartanische und stille 7
Zu dieser Frage vgl. Henkel, Jürgen / Wyrwoll, Nikolaus (Hg.), Askese versus Konsumgesellschaft. Aktualität und Spiritualität von Mönchtum und Ordensleben im 21. Jahrhundert, Bonn 2013.
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Liturgie- und Kirchenausgestaltung – alles scheint auf das Nötigste beschränkt und darum bemüht, vom inneren Gebet nicht abzulenken.
1.2 Hagioritisch-Nordmakedonische Schule Die hesychastisch-asketische Spiritualität, die nun in den Klöstern Nordmakedoniens gelehrt wird, basiert auf den Lehren der Kirchenväter und der geistlichen Väter des Athos. Metropolit Naum Ilievski systematisierte die hagioritischhesychastische Spiritualität, die er bei seinem Aufenthalt als Mönch (1987-1995) des Klosters Grigoriou auf dem Heiligen Berg unter Abt Georgios Kapsanis († 2014) erlernt hatte und entwickelte bzw. systematisierte diese bemerkenswert weiter. Die Spiritualität der Hagioritisch-Nordmakedonischen Schule begreift sich im Anschluss an die Kirchenväter als Psychotherapie8. Der Mensch besteht aus Leib (gr. sárks, sōma) und Seele (gr. psyché), die eine Einheit bilden.9 Infolge des Falles Adams ist die Seele (psyché)10 allerdings verwundet. Die Seele (psyché) selbst (bzw. der Mensch in seiner Einheit von Leib und Seele) wird von den Kirchenvätern sehr unterschiedlich beschrieben und lässt sich nicht auf eine Definition reduzieren.11 Dies verweist auf den transzendentalen Charakter des orthodoxen Begriffs der „Psyche“, der im Gegensatz zum profan-psychologischen Psyche-Begriff wesentlich das transzendentale Element mit einschließt, andererseits die profanpsychologische „Psyche“ (bedingt) mit umfasst. 12 Letzteres erlaubt es Metropolit Naum Ilievski, die orthodoxe Psychologie in einen Dialog mit der profanen Psychologie treten zu lassen.13 8
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Für den westlichen Theologen wird der Begriff im Hinblick auf die Logotherapie von Viktor E. Frankl († 1997) zugänglich. Vgl. Lukas, Elisabeth, Spirituelle Psychologie. Quellen sinnvollen Lebens, München 1998, 9-22, hier insb. 10. Zur Orthodoxen Psychotherapie bzw. Psychotherapie der Kirchenväter siehe Abschnitt 1.3. Vgl. hier und im Folgenden: Vlachos, Orthodox Psychotherapy (wie Anm. 3), 97-109, 121-227. Hilfreich für die Fachausdrücke sind ferner die Glossare in: Vafeidis, Aimilianos, Geistliches Leben, Athen 2013; Vlachos, Hierotheos, Saint Gregory Palamas as a Hagiorite [The Illness and Cure of the Soul in the Orthodox Tradition], Levadia 2005. Im Folgenden kommen wir nicht umhin, die deutschen unscharfen Begriffe wenn nötig mit den entsprechenden griechischen Begriffen zu ergänzen. Dies ist besonders beim Begriff Verstand (diánoia oder nous) nötig. Auch der Begriff (geistiges) Herz ist ein Fachausdruck und sollte nicht mit dem körperlichen Organ verwechselt werden. Mantzaridis, Georgios I., The Deification of Man, New York 1984, 15-25. Zur Unterscheidung verwenden wir hier den Zusatz „profan“, wenn die moderne auf Freud basierende Psychologie gemeint ist. In der Literatur der Orthodoxen Psychotherapie wird diese als „humanistische Psychologie“ bezeichnet. Der Zusatz „humanistisch“ hat jedoch in diesem Kontext einen pejorativen Charakter bekommen und soll deshalb hier nicht verwendet werden. Vgl. Ilievski, Naum, Basics of the Ascetical (Christian) Psychotherapy, in: Prilozi – Makedonska akademija na naukite i umetnostite. Oddelenie za medicinski nauki XXXVI 1, 2015, 165-173; Ilievski, Naum / Ilievska, Angelina, Sociological Dimensions of the FCP Method according to Christian Psychotherapy in Coping with Stress and Suffering, in: Proceedings of the 13th International Conference on Social Sciences (2017), Volume I, 183-188; Ilievski, Naum / Ilievska, Ange-
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Die Verwundung der Seele (psyché) durch den Fall Adams geschah in eben diesem transzendentalen Element. Die Kirchenväter unterscheiden hierbei die ebenfalls nicht ganz scharfen Begriffe Verstand (nous) und Herz.14 Grundsätzlich muss im Folgenden davor gewarnt werden, die Begriffe im Horizont antiker Philosophie zu deuten; dieser Nexus wird gerade von westlicher Theologie grundsätzlich erzeugt. Die griechischen Kirchenväter haben die antiken philosophischen Begriffe (ousía, energeia, hypóstasis, nous) zwar verwendet, ihnen aber gerade in bewusster Abgrenzung zur Philosophie – evoziert durch Häresien, die sich eben durch ein Verständnis der theologischen Begriffe im heidnisch-philosophischen Horizont gebildet hatten – eine fundamental andere Bedeutung beigemessen. 15 Den Nous verstehen die Kirchenväter zum einen allgemein als Verstand, der sowohl das rationale Denken (diánoia) als auch Fühlen u. ä. umfasst, zum anderen – und dies ist in unserem Kontext zumeist der Fall – bezeichnet Nous in einem engeren Sinn das „Auge des Herzens (Seele)“ oder den „Verstand (Nous) des Herzens“ sozusagen als Kern der menschlichen Seele. 16 Der Nous ist in diesem engeren Sinne (und um diesen soll es im Folgenden gehen, wenn dieser Begriff verwendet wird) die eigentliche „Aufmerksamkeit“ des menschlichen Geistes, die bspw. auf rationales Denken (diánoia), auf sinnliche Wahrnehmungen (die äußere Welt), aber auch auf sich selbst (!) ausgerichtet werden kann. Dieser Nous wurde durch den Sündenfall Adams „verdunkelt“, ist gleichsam krank, und die menschliche Seele (das Herz) irrt in dieser transzendentalen Blindheit umher. 17 Die Blindheit des Nous lässt sich theologisch als Getrenntsein von Gott beschreiben – folglich ist das Ziel der Orthodoxen Psychotherapie die Vereinigung mit Gott 18 –; profan-psychologisch bedeutet dies die beobachtete Erfahrung, dass „etwas“19 mit dem menschlichen Geist nicht stimmt. Sigmund Freud kommt so zum Schluss, dass der Mensch letztlich (theologisch wäre anzumerken: in diesem gefallenen Zustand) einen ewig dürstenden „Todestrieb“ 20 inne hat. Die Kirchenväter verwenden den Begriff Herz in diesem Zusammenhang, um neben dem physischen Herz das geistige Herz als Sitz oder Urgrund der Seele, als Quelle der Wünsche und Bestrebungen des Menschen zu bezeichnen. 21 So nimmt
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lina, Spiritual Development in Social Context: The Role of Christian Psychotherapy in the Formation of Identity, in: EJMS (2018) Vol. 3, Nr. 4, 126-130. Vgl. Vafeidis (wie Anm. 9), Glossar: Nous; Herz (geistiges). Sehr schön zeigt dies Romanides in seiner Vorlesung zur Entwicklung der Häresien in der frühen Kirche, enthalten in: Romanides, Patristic Theology (wie Anm. 3), Part B: On the Teachings of Heretics. Vgl. Vafeidis (wie Anm. 9), Glossar. Georgios I. Mantzaridis: The Deification of Man, 1-12. Vgl. Ware, Kallistos, Mensch werden – an Gott teilhaben. Wie versteht die orthodoxe Tradition die Erlösung? Bern 1997, 12-41. Vgl. ebd., 53-69. Die Bestimmung des „etwas“ unterscheidet wesentlich die Orthodoxe Psychotherapie von der profanen Psychotherapie. Vgl. Vlachos, Hierotheos, The Science of Spiritual Medicine. Orthodox Psychotherapy in Action, Levadia 2014 (12010), 65-95. Der Todestrieb ist selbst unter Freud-Anhängern umstritten. In der zitierten Weise verteidigt ihn – als gierigen Lebensdurst – jedoch Žižek, Slavoj, Parallaxe, Frankfurt a. M. 2006, 61. Vgl. Vafeidis (wie Anm. 9), Glossar: Herz (geistiges).
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der Heilige Geist Wohnung im Herzen des getauften Christen 22, kann aber ohne die Zusammenarbeit des Nous (wenn dieser nicht im Herzen ist!) nicht tätig werden. Dadurch, dass der Nous (Verstand) erblindet ist und das (geistige) Herz nicht mehr finden kann – seinen eigentlichen Sitz –, sind die Wünsche und Bestrebungen (des Herzens, d. h. der menschlichen Seele) nicht mehr im Einklang mit den Ansprüchen des Nous (Verstandes). Dem Menschen erscheint es, als werde er von dunklen Kräften bestimmt (die von der profanen Psychologie zumeist im „Unterbewusstsein“ verortet werden) und es bleibt unklar, wie damit umzugehen sei. In der profanen Psychologie gehören die bewussten und unterbewussten Triebe zum Menschen, während in der Orthodoxen Psychologie der Kirchenväter die Person ausdrücklich nicht mit den Leidenschaften identifiziert wird. Die Kirchenväter sehen die Leidenschaften als dämonische Ablenkungen, die den verdunkelten Nous beherrschen. Die Kirchenväter bieten dazu in der Orthodoxen Psychotherapie – so auch in der Systematisierung des Metropoliten Naum Ilievski – ganz konkrete Therapieschritte an. Ziel ist es zunächst den Nous „in das Herz zu bewegen“. Dort soll er dann gehalten sowie von seiner Blindheit geheilt werden und schließlich Gott „schauen“. Für diese drei Therapieschritte werden von den Kirchenvätern verschiedene Begriffe verwendet.23 Metropolit Naum Ilievski beschreibt diese in folgenden aufsteigenden drei Stufen:24 1. Reinigung des Herzens von Leidenschaften: 25 Während der Nous nicht im Herzen weilt, wird das Herz – und damit die menschlichen Handlungen – von Leidenschaften beherrscht. Diesen Versuchungen gilt es in asketischer Übung (siehe unten, die Fünf-Punkte-Methode) nicht nachzugeben und in dem laut rezitierten hesychastischen Gebet26 („Jesus Christus [Sohn Gottes] erbarme Dich [meiner, des Sünders]!“) den Nous auf das Herz auszurichten; das Gebet geschieht im Heiligen Geist und damit wird der Nous beim Gebet mit aktueller Intention auf das Herz (dem Sitz des Heiligen Geistes) gelenkt. Auf dieser Stufe werden die Energien (Wirkweisen) des Nous therapiert und geheilt. 2. Erleuchtung des Nous: Weilt der Nous im Herzen wird er schrittweise erleuchtet und erfährt dadurch eine transzendentale Form von Wissen über Gott. Den Nous gilt es durch vielstündiges hesychastisches Gebet im Herzen zu halten. 27 Zudem 22 23
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Vgl. Ilievski, Naum, Neither will I tell you…, Amazon Kindle Edition 2013, 1049. Vgl. Bunge, Gabriel, Praktike, physike und theologike als Stufen der Erkenntnis bei Evagrios Pontikos, in: Ab Oriente et Occidente. Kirche aus Ost und West (Gedenkschrift für Wilhelm Nissen), hrsg. v. Schneider, Michael / Berschin, Walter, St. Ottilien 1996, 59-72. Vgl. Ilievski, Neither will I tell you... (wie Anm. 22), 187-218. Vgl. ebd., 2069-2133. Vgl. Joantă, Serafim, Das Herz-Jesu-Gebet – Herzstück der orthodoxen Spiritualität, in: Aus dem Glauben Leben. Gesammelte Texte von Metropolit Serafim von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa zur orthodoxen Theologie und Spiritualität, Sibiu 2008, 57-72; Wunderle, Georg, Zur Psychologie des hesychastischen Gebets, Würzburg 2007. Vgl. Ilievski, Neither will I tell you... (wie Anm. 22), 2874.
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kann der Nous nicht mehr durch rein gedankliche Versuchungen aus dem Herzen vertrieben werden, sondern nur durch tatsächliche Gelegenheiten („Gelegenheit macht Diebe“), denen es (auch mit der Fünf-Punkte-Methode) zu widerstehen gilt.28 Auf dieser Stufe wird das Wesen (ousía) des Nous therapiert und geheilt. 3. Theosis – Vergottung: Der vollständig geheilte Mensch wird durch göttliche Gnade gottgleich (nicht dem Wesen nach! – dies ist nur Jesus Christus): „Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch ‚Gott‘ werden könne.“ 29 Damit kommt der Mensch seiner ursprünglichen Berufung nach. Solche Menschen werden in der Tradition „Heilige“ genannt. Der Nous ist dermaßen mit Gott eins, dass diese Einheit nicht mehr durch noetische (d. h. geistliche) Angriffe möglich ist. Deshalb begegnet in den Viten die „leibhaftige“ Erscheinung des Bösen, das versucht den Heiligen physisch zu Fall zu bringen.30 Göttliche Gabe ist das immerwährende Gebet.31 Die Askese – weniger in seinem heutigen Verständnis als „Entsagen“, sondern mit dem Akzent auf „Übung“ oder „Training“ – spielt beim geistlichen Leben eine zentrale Rolle. Die geistlichen Väter betonen, dass jeder Mensch die Kraft zum heiligen Leben besitzt („Wir können, wenn wir nur wollen!“)32 und Gott ihn niemals über seine eigenen Kräfte hinaus in Versuchung geraten lässt 33. Anders sieht es nur aus in Situationen, in die sich der Mensch durch eigene, unvorsichtige Handlungen selbst hineinführt. Dies soll vor der Ausrede schützen, dass das Böse übermächtig sei oder die Leidenschaften zur menschlichen Person gehörten. Die Askese als „bewusste Anstrengungen“ des Menschen sind auf jeder Stufe unterschiedlich:34 Auf der ersten Stufe (Reinigung) muss durch eigene, mühsame Anstrengung (d. h. asketisch) gegen die Versuchungen einzelner Gedanken angekämpft werden. Ebenso ist das laut rezitierte hesychastische Gebet noch asketisch. Auf der zweiten Stufe (Erleuchtung) ist der Widerstand gegen die Versuchungen einzelner Gedanken hingegen ohne eigene, große Mühen möglich (d. h. gnadenhaft), allerdings bleibt der Kampf gegen Versuchungen konkreter Gelegenheiten zur Sünde noch asketisch. Auf dieser Stufe sind nun das mehrstündige Gebet und die gezielt geübte Feindesliebe asketischer Art. Auf der dritten Stufe (Theosis) wird alles gnadenhaft und sozusagen zur zweiten Natur des Menschen. Eine eigene Systematisierung von Metropolit Naum Ilievski ist die FünfPunkte-Methode zur Überwindung von Versuchungen. Die einzelnen Punkte 28 29
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Vgl. ebd., 236. Dieser Gedanke begegnet schon bei Irenäus, Athanasius, Gregor von Nazians und Gregor von Nyssa. Vgl. Lossky, Vladimir, Erlösung und Vergöttlichung, in: Orthodoxie Heute Nr. 27/28 (1969), 2. Vgl. Ilievski, Neither will I tell you... (wie Anm. 22), 238. Vgl. ebd., 2880. Vgl. ebd., 292. Vgl. ebd., 1756. Vgl. ebd., 646-651; 1053; 1557-1608; 1864-1868.
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stammen aus der Lehre der Kirchenväter oder geistlichen Väter des östlichen Mönchtums. Sie wurden aber nach der Erfahrung der geistlichen Führung von Metropolit Naum Ilievski systematisiert und zunehmend mit Erkenntnissen aus seinen psychologischen Studien ergänzt.35 Kommt der Mensch in eine Versuchung oder psychische Stresssituation soll er jede natürliche Reaktion (menschliche Gerechtigkeit: „Auge um Auge“, d. h. Vergeltung) sofort abbrechen und mit folgenden Gedankengängen reagieren: 1. Annahme: Schlüsselmoment ist die dankbare Annahme der Versuchungs- bzw. Stresssituation.36 Natürlich wäre es hingegen, dagegen anzukämpfen. Tatsächlich kann der Mensch aber, nach Naum Ilievski, nur in Versuchungssituationen geistig wachsen bzw. sich Gott annähern.37 Daher liegt der Versuchungs- bzw. Stresssituation eine gewisse Freude inne, da sie dem Christen Fortschritt verspricht. Schlüsselfrage ist hierbei: „Hast Du mich lieb?“ (vgl. Joh 21,17). 2. Danken: Wird die Situation tatsächlich (und nicht nur zum Schein) als Geschenk Gottes gesehen, kann eine dankbare Haltung statt innerer Ablehnung entstehen. 3. Gebet: Der Dank mündet in einem Gebet zu Christus. Völlig verfehlt wäre es gegen die Versuchung zu beten (bspw. „Hilf mir den Kuchen nicht zu essen!“), da dies die Punkte 1 und 2 ad absurdum führen würde. Stattdessen sollte das Gebet um mehr Einheit mit Gott flehen (hesychastisches Gebet bis die Versuchung – besser noch etwas länger – vorüber ist). 4. Selbstanklage: Ferner ist ein schwieriger Schlüsselmoment die Selbstvergewisserung, dass man selbst für die Situation verantwortlich ist und im Grunde noch etwas Schlimmeres verdient hätte. Zwei bedeutende Implikationen sind hier festzustellen: Erstens muss der Nous im Herzen behalten werden und nicht im Suchen rationaler Gründe („Wie konnte es dazu kommen?“, „Wer hat die Schuld?“, „Welche Gründe gibt es für oder dagegen?“) 38 und heftiger Emotionen diesen Sitz verlieren. Sucht man die Schuld bei anderen, endet dies zudem im Urteilen und Verurteilen des Nächsten (Hochmut). Dies ist durch Selbstanklage (Demut) zu bekämpfen, um die eigenen Leidenschaften zu reinigen. Zweitens ist, nach Metropolit Naum, Gott nie ein strafender Gott, der Böses (eigenen Taten) mit Bösem vergilt, sondern immer nur Gelegenheit minimaler Versuchung zur Metanoia gewährt. 5. Keine äußeren Anzeichen: Im geistigen Kampf hat sich gezeigt, dass äußere Anzeichen einer Versuchungs- oder Stresssituation (Kreuzzeichen, lautes Stoßge35
Vgl. Ilievski, Basics of the Ascetical (Christian) Psychotherapy (wie Anm. 13), 165-173; Ilievski / Ilievska, Sociological Dimensions of the FCP Method (wie Anm. 13), 183-188; Ilievski / Ilievska, Spiritual Development in Social Context (wie Anm. 13), 126-130. 36 Vgl. Ilievski, Neither will I tell you... (wie Anm. 22), 434. 37 Vgl. ebd., 938; 953. 38 Vgl. ebd., 3292.
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bet u. dgl.) die Lage verschlechtern. Der Dämon, als böse Kraft hinter den Versuchungen, attackiert nicht zu einer beliebigen Zeit, sondern in Augenblicke der Schwäche bzw. dort wo man Schwachpunkte hat. 39 Ebenso wie das geistige Leben ein Prozess ist, so ist auch der Angriff des Dämons schrittweise und verborgen. 40 Daher ist völlige Ruhe bzw. Normalität nach Außen hin zu halten. 41 Die Punkte sollten dermaßen verinnerlicht werden, dass sie als natürliche Reaktion in Versuchungs- und Stresssituationen wie ein einziger Akt ablaufen. Wichtig ist jedoch, dass dies keine psychotechnische Methode ist, sondern das Gebet eine zentrale Stellung hat. Dadurch wird der Nous im Herzen gehalten, d. h. von Gott gereinigt und erleuchtet, und dadurch erst wird durch den göttlichen Beistand eine Überwindung der Versuchungs- oder Stresssituation möglich. Hier unterscheidet sich die hesychastische Spiritualität von dem heutigen unüberschaubaren Meer an Lebensratgeberbüchern: Die Psychotechnik allein hat kaum Wirkung und unterliegt langfristig, ohne Heilung und Erleuchtung des Nous. Auch geht es hier um eine echte Heilung des Nous und nicht um das Erlernen von intellektuellen Reaktionsprozessen aus Stresssituationen (dies wäre nicht eine Therapie des Nous’ sondern der diánoia). Neben dieser in der Hagioritisch-Nordmakedonischen Spiritualität klassisch gewordenen Fünf-Punkte-Methode zeigt sich noch eine weitere Methode als zentral. Unterliegt der Mensch nicht schon den eigenen Versuchungen, dann wird ein ungerechter Angriff gegen ihn aufgeboten. Ziel des Bösen ist es, den Nous aus dem Herzen zu treiben, hin zu rationalem Abwägen und ausschweifenden Emotionen (siehe Punkt 4 der Fünf-Punkte-Methode). Ausgenutzt wird ein Mitmensch, der seine Leidenschaften nicht gereinigt hat und so ein leichteres Angriffsziel bietet.42 Initiiert wird ein „tragischer“ Angriff, bei dem beide Involvierten sich im Recht sehen – und es aus einer gewissen Warte auch sind. Selbst geistig gefestigte Menschen (bspw. auf Stufe zwei der spirituellen Entwicklung, d. h. Erleuchtung) reagieren in solchen Situationen erst einmal nach dem Maßstab menschlicher Gerechtigkeit: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. 43 Dies zwingt sie aber rational zu Denken (Kausalketten erinnern, Anklagen reflektieren u. dgl.44) und ist mit heftigen Emotionen verknüpft – in anderen Worten, der Nous wandert aus dem Herzen und „erblindet“ („Blind vor Wut“) wieder.45 Die richtige Reaktion ist asketische Feindesliebe46: Die göttliche Gerechtigkeit antwortet wie Christus am Kreuz und trägt neben dem eigenen Kreuz auch das des Angreifers. Dazu soll man sich bewusst machen, dass der Sünder nicht mit den Sünden identisch ist (Väterlehre der Diasta39 40 41 42 43 44 45 46
Vgl. ebd., 320. Vgl. ebd., 2511. Vgl. ebd., 1784-1786. Vgl. ebd., 1871-1879. Vgl. ebd., 433. Vgl. ebd., 3292. Vgl. ebd., 1765. Vgl. ebd., 1237-1243; 1248-1270.
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se von Person und Leidenschaften, siehe oben) und der vermeintliche Angreifer selbst den Angriffen des Bösen unterlegen ist. 47 Tatsächlich ist er weitaus schwächer als man selbst, wenn man ungerecht angegriffen wird; letztlich sind seine Augen, die irrtümlicherweise in einem Fehler sehen, von Gott geschaffen und damit die Anklage selbst wieder eine Gelegenheit auf die Frage Christi zu antworten: „Hast Du mich lieb?“ – siehe Punkt 1 der Fünf-Punkte-Methode. Aufrichtiges, liebendes Gebet für den Angreifer und eine versöhnliche Antwort verwirklichen die von Christus geforderte Feindesliebe.
1.3 Theologie der Spiritualität Die hesychastische Theologie unterscheidet sich grundlegend von der rationellen Theologie in ihrer Erkenntnistheorie. Die rationelle Theologie basiert auf logischrationalen Denkprozessen (diánoia) in der Hoffnung, dadurch Wissen über Gott zu erreichen. Den Grundstein dafür legte im Westen Augustinus von Hippo († 430) mit seinem neuplatonischen Apriorismus. Beim Denkprozess findet der Mensch im verborgenen Bereich seines Verstandes (abditum mentis) Wahrheiten über Gott, die dort schon zuvor angelegt, aber vergessen waren. Bei Thomas von Aquin († 1274) verstärkt sich die Ausrichtung am rationalen Denkprozess noch – diesmal beeinflusst durch Ideen von Aristoteles 48. Der menschliche Verstand hat nach Thomas zwei Vermögen. Zum einen kann er als intellectus possibilis erfahrene Sinneseindrücke speichern und erinnern. Zum anderen ist ihm als intellectus agens möglich, aus diesen Sinneserfahrungen universale Ideen zu abstrahieren. Anders als noch bei Platon sind bei Aristoteles und Thomas die Dinge der physischen Welt eine Vollkommenheit. Der intellectus agens kann durch weitere Denkprozesse als letzte bzw. erste Ursache der Substanz der Dinge Gott (substantia prima simplex49) selbst erkennen – in der sogenannten Analogia entis. Die katholische Scholastik übernimmt im Anschluss die rationale Erkenntnistheorie des Aquinaten. Augustinus und Thomas erben von den heidnischen Philosophen mit der rationalistischen Gotteserkenntnis auch eine Leibfeindlichkeit und Bevorzugung der Seele als Ursache und Prinzip des Körpers. 50 Gott, Engel und Dämonen sind für Thomas letztlich nur erkennbar, weil die Seele in der Lage ist die Form von der Materie zu lösen. 51 47 48
Vgl. ebd., 2761-2828. Aristoteles, De anima III 3. Damit befasst sich v. a. Thomas von Aquin: Sentencia libri de anima, wobei er nur die Lehre des Philosophus darstellt, sie aber nicht unkritisch übernimmt: Aquin, Thomas von, Über Seiendes und Wesenheit / De ente et essentia (Philosophische Bibliothek 415), Hamburg 1988. 49 Ders., De ente et essentia 1,63. Damit meint Thomas in dieser frühen Schrift eine materienlose Substanz, die existieren muss und von der es nur eine geben kann: De ente et essentia 4-6. Diese stellt den Nexus zum altkirchlichen Substanzbegriff vor dem Hintergrund antiker Philosophie (ousía bei Aristoteles) dar. 50 Bei Thomas (und zuvor Aristoteles) ist der Mensch eine aus Materie und Form zusammengesetzte Substanz (substantia composita), wobei der Leib die Materie und die Seele die Form ist. 51 Thomas von Aquin, De ente et essentia 4,14-18.
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Die hesychastische Theologie ist radikale negative Theologie und verwirft jeden Denkakt rationaler Art (diánoia) im Bereich der Gotteserkenntnis. Der Grundgedanke ist, dass ein Wissen in der Stille (gr. hesychia) des Denkens (nous) erlangt werden könne52 und jeder Denkprozess (diánoia) diesen sogar verhindert. Statt rationaler Spekulation (wie in westlicher Theologie) ist hesychastische Theologie empirische Wissenschaft, die ihre Erkenntnisse durch unmittelbare Beobachtung des Objektes (Gott) gewinnt. Westliche Theologie lehnt diese Erkenntnisart ab, da eingewendet wird, dass das Wesen (ousía) Gottes für den Menschen nicht zugänglich ist. Dies ist letztlich der Grund für die Entwicklung der Analogia entis bei Thomas von Aquin und der abendländischen Scholastik. Hesychastische Theologie verfügt aber über eine weitaus präzisere Dogmatik, die eben im Streit um die hesychastische Gebetsmethode im Konflikt zwischen Gregorios Palamas († 1359) und Varlaam von Kalabrien († 1348) ausdifferenziert wurde.53 Orthodoxe Theologie betont die Unerkennbarkeit des göttlichen Wesens (ousía) durch den Menschen. Nur Jesus Christus hat in der Inkarnation des göttlichen Logos und der Hypostatischen Union des göttlichen und des menschlichen Wesens als Mensch Teilhabe am göttlichen Wesen und damit das Wissen Gottes (vgl. Joh 1,18). Die übrigen Menschen haben gnadenhaft Teilhabe an den göttlichen (d. h. ungeschaffenen) Energien des Logos, die vom Wesen aber nicht zu trennen sind. So wirkt Gott durch die ungeschaffenen Energien auf die Welt (kósmos) ein, bspw. durch seine erschaffenden oder erhaltenden Energien. Er kann aber auch auf den Menschen (präziser gesagt: auf dessen Nous) einwirken, durch die reinigenden oder erleuchtenden Energien. Hesychastische Theologie betont, dass der Mensch durch Askese und hesychastisches Gebet seinen Nous ins geistige Herz bewegen kann und dadurch Zugang zu den reinigenden Energien Gottes und – wenn der Mensch entsprechend die Blindheit geheilt habe – den erleuchtenden Energien haben kann. Basis dieser Ansichten sind empirische Beobachtungen der Hesychasten, die berichten im Falle der Erleuchtung diese Energien als noetisch (d. h. geistig) wahrnehmbares Licht gesehen zu haben. Die hesychastische Theologie wurde keinesfalls von Grigorios Palamas begründet, vielmehr verhalf er dieser im Mönchtum existierenden Gebetsmethode zur Dogmatisierung auf Konzilien in Konstantinopel (1341, 1347, 1351) und zur Entwicklung einer präzisen Terminologie. Dazu verwies er auf die ursprüngliche Lehre der Apostel und Kirchenväter. Moderne hesychastische Theologie wurde jedoch durch eine paradigmatische Dissertation54 von John Romanides († 2001) wiederendeckt und zur radikal-polemischen Antithese westlicher Theologiemethodologie 52 53
Vgl. Vlachos, Hierotheos, A Night in the Desert of the Holy Mountain, 2013. Vgl. Papademetriou, George C., Introduction to St. Gregory Palamas, Brookline Mass. 2004; Meyendorff, John, A Study of Gregory Palamas, Leighton Buzzard 1974; Podskalsky, Gerhard, Theologie und Philosophie in Byzanz, München 1977. 54 Verteidigt 1959 an der Universität in Athen/Griechenland. Englische Übersetzung: Romanides, John, The Ancestral Sin. A Comparative Study of Our Ancestors Adam and Eve according to the Paradigms and Doctrines of the First- and Second-Century Church and the Augustinian Formulation of Original Sin, Ridgwood NJ 2002.
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gesteigert. Romanides betont die Opposition des Palamitischen Hesychasmus – und damit der orthodoxen Dogmatik – zur westlichen Theologie.55 Dabei polarisiert er polemisch die heidnisch-philosophischen Hintergründe der Lehren von Augustinus und der Thomistischen Scholastik einerseits und die anti-heidnische Ausrichtung der christlichen Kirchenväter als Gegner der Häresien der frühen Kirche andererseits. Nach Romanides wären die Häresien der frühen Kirche Folgen rationaler Theologiemethoden gewesen (d. h. die Übernahme einzelner philosophischer Konzepte, wie der Ideenlehre Platons). In seinem Œuvre zeichnet Romanides vom Alten und Neuen Testament über die Kirchenväter bis in die Gegenwart einen roten Faden der hesychastischen Tradition und Theologie hinein, wobei er betont, dass die Heiligen immer die gleichen hesychastischen Erfahrungen schildern und durch die Erleuchtung zu Theologen geworden seien. Für ihn ist Theologie vergleichbar mit anderen empirischen Wissenschaften, wie der Astronomie. Durch die Beobachtung der Sterne mit einem Teleskop gewinnt der Astronom Erfahrung, die er mit anderen teilen kann. Astronomische Theorien kann er durch einen Blick durch das Teleskop entsprechend selbst überprüfen. So ist für Romanides nur ein erleuchteter Hesychast, der Gott selbst geschaut hat, ein wahrer Theologe, der versucht – letztlich ist diese Erfahrung schwierig zu formulieren 56 – diese Wahrnehmung in Worte zu fassen. Westliche rational-spekulative Theologie vergleicht Romanides abwertend – um in dem Beispiel zu bleiben – mit einem Astronomen, der viele Bücher über den Sternenhimmel gelesen hat, aber noch nie durch ein Teleskop geschaut hat. Zwar könne auch dieser viele Aussagen über die Sterne formulieren, aber wegen der fehlenden empirischen Überprüfbarkeit entstünden völlig wirre Theorien. Dies sei der Grund für die desaströse Entwicklung der Westkirche, die sich ständig weiter spalten würde und letztlich – als logische Konsequenz der fatalen philosophischen Weichenstellung in der Augustinischen Theologie – in einem radikalen Materialismus und einer säkularen Weltanschauung geendet sei. Romanides wurde in den 1980er Jahren zu einem der bedeutsamsten Theologen Griechenlands – wenn auch die Mehrheit der orthodoxen Theologie nicht dieser Radikalität und auch nicht der hesychiastischen Theologie gefolgt ist und auch heute noch eher spekulative Theologie betreibt. Prominentestes Beispiel für Letzteres ist wohl einer der einflussreichsten Theologen der Gegenwart: Ioannis Zizioulas (*1931). Für die Rezeption Romanides spricht, dass er zum einen dem hesychastischen Mönchtum des Athos eine seit Gregorios Palamas nicht dagewesene 55
Romanides geht es nicht primär um Kritik an der katholischen oder protestantischen Lehre, sondern um eine Profilierung der orthodoxen Kirche und einer identitätsstiftenden Abgrenzung gegenüber den Westkirchen. Er selbst stammt aus den USA und führte später den protestantisch-orthodoxen theologischen Dialog. Er und seine Anhänger müssen jedoch wegen ihrer einseitigen Kritik und noch mehr wegen dem mangelnden Versuch, dem Hesychasmus in anderen Konfessionen ähnliche Prinzipien (die es fraglos gibt) überhaupt zu suchen, als anti-ökumenisch eingeschätzt werden. 56 Nicht ohne Grund hat Symeon der Neue Theologe († 1022) seine hesychastischen Erfahrungen und Theologie in einem großen Opus an Dichtungen zu verarbeiten versucht. Vgl. Symeon der Neue Theologe, Hymnen (= Supplementa Byzantina. Bd. 3), Berlin 1976.
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intellektuelle Aufwertung verlieh und zum anderen der griechischen Orthodoxie zu einer integralen Identität zu Zeiten der Integration in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) verhalf. Letzteres ist nicht zu unterschätzen: Westeuropa imaginiert auch heute noch in Griechenland die Wiege der Demokratie und das Land der antiken (heidnischen!) Philosophen. Dabei wurden die Gefühle der orthodoxen Christen Griechenlands mit ihrem byzantinischen Erbe völlig außer Acht gelassen. Romanides antiwestliches und antiökumenisches Œuvre muss in diesem politischen Kontext gewertet werden.57 Christos Yannaras schließt sich an diese Deutungsweise etwas konzilianter, nicht aber weniger herausfordernd, an. Im religiösen Bereich wurde in Griechenland Hierotheos Vlachos, der Metropolit von Nafpaktos, zu einem der erfolgreichsten Romanides-Schüler. Obwohl auch er den integralen Nationalismus und Konfessionalismus von Romanides erbt, sind seine Forschungen im Bereich der orthodoxen Spiritualität bemerkenswert und machen ihn zu einem der einflussreichsten orthodoxen Theologen der Gegenwart. Sein Standartwerk Orthodox Psychotherapy führte die Romanides‘schen Gedanken weiter, der im Christentum der Kirchenväter keine klassische Religion, sondern eine medizinische Wissenschaft sah. Religionen machen Aussagen spekulativer Art und bleiben deshalb im Bereich des Aberglaubens, was für den Menschen der modernen Gesellschaft unannehmbar geworden sei. Das Christentum, als hesychastische Lebensweise, wolle den Menschen in seiner Gesamtheit an Leib und Seele heilen und sei eine grundlegende medizinische Wissenschaft der Seele. Im Anschluss an Romanides und später auch Vlachos entwickelten sich teils sehr unterschiedliche Vertreter einer orthodoxen Psychotherapie oder einer Psychotherapie der Kirchenväter.58 Unschwer lässt sich erkennen, dass die Spiritualität von Metropolit Naum Ilievski eine Form der Orthodoxen Psychotherapie ist. Tatsächlich war der Abt Georgios Kapsanis des Klosters Grigoriou (Athos), in dem auch Metropolit Naum Ilievski die hagioritisch-hesychastische Gebetsweise kennenlernte, ein Unterstützer John Romanides’ und enger Freund von Hierotheos Vlachos.59 Allerdings lassen sich auch bedeutende Unterschiede zur griechischen hesychastischen Theologie ausmachen. Während die drei geistigen Entwicklungsstufen zur klassischen monastischen Lehre gehören, systematisiert Naum Ilievski seine Fünf-Punkte-Methode gegen Versuchungen auf eine völlig neue Art. Anders als die Palamitische Lehre und die Fortführung bei Romanides und Vlachos ist Naum Ilievski nicht kategorisch gegen die profane Psychologie eingestellt, sondern ver57
Vgl. Payne, Daniel P., The Revival of Political Hesychasm in Contemporary Orthodox Thought. The Political Hesychasm of John S. Romanides and Christos Yannaras, Lanham 2011. 58 Hierotheos Vlachos ist mit seinen hier zitierten Werken sicher der bekannteste. Naum Ilievski hat aus politischen Gründen kaum Möglichkeiten mit der griechischen Schule Romanides’ (sie ist dezidiert gegen Nordmakedonien und gegen nicht-kanonische Kirchen wie die MOK) öffentlich zu arbeiten. 59 Vgl. Vlachos, Hierotheos, Fr. George Kapsanis, Former Abbot of Gregoriou Monastery of Mount Athos (+ June 8, 2014), https://www.johnsanidopoulos.com/2014/07/fr-george-kapsanis-formerabbot-of.html [Zuletzt aufgerufen am 1. März 2019].
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sucht durch den Vergleich mit ähnlichen Methoden der profanen Psychologie eine bessere Verständlichkeit und Anwendbarkeit der monastischen Prinzipien zu erarbeiten. Während Hierotheos Vlachos lediglich die bei den Kirchenvätern und Mönchsvätern erwähnten Methoden auflistet, schafft es Naum Ilievski, eine kompakte und leicht erlernbare Methode zu formulieren. Anders als viele monastische Asketen, betont er nicht an erster Stelle den Kampf bzw. Konflikt gegen die Versuchungen, sondern destilliert das eigentlich hesychastische Kernelement aller orthodoxen Spiritualität: die Veränderung des Menschen durch den Kontakt mit Gott. Darin ist er im Grunde der Radikalität des Hesychasmus bei Romanides näher als die griechischen Vertreter orthodoxer Psychotherapie. Radikale hesychastische Theologie verstörte noch bei Romanides und Vlachos kirchliche Vertreter. Nicht nur der Anspruch für Theologen wird sehr hoch angesetzt, auch die Weiheämter werden – in Anschluss an bspw. Symeon den Neuen Theologen – an den Fortschritt im geistigen Leben gebunden.60 So solle zum Diakon nur ein Gereinigter (Stufe 1), zum Priester ein Erleuchteter (Stufe 2) und zum Bischof gar nur ein Heiliger, der die Theosis erreicht habe, (Stufe 3) geweiht werden. Natürlich ist man sich in der hesychastischen Theologie der Realität – schon Symeon der Neue Theologe demystifiziert dies – bewusst, jedoch soll damit wieder auf das ursprüngliche Prinzip verwiesen werden. Die heutige Lage sei in dieser Hinsicht desaströs. Ebenso hart und unversöhnlich urteilen Romanides und Vlachos über dogmatische und ekklesiologische Probleme. Deutlich wird eine bemerkenswerte Enge im Denken, die sich im ganzen Konzept der Orthodoxen Psychotherapie widerspiegelt. Erfreulich ist dagegen die Breite bei Naum Ilievski, die auf dem konsequenteren hesychastischen Ansatz und entsprechender Erfahrung beruhen dürfte. In seiner Auslegung zu einer Schriftperikope kommt er zum Schluss, dass es letztlich nicht auf ekklesiologische Zugehörigkeit oder Glaubensinhalte ankomme, sondern auf die Frucht – und dem einzigen zuverlässigen Kriterium61 – spirituellen Wachstums: der Liebe zum Nächsten. Es ist schwer einzuschätzen wie diese Feststellung genau zu deuten ist. Zum einen ist in der hesychastischen Tradition eine strenge Orthodoxie in Glaubensfragen völlig unstrittig. Zum anderen impliziert dies auch ekklesiologische Probleme. Mit Sicherheit will Naum Ilievski diese Grundpfeiler des Hesychasmus nicht aufweichen, sondern vielmehr den schwer erkennbaren Aspekt des Mysteriums der göttlichen Oikumeniā (d. h. Heilstat) offenlegen. Nach konservativer orthodoxer Ekklesiologie gehört er und sein Mönchtum, wie die ganze MOK, nicht zur Kirche Christi, da sie eine nicht-kanonische orthodoxe Kirche sind; sie haben sich einseitig von der Serbisch-Orthodoxen Kirche für unabhängig erklärt. Die hesychastische Erfahrung zeigt jedoch, dass die ekklesiologischen Streitigkeiten, so Naum Ilievski, nicht wesentlich sind. Ungeachtet dessen, ob man 60
Vgl. Vlachos, Orthodox Psychotherapy (wie Anm. 3), 61-96; Ilievski, Neither will I tell you... (wie Anm. 22), 487; 1455. 61 Ebd., 2657.
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dieser Meinung nun folgen möchte oder nicht, begegnet hier eine radikale hesychastische Theologie, die in ekklesiologischen Fragestellungen deutlich über spirituelle Erfahrungen argumentiert als ihre rigorosen Gegner, die zwar als Begründer der modernen hesychastischen Theologie gelten, in diesen Streitfragen jedoch klassisch mit scholastischer Theologie argumentieren. Auch die „demystifizierende“ Ausrichtung gegenüber der hesychastischen Methode und die völlig neuen psychologischen Systematisierungen verlassen die eingetretenen Pfade der griechischen Schule und eine größere Nähe zur profanen Psychologie, die sich auch in der Zusammenarbeit mit dem russisch-orthodoxen (Profan-)Psychologen Dmitriy Aleksandrovič Avdeev zeigte.62 Metropolit Naum Ilievski versucht die Orthodoxe Psychologie mit seiner eigenen Systematisierung in die profan-wissenschaftliche Psychologie einzuarbeiten. 63
2. Hesychastische Anthropologie 2.1 Negative Anthropologie Ausgehend von der hesychastischen Theologie, die in ihrer Ontologie eine strenge negative Theologie vertritt, muss im Versuch einer hesychastisch-theologischen Anthropologie auch die Erfahrung der Erleuchtung und Theosis im Zentrum stehen. Jede nicht negative Anthropologie beschreibt nicht den Menschen, sondern nur den vorgefundenen gefallenen Menschen in all seiner Gebrochenheit 64. Letzterer erfährt sich selbst und die Welt um sich herum in unverständlicher Zerrüttetheit und so bleibt jeder Versuch einer positiven Anthropologie ein Teilausschnitt des Ganzen ohne die Erkenntnis, was zum Menschen gehört und was nicht zu ihm gehört65. Im Taborlicht, den ungeschaffenen göttlichen Energien, offenbart sich Gott dem Menschen unmittelbar als ein ganz Anderer (keinesfalls ein Anderes!), unver62
Vgl. Ilievski, Naum, Ne znaete od kakov duh ste, Veljusa 2010, 190-194; Avdeev, Dmitriy A., Pastirska griža za dušata. Psihijatriski aspekt, Veljusa 2010; Ders., Orthodoxe Psychotherapie, in: Der Schmale Pfad, Bd. 8 (2004). 63 Vgl. Ilievski, Basics of the Ascetical (Christian) Psychotherapy (wie Anm. 13), 165-173; Ilievski / Ilievska, Sociological Dimensions of the FCP Method (wie Anm. 13), 183-188; Ilievski / Ilievska, Spiritual Development in Social Context (wie Anm. 13), 126-130. 64 Auffällig ist schon bei Freud, dass seine Erkenntnisse (und damit das entsprechende profanpsychologische Menschenbild) in nicht geringem Maße auf der empirischen Erfahrung der Krankheit basieren – und nicht der gesunden Fälle. 65 Die Frage nach den Mächten des Unterbewussten bleibt so unergründbar. Ein Beispiel: Materialistische Psychologie kann nicht über Dämonen sprechen und muss a priori jede nicht materialistische Wirkmacht ins diffuse Unterbewusstsein verschieben und damit zum Teil des Menschen machen. Die „brokeness of man“ bleibt ihr ein Rätsel, vgl. Popovich, Justin, Man and God-Man, Alhambra CA 2009, 67-106.
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gleichbar mit irgendetwas Geschaffenen und damit ungreifbar sowie unbeschreibbar. Im Licht der göttlichen Person erleuchtet die menschliche Person. So erlebt der Mensch im Schauen des Taborlichtes eine Fülle, die zuerst als Heilung des eigenen Ichs und dann nicht nur als ein Gegenüber, sondern als Vergottung (Theosis) empfunden wird. Diese Erfahrung hat zwei grundlegende Folgen: i) Jeder materialistische Naturalismus ist damit als alleinige Basis wissenschaftlicher Erkenntnis unannehmbar und Anthropologie damit als notwendigerweise metaphysisch erkannt;66 ii) Die menschliche Person hat neben den materialistischen Intellektsfunktionen (wie Logik, Erinnerung und Sinneswahrnehmung) auch eine noetische Intellektsfunktion (im Verstand – Nous), die fähig ist, das Unerfahrbare zu erfahren67 und darin seine Erfüllung zu finden68. Dies mindert die Erträge der einzelnen Anthropologien (medizinische, psychologische, neurologische, philosophische u. dgl.) zum Erkennen des Menschen nicht, insofern sie sich ihres eigenen Horizonts bewusst sind. Allerdings maßt sich die hesychastische Anthropologie an, den Kern des Menschen (das Person-Sein) in einer Weise zu erkennen, wie sie nur ihr möglich ist: in ihrer transzendierenden Dimension der noetischen Fakultät (wenn „der Nous im Herzen ruht“). Die beiden Erkenntnisse hesychastischer Theologien (i. und ii.) führen zu einer kopernikanischen Wende (d. h. von der geozentrischen zur heliozentrischen Perspektive) in der Anthropologie: weg von einer anthropozentrischen hin zu einer theozentrischen Menschensicht. Letztlich kann nur ein übersteigender Gesichtspunkt den Gegenstand überblicken. Systematisieren lässt sich der Mensch aber nicht – und so bleibt jede hesychastische Anthropologie (wie auch negative Theologie) ganz bewusstes Stückwerk.69 Eine der bedeutendsten Erkenntnisse der hesychastischen Anthropologie ist nämlich, dass der Mensch ein Mysterium bleibt, gerade in Bezug auf das ewige Mysterium: Gott, seinen Schöpfer. 70
2.2 Mensch als Kreatur: Imago et Similitudo Dei Anthropozentrische Anthropologie sieht den Menschen als sprachlich begabtes Tier auf der höchsten Evolutionsstufe. Theozentrische Anthropologie kann dieser Feststellung erst einmal voll zustimmen: Der Mensch gehört in die geschaffene Welt 66 67 68 69
Ebd., 45-55. Basilus d. Gr., PG 29,499; Gregor v. Nyssa, PG 44,1340C. Irenäus, PG 7,1108C; Athanasius, PG 25,5. Vgl. Clément, Olivier, On Human Being, A Spiritual Anthropology, London 2000 (Erstauflage: Paris 1986), 9f. 70 Gregor von Nyssa, PG 44, 1329B; Cyrill von Alexandrien, PG 76, 1088; Johannes von Damaskus, PG 95, 228D; Vgl. dazu auch: Xintaras, Zachary C., Man – the image of God. According to the Greek Fathers, in: The Greek Orthodox Theological Review, Vol. 1, Nr. 1 (1954), 48-62, hier 57f.
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hinein mit all ihren innerkosmischen Evolutionsprozessen71 und erfährt sich den Pflanzen und noch mehr den Tieren verwandt und überlegen 72. Unstrittig ist, dass er den Tieren körperlich zum Teil unterlegen ist, dies aber mit seinem Geist nicht nur auszugleichen versteht, sondern klar übersteigt. Der theozentrischen Anthropologie genügt es aber nicht auf der naturalistischen Ebene stehenzubleiben. In der hesychastischen Anthropologie der Kirchenväter war der Schöpfungsbericht eine der wichtigsten anthropologischen Quellen und Gen 1,26 („Faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram“) eine Schlüsselstelle.73 Der Schöpfungsbericht beantwortet nicht die Frage des Schöpfungshergangs – dazu ist sich die hesychastische Theologie der Gefahr der Idolatrie der Schriftdeutung zu sehr bewusst – und gerät so auch in keinen Konflikt mit der Naturwissenschaft. Vielmehr beantwortet Offenbarung dasjenige, was keine geschaffene Wissenschaft beobachten kann74: den Schöpfungszustand des Menschen im Paradies, seine ursprüngliche Bestimmung und damit sein reines Wesen. Ohne an dieser Stelle die reichen Erkenntnisse neo-patristischer Synthese zur menschlichen Gottesebenbildlichkeit erörtern zu können 75, soll eine hesychastischspirituelle Deutung versucht werden. Die Kirchenväter beleuchten je einen eigenen Aspekt in ihren Ausführungen. So wundert es nicht, dass es keine monolithische Väterlehre geben kann. Natürlich stießen sie auch in der Frage nach der Bedeutung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen auf Probleme, die im Detail zu unterschiedlichen Deutungen führten. Die hesychastische Hermeneutik der HagioritischNordmakedonischen Schule (siehe Kapitel 1) des Schöpfungsberichtes und Sündenfalles im Buch Genesis hat weitaus weniger Schwierigkeiten bspw. den ursprünglichen Zustand des Menschen vor dem Sündenfall zu bestimmen. Offensichtlich sündigt Eva nach nicht geringem Dialog mit „der Schlange“. Danach sündigt Adam nach einem Dialog mit Eva. Im Spiegel hesychastischer Theologie können Eva und Adam nicht im Zustand der Theosis gewesen sein. Auf der höchsten geistigen Entwicklungsstufe kann das Böse (der Satan, der Dämon) den Menschen nicht mehr zur Sünde verführen, sondern nur noch physisch bekämpfen. Auch kann gesehen werden, dass Eva erst durch eine konkrete Angebotssituation (die Frucht wird tatsächlich angeboten und schmackhaft gemacht) in Sünde fällt. Dies zeigt, dass der erste Mensch im Zustand der zunehmenden Erleuchtung seines Verstandes (Nous) Gott im Paradies schauen durfte. Geduld (Askese, d. h. konkret 71 72 73 74
75
Zur Evolutionstheologie aus Sicht neo-patristischer Synthese, vgl. Papademetriou, George, The Nature of Man. According to the Holy Fathers, Dewdney 2019, 72-86. Vgl. Xintaras (wie Anm. 70), 51. Vgl. in Auswahl: Néllas, Panagiótis, Zóon theoúmenon, Athen 2006; Yiannarás, Chrístos, Alphavitári tis pístis, Athen 2006, 88-102. Clément (wie Anm. 69), 113: „Geological and paleontological investigations are necessarily stopped at the gates of Paradise, where life was of a different order. Science, itself a product of the fallen state, cannot go back before the Fall.“ Vgl. Gnau, Dorothea, Person werden: Zu Wesen und Bestimmung des Menschen in der Theologie von Panagiotis Nellas, Christos Yannaras und Ioannis Zizioulas, Würzburg 2015, 71-107; 163f; 266f; Xintaras (wie Anm. 70), 48-62.
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Fasten und Nüchternheit76) wären wohl noch zur Theosis nötig gewesen, schließt der Hesychast. Auch der Fall Adams ist geradezu lehrbuchhaft: Direkt nicht verführt und wohl auch im Zustand der Erleuchtung des Verstandes wird er durch einen Menschen indirekt verführt, da das Böse sich die Leidenschaften (Hochmut) des Mitmenschen zunutze machte. Hier wäre eine misogyne Deutung völlig fehl am Platze („die Frau war leichter zu verführen“), vielmehr ist die Gleichwertigkeit nochmals betont: Obwohl Eva ihren Adam verführt, ist jeder der beiden für ihren je eigenen Fall selbst verantwortlich (die Schuld ist immer bei sich selbst zu suchen: siehe Schritt 4 in der Fünf-Punkte-Methode) und das Böse ist letztlich nicht bei der Frau festzumachen, sondern als etwas Externes (siehe Schritt 5 in der Fünf-PunkteMethode) und – dies ist eine zentrale Erkenntnis – als etwas dem Menschen Äußerliches, ihn aber zur Trennung von Gott auch indirekt bringen Könnendes. Folgende Erkenntnisse lassen sich zusammenfassen: Der Mensch ist eine durch und durch gute Kreatur Gottes. Das Böse tritt von außen an ihn heran und hat keine Macht ihn zum Bösen zu zwingen77, wohl aber beeinflusst es seine Handlung (sein geistiges Herz). Das entschuldigt den Menschen und seine Handlungen nicht im Geringsten, aber es verortet das Böse nicht im Menschen, sondern außerhalb von ihm. In hesychastisch-dogmatischer Terminologie: Der Mensch wird böse seiner Energie nach, nicht seiner Natur nach. Durch Reue (gr. meta-noia: „einer Umkehr über den Nous“, umdenken) kann er wieder gut werden. Die zweite wichtige Erkenntnis betont die Bedeutung der Feindesliebe. In der Sünde bzw. den negativen Einflüssen anderer Menschen (Eva) zeigen sich die Leidenschaften, die ihr Herz beherrschen, und ihre Schwachheit. In der eigenen Reaktion (Adam) zeigen sich die Leidenschaften, unter denen man selbst leidet, und die eigene Stärke, diese zu beherrschen. Den vermeintlichen Feind (tatsächlich den Angreifer) zu lieben, heißt nichts anderes als andere Menschen in ihrem Mensch-Sein wahrzunehmen – nicht sich selbst oder den Mitmenschen mit den Leidenschaften zu verwechseln, ihn zu entmenschlichen – und mit der einzig sinnvollen Beziehungsrelation zu antworten: den Nächsten zu lieben (vgl. Mt 22,3440). Die letzte Erkenntnis, die genannt werden soll, ist grundlegend: Mensch-Sein ist kein Ereigniszustand, sondern ein Prozess des Mensch-Werdens. Mensch-Sein bedeutet Mensch-Werden durch Reinigung, Erleuchtung und Theosis. Dies gilt vor und nach dem Fall. Und gerade hier zeigt sich ein tragischer Aspekt des Falles: Der Mensch wollte die Apotheosis, d. h. die Vergöttlichung durch einen Akt (quasi magisch) statt einer Vergottung durch die Gnade Gottes. Dahinter steckt die Ungeduld, die Angst zu kurz zu kommen, die sich in jeder Sünde wiederspiegelt, und die 76
Gr. nêpsis: u. a. Wachsamkeit des Nous über alle Gedanken und Bewegungen der Seele. Vgl. Vafeidis (wie Anm. 9), 96f; Vlachos, Orthodox Psychotherapy (wie Anm. 3), 215ff. 77 Hollywood Filme verbreiten mit großem Erfolg ein sensationalistisches (eher an mittelalterliche Predigten anmutendes) und wissenschaftlich nicht ernstzunehmendes Bild von Dämonen, die gegen den Willen des Menschen vollständigen Besitz von ihm ergreifen.
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das Wasserzeichen des ersten Falles (die Ursünde?) zu sein scheint. Ein weiterer Aspekt ist, dass Zivilisationsfortschritt in der Neuzeit vor allem ein technischer Fortschritt ist, dabei aber der Mensch ganz aus dem Blick gekommen ist. Es stellt sich die Frage, ob sich die Menschlichkeit gar im Rückschritt befindet. MenschWerden findet im Herzen statt, nicht außerhalb. Jede neue Generation und jedes menschliche Wesen für sich allein fängt wieder bei null an und ihr Fortschritt hängt von den geistigen Lehrern ab – nicht von den besseren Lebensumständen. Nichts anderes meint Spiritualität im hesychastischen Sinne.
2.3 Mensch als Person Indem der Mensch in der Erleuchtung und Theosis das göttliche Licht schaut, wird er hineingenommen in das Mysterium Christi und der Trinität. Denn der Mensch wird durch die Theosis nicht göttlich dem Wesen (ousía) nach – nur der göttliche Logos wurde in seiner Menschwerdung „ganz Mensch und ganz Gott“. Jesus Christus war folglich dem Wesen nach sowohl ganz göttlich, als auch ganz menschlich. Das bedeutet, er hatte der Natur nach Einheit mit dem Vater und dem Heiligen Geist und teilte somit das Wissen und Bewusstsein Gottes.78 Der Mensch jedoch teilt nicht Wissen und Bewusstsein Gottes, sondern hat nur Anteil an seinen Energien79 der Erleuchtung und der Theosis.80 Folglich hat der Mensch keine Hypostatische Union mit dem göttlichen Logos – dies hatte nur die menschliche Hypostase in der Menschwerdung Christi –, sondern er wird durch die göttliche Energie in seiner Person (gr. hypóstasis) Teil des mystischen Leibes Christi. Diese dogmatischen Ausführungen sollen kurz skizzieren, wie der hesychastische Personenbegriff an die Christologie und Trinitätslehre gebunden ist. 81 In der Gegenwart scheint diese transzendentale Tiefe verloren gegangen zu sein. Heute meint selbst der christliche82 Mensch unter dem Begriff „Person“ eigentlich das Individuum. Die Unterschiede könnten jedoch nicht größer sein: Das Individuum definiert sich über die Abgrenzung zu allen anderen Menschen und natürlich auch Gott. Es ist eine Rückkehr in eine überwunden geglaubte heidnisch-geozentrische Weltsicht: In diesem radikalen Anthropozentrismus ist das Individuum selbst (das eigene Glück, die eigenen Gefühle) zum Kriterium aller Entscheidungen gewor78 79
Vgl. Romanides, Patristic Theology (wie Anm. 3), 287f. Die göttlichen Energien sind als göttliche Wirkweisen (erschaffende, erhaltende, reinigende, erleuchtende u. dgl.) zu verstehen; wenig hilfreich ist es sie mit elektrischen oder anderen geschaffenen Energien zu vergleichen. Klarer wird es, wenn klar ist, dass sie nicht ohne das Wesen (die Natur) Gottes getrennt gedacht werden können. Diesen Fehler begehen selbst orthodoxe Theologen im Eifer der scholastischen Spekulation. Vgl. Ebd., 287-295. 80 Vgl. ebd., 287-295. 81 Johannes v. Damaskus, PG 94,1340D. 82 Anderen Religionen ist ein Zugang zum christlichen Personenbegriff selbstredend schwierig. Da sich daran aber der internationale Begriff der Menschenwürde anschließt, würde eine Diskussion über die Möglichkeit und Grenze eines säkularen Menschenwürde-Begriffs lohnen.
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den.83 Die Person – vielleicht sollte man den unverständlicheren Begriff Hypostase ostentativ als Abgrenzung wählen – definiert sich hingegen im Lichte des Doppelgebots der Liebe (vgl. Mk 12,29ff; Mt 22,37ff; Lk 10,27) und ist wesentlich durch eine theoanthropozentrische Relation geprägt84. Die Person kann sich selbst, ohne Gott und den Nächsten in einen liebenden Blick zu nehmen, gar nicht denken. 85 Der Mensch muss in dieser „eschatologischen Perspektive“86 – als christliche Antwort auf eine säkulare Welt – gedacht werden.
2.4 Mensch und Kosmos Am Ende sollen die bisherigen Gedanken in Verbindung gebracht werden. Der sich als Person öffnende Mensch wendet sich nicht nur Gott und dem Nächsten zu, sondern kann auch allem Geschaffenen, dem Kosmos in seiner Schönheit und Ordnung, nur in liebender Haltung antworten. Als Individuum hört der Mensch an seiner eigenen Haut auf; sowohl in der Sexualität als auch gegenüber seiner Umwelt befriedigt er sich letztlich selbst, um am Ende durstig zu sterben. 87 Als Person öffnet sich der Mensch. Die Haut trennt nicht, sie bildet die Kontur der Person und die Kontaktfläche mit dem Kosmos. Die hesychastische Theologie bekämpfte insbesondere jeden drohenden Dualismus, der sich durch die heidnische Umwelt der frühen Kirche auch in die Theologie zu schleichen versuchte.88 Die Westkirche übernahm mit Augustinus einen platonischen Dualismus, der zu einer leibfeindlichen Auffassung und letztlich in einem tragischen katholischen Moralismus und protestantischen Pietismus endete. Auch die Ostkirche war bei einzelnen Äußerungen der Kirchenväter vor dualistischen Tendenzen nicht befreit, entgegen der Augustinischen Erbsündelehre unterscheiden sich die griechischen Väter aber gerade durch das biblisch-jüdische Menschenbild des Leibes (sarks, soma) und der Seele (psyche) als Einheit. 89 Der Leib ist der Träger der Seele – das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Diese Leibfreundlichkeit wird vollendet durch die Inkarnation des Gottmenschen Christus. Der göttliche Logos nimmt Fleisch an, d. h. wird ganz Mensch. Gerade der menschliche Leib wird zum Mittelpunkt des Sakramentes der Erlösung: Kreuzigung und Tod, Auferstehung des Leibes – Eucharistie in Leib und Blut. Gott 83 84 85
86 87 88 89
Abtreibung, Euthanasie, pränatale Diagnostik u. dgl. sind kritische Indikatoren dieser Entwicklung. Basilius d. Gr., PG 31, 917A; Gregor v. Nyssa, PG 44,156B; 44,1333B. Diese Grundhaltung nennt der geistige Vater Paisios der Hagiorit „Philotheoanthropie“ (GottMenschen-Liebe) im Gegensatz zur profanen „Philanthropie“ (Menschenliebe). Vgl. Ilievski, Neither will I tell you... (wie Anm. 22), 1986. Vgl. Schmemann, Alexander, Current Spirituality. Orthodoxy, in: The Study of Spirituality, hrsg. v. Jones, Cheslyn / Wainwright, Geoffrey / Yarnold, Edward, London 1986, 519-524. Vgl. Clément (wie Anm. 69), 69-72. Vgl. Romanides, John, Man and his True Life, According to the Greek Orthodox Service Book, in: The Greek Orthodox Theological Review, Vol. 1, Nr. 1 (1954), 63-83. Vgl. ebd., 64-69.
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wird ganz Mensch, damit der Mensch ganz Gott werden kann.90 Jesus Christus ist Imago Dei, und der Mensch Imago Imaginis Dei. 91 Die Taufe Jesu im Jordan, in der die Ostkirche die Heiligung des Kosmos erkennt, zeigt das wahre Verhältnis des Menschen zum Geschaffenen. Wird das menschliche Herz nicht von Gott erfüllt, so richtet sich der unstillbare Durst auf die geschaffenen Dinge: „‘The hearts of human beings,‘ says Nicolas Cabasilas, ‚were made great enough to contain God himself‘ (Life in Christ, 2.E). If they do not contain the Uncreated they will turn their desire towards created objects, and then only nothingness can spring forth, for every person is a gaping space waiting to be filled with God.“92 „Denn das Dürsten der menschlichen Seele verlangt ein grenzenloses Wasser. Wie aber könnte dieser so begrenzte Kosmos dem je genügen?!“ 93 Die Antwort darauf: Fasten in Bezug auf das Geschaffene und Ausrichten auf den Ungeschaffenen. Dann vermag der Mensch wieder im Kosmos – in der Natur und den Mitmenschen – die göttlichen Energien zu sehen, die er ob der Blindheit des Nous nach dem Fall nicht mehr sehen kann. 94 Erst dann entsteht das Bewusstsein einer Einheit mit dem Kosmos und die Haut wird zur Verbindung mit der Welt: „But for those who believe and know – and this is the joy to which all are called – the heart of the saints is the ‚place of God‘ and therefore the center of the world; better than that, the heart contains the world and so situates it in love.“ 95
90 91 92 93 94 95
Vgl. Lossky, Vladimir, Erlösung und Vergöttlichung, in: Orthodoxie Heute Nr. 27/28 (1969), 2. Vgl. Gnau (wie Anm. 75), 74-80. Clément (wie Anm. 69), 21. Kabasilas, Nikolaos, Das Buch vom Leben in Christus, Freiburg i. Br. 1991, 88. Vgl. Clément (wie Anm. 69), 114f. Ebd., 111.
Fragmente einer Anthropologie in den „Pensées“ von Blaise Pascal
Heinrich Petri „Anthropologie für das 21. Jahrhundert“ ist sicher ein anspruchsvoller, aber auch ein naheliegender und angemessener Titel für ein Buch, das in besonderer Weise Erwin Möde gewidmet sein soll. Obwohl im Titel ein Hinweis auf die Gegenwart und die Zukunft enthalten ist, wage ich doch einen Blick in die Vergangenheit. Es sollen einige anthropologisch bedeutsame Aussagen von Blaise Pascal (1623-1662) vorgestellt und interpretiert werden, die wohl auch heute noch Beachtung verdienen. Denn auch Pascal stand in einer Zeit des Umbruchs und hat versucht, den Wandel, der sich ankündigte und teils wohl schon vollzogen war, zu deuten und somit einen Beitrag zur Orientierung zu leisten. Dass wir heute einen tiefgreifenden Wandel auf fast allen Gebieten erleben, ist schon oft vermerkt worden. So steckt sicher auch im Titel dieses Buches zumindest ein Hinweis darauf, dass auch wir am Beginn einer neuen Epoche stehen, in der für neue Fragen und Probleme auch neue Antworten und Lösungen gefunden werden müssen. So ist m. M. nach die Situation, in der Pascal sich befunden hat, mit der unseren zumindest vergleichbar. Dass in diesem Beitrag nur Fragmente einer Anthropologie aufgezeigt werden sollen, erklärt sich aus der Geschichte und der Eigenart des Textes, der Hauptbezugspunkt der folgenden Ausführungen sein soll. Denn bei den Pensées handelt es sich um eine große Anzahl von handschriftlichen Notizen und längeren Abhandlungen, die in seinem Nachlass gefunden wurden und 1670 erstmals publiziert worden sind. Spätere Ausgaben tragen z. B. den Titel „Gedanken über die Religion und einige andere Themen“ oder einfach „Über die Religion und über einige andere Gegenstände“. Als Einstieg in die Thematik eignet sich ein Text, der recht programmatisch erscheint und eine wohl auch für Pascal wichtige Aussage enthält. „Der Mensch ist offenbar zum Denken geschaffen, das ist seine ganze Würde und sein ganzes Verdienst; und es ist seine ganze Pflicht, richtig zu denken. Nun, die Ordnung des Denkens fordert, dass man mit sich selbst beginne, und zwar mit seinem Schöpfer und mit seinem Ende. Nun woran denken die Menschen? Daran nie, sondern an Tanzen, Singen, Dichten, Ringe stechen usw. und daran sich zu schlagen, sich zum König zu ma-
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chen, ohne nachzudenken, was es ist, König zu sein, und was es ist, Mensch zu sein.“1 Zunächst wird das Denken als eine dem Menschen eigentümliche Fähigkeit verstanden. Sie bedarf sicher, wie andere menschliche Fähigkeiten auch, der Anregung und Förderung, der Belehrung und des Trainings, um von der Möglichkeit zum konkreten Vollzug zu gelangen. Dass der Mensch „offenbar“ zum Denken geschaffen ist, bedeutet wohl, dass Pascal diese Aussage für unbestreitbar hält; in ihr kommt eine Tatsache zum Ausdruck, die sich geradezu aufdrängt. Der Mensch ist ein Wesen, das geistig tätig ist. Das Denken und mögliche andere Weisen geistiger Tätigkeit sind Formen des menschlichen Umgangs mit der Welt, mit seinesgleichen und mit sich selbst. Im Denken findet der Mensch einen Zugang zur Wirklichkeit. Insofern das Denken aber eine dem Menschen auch bewusste Tätigkeit ist, kann er „offenbar“ auch auf Dauer nicht nicht denken. Dass „er zum Denken geschaffen“ ist, fügt sich in diesen Zusammenhang wie selbstverständlich ein. Das Denken ist eine Tätigkeit, die Pascal dem Geist (l` esprit) zuschreibt. Sicher ist das Denken nicht schlechthin identisch mit dem Erkennen. Aber an jeder Erkenntnis, die sich in einem Urteil ausspricht, ist das Denken beteiligt als das aktive Moment. Es muss zur sinnlichen Wahrnehmung noch hinzukommen, damit aus den passiv erfahrenen Sinneseindrücken Erkenntnis wird. An jedem Bemühen um Erkenntnis hat also auch das Denken Anteil, und das ist dem Menschen immer auch irgendwie bewusst. Das Denken gehört nicht nur einfach zum Menschsein dazu; in ihm besteht auch „seine ganze Würde“ und es ist „seine ganze Pflicht“ und Aufgabe, „richtig zu denken“. Insofern ist das Denken also kein isolierter Bereich unabhängig von oder nur neben anderen Fähigkeiten. Es ist, wie gesagt, dem Geist zugeordnet, und es folgt oder sollte bestimmten Regeln folgen, um richtiges Denken zu sein. Das Denken oder das Denken-können ist eine Auszeichnung des Menschen, worin auch seine Würde besteht. Seine Pflicht, sich um richtiges Denken zu bemühen, umfasst nicht bloß die Beachtung bestimmter Regeln, sondern auch die Themen, mit denen sich das Denken befassen soll bzw. muss, mit dem also, was durch „die Ordnung des Denkens“ vorgegeben ist. In dem zitierten Fragment heißt es ausdrücklich „sich selbst ... und zwar mit seinem Schöpfer und mit seinem Ende“. Daraus folgt aber, dass das Denken oder, wie man auch sagen könnte, der Mensch auf so etwas wie Moral hin angelegt ist und dass er auch nicht gedacht werden kann ohne Gott, seinen Schöpfer. Anders gesagt: Sittlichkeit oder Moral wie auch Religion gehören unlöslich zum Menschsein, und damit hätte sich der Mensch denkend vor allem zu beschäftigen. Es ist immer wieder vermerkt worden (und Pascal ist auch dieser Meinung), dass der Mensch mit Hilfe seines Verstandes oder Geistes die Fragen, die ihn selbst 1
Pascal, Blaise, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), hrsg. von Ewald Wasmuth, Heidelberg 1972, F 146.
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betreffen, klären und beantworten, dass er die Probleme, vor die er sich gestellt sieht, auch lösen kann. Allerdings weiß Pascal auch, dass viele Menschen sich offensichtlich mehr für andere Dinge interessieren und vornehmlich auf ihre Vergnügungen bedacht sind, dass sie sich mehr um Nebensächlichkeiten kümmern als um die Dinge, die wirklich wichtig sind. Man könnte auch sagen, dass viele Menschen es mit dem oder im Denken nicht sehr weit bringen. Davon handelt ja der zweite Teil des zitierten Fragments. Es ist schon möglich, durch Denken Wahrheit zu erkennen; aber die Themen, die uns „die Ordnung des Denkens“ vorgibt, sind nicht die einzigen, die es zu bedenken gilt. Die Wirklichkeit, der wir begegnen, ist so vielfältig und komplex, dass Pascal sogar zwei „Weisen“ des Geistes unterscheidet, und zwar „den Geist der Geometrie“ (l`esprit de geómétrie) und „den Geist des „Feinsinns“ (l`esprit de finesse). Beide Weisen ermöglichen den Menschen den Zugang zu den unterschiedlichen Bereichen der Wirklichkeit. Wichtig ist es aber, dass der Mensch die beiden „Weisen“ des Geistes kennt und sie den entsprechenden „Bereichen“ der Wirklichkeit zuordnen kann. Obwohl es jedem Menschen grundsätzlich möglich ist, auf beide Weisen die Wirklichkeit zu betrachten, so sind die Menschen doch nicht alle gleich. Pascal unterscheidet sie nach der Weise, die sie bevorzugen. Der Geist der Geometrie, von dem sich z. B. die Mathematiker leiten lassen, geht von Prinzipien aus, und die Folgerungen, die sie daraus ableiten, sind sicher richtig. Doch sind dieser Weise des Denkens Grenzen gesetzt; denn nicht alles lässt sich auf diese Art und Weise behandeln. Ein „Feinsinniger“, der nichts als feinsinnig ist, wird kaum zu den ersten Prinzipien der Spekulation und der Abstraktion vordringen. Der Geist der Geometrie, dessen Sache das systematische Untersuchen und Denken sowie das Schlussfolgern nach den Regeln der Logik und der Mathematik ist, stößt nach Pascal schon bald an seine Grenzen. Denn dem Menschen begegnen immer wieder Fragen und Probleme, die auf die skizzierte Art nicht angemessen zu behandeln und schon gar nicht zu lösen sind. Obwohl Pascal in einer Zeit lebte, in der sich in der Philosophie ein Wandel anbahnte oder zum Teil wohl auch schon vollzogen war und in der sich die modernen Naturwissenschaften entwickelten, woran er selbst unmittelbar beteiligt war, stand er doch dieser Weise des Denkens nicht unkritisch gegenüber. Er nennt die Prinzipien der Geometrie handgreiflich und zwar deutlich, aber doch grob. Den Mathematikern bescheinigt er, „dass sie einen klaren Verstand“ besitzen, sie aber nur an Hand deutlich gemachter Prinzipien richtig denken.2 Pascal äußert sich auch in Bezug auf die Tragkraft mancher Ergebnisse des (verkürzt gesagt) wissenschaftlichen Denkens skeptisch. Er rechnet durchaus damit, dass einige nur aufgrund von Gewohnheit als gültig angesehen werden. Für den Geist des Feinsinns gelten andere Regeln; denn er gehört zu einer anderen Ordnung, in der nicht das rigorose Denken in Deduktionen nach Art der Logik 2
Ebd., F 1.
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oder der Mathematik unbedingte Geltung haben, in der man auch auf das Herz und das Gefühl achten muss. Damit will Pascal aber den Verstand nicht ausschließen, er weist aber doch bestimmt darauf hin, dass es etwas gibt, was dem Verstand nicht oder nur unvollkommen zugänglich ist, und dass dies auf andere Weise wahrgenommen, ja erfahren werden kann. Man mag dies das Irrationale nennen, sollte aber bedenken, dass es für Pascal nicht das schlechthin Unsinnige, Widersinnige oder Unvernünftige ist, sondern das Nicht-Rationale. Das kommt in dem bekannten und häufig zitierten Satz zum Ausdruck: „Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt, das erfährt man in tausend Fällen“.3 Wenn Pascal das Denken durchaus auch oder vor allem im Sinne des schlussfolgernden Denkens versteht und es für ein Charakteristikum des Menschen ansieht, durch das sein Wesen bestimmt und worauf hin er geschaffen worden ist und dessen Wichtigkeit und Bedeutsamkeit gar nicht überschätzt werden kann, so ist diese Fähigkeit allein doch noch nicht ausreichend. Er zeigt sich sogar skeptisch nicht nur in Bezug auf die Art und Weise, wie die Menschen oder doch viele Menschen damit umgehen, sondern auch in Bezug auf die Fähigkeit des Denkens selber. Diese Einstellung zeigt wohl, dass Pascal Einseitigkeiten vermeiden will. Der Geist der Geometrie, so wichtig er auch sein mag, genügt nicht, um die Wirklichkeit ganz, d. h. in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen und zu begreifen. Es gibt also in der Wirklichkeit etwas, was nur auf andere Weise dem Menschen zugänglich ist. Pascal nennt diese Weise „Geist des Feinsinns“ (l´esprit de finesse). Wenn auch der Mensch wohl über beide Weisen „verfügt“, so sind sie allen Menschen doch nicht in gleichem Maß gegeben. Es gibt Menschen, die so sehr von der einen Weise des Denkens geprägt sind, dass einer z. B. ein guter Mathematiker sein kann, von den Dingen, für die es des Feinsinns bedarf, aber nichts versteht. Das wird in dem bekannten und schon zitierten Fragment zumindest angedeutet, wenn Pascal dem Herzen für seine Entscheidungen Gründe zuspricht, von denen die Vernunft nichts weiß.4 Es gibt etliche Texte in den „Pensées“, in denen die beiden Weisen näher bestimmt werden. So heißt es einmal, dass die Entscheidung zum Gefühl gehört und die Wissenschaften zum Verstand. „Der Feinsinn hat Anteil an der Entscheidung, die Geometrie an der Vernunft.“5 Die Menschen, die einer der beiden Arten des Denkens zuneigen, verstehen oft nichts von der Eigenart der je anderen Weise. 6 Der Geist des Feinsinns, dessen „Organ“ das Gefühl oder das Herz ist, sucht zuerst das Ganze zu erfassen, während es der Geist der Geometrie gewohnt ist, aus klaren Prinzipien die richtigen Folgerungen abzuleiten. 7 Erkennbar ist wieder der Ver3 4 5 6 7
Ebd., F 277. Ebd. Ebd., F 4. Ebd., F 3, 5; vgl. auch F 9. Ebd., F 2, 3.
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such, sowohl der Komplexität der Wirklichkeit als auch der des Menschen gerecht zu werden. Da aber in den z. T. sehr kurzen Texten in den Pensées einzelne Probleme mehrmals vorkommen, aber doch je andere Aspekte behandelt werden, mögen manche Aussagen nicht kohärent oder gar widersprüchlich erscheinen. Da Pascal erkennbar jede Vereinseitigung und damit auch mögliche Vereinfachungen zu vermeiden sucht, kann das Festhalten an dem Gegensätzlichen auch ein Zeichen für das Bemühen sein, den Gegebenheiten der Wirklichkeit gerecht zu werden. Im Fragment 146, das zum Ausgangspunkt dieser Abhandlung gewählt wurde, kommen wenigstens andeutungsweise viele Sachverhalte zur Sprache, die für den Menschen bedeutsam und wichtig sind. So begründet das Denken oder das Denken-können die Würde des Menschen; es beinhaltet aber auch eine Verpflichtung und verweist von sich aus auf eine Ethik. Die Ordnung des Denkens verlangt, dass sich der Mensch vordringlich mit bestimmten Themen auseinandersetzt. Das sind nach Pascal einmal der Mensch selber, dann Gott als Schöpfer des Menschen und mit seinem Ende. Damit ist sicher auch das Thema Religion gemeint. Denn wenn man annimmt, dass die Pensées als Vorarbeiten zu einer Apologie des Christentums gedacht waren, so ist eine solche Interpretation nicht unbegründet. In dem genannten Werk finden sich nicht nur als strikt anthropologisch zu charakterisierende Texte, sondern auch theologische Erörterungen, die vermuten lassen, dass die Anthropologie Pascals von seinem Glauben geprägt sein wird. Er war überzeugter Katholik. Allerdings war sein Verhältnis zur Kirche nicht unproblematisch; denn es gab Verbindungen zwischen ihm und Jansenisten. Strittig ist, ob seine Theologie im Grunde jansenistisch ist oder ob er aus dieser Richtung nur Anregungen, wenngleich auch wichtige, empfangen hat. Anthropologie, wenn man seine diesbezüglichen Ausführungen so nennen darf, war wohl für Pascal keine neutrale Wissenschaft, in der es nur um die Feststellung von Tatsachen geht; er verbindet mit anthropologischen Aussagen oft auch Hinweise auf das Verhalten der Menschen, und zwar auf das tatsächliche, das er nicht selten scharf kritisiert, und das angemessene bzw. zu wünschende. Manches deutet auf einen Rigorismus und Pessimismus hin, der zumindest gegenwärtig schon als befremdlich empfunden werden kann. Die Eigenart Pascals, seine Meinung im Bedenken von „Gegensätzen“ zu entwickeln, zeigt sich vielleicht noch deutlicher, wenn es um den Glauben und die Religion geht. Das mag eine Festlegung, was er genau gemeint hat, erschweren. Verständlich ist sicher, dass er zu seiner Zeit den Gegensatz zwischen dem Glauben und dem kritischem Denken als ein zentrales Problem empfunden hat. Dabei geht es auch um die Frage, ob sich der Mensch als autonomes, nur sich selbst verdankendes und nur sich selber Rechenschaft schuldiges Wesen verstehen kann und darf, oder dass er anerkennen muss, letztlich nur in der Hingabe an Gott auch sich selbst zu finden. Pascal war als Christ von der Existenz eines persönlichen Gottes überzeugt. Dazu gibt es einen zugegeben späten Text – das „Memorial“. In ihm wird das Er-
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lebnis, das sich in der Nacht des 23. November 1654 ereignete, geschildert. Es handelt sich wohl um eine sehr intensive Gotteserfahrung, durch die ihm bewusst wurde, dass der „Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs“ auch der Gott Jesu Christi ist, nicht ohne weiteres mit dem Gott der Philosophen und Gelehrten gleichgesetzt werden darf. Dieses Erlebnis war verbunden mit einer Gewissheit und dem Empfinden von Freude und Frieden. 8 Nun wird ein Erlebnis solcher Intensität und Klarheit nicht von allen Menschen erfahren. Dennoch ist es nicht unnütz, solche Vorkommnisse zu kennen; denn – wenn auch nicht mit solcher Deutlichkeit – widerfährt Ähnliches allen und allen ist auch bewusst, dass die Gewissheit, die sie besitzen, nicht das Ergebnis eines Beweisverfahrens ist, wie es in der Philosophie oder der Mathematik üblich ist. Diese Gewissheit entspringt vielmehr dem Gefühl oder dem Herzen. Was ist nun aber mit der Vernunft? Wieder zeigt sich, dass Pascal an beiden festhält: an dem Gefühl und an der Vernunft; zugleich warnt er jedoch vor einer Vereinseitigung. „Zwei Übertreibungen: Ausschluss der Vernunft. – Nur die Vernunft gelten lassen.“9 Drei Mittel gibt es zum Glauben: die Vernunft, die Gewohnheit und die Eingebung. Da die Vernunft aber nicht alles ist, darf man sich auch nicht allein auf sie verlassen. So soll sich der Mensch für die Beweise offen halten, sich durch die Gewohnheit darin bestärken lassen und sich den Demütigungen der Eingebung darbieten.10 „Wir sind ebenso sehr Automat wie Geist. Deshalb ist das Mittel zu überzeugen, nicht allein der Beweis. Wie wenig bewiesene Dinge gibt es! 11 Sicher vermittelt die Vernunft auch mit Beweisen Gewissheit. Aber solche Beweise sind, wie z. B. die metaphysischen Gottesbeweise, so kompliziert, dass sie nur wenigen Menschen von Nutzen sind; selbst die, die sie verstehen, überzeugen sie nur so lange, wie sie ihnen vor Augen stehen.12 Aus diesen Äußerungen, die sich vermehren ließen, ergibt sich, dass die Vernunft nicht nur nicht ausreicht, sondern dass sie dem Gefühl bzw. dem Herzen auch nicht „ebenbürtig“ ist. Die Schwäche der Vernunft wird erkennbar aus der Tatsache, dass selbst die Kenntnis der ersten Prinzipien, z. B. dass es Raum, Zeit, Bewegung und Zahlen gibt, auf einem „Wissen des Herzens und des Instinkts“ beruht.13 Beim Thema Glaube geht es sowohl um den Inhalt des Glaubens als auch um sein Wesen. Auf den Glaubensinhalt und die Lehre der Kirche und ihre richtige Interpretation ging es in dem Streit um den Jansenismus, in den auch Pascal involviert war. Auf diese Auseinandersetzungen geht er aber in den Pensées nur gelegentlich und kurz ein. Der christliche Glaube ist für ihn nicht nur ein bestimmter Inhalt, eine Lehre, sondern vor allem eine Grundhaltung, etwas das sich im Leben 8 9 10 11 12 13
Vgl. ebd., 248. Ebd., F 253. Vgl. ebd., F 245. Ebd., F 252. Vgl. ebd., F 543. Vgl. ebd., F 282.
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des Menschen manifestiert, durch das er geprägt ist. Zunächst ist der Glaube eine Gabe Gottes und nicht der Vernunft. „Es ist das Herz, das Gott spürt, und nicht die Vernunft. Das ist der Glaube: Gott spürbar im Herzen und nicht der Vernunft.“ 14 Auf das schon skizzierte Verhältnis von Vernunft und Herz verweist Pascal häufiger, um die Wirkungen des Glaubens im Menschen näher zu erläutern. So ist der Glaube immer auch mit einer Demütigung der Vernunft verbunden. „Zwei Arten von Menschen sind wissend: die, deren Herz demütig ist und die ihre Demütigung lieben, welchen Grad immer ihr Geist, hoch oder niedrig, habe, und die, die genug Geist haben, um die Wahrheit zu erkennen, welche Schwierigkeiten sie dabei auch haben mögen.“15 Vieles, auf das der Mensch natürlicherweise stolz ist, wird nicht selten auch auf eine Art beschrieben und beurteilt, die man schon als eine gewisse Herabsetzung ansehen könnte. Dies mag auf einen Skeptizismus hindeuten, dem Pascal durchaus zuneigte. Insgesamt beurteilt er aber das, was der Mensch im und durch den Glauben gewinnt, sehr positiv. Die Sicht der Bedeutung des Glaubens für den Menschen, aber auch seine Urteile über die Ungläubigen, z. B. das, was er über das Elend der Menschen ohne Gott schreibt, folgt aus seinem Verständnis des Christentums. In der Geschichte des Christentums hat es Ansichten gegeben (und es gibt sie bis heute), die denen, die Pascal vertreten hat, ähnlich sind; doch handelt es nicht immer um die einzig mögliche und auch nicht um die einzig verbindliche Interpretation der christlichen Lehre. Vielleicht sollen heute als zu streng empfundene Urteile auch nur seine Auffassungen erklären und verdeutlichen. Wenn der Glaube als eine Gabe Gottes angesehen wird, dann muss das als eine positive Feststellung verstanden werden. Mit der Frage, wie sich der Glaube im Leben des Menschen konkret auswirkt und woran man erkennen kann, dass die eigenen Überzeugungen und Verhaltensweisen gut und richtig sind, hat sich Pascal häufiger beschäftigt. Auch zu diesem Thema bemüht er Gegensätze, durch die möglicherweise das Positive, das im und durch den Glauben gewonnen werden kann, deutlicher werden und attraktiver erscheinen kann. Den Spuren Pascals im Bedenken von Gegensatzpaaren zu folgen, ist ohne Zweifel anregend; auch Überraschendes wird einem begegnen und manches wird man in seinem Wert oder Unwert klarer erkennen. Blaise Pascal war, so kann man wohl zu Recht sagen, an vielen Problemen und Themen, die zu seiner Zeit, dem 17. Jahrhundert, aktuell waren, sehr interessiert und hat die Diskussion auch durch eigene Beiträge bereichert. Das Thema Mensch hat ihn nicht nur interessiert, es war wohl sein Thema. Dennoch wird man seine diesbezüglichen Äußerungen nicht nur als Bemühen um eine rein wissenschaftliche Anthropologie verstehen dürfen. Für ihn war z. B. der Mensch ohne Religion nicht denkbar. Das Christentum war für ihn sicher die wahre Religion. Seine Ab14 15
Ebd., F 278. Ebd., F 288.
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handlungen mögen als philosophische Ausführungen beginnen, häufig enden sie doch in theologischen Erörterungen. So geht es in vielen Texten, die als anthropologische Abhandlungen gelten können, letztlich doch um Gott, um das Verhalten gläubiger Christen und um ihr Verständnis von Gott, der den Menschen erschaffen hat, um sein Selbstverständnis und um seine Endlichkeit, für die der Tod, den ausnahmslos alle erleiden müssen, einen unwiderleglichen Beweis darstellt. Die Ergebnisse, zu denen seine Darlegungen in den Pensées kommen, zeigen, dass er sich mit den zu seiner Zeit gängigen Auffassungen kritisch auseinander gesetzt hat, sich aber auch von ihnen beeinflussen ließ. Die von Pascal bearbeiteten Themen sind m. E. immer aktuell und sollten auch des Menschen wegen zu jeder Zeit bedacht werden. Das gilt besonders von seinen Gedanken über das Verhältnis und die Verbindung des Menschen zu Gott. Das aber sind m. M. nach die Frage und das Problem, die, wenn auch nur fragmentarisch, in den Pensées immer wieder bedacht werden. Deshalb lohnt sich auch gegenwärtig die Beschäftigung mit dem Werk Pascals. Anregungen und wertvolle Hinweise werden sich mit Sicherheit finden lassen.
Wie weit reicht das „natürliche Licht menschlicher Vernunft“?
Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie unter ökumenischer Rücksicht
Christoph Böttigheimer „Der Mensch“, so erwidert Jesus seinem Versucher nach dem Matthäusevangelium „lebt nicht vom Brot allein“.1 Dass der Mensch mehr als ein bloß instinktgebundenes Wesen ist, gilt nicht nur innerhalb der Theologie als Allgemeinplatz, sondern ebenso innerhalb der neuzeitlichen philosophischen Anthropologie. Diese schickte sich an, den Menschen vorwiegend von seiner Leiblichkeit her zu verstehen und zu deuten, vor allem von seinem beobachtbaren Verhalten, das als Äußerung seines Subjektzentrums, als ein Sich-Verhalten angesehen wurde. Damit wurde dem Menschen gegenüber der Tierwelt eine Sonderstellung eingeräumt, welche bei Max Scheler2 und Arnold Gehlen3 mit dem Stichwort „Weltoffenheit“ und bei Helmuth Plessner4 durch den Ausdruck „Exzentrizität“ belegt wurde. Diese frühen Entwürfe philosophischer Anthropologie haben auch die theologische Anthropologie beeinflusst – Karl Rahner beispielsweise nicht weniger als Wolfhard Pannenberg. Als „Geist in Welt“5 geht der Mensch in der Welt nicht auf, sondern lebt ständig in einem Bezug zu seinem eigenen Selbst sowie zu der ihn umgebenden Welt, d. h. er hat Selbst- und Weltbewusstsein. Aufgrund dessen greift er in seinem Erkennen und Wollen stets über sich und die Welt hinaus. Der Begriff der Weltoffenheit bezeichnet somit nicht nur die unbegrenzte Offenheit des Menschen für die Welt, sondern ebenso seine Offenheit für das Unendliche. Diese Selbsttranszendenz, die sich im Erkennen und Wollen des Menschen zeigt, richtet sich auf eine Wirklichkeit, die durch das Erkennen und Handeln des Menschen selbst noch et1 2 3 4
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Mt 4,4. Vgl. Scheler, Max, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928. Vgl. Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt a. M./Bonn 91971. Vgl. Plessner, Helmut, Philosophische Anthropologie, hg. v. G. Dux, Frankfurt a. M. 1970; ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1928; ders., Anthropologie, philosophisch, in: RGG3 I, Sp. 410-414. Rahner, Karl, Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin, München 21957.
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was näher bestimmt werden kann. Denn wie sich das Erkennen auf das Sein in seiner Erkennbarkeit, d. h. Wahrheit, richtet und das Handeln auf das Erstrebenswerte, d. h. das Gute, so muss die alles bestimmende Wirklichkeit selbst durch Wahrheit und Gutheit bestimmt sein. Auf diese durch Wahrheit und Gutheit bestimmte Wirklichkeit greift der Mensch in seinem Erkennen und Wollen immer schon aus und wird von ihr her bestimmt, mehr noch, er bejaht sie in jeder Einzelsetzung seines Tuns. Die Transzendenz, die die erkennende und wollende Weltbejahung des Menschen begründet, verweist auf ein Unbedingtes, dem zu eigen zu sein hat, was menschliche Person auszeichnet: Geist, Freiheit und Personalität. Aufgrund seiner Verwiesenheit und Angewiesenheit ist diese transzendente Wirklichkeit keine bloße Setzung des Menschen, sie entspringt nicht einer nachträglichen Projektion, sondern ist die vorgängige Bedingung für das Erkennen und Wollen des Menschen. In diesem Sinne kann das eingangs erwähnte Jesuswort verstanden werden: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund hervorgeht.“ Wenn sich der Mensch, wie es Karl Rahner ausdrückte, im Wirkbereich einer transzendenten Wirklichkeit befindet – ob er darum weiß oder nicht – und dies seinem „übernatürlichen Existential“6 entspricht, stellt sich die Frage, inwiefern der Mensch kraft seiner Vernunft befähigt ist, diese Wirklichkeit zu erkennen. Diese Fragestellung wurde schon in der antiken Philosophie traktiert und die gewonnenen Erkenntnisse flossen in Form einer „natürlichen Theologie“ in die christliche Theologie mit ein. Der Begriff „natürliche Theologie“ oder „theologia naturalis“ hat im Laufe der Geschichte einen tiefgreifenden Bedeutungswandel durchlaufen, was eine genaue Begriffsdefinition alles andere als einfach macht. Zudem wuchs sich das Problem der natürlichen Theologie im letzten Jahrhundert zum, wie es Eberhard Jüngel ausdrückte, „nervösen Zentrum der evangelischen Theologie“7 aus. Nicht zuletzt ist mit der „natürlichen Theologie“ ein Thema aufgerufen, das zwischen reformatorischer und katholischer Theologie mitunter äußerst kontrovers diskutiert wurde und wird. Damit sind zumindest drei wichtige Aspekte genannt, die eine Auseinandersetzung mit dem Thema „natürliche Theologie“ erforderlich, zugleich aber auch schwierig machen. Die nachfolgenden Ausführungen beanspruchen nicht, das diffizile und verschlungene Problem der natürlichen Theologie umfassend zu behandeln, vielmehr werden ausgehend von kurzen begriffsgeschichtlichen Schlaglichtern die Lehrgehalte des Ersten Vatikanischen Konzils offengelegt und abschließend wird nach ökumenischen Annäherungen Ausschau gehalten.
6 7
Vgl. Rahner, Karl, Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 10 (2003), 557-573, hier 563f. Jüngel, Eberhard, Das Dilemma der natürlichen Theologie und die Wahrheit ihres Problems, in: ders., Entsprechungen. Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen II, Tübingen 32002, 158-177, hier 158f.
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1. Diskreditierung natürlicher Erkenntnis Bereits die Alte Kirche übernahm den Begriff „natürliche Theologie“ aus der griechischen Philosophie. Nach dem Stoiker Marcus Varro (116–27 v. Chr.)8 befasst sich die „theologia physica“ mit dem Seienden als Seiendem und fragt nach dem Ursprung und Ersten des Seienden, nach dem Göttlichen. Der Ort dieser theologia physica bzw. naturalis ist der Kosmos. Indem sie nach dem wahren Wesen des Göttlichen fragt, ist sie im eigentlichen Sinne Metaphysik. Die frühe Kirche entschied sich bewusst dafür, in ihrer Glaubensverkündigung nicht auf die mythischen Gottesvorstellungen der Antike Bezug zu nehmen, sondern an der Gotteslehre der hellenistischen Philosophie anzuknüpfen. Die philosophische Behandlung der Gottesfrage wurde innerhalb der Philosophie als „natürliche Theologie“ bezeichnet. Der Gedanke einer allen Menschen möglichen Gotteserkenntnis dank einer vernünftigen Weltwahrnehmung begegnet bereits in der Heiligen Schrift 9, ist doch der Glaube für die Bibel „kein blindes Wagnis, kein irrationales Gefühl, keine unverantwortete Option und schon gar kein sacrificium intellectus.“10 Nur weil im Voraus zur Glaubenserkenntnis eine allgemeine Erkenntnis Gottes möglich ist, kann der Glaube rational verantwortet werden und kann der Mensch überhaupt erst durch das christliche Glaubenszeugnis auf Gott hin angesprochen werden. Ohne die Möglichkeit einer natürlichen, will heißen philosophischen Erkenntnis wäre die christliche Glaubensüberzeugung unverständlich und unverantwortbar; sie müsste als fremd und beziehungslos wahrgenommen werden. Nur weil sich für sie vernünftige Argumente anführen lassen, ist die christliche Glaubensüberzeugung überhaupt erst intersubjektiv vermittelbar. Aus diesem Grunde stellte Augustinus in seiner Lehre vom ‚Buch der Natur‘ (liber naturae) das der ‚Schrift‘ (liber Scripturae) zur Seite und verband so die natürliche und die geoffenbarte Gotteserkenntnis.11 Das Vertrauen in die Rationalität des Glaubens nahm insbesondere in der mittelalterlichen Theologie einen breiten Raum ein. Der Rationalitätsanspruch des Glaubens gründete dabei im Schöpfungsglauben: Das Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes, der die Welt und den Menschen zum Abbild seiner Weisheit und Wahrheit gemacht hat, implizierte, dass es nur eine Wahrheit und eine Vernunft geben kann, 8 9
Vgl. Varro, Marcus T., Antiquitates rerum humanarum et divinarum libri XLI (46 v. Chr.). Von einem „natürlichen“ Wissen von Gott handeln: Joh 1,9; Apg 14,17; 17,27f; Röm 1,19f; 2,14f. Der Textbefund zur allg. Gottesoffenbarung ist umfangreich. Die wichtigsten Textstellen sind: Ps 19,2-7; Apg 14,15-17; Apg 17,22-31; Röm 1,18-21; Röm 2,14f und 1 Kor 15,33. Weiter relevante Perikopen sind m. E.: Gen 1,1-13; Gen 2,4-17; Gen 3,8f; Hi 12,7-10; Ps 8; Ps 19,1-7; Ps 50,6; Ps 94,9; Ps 97,1-6; Jes 40,12; Am 4,13; Mt 6,25-30; Apg 14,14-18; Apg 17,16-34; Röm 1,18-32; Röm 2,1; Röm 2,11-16; Röm 2,25-29; Röm 8,20-25; 1 Kor 11,14f; Röm 10,18; 1 Kor 15,33f; 2 Kor,1-6; Eph 2,2f; Eph 3,1-13; 1 Thess 1,9. 10 Kasper, Walter, Der Gott Jesu Christi, Mainz 1982, 95. 11 Vgl. Kock, Christoph, Natürliche Theologie. Ein evangelischer Streitbegriff, Neukirchen-Vluyn 2001, 2.
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an der alle Geschöpfe teilhaben. Für die Scholastiker gewann die philosophische Reflexion zunehmend an Bedeutung, ohne dass sie indes die Offenbarung als Grundlage der Theologie leugneten, weshalb sie ihre philosophische bzw. natürliche Theologie im Horizont des Glaubens betrieben und der geschichtlichen Offenbarung unterordneten.12 Wie die Gnade die Natur voraussetze, so vollende die göttliche Offenbarung die natürliche Erkenntnis.13 Mittels der philosophischen Theologie sollten die Voraussetzungen des Glaubens (praeambula fidei) auf wissenschaftliche Weise aufgewiesen werden. Dies führte zu einem einschneidenden Begriffswandel: Besagte der Begriff „natürliche Theologie“ in der antiken Philosophie „der Natur Gottes gemäß“, so wuchs dem Begriff nun allmählich die Bedeutung „der Natur des Menschen gemäß“ zu. Spätestens seit der Barock- und Neuscholastik bezeichnet der Begriff „natürliche Theologie“ eine bestimmte Art von Gotteslehre, welche gerade nicht von einer übernatürlichen Offenbarung Gottes ausgeht, sondern von natürlichen Quellen, insbesondere von der Vernunft des Menschen bzw. von einer vernünftigen Betrachtung der Schöpfung. Somit handelt es sich bei der natürlichen Theologie um eine Lehre oder Rede von Gott, die sich nicht auf die geschichtliche, sondern auf die allgemeine Offenbarung Gottes stützt und sich durch einen argumentativen Charakter auszeichnet. Während sich die natürliche Theologie bis in das 16. Jh. auf die Philosophie stützen konnte, emanzipierte sich diese in der Neuzeit endgültig von ihrem übernatürlichen Überbau. Infolgedessen radikalisierte sich die traditionell-thomistische Gestalt der natürlichen Theologie und wurde schließlich zu einer kritischen Instanz gegenüber der Offenbarungstheologie, bis sie gar als Religionsphilosophie mit einer höheren Autorität auftrat und den Anspruch erhob, die Gottesfrage angemessener beantworten zu können als die Theologie dies tat. Damit verlor diese natürliche oder philosophische Theologie ihre theologische Basis, den Schöpfungsglauben, sowie ihre primäre Funktion, den Rationalitätsaufweis des christlichen Glaubens. Aus ihr wurde, wie einst in der Antike, eine rein philosophische Theologie, die sich nicht mehr als durch die Schöpfungsoffenbarung ermöglicht verstand, sondern sich ausschließlich auf die Vernunft des Menschen berief. Für David Hume etwa waren natürliche Theologie und natürliche Religion identisch. Folgerichtig wurde aus dem Natürlichen nun das Vernünftige, Gute, Notwendige und Allgemeine, wodurch das Übernatürliche bzw. Geoffenbarte als das autoritativ Behauptete erscheinen musste. Infolgedessen wandelte sich die Korrelation ‚natürlich – geoffenbart‘ hin zu ‚natürlich – autoritativ‘.14
12 13
Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles I , 4. Vgl. ders., S.th. I, q. 2 art. 2 ad1. „Der Glaube setzt die natürliche Erkenntnis voraus, wie Gnade die Natur oder die Vollendung das zu Vollendende“. 14 Vgl. Birkner, Hans-Joachim, Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie. Ein theologiegeschichtlicher Überblick, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie Und Religionsphilosophie 3 (1961), 279-295, hier 285.
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Die selbständig gewordene philosophische Theologie der Aufklärung, die teilweise auch die katholische Theologie beeinflusste 15, ist aus einem zweifachen Grund gescheitert. Zum einen durch Kants Kritik der reinen Vernunft, die den Zugang der theoretischen Vernunft zu Gott verstellte. Zum andern verlagerte Schleiermacher im Zuge der Erschütterung der spekulativen Metaphysik das Religiöse in den außerrationalen Raum des „Gefühl[s] schlechthinniger Abhängigkeit“16 und brachte damit den Gedanken Pascals, dass der Gott der Philosophen vom Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs vollkommen unterschieden sei, endgültig zum Durchbruch. Die Folge war ein tiefes Misstrauen gegenüber einer solchen natürlichen, auf theologische Kriterien verzichtenden Theologie. Gleich in der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung wurde sie schließlich ausdrücklich verworfen17, während katholischerseits stets an ihr und an den klassischen Gottesbeweisen festgehalten wurde. Ihre Bekämpfung erfolgte vor allem seitens der dialektischen Theologie.18 Nach Karl Barth könne der Mensch von sich aus Gott nicht erkennen; in der Erkenntnis der Natur begegne er sich nur selbst. 19 Auch verbiete es sich, die Offenbarung Gottes in irgendeiner Form mit der menschlichen Erfahrungswelt sowie der menschlichen Vernunfterkenntnis verknüpfen zu wollen. Die Wirklichkeit Gottes sei in der Welt nicht erfassbar, die Offenbarung Gottes nicht ausweisbar. Der Begriff „natürliche Theologie“ wurde nicht zuletzt durch Barths Verdikt formalisiert und avancierte zu einem Streitbegriff.
2. Erstes Vatikanisches Konzil Das kirchliche Lehramt nahm sich auf dem Ersten Vatikanischen Konzil erstmals in der Konziliengeschichte der Frage nach der natürlichen Theologie an, da sie 15 16
Benedikt Stattler, Matthias Schönberg, Sigismund Storchenau. Schleiermacher, Friedrich D. E., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Aufl. 1830/31, hg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008, 44. 17 Vgl. Barmer Theologische Erklärung, These 1: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ 18 Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik, Bd. II/1, Zürich 71987, 129: „Damit haben wir nun aber festgestellt, daß uns die heilige Schrift weder vor die Notwendigkeit stellt, noch uns auch nur die Möglichkeit gibt, mit einer nicht in und mit seiner Offenbarung gegebenen, nicht an sie gebundenen Erkennbarkeit des Gottes der Propheten und Apostel und insofern mit einer ‚christlichen‘ natürlichen Theologie zu rechnen. Von der heiligen Schrift her ist uns eine ‚andere‘ Aufgabe der Theologie nicht gestellt und auch nicht uns selber zu streifen erlaubt.“ 19 Vgl. ders., Die kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, Zürich 51960, 330: „Greift der Mensch von sich aus nach der Wahrheit, so greift er zum vornherein daneben. Er tut dann nicht das, was er tun müßte, wenn die Wahrheit zu ihm kommt. Er glaubt dann nämlich nicht. Würde er glauben, so würde er hören.“
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infolge von Rationalismus und fideistischem Traditionalismus strittig geworden war. Die Konzilsväter gingen dabei von einer je eigenständigen Erkenntnisweise von Vernunft und Glauben aus, entsprechend der doppelten ontologischen Ordnung von Natur und Übernatur.20 Sie betonten die Vereinbarkeit von natürlichen und übernatürlichen Wahrheiten, von Wissen und Glauben, Vernunft und Offenbarung21 und erkannten in der natürlichen Vernunft des Menschen ein Medium für die Gotteserkenntnis, hielten also an der Möglichkeit einer natürlichen Erkenntnis des Daseins und Wesens Gottes fest. Wörtlich definierten sie: „Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, [kann] mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiß erkannt werden“.22 Das bedeutet, dass die menschliche Vernunft, falls sie sich selbst treu bleibt, es immer mit Gott zu tun bekommt und zwar in der Reflexion der geschaffenen Dinge.23 Umgekehrt muss gefolgert werden, dass es aufgrund der schöpfungsgemäßen Erkenntnis Gottes keine stichhaltigen Gründe für eine definitive Verwerfung des christlichen Gottesglaubens geben kann.24 Das Konzil behauptet nicht, dass alle Menschen Gott mit Sicherheit erkennen. Es sagt nicht einmal, ob es jemals Menschen gegeben hat, die Gott ganz ohne übernatürliche Hilfe erkannt haben, noch zu welcher Gotteserkenntnis eine solche Erkenntnis führt. Erklärt wird lediglich eine prinzipielle kosmologische Erkennbarkeit Gottes. Die Aussage erfolgt also auf einer abstrakten, theoretischen Ebene, wodurch schlechterdings nicht geleugnet wird, dass die ambivalente Natur – im Sinne des Konzils mit Schöpfung identisch – an sich ein nur schwer lesbares Buch ist. Ebenso wenig wird verschwiegen, dass in der gegenwärtigen, d. h. durch die Erbsünde belasteten Lage des Menschen durchaus eine moralische Notwendigkeit für eine besondere Offenbarung besteht. 25 Nichtsdestotrotz hält das Konzil daran fest, dass der christliche Glaube nichts Unvernünftiges oder gar Widervernünftiges ist und Glauben und Denken darum keinen Gegensatz bilden. In der Erkenntnis des Offenbarungsglaubens zeigt sich derselbe Gott wie jener, auf den der Mensch im reflexiven Bedenken der von Gott geschaffenen Wirklichkeit stößt. Die natürliche Erkenntnis Gottes ist folglich vermittelt, nämlich durch die von ihm geschaffenen Dinge; sie ist durch das Geschaffensein des Weltganzen bedingt. Der Glaubende darf darum vertrauen, dass sich sein Gottesglaube inmitten menschlicher Erfahrungen sowie in seinem Denken immer wieder neu bewährt, oder, wie es das Konzil 20 21 22
DH 3008. DH 3017. DH 3004; vgl. ebd. 3026: „Wer sagt, der eine und wahre Gott, unser Schöpfer und Herr, könne nicht durch das, was gemacht ist, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft gewiß erkannt werden: der sei mit dem Anathema belegt.“ 23 Vgl. Rahner, Karl, Schriften zur Theologie, Bd. 10: Zum heutigen Verhältnis von Philosophie und Theologie, 70-88, hier 75f: „Der Mensch hat es unweigerlich, und zwar im voraus zu einer explizit und institutionell verfaßten christlichen Offenbarung mit Gott zu tun. Unweigerlich und bevor einzelne Propheten und Pfarrer an ihn gelangt sind.“ 24 Bereits im Neuen Testament gilt Unglaube als nicht zu verantworten und wird als Sünde verworfen (vgl. z. B. Joh 15,22.25). 25 DH 3005.
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formuliert, der christliche Glaube „ein Gehorsam ist, der mit der Vernunft in Einklang steht“.26 Gemäß neuscholastischer Theologie brachte das Erste Vatikanum die Intelligibilität des Glaubens de iure, nicht aber de facto zum Ausdruck. Es wird jene transzendentale Möglichkeitsbedingung des Glaubens (logische Voraussetzung – praeambula fidei) definiert, aufgrund derer der Glaube dem Menschen nicht vollkommen fremd oder beliebig erscheint. Soll der Offenbarungsglaube den Menschen wirklich zuinnerst betreffen und ihn der allgemeine Anspruch der Offenbarung zu einer personalen Antwort herausfordern, muss die Offenbarung Gottes von der menschlichen Vernunft vernehmbar und ihr zugänglich sein. Das heißt, es handelt sich um eine transzendentaltheologische Aussage, die die Vernunftgemäßheit und intellektuelle Redlichkeit des Glaubens unterstreicht und damit verbunden die Verantwortlichkeit des Menschen für den Glauben bzw. für den Unglauben. Dies erfolgt ganz bewusst unter Berufung auf Röm 1,20, wo Paulus die Heiden in die Pflicht nimmt und ihre Erlösungsbedürftigkeit damit begründet, dass sie bei rechtem Vernunftgebrauch Gott anhand seiner Werke in der Schöpfung grundsätzlich erkennen könnten. Grund für die natürliche Gotteserkenntnis ist das Verhältnis zwischen dem vollkommenen Sein und dem Sein der geschaffenen Dinge, welches nicht in allen Dingen ein und dasselbe ist, so dass zwischen ihnen eine ontologische Differenz besteht. Für diese seinsmäßige Abhängigkeit des kontingenten Seins vom absoluten Sein und einer damit gegebenen unumkehrbaren Ähnlichkeit zwischen Schöpfung und Schöpfergott hat Thomas Cajetan (1469-1534) den Begriff der analogia entis eingeführt. Auf dieser Seinsanalogie baut die natürliche Theologie auf. Indem sie mit dem Licht der natürlichen Vernunft die Geschöpflichkeit der Dinge reflektiert, legt sie den Zeichen- oder Verweischarakter der geschaffenen Wirklichkeit offen. Diese Basis natürlicher Theologie wurde von Barth übrigens rigoros bestritten. Er bezeichnete sie als „Erfindung des Antichrist“, um deretwegen man nicht katholisch werden könne.27
3. Grenzen und Gefahren Das Konzil verwirft eine rein autonome, von Gott unabhängige Vernunft ausdrücklich.28 Die natürliche Theologie möchte nicht kraft voraussetzungsloser Vernunft einen Weg zu Gott bahnen, sondern stattdessen im Diskurs der Wissenschaften die Vernunft des Glaubens als wahrhaft vernünftige Voraussetzung zur Geltung bringen. Das gelingt ihr nur, wenn sie sich von Gott zu denken geben lässt, näherhin 26 27 28
DH 3009. Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, Zürich 51960, VIIIf. Vgl. DH 3031: „Wenn jemand sagt, die menschliche Vernunft sei so unabhängig, daß ihr der Glaube von Gott nicht befohlen werden könne, der sei ausgeschlossen.“
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von „den geschaffenen Dingen“, d. h. von deren Geschöpflichkeit. Sie impliziert eine relationale Ontologie, gemäß der sich das Geschaffene von Gott völlig unterscheidet und zugleich radikal auf ihn verweist. Ausgehend von der Vorgabe des Geschaffenseins durchdenkt die natürliche Theologie die Zusammenhänge der Welt tiefer als andere Denkbemühungen, die diese Vorgaben nicht teilen. Mit anderen Worten: Natürliche Theologie setzt auf die Vernunft; aber sie unterstellt nicht, dass die menschliche Vernunft aus sich selbst vernünftig sei bzw. der Mensch durch pure Eigeninitiative zur Erkenntnis Gottes gelangen könnte. Natürliche Theologie setzt nicht auf die Voraussetzungslosigkeit des Denkens im Sinne dessen, dass das Denken sich all jene Inhalte selbst geben könne, die es als vernünftig einsieht. Stattdessen muss sich Gott selbst zu erkennen geben oder umgekehrt sich die Vernunft von Gott zu denken geben lassen. Weil Gott nur aus sich und durch sich selbst erkannt werden kann, muss sich der Mensch auf eine Vorgabe Gottes, auf seine Selbstoffenbarung und Selbstbezeugung einlassen, um ihn erkennen zu können, und dazu ist es nötig, mit dem religiösen Glauben konfrontiert zu werden. Dann kann mittels der Vernunft aufgedeckt werden, was dem Menschen natürlicherweise zu erkennen möglich ist: das Geschaffensein aller Dinge und die darin enthaltene Verwiesenheit auf Gott. Peter Knauer drückt diesen Sachverhalt wie folgt aus: „Die Erkenntnis des Geschaffenseins aller weltlichen Wirklichkeit und damit auch unserer selbst wäre als ‚natürliche Gotteserkenntnis‘ zu bezeichnen. Es handelt sich aber um eine Erkenntnis, die erst durch die Begegnung des Menschen mit der christlichen Botschaft zur Ausdrücklichkeit gelangt. Um ‚natürliche Gotteserkenntnis‘ gewissermaßen freizulegen, geht die christliche Botschaft korrigierend auf das mitgebrachte Vorverständnis des Menschen ein.“ 29 Die natürliche Theologie unterscheidet sich von der Offenbarungstheologie nicht darin, dass sie sich unabhängig von jeglicher Offenbarung Gottes vollzieht, sondern dass sie sich im argumentativen Diskurs nicht auf die kategoriale Offenbarungsgeschichte beruft. Sie ist der Offenbarungstheologie nicht vorgeschaltet, vielmehr weiß sie sich methodisch durchaus der Geltung der Glaubenswahrheit im „Reich der Vernunft“ verpflichtet. Trotzdem aber begründet sie die Geltung ihrer Argumente nicht von der Autorität der Offenbarung her. Dass das Konzil insofern die Philosophie bzw. philosophische Theologie wertschätzte, darin sah Karl Rahner die große Leistung des Ersten Vatikanums. Dabei interpretierte er die Konzilsaussagen dahingehend, „daß die Philosophie im Grunde eine gleiche – besser vielleicht: gleichgewichtige – Bedeutung hat wie die Offenbarung. Der Schultheologe wird natürlich schreien und sagen, so sei es damals doch von den Konzilsvätern nicht gemeint gewesen, die hätten doch die Autonomie und die Herrschaft über die Philosophie für die Theologie vindiziert. Das alles ist in einem gewissen Sinn richtig. Aber es gibt für das Konzil eben doch ein autonomes Wissen, das für die Bereiche der Theologie von entscheidendem Belang ist und das doch nicht Offenba29
Knauer, Peter, „Natürliche Gotteserkenntnis“, in: Jüngel, Eberhard u. a. (Hg.), Verifikationen, Festschrift für Gerhard Ebeling zum 70. Geburtstag, Tübingen 1982, 275-294, hier 286.
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rungstheologie ist, das einer geschichtlich regionalen Offenbarungserfahrung als das Universale vorausgeht.“30 Des Weiteren greift die natürliche Theologie auf die Wahrheit des Offenbarungswortes vor, indem sie diese Wahrheit an jeweils zentralen Fragestellungen als überzeugende Hypothese in den Diskurs der Wissenschaften und Weltanschauungen einführt. Dieser Vorgriff kann sich auf Grunddaten des Schöpfungsglaubens beziehen; er kann sich aber auch auf andere Aspekte des christlichen Welt- und Selbstverständnisses richten, sofern diese in der jeweiligen Situation des wissenschaftlich-weltanschaulichen Diskurses die Vernunft des Glaubens besonders prägnant ausdrücken (Erfahrung der Unbedingtheit in der ethischen Selbsterfahrung; Implikationen der Sinnerfahrung etc.). Eine gewisse Gefahr kann in diesem Zusammenhang darin bestehen, dass die Torheit des Kreuzes zu wenig bedacht wird, oder, wie Jürgen Werbick ausdrückt, „sich der diskursorientierte Vorgriff auf die Wahrheit des Offenbarungswortes kritiklos den herrschenden Selbstverständlichkeiten anpasst. So muss sich die natürliche Theologie immer wieder daraufhin überprüfen lassen, ob sie noch von dem Gott spricht, der sich in Jesus Christus selbst offenbart hat, oder ob sie sich nur einen Gott ausgedacht hat, der für die jeweils dominierenden gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnisse problemlos einsetzbar ist.“31 Der „natürliche“ Gott darf nicht der Projektion weltanschaulicher Fantasien des Menschen anheimfallen. Gerade deshalb hat das Zweite Vatikanum die natürliche Theologie im Kontext der Offenbarung Gottes behandelt und sie nicht, wie noch das Erste Vatikanum, von der übernatürlichen Offenbarung unterschieden. 32 Indem die doppelte ontologische Ordnung bzw. doppelte Erkenntnisordnung neuscholastischen Denkens überwunden wurde, erscheint die Lehre von der natürlichen Erkenntnis Gottes in einem neuen Licht.33
4. Ausblick Zwischen den christlichen Konfessionen dürfte wohl Übereinstimmung darin bestehen, dass der Glaube nicht ohne die Vernunft auskommt. Der christliche Glaube muss sich als rational ausweisen können, soll er vom Aberglauben unterscheidbar 30
Rahner (wie Anm. 23), 77. „Dieses von vielen heute so geschmähte Konzil ist, wenn man es richtig versteht, ein großartiges Konzil gewesen trotz allem Muff, der damals natürlich unter den von ihrer Zeit erschreckten Vätern herrschte, die am liebsten zu den Zeiten vor Aufklärung und Französischer Revolution zurückgekehrt wären. Ein großartiges Konzil. Warum? Weil es die natürliche Erkennbarkeit Gottes durch das Licht der bloßen Vernunft erklärt hat.“ (Ebd., 75f). 31 Werbick, Jürgen, Der Streit um die „natürliche Theologie“ – Prüfstein für eine ökumenische Theologie? in: Cath 37 (1983), 119-132, hier 132. 32 Vgl. DV 6. 33 Wie es nur eine Ordnung bzw. Wirklichkeit gibt, so lässt sich auch der Gottesgedanke nicht zergliedern.
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sein und vor der Gefahr des Fundamentalismus bewahrt werden. Wenn es zu diesem Rationalitätserweis des natürlichen Lichts menschlicher Vernunft bedarf, so darf indes nicht verkannt werden, dass die Vernunft sowohl begrenzt als auch erlösungsbedürftig ist. Allein schon deshalb ist eine Erkenntnis Gottes kraft bloßer, will heißen autonomer bzw. isolierter menschlicher Vernunft nicht denkbar. Ein allgemeiner Gottesgedanke kann nur ausgehend von der Schöpfungsoffenbarung aufgewiesen werden und das bedeutet, dass die natürliche Theologie nicht offenbarungslos konzipiert werden darf, sondern sie stattdessen den Glauben an die allgemeine Offenbarung Gottes voraussetzt und sich stets ihres theologischen Charakters selbstkritisch bewusst zu sein hat. Da Gott kein Objekt unter Objekten ist, kann er nur durch sich selbst erkannt werden und folglich setzt die natürliche Erkenntnis Gottes eine Offenheit auf Seiten des Menschen voraus. Dies sagt etwas über die Wesensverfassung des Menschen aus: Er ist nicht nur aufgrund seiner Weltoffenheit, sondern ebenso aufgrund seiner Möglichkeit eigenständiger natürlicher Gotteserkenntnis für Gottes Wort empfänglich. Oder um es mit den Worten Karl Rahners zu sagen: „Das Erstaunliche am Ersten Vatikanum […] liegt darin, daß es ein Geschehen im Menschen anerkennt, das heilsbedeutsam ist (wenn wir es theologisch sagen wollen) und doch unabhängig von Christentum und Kirche unausweichlich und immer gegeben ist. Die berühmte Pascalsche Unterscheidung zwischen dem Gott der Philosophen und dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Gott Jesu Christi wird gerade nicht gemacht, da der mit dem Licht der Vernunft erkannte Gott genau der ist, der als Gott des Heils in der Fundamentaltheologie und Theologie auftritt, zumal es doch selbstverständlich erscheinen dürfte, daß, wenn es überhaupt eine Gotteserkenntnis mit dem Licht der natürlichen Vernunft geben können soll, diese nicht jene Zufälligkeit haben kann, mit der der Mensch etwas von Australien weiß oder auch nicht weiß.“34 Wird die schöpfungsgemäße Erkennbarkeit Gottes in erster Linie als eine theologische und nicht religionsphilosophische Aufgabe angesehen, wie dies in der katholischen Theologie heute der Fall ist, könnten sich ökumenische Annäherungen ergeben. Steht nicht auch die evangelische Theologie vor der grundlegenden fundamentaltheologischen Aufgabe, den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens im Horizont gegenwärtigen Wahrheitsbewusstseins zu begründen? Besteht nicht auch evangelischerseits die Notwendigkeit, den Glauben situationsgemäß zu vermitteln und den Glaubensgehalt plausibel zu machen, so den Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Universität einzulösen und die Wissenschaftlichkeit der Theologie zu wahren? Wenn der Rationalitätsaufweis des Glaubens nicht im Vorhof des Glaubens vollzogen wird, könnte die traditionelle natürliche Theologie womöglich treffender als ‚Theologie der Natur‘ oder ‚verifikative Theologie‘ be-
34
Rahner (wie Anm. 23), 70-88, hier 75f.
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zeichnet werden.35 Dies bedeutet, dass im Glauben die vor dem Glauben wirksame Vernunft zu entdecken und zu rekonstruieren ist, um so die Aussagen des Glaubens als vernünftig zu verifizieren. Kommt es bei der natürlichen Theologie darauf an, im Glauben an die Offenbarung Gottes rationale Argumente für diesen Glauben zu formulieren und so vor dem Hintergrund des allgemeinen Wahrheitsbewusstseins die Glaubensoption in ihrer Rationalität auszuweisen, so schließt dies sowohl den wissenschaftlichen Diskurs als auch einen hermeneutischen Wettstreit mit anderen Weltanschauungen mit ein. Des Weiteren ist auf die Geschichte sowie auf die konkreten Situationen und Erfahrungen der Menschen einzugehen, anstatt sich, wie beim Ersten Vatikanum, auf abstrakte Aussagen zu beschränken. Das bedeutet dann auch, die Natur nicht nur als eine statische Größe zu denken, sondern sie in ihrer evolutiven Entwicklung ernst zu nehmen. Wenngleich katholischerseits unstrittig ist, dass sich die Wahrheit des Glaubens inmitten der konkreten Lebenswelt bewahrheiten und verifizieren lassen muss, so scheint mir evangelischerseits der Situations- und Erfahrungsbezug der Theologie nach wie vor kontrovers diskutiert zu werden, was zumindest die Auseinandersetzung zwischen Jüngel und Pannenberg gezeigt hat. Damit hat der Begriff „natürliche Theologie“ heute zwar als Schimpfwort oder Ketzerbegriff ausgedient, doch eine Problemanzeige scheint mir mit diesem Begriff noch immer verbunden zu sein.
35
Vgl. Krauß, Georg, Glaube mit Vernunft. Ökumenischer Weg verifikativer Theologie, in: Stubenrauch, Bertram (Hg.), Dem Ursprung Zukunft geben. Glaubenserkenntnis in ökumenischer Verantwortung (= FS Beinert), Freiburg i. Br. u. a. 1998, 143-165, ders., Gotteserkenntnis ohne Erfahrung und Glaube? Natürliche Theologie als ökumenisches Problem, Paderborn 1987, 469-477; Smedes, Taede, Ist Barth überholt? Reflektionen über Barths Kritik der Natürlichen Theologie im Kontext des heutigen Dialogs zwischen Theologie und Naturwissenschaften, in: Vogelsang, Frank u. a. (Hg.), Theologie und Naturwissenschaften. Eine interdisziplinäre Werkstatt. Dokumentation der Tagung 18/2005. 20.-22. Juni 2005, Evangelische Akademie im Rheinland, Bonn 2006, 279-290, hier 288.
Platons theologische Kritik an der Vernünftelei
Tammo E. Mintken Die Diskussionskultur der Gegenwart steht unter dem Eindruck einer beständigen Verrohung einerseits und einer Tendenz zu ebenso pauschalen wie willkürlichen Urteilen andererseits. Die sachliche Debatte wird nicht nur zwischen hate speech und fake news aufgerieben, sondern auch zwischen den ideologisch überzogenen Fronten von konstruktivistisch aufgeladener Sprachnormierung postsäkularer Couleur und den reaktionären Narrativen neoautoritärer Bewegungen. Diese Gemengelage untersuche ich mit meinem Beitrag aus einer Perspektive, welche die Fachgebiete unseres Jubilars – Theologie und Psychologie – aufnimmt, sie aber zugleich aus der eigenen philosophischen Fachperspektive behandelt. Für Platon greifen die philosophische Kritik der Gottesrede und die vernünftige Durchdringung des Seelenlebens unmittelbar ineinander und sind aufeinander verwiesen. Laut Platon entspringt die Vernünftelei in ihren vielen Spielarten von selbstdienlicher Rationalisierung und willkürlichem Urteil, von Sophismus und Skepsis und – in ihren politischen Ausdrucksformen – von Tyrannis und Demagogie dem ungeordneten Vernunftgebrauch einer ungeordneten Seele. Der philosophisch geprüften Theologie erwächst daraus eine besondere Bedeutung, da sie ein herausragendes Mittel der Kritik an der Vernünftelei darstellt. Dabei ist unter dem Titel der Theologie keine systematische für sich bestehende Gotteslehre zu verstehen, sondern die Gottes- oder Götterrede im antiken Sinne der mythologisch eingekleideten Narration.1 Zur Überwindung der Vernünftelei genügt nach Platon keineswegs die argumentative Überzeugung der Vernünftler (δενοις2), bedarf es doch der Therapie ihrer Seele, die in der Neuordnung der Seelenkräfte besteht. Damit rücken zum einen die affektiven Kräfte der Seele – Begierde und Eifer – ins Zentrum der Aufmerksamkeit, während zum anderen die Kritik all jener Götterrede erforderlich wird, die ihrerseits seelische Unordnung fördert. Damit wird die Frage aufgeworfen, wie die harmonische Neuordnung der Seele möglich wird und welche Schritte zu ihrer Therapie gegangen werden müssen. Der Theologie kommt mit ihrem ideal-narrativen Vorbildcharakter eine unverzichtbare Aufgabe für die Therapie der Seele zu, die dann mit Glück und Mühe auch zur Schau des wahrhaft Göttlichen und zur Angleichung der Seele mit dem 1 2
Vgl. Platon, Politeia, hier Pol. 379a, in: Platon, Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, Bd. 4: Politeia, hg. von Eigler, Gunther; bearbeitet von Kurz, Dietrich, Darmstadt 72016. Vgl. Platon, Phaidros, hier Phdr. 245c, in: Platon, Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, Bd. 5: Phaidros, Parmenides, Epistolai (Briefe), hg. von Eigler, Gunther; bearbeitet von Kurz, Dietrich, Darmstadt 72016.
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Gott führen mag. Meiner These zufolge dient also Platons Kritik der Theologie der Ordnung der Seelenkräfte, zu deren Aufrichtung die Kritik falscher Gottesvorstellungen ein wichtiges Hilfsmittel darstellt. Dementsprechend werde ich in einem ersten, kürzeren Abschnitt auf die Kritik der Göttermythen eingehen, um dann in einem zweiten, längeren Teil die Unordnung der Seele und die Möglichkeiten ihrer Therapie zu diskutieren.
1. Die Kritik an der Polis-Religion und an den Göttermythen Bei der Entwicklung von Kallipolis, der idealen Stadt, die Platon seinen Sokrates und dessen Gesprächspartner gründen lässt und die zugleich ein Idealbild der geordneten Seele darstellt, kommen die fiktiven Städtegründer bei der Frage nach der Ausbildung des Wächterstandes auf die Bedeutung der Göttermythen zu sprechen. Platon lässt hier seinen Sokrates harsche Kritik an diesen Mythen und dem damit einhergehenden Verständnis der Götter in der Polis-Religion üben, die als unbeherrscht, als furchtsam und vor allem als ungerecht beschrieben werden.
1.1 Die Gerechtigkeit des guten Gottes Bei der Diskussion der Eigenschaften des Gottes wechselt Platon nahezu beiläufig vom Plural der polytheistischen Polis-Religion zum Singular des einen Gottes, dem Wahrhaftigkeit und unwandelbare Einheit 3 ebenso zugesprochen werden müssen wie vollkommene Güte und Gerechtigkeit: „Nun ist doch der Gott wesentlich gut und auch so darzustellen“4. Da der Gott seinem Wesen nach unwandelbare Güte ist, kann ihm keine Verantwortung für die herrschenden Übel zugesprochen werden, da solche Urheberschaft der Güte Gottes widerspricht: „Nicht also von allem ist das Gute Ursache, sondern was sich gut verhält, davon ist es Ursache; an dem Üblen aber ist es unschuldig“5. Mit Nachdruck lässt Platon seinen Sokrates auf dem Standpunkt beharren, dass zumal in der menschlichen Sphäre (τοις ανθρώποις αίτιος) dem Gott keine Urheberschaft für die Übel zugesprochen werden darf, vor allem nicht im Angesicht der Tatsache, dass es mehr Übles als Gutes in der menschlichen Sphäre gibt: „Also auch der Gott, weil er ja gut ist, kann nicht an allem Ursache sein, wie man insgemein sagt, sondern nur von wenigem ist er den Menschen Ursache, an dem meisten aber unschuldig, denn es gibt weit weniger Gutes als Böses bei uns. Und
3 4 5
Vgl. Platon (wie Anm. 1), Pol. 380d-382d. Ebd., Pol. 379b. Ebd.
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das Gute zwar darf man auf keine andere Ursache zurückführen, von dem Bösen aber muss man sonst andere Ursachen aufsuchen, nur nicht den Gott“ 6. Selbst göttliche Strafe dient dem Guten und der Wiederaufrichtung der Seele, denn mit der Güte des Gottes kann hier nur die Aussage vereinbart und als Ausdruck seiner Gerechtigkeit verstanden werden, dass „als Unselige die Bösen der Strafe bedurft hätten und dadurch, dass sie Strafe litten, ihnen von dem Gott Hilfe kam“ 7. Also auch das auf den ersten Blick Schädliche, die Strafe, interpretiert Platon in positiver Weise.8 Ganz parallel zu diesem Befund spricht Platon auch im Phaidros von der Güte des Erôs, der als Gott keine Schäden anrichtet. Damit wendet sich Sokrates gegen die von Phaidros begeistert aufgenommene These des Lysias, es sei besser, dem Nichtverliebten Gutes zu tun, weil aus Liebeswahnsinn oft viel Leid resultiert. Nachdem Sokrates zunächst mitgerissen war und eine eigene Rede zur Unterstützung des Lysias unternommen hatte, meldet sich sein Daimon und löst Gefühle der Reue aus, weil Sokrates schlecht vom Gott der Liebe gesprochen hatte: Die „vorigen Reden aber sprachen beide von ihr, als wäre sie [Übles]. Dadurch also sündigten sie gegen den Eros“9. Weil Erôs ein Gott ist, der – wie der Phaidros im weiteren Verlauf entwickelt – am Wesen des Gottes teilhat, kann ihm wiederum nicht die Urheberschaft der Übel nachgesagt werden: „Wenn also, wie es doch ist, Eros ein Gott und die Liebe etwas Göttliches ist, so kann sie nicht etwas Übles sein“10. Und so kommt Sokrates zu dem Schluss, dass auch der Liebeswahn gut sei, denn es „entstehen uns die größten Güter aus einem Wahnsinn, der jedoch durch göttliche Gunst verliehen wird“ 11. Der Gott also ist seinem Wesen nach gut und gerecht und die Einsicht in diesen Wesenszusammenhang verbietet es, von den Göttern als zänkischen und willkürlichen Verursachern von Tod und Übel zu sprechen. Für Platon gilt: „In jeder Hinsicht ist das Dämonische und Göttliche ohne Falsch“12. Dass Platon so nachdrücklich auf der Schuldlosigkeit der Götter besteht, mag damit begründet werden, dass die Menschen so auf ihre eigene Verantwortung für Leid und Ungerechtigkeit aufmerksam gemacht werden sollen und sich nicht hinter der philosophisch bereits ausgeschlossenen Willkür der Götter verstecken können. Die Anthropodizee, nicht die Theodizee, scheint für Platon das im Angesicht des Übels drängendere Problem 6 7 8
Ebd., Pol. 379c. Ebd., Pol. 380b. Zu den verschiedenen Formen der Hilfe und Strafe, die die Götter beziehungsweise der Gott den Menschen gewähren, vgl. Helmig, Christoph, Hilfe der Götter für das gute Leben. Die Rolle der Religiosität in der Ethik des antiken Platonismus, in: Pietsch, Christian / Bonazzi, Mauro (Hg.), Ethik des antiken Platonismus. Der platonische Weg zum Glück in Systematik, Entstehung und historischem Kontext. Akten der 12. Tagung der Karl-und-Gertrud-Abel-Stiftung vom 15. bis 18. Oktober 2009 in Münster, Stuttgart 2013, 237-258. 9 Platon (wie Anm. 2), Phdr. 242e. 10 Ebd. 11 Ebd., Phdr. 244a. 12 Ders. (wie Anm. 1), Pol. 382e.
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zu sein. Zunächst gilt es festzuhalten, dass die Einsicht in die wesensnotwendige Güte des Gottes das Fundament der Kritik an der Mythologie der Polis-Religion bildet, insofern diese den Göttern Ungerechtigkeit nachsagt und damit auch die Nachahmung der Götter in falsche Bahnen lenkt.
1.2 Tapferkeit und Besonnenheit der Götter Die Städtegründer nehmen über das Gute hinaus auch die im Mythos besungene Unbesonnenheit und Wehleidigkeit der Götter und Heroen in die Kritik. Die Götter werden laut Platon falsch dargestellt, wenn sie Angst vor dem Tod haben, wenn sie weinerlich sind oder wenn sie andere verspotten: „Doch unermessliches Lachen erscholl den seligen Göttern, als sie sahn, wie Hephaistos in emsiger Eil umherhumpelte; das dürfen wir nicht gelten lassen nach deiner Rede“13. Den Göttern darf keine Unbesonnenheit, Ruhmsucht oder Völlerei nachgesagt und auch als genius malignus darf ein Gott nicht dargestellt werden. Mit nur wenigen Strichen begründet Platon, warum die Götter nicht mit entsprechenden Lastern gekennzeichnet werden sollen, denn zum einen geht es Platon hier nicht um eine systematische Theologie, sondern um den Vorbildcharakter, den die Gottesrede für die Erziehung der Wächter zu erfüllen hat. Zum zweiten aber sind diese Laster durch die Feststellung der Gerechtigkeit des Gottes, an dem die Götter teilhaben, bereits ausgeschlossen, denn mit ihrer Gerechtigkeit geht die Ordnung der Götterseelen einher, die sich in ihrem auch sonst tugendhaften Leben ausdrückt. Besonders der Phaidros zeichnet ein Bild der Besonnenheit und Tapferkeit der Götter, die ihre Seelengespanne geordnet lenken und so zur Schau der Ideen befähigt sind, weshalb sie ihrerseits ein starkes Gefieder bewahren und weiterhin an der Gerechtigkeit teilhaben: Die Götter schauen die Gerechtigkeit am überhimmlischen Ort, „αι δε θεορουσι τα εξο του ουρανου“14; sie haben mit ihrem geordneten Seelenwagen Teil am Göttlichen und handeln demgemäß. Die Kritik der mythologischen Gottesrede ist für Platon weder aufklärerische Dekonstruktion noch säkularistischer Selbstzweck, sondern sie steht im Kontext der Erziehung beziehungsweise des Aufstiegs der menschlichen Seele, da sie der Bildung durch angemessene religiöse Vorstellungen bedarf, um zur Schau der Ideen gelangen kann. Die theologischen Narrative dienen der menschlichen Seele als Vorbild für ihren Aufstieg. Die Kritik der Polis-Religion durch philosophische Theologie verweist damit bereits auf die Therapie der Seele und die Korrektur eines ungeordneten Vernunftgebrauchs.
13 14
Ebd., Pol. 389a. Ders. (wie Anm. 2), Phdr. 247c.
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2. Die Kritik der Vernünftelei und die Therapie der Seele Wie bereits angemerkt, lässt sich Vernünftelei als ein Sammelbegriff für alle erdenklichen Formen eines selbstdienlichen Vernunftgebrauchs auffassen, der sich in der Fluchtlinie des Denkens Platons als Ausdruck einer ungeordneten Seele zu erkennen gibt. „Eine schlechte Seele wird notwendig auch schlecht beherrschen und besorgen[.]“15 Das Gerechtigkeitsverständnis des Thrasymachos kann helfen, diese allgemeine Charakterisierung etwas plastischer darzustellen: Für Thrasymachos besteht die Gerechtigkeit bekanntlich im Recht des Stärkeren, „ich nämlich behaupte, das Gerechte sei nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche“ 16. An die Stelle der Gerechtigkeit tritt bei Thrasymachos der eigene Vorteil, der von der Sache selbst absieht und nur das eigene Ich als Maßstab gelten lässt. In diesem Sinne kann Vernünftelei mit Barbara Zehnpfennig als Synonym für jenen Vernunftgebrauch verstanden werden, bei dem die „Grundentscheidung [gefallen ist], nicht den Maßstab zu suchen, sondern Maßstab zu sein.“ 17 Die Unordnung der Seele jedoch geht mit der Unterwerfung der Vernunftseele einher.
2.1 Das unterworfene Logistikon und die Aporie Wenn Platon die Vernünftelei als Ausdruck einer ungeordneten Seele versteht, werden in dieser Seele die niederen Seelenkräfte der Begierde und des Eifers die Herrschaft übernehmen und das Logistikon – das Vernunftvermögen der Seele – für ihre Zwecke einspannen. Das Logistikon hat dann die Zwecke der Begierde zu rechtfertigen und mit technischem oder rhetorischem Geschick ihre Objekte zu besorgen, hier herrschen Eifer und Begierde und unterwerfen das Logistikon ihren Absichten. Aufgrund dieser verdrehten Herrschaftsordnung, An-Archie, kann es Platon nicht nur um das bessere Argument und die möglichst genaue Definition des wahren Seienden – hier: die Gerechtigkeit – gehen, sondern er muss Wege ausloten, die zu einer tiefgreifenden Infragestellung des Vernunftgebrauchs, zu einer Vernunftkritik, führen, damit eine Neuordnung der Seelenkräfte und die Unterwerfung der niederen Seelenteile unter das Logistikon erfolgen können. Dazu aber ist es erforderlich, dass ein Thrasymachos sowohl die Tatsache seiner Vernünftelei als auch ihren Ursprung anerkennt sowie die Unordnung seiner Seelenkräfte akzeptiert. Ohne die Kultivierung der affektiven Seelenteile kann die Therapie nicht gelingen, denn sonst würde der geübte Sophist nur weiterhin alle rhetorischen Tricks und Kniffe auffahren, um an seiner selbstdienlichen Position festzuhalten; mit Zähnen und Klauen würde er seine Position verteidigen und wir könnten, er15 16 17
Ders. (wie Anm. 1), Pol. 353e. Ebd., Pol. 338c. Zehnpfennig, Barbara, Platon zur Einführung, Hamburg 1997, 94.
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neut mit Zehnpfennig gesprochen, „durchaus Argumentationstechniken wiedererkennen, wie man sie auch in Alltagsgesprächen verwendet, wenn man unbedingt recht behalten will.“18 Wie aber kann das Logistikon aus seiner Abhängigkeit von Begierde und Eifer befreit werden? In diesem Zusammenhang kommt der Aporie ihre unverzichtbare erkenntnispraktische Bedeutung zu, denn erst durch das belehrte Unwissen – ich weiß, dass ich nicht weiß – kann ein Thrasymachos überhaupt in den Stand versetzt werden, sein eigenes selbstdienliches Scheinwissen aufzugeben und sich der Sache selbst, der Idee des Gerechten, zuzuwenden. Dialog, sokratische Elenktik und platonische Dialektik, Ironie und Dihairesis zielen dann nicht unmittelbar auf die rationale Überzeugung des Gegenübers durch das bessere Argument, sondern sie wollen die Möglichkeit eröffnen, durch die Ausweglosigkeit des entlarvten Unwissens zum Wissen fortzuschreiten. Damit die Neuordnung der Seele möglich wird, muss das fehlgeleitete Logistikon durch die Aporie erschüttert werden und sich seiner Abhängigkeit von den niederen Seelenkräften bewusst werden. Erst durch die Aporie wird der Weg zur Neuordnung der Seelenkräfte frei und damit zugleich die Disposition für die Einsicht in die Idee der Gerechtigkeit geschaffen. Natürlich lassen sich hier kritische Anfragen an Platon richten: Ist nicht die Aporie die stärkste Waffe der Sophisten und Vernünftler, können sie nicht die Aporie als Beweis dafür hernehmen, dass es keine Wahrheit, keine Sache selbst, keine Idee gibt? Darf der Rekurs auf die affektiven Kräfte als rational gelten und als entscheidendes Kriterium für den rationalen Diskurs in Anschlag gebracht werden? Und schließlich: Zeigt sich Platon nicht als hoffnungsloser Vernunftoptimist? Lässt sich ehrlich davon ausgehen, dass sich die Herrschaft der Affekte durch Vernunftkritik abschütteln lässt? Um nur auf den letzten Punkt einzugehen, machen Philosophie und vernünftige Reflexion überhaupt nur wenig Sinn, wenn ihnen gar keine Aussicht auf Erfolg zuzutrauen ist. Und Platons Sokrates behauptet keineswegs, über ein Allheilmittel für jeden empirisch möglichen Fall von Vernünftelei zu verfügen, vielmehr berichtet er – im leserorientierten Medium des Dialogs – vom glücklichen Fall des Thrasymachos. An seinem Vorbild orientiert stellt sich vom Gelingen der Vernunftkritik her die Frage nach der Mäßigung der Begierde.
2.2 Mäßigung zwischen Askese und Harmonie Die Frage, wie sich die Begierde zügeln lässt, scheint bei Platon keine eindeutige Antwort zu finden. Im Phaidros scheint sich das befreite Logistikon zornig gegen die Begierde wenden zu müssen und eifrig an der Neuordnung der Seele und damit an seiner Herrschaft über die niederen Seelenkräfte zu arbeiten. Strenge Askese wird zum Mittel der Herrschaft der Vernunft über die Begierde, während der Eifer für ihre Zähmung vereinnahmt wird: die affektive Kraft der Begierde wird von der 18
Ebd., 84.
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affektiven Kraft des Eifers niedergedrückt, und es entsteht ein innerseelischer Kampf, denn die Begierde ist mit Frisbee Sheffield „not swayed by considerations about the good (it requires the ‘whip and goad’).” 19 Die Begierde beugt sich nicht der vernünftigen Führung und so bedarf sie der gewaltsamen Beherrschung. Wenn sich die Begierde aber nur durch die Gewalt von Peitsche und Stachel im Zaum halten lässt, tritt ein neues Problem zu Tage, das in Platons Analogie von idealer Stadt und geordneter Seele deutlich wird: Die unteren Klassen des Nährstandes und der Wächter, die analog für die Seelenkräfte der Begierde und des Eifers stehen, sollen der Herrschaft der Philosophen freiwillig zustimmen können, damit Gerechtigkeit und eben keine Unterdrückung herrscht, „the lower classes not only must be ruled, they also have to belief that they should be ruled. It is this belief that allows us to say that moderation is a kind of harmony.”20 Wenn also die Begierde nur durch Zwangsmittel und Askese unterdrückt wird, kann von seelischer Harmonie keine Rede sein, weil diese Harmonie gerade in jener Einstimmigkeit (ὅμοδοξία) besteht, „die die ganze Stadt besonnen macht.“ Die Besonnenheit ist „ganz durch sie verbreitet und lässt in völligem Einklang die Schwächsten mit den Stärksten und den Mittleren zusammenstimmen[.] So dass wir also vollkommen richtig sagen können, diese Einmütigkeit sei Besonnenheit, nämlich des von Natur Besseren und Schlechteren Zusammenstimmung darüber, welches von beiden herrschen soll, in der Stadt sowohl als in jedem einzelnen.“ 21 Ohne Homodoxie und Sophrosyne ist dann aber auch keine Gerechtigkeit, keine Seelenordnung möglich, die eben darin besteht, dass alle Seelenkräfte der ihr eigenen Tugend gemäß „das ihrige tun“22. Wie also kann die Begierde dazu überredet werden, dass es besser für sie ist, wenn sie sich der Leitung der Vernunft unterstellt? Kann vielleicht die Aussicht auf Eudaimonie der Schlüssel zur Überredung der Begierde sein? Könnte man das störrische Pferd nicht – dem Bild im Phaidros gemäß – mit Nektar und Ambrosia locken, mit denen die Pferde nach abgeschlossenem Seelenlauf genährt werden? „Ist sie [zu Hause] angekommen, so stellt der Führer die Rosse zur Krippe, wirft ihnen Ambrosia vor und tränkt sie dazu mit Nektar“23. Hiergegen lassen sich aber zwei ineinander verschachtelte Einwände erheben, denn zum einen sind Nektar und Ambrosia ebenfalls als geistige Speise im inneren Himmel zu verstehen, die das störrische Pferd vor der Schau der Ideen kaum befriedigen werden. Zum anderen kollidiert der Vorschlag, die Zustimmung der Begierde durch die Aussicht auf Eudaimonie zu erheischen, mit der bereits 19 20 21 22 23
Sheffield, Frisbee, Eros before and after Tripartition, in: Barney, Rachel / Brennan, Ted / Brittain, Charles (Hg.), Plato and the Divided Self, Cambridge 2012, 211-237, hier 221. Wilberding, James, Curbing one´s appetites in Plato´s Republic, in: Barney, Rachel / Brennan, Ted / Brittain, Charles (Hg.), Plato and the Divided Self, Cambridge 2012, 128-149, hier 129. Platon (wie Anm. 1), Pol. 432a. Ebd., Pol. 433b. Ders. (wie Anm. 2), Phdr. 247e.
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gemachten Beobachtung, dass sich das störrische Pferd keinen vernünftigen Erwägungen beugt. Es mag dem Wagenlenker antworten: „Ich will nur meinen Hafer – und zwar jetzt!“ Auch die Aussicht auf Glück kann also keine einfache Lösung des Problems bieten. Wenn der Mensch selbst keine Möglichkeit findet, die Begierde zu zügeln, lässt sich dann wenigstens auf göttliche Hilfe rechnen? Die Seelenfahrt des Phaidros geht schließlich vom großen Glück des göttlichen Wahnsinns aus, „dem wir die größten aller Güter verdanken.“24 Wenn der göttliche Wahn zum Aufstieg vom sinnlich Schönen zur Idee des Schönen motiviert und diese Bewegung die Seele aus sich herausreißt und über sich hinaustreibt, lässt sich hier doch auf eine Neuausrichtung der affektiven Seelenkräfte spekulieren, die sich dem Vorbild der Götterseelen gemäß dem Logistikon beugen, um der eigenen Erfüllung im Schönen näher zu kommen. Diese Interpretation, die den göttlichen Wahn mit den Affekten verknüpfen will, übersieht aber völlig, dass es sich um göttlichen und nicht um affektiven Wahn handelt!25 Wie Sheffield präzise hervorhebt, sind die niederen Seelenkräfte gar nicht vom Wahn betroffen: “Nothing in the account connects philosophical madness to non-rational desires. Indeed what is striking is the idea that this madness is a recollection of the Forms (Phdr. 249c-e). The objects of this possession are rational (the Forms) and the subject of this possession is rational (the intellect). Though it is true that Plato gives value here to an experience characterized as irrational, it is not irrational by being grounded in non-rational drives. Arguably, it is irrational in the sense that reason is possessed and inspired in a way it does not fully comprehend.” 26 Der Wahn betrifft also das Vernunftvermögen selbst, während Begierde und Eifer hier prima facie gar keine Rolle spielen. Auch der göttliche Wahn kann also keine unmittelbare Lösung zur Zähmung der Begierde bereitstellen, zumal deshalb, weil der göttliche Wahn bereits einer gewissen Ordnung und Erkenntnissehnsucht bedürfte und als göttliches Geschenk kaum therapeutisch operationalisierbar ist. Auch mit dem Erôs ist der verflixten Begierde nicht ohne weiteres beizukommen, auch wenn der göttliche Wahn als Unterscheidungsmerkmal von Vernünftlern und Weisen angeführt wird:
24
Vgl. Koch, Dietmar, Zur Bewegung der göttlichen und der menschlichen Seele in Platons Dialog Phaidros, in: ders. / Männlein-Robert, Irmgard / Weidtmann, Nils (Hg.), Platon und das Göttliche. (Antike-Studien, Bd. 1), Tübingen 2010, 98-111, hier 98. 25 Dies macht den Unterschied zum Wahn in Pol. 382e aus: „Aber, sagte er, kein Unvernünftiger und Wahnsinniger ist je von Gott geliebt. Es gibt also nichts, um deswillen der Gott lügen könnte.“ 26 Sheffield (wie Anm. 19), 232.
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„Indem [ein Mann] menschlicher Bestrebungen sich enthält und mit dem Göttlichen umgeht, wird er von den Leuten wohl gescholten als ein Verwirrter; dass er aber begeistert (ενθουσιαγζων) ist, merken die Leute nicht.“27 Der göttliche Wahn hebt also zumindest den Unterschied zwischen selbstdienlichkontrolliertem Vernunftgebrauch und sachorientierter Theorie hervor und entmächtigt damit auch die Herrschaft der niederen Seelenkräfte über die Vernunft. Auf die viel und intensiv diskutierte Bedeutung von Musik und Gymnastik kann ich hier ebenso wenig eingehen wie auf die edle Lüge als Mittel der Überredung. Doch die immense Schwierigkeit, das störrische Pferd nachträglich zu zähmen, veranlasst Platon wohl dazu, in der Politeia auf eine so früh wie möglich einsetzende Erziehung zur Tugend zu setzen, frei nach dem Motto: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Damit die Bildung aber ihrerseits zur seelischen Ordnung führen kann, bedarf es einer angemessenen Theologie.
3. Vorbild der Theologie Welche Rolle spielt nun die Gottesrede für die (Neu-)Ordnung der Seele und die Sophrosyne, die Beherrschung der Begierde? Bekanntlich beantwortet Platons Sokrates die Frage nach der positiven Bestimmung der Ideen, nach der Sache selbst, nie direkt, sondern spielt hier seine Gleichnisreden ein: die schöne Stadt als das große Gleichnis der gerechten Seele, das Bild von der Chimäre, die großen Drei, das Bild vom Meergott Glaukos oder die bereits mehrfach erwähnte Seelenfahrt im Phaidros sind nur wenige Beispiele für die Fülle an Analogien und mythologischen Referenzen im Corpus Platonicum. Fällt Platon hier von seinem Anspruch auf Rationalität ab, weil er mit Lessings weisem Nathan weiß: „Nicht Kinder nur speist man mit Märchen ab?“ Oder will er das heilige Wissen der ungeschriebenen Lehre überlassen? Nun, für die Therapie oder die richtige Ordnung der Seele scheint mir den Gleichnissen genau der Zweck zuzukommen, den auch die angemessene Theologie erfüllen soll: Zum einen nämlich dienen die Gleichnisse als Vorbild für die geordnete Seele und zum zweiten als Motiv, das zur Zustimmung bewegen soll. Durch das Vorbild belehrt weiß das Logistikon, wohin es seinen Wagen lenken soll, während Eifer und Begierde gezeigt wird, wie sie von der Tugend bestimmt erst zur Erfüllung ihrer eigenen Anlagen gelangen. Wenn ich dies auf den von mir vermuteten Therapieweg beziehe, lässt sich erneut bei der Aporie und dem durch sie eröffneten Unwissen einsetzen. An die Stelle der Leere setzt Platon hier kein neues Objektwissen über die Idee oder die richtige Art ihrer Erkenntnis, sondern die Gleichnisse. Damit fordert er die Dialogteil27
Platon (wie Anm. 2), Phdr. 249c-d.
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nehmer ebenso wie die heutigen Rezipienten dazu heraus, durch das je eigene philosophische Bemühen den im Gleichnis vorgezeichneten Weg auch wirklich abzuschreiten. Statt also das entlarvte Scheinwissen durch neues Scheinwissen zu ersetzen, verweist Platon mit den Gleichnissen über die gegenwärtige Erkenntnisfähigkeit hinaus auf das wahre Wissen, das es noch in je eigener Anstrengung zu suchen gilt, wozu wiederum die Ordnung der Seelenkräfte unverzichtbar ist, um die Disposition zur Noesis zu schaffen. Und dieselbe Funktion hat auch die angemessene Theologie in der Politeia, denn nur die dem Göttlichen gerecht werdende Gottesrede kann wirklich für den je eigenen Aufstiegsweg disponieren. Zum besseren Verständnis des Vorbildcharakters der Götter möchte ich in aller Kürze auf Edith Stein und ihre Auseinandersetzung mit den Engeln, den reinen geschaffenen Geistern zu sprechen kommen. Das Leben der Engel fasst Stein zusammen als ein Leben von „Erkenntnis, Liebe, Dienst.“28 Damit will sie zeigen, dass Erkenntnis, Liebe und Dienst die eigentliche Vollzugsform eines jeden Geistes sind, der Geist als Geist soll erkennen, lieben und dienen. Dabei spielt für Stein die Frage nach dem tatsächlichen Sein der Engel eine ähnlich nachgeordnete Rolle wie für Platon die Existenz der Götter. Die Existenzfrage nämlich nimmt dem Ideal des geistigen Lebens nichts von seiner Geltung: Ein Geist soll erkennen, lieben und dienen, die Seele soll den Göttern gleich zur Schau der Ideen ausfahren und durch die Schau des Göttlichen Anteil am Göttlichen erhalten; und dies soll die Seele unabhängig von ihrer somatisch-sematischen Verfassung als Mängelwesen. Die Grenzen und die Endlichkeit, die so oft und so bereitwillig als Argumente der Vernünftler herangezogen werden, werden vom Vorbild der Götter her in ihrer Unzulänglichkeit aufgewiesen: Mag der Mensch noch so begrenzt sein, mag der Aufstieg noch so anstrengend sein und in den Tod des Sokrates münden, der menschlichen Natur entspricht es dennoch, aufzusteigen, gerecht zu werden und sich dem Gott anzugleichen. So wie die Götter sich von dem Gott unterscheiden, aber durch ihre Seelenordnung am Göttlichen teilhaben, so kann auch der von dem Gott verschiedene Mensch zur Angleichung mit dem Gott und zur Schau der Ideen gelangen – mag das jung austreibende Gefieder der Seele auch jucken, wie es „die Zahnenden an ihren Zähnen empfinden, wenn sie eben ausbrechen“ 29; mag das ungewohnte Licht der Sonne auch die Augen blenden. Die selbstdienliche Vernünftelei wird hier vom Vorbild echter Erkenntnis außer Kraft gesetzt und dem Logistikon die richtige Ausübung seiner Herrschaft vorgezeichnet. Aber sind wir damit der Harmonie der Seelenteile bereits näher gekommen? Kann die Begierde sich vom Gleichnis überreden lassen oder wird sie auch hier 28
Stein, Edith, Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins. Anhang: Martin Heideggers Existenzphilosophie. Die Seelenburg, in: Edith Stein Gesamtausgabe, Bd. 11/12, hg. von Müller, Andreas Uwe, Freiburg i. Br. 2006, hier 340: „Sein Leben ist ein rein geistiges; es besteht […] aus Erkenntnis, Liebe und Dienst.“ 29 Platon (wie Anm. 2), Phdr. 251b.
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nach Hafer schreien und die Gleichnisrede als Schönfärberei abtun? Letztlich kann auch hier nur der seelische Kampf weiterhelfen, denn was Besonnenheit ist, wird in Reinform wiederum erst am überhimmlischen Ort geschaut, in „diesem Umlauf nun erblicken sie die Gerechtigkeit selbst, die Besonnenheit und die Wissenschaft“30. Die in der Politeia anvisierte Harmonie der Seelenkräfte kann schließlich nur als Ziel der Bewegung gelten, während der Aufstieg selbst von Kampf und seelischem Ringen gezeichnet bleibt. Damit dieses Ringen aber in Angriff genommen werden kann, bedarf es einer so früh wie möglich einsetzenden Bildung, die mit den Tugenden vertraut macht. Die eingangs referierte Kritik an der mythologischen Gottesrede verweist dann auf diesen Vorbildcharakter für den Aufstieg: Damit der Mensch sich nach dem Vorbild der Götter dem Gott angleicht, gilt es die Götter in ihrer tugendhaften Seinsweise darzustellen, von ihnen nichts Lasterhaftes auszusagen und die Vernünftelei aus der Sphäre des Göttlichen fernzuhalten.
4. Das Über-Maß des Gottes Die Vernünftelei war als Ausdrucksform seelischer Unordnung in den Blick genommen worden, bei der das Logistikon Begierde und Eifer unterworfen ist und sich in ihrer Abhängigkeit für das Maß aller Dinge hält. Die Theologie spielt eine wichtige Rolle der Kritik, da ihr idealer Charakter die wohlgeordnete Seele vorzeichnet, auch wenn derlei vollkommene Ordnung für den Menschen nicht erreichbar ist. Die Theologie kann im Gleichnis Ideale aufrichten, ohne die Einsicht und den zu gehenden Weg durch die Behauptung toter Information abzuschneiden. In der Bildung ordnet die Gottesrede auf die Tugenden hin und disponiert so, das wahrhaft Seiende der Gerechtigkeit und Besonnenheit erkennen zu können. Hierfür ist aber eine Kritik unangemessener Theologie ebenso erforderlich wie der Blick auf das Über-Maß des Gottes. Das von der maßlosen Begierde vereinnahmte Logistikon verfällt der Anmaßung, Maß aller Dinge zu sein. Die Aporie mag zur Einsicht verhelfen, dass dieses somatisch-sematische Mängelwesen, das nicht mal zu echter Theorie fähig ist, kaum Maß aller Dinge sein wird – noch jeder für sich und im Widerstreit mit allen anderen. Doch erst der Erôs lässt das wahrhaft Seiende ahnen, in dem das Mängelwesen sein eigentliches Maß erblickt. Erôs befreit von der Enge des selbstdienlichen Vernunftgebrauchs und erschließt durch den göttlichen Wahn Horizonte des Schönen, die den Vernünftlern verschlossen bleiben. Dann ist zur Vergöttlichung erst fähig, wer seine Begrenztheit akzeptiert, wer sich sozusagen in Demut nach dem Antlitz des Gottes sehnt, nach dem Über-Maß der Seele, das größer ist, als dass es dianoetisch gedacht werden kann.
30
Ebd., Phdr. 247d.
Der Mensch als Suchender – Spiritualität und Ritual
Spiritualität ohne Gott*
Ludwig Mödl „Frömmigkeit“, „geistliches Leben“ und „Religion“ waren bis vor kurzem Begriffe, die in den kirchlichen Kontext gehörten. Spezialisten in theologischen und spirituellen Fragen waren die Geistlichen und die Kirchenleute. Dies ist plötzlich nicht mehr der Fall. Leute treten auf, die transzendente, religionsnahe und philosophisch begründete Praktiken als „spirituell“ propagieren – ohne Kirche, ja sogar auch ohne Bezug auf Gott. „Du brauchst keinen Gott“, so sagen sie. „Du kannst spirituelle Erfahrungen machen, die für dein Leben bestimmend werden, ja du kannst dabei die Frage nach Gott völlig ausklammern.“ Sie nennen ihre Angebote trotzdem „spirituell“. Es gibt also heute eine Spiritualität ohne Gott! Betrachten wir zunächst den Begriff „Spiritualität“, um uns dann umzuschauen, welche nichtkirchlichen und auch nichtreligiösen Spiritualitäten uns umgeben, um dann zu überlegen, wie wir Christen damit umgehen können.
1. Zum Begriff „Spiritualität“ Der Begriff ist unpräzise. Unterschiedlich wird er umschrieben.
1.1 Zur Etymologie des Begriffes „Spiritualität“ Zunächst geht der Begriff „Spiritualität“ zurück auf das lateinische Wort „spiritualis“. Tertullian (150-230 n. Chr.) hat ihn (wahrscheinlich) in die Theologie eingeführt. Er übertrug damit das Griechische „pneumatikos“, das bedeutet: „dem Geist gemäß“ ins Lateinische. Dieses aber war eine „christliche Neuschöpfung“ (Anton Rotzetter), die vor allem ab dem fünften Jahrhundert im geistlichen Leben der Christen eine große Rolle spielte. „Spiritualis“ konnotierte dann im Spätlatein: „geistig“, „geistlich“, „vom Heiligen Geist erfüllt“. Im Deutschen ist der Begriff „Spritualität“ erst in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aufgetaucht, und zwar als Anleihe aus dem Französischen, wo er seit etwa 1900 benützt wurde als „spiritualité“. Dort stand er (eindeutiger als im Deutschen) für „Lehre vom religiösen Leben“. Nun wird er bei uns im Deutschen erweiternd für jene theologischen und rein geistigen Wirklichkeiten gebraucht, die man zuvor mit den Begriffen „Frömmigkeit“, „geistliches Leben“ oder „Streben nach * Der Text basiert auf einem Vortrag beim ökumenischen Gespräch am 26. Oktober 2011 in der Gustav Adolf Kirche in Nürnberg.
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Vollkommenheit“ benannte. Die Umschreibung des Begriffes bleibt sehr unpräzise und hat in den letzten drei Jahrzehnten nochmals eine Erweiterung erfahren.
1.2 Unterschiedliche Umschreibungen a) Zunächst fasst man den Begriff „Spiritualität“ ganz eng im Sinn von religiöser Aktivität, wie sie sich in Meditation oder Gebet oder bei irgendwelchen religiösrituellen Handlungen zeigt. Die Art und Weise ist dabei natürlich von dem Inhalt der religiösen oder religionsähnlichen Überzeugung geprägt – sie kann kirchlich verfasst oder frei religiös sein. Spiritualität in diesem Sinn ist also ein ausdrücklich religiöses Handeln mit der Tendenz, das innere Leben auf den Jenseitigen oder eine umfassende Wirklichkeit hin auszurichten und dabei die eigene Person davon bestimmen zu lassen. Spiritualität ist also „geistliches Handeln“. b) In einem zweiten, ganz weiten Sinn spricht man von „Spiritualität“ und meint damit „Religiosität“ allgemein. Ein Mensch glaubt an etwas Höheres. Er ist kein materialistischer Monist. Das kann Gott sein, muss aber nicht Gott sein. Und es muss sich schon gar nicht um eine Religion im Sinne einer verfassten Gemeinschaft handeln. „Spirituell“ in diesem weitesten Sinn ist einfach identisch mit „religiös“. c) In einem dritten Sinn wird der Begriff „Spiritualität“ – bei uns Christen – als Ausdruck für den Beziehungsaspekt des religiösen Handelns gebraucht. Das bedeutet: Mit „Spiritualität“ bezeichnen wir die Haltung und Praxis eines Mensch, inwiefern er sein Inneres (nach oben hin) öffnet, beim Nachdenken und Erinnern direkt mit Gott in Kontakt zu treten versucht durch Gebet, Lesung, Meditation, theologische Reflexion und Gottesdienst. Dieses Handeln beeinflusst zugleich seine Lebenspraxis im Ganzen. Spirituell nennen wir in diesem Sinn also einen Menschen, der gesonderte religiöse Handlungen setzt, in welchen er sich direkt an Gott wendet, und der seine Leben wie sein gesamtes Handeln daraus gestaltet. 1 Diese Umschreibung kann ich nun auch über die christliche Konnotation hinaus anwenden, wenn ich von den christlichen Inhalten abstrahiere und sage: Spirituell kann ich einen Menschen nennen, der von innen gelenkt ist und dessen „Grundüberzeugungen (sich) in Taten zeigen“2. Also auch ein Atheist, der aus Überzeugungen heraus handelt, kann eine geistige Basis dafür beanspruchen, die er „Spiritualität“ nennen mag. Als Autor für diese Umschreibung können wir Hans Urs von Balthasar beiziehen, der Spiritualität definiert als die „je praktische oder existentielle Grundhaltung des Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen oder allgemeiner: ethisch-
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Vgl. zum Ganzen: Weismeier, Josef, Art. Spiritualität. III. Historisch-theologisch, in: LThK 9, ³2000, Sp. 853-855. Ingenlath, Hermann Josef, Projektmanagement und Spiritualität, Würzburg 2011, 30.
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engagierten Daseinsverständnisses ist: eine Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her“3 Ein besonderer Aspekt kommt noch hinzu, wenn wir bedenken, dass ein Mensch innerlich zu wachsen sucht und vollkommener werden möchte, weswegen er spezielle geistliche Übung macht. Er tritt bewusst und systematisch in einen „Prozess menschlicher Umformung“ ein, wobei er seine Gedanken, Gefühle, Krankheiten, Verletzungen, Misserfolge etc. in einen größeren Zusammenhang stellt und dadurch Heilung und Befreiung und größere Nähe zu Gott oder zu dem von ihm geglaubten Zentrum seiner Existenz zu gelangen sucht.4 Für Rudolf Bahro bedeutet in dieser Hinsicht „Spiritualität (versus Materialismus) vor allem diese Umorientierung unserer Energien von einer Praxis vornehmlich äußeren zu einer Praxis vornehmlich inneren Handelns […]“.5 So ist Spiritualität eine „fortwährende Umformung eines Menschen in leidenschaftlicher und engagierter Beziehung zur Welt, zum Menschen und zum Unverfügbaren“6 oder als „fortwährende Umformung eines Menschen, der antwortet auf den Ruf Gottes“7 Auch dieses asketische Mühen nennt man „Spiritualität“.
1.3 Gottferne Spiritualität Diese weit gefassten Umschreibungen des Begriffs „Spiritualität“ machen es uns möglich, von einer gottfernen Spiritualität zu sprechen. So können wir nun fragen: Wie sich eine „Spiritualität ohne Gott“ darstellt? Sowohl die Idee von der „Umformung der Seele in menschlichen Prozessen“ (Bahro), als auch die Benennung der „Ausformung von Grundüberzeugungen in Taten“ (Balthasar) als spirituelles Handeln lassen uns die Frage stellen: Wo begegnet uns eine Spiritualität ohne Gott in unserem Umfeld? Und konsequenter Weise müssen wir am Schluss fragen, ob und wie unsere christliche spirituelle Praxis davon beeinflusst sein kann. Zur ersten Frage sei im nächsten Abschnitt zu antworten versucht, zur zweiten im darauf folgenden.
2. Spiritualität (teilweise oder ganz) gottlos In drei Bereichen zeigt sich eine teilweise oder ganz „gottlose“ Spiritualität, die aber weithin noch religiöse Züge aufweist oder als Selbstanspruch kundtut: in der Esoterik,
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Balthasar, Hans Urs von, Darmstadt 2008, 568. Vgl. Ingenlath (wie Anm. 2), 32. Bahro, Rudolf, Logik der Rettung, Stuttgart 1987, 23. Dienberg, Thomas, Spiritualität – ein Definitionsversuch, in: Ders. u. a., Management und Spiritualität, Berlin 2007, 35. Plattig, Michael, Vorwort, in: Institut für Spiritualität (Hg.), Grundkurs Spiritualität, Stuttgart 2000, 10.
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bei fernöstlichen religionspraktischen Anleihen und in einer humanistischen Spiritualität.
2.1 Esoterik Esoterik ist kein neues Phänomen. Das zeigt schon die Geschichte des Begriffes. a) Zum Begriff Der Begriff leitet sich ab vom Griechischen „esóteros“ (eiso) und bedeutet „innen“ oder „innerlich“. Seit dem dritten Jahrhundert n. Chr. wird er in den Philosophenschulen gebraucht und bedeutet dort das Besondere der jeweiligen Schule und ihrer Lehren, das nur die „Insider“ kennen. Die lateinische Variante ist „occultus“. Sie bezeichnet seit dem 16. Jahrhundert die geheimen Wissenschaften wie Alchemie, Astrologie, Mantik oder Theosophie. Damit ist zunächst mit „occult“ oder „esoterisch“ ein bestimmtes Sonderwissen bezeichnet, zu dem es nur einen begrenzten Zugang gibt (um es vor Missbrauch oder Verunreinigung zu schützen). Das Substantiv Esoterik wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Sammelbezeichnung geprägt. Diesen Lehren und Praktiken ist es eigen, dass sie nicht übereinstimmen mit dem modernen naturwissenschaftlichen Weltbild und seinen philosophischen Fundamenten. Teilweise grenzen sie sich bewusst von Kirchen und Theologien ab, wobei ihnen selbst aber religiöser (oder halbreligiöser) Charakter zu Eigen ist. Man stellt sich also zum einen gegen die naturwissenschaftliche Rationalität, und zum anderen gegen die dogmatischen Aussagen von Kirchen, um Gesetzmäßigkeiten eines überzeitlichen Wissens zu finden. Nur teilweise schöpfen Esoterikschulen aus neuplatonischen Quellen. Auch altheidnische Ideen und Praktiken können dabei ins Spiel kommen. Sich selbst definieren sich die Protagonisten die Esoterik oft als „innerliche Form von Religion“. Die Religionswissenschaft versteht Esoterik in einem religionssoziologischen Sinn als „Sonderwissen“ oder „Geheimtradition“ 8, die es durchaus innerhalb einer Religion geben kann, z. B. im Judentum die Essener, die Kabbala u.ä.9 b) Neureligiöse oder spirituelle Aspekte der Esoterik Esoterische Praktiken gibt es seit langem, die wir als Theosophie, Spiritismus, Rosenkreuzer, Neugeistbewegung und Anthroposophie kennen. Seit den 1980er Jahren verbreiteten sich aber in USA und Westeuropa esoterische Vorstellungen – ohne klares Bekenntnis und ohne Mitgliedschaft in einer Gruppe. Praktiker bieten Kurse an, 8 9
Vgl. zum Ganzen: Bochinger, Christoph, Art. Esoterik. I. Religionsgeschichtlich, in: LThK 3, ³1995, Sp. 884. Vgl. Maier, Johann, Art. Esoterik. II. Biblisch und Judentum, in: LThK 3, ³1995, Sp. 884f.
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kommerzielle Netze laden die Menschen ein. Einige Autoren versuchen theoretischpraktische Grundlagen und weltanschauliche Konzepte zu fixieren. Dabei greifen sie auf alte Auffassungen zurück, auf den Schamanismus, die Astrologie, die Hermetik, die Kabbala und östliche Mystik-Lehren. Diese verbinden sie aber mit eigenen Interpretationen von moderner Psychologie, Physik, Biologie oder sogar der Systemtheorie. Ihre Ideen propagieren sie dahingehend, dass durch sie alle Defizite der modernen Lebenswelt überwunden werden. Einige wollen „dank direkter Erfahrung“ (M. Ferguson) die Glaubensdoktrinen der etablierten Religionen übersteigen und die – wie sie meinen – allen Religionen gemeinsame, ursprüngliche mystische Einheit mit dem Kosmos erleben. Trotz großer Unterschiede vertreten die meisten esoterischen Autoren einen „spiritualistischen Panenergetismus“, der besagt: Mensch und Natur sind Formen ein und derselben Lebenskraft. Die Alleinheit ist gegeben. Drei Ziele kannst du erreichen: Du kannst erstens über die Grenzen des wissenschaftlichen und alltäglichen Wissens hinaus erkennen, was für dich wichtig ist, und zwar durch Intuitionen, spiritistische Kundgaben, Visionen oder mystische Einheitserlebnisse. Diese stellen eine höhere Erkenntnis dar (als die Wissenschaft dir vermitteln kann), da sie das „Urwissen“ aller Wirklichkeit erschließen (vgl. Archetypen). Zweitens: Strebe zur Einheit mit dem kosmischen Selbst. Dieses ergibt eine Bewusstseinsevolution bei dir und für die Menschheit. Diese führt dich und alle anderen Geschöpfe (durch Aurasehen, Telepathie, Visionen) zur höchsten Ganzheit (K. Wilber). Drittens; Mensch, du bist durch deinen Astralleib mit der feinstofflichen Lebensenergie des Kosmos verbunden. Dieser Astralleib liegt dem groben Körper zugrunde, der zerfällt. Durch Meditation sammelst du feinstoffliche Lebensenergie in dir an und machst sie fruchtbar für das gegenwärtige Leben.10 Dein Leben wird eins mit dem All, es wird heiler, es wird weiser, du kannst dich orientieren an der großen Wahrheit des Alleinen. So ähnlich reden die Gurus der Esoterik.11 Die Esoterik ist uns in den letzten dreißig Jahren vornehmlich im „New age“ begegnet. „New age“ ist eine esoterische Praxis, die Seelenkräfte, unsichtbare Einflussmächte verschiedenster Art für das Wohlbefinden („wellness“) des Menschen bereithält und ihm durch allerlei Hilfen wie Meditation, gnostische Weisheitslehren oder psychologische Praktiken in diesen Zustand versetzen will. Zugleich steht dahinter die Überzeugung, dass sich die kosmischen Gegebenheiten so gewandelt haben und wandeln, dass eben ein neues Zeitalter auch für den Menschen angebrochen sei. Bis vor kurzem wurden diese Ideen weniger als gnostische Lehre propagiert denn als vermarktete Wellness-Praxis angeboten. Die Propagandisten der Well10
Autoren, die in diese Richtungen tendieren, sind: Tieth Dethlefsen, Frank Capra, Stanislav Grof, Ken Wilber u. a. 11 Vgl. zum Ganzen: Grom, Bernhard, Art. Esoterik. III. Neureligiöse Aspekte, in: LThK 3, ³1995, Sp. 885f.
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nesskultur sprechen davon, dass sich auch der moderne Mensch nach einem „Tempel“ sehnt. In diesem „Wohlfühlparadies“ soll sich sein Körper entspannen im Dampfbad, in der Sauna, in wohlriechenden Duftkabinen. Dieses wohlige Körperfühlen erzeugt einen Glückszustand, in dem der Mensch alle Sorgen vergisst. Und in diesem Zustand konzentriert sich der Geist, er fühlt sich im Körper wieder wohl und so kommen ihm neue Einsichten. Die wohlige Nähe der großen Wirklichkeit lässt Heilung geradezu erspüren. Das erlebte Paradies vermittelt Abstand zum Alltag und gibt Hoffnung und Orientierung – an anderem denn an den Fakten. Kein Gott ist nötig, um Heil und Erlösung zu fühlen. Die spirituell zu nennende Atmosphäre des Wellness-Paradieses ist genug, um die Seele zu erheben und sie die Einheit mit dem Alleinen fühlen zu lassen. Wenn wir ein Urteil versuchen: In dem Ganzen tritt eine Gegenbewegung zur Aufklärung zutage, wie wir sie seit langem kennen etwa im Spiritismus (Swedenborg), der idealistischen Neugeistbewegung oder der Theosophie. Ein Interesse an Naturreligionen erwächst, östliche Religionen mit ihren Meditationstraditionen werden beigezogen, eine optimistische Zukunftsschau mit Elementen einer Gegenkultur setzt sich in einigen Köpfen fest. Die Idee einer dauernden Regeneration kommt auf, das Interesse an Reinkarnation als Vorstellung von Auferstehung taucht über die esoterischen Zirkel hinaus auf. Es gab Meister und Erfahrungsgruppen. Sie geben Orientierung und überhöhen (verzaubern) den Alltag. Ein nachindustrielles Zeitalter würde so entstehen, so behaupten viele. Vom Anthropozentrismus, d. h. der engen Beurteilung von allem aus der Sicht des Menschen, würde sich alles zu einem Biozentrismus (Gaia) entwickeln. Der Menschen ist darin nur ein Teil innerhalb aller anderen Lebewesen. Eine religiöse Tendenz liegt darin, die aber pantheistisch oder a-theistisch ist: Das Heilige kommt in der Wahrnehmung des Universums und des Alltags in den Sinn und wird nicht in einem über allem stehenden Gott erspürt. Eine „sanfte Verschwörung“ ergebe sich aus Wissenschaft, Gesellschaft, Spiritualität und Kunst. Ein kosmisches Identitätsgefühl würde entstehen. Eine transpersonale Psychologie sucht durch eine evolutionäre Bewusstseinsentwicklung, durch Meditation und psychedelische Praktiken ein kosmologisches Identitätsgefühl zu erzeugen, das die Grenzen des Ich und des Raum-ZeitKontinuums überwindet. Der Heilsweg ist identisch mit dem Heilsziel. Dies ist, kurz gesagt, eine gnostische Schattenreligiosität. In dieser würde sich die zersplitternde Lebensweise der Neuzeit aufheben. Die Menschen würden eingebunden in einen harmonischen Kosmos. Das Ganze komme in den Blick. Die spirituellen Praktiken zielen auf Lebenshilfe, sie verheißen neue Perspektiven und suchen eine neue Lebenspraxis einzuüben, welche eine bessere Welt fürs Private schon voraus nimmt. Der Mensch würde sich mit seiner ganzen Seele den unsichtbaren Kräften anheimgeben, die in ihm stecken und die von außen positiv auf ihn einwirken können. Die inneren Heilkräfte werden aktiviert, die gesamte Natur steht ihm helfend bei. Er kann sich durch die Erweiterung seines Bewusstseins in diesen kommenden Zustand jetzt schon einbinden. Er darf überzeugt sein: Die kosmischen Gegebenheiten werden sich so wandeln, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist, was sich
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in einem neuen Bewusstsein zeige, das aufs Ganze schaut, das ökologisch ist und geschlechterausgleichend. Ein mulitdimensionales Kulturbewusstsein breite sich aus. Eine Alleinheit sei im Kommen. Verwandt ist das Ganze der Theosophie und der idealistischen Neugeistbewegung. Die Sache ist nicht einheitlich organisiert oder bekenntnishaft geeint. Vielmehr hat jeder Esoteriker seine ganz persönliche Überzeugung. Diese speist sich aus vielerlei spirituellen Traditionen und Erfahrungen. Auch archaische Praktiken alter Heidentümer werden wieder hervorgehoben. Da werden Horoskope gelesen und geglaubt, da werden Erdstrahlen oder Heilkräfte, die mit der Natur zusammenhängen, mobilisiert, da werden Zauberformeln oder alte Weisheiten oder Orakel ausgehoben und so zu deuten versucht, dass sie glaubhaft erscheinen. Michael Fuß, Pastoraltheologe in Rom, sagt: Man könne „die neue Religiosität geradezu als eine globale Vernetzung moderner ‚Stammes‘religionen bezeichnen“12 Solche Glaubensphänomene kennen keine festen Grenzen und keine Bekenntnisformeln. Sie mischen sich mit durchaus christlichen Ansichten, und nicht wenige Christen glauben auch teilweise diesem oder jenem Element. „Die neuere E[soterik]“, so urteilt Bernhard Grom, „hat große Hoffnungen auf spir[ituelle] Erfahrungen, v[or] a[allem] aber auf psych[ologische] u[nd] körperl[iche] Heilung sowie auf einen ökolog[ischen], feminist[ischen], kulturellen u[nd] polit[ischen] Bewusstseinswandel geweckt, jedoch außer einem optimist[ischen] Lebensgefühl keine Innovationen u[nd] auch kein verbindl[iches] Ethos hervorgebracht.“13 Nicht unbedingt gottlos sind diese spirituellen Praktiken, aber sie sind mit unserem Gott-Verständnis nicht kompatibel. Ähnlich ist es mit einer zweiten spirituellen Bewegung der letzten sechzig Jahren, die Anleihen aus asiatischen Kulturen nimmt.
2.2 Spiritualitäten aus dem Bereich des Buddhismus Der Buddhismus hat mit Esoterik nichts zu tun. Doch er ist eine Religion, die nicht wenige Europäer faszinierend finden; denn sie klammert die Gottesfrage aus. Ob es einen Gott gibt oder nicht, wird im Buddhismus nicht als wesentlich erachtet. Es geht ihm darum, den Menschen, der allenthalben Leid und Bedrängnis und Kontingenz erfährt, aus diesem Zustand zu befreien und ihm zu helfen, einen Lebenszustand zu erreichen, der bleibend leidlos ist. Der Buddhismus ist also eine Weglehre, anders als das Christentum, das die frühen Christen als „neuen Weg“ (Didache) bezeichneten. Im Buddhismus soll der einzelne Mensch einen Pfad beschreiten, auf welchem er sich von inneren Spannungen und Leiderfahrungen befreit, und zwar durch Meditation und eine als vernünftig einsehbare Gestaltung des Alltags. Im Umfeld dieser Religion sind unterschiedliche meditative Techniken ent12
Fuss, Michael, Wallfahrt als Chance zu Glaubenserneuerung, in: II. Internationaler Kongress der Wallfahrtsstädte, Altötting 1997, 49. 13 Bernhard Grom (wie Anm. 11), 886; Zum Ganzen: Bochinger (wie Anm. 8); Maier (wie Anm. 9); Grom (wie Anm. 11), 884-886; hier auch die Grundliteratur zum Gesamtphänomen.
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standen, die alle dem gleichen Ziel dienen wollen: den Menschen zur höchsten Konzentration zu führen, damit sich sein Inneres befreit von Strebungen und schädlichen Leidenschaften. Ob Zen oder andere Techniken – sie wollen im Inneren zunächst eine Leere erspüren lassen, welche die Leidenschaftlichkeiten und Aufgeregtheiten ausschaltet, welche das Leben belasten. So soll der Mensch zur Wurzel des Seins finden, die ihm Erleuchtung bringt. Im echten Zen heißt dies, dass die Tiefen des menschlichen Geistes erhellt werden, so dass der Mensch Anteil erlangt an der Realität des Einen, der universalen Natur (oder Buddha-Natur), die sich als Leere darstellt. Es gibt eine Erleuchtung, Gotteserkenntnis ist dabei nicht intendiert. In der westlichen Adaption der Meditationsmethoden soll diese Leere sich füllen mit Ideen, die lebensfördernd sind. Sie wird benetzt mit Tropfen göttlicher Worte, so dass sich in dieser der Duft der Gott-Nähe spüren lässt.14 Die Ideen östlicher Tradition als spirituelle Lebenshelfer werden vor allem durch den Dalai Lama exponiert, der die Grundideen des Tibetischen Buddhismus verbindet mit der Idee des Allfriedens der Religionen und Völker. Er rät einem Christen nicht, aus seiner Kirche auszutreten. Vielmehr soll er sich versenken und die erspürte Leere zum Ansatz für ein ausgeglichenes friedvolles Leben nehmen. Die Gottesfrage ist damit total relativiert. Wer an Gott glaubt, möge dies tun. Wer nicht glaubt, der möge so bleiben. Beide sollen aus der Meditation Kraft für Frieden schöpfen. Hier ist also – ähnlich wie in der Esoterik – eine Spiritualität angeraten, die unabhängig von der Gottesfrage agiert. Gott kann eine Rolle spielen oder nicht. Meist ist er aber ausgespart oder durch die Idee von der Alleinheit ersetzt. Anders ist dies bei einer anderen Art von Lebenspraxis, die heute auch mit dem Attribut des Spirituellen versehen wird und die Gottesfrage nicht ins Spiel bringt, die so genannte humanistische Spiritualität.
2.3 Humanistische Spiritualitäten Drei Formen von spirituellen Ansätzen sind mir untergekommen, die ich so nennen kann, wenn ich den oben beschriebenen Begriff von Spiritualität als „Ausdruck dafür, wie sich Grundüberzeugungen in Taten zeigen“ nehme oder auch die ganz weite Umschreibung, wo „spirituell“ identisch ist mit „religiös“. Dies kann in den Bereichen der Lebensgestaltung, der Arbeit und auch des Spieles sein. a) Lebensgestaltung aus Verantwortung In dem Buch „Woran glaubt ein Atheist?“ zeigt André Comte-Sponville15 auf, dass ein verantwortlicher Atheist kein Nihilist ist, der an nichts glaubt und keine 14 15
Vgl. Fuss, Michael, Art. Zen. III. Zen im Westen, in: LThK 10,³2001, Sp. 1421-1422. Comte-Sponville, André, Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott, Zürich 2008.
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Grundsätze kennt. Diese Art von verantwortungslosem oder nihilistischem Atheismus endet in der Barbarei. Er versucht darzustellen, dass sowohl der Einzelne als auch ein Staat angewiesen sind auf gemeinsame Grundsätze und Bekenntnisse, die das Gesellschaftsleben tragen. Diese aber müssten nicht einen Gott-Bezug haben, da die speziellen Elemente der Religion wie z. B. das Heilige, bestimmte Bekenntnisse etwa zum ewigen Leben, zur Auferstehung des Fleisches oder ähnliches dabei eine marginale Rolle spielen, ja sogar hinderlich sein können. Entscheidend ist, dass die menschlichen Bezüge stimmen, dass jeder Verantwortung übernimmt, dass Gerechtigkeit herrscht usw. Ein säkular gerecht aufgebauter Staat gibt mehr Garantie für Menschlichkeit, als es Religionen können. Ein verantwortlicher Atheist glaubt an den Menschen und seine Fähigkeit, die Welt menschlich zu gestalten. Dazu, so meint der Autor, brauche es keine Religion. Dies sehe er auch darin begründe, dass die Religionen in ihren Bekenntnissen so unterschiedlich seien, die praktischen Dinge des Lebens aber wesentlich nicht davon abhängen. Oftmals können sie ohne Religion menschenwürdiger gestaltet werden. Spirituell ist eine solche Sicht des Daseins dahingehend, dass sie aus inneren Einsichten heraus und aus Respekt vor dem Menschen das Leben und den Umgang untereinander gestaltet. Was dem Religiösen Gott ist, das ist dem Atheisten der Mensch als gleiches Wesen, das so behandelt werden will, wie man selbst behandelt werden möchte. Diese Einsicht kommt aus natürlichem Nachdenken und aus der Erfahrung der Jahrhunderte. Sich um diese Sicht zu bemühen, ist spirituell. So die wesentlichen Aussagen einer humanistischen Spiritualität. Verantwortliches Handeln aus Grundüberzeugungen heraus, das ist spirituell. b) Ritualisierte Welt des Spiels Man spricht wohl eher von „religiös“ als von „spirituell“, wenn es um Rituale geht. Aber wie wir oben gesehen haben, wird im weitesten Umfang spirituell für allgemein religiös gebraucht. Und da können wir die säkularen Rituale fassen, die es allenthalben in vielen Bereichen des Lebens gibt. Heute besonders in der Sportwelt. Da bilden nicht nur die Spielregeln eine vorgegebene Ordnung als Quasiritual. Das Einlaufen einer Mannschaft ins Stadion, die Begrüßungsformeln, die Missfallensäußerungen wie auch die Anfeuerungsweisen, das Ausrollen der Fahnen und das Fahnenwinken, die Hupkonzerte nach einem Sieg und vieles mehr – das alles hat rituelle Züge und bedeuten für die Beteiligten ein rituell-spirituelles Handeln, das sie in Hochstimmung bringt und die Alltagswelt vergessen lässt. Mit Inbrunst lassen sich die Einzelnen darauf ein, und die Begeisterungsstürme im Stadion nehmen sie innerlich mit, so dass sie sich in eine große Gemeinschaft eingebunden fühlen. Diese Phänomene sind weithin irrational und bekommen für manche spirituellen Charakter, da sie ihr Inneres auszufüllen beginnen und so ein wichtiger Faktor in ihrem Leben werden.
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c) Medienreligiosität Die dritte Form stellt eine andere „säkulare Spiritualität“ dar, die gar nicht als solche wahrgenommen wird.16 Es ist ein medienspezifisches Faktum, das „spirituelle Züge“ annehmen kann. Und zwar zeigt es sich in zwei Ausprägungen: Zum einen bekommen die Medien in einigen Formaten für viele einen Verheißungscharakter. Die dort gesehene Wirklichkeit verliert den Anstrich des Scheins, sie wird die wirkliche Wirklichkeit, während die real erfahrene jene des Scheins bekommen. Am deutlichsten wird dies in der Werbung sichtbar. Sie verheißt den Menschen etwas, das in seinen übertreibenden und versucherisch konstruierten Bildern einem himmlischen Versprechen nahe kommt und oftmals religiöse Züge annimmt. Dass eine Salbe die Jugend zurückgibt, ist offensichtlich nicht möglich, wird aber dennoch suggeriert. Viele rituell-religiöse Bilder und Parolen stellen die Sache in entsprechender Form vor. (Früher ging die Oma in den Rosenkranz, um schlafen zu können; heute schaut sie ins Werbefernsehen.) Das ist die eine Tendenz einer verborgenen (Quasi)Spiritualität im medialen Umfeld. Eine zweite zeigt sich bei Menschen, die ausgedehnt mit Computer und Internet hantieren und sich derart in diese virtuelle Welt hineindenken und -fühlen, dass für sie Schein und Sein ineinander fallen. Ihnen wird alles machbar, jede Grausamkeit wird revidierbar. Eine Entfleischlichung der Wirklichkeit führt sie zum Glauben an die All-Machbarkeit einer konstruierten Welt. Ist ein christlicher Kernsatz: „Und das Wort ist Fleisch geworden“, so heißt es hier: „Und das Fleisch ist Wort geworden“ (Et verbum caro factum est – et caro verbum facta est). Noch mehr Formen säkularer Spiritualität mag es geben. Sie bewegen sich in den hier skizzierten Bereichen. Sie alle konkurrieren mit der christlichen Spiritualität. Die Frage ist: Wie gehen wir christlichen Seelsorger damit um? Wie können wir die christliche Spiritualität fördern? Was sind ihre wesentlichen Merkmale?
3. Grundlegende Elemente christlicher Spiritualität Zunächst denke ich: Nicht apologetisch können wir unsere Konkurrenz anmelden. Wir müssen unsere Schätze dagegensetzen und bei unseren Bemühungen in Verkündigung, Liturgie und Seelsorge den Aspekt des Spirituellen neu einbeziehen. Die Frage heißt: Welche Faktoren sind dabei zu bedenken?
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Klaus Müller hat auf sie aufmerksam gemacht. Vgl. auch: Kuhn, Michael / Wörther, Matthias, Art. Medien. V. Praktisch-theologisch, in: LThK 7 ³1998, Sp. 43.
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3.1 Die Handlungsfelder christlicher Spiritualität Zunächst müssen wir überlegen, welche Elemente zur christlichen Spiritualität gehören. Da es um das Tun geht, schlage ich vor, die drei Handlungsfelder unserer Aktivitäten zu befragen. a) Prinzip Sabbat Das erste Handlungsfeld ist bestimmt durch „ausdrücklich religiöses Tun“, wozu ich die direkte Auseinandersetzung mit dem Ewigen rechne. Dazu gehören die Beschäftigung mit dem Gotteswort in Meditation, Studium, Gebet, Verkündigung und Gottesdienst – ich nenne es das „Sabbat alias Sonntagsprinzip“. Es meint die Unterbrechung aller praktisch-irdischen Arbeit, um sich dem zuzuwenden, der sich zuerst uns zugewandt hat. Wir sind eine Offenbarungsreligion, und da sind das Hinhören in ausgesparter Zeit und der Direktkontakt mit dem Ewigen konstitutiv. b) Diakonie Ein zweiter Faktor gehört ebenfalls zur christlichen Spiritualität, ich nenne es das „incarnatorische Prinzip“. Es ist die Diakonie – und zwar nicht nur im Sinne von sozialem Helfen, sondern auch im Sinne von Gestalten der Lebenswelt und der Kultur. c) Communio Ein dritter Faktor christlicher Spiritualität ist die Communio, ich nenne es das „Geistprinzip“. Gott hat sich ein Volk erwählt, ihm hat er sich geoffenbart, und in diesem Volk wirkt der göttliche Geist. Alle drei Faktoren müssen wir bespielen, wenn wir unsere Arbeit und unser Leben spiritueller gestalten wollen.
3.2 Schwerpunkte für unsere spirituellen Bemühungen Ich benenne ein paar Bereiche unserer Arbeitsfelder, welche die spirituelle Dimension im eben genannten Sinn fördern könnten. a) Sonntag – oder die Gestaltung der Unterbrechungszeiten Betrachten wir unsere Sonntagsgestaltung. Zur Sonntagsgestaltung gehören über den Gottesdienst hinaus noch vier Elemente: genießen der Natur (das Entscheidende ist mir geschenkt); teilnehmen an der Kultur (was Menschen gemacht haben und
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woran ich partizipieren darf), wahrnehmen des eigenen Lebens (Körper und Geist) und erfahren von (harmonischer) Gemeinschaft. Die entscheidende Methode aber der memoria ist das Hören auf das Gotteswort und das betende Antworten. Deshalb bedarf es einer Schulung im Beten. Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist: Lehren wir die Menschen das Beten, damit sie nicht sprachlos bleiben – vor Gott und vor den Mitmenschen. Die liturgische Feier als beglückend erfahrene Gebetsgemeinschaft könnte das Zentrum solchen Schulens sein. b) Diakonie – Lebensgestaltung aus dem Glauben heraus Das zweite Handlungsfeld unseres Gottesglaubens ist – durch das Geheimnis der Inkarnation verstärkt: Wir müssen unseren Lebensraum gestalten im Sinne Christi. Dies geschieht als Kulturdiakonie und Sozialdiakonie. Kulturdiakonie meint: Wir prägen das tägliche Leben aus einer Glaubenshaltung heraus – wie wir miteinander umgehen, wie wir uns grüßen, wie wir Konflikte lösen, aber auch wie wir im gesamten Kulturgeschehen teilnehmen – innovativ und für alle dienstbar. Sozialdiakonie meint: Wir stehen für Benachteiligte ein, solidarisieren uns mit ihnen und helfen ihnen zur Selbsthilfe bzw. Aktivität. Entscheidend für das Handlungsprinzip Diakonie ist: Das praktische Leben ist glaubensträchtig. Das Leben interessiert den Menschen urtümlich, und der Glaube soll ihm helfen, das Leben erfüllter zu erfahren und zu gestalten. Und das zeigt sich oft in einer Weise, die unfromm erscheint, die aber genau diesen Zusammenhang herstellt. Man kann es auch so formulieren: Die Menschen suchen niemals Religion allein. Da muss immer ein lebenspraktischer Gewinn dazu kommen, soll Religion wirklich zu einem Teil der Lebenspraxis werden. Das Geistliche braucht immer einen irgendwie gearteten lebenspraktischen Zusatz. c) Gemeinschaft Als dritter Handlungsraum des Christlichen ist die communio. Gott ist in Gemeinschaft getreten mit uns Menschen. Gott hat sich ein Volk erwählt als Gemeinschaft. Konkret schlage ich als pastorale Möglichkeiten vor: • Die Gemeinschaften auf Zeit sollen wir fördern, wie sie im Zusammenhang mit der Erstkommunion oder Firmung Praxis sind – und wir sollen damit vorerst zufrieden sein, da die Menschen heute ihre Lebensabschnitte gleichsam in Zeitblöcken erleben und gestalten. Auch wenn sich nach dem Ereignis diese Gemeinschaften wieder auflösen und kaum einer in der Gemeinschaft der Pfarrei aktiv wird, sollten wir diese communio-Form ernst nehmen. Denn die Gott-Gemeinschaft ist je gegenwärtig und konkret. • Was wir weiterhin fördern sollten, sind Gemeinschaften von Menschen, die gemeinsame Interessen haben. Ihnen sollten wir unsere kirchlichen Versammlungs-Räume öffnen: Trauergruppen, Elterngruppen, Mutter-Kind-
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Gruppen, Familien-Gruppen. Nicht wir müssen die Gemeinschaften aufbauen oder gar Mittelpunkt von solchen Gemeinschaften sein. Aber Pfarreien können differenzierte Angebote machen, und wo es andere Gruppen gibt, sollen wir diese fördern. • Ein weiterer Aspekt der communio scheint mir für uns Hauptamtliche zu sein: Wir müssen zu Menschen gehen und Gemeinschaften besuchen – eine Firma in der Pfarrei, einen Verein oder irgendeine andere Gemeinschaft. Exemplarisch zu Menschen gehen, deren Situationen erreichen, die Lebensumstände spüren – das hilft, dass die theologische Sprache geerdet bleibt.
4. Schluss Spiritualität ohne Gott! Dies ist kein Randphänomen mehr in unserer Gesellschaft, es wird zunehmen. Menschen handeln verantwortlich aus Grundüberzeugungen heraus, die sich in ihrem Inneren entwickelt haben – und diese sind nicht bezogen auf Gott. Sie handeln dennoch „spirituell“. Wir Christen können dagegen nur unsere Spiritualität fördern, indem wir alles tun, dass das entscheidende Element unserer Spiritualität Zentrum all unseres Handelns wird – der sich offenbarende Gott bindet uns ein in sein Wirken. Wir wenden uns ihm zu und versuchen Werkzeuge seiner Liebe zu werden.
Spiritualität als interaktives Beziehungsgeschehen von Gott, Welt und Ich
Versuch einer dichten Begriffsbestimmung
Jean Ehret Die grundlegende Idee dieses Beitrags ist es, dass Spiritualität sich als ein Beziehungsgeschehen von Gott, Welt und Ich beschreiben lässt. Die Menschen sind in dieses Beziehungsgeschehen hineingestellt, das gleichsam ein wechselseitiger Prozess, ein interaktives Netzwerk ist. Sie nehmen es wahr und sollen es kreativ so gestalten, dass jedem der drei Pole angemessen Rechnung getragen wird, auch weil sie sich einzeln und zusammen in ihm realisieren. Dabei bezeichnen Gott, Welt und Ich nicht abstrakte Begriffe, sondern komplexe, dynamische Wirklichkeiten.1 Aufgabe wird es sein, diese Wirklichkeiten und den Prozess in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu beschreiben, um Möglichkeiten ihrer verantwortlichen Gestaltung in den Blick zu bekommen. Der folgende Beitrag versteht sich jedoch nur als ein Versuch, diese Vorstellung, die sich über mehrere Jahre herauskristallisiert hat, kohärent, verständlich und praktisch auszuformulieren und sie zur Diskussion zu stellen. Er wird nicht alle Elemente einzeln und ausführlich darstellen; er behält so den Charakter einer Skizze. Ebenso verzichte ich auf einen Fußnotenapparat, der komplexer würde als der Text selber. Im Beitrag versuche ich, mich der Schwierigkeit zu stellen, das interaktive Gebilde so zu beschreiben, dass es sich nicht in deduktiven Strukturen erschöpft, sondern dass seine innere Dynamik erhalten bleibt und ohne dass ich mich zu sehr in Wiederholungen verstricke. Anders gesagt möchte ich einen Weg finden, folgende Fragen ansatzweise zu beantworten: Wie soll ich zugleich kritisch denkend glauben, gläubig denken und der Lebensdichte im Denken und Handeln, das Gott, Welt und mich selbst ernst nehmen soll, Rechnung tragen? Wie kann ich verstehen, was in mir, mit mir, durch mich aber auch in uns, mit uns, durch uns passiert, wobei das wir verschiedentlich umschrieben werden kann? Welchen reflexiven und gestaltenden Zugriff kann ich darauf haben?
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Man erlaube es mir, diese These aufzustellen, ohne dass man den Gedankengang gleich abbricht, indem man die Immunität und Impassibilität Gottes anführt. Diese göttlichen Eigenschaften finden ihren Platz in meinen Ausführungen. Ich werde weiter unten darauf zurückkommen.
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Um darauf zu antworten, soll als erstes der genannte Spiritualitätsbegriff entfaltet werden, indem der Mensch als Beziehungswesen, die drei Pole des Beziehungsgeschehens und der Prozess erläutert werden. In einem zweiten Schritt werde ich auf drei Faktoren eingehen, die ihn konstituieren: Wahrnehmung als gestaltete Repräsentation von Wirklichkeit, Konstruktivität unserer Beziehungen, Verantwortung für das Beziehungsgeschehen. Hier zeigt sich der Zusammenhang von Ästhetik, Spiritualität und Ethik. Drittens soll geprüft werden, was den Begriff selber auszeichnet sowie was er in Bezug auf das Verständnis von Spiritualität und ihren Bezug zur Theologie leisten kann.
1. Spiritualität als interaktives Beziehungsgeschehen Eine Schwierigkeit, ein interaktives Gebilde zu beschreiben, liegt darin, dass es sich nicht linear rekonstruieren lässt: Ein Aspekt folgt nicht notwendig aus dem anderen, da sie sich gegenseitig bedingen. Das Schreiben ist jedoch linear und prägt die Erschließung des Gebildes durch seine Eigenart. Dies bringt eine gewisse Spannung zwischen der beschriebenen Wirklichkeit und ihrer schriftlichen Darstellung mit sich. Zudem steht man gewissermaßen vor der Frage, was zuerst war, die Henne oder das Ei. Indem ich den Anfang eines Menschenlebens vor Augen habe, beginne ich damit, den Menschen als jemand, der Körper und Geist ist und sie auch hat, darzustellen, als jemand, der sich aus und in Beziehungen realisiert. Dann gehe ich auf die drei Elemente oder Pole ein, die das Beziehungssystem konstituieren und fasse abschließend den Prozess selber ins Auge.
1.1 Menschen sind relationale Wesen Menschen sind keine absoluten, sondern kontingente Wesen. Niemand hat sich selbst erschaffen. Von Geburt, ja von seiner Empfängnis an ist ein jeder in bestimmte Beziehungsverhältnisse gestellt, die darüber entscheiden, ob er oder sie eine Zukunft haben soll oder nicht, die ihn oder sie in seiner oder ihrer körperlichen und geistigen Verfassung verorten und ausrichten. Man kann diese Verhältnisse ziemlich allgemein mit Familie, Sprache, Geographie, Kultur, Wirtschaft und Religion umschreiben. Menschen entwickeln sich in dem, was ihnen vorgegeben ist, ohne sich notwendigerweise auf diese Vorgaben beschränken zu müssen. Als kontingente Wesen leben sie aus, in und für Beziehungen, die ihnen z. T. vorgegeben sind, die sie selber eingehen und die sie immer auch gestalten. Menschen haben Eltern, Verwandte, Freunde. Ihr Verhältnis wird nicht allein durch körperliche und kulturelle Gegebenheiten bestimmt, vielmehr nimmt die je eigene Geschichte hier eine wichtige Rolle ein. Dies betrifft auch den Bezug, den Menschen zur Welt als überschaubarem Teil der gesamten Wirklichkeit haben, in
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die sie hineingeboren werden. Sie gestalten diese Welt mit, um sie wenigstens zu einem Teil so zu machen, wie sie sie haben wollen oder sie müssen sich so verändern, dass sie mit einer Gegebenheit zurechtkommen. Wie bei den Verhältnissen zwischen Menschen, spielen hier Wissen, Wünsche oder einfach nur der Drang, zu überleben, mit. Ebenso haben Menschen ein mehr oder weniger entwickeltes Bewusstsein von sich selber. Sie sind aber nicht nur auf sich selber bezogen, sondern schauen über sich hinaus auf das größere Ganze, auf den Ursprung, auf ein Gesamt- oder Letztziel, für das sie sich entscheiden (müssen) oder das ihnen vorgegeben ist, ob es sich nun um die klassenlose Gesellschaft, das Nirwana oder das Jüngste Gericht handelt; dieses können sie mehr oder weniger in ihr Leben einbeziehen. Beziehung ist also ein bewusstes Verhältnis, das der Mensch zu all dem einnimmt, das ihm vorgegeben ist oder er sich vorgibt. Die verschiedenen Beziehungselemente bedingen sich auch gegenseitig: Verändern sich die technischen und ökonomischen Gegebenheiten als Teil dessen, was wir als Welt bezeichnen, so hat dies einen Einfluss auf das Selbstverständnis des Menschen, auf sein Verständnis von Gott und auf seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen. Wenn sich jemand verliebt oder bekehrt, so bedingt dies auch eine Veränderung des Beziehungsnetzes. Um diese Verschiebungen zu verstehen, möchte ich die drei Begriffe Gott, Welt und Ich näher betrachten.
1.2 Gott, Welt und Ich als offene, dynamische Begriffe Gott, Welt und Ich kann man zwar philosophisch abstrakt bestimmen, aber eine solche Definition übersieht, dass diese vermeintlich allgemeinen Begriffe nicht die Wirklichkeiten bezeichnen, zu denen sich Menschen in Beziehung setzen müssen. Um dieser Wirklichkeit Rechnung zu tragen, ist es notwendig, dass jeder Begriff in einem zu bestimmenden Perimeter konkretisiert wird, dass er für neue Informationen, neues Wissen über seinen Inhalt offenbleibt und dass er sich nicht in rationalen Kategorien erschöpft, sondern einschließt, dass die Wirklichkeit, die er bezeichnet, den Menschen mit all seinen Sinnen anspricht und letztlich nicht durch den Begriff eingeholt werden kann. Die Wirklichkeit, die der Begriff der Welt bezeichnet, ist sehr dicht und vielfältig. Sie umfasst die Lebenswelt, in die der Mensch hineingeboren wird. Diese Lebenswelt ist nie die gesamte Wirklichkeit, sondern immer ein Ausschnitt aus dem Ganzen. Dieser Ausschnitt ist zum einen regional geographisch begrenzt: Der Mensch lebt nicht in Beziehung zur ganzen Welt, sondern in einem überschaubaren Raum. Er lebt auch unter dem Einfluss von körperlichen Dingen. Besonders die Naturwissenschaften haben dem Menschen einen neuen Einblick in die Eigendynamik der materiellen Welt gegeben; neue Techniken, die sich dieses Wissen zunutze machen, verändern das Verhältnis zur Umwelt. Menschen sind immer kulturell geprägt, durch Sprache(n), Gebräuche, Kunstformen und auch Tabus, die Dinge bewusst ausschließen. Spricht man von Welt, so handelt es sich eben nicht
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um rein materielle Gegebenheiten; Welt ist immer ideologisch strukturiert. Menschen können andere Welten entdecken, sie sich aneignen oder sich von ihnen abgrenzen: Sie bilden Beziehungen zu Welten und zunächst auch zu ihrer eigenen. Eine Welt kann in sich geschlossen sein oder aber offen für Begegnung mit anderen Welten, für Erweiterung. Zur Welt eines Menschen gehören auch fiktionale Welten, solche, die nur in seiner Vorstellung gegeben sind; es sind dies gemeinhin die Welten, die Kunst entstehen lässt. Sie erhebt nicht den Anspruch, das Werk, das sie hervorruft, würde auf real Seiendes verweisen. Diese Fiktionen können jedoch reale Funktionen und Bezugspunkte darstellen. Betrachtet ein Mensch sich selbst, so entdeckt er einen Mikrokosmos oder eine kleine Welt, zu der er sich in Beziehung setzen kann und muss, indem er sich geistig erfasst und im Rahmen dessen, was die Natur ihm ermöglicht, gestaltet. Er ist ein Körper und er ist Geist. Beides gehört zusammen und bedingt sich auch gegenseitig; geistig erfasst er sich als Körper und Geist. Der Körper ist immer mit Lust, Leid, Leben und Tod verbunden und in kulturelle Zusammenhänge eingebunden. Es gibt biologische Funktionen, aber keine reine Natur. Naturwissenschaften und Technik beeinflussen die Einstellung, die Beziehung, die der Mensch zu seinem Körper hat, was er mit ihm tun kann oder nicht. Zuwachs an Erkenntnis über den Geist liefert beispielsweise die Neurologie; damit verdichtet sich die körperliche Dimension von Geist, erschöpft ihn aber nicht, auch wenn sich verschiedene Phänomene oder Geistesveränderungen so besser erklären und verstehen lassen. Die kulturelle Dimension umfasst jene der Natur, bedarf ihrer, um zu sein, und beweist doch auch eine Autonomie. Die Psychologie hat schließlich den Anteil des Unbewussten hervorgehoben, das nicht weniger bestimmend sein kann. Das Ich ist ein komplexer Begriff, der einen Selbststand mit Veränderungen umfasst und der Menschen sich fragen lässt, worin es, jenes Ich, besteht. Damit verweist das Ich jene Menschen, die nach/denken, über das, was sie von sich wissen und wahrnehmen, hinaus. Ein über sich nachdenkender Mensch transzendiert sich als Träger und Akteur des Denkens kontinuierlich selber, indem er seinem Denken immer voraus ist und sein Denken ihn niemals erschöpft. Diese Transzendenz erschöpft sich nicht im Ich; der Mensch ist als staunendes und fragendes Wesen über sich hinaus verwiesen. Menschen geben sich Werte, richten sich auf Ziele aus, die sie nicht unbedingt selbst erreichen können und sie ggf. als letzte Wirklichkeit ansehen: Sie geben sich Transzendenz, die ihnen aber nur durch eine immanente Vermittlung zugänglich ist. Diese Ziele sind weithin institutionell vermittelt. Jede postulierte Transzendenz und sei sie noch eine absolute Leerstelle, muss als solche immanent und somit kontingent vermittelt sein. Sie erhält ihre ontologische Dichte durch einen Glaubensakt, der sie als Wirklichkeit setzt, zu der ein Mensch eine Beziehung aufbaut, sie zu seiner Welt macht, die aber über sich hinaus verweist. Transzendente Wirklichkeiten sind immanent gesetzt und verleihen dem gesamten Beziehungsgeschehen eine eigene Dynamik. Dies betrifft auch Gott. Der Begriff Gott ist kein Begriff, der in allen Sprachen und Kulturen vorkommt; von Gott sprechen, an Gott glauben heißt, sich in kontingen-
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ten Vermittlungszusammenhängen bewegen und einen bestimmten Bezug zum Absoluten aufbauen. Akzeptiert der Mensch, eine Beziehung zum Absoluten einzugehen, von dem er ggf. annimmt, dass es sich selber offenbart hat, so kann er das nur über kontingente Vermittlung tun, für die er sich entscheidet oder die er übernimmt. Gott, Welt und Ich sind dynamische Begriffe, die auf unterschiedliche Zusammenhänge verweisen, zu denen Menschen sich individuell und gemeinschaftlich (immer neu) in Beziehung setzen (müssen).
1.3 Spiritualität als Gestaltung von Beziehungen Spiritualität erscheint als interaktives Beziehungsgeschehen. Dieser Prozess besteht in einer gegenseitigen Beeinflussung der Wirklichkeiten von Gott, Welt und Ich, die Menschen ggf. bewusst frei gestalten können. Diese Gestaltung setzt ein Bewusstsein von dem, was gestaltet werden soll, voraus und bedarf verschiedener Möglichkeiten, auf diese Beziehungen zuzugreifen. Wenn ich von einem interaktiven Beziehungsgeschehen spreche, so will ich damit ausdrücken, dass eine genügend starke Veränderung in einem Pol Auswirkungen auf die anderen Pole hat. Das Beziehungsgeschehen ist nicht nur individuell gesteuert, aber es vollzieht sich in jedem einzelnen Menschen in einer spezifischen Weise. Das möchte ich an drei Beispielen illustrieren. Die Pubertät ist z. B. nicht nur wegen der hormonalen Veränderungen eine schwierige existenzielle Übergangszeit, sondern auch wegen der psychologischen Umbrüche: Jugendliche setzen sich in ein neues Verhältnis zu ihrem sich verändernden Körper und zu Autoritätspersonen, wobei eine Wechselbeziehung zwischen diesem Geschehen besteht. Sie übernehmen auch neue Rollen im sozialen und ggf. politischen und religiösen Umfeld. Als zweites Beispiel kann man die Scheidung einer Ehe anführen: Sie bedingt ebenso eine Veränderung im weltlichen Beziehungsfeld, in der Selbsteinschätzung des Ich, in der Beziehung zu Gott. Als drittes Beispiel erwähne ich die religiöse Bekehrung. Auch sie verändert das Gesamtgefüge, da der transzendente Pol eine neue Bedeutung, ein neues Schwergewicht erhält. Schwerlich wird der Mensch diese dynamischen Verhältnisse in all ihren Zusammenhängen erfassen; seine Zukunft bleibt zudem offen: Auf der Grundlage von Bekanntem und Gewünschtem projiziert er sich in sie hinein, ohne sich dem Zutun der anderen Faktoren entziehen zu können. Stabilität kommt von Beziehungs- und Lebensformen, die den Menschen zwar vorgegeben, aber nicht unveränderlich sind. Das betrifft z. B. das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern, zu dem Gehorsam und Respekt gehören; das betrifft ebenso die im Rahmen der ökologischen Krise ins Bewusstsein geratene Einstellung der Menschen gegenüber der Erde und es betrifft schließlich das Verhältnis zur Transzendenz. Freie Gestaltung setzt ein Bewusstsein des zu Gestaltenden und eine Zielvorstellung voraus. Es ist nicht möglich, das Beziehungsgeschehen von einem Null-
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punkt aus zu beschreiben; es ist auch nicht möglich, zu gestalten, ohne zumindest eine vage Zielvorstellung zu haben, wobei sich diese im Laufe des Geschehens selber entfalten kann. Zum einen stehen Gott, Welt und Ich schon immer in einem bestimmten Verhältnis zueinander und kein Mensch kann sich aus diesem Netz herauslösen. Die objektivste Darstellung bleibt jene, die die eigene Position und ihre Anliegen soweit wie möglich thematisiert.2 Damit bezieht sie bewusst die Relativität ihrer Aussagen ein. Relativität bedeutet jedoch nicht Gleichgültigkeit; Beschreibungen können sich durchweg von ihrem Anspruch her und durch das, was sie tatsächlich leisten, unterscheiden. Die Gestaltung von Beziehungen setzt jedenfalls voraus, dass man sich der Faktoren, die mitwirken, bewusst ist. Unbewusstes kann sein Ausmaß an Wirkung oder Fremdbestimmung nur deshalb erreichen, weil es sich als Unbewusstes dem Zugriff entzieht, ohne jedoch seine Wirkung auf den Geist zu verlieren; selbst materiell Vorgegebenes kann fatal werden, wenn es nicht wahrgenommen wird. Zum anderen setzt die freie Gestaltung der Beziehungen auch einen Zugriff auf die Formen und auf den Prozess als solchen voraus. Alle Spiritualitäten kennen deshalb Übungen, durch die der Mensch bestimmte Verhältnisse herstellen möchte. Welche Form er seinem Leben geben will, wie er sich verortet und zugleich ausrichtet, verlangt gemäß dem ihm möglichen Gestaltungsspielraum eine freie und verantwortliche Entscheidung. Festzustellen ist jedoch auch, dass sich Formen in Gestaltungsprozessen frei entwickeln können, wenn sie den dazu nötigen Spielraum finden. Zusammenfassend halte ich fest, dass ich zuerst versucht habe, die Idee von Spiritualität so darzustellen, dass sie einer menschlichen Grundhaltung entspricht, die einen interaktiven und gegenseitigen Prozess zwischen Gott, Welt und Ich als komplexe Gebilde ermöglicht, auf die der Mensch durch Wissen und Einübung von Formen Zugriff haben kann. Der Prozess kann mittels dreier Faktoren besser beschrieben werden.
2. Konstitutive Faktoren Zu sagen, Spiritualität sei ein geistiger Prozess ist nur zum Teil ein Pleonasmus, denn das bedeutet einerseits Gestaltung und nicht nur Feststellung von etwas Gegebenem und andererseits die Beziehung zu materiellen Gegebenheiten, ob es sich nun um den menschlichen Körper, die Erde oder das gesamte Universum handelt. Spiritualität unterscheidet sich so von der reinen Geistigkeit und beinhaltet die 2
Vgl. Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übers. v. Brigitte Luchesi, Rolf Bindemann, Frankfurt am Main 2015 (stb wissenschaft 696); Tillion, Germaine, Fragments de vie, hg. v. Tzvetan Todorov, Paris 2013 (Points Essais 712).
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Absage an den Versuch, sie, die reine Geistigkeit, als existenzielle Referenz zu nehmen. Im Folgenden möchte ich drei Faktoren beschreiben, die dazu beitragen, den Prozess besser zu verstehen und zu steuern. Der Mensch bezieht sich nicht direkt auf materielle Gegebenheiten, sondern auf deren geistige Repräsentation, die immer bereits vernetzt geschieht. Der Mensch konstruiert seine Welt mit ihren Formen; damit hat er Verantwortung für diese Konstruktion, die die Transzendenz und letztlich Gott mit einbezieht.
2.1 Wahrnehmung als Repräsentation Insofern als Beziehung aktives Handeln des Menschen ist, bezieht sie Bewusstsein ein. Der Mensch setzt sich zu dem in Beziehung, was ihm bewusst oder vielmehr präsent ist, was er als solches wahr/genommen hat. Im Anschluss an Münch und Gumbrecht3 gehe ich davon aus, dass sich Wahrnehmung weder in abstrakten Begriffen, noch im Sinn erschöpft, sondern sich in mentaler Repräsentation virtueller Wirklichkeiten erfüllt: Der menschliche Geist ist fähig, sich Dinge und Welten in ihrer körperlichen Dichte, mit den Aspekten, die die unterschiedlichen Seelenvermögen ansprechen, gegenwärtig zu machen und sie zueinander in Beziehung zu setzen. Präsenz und Sinn (als Richtung, als Präsenz von Transzendentem) verweisen aufeinander, Wahrnehmung oszilliert zwischen beiden. Die Seelenvermögen kann man klassisch folgendermaßen aufteilen: die Sinneswahrnehmung, der Sinn für Formen, die Erinnerung, der Intellekt, die Einbildungskraft, die Affektivität, der moralische Sinn, die Intuition und der Wille. Das Unbewusste ist kein Seelenvermögen, sondern entspricht eher einer Macht, die ihren eigenen Einfluss nimmt, ohne dass der Mensch darauf Zugriff hat. Wahrnehmung geschieht somit nicht dadurch, dass der Mensch vereinzelte Elemente wahrnimmt und dann Zusammenhänge zwischen Begriffen herstellt. Er nimmt immer bereits Dinge wahr, die in Zusammenhängen mit anderen Dingen, mit Sinn, sowie mit seiner Erinnerung, mit seinen Wertvorstellungen, mit seinen Gefühlen usw. stehen. Auch hier gibt es keine „reine Natur“. Wahrnehmung ist immer bereits etwas, das in einem Netzwerk geschieht, das ich mit den verschiedenen Seelenvermögen und ihren jeweiligen Bereichen zu beschreiben versucht habe. Wahrnehmung ist Eindruck und Ausdruck zugleich. Im Geist entwickelt sich demnach bei der Wahrnehmung von Dingen eine unterschiedlich ausgeprägte Vernetzung der verschiedenen Seelenvermögen, die man mit Marc-Mathieu Münch als Multivalenz bezeichnen kann. Es entsteht nicht sofort Sinn, sondern eine geistige Präsenz. Das, was wahrgenommen wird, wird re/präsentiert (es wird erneut, also im Geist, präsent gemacht, was außerhalb des 3
Vgl. Ehret, Jean, Warum Kunst nicht nur Sinn macht. Zur Ästhetik von Marc-Mathieu Münch und Hans Ulrich Gumbrecht, in: Sagrillo, Damien (Hg.), Musik, musikalische Bildung und musikalische Überlieferung – Music, Music Education and Musical Heritage. Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedhelm Brusniak, Weikersheim 2017, 81-92.
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Geistes seinen Eigenstand hat); die mentale Re/Produktion (vor [den Geist] stellen) – das was der Geist sich also selber vor/stellt – spricht den Menschen in seiner Gesamtheit an. Präsenzen sind, wie Hans-Ulrich Gumbrecht sagt, Momente der Intensität, gegenüber denen sich der Mensch situieren muss, die von ihm fordern, dass er sie in das bestehende interaktive Beziehungsnetz integriert. Dies geschieht bereits dadurch, dass Einzelelemente in größere Zusammenhänge eingebunden sind, ohne dabei ihre eigene Dichte oder ihr Eigengewicht zu verlieren. Die Wahrnehmung von Sammelbegriffen und mehr noch von Gott, Welt und Ich kann als eine geistige Konstellation von Einzelelementen beschrieben werden, die durch eine oder mehrere Formen zusammengeschlossen werden. Das, was man als Familie wahrnimmt, umfasst üblicherweise Eltern (was selbst ein Sammelbegriff ist und als Konstellation wahrgenommen wird), Vater, Mutter, Kinder und alle anderen Familienmitglieder. Dabei kann jedes Element, wie z. B. die Vatergestalt, durch besondere Erlebnisse, Erzählungen oder kulturelle Wertung aufgeladen sein und in dieser Konstellation mehr oder weniger hervortreten oder sich gar von ihr absondern. Außerdem kann die Form, die dem Begriff zu Grunde liegt, selber in Frage gestellt werden, wenn sich in der Wirklichkeit dauerhaft oder blitzartig eine massive Verschiebung ergibt: Im Fall der Familie kann man einen Teil der Diskussion um ihre Wahrnehmung und ihren Begriff so verstehen, dass sich in der Praxis dauerhaft eine Verschiebung durch Scheidungen ergeben hat. Blitzartig kann ein Bekehrungserlebnis einem bestimmten Transzendenten Dichte und Gewicht geben oder aber das, was man als eine göttliche Ungerechtigkeit erfährt, die Präsenz Gottes schwinden lassen, insofern es Attribute, die erfahrungsgeladen sind und der geistigen Konstellation Dichte, Gewicht und damit innerhalb des Gesamtgefüges ihre eigene Kraft geben, auslöscht. Der Ausdruck der massiven Verschiebung schreibt sich selber in die Idee von Konstellationen ein, die ihre Dichte, ihr Eigengewicht, ihren Schwerpunkt und damit ihre Kohärenz aus dem Zusammenspiel der Einzelelemente entwickeln. Diese Dynamik kann man auch auf die Beziehungssysteme anwenden.
2.2 Konstruktivität der menschlichen Beziehungen Konstruktivität wurde im vorigen Punkt in Bezug auf die Wahrnehmung dargestellt. Ein Mensch hat nur ein begrenztes Wahrnehmungsfeld, das zudem durch seine Aufmerksamkeit und seine persönlichen Interessen erweitert oder eingeschränkt wird; seine Wahrnehmung ist außerdem durch seine Sprache, durch kulturelle Muster, durch seine Erinnerung und seine Gefühle mitgeprägt. Dennoch kann der Mensch so Wirklichkeit verlässlich erfassen; er konstruiert sich auf diese Weise eine mehr oder weniger komplexe, mehr oder weniger adäquate, erweiterbare, revidierbare Re/Präsentation von Wirklichkeiten, die seine Welt bilden, in der er sich situiert, in der er sich selbst orientiert und die er in die Zukunft hinein proji-
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ziert oder orientiert. Dies sind Beziehungsverhältnisse, die er gestaltend wahrnimmt und bewusst gestalten kann. Auch hier möchte ich von Konstellationen sprechen, die sich bilden und gebildet werden können. Die geistige Repräsentation der Welt eines Menschen kann man sich als eine Konstellation von Konstellationen vorstellen, der insgesamt eine Gesamtdynamik verliehen wird, die u. a. durch die kontingenten Darstellungen von Transzendentem, die zu dieser Welt gehören, bestimmt wird. Ein Mensch kann mehrfach Zugriff auf diese Konstellation haben. Er kann zunächst einzelne Elemente (denen begrenztere Konstellationen entsprechen) stärken, ihnen mehr Gewicht verleihen, indem er sie verdichtet, oder sie umgekehrt schwächen, indem er sie gleichsam entdichtet. Dies geschieht z. B. durch einen Zuwachs an Wissen oder durch eine gesteigerte emotionale Auf- oder Entladung. Es können auch Repräsentationselemente, die einem Begriff zugeordnet waren, von diesem auf einen anderen übergehen, wie dies z. B. durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in Bezug auf Gott und Natur geschehen ist. Des Weiteren kann ein Mensch eine Lebensform wählen wie sie z. B. in den großen Ordensregeln oder in Heiligen als Vorbildern ihren Ausdruck findet. Die Wahrnehmung von geformten Vorbildern verleiht den Formen eine starke Präsenz. Lebensformen kann man so verstehen, dass sie nicht nur das Ich als Teil einer bestimmten Konstellation verorten, sondern alle Pole zueinander in Beziehung setzen. Damit bestimmen sie auch den Schwerpunkt dieser Konstellation und richten sie auch auf ein Ziel aus. Das bedeutet, dass sie Macht, ja einen Zugriff entwickeln, der sich der Anziehungskraft oder Abwehrkraft der einzelnen Pole der Konstellation aufzudrängen versucht; sie versuchen, eine gewisse Konstellation, ein gewisses Beziehungsverhältnis herzustellen. Verfolgt man dieses Modell weiter, dann versteht man, dass beide Arten des Zugriffs, die Gewichtung von einzelnen Elementen und die Lebensformen, komplementär sind. Beziehungsverhältnisse oder Lebensformen können sich nur dann einstellen, wenn man Gewichtsveränderungen, Verdichtungen oder Entdichtungen der Einzelkonstellationen, die eine Welt bilden, vornimmt. Das tut z. B. jemand, der sein Le-ben ganz auf Gott ausrichten will, indem er sich die verschiedenen Vermittlungen Gottes entwickeln lässt, die ihn zum Gott seiner Gemeinschaft und von ihm selbst machen. Tut man dies nicht, dann bleibt eine ausgeprägte Difformität zwischen der Autonomie oder Autoformativität der Konstellation und der Lebensform bestehen. Die Lebensform selber kann sich aber auch anpassen oder angepasst werden; es kann sich im Prozess auch eine neue Form herausstellen, die für andere kanonisch wird.4 Hier besteht ein Wechselspiel von Kreativität und Determinismus, das auch dann, wenn man eine göttliche Offenbarung oder Inspiration vorsieht, mitspielt. 4
Vgl. dazu Pareyson, Luigi, Esthétique: Théorie de la formativité, hg. v. Gilles A. Tiberghien, Paris 2007; zusammengefasst in: Pareyson, Luigi, Trois points fondamentaux, übers. v. Gilles A. Tiberghien, in: Conversations sur l’esthétique, Paris 1992 (Bibliothèque de philosophie), 125-130.
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2.3 Verantwortung für das Vor-Gott-, In-der-Welt- und Bei-sich-sein Versteht man Spiritualität so, wie ich sie bisher darzustellen versuche, dann ist sie ein menschliches Tun, das zugleich rezeptiv und kreativ ist. Deshalb sind Menschen für ihre Spiritualität einzeln oder auch kollektiv verantwortlich. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn Formen der Spiritualität sie dazu anhalten, unbewilligten Zugriff auf den gemeinsamen Lebensraum oder das Leben anderer zu nehmen. Dies trifft zugleich auf religiöse und rationalistische Spiritualitäten zu. Berufen sich die Ersteren eher auf eine Offenbarung, so wird diese bei Letzteren durch ein absolutes Verständnis von Rationalität ersetzt. Religiöse Spiritualitäten können dazu neigen, die transzendente Wirklichkeit, auf die die zugleich kontingenten und für Gläubige zuverlässigen Mediationen verweisen, in ihrem Anspruch miteinander zu verwechseln; rationalistische Spiritualitäten hingegen verabsolutieren die Ratio und vergessen, dass auch sie kontingent geprägt ist. Beide können der Versuchung erliegen, aus ihren Grundlagen selbstevidente Handlungsanweisungen abzuleiten und nehmen das Element der Kontingenz nicht kritisch, also im Sinne einer Bedingung ihrer Möglichkeit, ernst. Das vorliegende Spiritualitätsverständnis entspringt auch dem Bedürfnis, der Kontingenz jeden menschlichen Handelns Rechnung zu tragen. Es geht davon aus, dass es keine Gottesbeziehung ohne menschliche Handlung gibt und dass es keine menschliche Ratio gibt, über deren Verfasstheit und deren Funktionieren Menschen sich nicht Rechenschaft geben sollten. Menschen sind für den Gott, an den sie glauben, und für die Art ihres Denkens, wenn nicht immer individuell, so doch kollektiv verantwortlich. Diese Verantwortung nimmt ihnen kein Gott und keine Vernunft an sich ab. Sie sind auch für das, wie sie sich Welt und Ich repräsentieren verantwortlich. Es gibt keine allumfassende Wahrnehmung; manche Elemente werden vielleicht erst (zu) spät wahrgenommen; manche drängen sich auf, ohne dass sie diese Eindrucksstärke verdienten. Es muss hier ausreichen, auf die Diskussion über das, was eine gute Wahrnehmung von Welt ausmacht, hinzuweisen. Insofern als Spiritualität der Prozess der Beziehungsgestaltung zwischen Gott, Welt und Ich ist, ist sie auch der Ort von Wahrheit, die darin besteht, sich zu dem Wahrgenommenen in die richtige Beziehung zu setzen: Wahrheit schließt Wahrnehmung und Beziehung ein. Es geht darum, den Dingen an sich in ihrem Anspruch möglichst gerecht zu werden. Die Verantwortung betrifft deshalb nicht nur Welt und Ich, sondern auch den Bereich des Transzendenten und, für Menschen, die an Gott glauben, Gott, insofern er Gott ist und nicht nur insofern der Glaube an ihn für die Welt nützlich sein kann. Gott als Gott im Bewusstsein der Kontingenz jeder Offenbarung gerecht zu werden, ohne dabei die Verantwortung für Mitmensch, Umwelt und Ich aus den Augen zu verlieren, verlangt mehreres. Je nachdem wie weit eine Erkenntniskritik stattgefunden hat, bedarf es einer mehr oder weniger starken Entscheidung für einen bestimmten Gott. Diese Entscheidung hat Gründe, die man anführen kann,
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ohne dass sie sich vielleicht in diesen erschöpft. Sie behält immer auch etwas von einer Wette, denn man setzt auf einen bestimmten Zugang zu Gott5, ohne den Beweis oder die Garantie dafür zu haben, dass dies der wahre Zugang ist. Dann steht dieser Zugang immer in einer Spannung mit dem, was von der Welt, von anderen Menschen und vom Ich wahrgenommen und was dort als wichtig eingeschätzt wird, also in der Konstellation Gewicht bekommt. Es handelt sich um einen nie abgeschlossenen Prozess, der von verschiedenen Lebensformen und den Sprachspielen, die mit diesen einhergehen, getragen werden kann. Im Alltag sagen z. B. Menschen, dass am Morgen die Sonne aufgeht. Sie gebrauchen Ausdrücke, die sich implizit auf ein ptolemäisches Weltbild beziehen. Zugleich benutzen sie satellitengesteuerte Navigationssysteme; diese beziehen die Relativitätstheorie mit ein und wissen sich also einem ganz anderen Weltbild verpflichtet. In Bezug auf Gott kann ein Bauer auch beten, dass Gott Blitz und Hagel fernhalte und zugleich eine Versicherung abschließen, die ihm bei Feuer oder Ernteausfall eine finanzielle Hilfe bietet. Dabei kommen den beiden Beziehungskonstellationen, die sich in den Handlungen ausdrücken, je verschiedene Funktionen zu, über die der denkende Mensch sich Rechenschaft geben muss und die es in ihrem Anspruch weder zu verwechseln noch zu verabsolutieren gilt, wenn die Freiheit der Beziehungspartner bewahrt bleiben soll.6 Zusammenfassend kann man sagen, der zweite Teil dieser Bestimmung eines Spiritualitätsbegriffs habe es erlaubt, den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, die man als Ästhetik in einem umfassenden Sinn bezeichnen kann, Spiritualität und Ethik herauszuarbeiten. Der ethische Anspruch betrifft wegen ihrer jeweiligen konstruktivistischen Dimension sowohl die Ästhetik als auch die Spiritualität. Er kann sich aber nicht unabhängig von beiden, und von dem, was sie ihm als Referenz vorgeben, konkretisieren. Traditionelle Lebensformen, die Gott-, Weltund Ichvorstellungen vernetzen und an Riten, Texte, Hierarchien, Kommunikationsprozesse und Übungen usw. angebunden sind, bilden eine gute Grundlage von Spiritualität, die sich als lebendige Entwicklung dieser Formen versteht, indem sie die Kontingenz der menschlichen Existenz in allen Aspekten voll und ganz bejaht, 5 6
Die Frage, wie es sich mit religiösen Mischformen oder Doppelzugehörigkeit verhält, wird hier nicht eigens analysiert. Angesichts dessen, was bis hierhin ausgeführt wurde, versteht es sich, dass die Immutabilität und Impassibilität Gottes in einem klassischen philosophischen Sprachspiel auf Gottes Absolutheit, als ursprünglichen, als unbedingten alles begründenden Ursprung verweisen, auf die Aseität des Schöpfers. Das Alte Testament kennt auch andere Sprachspiele, in denen Gott Zorn, Mitleid, Liebe anthropomorph (wie auch sonst?) und damit analog – was ein Modus realer Zuschreibung ist – zugesprochen werden. Es geht nicht darum, einen Aspekt gegen den anderen, ein Sprachspiel gegen (aut…aut…) oder über das andere (Suprematiedenken) zu stellen, sondern sie jeweils kontextuell kritisch (im erkenntnistheoretischen und wertbezogenen Sinn) in ihrer jeweiligen Gewichtung und Aussagekraft innerhalb der Denkkonstellationen zu würdigen (et…et…). Das trinitarische Glaubensbekenntnis schließt zudem die Menschwerdung der zweiten Person der Trinität, in der und durch die alles geschaffen wurde, mit ein. Die vergöttlichte menschliche Natur Christi stellt eine innergöttliche Beziehung Gottes zum kontingenten Sein und allem, was damit verbunden ist, dar. Einerseits müsste dies nun mit dem ewigen Präsens Gottes zusammengedacht werden und andererseits als rekonstruiertes Vorbild des hier ausgeführten Spiritualitätsverständnisses dienen können.
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ohne einer allgemeinen Unverbindlichkeit zu unterliegen. Damit würde der Spiritualitätsbegriff, den ich zu entfalten gesucht habe, z. T. gerechtfertigt. Die Frage nach seiner Tragweite sowie seiner philosophischen und theologischen Brauchbarkeit soll in einem letzten Punkt näher bedacht werden.
3. Tragweite des Spiritualitätsbegriffs Was ist nun von diesem Spiritualitätsbegriff zu halten und wo muss weitergearbeitet werden? Trägt er dem Phänomen, das er als etwas Eigenständiges heraushebt, wirklich Rechnung? Ist er auch operational einsetzbar? Um diese Frage zu beantworten, sollen zunächst ein paar Merkmale des Begriffs benannt werden, ehe ich auf seine Beziehung zu Kunst und Religion eingehe und mich dann seiner Beziehung zur Theologie zuwende.
3.1 Merkmale des Begriffs Der Begriff richtet sich nicht gegen einen Autor, gegen eine Schule, gegen eine Verwendung, denn Apologie verengt den Blick. Er entstand vielmehr aus einem Bedürfnis von Integration und Treue. Integration von natur- und humanwissenschaftlichen Erkenntnissen und damit Respekt der Weltlichkeit der Welt; Treue gegenüber dem christlichen Glauben unter Anerkennung der Bedingungen seiner Möglichkeit und gegenüber der Freiheit der Menschen. Seine ästhetische Grundlage, die dynamische Begriffe und Präsenzdenken kennt, erlaubt es m. E. nach, den Beitrag verschiedener Disziplinen zusammenzuführen; die Konstruktivität der Beziehungen ermöglicht es, einem bestehenden Pluralismus Rechnung zu tragen; beide Aspekte vermögen es, den Pluralismus anthropologisch zu begründen. Die Offenheit des Prozesses lässt genügend Raum, um das freie Wirken Gottes anzuerkennen, das sich nicht im Zusammenspiel der Faktoren erschöpft. Des Weiteren liefert der Begriff Referenzpunkte, um Spiritualitäten zu beschreiben (Gott, Welt, Ich als Präsenzen; Formen, die die Beziehungskonstellationen ordnen; Umgewichtungen, die sich ergeben und verlangen, dass die Beziehung neugestaltet wird, dass der Schwerpunkt sich verlagern kann, ...). Er beschreibt einen Prozess und erlaubt es daher, die Faktoren an einem bestimmten Zeitpunkt zu bestimmen und andererseits auch die Entwicklung von Formen zu verfolgen. Eine solche dichte Beschreibung kann eine relativ objektive Grundlage für die subjektive Beurteilung von Spiritualitäten ergeben, die sich selber wieder in diesen Prozess einschreibt. Zwar ist der Begriff in seinem Umfang sehr weit gefasst; die Analyse dessen, was in eine gegebene Spiritualität einbezogen wird und was nicht, kann jedoch helfen, zwischen einer stärkeren und schwächeren Ausprägung von
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Spiritualität zu unterscheiden. Vermag der Begriff es auch, Spiritualität z. B. zu anderen, nicht weniger diffusen Begriffen, wie Kunst und Religion zu verorten?
3.2 Der Unterschied von Spiritualität, Kunst und Religion Kunst und Religion sind beides Phänomene oder Bereiche, deren Eigengestalt sich ab der Moderne herausdifferenziert hat. Sie bezeichnen menschliche Handlungszusammenhänge und Produktionen. Im Falle der Kunst sind es die Werke, die im Zusammenspiel von Formen und Materien einerseits sowie von Werk und Rezipient andererseits dazu führen, dass die Rezeption die Erfahrung einer fiktiven Welt ermöglicht. Ich spreche von einer fiktiven Wirklichkeit, weil Kunstwerke nicht den Anspruch erheben, dass ihnen unabhängig von ihnen existierende historische oder transzendente Wirklichkeiten entsprechen. Von Welten spreche ich, weil Kunstwerke nicht nur Sinn, sondern Präsenzen entfalten. Diese Welten können in einer Spiritualität verschiedentlich integriert werden und dementsprechend Einfluss auf die Konstellation, in die sie eintreten, ausüben. Es fällt auf, dass Kunst mittels Poetiken entsteht, die die Möglichkeiten der Ästhetik, intensive Präsenzerfahrungen zu machen, aufgreifen und daran arbeiten, sie gezielt zu stimulieren. Damit sind Kunstwerke auch mehr oder weniger umfassende kohärente Konstellationen.7 Intensive ästhetische Erfahrung von Präsenz beschränkt sich nicht auf Kunst, wie es sich im Vorhergehenden gezeigt war; sie findet sich z. B. auch in der Religion. Man denke an religiöse Kunst oder aber auch an die Bibel oder die Liturgie. Religion bildet seit der Moderne immer mehr den Bereich einer institutionalisierten Spiritualität, von der sich Menschen in verschiedenen Regionen Europas eben zunehmend verabschieden. Diese Verabschiedung von Religion zugunsten (anderer Formen) von Spiritualität kann der vorliegende Begriff auch beschreiben helfen. Ich möchte beispielhaft drei Faktoren nennen, die mitspielen: eine Entfremdung und Loslösung von den Kirchen als Vermittler von Spiritualitätsformen, denen die Integration neuer Vorgaben schwer gelingt – ohne dass damit das Bedürfnis nach dem Umfassenden, nach der Gestaltung einer Beziehungskonstellation, um es möglichst unbestimmt zu belassen, abhanden gekommen wäre; die Schwierigkeit, einen personalen Gott sowie dessen Macht und Vorsehung angesichts der Dichte der Welt zu denken, was sich u. a. darin zeigt, dass Buddhismus vielfach nicht als Religion, sondern als Spiritualität angesehen wird; ein religiöser Individualismus oder eine religiöse Selbstbevollmächtigung, um Elemente, die aus verschiedenen Traditionen stammen und besonders ansprechend oder hilfreich erscheinen, synkretistisch miteinander zu verbinden oder nebeneinanderzustellen.
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Die Idee, dass Spiritualität die Kunst des Lebens ist, kann hier nicht weiter ausgeführt und kritisch hinterfragt werden.
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Jean Ehret
Zusammenfassend kann man sagen, Spiritualität komme im Kunstschaffen vor und sie könne Kunst mit einbeziehen. Religion ihrerseits institutionalisiert Spiritualität.8 Erhalten Gott, Welt und Ich eine neue Dichte, neues Gewicht indem sich z. B. Aspekte, die zu einem Element aus einem Pol gehören, auf einen anderen verlagern, dann zieht dies ggf. den Zerfall der Form nach sich, die eine Konstellation von Gott, Welt und Ich bildete. Sind die alten Formen obsolet geworden, so werden sie häufig durch Spiritualität als Suche nach neuen Beziehungsstrukturen ersetzt werden. Wie verhält sich nun Spiritualität in Bezug zur Theologie als einer Praxis einer Religionsgemeinschaft?
3.3 Spiritualität und Theologie Der Begriff, den ich auszuarbeiten versucht habe, könnte dazu beitragen, das Studium der Spiritualität neu zu verorten. Spiritualität hat nach dem ersten Weltkrieg ihren Einzug in den Fächerkanon der Theologie gefunden; seitdem wurde auch über ihre Zuordnung zur historischen, biblischen, systematischen oder praktischen Theologie viel diskutiert. Sie lässt sich in jeder Sparte verorten, weil sie ein transversales Grundverhalten ist. Denkt man christliche Spiritualität als Selbstverortung des Menschen vor Gott angesichts seiner kontingent vermittelten Selbstoffenbarung, dann findet man das Einheitsprinzip der christlichen Theologie wieder, das man aus verschiedenen Perspektiven analysieren kann. Denn der Begriff der Spiritualität benennt ein Gesamtphänomen, das sich in bestimmten historischen Quellen studieren lässt; Spiritualität hat jeweils verschiedene historisch gewachsene Formen, die sich in ihren praktischen Ausgestaltungen, ihren Übungen, ihren Anhängern beobachten und in Bezug auf die innere Systematik, die von ihrer flexiblen Form bestimmt wird, untersuchen lassen. Theologie wird damit zur methodischen Reflexion und zugleich zur Mitgestaltung dieser Beziehung, in der davon ausgegangen wird, dass Gott Subjekt ist, also als Handelnder einerseits über die Vermittlungen seiner selbst und andererseits auch frei mittels dessen, was wahrgenommen wurde, in der Konstellation mitwirkt. Dieses Wirken zeigt sich im Denken und seinen Ausdrucksformen, in der Kunst, in den Lebensformen. Vielleicht kommt man damit auch näher an die erste christliche Theologie heran, die sich in der Formel verbum caro zusammenfassen lässt: Das ewige Wort sagt sich nicht mittels eines Buches, sondern durch ein ganzes Leben und all das aus, was dazugehört. Er, Jesus von Nazareth, ist die Wahrheit, die angemessene Konstellation von Gott, Welt und Ich; er ist auch der Weg, sie zu vollziehen; damit ist er die Fülle des Lebens, das Gott Gott sein sowie Welt Welt und Ich Ich werden 8
Vgl. Ehret, Jean, Geistig = geistlich? Elemente einer theologischen Kriteriologie, in Ders. (Hg.), Die geistige Macht der Musik: The Mental and Spiritual Power of Music, Weikersheim 2019 [im Erscheinen].
Spiritualität als interaktives Beziehungsgeschehen
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lässt, in einem göttlichen Beziehungsgeschehen, das richtet und ausrichtet. Diese Gestalt wird von Menschen abgelehnt und zerstört. Doch Gott bezeugt sich selber, wie es die Berichte der Begegnung mit dem Auferstandenen und das Leben derer, die ihm begegnet sind, überzeugend bezeugen, weil er in ihnen präsent ist.
4. Schluss In diesem Beitrag habe ich ansatzweise, fragmentarisch und doch strukturbezogen versucht, einen Begriff von Spiritualität zu entwickeln, der sie als einen geistigen, verantworteten Prozess bestimmt, der die Konstellation der Repräsentationen von Gott, Welt und Ich z. T. bereits in die jedem der einzelnen Pole angemessene Beziehung zueinander bringt. Die in der Einleitung gestellte existenzielle Frage, welchen reflexiven und gestaltenden Zugriff ich darauf haben kann, habe ich dahingehend beantwortet, dass ich mich als Christ auf die kontingenten bestehenden Vermittlungen der Selbstoffenbarung Gottes einlasse. Dann gehört es dazu, dass ich die Verschiebung der Gewichtungen sowie die daraus entstehenden Spannungen innerhalb bestehender Formen im Denken und im Leben der Menschen wahrnehme und beschreibe. Das Aufdecken des Prozesses und der Konstruktion seiner Elemente ermöglicht es, viele Elemente aus einer sehr breiten Tradition zu integrieren, sie unterschiedlich zu gewichten und somit eine Verschiebung des Schwerpunktes ohne den (Zusammen)Bruch der Gesamtform zu ermöglichen. Dies geschieht zum Teil durch den theologischen Diskurs, der ein Beitrag zum spirituellen Gesamtprozess in der Gemeinschaft der Kirche ist, in dem Gott sich selber als Subjekt der Theologie aussagen können sollte. Dass der Mensch für diesen Gesamtprozess und seine Teilaspekte Verantwortung übernehmen kann/soll/muss, habe ich ebenso hervorgehoben. Dies betrifft insbesondere jene, denen es aufgetragen ist, kollektiv Verantwortung zu übernehmen und jene, denen andere sich anvertrauen. Ein solcher Mensch ist auch Erwin Möde, Priester, Psychologe und Professor für Spiritualität, Homiletik und Pastoraltheologie. Der Beitrag erscheint in der Festschrift, die ihm gewidmet ist. Ich denke, dass dieser Artikel eine angemessene Würdigung sein kann, weil der Jubilar in seinem mannigfaltigen Wirken diesen Anspruch, in Wahrheit vor Gott, in der Welt und bei sich zu sein, immer wieder aufgegriffen hat.
Die „Gebrauchsesoterik“ als Anfrage an den christlichen Glauben
Überlegungen zum pastoralliturgischen Einsatz der „Volksfrömmigkeit“
Michael Wohner / Marco Benini* Zwei Beweggründe waren es vor allem, die zum Thema des vorliegenden Beitrags geführt haben: Zum einen die mehrfache Konfrontation mit dem weiten Thema Esoterik und „neue Religiosität“ in der seelsorglichen Praxis – sei es als Religionslehrer an weiterführenden Schulen,1 sei es als Seelsorger im pfarrlichen Alltag – und die damit verbundenen persönlichen Überlegungen, insbesondere die Frage, wie den Menschen und vor allem auch den Jugendlichen heute die Lebensrelevanz des christlich-katholisch und kirchlich verfassten Glaubens überzeugt und überzeugend zu vermitteln ist. Zum anderen die Lektüre des Briefes von Papst Benedikt XVI. an die Seminaristen, der am 18. Oktober 2010 veröffentlicht wurde und in dem der Papst unter anderem die besondere Wertschätzung der Volksfrömmigkeit anmahnt.2 Die Bedeutung dieser Thematik findet ihren Ausdruck auch in der
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Bei diesem Beitrag handelt es sich um die Hausarbeit von Michael Wohner, die im Rahmen der Zweiten Dienstprüfung für Kapläne im Bistum Eichstätt bei Prof. Dr. Dr. Erwin Möde im Jahr 2011 verfasst und für den Druck von Marco Benini überarbeitet wurde. Vgl. dazu z. B.: Lehrplan für Katholische Religionslehre an den bayerischen Realschulen, Themenbereich 9.1: Sehnsucht nach Sinn und Halt: Vielfalt religiöser Angebote, https://www.isb.bayern.de /download/8894/kr9.pdf [Zuletzt aufgerufen am 12. Februar 2019]; Ebenso: Lehrplan für das Gymnasium in Bayern, Themenbereich 11.1: Zwischen Vielfalt und Entscheidung: Religion in der offenen Gesellschaft, http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/id_26175.html [Zuletzt aufgerufen am 12. Februar 2019]. Vgl. Benedikt XVI, Schreiben an die Seminaristen vom 18.10.2010, http://www.vatican.va/holy_fa ther/benedict_xvi/letters/2010/documents/hf_ben-xvi_let_20101018 _seminaristi_ge.html [Zuletzt aufgerufen am 12. Februar 2019] Nr. 4: „Bewahrt Euch auch den Sinn für die Volksfrömmigkeit, die in allen Kulturen verschieden und doch auch immer wieder ganz ähnlich ist, weil das Herz des Menschen letztlich immer dasselbe ist. Gewiss, die Volksfrömmigkeit tendiert zur Irrationalität, vielleicht auch manchmal zur Äußerlichkeit. Sie zu ächten ist dennoch ganz verkehrt. In ihr ist der Glaube in das Herz der Menschen eingetreten, ist Teil ihres Empfindens, ihrer Gewohnheiten, ihres gemeinsamen Fühlens und Lebens geworden. Deswegen ist die Volksfrömmigkeit ein großer Schatz der Kirche. Der Glaube hat Fleisch und Blut angenommen. Sie muss sicher immer wieder gereinigt, auf die Mitte hin bezogen werden, aber sie verdient unsere Liebe, und sie macht uns selber auf ganz reale Weise zu ‚Volk Gottes‘.“ Ähnlich unterstrich Benedikt XVI. vor Priestern der Diözese Rom (22.2.2007): „Die Volksfrömmigkeit ist eine unserer Stärken, weil es sich um Gebete handelt, die tief im Herzen der Menschen verwurzelt sind. Auch Menschen, die dem Leben der
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Michael Wohner / Marco Benini
2016 veröffentlichten Rahmenordnung für die Priesterausbildung. Mit Blick auf die geistliche Dimension der Ausbildung wird betont, dass auch „gewisse Ausdrucksformen der Volkfrömmigkeit vor allem in den vom Lehramt gebilligten Formen gefördert werden und Raum bekommen“ sollen, damit „die künftigen Priester mit der ‚Volksfrömmigkeit‘ vertraut werden, die sie im Sinne der gebührenden Liebe und pastoralen Wirksamkeit prüfen, lenken und aufgreifen müssen.“3 Ausgangspunkt für diesen Festschriftbeitrag ist die Überzeugung, dass das Interesse für Innenerfahrung und für neue spirituelle Wege außerhalb der Kirche durch drängende Lebensfragen bedingt ist, auf die die Menschen im Raum der Kirche häufig keine befriedigende Antwort mehr finden.4 Zugleich stellt das Phänomen der neuen Religiosität mit ihren unterschiedlichen Ausformungen und Ausdrucksformen aus dem Bereich der sogenannten Gebrauchs- oder Alltagsesoterik von daher eine nicht mehr zu überhörende Anfrage an die derzeitige Art zu glauben und zu lehren innerhalb der Kirche dar.5 Daraus erwachsen Fragen, die im Folgenden freilich nicht beantwortet werden können, aber dennoch Denkanstöße geben sollen. Könnte das wachsende Interesse weiter Bevölkerungsteile für „das Esoterische“6 und die Verkümmerung einer gesunden Volksfrömmigkeit mit ihren überkommenen Formen und Ritualen im Leben der meisten Pfarreien in einem bislang zu wenig bedachten Zusammenhang stehen? Könnte eine neue Belebung der Volksfrömmigkeit zumindest ein Ansatz
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Kirche etwas fernstehen und kein großes Glaubensverständnis haben, werden von diesem Gebet innerlich berührt. Man muß nur diese Gesten »erhellen«, diese Tradition »läutern«, damit sie zu aktuellem Leben der Kirche wird.“, http://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2007/februar y/documents/hf_ben-xvi_spe_20070222_clergy-rome.html [Zuletzt aufgerufen am 12. Februar 2019]. Kongregation für den Klerus, Das Geschenk der Berufung zum Priestertum. Ratio Fundamentalis Institutionis Sacerdotalis, Bonn 2017 (VAS 209), Nr. 114. Vgl. dazu auch u. a. die Ergebnisse der Studie „Jugend – Glaube – Religion“ der Studiengruppe des evangelischen Religionspädagogen Friedrich Schweitzer und seines katholischen Kollegen Reinhold Boschki (Schweitzer, Friedrich / Wissner, Golde / Bohner, Annette / Nowack, Rebecca / Gronover, Matthias / Boschki, Reinhold, Jugend – Glaube – Religion. Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht, Münster 2018), deren Kernaussage von vielen Medien mit den Stichworten „gläubig, aber nicht religiös“ wiedergegeben wurde (vgl. exemplarisch: https://www.sueddeutsche.de/wissen/religionspaedagogik-glaeubig-aber-nicht-religioes-1.3941140 [Zuletzt aufgerufen am 12. Februar 2019] oder https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelleartikel/studie-jugendliche-wollen-nicht-religios-sein [Zuletzt aufgerufen am 12. Februar 2019]. Vgl. Kreppold, Guido, Esoterik. Die vergessene Herausforderung (Münsterschwarzacher Kleinschriften 129), Münsterschwarzach ²2007, 26f. Vgl. dazu die von Kreppold zitierten in der Zeitung „Die Woche“ veröffentlichten Zahlen. Nach diesen „bemühen sich in Deutschland 6.000 Astrologen, 10.0000 Geistheiler und 90.000 Wahrsager um das Seelenheil der esoterisch interessierten Bevölkerung. Dagegen kümmern sich lediglich 30.000 Geistliche um die Gläubigen der beiden großen Kirchen.“ Kreppold (wie Anm. 5), 56; vgl. auch die ähnlich überraschenden Schätzungen des auf Konsumtrends spezialisierten Heidelberger Zukunftsforschers Eike Wenzel, nach denen „heute mit Esoterik in Deutschland [bereits] jährlich 18 bis 25 Milliarden Euro umgesetzt werden“. Die Tendenz ist steigend. Zitiert nach Kramer, Bernd, Hinters Licht geführt, in: DIE ZEIT vom 08.07.2010, Nr. 28, http://www.zeit.de/2010/28 /Esoterik [Zuletzt aufgerufen am 12. Februar 2019].
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sein, die fortschreitende Individualisierung und Pluralisierung im Bereich des Religiösen kirchlich aufzufangen und zu kanalisieren?7 Dazu soll in einem ersten Punkt zunächst die Frage geklärt werden, was unter dem Begriff „Gebrauchsesoterik“ zu verstehen ist, um dann nach den Gründen für ihre Attraktivität, nach ihren „Konsumenten“, nach Themen und schließlich auch den mit ihr verbundenen Gefahren zu fragen.8 Der zweite Punkt bietet dann eine Begriffsklärung zur Volksfrömmigkeit, die das Verhältnis zur Liturgie thematisiert, und geht dem (scheinbar) schwindenden Interesse an volksnahen Formen nach. Im dritten Punkt wird abschließend versucht, die Ergebnisse in den soziologischen Kontext der religiösen Gegenwartskultur einzuordnen und Perspektiven zu entwerfen, wie seitens der Kirche aus der lebendigen Tradition auf die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen im Bereich der Religiosität reagiert werden kann, um auch zukünftig die Freuden und Hoffnungen, die Trauer und Ängste der Menschen von heute teilen und ihnen die Heilsbotschaft von Jesus Christus als dem Licht der Völker aufleuchten zu lassen.9
1. Die Gebrauchsesoterik als Anfrage an den christlichen Glauben 1.1 Begriffsklärung: Esoterik – Systemesoterik – Gebrauchsesoterik Obwohl im Zuge eines mehr und mehr historischen Denkens, nach dem nur noch historisch Darstellbares als plausibel gilt,10 spätestens Mitte des vergangenen Jahrhunderts unter dem Stichwort Entmythologisierung allem (angeblich) Vorwissenschaftlichen und Unaufgeklärten im Bereich der Religion der Kampf angesagt wurde,11 setzte doch nur wenige Jahrzehnte danach ein Trend zur „Wiederverzauberung der Natur“12 ein, der sich in vielen Facetten zeigt und vielfach unter dem Begriff Esoterik zusammengefasst wird.13 7
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Explizit hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf Mödl, Ludwig, Die Volksreligion – eine pastorale Marginalie?, in: Nauer, Doris / Bucher, Rainer / Weber, Franz (Hg.), Praktische Theologie: Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven (FS Ottmar Fuchs), Stuttgart 2005, 162-166 und vor allem Mödl, Ludwig / Steiner, Tamara, Den Alltag heiligen. Rituale, Segnungen und Sakramentalien. Die Bedeutung der Volksfrömmigkeit und praktische Vorschläge für die Seelsorge, Stuttgart 2008. Trotz Begriffsklärung mag sich vielleicht der Eindruck einer undifferenzierten Verwendung der durchaus zu unterscheidenden Begrifflichkeiten „Esoterik“, „New Age“, „Okkultismus“, „Magie“ und „neue Religiosität“ aufdrängen. Dennoch überschneiden sich diese verschiedenen Formen, gerade was ihre jeweilige Motivation und Gefahren betrifft, in vielem. Vgl. Knoblauch, Hubert, Die populäre Religion, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 154 (2006), 164-172, hier 167. Vgl. GS 1 und LG 1. Vgl. Mödl / Steiner (wie Anm. 7), 76. Vgl. Kreppold (wie Anm. 5), 7; vgl. dazu auch Mödl / Steiner (wie Anm. 7), 74-76. Pilar, Clemens, Yoga, Astro, Globuli. Christlicher Glaube und Alltags-Esoterik, Augsburg 2009, 9. Vgl. ebd.
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Michael Wohner / Marco Benini
Auf den ersten Blick mag diese Bezeichnung von der etymologischen Bedeutung des Begriffes Esoterik her – griechisch: „nach innen“ 14 – als zu weit gefasst erscheinen.15 Denn unter Esoterik ist im eigentlichen Sinn des Wortes eine besondere, höhere Erkenntnis zu verstehen, die sich nur einem begrenzten „inneren“ Personenkreis von Sensiblen, Erleuchteten und Eingeweihten erschließt.16 Insofern aber manches Gedankengut, das gemeinhin der Welt der Esoterik zugerechnet wird, und viele Ideen aus dem Bereich der Esoterik das „kulturelle Grundwasser aufgemischt haben und im ganz gewöhnlichen Alltag angekommen sind“17, erscheint die heute gebräuchliche Benutzung des Begriffes Esoterik für einen „inneren, spirituellen Erkenntnisweg“18, „außerhalb der ‚Hauptströmungen‘ (mainstreams) des wissenschaftlichen und weltanschaulichen Denkens unter Absehen von dessen Rationalitätskriterien“19 und die damit verbundenen vielfältigen Praktiken, Techniken und Denkrichtungen als legitim.20 Es ist hilfreich, zwischen der so genannten Systemesoterik und der Gebrauchsesoterik bzw. Marktesoterik zu differenzieren.21 Unter ersterer werden die Klassiker der Esoterik und des New Age verstanden, in denen „durchaus auch anspruchsvolle Wege der (Selbst-)Erkenntnis gelehrt und Wege zur ‚Veredlung des
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Grom, Bernhard, Spiritualität der Esoterik, in: Möde, Erwin (Hg.), Spiritualität der Weltkulturen, Graz-Wien-Köln 2000, 309-323, hier 309. Vgl. Grabner-Haider, Anton, Neue Religiosität, in: ebd., 325-341, hier 325. Vgl. Grom (wie Anm. 14), 309; Scholl, Norbert, Religiös ohne Gott. Warum wir heute anders glauben, Darmstadt 2010, 51. Pilar (wie Anm. 12), 10; vgl. dazu auch Päpstlicher Rat für die Kultur – Päpstlicher Rat für den interreligiösen Dialog, Jesus Christus, der Spender lebendigen Wassers. Überlegungen zu New Age aus christlicher Sicht, in: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/interelg/docu ments/rc_pc_interelg_doc_20030203_new-age_en.html: Eine deutsche Übersetzung findet sich unter: http://www.kamp-erfurt.de/level9_cms/download_user/Weltanschauung/Jesus%20Christus%2 C%20der%20Spender%20lebendigen%20Wassers.pdf [Zuletzt aufgerufen am 18. Februar 2019], hier 8: „[…] ‚spirituelle‘ und ‚mystische‘ Tendenzen, die früher zur Gegenkultur gehörten, sind jetzt ein etablierter Bestandteil der Hauptkultur und beeinflussen so mannigfaltige Facetten des Lebens wie Medizin, Wissenschaft, Kunst und Religion.“ Ebenso Knoblauch (wie Anm. 8), 167: „dass der Titel des New Age allmählich aus der Öffentlichkeit verschwunden ist, hat zu keinem Einbruch dieser Form der Religiosität geführt. Vielmehr hat es den Anschein, als sei sie (als ‚Spiritualität‘, ‚Esoterik‘ etc.) durch vorwiegend populärkulturell geprägte Mittel über Massenmedien und Markt in die Breite der Gesellschaft diffundiert, so dass sie gar nicht mehr als ‚alternativ‘ erkennbar ist. Denn trotz der kleinen Zahl an Aktivisten in diesen Bewegungen (die sich mittlerweile meist in Unternehmer verwandelt haben), hat die alternative Religiosität einen enormen Widerhall in der breiten Bevölkerung gefunden.“ Scholl (wie Anm. 16), 51. Grom (wie Anm. 14), 309; vgl. Bochinger, Christoph, Esoterik. I. Religionsgeschichtlich, in: LThK3 3, 884: „Das Substantiv E. wurde erst gg. Ende des 19. Jh. als Sammel-Bez. geprägt (esotérisme um 1870 bei Eliphas Lévi) u. beschreibt mittlerweile einen eigenen Zweig der modernen abendländ. Religionsgeschichte. Neben dem Anspruch arkaner Herkunft kommen als Charakteristikum die Nichtübereinstimmung mit dem modernen naturwiss. Weltbild u. seinen philos. Fundamenten sowie häufig eine sich selbst religiös verstehende Abgrenzung v. Kirchen u. Theol. hinzu.“ Kreppold (wie Anm. 5), 22 sah die Esoterik sogar als Art Gegenkultur zur europäischen Zivilisation an. Vgl. Pilar (wie Anm. 12), 16.
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Menschen‘ gezeigt werden sollen“.22 Die Gebrauchsesoterik ist hingegen eine aufgrund ihres hohen Gebrauchs- und Erlebniswertes konkret im Alltag angewandte, vermarktete und vereinfachte Esoterik. Wegen ihres mittlerweile gesellschaftsprägenden Einflusses wird letztere in diesem Beitrag behandelt.
1.2 Die besondere Attraktivität und die „Konsumenten“ der Gebrauchsesoterik Gradmesser für die Popularität der so genannten Gebrauchsesoterik kann ein Besuch in einer Buchhandlung sein: Hier findet sich eine Fülle von Literatur über Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung, Therapie und Lebenshilfe. Beim aufmerksamen Durchblättern von Printmedien stößt man auf Kleinanzeigen von Magierinnen und Magiern, die etwa „Energieübertragung, Partnerzusammenführung und Partnertrennung versprechen“23, ebenso wie auf Angebote zur „Lebensberatung“ mit Hilfe von Kartenlegen, Astrologie und Zukunftsprognosen jeglicher Art. Mit diesen Beispielen klingen schon einige Aspekte an, die wohl die besondere Attraktivität der Gebrauchsesoterik ausmachen. Sie lassen sich unter den Stichworten Faszination des Geheimnisvollen, Sehnsucht nach religiöser Erfahrung und Sehnsucht nach Sicherheit und Beheimatung zusammenfassen.24 Nach Guido Kreppold erweckt der Begriff Esoterik „bei den Interessierten das Gefühl von etwas Geheimnisvollem, von etwas, das einen der Langeweile und Öde des Alltags entreißt, das Faszination ausübt und in den Bann schlägt.“25 Esoterik sei keine genau abgegrenzte Lehre mit bestimmten Lehrinhalten, sondern es gehe vielmehr „um eine Innenerfahrung des Daseins, deren Niederschlag und Anleitung, um Zugang zu den Geheimnissen des Lebens“26, also um die Suche nach konkret erfahrbaren Antworten auf Lebensfragen, die von einer rein rational orientierten Bildungsstruktur ebenso wenig geliefert werden wie von einer rein rational verstandenen Theologie.27 Der Bereich des Erlebens, der Gefühle und der religiösen Erfahrung sei nämlich im Laufe der Bewusstseinsentwicklung des europäischen Menschen vom Altertum über das Mittelalter in die Neuzeit immer mehr ins Unbewusste abgedrängt worden und habe dort eine umso größere Dynamik entwickelt.28 Deswegen übe auch eine Akzentverschiebung, was das Verhalten des Menschen angehe, eine besondere Anziehungskraft aus: Als die vier wichtigsten Akzente zählt Kreppold auf: das „Wahrnehmen [dessen], was […] im Hier und Jetzt [ist], und nicht ferne Ziele anstreben; ein[en] andere[n] Umgang mit der Zeit: Sich 22 23 24 25 26 27 28
Ebd. Kreppold (wie Anm. 5), 8. Vgl. dazu Scholl (wie Anm. 16), 52-53. Kreppold (wie Anm. 5), 9. Ebd., 10. Vgl. ebd., 19-20. Vgl. ebd., 24.
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Zeit gönnen, anstatt gehetzt schon auf das nächste Ereignis starren; der bewusste Genuss dessen, was das Leben zu bieten hat von Essen und Trinken bis zur Sexualität. Eingeschlossen ist damit die Entdeckung und Annahme des Leibes in seiner Bedeutung für das ganze Lebensgefühl, auch für das Geistige und Religiöse.“29 In diesem Zusammenhang ist besonders interessant, dass nach Untersuchungen des Züricher Soziologen Gerhard Schmidtchen das Interesse für Psychomarkt und Esoterik mit dem Grad der Schulbildung wächst.30 Seine Erklärung dafür lautet: „Mit der höheren Bildung wird auch höhere existentielle Unsicherheit erworben.“31 Kreppold bringt eines der Paradoxe der Neuzeit folgendermaßen auf den Punkt: „Noch nie haben die Menschen so viel Wissen über die Natur angehäuft und noch nie hatten sie so viele Machtmittel in ihren Händen, aber existentiellen Fragen nach dauerhaftem Glück, nach Erfüllung und Sinn des Lebens, nach Bewältigung des Leids, nach einer friedvollen Zukunft auf der Erde stehen sie ratlos gegenüber.“32 Die Beschränkung der modernen wissenschaftsorientierten Bildungskultur auf den Willen und das logische Denken, sowie eine kritische Haltung gegenüber traditionellen Autoritäten wie Staat und Kirche, lasse auch von diesen tradierte moralische Gewissheiten mit ihrer Sinn, Halt und Orientierung stiftenden Funktion für das eigene Leben schwinden.33 Die so entstehende Leerstelle werde dann mit „NichtRationalem, mit außergewöhnlichem und tieferem Erleben, mit Wert-Orientierung, mit Religiösem“34 von anderer Seite gefüllt. Denn: „Im Grunde braucht jeder etwas, das größer ist als er selbst.“35 Als weiterer Grund für die Hinwendung zu esoterischen Praktiken lässt sich sicherlich noch die Vereinsamung, die seelische Heimatlosigkeit und Entwurzelung vieler Menschen auch auf Grund einer fehlenden Einbindung in lebendige Glau29 30
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Ebd., 23. Hervorhebungen ebd. Vgl. ebd., 13. Ebd.: „Hier tut sich eine widersprüchliche Situation auf, die alle ratlos macht, die dem logischen Denken und dem streng wissenschaftlichen Weltbild verpflichtet sind. Während man wegen der intellektuellen Redlichkeit – wie man glaubt – die Bibel zu entmythologisieren versucht und sie von Wundern, Engeln und Teufeln reinigt, sitzen die ‚aufgeklärten‘ Schüler, Studenten oder Leute aus akademischen Berufen – für die man es eigentlich tut – beim Tischerücken zusammen, befragen das I-Ging, pendeln die Speisen nach Verträglichkeit aus, interessieren sich für das Tibetanische Totenbuch, für indianische Selbsterfahrung nach Carlos Castaneda, für Zen- und Yogakurse, für Qui-Gong und Tai-Tschi und andere Arten der östlichen Selbsterfahrung.“ Zitiert nach Kreppold, (wie Anm. 5), 15. Ebd., 19; vgl. dazu auch Päpstlicher Rat für die Kultur / Päpstlicher Rat für den interreligiösen Dialog, Jesus Christus (wie Anm. 17): „Wissenschaft und Technik haben eindeutig versagt, alles zu erfüllen, was sie einst zu versprechen schienen. In ihrer Suche nach Sinn und Befreiung haben sich die Menschen daher dem spirituellen Bereich zugewandt. New Age, wie wir es jetzt kennen, entstand aus einer Suche nach etwas Menschlicherem und Schönerem als der unterdrückenden, entfremdenden Erfahrung des Lebens in der westlichen Gesellschaft.“ Vgl. Kreppold (wie Anm. 5), 16; vgl. dazu auch Scholl (wie Anm. 17), 53: „Subjektive Formen von Religiosität oder von ‚Spiritualität als persönlicher Prozess‘ spiegeln den Trend zur Individualisierung und zur Emanzipation des Subjekts, verweisen aber gleichzeitig auf den Verlust verbindlicher Lebensorientierung und die Neigung zu einer ‚Patchwork-Identität‘ in der heutigen Gesellschaft.“ Kreppold (wie Anm. 5), 16. Ebd. An anderer Stelle formuliert Kreppold (ebd., 98): „Der Mensch findet dann seinen Sinn und die Erfüllung seines Lebens, wenn er sich auf die Erfahrung des Transzendenten einlässt.“
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bens- und Lebensgemeinschaften in der heutigen Zeit anführen, die oft genug der Kaufpreis für den zuvor noch nie dagewesenen Zuwachs an Individualität und Freiheit für den einzelnen ist.36 Kurz: Die Esoterik gibt vor, Hilfen und Antworten zu kennen, nach denen die Menschen fragen. Hier lohnt sich eine nähere Betrachtung.
1.3 Die gefragten Themen der Gebrauchsesoterik Als „gefragte Themen“ zählt Kreppold auf: die geheimnisvolle Einheit der Welt,37 die Anleitung zu je eigener religiöser Erfahrung an Stelle rationaler Belehrung,38 die Risikominimierung in der Lebensplanung durch okkulte Zukunftsprognosen,39 die Beeinflussung der eigenen Zukunft durch magische Praktiken.40 All diese Themen und ihr innerer Zusammenhang sind letztlich nur verstehbar vor dem Hintergrund des esoterischen Weltbildes: „In der Sicht der Esoterik besteht eine Einheit von Mensch, Kosmos und Gott. Es gibt einen geistigen Grund der Welt – auch Weltseele genannt –, dem wir uns nicht durch logische Beweisführung, sondern nur durch je eigene Erfahrung nähern können.“41 Esoterische Praktiken versprechen den Menschen zumindest für bestimmte Momente aus der im Alltag erlebten existentiellen Verlorenheit in die Einheit mit sich selbst, mit der Welt und mit Gott zu führen.42 Ein weiteres großes Thema der Esoterik sei der angestrebte Bewusstseinssprung zum „Neuen Menschen“, der sich durch verschiedene Eigenschaften auszeichne, die Carl Rogers, der Begründer der Gesprächspsychotherapie, als „Utopie oder als visionäre Leitidee bezeichnet“43 hat und Kreppold mit folgenden Schlagworten angibt:44 - Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen, Betrachtungsweisen, Lebensarten und Ideen; - Authentizität im Auftreten, Handeln und Sprechen; - eine recht verstandene Skepsis gegenüber Wissenschaft und Technologie;
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Vgl. ebd., 21 und 32. Vgl. ebd., 39-50. Vgl. ebd., 50-55. Vgl. ebd., 56-61. Vgl. ebd., 62-72. Ebd., 40; vgl. auch Päpstlicher Rat für die Kultur / Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog (wie Anm. 17), 10-12. 42 Vgl. Kreppold (wie Anm. 5), 41. Ähnlich: Päpstlicher Rat für die Kultur / Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog (wie Anm. 17), 12f. 43 Kreppold (wie Anm. 5), 91. 44 Vgl. ebd., 79-89.
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- Ganzheitlichkeit, im Sinne einer Berücksichtigung aller Lebens- und Erfahrungsbereiche des Menschen;45 - Nähe durch Vertrauen, durch die Bemühung, Gemeinsamkeiten zu entdecken und gemeinsame Ziele zu erreichen; - Prozessbewusstsein, d. h. eine Lebenshaltung, die im ständigen Wandel im Verlauf der Lebensgeschichte und -umstände eine Herausforderung der eigenen Lebendigkeit sieht; - Anteilnahme, verstanden als eine unaufdringliche, nicht moralisierende oder urteilende Form der Zuwendung und Empathie; - ökologisches Bewusstsein, also die Achtung und der Schutz der Natur und die Bemühung um ein Leben in Einklang mit ihr; - Ablehnung von Institutionen, insofern sie durch ihre z.T. undurchschaubaren Strukturen Beziehungslosigkeit, emotionale Kälte und Gleichgültigkeit bedingen; - Sehnsucht nach dem Spirituellen, also nach dem, das größer ist als das Individuum. All diese Eigenschaften stehen natürlich nicht per se im Widerspruch zum christlichen Menschenbild. Kreppold erklärt auf einsichtige Weise, dass „hier von einer ganz anderen Seite Werte des Urchristentums auftauchen, die man in der Bergpredigt wie beim hl. Franziskus findet“46 und die im recht verstandenen Sinne ganz selbstverständlich zu einer gelungen Individuation der menschlichen Persönlichkeit gehören.47 Die eigentliche Problematik esoterischer Schulen und neureligiöser Suchbewegungen bestehe also weniger im Ziel der Wandlung des Menschen als vielmehr in der Art und Weise, wie diese Transformation vollzogen werden soll. Sie geben vor, Methoden bzw. „Techniken“ zu kennen, die es ermöglichen, „dem einzelnen außerordentliche Erlebnisse zu verschaffen, die gerade seiner inneren Leere, Trauer oder Einsamkeit entsprechen und ihn auf diese Weise auf eine neue Spur der Lebenseinstellung und Gestaltung führen.“48 Doch gerade damit sind auch Gefahren verbunden. 45
Vgl. ebd., 81; vgl. auch Päpstlicher Rat für die Kultur / Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog (wie Anm. 17), 9f. 46 Ebd., 89. 47 Vgl. ebd., 90. Dort heißt es: „Individuation meint die volle Ausprägung des ganz Eigenen, was nicht mit Eigensinn und Egoismus verwechselt werden darf. Das ganz Eigene, das hier gemeint ist, ist meist Ergebnis eines längeren Suchprozesses. Es hat mit unserer tieferen Seelensubstanz zu tun. Was wir als das Eigene erkannt haben – eine Aufgabe, einen Beruf oder auch eine Idee, eine Begegnung mit einem anderen Menschen – gibt uns Kraft oft sogar zu heroischen Taten. Wenn wir deshalb im Prozess der Selbstwerdung Fremdes und Übergestülptes ablegen und bis zum Kern unseres Wesens vordringen, nehmen wir an innerer Sicherheit und Lebendigkeit zu. Wie von selbst erwachsen in uns die von Rogers beschriebenen Qualitäten des Neuen Menschen.“ 48 Ebd., 92f; vgl. dazu auch Schumacher, Joseph, Vortrag: Magische Vorstellungen und Praktiken in der heutigen Welt: Wiederkehr des Irrationalismus, gehalten am 17. Mai 2009 in Neckarsulm, in: http://www.theologie-heute.de/MAGIEUNDIRRATIONALISMUS.pdf [Zuletzt aufgerufen am 19. Februar 2019), 2: „Im magischen Weltverständnis wohnt allen Erscheinungen eine verborgene Kraft inne, ist die unbelebte wie auch die belebte Natur Trägerin außergewöhnlicher Kräfte, die po-
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1.4 Die Gefahren der Gebrauchsesoterik Als Gefahr nennt Kreppold etwa die kulturelle Entwurzelung durch einen religiösen Erlebnistourismus: „Die Frage ist, ob man ohne Schaden zu nehmen, als Europäer Inder werden kann; ob man am Ende weder das eine noch das andere, sondern entwurzelt und heimatlos geworden ist.“49 Ähnlich gelänge es esoterischen Angeboten auch, Einfluss auf unbewusste Motivationen des Menschen auszuüben und Kräfte freizusetzen.50 Explizit geht Kreppold auf die Auslöschung der Individualität ein.51 Ein Neuling in einer Gruppe mit pseudoreligiösem Anspruch werde mit hoher Zuwendung in eine Art religiöse Euphorie versetzt, die ihn der Einsamkeit und Sinnlehre entreiße. So gewänne das Neumitglied zwar „an Gefühlen der Nähe und Gemeinsamkeit, an Skepsis gegenüber den Wissenschaften, vielleicht sogar an ökologischem Bewusstsein, verliert aber seine innere Autorität. Es gibt seinen gesunden Verstand ab und die Fähigkeit eigenständig zu denken und über sich selbst zu bestimmen. Ganz zu schweigen vom totalen Mangel an Offenheit gegenüber anderen Weltanschauungen und religiösen Gruppierungen.“52 Gleichzeitig besteht nach Kreppold die Gefahr der „psychischen Inflation“, der Aufblähung des „Ichs“ beim Versuch, die Konfrontation mit den negativen Eigenschaften und Defiziten der eigenen Persönlichkeit, ebenso mit Krankheit und Tod, zu umgehen. „Der Innenweg wird falsch, wenn man meint, sich den Abstieg nach unten, d. h. in die nüchterne Sicht der Wirklichkeit, in das Austragen von Einsamkeit und Leid ersparen zu können, und man ständig nur von einem Gipfel zu noch höheren Gipfeln fortschreiten möchte.“53 Denn: „Die Suche nach High-Erlebnissen kann zur Sucht werden und lebensuntüchtig machen.“54 Schlussendlich wird dies mit dem Verlust der freien, eigenständigen Persönlichkeit bezahlt.55
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sitiv oder negativ wirken und derer sich der Mensch bemächtigen kann. Die Fähigkeit, diese Kräfte zu übertragen schreibt man der Sprache, der Schrift, bestimmten Symbolen oder einfach der Berührung mit kraftgeladenen Dingen zu. Man muss nur die richtige Formel, das entsprechende Symbol oder die entsprechende symbolische Handlung kennen, um sich die außergewöhnlichen oder magischen Kräfte zunutze machen zu können, die ihrerseits automatisch wirken.“ Kreppold (wie Anm. 5), 14. Vgl. ebd., 64-66. Vgl. ebd., 97-100. Ebd., 93; Vgl. dazu das bei Kramer (wie Anm. 6), 2-4 erwähnte, tragische Beispiel von Joachim und Pia Huessner, das mit dem Suizid von Pia Huessner endete und von Joachim Huessner im Roman „Ein Weg hinters Licht“ verarbeitet wurde. Kreppold (wie Anm. 5), 101. Ebd. Vgl. ebd., 102.
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2. Zur Bedeutung der Volksfrömmigkeit in der katholischen Kirche Die Leitfragen dieses Beitrages waren, inwiefern die Zunahme der Esoterik und die Abnahme der sogenannten Volksfrömmigkeit in Zusammenhang stehen könnten und wie letztere in den heutigen Herausforderungen der Seelsorge pastoralliturgisch fruchtbar gemacht werden kann. Daher gilt die Aufmerksamkeit nun nach der Esoterik im zweiten Teil der Volksfrömmigkeit, wobei zunächst eine Annäherung an den Begriff vorgenommen wird.
2.1 Begriffsklärung: Volksfrömmigkeit Mit „Volksfrömmigkeit“ werden gemeinhin jene „Ausdrucksformen des christlichen Lebens“ verstanden, „die neben oder außerhalb der offiziellen Liturgie bestehen“56 und welche die Liturgiekonstitution „Andachtsübungen des christlichen Volkes“ („Pia populi christiani exercitia“) nannte und sehr empfahl (SC 13). Der Begriff selbst fand erst 1975 als Übersetzung von „popularis religiositas“ in die kirchlichen Dokumente Eingang.57 Er ist nicht nur von der Volkskunde wegen mitschwingender vereinseitigender Konnotationen und wegen seiner Unschärfe kritisiert worden, sodass Alternativvorschläge wie etwa „Breitenfrömmigkeit“58 präsentiert wurden. Trotz des Bewusstseins für die Problematik soll er in diesem Beitrag aufgrund der Geläufigkeit und der Verwendung in kirchenamtlichen Verlautbarungen beibehalten werden.59 Zu nennen ist hier vor allem das „Direktorium für die Volksfrömmigkeit und die Liturgie“ (2001),60 aber auch jüngere Dokumente wie Evangelii Gaudium von Papst Franziskus.61 Päpste und das Lehramt haben 56 57
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Berger, Rupert, Pastoralliturgisches Handlexikon, Freiburg i. Br. ³2005, 540. Vgl. die deutschsprachige Übersetzung von Paul VI., Evangelii nuntiandi 48, http://w2.vatican.va/c ontent/paul-vi/de/apost_exhortations/documents/hf_p-vi_exh_19751208_evangelii-nuntiandi.html [Zuletzt aufgerufen am 18. Februar 2019]; vgl. Brückner, Wolfgang, Volksfrömmigkeit I: Begriffsgeschichtlich, in: LThK³ 10, 2001, 858f, hier 858. Grieser, Heike, Hören auf das Gottesvolk? Bemerkungen aus kirchenhistorischer Perspektive zu einer Herausforderung seit frühchristlicher Zeit, in: Söding, Thomas (Hg.), Der Spürsinn des Gottesvolkes. Eine Diskussion mit der Internationalen Theologischen Kommission, Freiburg-BaselWien 2016, 159-189, hier 164; vgl. zur Diskussion um den Begriff Gahn, Philipp, Liturgie und Volksfrömmigkeit, in: Klöckener, Martin / Häußling, Angelus A. / Meßner, Reinhard (Hg.), Theologie des Gottesdienstes, Regensburg 2008 (GdK 2,2), 281-358, hier 305-309. Der Begriff wurde deshalb im Untertitel des vorliegenden Beitrags in Anführungszeichen gesetzt (wie auch „Gebrauchsesoterik“). Vgl. Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie. Grundsätze und Orientierungen, Bonn 2001 (VAS 160); vgl. dazu Küppers, Kurt, Liturgie und Volksfrömmigkeit. Zur Vorgeschichte und Bedeutung des Direktoriums von 2002, in: Liturgisches Jahrbuch 53 (2002), 142-165. Vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium des Heiligen Vaters Papst Franziskus an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Bonn 2013 (VAS 194), Nr. 122-126. Zu nennen ist weiterhin etwa: Internationale Theologische Kommission, Sensus fidei und Sensus fidelium im Leben der Kirche, Bonn 2014 (VAS 199), Nr. 107-112. Die Kommission
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die Volksfrömmigkeit geschätzt und gefördert, solange nicht der Anschein der Superstition erweckt wird.62 Eine bleibende Frage ist die Beziehung zwischen Volksfrömmigkeit und Liturgie. Sie soll nach SC 13 „mit der heiligen Liturgie zusammenstimmen, gewissermaßen aus ihr herausfließen und das Volk zu ihr hinführen“. In der Tat sind die Grenzen fließend, sodass eher ein Kontinuum zwischen beiden zu sehen ist. Dies wurde etwa in der Analogie zur Sprache mit dem Zusammenhang von Dialekt und Standard- oder Hochsprache erläutert.63 Der Liturgie kommt als Feier des PaschaMysteriums der Primat zu, mit der die Volksfrömmigkeit harmonisiert werden soll.64 Bei den volksfrommen Übungen handelt es sich „um Ausstrahlungen und Konkretisierungen des Glaubens und der Liturgie ins Alltagsleben“.65 Insofern dient die Volksfrömmigkeit auch der Teilnahme an der Liturgie und hilft so den Gläubigen, die Feier des Gottesdienstes als Quelle für den persönlichen Glauben und ihren Alltag fruchtbar werden zu lassen. „Eine Liturgie, die ohne Wirkung für das tägliche Leben bliebe, würde ihren Sinn verlieren und Gott missfallen.“66 Gerade in der Verbindung von Liturgie und Leben liegt der pastorale Wert der Volksfrömmigkeit begründet. Typische Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit dienen dieser Verbindung: die verschiedenen Benediktionen, die Heiligen- und Reliquienverehrung,67 der Gebrauch von Devotionalien, die Verehrung von Gnadenbildern, Votive, Wallfahrten und der Besuch von Gnadenorten. Außerdem gehören liturgienahe Frömmigkeitsübungen wie der Kreuzweg, die eucharistische Anbetung, das Angelusgebet, der Rosenkranz und damit verbundene Formen dazu.68
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hebt hervor, dass eine geordnete Volksfrömmigkeit „als Manifestation und Ausdruck des sensus fidei gesehen werden“ kann (ebd., 11). Vgl. dazu Gahn (wie Anm. 58), 328-331. Vgl. ebd., 311f.314-318. Vgl. Direktorium für die Volksfrömmigkeit (wie Anm. 60), Teil 2: „Orientierungen für die Harmonisierung der Volksfrömmigkeit mit der Liturgie.“ (Nr. 93-287). Adam, Adolf / Haunerland, Winfried, Grundriss Liturgie. 3. überarbeitete und ergänzte Auflage der Neuausgabe 2012 (11. Auflage), Freiburg-Basel-Wien 2018, 143. Vgl. auch Mödl / Steiner (wie Anm. 8), 39. Johannes Paul II., Botschaft an die Vollversammlung der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung (21. September 2001) 2, in: Direktorium über die Volksfrömmigkeit (wie Anm. 60), 5. Die Heiligen dienen denen, die sie verehren, zugleich als „Interpretationshilfen des Evangeliums“, Mödl / Steiner (wie Anm. 7), 63, wobei die Heiligenüberlieferung als eine Form der Theologie angesehen werden kann, „welche einen Heiligen nicht als Person, sondern als Träger einer theologischen Idee verstehen lässt“ (ebd., 73); vgl. in diesen Zusammenhang auch: Bärsch, Jürgen, Zwischen Liturgie und »Volksfrömmigkeit«. Rückfragen an die Heiligenverehrung in Mittelalter und Barockzeit mit Gegenwartsinteresse, in: Benini, Marco / Kluger, Florian / Winkel, Benedikt (Hg.), Liturgie im Prozess. Studien zur Geschichte des religiösen Lebens (FS Jürgen Bärsch), Münster 2019, 517-546. Vgl. Brückner (wie Anm. 57), 859; Heinz, Andreas, Volksfrömmigkeit. II. Liturgisch, in: LThK³ 10, 859f, hier 860; vgl. auch KKK 353.
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2.2 Gründe für das geschwundene Interesse an den Phänomenen der Volksfrömmigkeit Dass sich mit dem kirchlich gebundenen Glauben allgemein auch die Volksfrömmigkeit und das volksfromme Brauchtum in einer Krise befinden, ist wohl unbestritten.69 Doch wo sind mit Blick auf die Zielperspektive dieses Beitrags die Gründe für den Rückgang einer praktizierten Volksfrömmigkeit zu verorten? Ludwig Mödl nennt als einen der Gründe, die im Zuge der Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil weit verbreitete Mentalität, mit allem religiös Greifbaren vorsichtig zu werden,70 die jedoch übersehe, dass weniger theologisch gebildete Menschen, „offensichtlich nicht nur ‚Wort-Zeichen‘, sondern auch ‚Sach-Zeichen‘ [brauchen], die ihnen versichern, dass die geistliche Wirklichkeit real wirkend gegenwärtig ist.71 Des Weiteren führt er „die Angst [an], nicht mehr zeitgemäß zu sein.“72 Der Hauptgrund für die schwindende Praxis im Bereich der Volksfrömmigkeit dürfte aber wohl in der Tatsache zu suchen sein, dass viele ihrer überkommenen Formen „ihre Wurzeln im Mittelalter und in der Barockzeit mit ihrem andersartigen Lebensgefühl und Glaubensleben haben und auf agrarischen und handwerklichen Strukturen aufbauen,“73 mit denen sich „die Menschen, die von der Industriegesellschaft durch ein weitgehend historisch-naturwissenschaftliches Denken geprägt sind“74, nicht mehr identifizieren können. Es fehlt der Volksfrömmigkeit also heute an konkreter Lebensrelevanz, die doch eigentlich ihr besonderes Charakteristikum ausmachen sollte und durch die sie über Jahrhunderte hinweg eine Einbindung des Glaubens ins Alltägliche ermöglichte.75 Adolf Adam und Winfried Haunerland nennen als weitere Gründe u. a.:76 - den in breiten Volkschichten fehlenden lebendigen Glauben an Gott, sodass mit seinem Wirken kaum gerechnet wird, - den „Rückgang des Gemeinschafts- und Traditionsbewusstseins“77 und das Schwinden oder Wegbrechen volkskirchlicher Strukturen, 69 70 71
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Vgl. dazu Adam / Haunerland (wie Anm. 65), 144; ebenso Mödl (wie Anm. 8), 162. Vgl. Mödl / Steiner (wie Anm. 7), 71 Ebd., 69. Er kritisiert, dass manches Element aus der Liturgie verschwunden sei, „die als einfache ritualisierte Glaubensträger zu früheren Zeiten in die Alltagswelt der Menschen mitgenommen wurden und einen nicht unerheblichen Schatz volkstümlicher Frömmigkeit darstellten – wie z. B. das öftere Sichbekreuzigen, An-die-Brust-Schlagen, Verneigen u.Ä.“ In solchen Gesten und Zeichen drücke sich das „Bedürfnis [aus], das Wichtige annehmen und festhalten zu können und gerade bei religiös dichten Stellen etwas tun zu dürfen, das ein Gefühl des Übernehmens gibt“ (ebd., 77). Ebd., 72. Adam / Haunerland (wie Anm. 65), 144; vgl. Mödl (wie Anm. 7), 163 und ders. / Steiner (wie Anm. 7), 49f. Adam / Haunerland (wie Anm. 65), 144. Vgl. Mödl (wie Anm. 7), 163. Vgl. Adam / Haunerland (wie Anm. 65), 144. Ebd.; vgl. dazu auch Mödl (wie Anm. 7), 164: „Die gewöhnlichen Verrichtungen wie Essen, Schlafen, Arbeiten, Unterwegssein usw. werden unter den gegenwärtigen Bedingungen anders gestaltet
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- die schwindenden Freiräume außerhalb der Berufstätigkeit, weil diese durch die zunehmende Zahl an Unterhaltungsangeboten und die wachsende Mobilität anderweitig ausgefüllt werden. Die genannten Punkte sind Teil der Überlegungen über die religiöse Gegenwartskultur, mit denen nun die bisherigen Ergebnisse zur Esoterik gebündelt ins Gespräch gebracht werden sollen.
3. Ergebnisse und Perspektiven In den beiden vorausgehenden Punkten wurden einige interessante Informationen über die besondere Anziehungskraft esoterischer Praktiken und deren Gefahren einerseits, sowie über die Gründe für den Rückgang einer gesunden Volksfrömmigkeit andererseits zusammengetragen. Die besondere Attraktivität der sogenannten Gebrauchsesoterik – so wurde klar – dürfte vor allem durch die scheinbare Garantie überall und jederzeit machbaren „spirituellen“ Erlebens begründet sein. Ihre Gefahren liegen, trotz oberflächlich individualistischer und individualisierender Züge, in der starken Tendenz zur Irrationalität und dem schleichenden Verlust der Individualität und Persönlichkeit. Das allmähliche Verschwinden volksfrommer Glaubenspraktiken, zumindest in Westeuropa, ist wohl zum einen auf die sich immer noch rasant verändernden wirtschaftlichen wie sozial-gesellschaftlichen Strukturen zurückzuführen, wurde zum anderen aber auch von bestimmten Kreisen im Namen einer übertriebenen theologischen Rationalität78 zugunsten einer klaren Lehre und eines „gereinigten“ Vollzugs des Gottesdienstes gezielt vorangetrieben.79 Diese Ergebnisse gilt es nun noch abschließend in den Kontext einer eher soziologischen Perspektive der religiösen Gegenwartskultur einzuordnen und vor diesem Hintergrund mögliche Perspektiven anzudeuten. Für viele Soziologen sind der zumindest in Deutschland zu konstatierende abnehmende Gottesdienstbesuch und die zunehmenden Kirchenaustrittszahlen, das als in früheren Zeiten. […] In den früheren Gesellschaften, in denen ein Tagesablauf in Gemeinschaft geplant war und dieser sich mehr oder weniger täglich in gleicher Abfolge vollzog, konnten Morgengebet, Tischgebet, Mittagsgebet und Abendgebet selbstverständlich vollzogen werden. Im Jahresverlauf waren die Bräuche wie Segnungen und Beschwörungen zu bestimmten Tagen selbstverständlich mit den jeweiligen Arbeitsverläufen und den dabei auftretenden Ängsten und Sorgen verbunden.“ Vgl. ähnlich Wendel, Saskia, „… es gibt so viele Menschen so viele Wege gibt’s …“. Eine Positionsbestimmung von Religion und Kirche in der (Post-)Moderne, in: Lebendige Seelsorge 60 (2009), 160-164, hier 161f. 78 Vgl. Mödl / Steiner (wie Anm. 7), 70-72.76.80-85. 79 Vgl. dazu ebd., 32: „Was wir in diesem Zusammenhang bedenken sollten: In vielen Pfarreien finden wir heute als einzige Gottesdienstform die Messe vor, alle anderen Formen sind praktisch abgeschafft. Nun ist ohne Zweifel die Eucharistie Zentrum und Mitte allen gottesdienstlichen Handelns und […] Präsentwerden der Erlösungswirklichkeit und damit ein ‚Erinnern‘ besonderer Dichte. Die Frage ist, wieweit die Menschen dieses ‚Erinnern‘ subjektiv als aktualisierendes Erinnern verstehen und erfahren.“ Vgl. auch Adam / Haunerland (wie Anm. 65), 144f.
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schwindende Interesse an der aktiven Mitarbeit in der Pfarrei vor Ort und die abnehmende dogmatische Gläubigkeit Indikatoren dafür,80 dass das Interesse an Religion, versteht man sie „als ein klar abgegrenztes, in sich geschlossenes und mit einem entsprechenden Wahrheitsanspruch ausgestattetes Ensemble von Glaubenssätzen, Lebensregeln und rituellen Vollzügen“81 in unserer Gesellschaft immer mehr schwindet. „Breiten Konsens [dagegen] erfährt […] Religion im unspezifischen Plural gedacht, als undogmatische, aber wirksame Lebenshilfe.“82 Unter den Bedingungen modernitätsspezifisch gesteigerter Kontingenzerfahrungen dient im letzteren Sinne verstandene Religion vielfach als umfassendes Risikomanagement für das eigene Leben, indem sie in einer immer unübersichtlicher und komplexer werdenden Welt sinnstiftende Orientierung verspricht.83 Mit Hubert Knoblauch ist dabei festzuhalten: „Bei aller Unterschiedlichkeit der inhaltlichen Ausrichtungen, der sozialen Gestaltungen und der kommunikativen Verbreitungsformen zeichnen sich diejenigen Formen der gegenwärtigen Religion, die sich wachsender Beliebtheit erfreuen, durch eine außergewöhnliche Hervorhebung der Erfahrungsdimension aus. Man kann von einer regelrechten Erfahrungsorientierung der Religiosität reden.“84 Zu den wesentlichen Kennzeichen der religiösen Gegenwartskultur zählt nach dem Religionssoziologen Winfried Gebhardt in diesem Zusammenhang deswegen auch die „Selbstermächtigung des religiösen Subjektes“85. Darunter versteht er die Tatsache, dass sich die meisten Menschen heute im Bereich der Religiosität und Spiritualität weniger auf Autoritäten verlassen, sondern aufgrund eigener religiöser Erfahrungen selbst entscheiden wollen.86 „Religion ist eine Frage individueller Verantwortung und Entscheidung geworden; die Moderne hat Religion nicht etwa zerstört, sondern verändert und neue Formen von Religion und Religiosität 80 81 82
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Vgl. Knoblauch (wie Anm. 9), 165. Kögler, Ilse, Patchworkreligion, Theodiversität und eigener Gott – nicht nur eine kommunikative Herausforderung, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 158 (2010), 11-19, hier 11. Ebd.; vgl. dazu auch Ziebertz, Hans-Georg / Riegel, Ulrich / Kalbheim, Boris, Die Gretchenfrage mal anders: Religiöse Stile heutiger Jugendlicher, in: Lebendige Seelsorge 55 (2004), 239-245, hier 239: „Das Christentum ist zumindest im Westen in seiner Funktion als Leitreligion geschwächt, denn es stellt in den Augen vieler Menschen ein Angebot im vielfältigen Feld der Religionen dar, das gleichberechtigt neben anderen steht. Herkömmliche Glaubensformen und Glaubensvollzüge sind im Alltag und Bewusstsein der Jugendlichen zwar noch gegenwärtig, haben aber ihre allgemeine Verbindlichkeit verloren. In der Folge zeigt die Religiosität Jugendlicher stark individuelle Züge, die oft in dezidierter Abgrenzung gegenüber dem kirchlich verfassten Christentum beschrieben werden.“ Vgl. ähnlich Böttigheimer, Christoph, Säkularisierung und neue Religiosität, in: Theologie und Glaube 95 (2005), 134-146, hier 134f. Vgl. Kögler (wie Anm. 81), 14. Knoblauch (wie Anm. 8), 171; vgl. auch Mödl / Steiner (wie Anm. 7), 28: „Das Volk braucht anschauliche Erinnerungen, braucht Gegenstände, braucht Symbole, die mit allen Sinnen, dem Sehen, dem Hören, dem Tasten, dem Riechen und dem Fühlen wahrgenommen werden. Nur Denken und Wollen bleibt abstrakt und wird wie eine Wolke verdunsten.“ Zitiert nach Foitzik, Alexander, „Die eigene spirituelle Erfahrung zählt“. Ein Gespräch mit dem Religionssoziologen Winfried Gebhardt, in: Herder Korrespondenz 64 (2010), 286-290, hier 287. Vgl. ebd. Gebhardt beschreibt die Haltung des „selbstermächtigten Subjekts“ folgendermaßen: „Da wo ich glaube, dass meine spirituellen Bedürfnisse erfüllt werden können, da wo mir gestattet ist, religiöse spirituelle Erfahrungen machen zu können und wo mich das Angebot anspricht, da gehe ich hin.“ Vgl. dazu auch Böttigheimer (wie Anm. 82), 137f.
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entstehen lassen, somit auch eine neue Pluralität ‚gelebter Religion‘.“87 Gerade angesichts der Tatsache, dass in „einem mediatisierten, pluralisierten, individualisierten und sich ständig im Höchstgeschwindigkeitsrausch befindenden gesellschaftlichen Umfeld“88 immer weniger Zeit bleibt, die einzelnen Angebote aus dem relativ diffusen Feld an religiösen und spirituellen Orientierungen zu prüfen, abzuwägen oder deren Hintergründe zu analysieren,89 ergibt sich, dass der heutige Mensch Orientierungshilfe benötigt, um mit dieser neuen Wahlfreiheit umgehen zu können. Für Gebhardt als Soziologen bestimmen auch noch zwei weitere zusammenhängende Prozesse die religiöse Gegenwartskultur: eine Ästhetisierung und eine Verkörperlichung des Religiösen.90 Genauerhin versteht er darunter das zunehmende, „durchaus beobachtbare Bedürfnis, religiöse Erfahrungen mit sozusagen allen Sinnen machen zu wollen, die Sehnsucht nach einem totalen religiösen Erlebnis.“91 Ähnlich konstatiert auch Kreppold, „dass Menschen heute ‚Religion pur‘ suchen; sie möchten mit aller Radikalität wissen, was der letzte Grund ihrer Existenz ist.“92 Dieses Verlangen dürfe jedoch nicht rein kognitiv missdeutet werden. Es beinhalte vielmehr sowohl einen anti-intellektuellen als auch einen antitheologischen Aspekt.93 Bei alledem gehe es den jeweiligen Rezipienten aber weniger um eine umfassende religiöse Prägung des ganzen Lebens als vielmehr um eine Suche nach „außeralltäglichen Fluchtpunkten“94, nach Gelegenheiten, „die es erlauben sich moralisch, geistig und spirituell aufzurüsten“95. Die meisten Menschen seien in ihrem religiösen Suchen geleitet von einer „Sehnsucht nach Orten, wo man das ganz andere erleben kann, nach Erfahrungen, die von einem bedrückenden Alltag situativ entlasten und wieder Kraft geben, diesen Alltag zu bestehen.“96 87
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Wendel (wie Anm. 77), 162; Knoblauch (wie Anm. 8), 165 spricht von einer „Transformation der Religion“ und erläutert dazu: „Religion verflüchtigt sich nicht in eine formlose Religiosität, sie findet vielmehr (mehr oder weniger) neue und eigenständige Formen“. Kögler (wie Anm. 81), 11. Vgl. ebd.; Foitzik (wie Anm. 85), 290. Vgl. ebd., 287; vgl. dazu auch Kögler (wie Anm. 81), 17. Ebenso Hobelsberger, Hans, Jugendkirchen: Auf der Suche nach jugendkulturellen Ausdrucksformen des Glaubens, in: Lebendige Seelsorge 55 (2004), 222-228, hier 223: „Glaube kann ohne eine ansprechende und berührende Ästhetik nicht lebenswirksam oder alltagsrelevant sein, denn viele Sinngehalte des Glaubens lassen sich nur in Zeichen, Metaphern und Symbolen ausdrücken. Glaube lebt von der Erfahrung der Nähe und ‚Wirksamkeit‘ Gottes, die sich rationalen Erklärungsversuchen entzieht und für dessen ‚Kraft, Berge zu versetzen‘, es keine geeichten Messinstrumente gibt. In der theoretisch-systematischen Weltund Existenzdeutung, in den Fragen des moralisch-ethischen Verhaltens ist Kirche ‚gut aufgestellt‘. Die Frage, welche Symbole und Zeichen gelebter Selbstdeutung heutiger Menschen die Präsenz Gottes in dieser Zeit erfahren lassen, scheint, noch dazu wenn die Symbole und Zeichen dem jugendkulturellen Lebensbereich entstammen sollen, vernachlässigt.“ Foitzik (wie Anm. 85), 287. Kreppold (wie Anm. 5), 35. Vgl. Foitzik (wie Anm. 85), 288. Ebd., 289. Ebd. Ebd.
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Zusammenfassend lässt sich die religiöse Gegenwartskultur wohl am besten mit den Begriffen Pluralisierung und Individualisierung sowie Ästhetisierung und Verkörperlichung beschreiben, wobei all diese Entwicklungen der „Logik der Erlebnisorientierung“97 folgen. In solch einem geistigen Umfeld und Erwartungshorizont bieten esoterische Praktiken, im Sinne der Gebrauchsesoterik, vielfältige Möglichkeiten der „religiösen Bedürfnisbefriedigung“. Kirchlicherseits muss der Fehler vermieden werden, all dies zu schnell als Krise und Verfallsgeschichte zu interpretieren. Vielmehr lässt sich diese Entwicklung durchaus als Chance für die Neuevangelisierung verstehen.98 Der „Auftrag der Kirchen von heute besteht ja gerade darin, Kirche mitten in der individualisierten, pluralisierten und globalisierten Gesellschaft zu sein – Kirche in der Welt und doch nicht von dieser Welt, verkündet und bezeugt sie doch eine Botschaft, die über die Welt wie sie ist, hinausgeht als die Botschaft von einem ‚Mehr‘ als das, was ist.“99 Für den Soziologen Gebhardt zeigen gerade die hohe Attraktivität von KerzenGottesdiensten, Lichterprozessionen, Klang- und Lichtinstallationen in und außerhalb von Kirchen und die Anziehungskraft etwa erweiterter Sonntagsgottesdienste mit gemeinschaftlichem Beiprogramm oder religiöser Großereignisse wie der Weltjugendtage, dass es der Kirche auch unter den veränderten gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen immer noch gelingen könne, Religion als ganzheitliches Phänomen mit Körper, Geist und Seele begreifen zu lassen.100 Es fehlt der Kirche also keineswegs an positiven Ansatzpunkten, um auch heute noch in die Breite der Gesellschaft hineinwirken zu können. Jedoch müssen Mittel und Wege gefunden werden, der Tendenz Rechnung zu tragen und ihr entgegenzuwirken, dass religiöse Begeisterung sich häufig auf eben solche Veranstaltungen konzentriert und diese in den meisten Fällen eher Ausnahmecharakter besitzen.101 Damit es auch zukünftig gelingen kann, die Lebens- und Heilsrelevanz des christlichen Glaubens aufzuzeigen, besteht nach Saskia Wendel deswegen eine doppelte Aufgabe für die Kirche: Die „Ausrichtung der Pastoral an die Prinzipien der Subjektivität und der Freiheit einerseits und die Profilierung ihres eigenen ‚entscheidend und unterscheidend‘ christlichen Standpunktes andererseits in der Pluralität ‚gelebter Religion‘.“102 Zu dieser Profilierung gehört es ihrer Meinung nach auch, „auf die Schattenseiten hinzuweisen, die dem Prozess der Individualisierung und Pluralisierung anhaften und somit auf die unbestreitbare Dialektik 97
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Böttigheimer (wie Anm. 82), 139. Auch Knoblauch (wie Anm. 8), 168 betont, „dass diese Erfahrungsorientierung kein individuelles Phänomen ist, sondern zu dem gehört, was seit Schulze als ‚Erlebnisgesellschaft‘ bezeichnet wird.“ Vgl. Wendel (wie Anm. 77), 163; Böttigheimer (wie Anm. 82), 142-144. Wendel (wie Anm. 77), 163. Hervorhebungen im Original. Vgl. Foitzik (wie Anm. 85), 287-288; vgl. auch Böttigheimer (wie Anm. 82), 144: „Im Aufsuchen und in der Begegnung mit der heute gelebten individuellen Religionskultur vermag die christliche Glaubensvermittlung positiv bestärkt zu werden, dem Erfahrungsbereich, d. h. dem Bereich der Emotionen, des Sinnlichen und Erlebnishaften eine größere Bedeutung beizumessen.“ Vgl. Foitzik (wie Anm. 85), 288. Wendel (wie Anm. 77), 160.
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auch der reflexiven Moderne aufmerksam zu machen, wie etwa die Tendenz zur Privatisierung von Religion, die Tendenz zu Ausdrucksformen religiöser Praxis, die eher den Charakter einer Quasireligion haben denn einer Religion, die Tendenz zu einem eudämonistischen Verständnis von Religion, die allein zum eigenen Wohlbefinden und Glück beitragen soll, und schließlich die Tendenz, religiöse Praxis als ‚event‘ oder gar als ‚happening‘ zu erleben und zu gestalten.“103 Die christliche Religion als Heils- und Erlösungsreligion ist weit mehr „als bloße Kontingenzbewältigungspraxis“104, weit mehr als „‚Sozialkitt‘ oder Lückenbüßer pluraler Optionsgesellschaften“105, ihre „Funktion“ besteht wesentlich auch darin, „die gesellschaftlichen Werte kritisch vor die Wahrheitsfrage [zu] stellen.“106 Die Kirche kann und darf sich also nicht damit begnügen, professioneller Anbieter für im weitesten Sinne biographieorientierte punktuelle religiöse Erlebnisse zu sein, bei denen die eher passiven Rezipienten nur an der eigenen Gefühlslage interessiert sind und nicht zu einer zumindest ansatzweisen Reflexion über die eigene Weltanschauung oder Lebensweise veranlasst werden.107 Auf diese Art und Weise würde nur eine „(Sehn-)Sucht nach der Wiederholung der Ekstase produziert.“108 Zwar werden biographische Lebenswenden immer Ansatzpunkte für kirchlich-pastorales Handeln sein und bleiben, da ja gerade die Sakramente der Kirche „auf grundlegende Bedürfnisse der Menschen angelegt“109 sind bzw. dort ansetzen, „wo Menschen beschützt, angenommen und anerkannt sein wollen.“110 Doch die an sich durchaus angestrebte Erfahrung des Außeralltäglichen darf eben nicht nur eine kurzzeitige Flucht aus dem Alltag zur Lebenskompensation sein, sondern muss vielmehr zu bleibender Sinngebung für den Alltag führen.111 Das aber kann nur erreicht werden, wenn mit lebensnahen und erfahrungsgefüllten religiösen Formen immer auch die Vermittlung von Glaubenswissen, in Form einer den Sinn der jeweiligen Handlungen erschließenden Katechese, verbunden ist.112 Nie darf die Frage nach religiösen Inhalten hinter die Bedeutung der religiösen Ausdrucksformen zurücktreten.113 Gerade für die Bewältigung dieser Herausforderungen könnte eine in unseren Breitengraden neu verlebendigte Volkfrömmigkeit hilfreich sein.114 Dabei kann es freilich nicht darum gehen, Formen der Vergangenheit nostalgisch in die Gegen103 104 105 106 107 108 109 110 111 112
Ebd., 163f. Böttigheimer (wie Anm. 82), 143. Ebd. Ebd., 144. Vgl. Hobelsberger (wie Anm. 90), 226. Ebd. Mödl / Steiner (wie Anm. 7), 43. Ebd. Vgl. Foitzik (wie Anm. 85), 289. Vgl. Mödl / Steiner (wie Anm. 7), 28: „Das Verkündigungselement darf in der Segenspraxis nicht ausgeschlossen bleiben.“ 113 Vgl. Böttigheimer (wie Anm. 82), 142. 114 Vgl. zum Anliegen Baumgartner, Jakob (Hg.), Wiederentdeckung der Volksreligiosität, Regensburg 1979; Adam / Haunerland (wie Anm. 65), 145f.
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wart zu kopieren, da dies die Gründe für ihr Abnehmen nicht berücksichtigen würde.115 Vielmehr können Anregungen aus der Tradition aufgegriffen und in gegenwartsensibler Weise pastoralliturgisch neu fruchtbar gemacht werden. Im Jahr 2003 wiesen die beiden Päpstlichen Räte für die Kultur und den Interreligiösen Dialog in ihrem gemeinsamen Schreiben „Jesus Christ – The Bearer of the Water of Life“ darauf hin, dass man anerkennen sollte, „dass die Anziehungskraft, die die Religiosität des New Age [und natürlich auch die vielen anderen (post-)modernen religiösen Strömungen] auf einige Christen hat, teilweise einem Mangel an echter Aufmerksamkeit in den eigenen (christlichen) Gemeinschaften für Themen geschuldet ist, die zum Ureigensten des katholischen Glaubens gehören.“116 Die Existenz und die Leidenschaft des New-Age-Denkens und seiner Praxis, esoterische Suchbewegungen und „säkularreligiöse Momente in der Lebenswelt junger Menschen“117 zeugen letztendlich nur von der unauslöschlichen Sehnsucht des menschlichen Geistes nach Transzendenz und religiösem Sinn, ja bestätigen eine menschliche Grund- oder Urerfahrung: „Als Menschen sind wir immer schon über uns und unsere Welt hinaus, wir transzendieren uns selbst.“118 Deswegen setze die Kirche, so Kreppold, „dem blind auswuchernden Trachten nach sensationellen Neuheitserfahrungen, nach euphorischen Zuständen, aber auch nach einer falsch verstandenen Religiosität am ehesten dadurch eine Grenze, dass wir Themen aufgreifen, die im Raum der Esoterik maßgebend sind, sie durchleben und durchleiden und aus einem verantworteten geistigen Hintergrund gangbare Wege aufzeigen.“119 Es gilt diese Herausforderung offensiv anzunehmen, „nicht auf der rein akademisch-intellektuellen Ebene und nicht ohne volles persönliches Engagement“120, denn auch die Wahrheit, die Jesus vertreten hat, war keine abstrakte Lehre, sondern vielmehr höchst personal – sie war er selbst.121 „Das konkrete Leben ist der Ort, an dem verkündet werden muss und an dem das Verkündete verstanden wird.“122 Das bedeutet, „dass die alltäglich-konkrete Welt von Familien und sonstigen Gemeinschafts-Verbänden durch den christlichen Glauben [wieder 115 116
117 118 119
120 121 122
Vgl. den Punkt 2.2. in diesem Beitrag. Päpstlicher Rat für die Kultur / Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog (wie Anm. 17), Vorwort (im pdf S. 3); ebd., 5 wörtlich: „Der Erfolg des New Age ist für die Kirche eine Herausforderung. Die Menschen spüren, dass die christliche Religion ihnen nicht mehr das bietet – oder vielleicht nie geboten hat – was sie wirklich brauchen. Die Suche, die Menschen häufig in das New Age führt, ist ein ehrlicher Wunsch nach Spiritualität, nach etwas, das ihre Herzen berührt und nach einem Weg, einer verwirrenden und oft entfremdenden Welt Sinn zu geben.“ Böttigheimer (wie Anm. 82), 140. Ebd., 141. Kreppold (wie Anm. 5), 37-38. Er führt dort weiter aus: „Um sie kurz zusammenzufassen. Es ist die Suche nach Einheit von allem, nach einem Zuhause in der Verlorenheit einer technisierten Welt; es ist die Sehnsucht nach etwas Größerem als man selbst ist; nach etwas, was einen der Einsamkeit und dem seelischen Druck, der Angst vor der Zukunft und vor der Vergänglichkeit entreißt. Es ist die Ahnung, dass es noch andere Zugänge zur Wirklichkeit gibt, vielleicht auch ein Dasein, das dieses Leben übersteigt.“ Ebd., 30. Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., 29. Mödl / Steiner (wie Anm. 7), 23.
Die „Gebrauchsesoterik“ als Anfrage an den christlichen Glauben
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neu] eine Gestaltung erfahren sollte.“123 Gelingen könnte dies durch „Kurzunterbrechungen, in welchen die Gottwirklichkeit in den Blick kommt durch erinnernde Gebete und durch das Benützen von Gegenständen oder Symbolen.“124 Einige Beispiele mögen das Dargestellte verdeutlichen und anzeigen, inwiefern Formen der Volksfrömmigkeit den genannten Kennzeichen religiöser Gegenwartskultur entsprechen und daher eine mögliche Antwort der Kirche auf die pastoralen Herausforderungen sein können. Der Individualisierung entspricht etwa die Einzelsegnung, die auf die individuelle Situation, auf den Wunsch nach Segen oder auf ein Bedürfnis des Menschen nach Schutz Bezug nimmt.125 Beispielsweise werden Segensandachten für werdende Mütter und Väter mit integrierter Handauflegung und Einzelsegnung sehr positiv aufgenommen. Im Rahmen dieser Feiern kann durch eine Kurzkatechese auf die Bedeutung des Elternsegens kraft des gemeinsamen Priestertums aus Taufe und Firmung hingewiesen werden. Solche Andachten erweisen sich vielfach als positiver „Erstkontakt“ noch lange vor dem Taufgespräch.126 Als Beispiele aus der Tradition, die auch heute beliebt sind, lassen sich die Kindersegnung (z. B. am Schutzengelfest),127 der Blasiussegen (3. Februar), die Fahrzeugsegnung am Gedenktag des heiligen Christophorus (24. Juli), die Segnung des Johannesweines (27. Dezember) oder die Speisensegnung an Ostern anführen,128 ebenso aber auch neuere Formen wie etwa die Urlaubersegnung vor dem Beginn der Sommerferien, wenn jene, die in der kommenden Woche verreisen, am Ende eines regulären Sonntagsgottesdienstes einen Segen erhalten. Eine andere, von den Verfassern ebenfalls selbst praktizierte Form ist die Segnung der Abiturienten oder Abschlussschüler am Sonntag vor dem Beginn der Prüfungszeit, wo ein persönliches, frei formuliertes kurzes Segensgebet den Einzelnen zugesprochen wird. Teilweise ist er geradezu berührend, wie die Schriftlesungen des Sonntags auch zu dieser Situation sprechen und entsprechend auf mehreren Ebenen ausgelegt werden können, etwa „Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage 123 124 125
Ebd. Mödl (wie Anm. 7), 164. Dies steht – unter veränderten Bedingungen, aber wegen ähnlicher anthropologischer Grundbedürfnisse – in einer gewissen Kontinuität mit der mittelalterlichen Volksfrömmigkeit, bei der die Segnungen einen wichtigen Teil ausmachten. Vgl. hierzu Franz, Adolf, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter. 1-2, Freiburg i. Br. 2006 [Nachdruck von 1909]; Kaczynski, Reiner, Die Benediktionen, in: Kleinheyer, Bruno / Severus, Emmanuel von / Kaczynski, Reiner (Hg.), Sakramentliche Feiern II. Ordinationen und Beauftragungen, Riten um Ehe und Familie, Feiern geistlicher Gemeinschaften, die Sterbe- und Begräbnisliturgie, die Benediktionen, der Exorzismus, Regensburg 1984 (GdK 8), 233-274. 126 Dies geht auf die Erfahrungen von Michael Wohner in der Pfarrei Weißenburg zurück. – Vgl. zum Muttersegen im Rituale Romanum 1614 und in der Collectio Rituum von 1950 für Diözesen Deutschlands Kaczynski (wie Anm. 125), 257. 127 Vgl. Benini, Marco, Wie ein Regenschirm. Andacht zum Schutzengelfest mit Einzelsegnung, in: Praxis Gottesdienst 2016/8, 1-3. 128 Vgl. Benediktionale. Studienausgabe für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Erarbeitet von der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Liturgischen Kommissionen im Deutschen Sprachgebiet. Hg. von den Liturgischen Instituten Salzburg – Trier – Zürich. Freiburg i. Br. [u. a.] 2007 (PLR-GD).
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Michael Wohner / Marco Benini
nicht.“129 Meditative Orgelmusik untermalte die Segnung. Die vielfältigen Möglichkeiten zeigen zugleich die Pluralisierung an, der die Kirche mit diesen Formen zu begegnen versucht, die alle die Gegenwart Gottes in den Alltagsbereich vermitteln wollen. Für die zuvor genannte Verkörperlichung oder die Erfahrungsorientierung kann auch das wieder neu populär gewordene Pilgern130 genannt werden, bei dem sich Menschen einzeln oder vor allem als Gruppen auf den Weg machen, sei es zu den großen Wallfahrtszielen wie Jerusalem, Rom, Santiago, Lourdes oder Fatima, sei es zu den Bistumspatronen oder einer Wallfahrtskirche in der näheren Umgebung. Gerade Pfarreipilgerfahrten erweisen sich pastoral als nachhaltige Erfahrung für die Teilnehmer und stärken gleichzeitig das Zusammengehörigkeitsgefühl, zumal das gemeinsame Unterwegssein „pilgernde Kirche“ konkret erleben lässt. Dabei lässt sich vielfach eine Offenheit für die Verkündigung der Schrift und das Leben der aufgesuchten Heiligen feststellen. Auch klassische Formen wie das Rosenkranzgebet gewinnen auf diese Weise wieder neu Bedeutung. Noch andere Beispiele ließen sich nennen, doch dürfte das Anliegen deutlich geworden sein: Es gilt auch heute Menschen einen Zugang zur lebendigen und attraktiven Wirklichkeit der Gegenwart Christi zu eröffnen und ihnen diesen Schatz nicht vorzuenthalten. Ein mögliches Instrumentarium dafür sind die Sakramentalien und auch neu zu findende Formen, die dabei helfen können, die Sehnsucht der Menschen nach seelischer Tiefe und Transzendenz einerseits und religiösem Erfahren andererseits aufzugreifen und zu erfüllen. Sie dienen dazu, den Menschen nicht nur in ihrer spirituellen und menschlichen Not von Seiten der Kirche das zu vermitteln, was sie suchen – nämlich „Verstehen, Ernstgenommen-Werden, Tiefe“131 –, sondern den christlichen, kirchlich verfassten Glauben als alltägliche Lebenshilfe verstehen zu lassen und ganzheitlich erfahrbar zu machen.132 Denn: „Alles im Glauben ist für den Menschen da, um ihn mit Gott in Kontakt zu bringen und so sein Leben wertvoll zu machen.“133
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Joh 14,27 (6. Sonntag der Osterzeit). Vgl. exemplarisch Kerkeling, Hape, Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg, München 102006; vgl. zur mittelalterlichen Pilgerfrömmigkeit etwa Bärsch, Jürgen, „Accipe et hunc baculum itineris“. Liturgie- und frömmigkeitsgeschichtliche Bemerkungen zur Entwicklung der Pilgersegnung im Mittelalter, in: Benini / Kluger / Winkel (wie Anm. 68), 185-209. 131 Kreppold (wie Anm. 5), 74. 132 Vgl. Mödl (wie Anm. 7), 164. 133 Mödl / Steiner (wie Anm. 7), 270.
Der Mensch als homo viator
Pilgern als Option in postmoderner Zeit
Eva-Maria Gärtner
1. „Ich bin dann mal weg“ (Hape Kerkeling) Pilgerreisen liegen im Trend. Es ist modern, sich pilgernd auf den Weg nach Rom, Jerusalem, Santiago de Compostela oder zu anderen heiligen Orten zu machen; das gesellschaftliche Verlangen danach ist groß. Auffällig ist, dass die Anzahl an Pilgerreisen stets weiter zunimmt. Angebahnt und verstärkt wird dies durch ein vielfältiges diesbezügliches mediales Angebot, sei es in literarischer Form oder durch Filmmaterial. In literarischer Hinsicht steht das Thema der Pilgerreise in einer langen Tradition.1 Verwiesen werden muss in diesem Zusammenhang natürlich auch auf Hape Kerkelings Bestseller über seine Pilgererlebnisse auf dem Jakobsweg2; seine Aufzeichnungen sowie die filmische Adaption seiner Erfahrungen haben enorm zur Bedeutungssteigerung der Spanienwallfahrten beigetragen. Beachtenswert scheint, dass auch immer stärker Jugendliche und junge Erwachsene Interesse an Wallfahrten zeigen. So stellt sich die Frage, aus welchen Gründen Pilgerreisen originär christlichen Ursprungs eine enorme Popularität verzeichnen. 3 Warum fühlen sich viele Menschen von diesen traditionellen Mustern christlicher Spiritualität in solch existentieller Weise angesprochen, obwohl gleichzeitig andere der christlichen Tradition anhaftende Formen Menschen weniger zu erreichen scheinen? Welche Gründe bewegen sie dazu? Diesen Aspekten soll im Folgenden nachgegangen werden. Dazu wird in einem ersten Kapitel im Sinne eines historischen Diskurses auf die Entwicklung der christlichen Pilgerreise eingegangen, wobei nur einzelne Schlaglichter beleuchtet werden können. In einem zweiten Schritt erfolgt die Auswertung aktueller Statistiken zum Pilgeraufkommen auf dem Jakobsweg. Vor einem Fazit soll im dritten Kapitel eine Reflexion über den Rele1 2 3
Vgl. dazu beispielweise Möde, Erwin, Spiritualität und Hermeneutik, Text und Sinn – Mystik und Transformation (= Eichstätter Studien 79), Regensburg 2018, bes. 155-197. Vgl. Kerkeling, Hape, Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg, München 102006. Trotz der hier verwendeten traditionellen Terminologie des Pilgerns und des Wallfahrens müssen die zugrundeliegenden Motivationsfaktoren der Pilgernden selbstverständlich stets für den Einzelfall geprüft und kritisch hinterfragt werden, da sie heute über die klassisch religiöse Motivation hinausgehen.
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vanzgewinn von Pilgerreisen in der Postmoderne4 stattfinden, um so damit in Verbindung stehende Chancen für die christliche Spiritualität ableiten zu können.5
2. Historische Aspekte der Entwicklung der Pilgerreise Pilgerreisen sind keine genuin christlichen Erfindungen; ihren Ursprung hat die christliche Ausprägung in der Wallfahrtstradition des Alten Testamentes. Das israelische Volk teilt mit vielen seiner Nachbarstaaten unterschiedliche Kultformen, beispielsweise Opferfeiern, Festzeiten oder auch das Wallfahrtswesen. Als Motive der Wallfahrten können u. a. die dankbare Anamnese des Exodus aus Ägypten sowie der Dank für die jährliche Ernte im Rahmen der drei bedeutenden jüdischen Wallfahrtsfeste Pessach, Schawuot und Sukkot ausgemacht werden.6 Ein besonders beeindruckendes Zeugnis der Pilgertätigkeit der alttestamentlichen Tradition stellen die Wallfahrtspsalmen dar: „Zum Haus des Herrn wollen wir pilgern“ (Ps 122,1). Die Wallfahrten werden zu einem konstitutiven Element des wachsenden Vertrauens, der starken und unerschütterlichen Verbindung sowie der Hingabe an Gott. „Er lässt deinen Fuß nicht wanken; er, der dich behütet, schläft nicht. Nein, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht. Der Herr ist dein Hüter, der Herr gibt dir Schatten; er steht dir zur Seite. Bei Tag wird dir die Sonne nicht schaden noch der Mond in der Nacht. – Der Herr behüte dich vor allem Bösen, er behüte dein Leben. Der Herr behüte dich, wenn du fortgehst und wiederkommst, von nun an bis in Ewigkeit.“ (Ps 121,3-8). Tief geprägt von der jüdischen Tradition, macht sich auch Jesus auf zur Pilgerreise. Er begibt sich mit seinen Eltern auf Wallfahrt zum Tempel, in das Zentrum Jerusalems, wobei sie sich in den großen Strom der Pilgernden einreihen. Beeindruckend ist wohl bereits damals die Zahl an Pilgerwilligen. Gnilka weist darauf hin, dass „die Zahl der nach Jerusalem zum Paschafest ziehenden Pilger […] groß [war]. Sie kamen nicht nur aus Judäa und Galiläa, sondern auch aus der Diaspora.“7 Diesbe4
5
6 7
Eine ausführliche Definition des Begriffes „Postmoderne“ ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Grundgelegt wird hier die Definition von Voßhenrich, Tobias, AnthropoTheologie. Überlegungen zu einer Theologie, die aus der Zeit ist, Paderborn 2007, 29-64, hier 30, der für dieses Zeitalter von einer modernen Essenz ausgeht, wenn auch „in einer radikalisierten Weise“ und „bisweilen erst im ‚Wider‘ zur Moderne zur Geltung gelangend“. In allen Kapiteln ist bezüglich der Entfaltung der einzelnen Thesen notwendig, eine Schwerpunktbildung vorzunehmen, da aufgrund des Umfanges des Artikels eine umfassende und erschöpfende Darstellung nicht möglich ist. Vgl. May, Christof, Pilgern. Menschsein auf dem Weg (= Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 41), Würzburg 2004, 7. Gnilka, Joachim, Jesus von Nazaret: Botschaft und Geschichte, Freiburg i. Br. 1990, 274.
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zügliche Schätzungen belaufen sich auf 125.000 Menschen; werden dazu die 55.000 Einwohner der Stadt selbst addiert, ergibt sich eine beachtliche Zahl von bis zu 180.000 Menschen in der Phase der Festtage in Jerusalem.8 Jesus selbst verneint diese Tradition nicht; er übt jedoch Kritik an der auf das Heiligtum fixierten sowie an die kultischen Vollzüge gebundenen Heilssicherheit.9 Im Zuge der nachösterlichen Verkündigung über Jesus verliert die Wallfahrt an Bedeutung; durch seinen Erlösungstod wird Jesus selbst zum Tempel, zum heilbringenden Pilgerziel.10 Speziell im 4. Jahrhundert erlebt das christliche Pilgerwesen einen enormen Aufschwung. Angestoßen wird diese Entwicklung vorrangig von aus dem Westen des Imperiums stammenden, wohlhabenden Aristokratinnen; zu nennen sind hierbei u. a. Kaiserin Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, Melania die Ältere, Egeria, Paula oder auch Poimenia. Diese machen sich in spätantiker Zeit pilgernd auf den Weg, vor allem in das Heilige Land. Neben religiöse Motive treten in dieser Zeit kirchenpolitische, gesellschaftlich-emanzipatorische Faktoren sowie eine gegenseitige Beeinflussung der Pilgerinnen.11 Besonders bemerkenswert ist die Leistung dieser Persönlichkeiten, da die genannten Unternehmungen aufwendig, mühsam und vor allem gefährlich sind. Exemplarisch sind weiterhin Wallfahrten nach Rom zu den zahlreichen christlichen Märtyrern und Heiligen aus frühchristlicher Zeit zu nennen.12 Auswirkungen zeigen sich beispielweise außerdem auf sich stetig neu entwickelnde und sich modifizierende liturgische Formen13 sowie auf die steigende Bedeutung der Reliquienverehrung, die maßgeblich durch die Pilgertätigkeit angestoßen wurde und für die Frömmigkeit des Früh- und Hochmittelalters prägend sein wird.14 Die in der Spätantike angestoßene Entwicklung des Pilgerwesens setzt sich anschließend fort; so kommt es zu einer deutlichen Belebung der christlichen Pilgerfrömmigkeit, die sich über das Mittelalter, wobei die Pilgerfahrt als Ausdruck des Glaubens zu sehen ist, zur Frühen Neuzeit15 bis heute fortsetzt; der Bereich des Pilgerns ist demzufolge ein Phänomen der longue durée, auch wenn die zugrundeliegende Motivik einem Transformationsprozess unterworfen ist.
8 9 10 11 12 13 14 15
Vgl. dazu Gnilka (wie Anm. 7), 274. Vgl. Söding, Thomas, Die Tempelaktion Jesu, in: TThZ 101 (1992), 26-64, hier 61. Vgl. Gnilka (wie Anm. 7), 279f. Vgl. Gärtner, Eva-Maria, Heilig-Land-Pilgerinnen des lateinischen Westens. Eine prosopographische Studie zu ihren Biographien, Itinerarien und Motiven, Münster 2019 [im Druck]. Vgl. Herbers, Klaus, Spiritualität des Pilgerns, Geistliches Pilgern im späten Mittelalter, in: Unterwegs sein 35/Heft 1 (2009), 13-18, hier 13. Vgl. Bärsch, Jürgen, Liturgien der Wallfahrt. Gottesdienstliche Aspekte des Wallfahrtsgeschehens in Mittelalter und Neuzeit, in: Liturgisches Jahrbuch 61 (2011), 23-44. Vgl. Herbers (wie Anm. 12), 13. Vgl. ebd., 14-18.
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3. Pilgern auf dem Jakobsweg – eine Auswertung aktueller Daten und Statistiken Gegenwärtig kommt dem Pilgern auf dem Jakobsweg besondere Aufmerksamkeit zu; speziell der bereits eingangs erwähnte Erfahrungsbericht von Hape Kerkeling trug maßgeblich zur Popularität des Pilgerwesens bei. Beim Blick auf die autorisierte Pilgerstatistik den Jakobsweg betreffend, die vom offiziellen Pilgerbüro Santiago herausgegeben wird, ist zum einen ersichtlich, dass die Anzahl an Pilgerinnen und Pilgern, die Santiago de Compostela erreichen, von Jahr zu Jahr kontinuierlich ansteigt. Die Zahl derjenigen, die am „Zielpunkt“ Santiago ankommt, hat sich in einem Zeitraum von zwölf Jahren knapp verdreifacht. Wurden im Jahre 2006 100.377 Pilgerinnen und Pilger gezählt,16 waren es im vergangenen Jahr 2018 bereits 327.378.17 Zum anderen lohnt ein Blick auf weitere statistische Details für das Jahr 201818. Einerseits wird hierbei deutlich, dass es in Bezug auf die Geschlechterverteilung der Pilgernden eine nahezu paritätische Zusammensetzung von Frauen (50,35%) und Männern (49,65%) gibt. Der Großteil der Pilger und Pilgerinnen, knapp über 90 %, bewegt sich dabei zu Fuß fort. Interessant ist die Altersstruktur; ein Großteil der Pilgernden ist zwischen 30 und 60 Jahre alt (54,81%), jedoch rund ein Viertel der Erfassten unter 30. Die Motive, die zur Aufnahme der Pilgerreise führen, sind divers. 42,78% der befragten Pilgerinnen und Pilger gibt eine rein religiöse Motivation an, circa 10% haben keinen religiösen Hintergrund; die Mehrheit der Befragten (47,87%) nennt eine Kombination aus religiösen und anderen Motiven. Dies scheint sich bei einem Vergleich der Reisemotivationsfaktoren seit dem Jahr 2003 als repräsentativ zu erweisen; lediglich in den Jahren 200419 und 201020 überwiegt der religiöse Antrieb, der jedoch in den einschlägigen Dokumenten nicht weiter spezifiziert wird. Der Pilgerreise, unabhängig von religiös motivierten Antriebsfaktoren, kommt eine hohe Bedeutung zu; sie scheint sinnstiftende Funktion für den Menschen im 21. Jahrhundert einzunehmen. Nachfolgend sollen mögliche Gründe dafür in Auswahl beleuchtet werden.
4. Pilgern in postmoderner Zeit Die zunehmende Bedeutung der Pilgerreisen in den vergangenen Jahren ist offensichtlich, der soeben thematisierte Gang auf dem Jakobsweg ist repräsentativ für 16 17 18 19 20
Vgl. „Peregrinaciones 2006“ (PDF-Dokument), in: https://oficinadelperegrino.com/en/statistics/ [Zuletzt aufgerufen am 22. Februar 2019]. Vgl. ebd. Alle nachfolgenden Daten wurden dem PDF-Dokument „Peregrinaciones 2018“ entnommen (wie Anm. 16). Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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weitere Unternehmungen.21 Das Pilgern scheint eine Form von Frömmigkeit zu sein, die dem Menschen in der heutigen, postmodernen Zeit entspricht. Die in den vergangenen Jahren rasant gestiegene Zahl an Pilgernden ist einerseits auf äußere Faktoren zurückzuführen. Wenngleich Pilgerreisen, je nach Ausprägung, auch heute noch mit einem hohen Vorbereitungsaufwand verbunden sind, sind sie dennoch für ein breites Publikum zugänglich, erschwinglich und durchführbar, was im Gegensatz dazu beispielsweise für die Zeit der Spätantike in Bezug auf Unternehmungen, denen eine große Distanz zwischen Ausgangs- und Zielort innewohnt, nicht zutreffend ist, da sich zu dieser Zeit solch aufwendige, gefährliche und kostspielige Reisen lediglich besonders privilegierte Kreise – wie im ersten Kapitel gezeigt wurde – leisten konnten. Andererseits muss festgehalten werden, dass verschiedene, die Postmoderne und die Individuen dieser Zeit prägende Faktoren, den Aufschwung der Wallfahrt begünstigen. Offenkundig werden Pilgerinnen und Pilger in der heutigen Zeit nicht nur durch religiöse Antriebe bewegt; auch weitere Gegebenheiten und Faktoren, die das Bedürfnis nach Pilgerreisen begünstigen, sind entscheidend. Zu nennen sind beispielweise das Interesse an der Geschichte sowie an kulturellen Aspekten fremder Länder, die die Betroffenen pilgernd durchqueren, die Möglichkeit zu einer Entschleunigung des Alltags, das einfache Leben, geprägt von Einsamkeit sowie der Ruhe auf dem Weg unabhängig von der Hektik sowie der Lautstärke des alltäglichen Lebens, Abenteuerlust oder das sportliche Erleben in Naturlandschaften. Menschsein in der Postmoderne wird häufig in Verbindung gebracht mit einem „Erfahrungs- und Erlebnishunger“22. May spricht von einer ästhetischen Orientierung in der Gesellschaft: „Auf völlig unterschiedliche Art versuchen Menschen, ihr Leben als eine Abfolge von Erlebnismöglichkeiten zu gestalten.“23 Auch hinsichtlich geographischer Gegebenheiten zeichnen sich in der Postmoderne neue Tendenzen ab. Aufgrund beruflicher Faktoren sowie der besseren Erlebnisangebote ist die Absicht zur höheren Frequentierung der Stadtzentren sowie deren Vororte zu verzeichnen. Des Weiteren tritt neben die durch die an einer Zeitersparnis gemessenen hohen Mobilität und Flexibilität sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich Auseinandersetzung mit einem durch die Vielzahl der Selbstverwirklichungsangebote bedingten indifferenten Individualismus.24 Auch Voßhenrich verweist auf die Paradoxien dieses Zeitalters; dazu gehöre „eine eigentümliche Dialektik von Entgrenzung und Begrenzung, von Autonomie und Abhängigkeit. […] Der Erfahrung größer werdender Freiheit und zeitlicher und räumlicher Entgrenzung korrespondiert das Empfinden der Fragmentierung 21
May (wie Anm. 6), 1 weist hierbei darauf hin, dass sich neben traditionellen Wallfahrten „in der gegenwärtigen Gesellschaft modifizierte Formen von Pilgerschaft [finden]: Menschen pilgern zu großen Medienereignissen, ‚events‘ werden zu Pilgerzielen der Postmoderne“. 22 Voßhenrich (wie Anm. 4), 334. 23 May (wie Anm. 6), 187. 24 Vgl. ebd., 186.
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der eigenen Lebenswelt“25. Das postmoderne Individuum nimmt sein Leben immer mehr in ambivalenter Weise wahr und bemerkt eine diesbezügliche Unübersichtlichkeit: In der „Fragilität, Mobilität und Schnelligkeit erweist […] sich [das Leben] mitunter als dem menschlichen Zugriff entzogen.“26 Eine Lösung aus konventionellen und traditionellen Mustern ist auffällig. Dies ist auch für den religiösen Bereich feststellbar, wobei sich die pluralistische Offenheit sowie die Mobilität auch hier manifestieren.27 Das Erlebnis sucht das Individuum auch im religiösen Sektor: „Eklektizistisch sucht […] [es] sich jene Religiosität, die seinem momentanen religiösen Bedürfnis am besten entspricht.“28 Die unüberschaubare Vielfalt der Angebote, mit denen der postmoderne Mensch immer wieder aufs Neue konfrontiert wird, impliziert zunehmend eine Suche nach einem „sinnstiftenden System“29 für das eigene Dasein. Hinsichtlich der Bewältigung einiger soeben angesprochener Problemfelder vermögen Pilgerreisen Ansatzpunkte zu geben, die nachfolgend exemplarisch angeführt werden sollen. Der Pilgernde hat die Möglichkeit, im Zuge seiner Reise einen kurzen Halt zu machen und den ihn vereinnahmenden Alltag zu unterbrechen. „An-halten ist eine Form des Unterbrechens, die dazu geeignet ist, sich immer neu inmitten der gleichzeitigen Aufsprengung und Erosion räumlicher Dimensionen zu ver-orten“30. Dabei ist das „Zur-Ruhe-Kommen“ und „Das-zu-sichselbst-Finden“ im Laufe der Pilgerreise ein entscheidender Faktor; eine intensive Reflexion der eigenen Lebenswirklichkeit kann stattfinden. Dies korrespondiert mit dem Aspekt, wonach „die eigene Kontingenz und ihre Deutung eine Grundfrage der menschlichen Existenz“31 ist, die auch in der Postmoderne zunehmend Relevanz erhält. Voßhenrich weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass hierbei „der Nexus von Individualisierung […] und der gesteigerten Virulenz religiöser Daseinsbewältigung“ herausgestellt werden müsse. Der Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens kann somit nachgegangen werden, dieser kann regelrecht „aufgesucht“32 werden. Der Gedanke, das Ziel der Reise zu erreichen, lassen den Pilger und die Pilgerin immer weiter auf seinem oder ihrem Weg vorankommen. Relevanz scheint hierbei vor allem das Faktum zu besitzen, dass die Pilgernden auf ihrem Weg, den diese immer weiter zurücklegen, Parallelen zu ihrem eigenen Leben erkennen, positiver wie negativer Art. So ist er oder sie wohl beeindruckt von Begegnungen oder nimmt die Gastfreundschaft an, ist aber auch mit Faktoren wie Unsicherheit, Fremde und Grenzhaftigkeit auf der Suche nach dem Sinngebenden auf seiner 25 26 27 28 29 30 31 32
Voßhenrich (wie Anm. 4), 340. Ebd. Vgl. May (wie Anm. 6), 186; 191. Ebd., 191. Ebd., 192. Voßhenrich (wie Anm. 4), 332. Ebd., 333. Ebd., 334 weist in diesem Kontext darauf hin, dass es „um eine durch den Individualisierungsprozess katalysierte gesteigerte Beschäftigung mit dem eigenen Ich gehe“.
Der Mensch als homo viator
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Reise konfrontiert.33 Anders formuliert wird die Pilgerreise „zu einer VerÄußerung der bis dahin gemachten Lebenserfahrungen […,] [sie ist] äußerer körperlicher Ausdruck innerer menschlicher Grundvollzüge“34. Besonders die letztgenannten Motive der Mobilität sowie der Flexibilität, denen der Mensch in der Postmoderne kaum auszuweichen vermag, sind im Zusammenhang mit der Pilgerreise entscheidend, da sich diese Motive, freilich in modifizierter Weise, dort wiederfinden. Wird die Pilgerfahrt als Sinnbild menschlichen Daseins interpretiert, steht also der homo viator im Mittelpunkt der Betrachtung, kann diese somit eine Zielausrichtung ausweisen.
5. Fazit Aufgrund der vorherigen Auseinandersetzung wird ersichtlich, dass Wallfahrten den heutigen Menschen existentiell angehen und prägen. Das „Auf-dem-Weg-sein“ stellt für Menschen unterschiedlicher Sozialisation eine bereichernde Möglichkeit dar und befriedigt die Suchbewegung des Menschen in der durch die Individualisierung geprägten Postmoderne, weshalb solche Unternehmungen auch verstärkt wahrgenommen werden. Nicht zuletzt ist dies darauf zurückzuführen, dass die den postmodernen Menschen stets konfrontierenden und herausfordernden Erfahrungen von Mobilität und Flexibilität in der Pilgerreise immanent sind. Die Konstitutiva des Pilgerns machen demnach die Charaktermerkmale der postmodernen Gesellschaft aus, wenn auch in modifizierter Weise.35 Der große Relevanzgewinn der Pilgerreisen bietet auch für einige Bereiche des kirchlichen Lebens Möglichkeiten, die es zu nutzen gilt. Anknüpfungspunkte sind beispielweise im Bereich der Pastoral denkbar; Pilgerwillige auf ihrem Weg zu begleiten, sie zu ermuntern und ihnen auf diese Weise wieder stärker den Blick für oder auf den Glauben hin zu richten und zu öffnen, scheinen lohnenswerte Optionen zu sein. Den einzelnen Pilger und die einzelne Pilgerin als Teil des pilgernden Gottesvolkes zu sehen und diesem oder dieser in Bezug darauf neue Impulse geben zu können, ist eine Möglichkeit, die sich als äußerst lohnenswert erweisen kann und daher angestrebt werden sollte.
33 34 35
Vgl. May (wie Anm. 6), 1. Ebd. Vgl. dazu auch ebd., 183.
Wettersegen oder Blitzableiter?
Anthropologie und Theologie im Spiegel der Benediktionsliturgie „aufgeklärter“ Ritualien
Jürgen Bärsch Wer nach einer theologischen Anthropologie für das 21. Jahrhundert fragt, wird nicht nur eine kritische Zeitdiagnose der gegenwärtigen Veränderungen und Umbrüche vornehmen. Er tut gut daran, auch die großen Wandlungsprozesse der Vergangenheit zu beachten, die in einer longe durée weiterwirken und wesentliche Impulse in die heutige Zeit vermitteln. Zu den bis heute fortwirkenden, tief prägenden Kräften gehört zweifellos die Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts. Mit ihr trat der Mensch mit seinem Potenzial kritischen Denkens, mit Rationalität und Vernunft in den Mittelpunkt. Zwar hatte Religion nach wie vor eine große Bedeutung für das Alltagsleben, sah sich aber zunehmend durch die Erkenntnisse und Fortschritte der Naturwissenschaften herausgefordert. Letztere galten als Garanten für die Emanzipation des Menschen, für sein Streben nach Glückseligkeit und sittlichem Verhalten, wogegen unbewusst-mechanische und veräußerlichte religiöse Praxis, gar Aberglauben und Magie massiv zu bekämpfen waren.1 Zentral war von diesen Entwicklungen die katholische Liturgie betroffen. Tatsächlich reformierten vor allem Theologen und Seelsorger, teils auch Verantwortliche in den Bistumsleitungen wie der Konstanzer Generalvikar Ignatz Heinrich von Wessenberg (1774‒1860) oder der Trierer Weihbischof Johann Nikolaus von Hontheim („Febronius“, 1701‒1790) den Gottesdienst etwa von den 1770er Jahren bis in die 1840er Jahre. Alle Bereiche der Liturgie wurden einbezogen, besondere Aufmerksamkeit fanden aber die Feiern der Sakramente und Sakramentalien.2 Auf 1
2
Vgl. exemplarisch: Beutel, Albrecht / Nooke, Martha (Hg.), Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie (Münster, 30. März bis 2. April 2014) (Colloquia historica et theologica 2), Tübingen 2016; Kranemann, Benedikt, Katholische Liturgie der Aufklärungszeit, in: Geschichte der Liturgie in den Kirchen des Westens; Bärsch, Jürgen / Kranemann, Benedikt (Hg.) in Verb. mit Haunerland, Winfried und Klöckener, Martin, Rituelle Entwicklungen, theologische Konzepte und kulturelle Kontexte in den Kirchen des Westens. 2: Moderne und Gegenwart, Münster 2018, 51-82. Vgl. Kranemann, Katholische Liturgie (wie Anm. 1); Kohlschein, Franz, Aufklärungskatholizismus und Liturgie. Reformentwürfe für die Feier von Taufe, Firmung, Buße, Trauung und Krankensalbung (PiLi.S 6), St. Ottilien 1989. – Inzwischen sind einige sakramentliche Feiern eingehender un-
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diesem Feld hatte es stets eine größere Variabilität in den Ordnungen oder hinsichtlich des Gebrauchs der Volkssprache gegeben.3 Zudem handelte es sich hier um Liturgien, die eng mit den Wechselfällen des Lebens verbunden waren und die in die konkrete Lebenswelt der Menschen hineinragten. Entsprechend zahlreich waren die meist aus privater Feder stammenden Ritualien mit Reformentwürfen für die sakramentlichen Feiern4, die den Prinzipien der Belehrung, Erbauung und Zweckmäßigkeit folgten.5 Eine besondere Rolle spielten dabei die Segnungen. Der aus der Barockzeit ererbten ausufernden Segenspraxis und dem unbändigen Segensverlangen der Gläubigen, dem oft, so die Annahme, abergläubisch-magische Vorstellungen zugrunde lagen, standen die aufgeklärten Pfarrer und Professoren skeptisch bis ablehnend gegenüber.6 Die zeitlich parallelen Bemühungen um die Volksaufklärung wiesen überdies in eine völlig andere Richtung.7 „An die Stelle von Benediktionen zum Beispiel in Haus und Landwirtschaft sollten eine bessere naturkundliche Bildung, vertiefte medizinische Kenntnisse, ein größeres Wissen um neuere Erkenntnisse in der Viehhaltung usw. treten.“8 Zunehmend konkurrierten der Wettersegen mit dem Blitzableiter, der Fliedertee mit dem Blasiussegen. Im Folgenden soll den hier erkennbaren Spannungen zwischen Volksaufklärung und Volksreligiosität am Beispiel der aufgeklärten Reformvorschläge für die Segnungen nachgegangen werden.9 Zu fragen ist, wie katholische Aufklärer versuchten, zwischen der religiösen Dimension des Segens und dem medizinisch-
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tersucht: Vgl. Probst, Manfred, Der Ritus der Kindertaufe. Die Reformversuche der katholischen Aufklärung des deutschen Sprachbereichs. Mit einer Bibliographie der gedruckten Ritualien des deutschen Sprachbereiches von 1700 bis 1960 (TThSt 39), Trier 1981; Kranemann, Benedikt, Die Krankensalbung in der Zeit der Aufklärung. Ritualien und pastoralliturgische Studien im deutschen Sprachgebiet (LQF 72), Münster 1990; Ignatzi, Hans-Joachim, Die Liturgie des Begräbnisses in der katholischen Aufklärung. Eine Untersuchung von Reformentwürfen im südlichen deutschen Sprachgebiet (LQF 75), Münster 1994; Keller, Klaus, Die Liturgie der Eheschließung in der katholischen Aufklärung. Eine Untersuchung der Reformentwürfe im deutschen Sprachraum (MThS.S 51), St. Ottilien 1996. Vgl. Bärsch, Jürgen, Das Römische Rituale. Eine Einführung zu Entstehung, Geschichte und Gestalt eines liturgischen Buches, in: Römisches Rituale Deutsch, hg. von Pius Parsch. Neu eingel. von Jürgen Bärsch. FS Rudolf Pacik (PPSt 10), Würzburg 2012, 41-73, hier 54-57. Eine Übersicht bietet Probst, Manfred, Bibliographie der katholischen Ritualiendrucke des deutschen Sprachbereichs. Diözesane und private Ausgaben (LQF 74), Münster 1993, 130-137. Vgl. Kranemann, Benedikt, Zwischen Tradition und Zeitgeist. Programm und Durchführung der Liturgiereform in der deutschen katholischen Aufklärung, in: JLO 20 (2004) 25-47. Vgl. Goy, Barbara, Aufklärung und Volksfrömmigkeit in den Bistümern Würzburg und Bamberg (QFW 21), Würzburg 1969; Münch, Paul, Die Kosten der Frömmigkeit. Katholizismus und Protestantismus im Visier von Kameralismus und Aufklärung, in: Molitor, Hansgeorg / Smolinsky, Heribert (Hg.), Volksfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit, (KLK 54), Münster 1994, 107-119. Vgl. Böning, Holger / Schmitt, Hanno / Siegert, Reinhart (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts (Presse und Geschichte ‒ Neue Beiträge 27), Bremen 2007. Kranemann, Katholische Liturgie (wie Anm. 1), 77. Eine systematische Darstellung der Benediktionsliturgie in der Zeit der Aufklärung stellt bislang ein Desiderat der liturgiewissenschaftlichen Forschung dar. Vgl. Kranemann, Katholische Liturgie (wie Anm. 1), 77; vgl. allgemein aber Kluger, Florian, Benediktionen. Studien zu kirchlichen Segensfeiern (StPaLi 31), Regensburg 2011.
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naturkundlichen Bildungsanspruch ihrer Zeit zu vermitteln, oder anders gesagt: wie haben sie Anthropologie und Theologie miteinander ins Gespräch gebracht?
1. Die Folie: Das „Noth- und Hülfsbüchlein“ des Rudolph Zacharias Becker Einen instruktiven Einblick in das Programm und die Methoden der Volksaufklärung bietet das bekannte, weit verbreitete „Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute“. Erstmals 1788 erschienen, ist es später mehrfach neu aufgelegt und überarbeitet worden.10 Sein Autor war der Pädagoge Rudolph Zacharias Becker (1752– 1822), der sich nach verschiedenen Anstellungen selbständig machte und als Publizist den Anliegen der Volksaufklärung verschrieb.11 Mit seinem „Noth- und Hülfsbüchlein“ wollte er, wie er selbst formulierte, „dem Landmanne ein System von Kenntnissen und Gesinnungen, welchen ihn als Mensch, als Landmann und Staatsbürger glücklich machen müßte“12, beibringen. Als erzählerischer Rahmen diente ihm ein fiktives Dorf, Mildheim genannt, das durch Naturkatastrophen, Misswirtschaft und Unwissenheit an einer aufstrebenden Entwicklung gehindert war, aber nun durch umfassende Bildung, naturwissenschaftliche und medizinische Kenntnisse, das Ausmerzen von Aber- und Hexenglauben und das Wissen um die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft aufblühte.13 Dazu orientierten sich die Dorfbewohner am „Noth- und Hülfsbüchlein“, das umfangreiche Ratschläge bereithält.14 Dessen erster Abschnitt, „Wie Bauersleute vergnügt leben können“, behandelt Fragen der Ernährung, der Kleidung und Wohnung, sodann der Ehe, Kindererziehung und des familiären Hausstandes.15 Der zweite Abschnitt, „Wie Bauersleute mit Ehren reich werden können“, widmet sich der Anhebung des Lebensstandards und der wirtschaftlichen Verbesserung durch Ökonomie und die Optimierung agrarischer Methoden.16 Schließlich bietet der 10
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Becker, Rudolph Zacharias, Das Noth-und Hülfs-Büchlein für Bauersleute oder lehrreiche Freudenund Trauer-Geschichte des Dorfs Mildheim. Für Junge und Alte beschrieben, Teil 1, Gotha 1788 (Nachdruck Dortmund 1980). Der 2. Teil erschien Gotha 1798. Im Folgenden benutzen wir die Ausgabe: Das Noth- und Hülfs-Büchlein oder lehrreiche Freuden- und Trauer-Geschichte des Dorfes Mildheim von Rudolph Zacharias Becker. Neue verbesserte Ausgabe, Gotha 1833. Zu Person und Werk vgl. Siegert, Reinhart, Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem „Noth- und Hülfsbüchlein“, Frankfurt a. M. 1979; ders., Rudolph Zacharias Becker ‒ Der „Erfinder der Publizität“ und sein Einsatz für die Volksaufklärung, in: Volksaufklärung (wie Anm. 7), 141-156. Nachwort Beckers im Noth- und Hülfsbüchlein; hier zit. nach Siegert, Becker (wie Anm. 11), 144. Zu Bildungskonzept und Anlage des Buchs vgl. Kuhn, Thomas K., Praktische Religion. Der vernünftige Pfarrer als Volksaufklärer, in: ders., Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung, Tübingen 2003, 79-233, hier 104-108. Vgl. Becker (wie Anm. 10), 67-528. Vgl. ebd., 69-242. Vgl. ebd., 243-318.
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dritte Abschnitt, „Wie man sich in allerhand Nothfällen des Lebens helfen kann“, Kenntnisse in den Bereichen Hygiene und Human- und Tiermedizin sowie Hinweise zum Verhalten bei Missernten, Gewittern, aber auch zu von Menschen eingebildeten Nöten wie dem Geister- und Hexenglauben.17 Der gesamte zweite Teil des Buches berichtet schließlich, wie die Mildheimer das „Noth- und Hülfsbüchlein“ nutzten und welche praktischen Lehren sie daraus zogen.18 Die Schilderungen aus dem Dorf und die Ratschläge im „Noth- und Hülfsbüchlein“ sollten also der Bevölkerung auf dem Land elementare Kenntnisse in allen Bereichen vermitteln, um ihnen in ihren „vornehmsten und geistlichen Nöthen“19 zu helfen und den Wohlstand und die Zufriedenheit mit Gott und der Welt zu befördern. Das Buch wurde ein Bestseller und „machte Becker zu dem Volksschriftsteller Deutschlands.“20 Aufgrund der großen Verbreitung und seines sensationellen Erfolgs liegt es nahe, Beckers „Noth- und Hülfsbüchlein“ als Folie zu nutzen, die die zeitgenössischen Handlungsmaximen der Aufklärung darstellt. Vor diesem Hintergrund und kontrastierend dazu bilden die Segensformulare in den „aufgeklärten“ Ritualien den Versuch, eine überkommene religiöse Praxis theologisch „zeitgemäß“ zu legitimieren.
2. Blasiussegen gegen Halskrankheiten und medizinische Hausmittel 2.1 Volksaufklärung versus volksreligiöse Praxis Kurz kommt Becker im „Noth- und Hülfsbüchlein“ auf das Halsweh zu sprechen. Er erklärt, dass „bey schleuniger Abwechselung der Wärme und Kälte und dadurch unterdrücktem Schweiß eine Entzündung des Halses, des Zapfens, der Mandeln oder des Gaumens“21 entstehe, die sich mit „Schmerzen an diesen Theilen und Frösteln und Schaudern im Körper“22 äußert. Für diese eher einfachen Krankheitserscheinungen empfiehlt er „Warmhalten, Fußbäder, Fliederthee mit etwas Honig und Essig.“23 Allerdings könne sich das Halsweh verstärken. Vor allem wenn heftiges Fieber, massive Schluckbeschwerden, heftiger Husten und Kurzatmigkeit auftreten, „ist zu befürchten, daß es die Bräune sey, die man auch Krupp (Group) nennt.“24 Hier sei Eile geboten und der Arzt herbeizurufen. Bis zu dessen Eintref17 18 19 20 21 22 23 24
Vgl. ebd., 319-526. Vgl. ebd., 529-846. Kuhn (wie Anm. 13), 108. Siegert, Becker (wie Anm. 11), 145. Becker (wie Anm. 10), 440. Ebd. Ebd. Ebd.
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fen soll man dem Kranken eine „Abkochung von Fliederblumen, Salbey und Leinsamen“25 zum Gurgeln reichen und um den Hals Säckchen mit Kleie und Kampfer oder mit trockenem heißen Salz legen. Becker bietet seinen Lesern zweierlei. Er beschreibt zunächst kurz die erkennbaren Symptome und weist auf die möglichen Gefährdungen hin, die gegebenenfalls das Eingreifen eines Arztes erforderlich machen. Zugleich gibt er konkrete Ratschläge und vermittelt leicht praktizierbare Formen von medizinischen Hausmitteln, mit denen auch der einfache Landbewohner den Krankheiten begegnen kann. Demgegenüber sah der christliche Glaube Krankheiten und deren Abwehr nicht nur als medizinische Herausforderung, sondern ordnete sie auch in den religiösen Kontext ein. Exemplarisch zeigte sich dies in der katholischen Liturgie und Frömmigkeit beim Blasiussegen. Die legendarische Überlieferung weist dem Märtyrerbischof Blasius († unter Licinius 308-324?)26 die Errettung eines Jungen zu, der durch eine im Hals steckengebliebene Fischgräte zu ersticken drohte. Diese Begebenheit wurde im Mittelalter durch die „Legenda aurea“ populär und führte im 16./17. Jahrhundert zum Brauch, am Blasiustag (3. Februar) mit benedizierten, in Form eines Andreaskreuz zusammengebundenen Kerzen den Hals zu berühren und einen speziellen Segen zu sprechen.27 Die in den meisten Ritualien verzeichnete Ordnung sah eine Segnung der Kerzen vor, die Bezug auf die Krankenheilung des Märtyrerbischofs nimmt und um Heilung oder Bewahrung vor Halsleiden bittet. Sodann erfolgte unter Aussprechen einer Benediktionsformel der Segen.28 Wie sind die Aufklärer mit dieser Segensfeier umgegangen?
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Ebd., 441. Vgl. Drobner, Hubertus R., Blasius, in: LThK 2 (31994), 519. Vgl. die Überlieferung bei Jacobus de Voragine, Legenda aurea. Goldene Legende, Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Häuptli, Bruno W. (FC. Sonderband. Teil 1), Freiburg i. Br. [u. a.] 2014, 541f. ‒ Zum Blasiussegen vgl. Franz, Adolph, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter. 2 Bde., Freiburg i. Br. 1909 (Nachdruck Bonn 2006), 1, 458f.; Müller, Klaus-Bernd, Im Licht Christi geborgen: Darstellung des Herrn und Blasiussegen, in: Heinz, Andreas / Rennings, Heinrich, Heute segnen. Werkbuch zum Benediktionale. FS Balthasar Fischer, Freiburg i. Br. [u. a.] 1987, 192-200, hier 197-199; Maas-Ewerd, Theodor, Es geht nicht nur um eine verschluckte Fischgräte. Anregungen aus dem Benediktionale zur heutigen Praxis des Blasius-Segens am 3. Februar, in: KlBl 74 (1994), 13-17. – Zur volksreligiösen Praxis vgl. Gugitz, Gustav, Das Jahr und seine Feste im Volksbrauch Österreichs 1, Wien 1949, 63-70; zum Blasiussegen als psychosomatischer Begleittherapie vgl. Wolfgang Ernst, Beschwörungen und Segen. Angewandte Psychotherapie im Mittelalter, Köln [u. a.] 2011, 151‒158. 28 Vgl. etwa die in die Epoche der Aufklärung reichenden Ritualien: Rituale Augustanum [...] 1764, 355f (vgl. Probst, Bibliographie [wie Anm. 4], Nr. 26); Benedictionale Constantiense [...] 1781, 5154 (vgl. Probst, Bibliographie [wie Anm. 4], Nr. 295) und Rituale ad usum Dioeceseos Spirensis [...] 1842, 230f (vgl. Probst, Bibliographie [wie Anm. 4], Nr. 610).
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2.2 Der Blasiussegen in Vitus Anton Winters „Katholisches Ritual“ Zu den profiliertesten Vertreten der katholischen Aufklärungsliturgik zählte zweifellos der zuerst in Ingolstadt, dann in Landshut wirkende Kirchenhistoriker und Liturgiker Vitus Anton Winter (1754–1814).29 Seine Schriften umfassten sowohl grundlegende Arbeiten zur „Theorie der öffentlichen Gottesverehrung“30 als auch zahlreiche Vorschläge zur Reform des Gottesdienstes.31 In seinem erstmals 1813 erschienenen Werk „Deutsches, katholisches, ausübendes Ritual“ setzte Winter seine gewonnenen Anschauungen in konkrete gottesdienstliche Ordnungen um. Wichtig erschien ihm, dass die Liturgie der Sakramente und Sakramentalien mit ihrer sinnenhaft wahrnehmbaren Außenseite durch vernunftmäßige Erschließung und erbaulichen Vollzug zu einer Erneuerung des Glaubens führt, damit bei den Gläubigen „der Funke des Ewigen und Göttlichen [...] wieder erwache und angefacht werde.“32 Im Bereich der Segnungen bietet Winter in seinem Ritual zunächst die „Segnung nach der Kirchen-Agende, und dann entweder die Uebersetzung dieser lateinischen Segnung, oder ein frei bearbeitetes, deutsches Formular.“33 Für die Segnung am Blasiustag findet sich neben dem lateinischen Benediktionsgebet mit der Segensformel34 eine freie deutsche Übertragung. Während die lateinische Vorlage im anamnetischen Teil des Gebets die Schöpfung, die Inkarnation und vor allem das Martyrium des hl. Blasius preist, das ihm das Verdienst verlieh, Krankheiten des Halses zu heilen, bleibt die deutsche Vorlage allgemeiner. Gott wird hier als Vater angerufen, der auf seine Kinder sieht, die „auf dieser Erde verschiedene Leiden zu tragen haben“ und die Bitten jener erhört, „welche hier einen guten Kampf gekämpfet, stark alle Leiden ertragen, und sich nun dort in deiner Herrlichkeit um deinen ewigen Thron befinden, wenn sie für ihre noch hier kämpfenden Brüder um deine Hilfe flehen.“35 Winters Fassung spricht weder vom Martyrium des hl. Blasius noch von seiner besonderen Heilkraft hinsichtlich der Halskrankheiten. Im Mittelpunkt steht Gott, der die Bitten seiner Kinder im Leiden und die Fürsprache der Heiligen erhört. Der epikletische Teil bittet um die Segnung der Kerzen. Sie sollen auf die Fürbitte des hl. Blasius die Kraft erhalten, „daß diejenigen deiner Kinder, über welche sie gehalten, und dein heiliger Namen ange29 30 31
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Vgl. Schwaiger, Georg, Vitus Anton Winter, in: Fries, Heinrich / Schwaiger, Georg, Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert 1, München 1975, 129-161. Vgl. Winter, Vitus Anton, Liturgie was sie seyn soll, unter Hinblick auf das, was sie im Christenthume ist, oder Theorie der öffentlichen Gottesverehrung vermischt mit Empyrie, München 1809. Vgl. Vierbach, Albert, Die liturgischen Anschauungen des Vitus Anton Winter. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung (MSHTh 9), München 1929; Steiner, Josef, Liturgiereform in der Aufklärungszeit. Eine Darstellung am Beispiel Vitus Anton Winters (FThSt 100), Freiburg i. Br. [u. a.] 1976; Kohlschein, Aufklärungskatholizismus und Liturgie (wie Anm. 2), 5-92. Hier nach: Dr. Winter, Vitus Anton, Katholisches Ritual. Zweite, neu bearb. Auflage von Jakob Brand. Zwei Theile, Frankfurt a. M. 1830, 4. Vgl. dazu auch Steiner, Liturgiereform (wie Anm. 31), 203‒217; Kohlschein, Liturgie der Buße (wie Anm. 31), 26-28. Winter, Katholisches Ritual 1830 (wie Anm. 32), II, 216. Vgl. ebd., II, 225f. Ebd., II, 226.
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rufen wird, von allen Krankheiten des Halses befreit bleiben mögen.“36 Es fällt auf, dass der Tagesheilige und seine Fürbittkraft auf die Segnung der Kerzen bezogen werden, eine Wendung, die die lateinische Vorlage nicht kennt. Auch werden allein hier die Halskrankheiten erwähnt, offenbar aus pastoralen Erwägungen, um den Erwartungen der Gläubigen entgegenzukommen. Weihwasserbesprengung und Weihrauchinzens unterstreichen zeichenhaft die Segnung der Kerzen. Man kann feststellen, dass Winter vor allem das Wirken des Schöpfergottes, des Vaters, der sich um seine Kinder sorgt, hervorhebt. Dies entspricht dem in der Aufklärung weit verbreiteten Gottes- und Menschenbild. Die Spezifika dieses Segens, die Person des Märtyrerbischofs und die Bitte um Befreiung von Halskrankheiten werden hingegen eher zurückhaltend erwähnt.
2.3 Der Blasiussegen in Johann Nepomuk Müllers „Handbuch“ Der Freiburger Dompräbendar Johann Nepomuk Müller (1798‒1864) gab 1831 ein „Handbuch bei seelsorglichen Funktionen“ heraus,37 mit dem er, neben einem Beitrag zur erwarteten Ritualereform, „ein Mittel zur Erklärung des Geistes kirchlicher Ceremonien und Gebete“38 schaffen wollte. Der zweite Abschnitt, der „Seelsorgliche Funktionen bei besonderen Festen und Veranlassungen“ bietet, enthält ein Formular „Die Halsweihe am Feste des hl. Blasius“.39 Nach den üblichen einleitenden Versikeln folgt ein volkssprachliches Gebet, das deutlich zwei Teile aufweist. Im ersten Teil wird Gott als Schöpfer angerufen, der „den Menschen zum Meisterstücke, zum Herrn der ganzen Schöpfung“40 gemacht und ihm einen Körper, eine unsterbliche Seele und Vernunft verliehen hat. Um aber Vernunft und Leib gesund zu erhalten, so die Aussage des Gebets, bedarf es der Vaterliebe Gottes. Denn ohne göttlichen Beistand „kann der gebrechliche Leib den unzähligen Gefahren, die ihm drohen, nicht entgehen“ und die Vernunft „nicht über Irrthum und Sinnlichkeit“ siegen.41 Deutlicher entfaltet als bei Vitus Anton Winter begegnet uns hier eine Schöpfungstheologie, die den Menschen als Leib-Vernunft-Wesen sieht, das der Mithilfe Gottes bedarf, um den Gefahren des Leibes und des Verstandes zu begegnen. Der zweite Teil setzt mit einer erneuten Anaklese an und bittet Gott um seinen Segen für die Kerzen, die „ein Sinnbild des Lichtes seyn sollen, womit uns immer unsere Vernunft vorleuchten soll, damit wir immer als vernünftige Wesen uns
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Ebd., II, 227. Handbuch bei seelsorglichen Funktionen. Für katholische Seelsorger bearbeitet von Dr. J. N. Müller. Zwei Theile, Augsburg 1831; bereits 1834 erschien eine zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. Zu Müller vgl. Probst, Kindertaufe (wie Anm. 2), 56, Anm. 200. Müller, Handbuch 1831 (wie Anm. 37), XII. Vgl. ebd., 139f. Ebd., 139. Ebd.
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zeigen und nie unsere Menschenwürde vergessen.“42 Noch einmal wird eine Bitte um den Segen ausgesprochen, „damit durch die Fürbitte des hl. Martyrers und Bischofs Blasius Alle, deren Hälse in gutem Glauben damit berührt werden, ihrer hohen Menschenwürde sich erinnern, für die Gesundheit ihres Leibes sorgen, dem Rufe der Vernunft folgen und in deiner hl. Kirche froh und gesund dir danken [...].“43 Markant fallen die Umdeutung des Kerzensymbols und die inhaltliche Ausweitung der Bitte auf. Der Blasiussegen zielt bei Müller vor allem auf die Erleuchtung des vernünftig handelnden Menschen, der sich um die Gesundheit seines Leibes sorgt und stets den Einsichten und Erkenntnissen der Vernunft folgt. Diese Intentionen korrespondieren mit den Anliegen der Volksaufklärung, wie sie Rudolph Zacharias Becker in seinem „Noth- und Hülfsbüchlein“ propagiert. Wenn Müller eher beiläufig die traditionelle Halsberührung erwähnt, vergisst er doch nicht den Hinweis, dass dies nur „in gutem Glauben“44 geschehe dürfe, also keinesfalls in abergläubisch-magischer Absicht. Zudem richtet sich die Bitte eben nicht – im Gegensatz zum Titel des Formulars – auf die Bewahrung vor Halskrankheiten, sondern auf ein Handeln der Menschen, die, ihrer Menschenwürde bewusst, sich aktiv um ein gesundes Leben und vernunftmäßige Erkenntnis bemühen. Dies zeigt sich schließlich auch bei der Segensformel. Hier verzichtet Müller auf die explizite Erwähnung der Halskrankheiten und bittet allgemein um die Bewahrung „von allem Uebel der Seele und des Leibes.“45 Bei Johann Nepomuk Müller begegnet uns ein Benediktionsformular, das zwar traditionelle Elemente des Blasiussegens aufnimmt (Kerzen, Halsberührung, Fürbitte des Heiligen), ihnen aber doch völlig neue, den zeittypischen Anliegen verpflichtende Deutungen einschreibt, um die Segnung auch kritisch-aufgeklärten Gläubigen zugänglich zu machen.
3. Wettersegen und Verhalten bei Gewittern 3.1 Volksaufklärung versus volksreligiöse Praxis Seine Hinweise zum rechten Verhalten bei Gewittern im „Noth- und Hülfsbüchlein“ führt Rudolf Zacharias Becker mit einem Reimvers ein, der die Wetterphänomene als ein zu bewunderndes Walten der Schöpfung begreift: „Gott zürnet nicht mit uns in schweren Ungewittern,/ Er thut uns wohl dadurch: was sollten wir denn zittern,/ Wenn Stürme brausen, und in schöner Pracht/ Die Blitze leuchten,
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und der Donner kracht?“46 Unmissverständlich wendet sich der Volksaufklärer gegen volksreligiöse Vorstellungen, Gewitter seien weder Zeichen des Zornes oder der Strafe Gottes, noch seien sie mit magisch empfundenen Ritualen zu bekämpfen. Deshalb erläutert Becker zunächst das Wesen des „elektrischen Feuers“47 und beschreibt die Entstehung eines Gewitters und seiner meteorologischen Erscheinungen als völlig natürliche Phänomene. „Wer hingegen meint, der Vater im Himmel zürne mit den Menschen, und wolle sie in Furcht jagen, oder gar strafen durch die schönen Blitze und den prächtigen Donner, der kennt den Vater im Himmel nicht.“48 Gleichwohl gibt er „Vorsichtsregeln“ an, um „den Blitz nicht selbst auf sich [zu] locken.“49 Zudem empfiehlt er den von Benjamin Franklin (1706–1790) erfundenen Blitzableiter, der ein Haus sicher vor Schaden durch Blitzschlag bewahrt.50 Darin sieht Becker ein Beispiel, „daß es auf der Erde immer besser mit den Menschen wird und werden muß, wenn sie ihren Verstand immer mehr gebrauchen.“51 Fortschrittsoptimismus, Entzauberung, nicht nur der Natur, sondern auch der volksfrommen Vorstellungen, durch naturwissenschaftliche Beobachtung und Forschung bestimmen das Bild bei Becker, von einem irgendwie gearteten religiösen Gehalt sieht er vollkommen ab. Die Tradition des Wetterläutens und des Wettersegens bei der Gefahr eines heranziehenden Gewitters gründete in dem aus der Religionsgeschichte bekannten apotropäischen Verständnis von Geläut und Segen.52 Da man die durch das Gewitter Schaden herbeiführenden Dämonen in der Luft vermutete (vgl. Eph 6,12), kam es darauf an, sie durch den metallenen Klang der geweihten Glocken53 und dem ihnen entgegen gesprochenen Segen54 zu bannen. Die dafür weithin übliche Ordnung sah vor, dass sich Priester und Gläubige zum Glockengeläut in der Kirche einfanden und dort die Allerheiligenlitanei, den Psalm 147 (mit dem Vers: „Er bedeckt den Himmel mit Wolken, er spendet der Erde Regen“) beteten, worauf man zur Kirchenpforte zog und, dem Gewitter zugewandt, weitere Gebete sprach sowie den Wettersegen spendete, abgeschlossen mit der Besprengung der Wolken 46 47 48 49 50 51 52
Becker (wie Anm. 10), 494. Ebd., 494. Ebd., 497. Ebd. Vgl. Hochadel, Oliver, Blitzableiter, in: Enzyklopädie der Neuzeit 2 (2004), 301-304 (Lit.). Becker (wie Anm. 10), 499. Vgl. Angenendt, Arnold, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 42009, 154-159, 398-400; Dinzelbacher, Peter, Das Frühe Mittelalter. Karolingische bis Frühsalische Epoche, in: ders., Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. 1: Altertum und Frühmittelalter, Paderborn [u. a.] 2011, 81-268, hier 194, 203f, 235f. 53 Vgl. Heinz, Andreas, Der Dienst der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus der Glockenweihe, in: ders., Lebendiges Erbe. Beiträge zur abendländischen Liturgie- und Frömmigkeitsgeschichte (PiLi.S 21), Tübingen [u. a.] 2010, 192-220, hier 215-217 [Erstveröff. 1998]. 54 Vgl. Franz, Benediktionen (wie Anm. 27), 19-123; Browe, Peter, Die eucharistischen Flurprozessionen und Wettersegen, in: ders., Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht, hg. von Hubertus Lutterbach und Thomas Flammer (Vergessene Theologen 1), Münster 62011, 291-300 [Erstveröff. 1929].
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mit Weihwasser. Bei nicht nachlassender Gefahr konnte der Segen durch Verdoppelung der Gebete, das Singen der vier Evangelienanfänge und den eucharistischen Segen verstärkt werden.55 Zu dieser Benediktionsliturgie traten häufig weitere volksreligiöse Riten und Bräuche hinzu.56 Die Aufklärer wandten sich entschieden gegen diese Formen und bekämpften sie als Aberglauben.57 Daneben kannte die kirchliche Praxis aber auch eine Form des regulären Wettersegens. Er wurde nach der täglichen Messfeier in den Wochen zwischen den beiden Kreuzfesten am 3. Mai (Kreuzauffindung) und 14. September (Kreuzerhöhung) erteilt. Er sollte als zusätzliche sakrale Maßnahme die blühenden Saaten bis zur eingebrachten Ernte vor der Unbill des Wetters schützen und lebensbedrohende Ernteausfälle verhindern.58 Dieser Wettersegen bestand im Gesang des im Volksglauben als besonders segensmächtig geltenden Johannesprologs, ergänzt um zwei oder drei Orationen und dem Segen mit dem Kreuzpartikel, also mit einer Reliquie vom Kreuz Christi, um dem Wirken der Dämonen Einhalt zu bieten.59
3.2 Der Wettersegen in Johann Nepomuk Müllers „Handbuch“ Da die Aufklärung hinter diesen Segnungen stets abergläubische Vorstellungen, unvernünftigen Dämonenglauben und Volksmagie witterte, ist es erstaunlich, dass der Wettersegen nicht restlos aus den „aufgeklärten“ Ritualien getilgt wurde. Zwar sind Formulare dazu in den bekannten Werken von Wessenberg oder Winter nicht zu finden, aber in Müllers „Handbuch bei seelsorglichen Funktionen“ ist ein „Wetter-Segen zur Sommerszeit“ aufgenommen.60 Offenbar waren es pastorale Gründe, die Müller bewogen haben, diese wie andere überlieferte Segnungen beizubehalten, sofern sie in den Augen der Aufklärung nicht vollends unannehmbar waren.
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So die Ordnung im Rituale Augustanum 1764 (wie Anm. 28), 334-340 und im Benedictionale Constantiense 1781 (wie Anm. 28), 67-75. Vgl. Mitterwieser, Alois, Wetterläuten, Wetterschießen und Wetterkerzen im südlichen Bayern, in: Volk und Volkstum. Jahrbuch der Volkskunde 2 (1937) 85-92. Vgl. Goy (wie Anm. 6), 183-190; Siemons, Stefan, Frömmigkeit im Wandel. Veränderungen in den Formen der Volksfrömmigkeit durch Aufklärung und Säkularisation. Eine Untersuchung zu den Eigenheiten in der Reichsstadt Augsburg und ihrem schwäbischen Umland (Beiträge zur Heimatkunde des Landkreises Augsburg 17), Augsburg 2002, 102-104. Vgl. Heinz, Andreas, Vom Wettersegen im Mai zur Maiandacht, in: ders., Liturgie und Frömmigkeit. Beiträge zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-)Bistums Trier und Luxemburgs zwischen Tridentinum und Vatikanum II (Geschichte und Kultur des Trierer Landes 9), Trier 2008, 225-242, hier 226-234 [Erstveröff. 1999]. Vgl. exemplarisch die Ordnungen im Rituale Augustanum 1764 (wie Anm. 28), 334-336; Benedictionale Constantiense 1781 (wie Anm. 28), 64-67 oder Rituale Romano-Eichstettense [...] 1798 (vgl. Probst, Bibliographie [wie Anm. 4], Nr. 157), 352. ‒ Zum Johannesprolog als Wettersegen vgl. Heinz, Andreas, Die sonn- und feiertägliche Pfarrmesse im Landkapitel Bitburg-Kyllburg der alten Erzdiözese Trier von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (TThSt 34), Trier 1978, 449-457. Müller, Handbuch 1831 (wie Anm. 37), 150f. – Zum Segen mit dem Kreuzpartikel vgl. Heid, Stefan, Kreuz. IV. Historisch-theologisch. V. Liturgisch, in: LThK 6 (31997) 445-448.
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Entsprechend bietet er eine Fassung für den regulären, in den Sommermonaten gespendeten Wettersegen. Wie zu erwarten, ist das ganze Formular in deutscher Sprache gehalten. Allerdings ist es nicht völlig frei geschaffen. Denn bei näherem Zusehen erweist es sich als eine Übertragung der „Benedictio tempestatis tempore vernali, et aestivali post missam“ des Konstanzer Benedictionale 1781.61 Nachdem der Priester den Johannesprolog „gebetet“ hat, folgen die Gebetsversikel, einsetzend mit der Bitte „V. Vor Blitz, Hagel und Ungewitter; R. Bewahre uns, Herr Jesus Christus!“62 Darauf folgen zwei Orationen wie in der lateinischen Vorlage. Abgeschlossen wird der Ritus durch die einleitenden Gebetsrufe zum Segen, den der Priester dann mit einem Kreuz oder einer Kreuzpartikel erteilt und dessen Segensformel eine wörtliche Übersetzung aus dem Benedictionale darstellt.63 Weithin hält sich Müller also an das offizielle Liturgiebuch. Allerdings lassen sich bei den beiden Orationen bemerkenswerte Unterschiede feststellen. Während die zweite Oration, „Deus, qui omnium rerum tibi servientium“,64 die darum bittet, Gott möge in seiner Güte alle schädlichen Gewitter fernhalten, zwar frei, aber in größerer Nähe zur lateinischen Vorlage übersetzt ist, bildet das erste Gebet eine faktische Neuschöpfung. Denn die Oration, „Quaesumus omnipotens Deus, ut intercessione sanctae Dei Genetricis Mariae“65 erbittet auf die Fürsprache Mariens und der Heiligen Gottes Hilfe, der anstatt Blitz und Gewitter sein Heil aus dem Himmel herabgießen und mit seinem starken Arm die dämonischen Mächte der Lüfte besiegen möge. Ganz anders klingt das Gebet bei Müller: In seinem anamnetischen Teil preist es Gott als den Schöpfer, der alles im Himmel und auf Erden lenkt und auf dessen Geheiß Gewitter, Blitze und Hagel erscheinen. Aber auch darin zeigt der „Herr der Natur“ seine „Allmacht, Weisheit und Güte.“66 Die Epiklese des Gebets bleibt in diesem Duktus. Sie bittet nicht um Bewahrung vor Blitzschlag, Hagel und Sturm, sondern, „daß wir stets bei Ueberfluß und Mangel dich lieben, deinen Willen anbeten und erfüllen, und so uns Alles zum Besten diene.“67 Es ist offensichtlich, dass dieses Gebet sich nicht nur von der Vorlage im Konstanzer Buch entfernt, sondern von einer theologischen Motivik geprägt ist, in der sich 61
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Benedictionale Constantiense 1781 (wie Anm. 28), 64-67. Zu den „aufklärerischen“ Hintergründen dieses Rituales vgl. Polonyi, Andrea, „Aufklärung“ im Bistum Konstanz vor Ignatz Heinrich von Wessenberg? Beobachtungen zur Kirchenreform unter Bischof Maximilian Christoph von Rodt (1775–1800), in: RoJKG 10 (1991) 203-213, hier 205-208 und Dannecker, Klaus Peter, Taufe, Firmung und Erstkommunion in der ehemaligen Diözese Konstanz. Eine liturgiegeschichtliche Untersuchung der Initiationssakramente (LQF 92), Münster 2005, 70-73. Müller, Handbuch 1831 (wie Anm. 37), 150. Auch die Rubriken entsprechen sich fast wörtlich. Vgl. Benedictionale Constantiense 1781 (wie Anm. 28), 66; Müller, Handbuch 1831 (wie Anm. 37), 151. Vgl. Benedictionale Constantiense 1781 (wie Anm. 28), 65f; zu den mittelalterlichen Quellen der Oration vgl. Franz, Benediktionen (wie Anm. 27), 78, 88, 99. Vgl. Benedictionale Constantiense 1781 (wie Anm. 28), 65. Das Gebet war bei den Formularen des Wettersegens weit verbreitet; vgl. Franz, Benediktionen (wie Anm. 27), 78, 82, 85, 88, 96, 98. Müller, Handbuch 1831 (wie Anm. 37), 150. Ebd., 150f.
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das zeittypische Gottes- und Menschenbild der Aufklärung spiegelt. Danach lässt sich Gottes Güte und Weisheit in seiner Schöpfung erfahren, in der geordneten Schönheit oder zweckmäßigen Einrichtung der Natur. Darin soll das Geschöpf den göttlichen Abglanz erkennen und die Natur mit den Mitteln des Verstandes erforschen, um so staunend die Majestät Gottes zu verehren und sein Wohlgefallen zu erlangen.68 Diese Gedanken atmet nicht nur das Gebet in Müllers „Handbuch“, sie korrespondieren auch mit den volksaufklärerischen Intentionen, wie sie etwa bei Rudolph Zacharias Becker in Erscheinung traten, der in Blitz und Donner nicht den Zorn Gottes, sondern die Größe der Schöpfung und den Nutzen für Mensch und Vieh sieht.69 Müllers Oration verzichtet also nicht nur auf die überkommenen, von den Aufklärern skeptisch betrachteten Elemente (Stände der Heiligen, Dämonen der Lüfte, wiederholte Bitte um Abwendung des Gewitterschadens), er formt anlässlich des traditionellen Wettersegens ein aus dem Geist der Aufklärung erwachsenes Gebet.
4. Zusammenfassende Beobachtungen Fragt man nach dem Verhältnis von Anthropologie und Theologie, von aufgeklärtem Denken und traditioneller Glaubenspraxis, musste gerade der Bereich der Segnungen den aufgeklärten Klerus herausfordern. Denn hier stießen die oft dinglich-materiell aufgefasste Gnadenzuwendung Gottes und ein tatsächlich oder unterstelltes magisches Verständnis der Benediktionen in weiten Teilen der Bevölkerung zusammen mit der aufgeklärten Sicht, die Gottesverehrung, sittliches Leben und Selbsttätigkeit des Menschen propagierte. Suchte ein Großteil der Gläubigen zur Lebensbewältigung Sicherheit in den Sakralität vermittelnden Segensriten, förderte die Volksaufklärung naturkundliches, medizinisches, kurzum praktisches Wissen, um so zur Glückseligkeit und sittlichen Vervollkommnung des Menschen beizutragen. Wie sind die aufgeklärten Theologen mit diesem Konfliktfeld umgegangen? Zunächst lässt sich festhalten, dass die traditionellen Segnungen, hier der Blasius- und der Wettersegen, keinesfalls völlig übergangen wurden. Schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der „aufgeklärten“ Ritualien beweist, dass das Phänomen der Segnungen, trotz aller Vorbehalte durchaus berücksichtigt wurde. Offenbar haben die Bearbeiter die pastorale Relevanz dieser Liturgien wahrgenom68
Zu den theologischen Motiven der Aufklärung vgl. etwa Holzem, Andreas, Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung ‒ Aufklärung ‒ Pluralisierung, Paderborn 2015, 739-775. 69 „Die heftige Erschütterung, welche dabey in der Luft geschieht, und das mit dem Gewitterregen in die Erde herabkommende elektische Wesen selbst, welches man oft in den Tropfen ordentlich funkeln sieht, macht aber die Erde fruchtbar und erquicket Vieh und Menschen.“ Becker (wie Anm. 10), 496.
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men. Jedenfalls spricht dies für eine gewisse seelsorgliche Sensibilität im Umgang mit dem überlieferten Segnungswesen. Zudem lässt sich schnell erkennen, dass auch in diesem Bereich die Anliegen der katholischen Aufklärungsliturgik leitend waren. Wie die übrigen gottesdienstlichen Riten sollten auch die Segnungen verständlich, erbauend und zweckmäßig sein, sie sollten belehren und – hier besonders drängend – abergläubisch-magischen Vorstellungen wehren. Überdies erweist sich, dass die Reformentwürfe sehr differenziert mit dem traditionellen Bestand der Formen und Texte umgingen. Beim Blasiussegen kamen der Heilige und die Bitte um Bewahrung vor Halskrankheiten durchaus zur Sprache, ebenso wurde der Wettersegen zur Abwehr von Gewittern mit der Kreuzpartikel erteilt. Dennoch vermied man eine allzu plakative Herausstellung der Segenswirkungen und bediente sich eher zurückhaltenden Formulierungen. Bemerkenswert sind aber vor allem die inhaltlichen Transformationen in den Segensgebeten. Besonders deutlich wurde dies bei Johann Nepomuk Müller. Seine frei geschaffenen Gebetsformulare sind unverkennbar dem Gottes- und Menschenbild der Aufklärung verpflichtet und suchen Anschlussfähigkeit an aufgeklärtes Denken und Handeln. Kritische Zeitgenossen sollten einen Zugang zur Liturgie der Segnungen finden können. Darum treten anthropologische Motive markant in Erscheinung und werden im Gebet nicht selten als Postulat formuliert. Theologisch dominiert der Schöpfergott, der in seiner Allmacht und Weisheit den Weltenlauf lenkt und dessen Wohlgefallen und Segen auf jenen ruht, die durch den Gebrauch der Vernunft „über Irrthum und Sinnlichkeit“70 siegen. Allerdings stehen fast unverbunden daneben die herkömmlichen Formen von Liturgie und Frömmigkeit, so dass es nicht recht gelingen mag, die Spannung zwischen zeitgenössischer Lebenserfahrung und überkommener Glaubenspraxis zu überbrücken. Dennoch kann man sagen, dass sich die Akteure einer Liturgiereform der katholischen Aufklärung den Herausforderungen ihrer Zeit stellten, um Tradition und Moderne, Anthropologie und Theologie in ein fruchtbares Gespräch zu bringen. Dem war aus verschiedenen Gründen kein dauerhafter Erfolg beschieden.71 Erst unter den völlig anderen Bedingungen des 20. Jahrhunderts sollte es neue Impulse geben, zeitgenössische Existenz und christlichen Glauben zusammenzudenken und den Gottesdienst unter den Vorzeichen des Menschen in seiner Zeit zu erneuern.72
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Müller, Handbuch 1831 (wie Anm. 37), 139. Vgl. Kranemann, Katholische Liturgie (wie Anm. 1), 78. Vgl. die Übersichten bei Haunerland, Winfried, Liturgische Bewegung in der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert, in: Geschichte der Liturgie in den Kirchen des Westens 2 (wie Anm. 1), 165205; ders., Das Zweite Vatikanische Konzil und die Liturgiereform, in: ebd., 207-246.
The Tomb of St Peter and Evangelisation
The allegorical and liturgical interpretation of the Vatican Basilica
Michel Remery
1. Introduction “Just over 500 years have passed since the foundation stone of the second Vatican Basilica was laid: yet, it is still alive and young, it is not a museum, it is a spiritual organism and even the stones feel its vitality!”1 These words of Pope Benedict XVI express a deep truth as they underline the importance of ecclesiastical architecture for the inner relationship of the faithful with God. This relationship is especially expressed and experienced during the liturgy of the Church. There is an intimate bond between liturgy and ecclesiastical architecture, which makes the physical building into a spiritual organism. The first and ultimate reason for the construction of a church edifice is the honouring of God, which is expressed in architecture and experienced in liturgy. As a Dutch monk and architect said, if the form of a church does not honour God and glorify his name, its construction is in vain.2 This raises the question what good ecclesiastical architecture contributes to liturgy, the personal relation to God, and the proclamation of the faith. If a church building is only considered as a roof and a shelter for the community gathered there, then its form is of secondary importance and the contribution to faith and liturgy is only functional. However, proper ecclesiastical architecture is more than just a shelter: it creates an environment suitable for prayer and liturgy, and has itself a message to tell. In this way, the church building directly serves in the relation of the faithful with God. Therefore, the architectonical form of the building needs all attention possible. Pope Francis said that it is necessary for sacred buildings “to offer themselves even in their simplicity and essentiality as oases of beau-
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Benedictus PP. XVI, Address to the workers of the Fabric of St Peter’s, 14 March 2007. Cf. Laan, Hans van der, Bouwen ter ere Gods, Zwolle 19 Jan. 1950 [Unpublished manuscript, Archief Dom Van der Laan, Vaals, Netherlands]; Remery, Michel, Mystery and Matter. On the relationship between liturgy and architecture in the thought of dom Hans van der Laan OSB (19041991), Leiden 2011.
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ty, peace and welcome truly favouring the encounter with God and communion between brothers and sisters”3. There are different approaches to ‘reading’ the message the church building carries in itself. One can – as is often done – look at the iconography and symbols that can be found especially in the splendid decoration of historical churches.4 To this should be added the form and space of the building and the various architectural elements. Understanding the meaning of these elements can be a great help in the faith and in explaining it. This way, the church building can be ‘read’ in an allegorical way, searching for messages for the spiritual life that are contained in the architectural and artistic expressions. Another approach is to look at the physical space itself of the building, which is often taken for granted. Still, the architectural space plays a direct role in the liturgy, which has spatial and temporal dimensions that go beyond the actual bricks and concrete of which the building has been made. The following intends to take a closer look at these two approaches, starting with a brief investigation of the ‘allegorical reading’ of a church edifice and the legitimisation of this new approach. It is followed by a second step, which intends to look at what can be called a ‘liturgical reading’ of the building by investigating the relationship between liturgy and architecture in themselves, leaving aside symbolism. Among the archetypical examples of ecclesiastical architecture can be counted both the first Vatican Basilica of St Peter’s, construction of which started in approximately 319, and the second basilica, with is the actual basilica of St Peter’s, construction of which started around 1506.5 Because of their central position throughout the last seventeen centuries of Christianity, the two basilicas of St Peter’s will serve here as a paradigm whilst searching for an answer to the questions posed.
2. ‘Allegorical reading’ of the second Basilica Many great architects and artists contributed to the construction of the second basilica of St Peter’s. Reference can be made, for example, to the floorplan by Donato Bramante, later adapted by Raffaello Sanzio and later again by Michelangelo Buonarroti, to the dome, redesigned by Michelangelo, the façade by Carlo Maderno and the artistic rendering of the interior and the ‘piazza’ by Gianlorenzo Bernini. The result of their work has been used by the pontiffs in their teaching. 3 4 5
Francis PP., Message in occasion of the XXI solemn public meeting of the Pontifical Academies, 6 Dec. 2016. Cf. e.g. Taylor, Richard, How to read a church, London 2003; McNamara, Denis R., How to read churches. A crash course in ecclesiastical architecture, New York 2011. Cf. Krautheimer, Richard / Frazer, Alfred K. / Corbett, Spencer, Corpus Basilicarum Christianarum Romae. The Early Christian Basilicas of Rome (IV-IX Cent.), t. V, Città del Vaticano 1977, 272277.
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For example, Pope John Paul II said that “whoever arrives in Saint Peter’s Square feels immediately welcomed by a spiritual embrace symbolised by the two symmetrical colonnades of Bernini”6. This is a good example of architecture expressing without words the essential message of Christ, who wishes to reach out to all people with his salvation (cf. 1 Tim 2,4). The pope also referred to the symbolical strength of “that marvellous vision of apostles, martyrs, confessors, and virgins which goes out from the side of Christ at the apex of the facade and unfolds in a great throng along the entire length of the two arms of the colonnade as though to recall and summarize the history and the mission of the Church, which is that of bearing witness to holiness of life, the Gospel message”7. Here, the art and architecture of the second St Peter’s Basilica serve as a catalyst for passing on an underlying message of hope and faith to the human intellect. The architecture is ‘read’ in a mainly spiritual or allegorical way. Allegorical reading became particularly popular in the Middle Ages.8 Nauta’s distinction between various forms of allegory in literature can be helpful in this context.9 He said that a direct way for the creator of a work to include allegory in his work is personification: the different characters in literature and art represent a general concept like Reason, Wisdom, or Justice. A second form Nauta presented is the allegorical interpretation of a work by the reader. This refers to the way in which the reader uses allegory as a hermeneutical tool in his search for a deeper meaning in the work, and especially for a spiritual connotation. The allegorical interpretation may well go beyond the original intention of the author. A third form of allegory refers to the use of tropes in literature. And a fourth form of allegory Nauta mentioned is the approach of St Thomas Aquinas to the exegetical interpretation of the Bible.10 St Thomas started by recognising the historical meaning, the sensus literalis of a text, which forms the basis of every other interpretation. Based on the sensus literalis, he was able to recognise several forms of spiritual allegory, the sensus spiritualis. Although Nauta did not speak of the use of allegory beyond literature, the following will show that some of the forms of allegory he mentioned can be applied to architecture too. The first form of allegory, personification, can apply to art, but not in the same way to architecture. However, the second form of allegory can be applied to any work of literature, art or even architecture. This approach of ‘reading’ architecture will be worked out below. Nauta’s third form is not applicable to architecture, as it refers specifically to figures of speech. The approach of St Thomas completes the second form of allegory mentioned by Nauta. Also in art 6
John Paul PP. II, Address during the ceremony marking the conclusion of the restoration of the facade of St. Peter’s, 23 February 1987. 7 Ibid. 8 Cf. e.g. Brinkmann, Hennig, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, 154-259; Lubac, Henri de, Exégèse médiévale: Les quatre sens l'Ecriture, Vol. I-IV, Paris 1959-1964. 9 Cf. Nauta, Lodi, ‘Dante en de grenzen van de middeleeuwse hermeneutiek’, Theoretische Geschiedenis 22 (1995, n. 4), 419-421. 10 Thomas Aquinas, Summa theologiae 1,i,10.
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and architecture, one can recognise certain elements of the faith that are depicted in a direct way; this is the sensus literalis St Thomas spoke about. When applied to a church edifice, this refers to the form of the building and the various architectonical elements, but also the disposition of the liturgical elements like the altar, chair and ambo, for example. Basically, the sensus literalis includes all the elements that can be subjected to the ‘liturgical reading’, which will be worked out below, with special attention to the mutual influence of liturgy and architecture. When one starts looking for the sensus spiritualis of the church edifice, one will quickly discover that architecture has much more to tell than just the sensus literalis. As seen, it is possible to apply certain forms of allegory on various forms of art, and even on architecture. Thus one can ‘read’ ecclesiastical architecture allegorically in search for the deeper meaning, whether consciously intended by the architect or not. In this sense, allegory is used as a hermeneutical tool that helps to explain the ‘extra’ which the church edifice has to offer over any other building. In the end, this ‘extra’ is founded on the grace of God, which is intangible, but a hermeneutic which goes beyond the physical building in itself, looking for the deeper message and meaning, can help the faithful to approach the mystery of God, precisely through a hermeneutical reading of the matter of the church building. The warning of St Thomas to always maintain a connection with the literal sense is essential also when applying allegory to architecture: only thus is it possible to find deeper truths in a work without ending up in the realm of unfounded fantasy and dreams. A good example of the use of allegory as a hermeneutical tool is found in the approach of Pope Benedict XVI. He ‘read’ the architecture and art of St Peter’s in an allegorical way when he described the experience of a pilgrim entering the basilica: “After passing through the magnificent central nave, and continuing past the transepts, the pilgrim arrives in the apse”11. He said that looking up to the bronze see of St Peter in the apse, the pilgrim sees the glory of the Holy Spirit shining through the oval window, surrounded by triumphant angels suspended in the air. This is a description of the physical art and architecture, on which the pope based his search for the deeper meaning. The pope continued saying that “it represents a vision of the essence of the Church and the place within the Church of the Petrine Magisterium. The window of the apse opens the Church towards the outside, towards the whole of creation, while the image of the Holy Spirit in the form of a dove shows God as the source of light”12. Here, Pope Benedict applied allegory as a hermeneutical tool, not only to unlock the deeper meaning of the intentions of artist and patron, but also as a stepping stone towards a reflection on the entire universe as created by God. He invited the faithful to follow his gaze beyond the boundaries of the visible and tangible. As a good teacher, he did this by starting 11
Benedictus PP. XVI, Homily during the Eucharistic concelebration with the new cardinals, 19 February 2012. 12 Ibid.
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with precisely the many visible and tangible aspects which the church edifice has to offer, and subsequently moved on towards the realms where only the eyes of the faith can see. It is no coincidence that his description echoes the role of the liturgy, which uses material elements to open the faithful towards the immaterial presence of God. Considered thus, the church edifice is much more than just a roof and shelter for the liturgy; it has itself an important role to play, which is both expressed in the liturgy and in the ‘allegorical reading’ of the art and architecture. It may be concluded that the application of allegory as a hermeneutical key in interpreting the Church’s constructed patrimony drastically increases its contribution to the life of the faithful. Considered thus, the value of a church edifice is much more than the cumulated value of the rich materials, precious stones and splendid gold which the faithful brought together for its construction. The application of allegory helps to demonstrate the true value of a church building, by not only considering the direct and indirect messages the building and its art have to tell, but especially in moving beyond the physical and literal towards aspects of the faith that cannot be expressed in material terms. This ‘allegorical reading’ of a church edifice can be very helpful in the spiritual life, in catechesis and in assisting the faithful to enhance their understanding of the faith. Pope Benedict affirmed this when he pointed out yet another aspect of the architecture and art of St Peter’s, moving beyond the directly visible: “the Church herself is like a window, the place where God draws near to us, where he comes towards our world. The Church does not exist for her own sake, she is not the point of arrival, but she has to point upwards, beyond herself, to the realms above”13. This is a great description of the role of the church edifice, which has a direct role to play in the life of the faithful through its service to liturgy and prayer, and furthermore carries in itself a spiritual allegorical meaning. When ‘read’ in an allegorical way, the church edifice can play an intermediate role in passing on the faith to the intellect. However, the first scope, the sensus literalis so to speak, of ecclesiastical architecture and liturgy is to relate to all human senses: sight, touch, hearing, smell, and even taste. This is the first way in which the building itself, intimately related to the liturgy that takes place within its walls, brings honour to God and raises the hearts of the faithful towards him. Therefore, the ‘allegorical reading’ of a church should always be connected to the historical, literal, spatial and above all ‘liturgical reading’ of the edifice.
13
Ibid.
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3. ‘Liturgical reading’ of the first Basilica The roots of the splendid architecture of the second Vatican Basilica are found in the first Basilica, which preceded it.14 Old St Peter’s is among the very first examples of large Christian basilicas and its layout was often copied in the design of churches throughout Europe. The first Christians had no formal place of cult and celebrated the Eucharist in private houses, often a dining room in a patricians’ home. Gradually these spaces developed in church houses, examples of which have been found in Syria, dating back to the third century.15 When with emperor Constantine and the Edict of Toleration in 313 Christians could start to construct their own churches, the Christian basilica came into being as a new type of building.16 Its layout was partly dictated by the needs of the liturgy as it was developed thus far, whilst at the same time the architectural possibilities and impossibilities would influence the liturgy. Clearly, certain construction elements can be traced back to secular and pagan architecture, but there are also great differences.17 For example, in the pagan rites the people stood outside the sanctuary, whilst the basilica intended to gather all faithful in one building.18 Although it is true that the liturgical elements of a church building could in theory be ‘inscribed in a multitude of plan shapes’19, the basic disposition of essential elements like the chair, ambo and altar did not change throughout the ages. The form of the Christian basilica has become the archetype of a church. Given the ruling role of liturgy whilst constructing the first large churches, scholars hold that Christian basilica’s like Old St Peter's is in essence a creation of the liturgy.20 Architecture too had an influence on the liturgy as celebrated in St Peter’s and elements of this liturgy were copied elsewhere, given the prime importance of this basilica among all churches in the world through the presence of the relics of St Peter. An example of architecture changing liturgy is related to the centrally placed aedicule which marked the tomb of St Peter, and blocked access to the apse. An alternative needed to be found for the original liturgical disposition, in which the apse contained the celebrant’s chair from where he would preside and preach. Although it had a fixed place in the liturgy, moving the chair was not a problem as 14
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Cf. Remery, Michel, ‘Old St. Peter’s Basilica on the Vatican Hill: A Martyr’s Tomb that became the Liturgical and Architectonical Corner Stone of the Roman Curia’, in: Geest, Paul van / Regoli, Roberto (ed.), Suavis Laborum Memoria. Chiesa, Papato e Curia Romana tra storia e teologia, Città del Vaticano 2013 [Collectanea Archivi Vaticani 88]. Cf. Kraeling, Carl. H, The Excavations at Dura Europos, Final Report VIII, t. II, The Christian building, New Haven 1967; Doig, Allan, Liturgy and Architecture From the Early Church to the Middle Ages, Burlington 2008, 10-17. Cf. e.g. Meer, Frederik van der, Christus’ oudste gewaad. Over de oorspronkelijkheid der oudchristelijke kunst, Utrecht 1949, 105-106; Jungmann, Josef A., Liturgie der christlichen Frühzeit, Freiburg i. Br. 1967, 111. Cf. Meer (as note 16), 40-46. Cf. Lützeler, Heinrich, Die christliche Kunst des Abendlandes, Bonn 71954, 17ff. Cf. Peeters, C., De historische dispositie van het vroegchristelijke kerkgebouw, Assen 1969, 327. Cf. Meer (as note 16), 105.
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it used to be portable, so that it could be used ‘wherever it was needed’.21 In St Peter’s the chair was probably placed at the side of the sanctuary. The fact that this was not a good place for preaching will have encouraged the custom of preaching from the ambo.22 In the beginning, also the ambo used to be portable, but its use for preaching will have stimulated the early introduction of a fixed ambo in St Peter’s, which was probably the first in sixth century Rome.23 In fact, in some places it had become the custom for the bishop to sit on the ambo for preaching the homily.24 Liturgy was also influenced by the position of the altar, or better, by the lack of a stable altar. Contrary to the basilica of St John of Lateran, St Peter’s had a portable altar, probably a gift of Emperor Constantine.25 The lack of a fixed altar can be explained by the central presence of the aedicule on the Apostle’s grave, which needed to be accessible to pilgrims. Scholars are divided about the exact position of the altar.26 However, the only logical position is directly in front of the aedicule, just below the centre of the ciborium which was constructed over the aedicule and the space in front of it.27 The spot was marked by a golden chandelier above the altar space, another gift from Constantine.28 In conclusion, the liturgical disposition of chair, ambo and altar in Old St Peter’s demonstrate the influence of architecture on liturgy. Furthermore, the large space and the length of the nave stimulated the introduction of new liturgical rites and customs, some of which were inspired by the cult of the imperial court, and now applied to serve in the liturgical celebration of Christ the King. Among these are processions, torches and incense.29 As a final example can be mentioned the physical orientation of the Vatican basilica, which is not facing the traditional east but west, because of the geographical
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Cf. Egeria, Itinerarium XXXVII,1.5, XXXVII,1.5, XLV,2, XLVI,1.5, in: Franceschini, Ezio / Weber, Robert, Itinerarium Egeriae, Corpus Christianorum Latina CLXXV, Turnhout 1958, 27-103. Cfr. Cassiodorus, Historia ecclesiastica tripartita, ed. Jacob, Walter / Hanslik, Rudolf, CSEL LXXI, Wien 1952, X4. Cf. De Rossi, Giovanni B., Inscriptiones christianae Urbis Romae septimo saeculo antiquiores, t. II, Roma 1888, 21. Cassiodorus (as note 22), X4. Cf. Blaauw, Sible de, Cultus et decor. Liturgie en architectuur in laatantiek en middeleeuws Rome: Basilica Salvatoris, Sanctae Mariae, Sancti Petri, Eburon, Delft 1987, 237. Cf. Toynbee, Jocelyn M. C. / Ward-Perkins, John B., The Shrine of St. Peter and the Vatican Excavations, London / New York / Toronto 1956, 207-208; Meer, Frederik van der, ‘Facie ad populum’, Streven 16 (1962), 207; Matthiae, Guglielmo, Le chiese di Roma dal IV al X secolo, Roma 1962, 45. Cf. Remery (as note 14); cf. also Turonensis, Gregorius, De gloria martyrum, in: Arndt, Wilhelm / Krusch, Bruno (ed.), Hannover 1884, 503-504 [Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Merovingicarum I.1]; de Blaauw (as note 25), 238-240. Le Liber Pontificalis XXXIIII,XVIII, in Duchesne, Louis ed., Le Liber Pontificalis. texte, introduction et commentaire, t. I, Paris 19552, 176. Cfr. Alföldi, Andreas, ‘Die Ausgestaltung des monarchischen Zeremoniells am römischen Kaiserhofe’, Mitteilungen des deutschen archäologischen Instituts Röm 49 (1934), 1-118; Id., ‘Insignien und Tracht der römischen Kaiser’, ibid 50 (1935), 1-171; Mathews, Thomas F., Early Churches of Constantinople. Architecture and Liturgy, Pennsylvania / London 1971, 143.
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constraints of the location of the tomb.30 This led to the liturgy celebrated facie ad populum, because the celebrant continued to face east during the liturgy. This too was copied in other places. In conclusion, a mutual influence of liturgy and architecture can be observed in the layout of the first Vatican Basilica. The experience of three centuries of liturgy dictated the essential layout and disposition of the new genre of building which was the Christian basilica. Because of the central presence of the tomb of St Peter and the spacious interior of the basilica, architecture also influenced liturgy, which is particularly visible in the changed disposition of the essential liturgical elements, and in the changing liturgical direction. The same disposition was followed when the second basilica of St Peter’s was constructed. The only element that was added in later times in lesser churches was the central disposition of the tabernacle where the Body of Christ was conserved. Among others, this was made possible by the shifting in St Peter’s of the celebrants’ chair from the apse to the side of the altar space. Liturgy and architecture cannot be separated from each other, given their symbiotic relationship.
4. Direct and indirect influence From the preceding it may be concluded that architecture and liturgy mutually influence each other. The influence of the architectonical space on the person who enters a church is direct, in the sense that no explanation is needed to make the visitor of a properly designed church aware that he is in the presence of something sacred. This becomes even more clear when the liturgy is celebrated in this space. The grip of liturgy on sacred architecture is thus strong that its essence remains tangible even outside the liturgical celebrations. As Pope Benedict XVI said, “A great many people, pilgrims from all parts of the world, are able to make the most of their pilgrimage or simply their visit to the Vatican Basilica, and take back with them in their hearts a message of faith and hope: a certainty of having seen not only great works of art but of being in contact with the Church alive, with the Apostle Peter and in the end, with Christ”31. These words are not only applicable to the second Vatican Basilica, but just as much to the first, which became one of the archetypes of Christian architecture. Even today in most Catholic churches the same architectonical disposition of the liturgical elements can be recognised. That the disposition of the liturgical space of the first Vatican Basilica has not changed in any significant way throughout the ages, can be considered as proof that the liturgy is served well by this disposition. 30
Cfr. Remery, Michel, ‘Celebratie ad orientem of versus populum? Frits van der Meer en Hans van der Laan over de oriëntatie van het kerkgebouw’, Tijdschrift voor Liturgie 94 (2010, nr. 6), 324337. 31 Benedictus PP. XVI (as note 1).
The Tomb of St. Peter and Evangelisation
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This article has shown how an indirect and a direct influence of sacred architecture can be observed. First, it was seen that the ‘allegorical reading’ of a church may help the faithful in their faith through catechesis and preaching. This is an indirect influence of church architecture, in the sense that it needs a master or teacher who explains these elements. Also, it has to pass through the intellect of the observer, before passing to his heart, the see of faith. As such, architecture and arts have an important educational function for the Christian life and for the proclamation of the Gospel. As Pope Francis said, “By learning to see and appreciate beauty, we learn to reject self-interested pragmatism”32. Second, the church building is not only a vehicle for explaining the faith, but plays itself a role in the essential movement of man towards God. The architecture of the church serves the faithful’s faith by serving liturgy. The church building with its ensemble of form, shape and decorations has a direct influence on the people who enter within its walls, and even on those who see its splendour from the outside. Here, the church edifice does not only serve as catalyst for catechesis as it does when read allegorically; the building has an essential meaning and message of its own, a message that does not need words to be expressed, and goes straight to the heart. For this reason, the church edifice has an important role to play in the evangelisation of our society, and especially of the younger generations who are at the prime of their lives. The eternal message contained within the walls of the Church is not only life-saving at the moment of death, but helps young and old at this very moment to find support, love and spirituality in God, in the midst of a world where these are often are lacking. To return once more to the example of St Peter’s Square, referred to by Pope John Paul II in an allegorical way, the visitor experiences the ‘embrace’ of the arms of the colonnade also without knowing who are depicted by the statues and symbols that adorn it. The perfect use of proportions by Bernini makes that the square corresponds to the human proportions, making the very large square seem to be less big, and giving the visitor a sense of wellbeing. Well applied architectonical proportions have a direct effect on the visitor of a church building, helping him to experience God’s paternal embrace, his own smallness in the face of God, or even God’s presence in this ‘house of God’, without the necessity of prior education in the faith. The subsequent allegorical reading can be the next step in the proclamation of the Gospel. The ultimate aim of both the allegorical and the liturgical reading of a church is to play a role in the relationship of the faithful with their God. Considered thus, both the allegorical and liturgical reading of the church edifice can play an important role in the life of the Church and in the New Evangelisation, speaking to both intellect and heart of people from every generation. Especially the young, so well connected in many ways, would greatly profit from discovering the church edifice as an essential vehicle towards true happiness, personified in God, and experience how the building can help them to be online with God in their lives. 32
Francis PP., Littera Encyclica Laudato si’, 24 May 2015, n. 215.
Der heilige Bischof Clemens von Rom – präsent in Ost und West1
Johannes Hofmann Zweifellos ist der heilige Bischof Clemens von Rom Herrn Kollegen Möde spätestens in seiner römischen Studienzeit „begegnet“, etwa als er zu seiner Alma Mater ging, verschiedene Institute und Bibliotheken aufsuchte oder in der Stadt Besorgungen machte: Auf dem einen oder anderen Weg kam er sicher an der eindrucksvollen römischen Titelkirche San Clemente vorbei. Mag er dem heiligen Clemens dabei schon gelegentlich seine Reverenz erwiesen haben, so wird er bei der Lektüre der folgenden Ausführungen feststellen, dass sein „alter römischer Bekannter“ nicht nur in Rom oder im Westen, sondern auch im Osten bleibende Spuren hinterlassen hat; denn Sankt Clemens kann aufgrund seines Lebens und Werkes, aber auch aufgrund seiner Wirkungsgeschichte als ein bis auf den heutigen Tag präsenter Brückenbauer zwischen Ost und West bezeichnet werden.2 Diese These soll in folgenden fünf Schritten untermauert werden: Zunächst wird die weit über Rom hinausweisende Bedeutung gewürdigt, die der Brief des Clemens an die Gemeinde von Korinth im christlichen Osten besitzt. Im zweiten Abschnitt wird die Biographie des Clemens historisch rekonstruiert und im dritten der Verehrung seiner Reliquien nachgegangen. Der vierte Abschnitt gilt dem „Bild“, das die westliche Hagiographie von Clemens entwirft, während der fünfte Abschnitt – untergliedert in fünf Unterabschnitte – die entsprechenden „Bildvarianten“ der östlichen Hagiographie präsentiert.
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Die allgemeinen Abkürzungen folgen Schwertner, Siegfried M., Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, Berlin / Boston 20143, während die Abkürzungen der patristischen Literatur von Döpp, Siegmar / Geerlings, Wilhelm (Hg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg / Basel / Wien 20023 übernommen werden. So wird Clemens als ein Ost und West verbindender Heiliger z. B. beschrieben in dem von der Gemeinsamen Kommission der Griechisch-Orthodoxen Metropolie von Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz erarbeiteten Dokument „Die Gemeinschaft der Heiligen als Gabe und Aufgabe“, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Die Sakramente (Mysterien) der Kirche und die Gemeinschaft der Heiligen (= Arbeitshilfen Nr. 203), Bonn 2006, 83-112, hier 101f.
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1. Die West und Ost verbindende Rolle des Briefes des Clemens von Rom an die Gemeinde von Korinth3 Als einziges authentisches Werk des Clemens gilt heute nur der Brief der Gemeinde von Rom an die Gemeinde von Korinth, den die altkirchliche Überlieferung einmütig4 und die neuere Forschung mit guten Gründen mehrheitlich5 dem Clemens von Rom zuschreibt und ins letzte Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts datiert. Laut Eusebius von Cäsarea († um 339/40) erwähnt Bischof Dionys von Korinth schon um 170 in seinem Brief an Bischof Soter von Rom (um 166-174) diesen „Brief des Clemens an die Korinther und bemerkt, dass von jeher nach altem Brauch in der Kirche seine Verlesung stattfinde. So schreibt er: ,Heute haben wir nun den heiligen Tag des Herrn begangen und an demselben euren Brief verlesen, den wir immerdar zur erbaulichen Vorlesung aufbewahren werden, wie auch den früheren, uns durch Clemens geschriebenen‘“ (h.e. 4,23,11). Gemäß diesem von Eusebius überlieferten Zeugnis des Dionys aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts wird der Brief des Clemens also bereits damals im Gemeindegottesdienst von Korinth vorgelesen. Indirekt wird des Weiteren deutlich, dass das mit dem Brief verbundene „Eingreifen der römischen Gemeinde in Korinth erfolgreich war. [Denn] wäre es auf Ablehnung gestoßen, wäre das öffentliche Verlesen des Schreibens mehr als 70 Jahre später unverständlich“6. Neben Dionys von Korinth bekunden im 2. und frühen 3. Jahrhundert Polykarp von Smyrna († um 167), Irenäus von Lyon († um 200) und Clemens von Alexandrien († um 220) ihre Hochschätzung des Clemensbriefes, während im 4. Jahrhundert bei Eusebius von Cäsarea – und in seinem Gefolge auch bei Hieronymus († 419/20)7 – erneut davon die Rede ist, dass das genannte Schreiben „in den meisten Kirchen wie früher so auch jetzt in öffentlichem Gebrauch [sei]“ (h.e. 3,16).
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Zum ganzen Abschnitt 1 und den zugehörigen Belegen vgl. Hofmann, Johannes, Das Profil des Klemens von Rom in den gottesdienstlichen Texten des christlichen Ostens, in: Luisier S. J., Philippe (Hg.), Studi su Clemente Romano. Atti degli Incontri di Roma, 29 marzo e 22 novembre 2001 (= OCA 268) Rom 2003, 107-126, hier 107-110. Deshalb werden im Folgenden nur wörtliche Zitate und weiterführende Literaturhinweise zu den herangezogenen Quellen durch Anmerkungen belegt. Vgl. dazu unter der reichen Literatur z. B. Hofmann, Johannes, Unser heiliger Vater Klemens. Ein römischer Bischof im Kalender der griechischen Kirche (= TThS 54) Trier 1992, 22f; Lona, Horacio E., Der erste Clemensbrief (= KAV 2) Göttingen 1998, 66-68; Hofmann, Johannes, Clemens von Rom, in: Döpp / Geerlings (wie Anm. 1), 154f; Drobner, Hubertus R., Lehrbuch der Patrologie, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / Brüssel / New York / Oxford / Wien 20042, 96-98. Vgl. hier und im Folgenden Hofmann, Unser heiliger Vater Klemens (wie Anm. 4), 23 (knappe Übersicht); Lona (wie Anm. 4), 69-78 (hervorragende Diskussion der reichen Literatur). Lona (wie Anm. 4), 66. Wie Lona (wie Anm. 4), 89 Anm. 2 feststellt, ist „die Notiz des Hieronymus: „... et quae in nonnullis locis etiam publice legitur“ (De Vir. Ill. 15) [...] von Euseb abhängig“.
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Mag Eusebius damit auch übertreiben, so zählen die wohl um 380 im syrischen Antiochien kompilierten Apostolischen Konstitutionen8 den Clemensbrief an die Korinther (künftig: 1 Clem.) und – mit ihm gekoppelt – den im 2. Jahrhundert entstandenen pseudepigraphischen 2. Clemensbrief (künftig: 2 Clem.) ausdrücklich zum neutestamentlichen Kanon, wenn sie diese beiden Clemensschriften auch erst am Schluss der neutestamentlichen Schriften, also nach dem Judasbrief und den beiden Petrusbriefen führen. Nicht unwichtig ist, dass sich die Apostolischen Konstitutionen auch selbst als kanonische Schrift verstehen, indem sie sich als ein Werk ausgeben, das die Apostel und die Presbyter an alle Heidenchristen richten9 und das den Bischöfen und den übrigen Priestern durch „unseren Amtsgenossen Clemens“ mitgeteilt10 und als Bestandteil der Heiligen Schrift übergeben11 wird. Angesichts des damit ausgedrückten Ansehens des Clemens, das ihn deutlich in die Nähe der Apostel rückt, ist es nicht verwunderlich, dass die Apostolischen Konstitutionen künftig im Kirchenrecht der östlichen Reichskirche, aber auch der orientalischen Kirchen vorephesinischer und vorchalzedonischer Tradition eine intensive Rezeption erfahren12. In erster Linie sind es freilich die beiden Clemensbriefe, die fortan in den Kirchen vorchalzedonischer Tradition zu den kanonischen Schriften zählen. So überliefert bereits der im 5. Jahrhundert geschriebene Codex Alexandrinus 1 und 2 Clem. am Schluss einer Bibelhandschrift und bestätigt der ägyptischen Kirche damit die Rezeption des neutestamentlichen Kanons der Apostolischen Konstitutionen. In der syrischen Kirche rücken die beiden Clemensbriefe spätestens im 7./8. Jahrhundert, wie noch eine syrische Bibelhandschrift des 12. Jahrhunderts bezeugt, vom Ende der neutestamentlichen Schriften in eine zwischen den katholischen Briefen und dem Corpus Paulinum gelegene Position auf und finden demzufolge auch im syrischen Gemeindegottesdienst dieser Ära Verwendung. *** Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass Clemens durch das Ansehen seines Korintherbriefes und den Einfluss der Apostolischen Konstitutionen in den vorchalzedonischen Kirchen zum Mitliturgen der Apostel „aufsteigt“ und so die 8
Zur literarischen Einordnung, Datierung und Lokalisierung der Apostolischen Konstitutionen vgl. ausführlich Synek, Eva M., Οἶκος. Zum Ehe- und Familienrecht der Apostolischen Konstitutionen (= KuR 22), Wien 1999, 25-32. 9 Vgl. Const. App. 1 praescr. 1 (Ed. Marcel Metzger, Les Constitutions Apostoliques, Bd. 1 [= SC 320] Paris 1985, 1021f). 10 Vgl. ebd. 6,18,11 (Ed. Marcel Metzger, Les Constitutions Apostoliques, Bd. 2 [= SC 329] Paris 1985, 35464-67). 11 Vgl. ebd. 8,47,85 (Ed. Marcel Metzger, Les Constitutions Apostoliques, Bd. 3 [= SC 336] Paris 1987, 306383-308396). 12 Vgl. Synek, Eva M., „Dieses Gesetz ist gut, heilig, es zwingt nicht ...“. Zum Gesetzesbegriff der Apostolischen Konstitutionen (= KuR 21), Wien 1997, 20-26; dies. (wie Anm. 8), 278-283. − Wie Synek, „Dieses Gesetz“ a.a.O., 25 außerdem zeigt, kann selbst die ablehnende Haltung des Decretum Gelasianum (6. Jh.) nicht verhindern, dass zumindest ein Teil der Apostolischen Konstitutionen, nämlich die Apostolischen Kanones, auch im Westen rezipiert werden.
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Autorität der Kirche von Rom unter den östlichen Kirchen nachhaltig fördert. Im Zuge dieser Entwicklung suchen und finden in der Folgezeit zahlreiche Pseudepigraphen homiletisch-kerygmatischen, liturgischen und vor allem kanonistischen Inhalts unter dem Namen des Clemens kirchliche Anerkennung in Ost und West.13 Aber auch im historisch rekonstruierbaren Leben, Wirken und Sterben des Clemens machen sich West und Ost verbindende Züge bemerkbar.
2. Das zwischen West und Ost verlaufende Leben, Wirken und Sterben des Clemens von Rom Über die Herkunft des Clemens ist wenig bekannt. Doch scheint sich in seinem Brief an die Gemeinde von Korinth (l Clem.) seine Abstammung aus heidenchristlichen Kreisen Roms bemerkbar zu machen.14 Möglicherweise ist er ein Freigelassener des Konsuls Titus Flavius Clemens. Die Gebäude unter der römischen Titelkirche San Clemente sind allerdings nicht mit dem Haus des Clemens zu identifizieren, gehörten aber eventuell dem Konsul Titus Flavius Clemens und könnten damit das Milieu markieren, in dem Clemens zunächst lebt und wirkt. Wie Irenäus von Lyon († um 200) bezeugt, kennt Clemens die Apostel Petrus und Paulus und könnte sogar der in Phil 4,3 erwähnte Mitarbeiter des Paulus gewesen sein. Einige Aussagen von l Clem. legen es nahe, dass er in jungen Jahren Zeuge der Neronischen Christenverfolgung in Rom ist, der um 67/68 der Apostel Petrus zum Opfer fällt. Mit Irenäus von Lyon darf man Clemens für einen leitenden Episkopen halten, der zusammen mit einem Presbyterkollegium der Gemeinde von Rom an dritter Stelle nach den Aposteln Petrus und Paulus vorsteht.15 Vorbehaltlich einer gewissen Vorsicht gegenüber der frühchristlichen Chronologie lässt sich sein Wirken eventuell sogar auf die von Eusebius († um 339/40) erstmals überlieferte Amtszeit zwischen 91/92 und 100/101 eingrenzen. In dieser Zeit scheinen er und seine Gemeinde um 93/96 von der Domitianischen Christenverfolgung schwer betroffen gewesen zu sein. Kurz danach richtet er im Namen seiner Kirche den oben erwähnten Brief an die Gemeinde von Korinth (1 Clem.). Ansonsten entzieht sich das Wirken des Clemens dem Zugriff des Historikers.16 Das gilt nicht für seinen Märtyrertod. Wird Clemens doch seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert als Märtyrer bezeichnet, also mit Verhältnissen in Verbindung ge13
Vgl. dazu zusammenfassend Hofmann, Unser heiliger Vater Klemens (wie Anm. 4), 24-44; ders., Ps.-Clementinische Literatur, in: Döpp / Geerlings (wie Anm. 1), 155-157 (mit Literatur); Hofmann, Das Profil des Klemens von Rom (wie Anm. 3), 110-116 (mit Literatur). 14 Zur historisch rekonstruierbaren Biographie des Clemens vgl. hier und im Folgenden Hofmann, Unser heiliger Vater Klemens (wie Anm. 4), 8-15 (mit Quellen und Literatur). 15 Zum episkopalen Dienst des Clemens in der Gemeinde von Rom vgl. hier und im Folgenden ebd., 16-23 (mit Quellen und Literatur). 16 Zu späteren, historisch aber nicht verifizierbaren Clemens-Überlieferungen vgl. ebd., 45-47.
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bracht, die im späten 1. Jahrhundert tatsächlich der kirchlichen Situation Roms entsprechen.17 Obwohl die wohl erst im 5. Jahrhundert schriftlich aufgezeichnete Passio sancti Clementis zahlreiche fiktive Persönlichkeiten und offensichtliche Anachronismen und Übertreibungen enthält, scheint sich in ihr die unter Kaiser Trajan erfolgte Verbannung des Clemens nach Cherson auf der Krim, sein dortiger Ertränkungstod im Schwarzen Meer, die Auffindung seines Leichnams durch chersonesische Christen und seine Bestattung auf einer nahe gelegenen Insel als historischer Kern abzuzeichnen. Schließlich wird deutlich, dass Clemens hauptsächlich im Westen wirkt, seinen Märtyrertod aber im Osten erleidet. Wie sich zeigen wird, breitet sich aber auch seine Verehrung in West und Ost gleichermaßen aus.
3. Die Verehrung der Clemensreliquien in Ost und West Das Grab des Clemens von Rom, dessen kultische Verehrung im 5. Jahrhundert in Cherson nachweisbar ist, gerät in den unruhigen Zeiten des 7. Jahrhunderts zwar in Vergessenheit.18 Doch ist der Lehrer der Slaven Konstantin-Cyrill, wie er selbst und einige Zeitgenossen berichten, 861 nach umsichtigen Nachforschungen davon überzeugt, dieses Grab gefunden zu haben. Auf seine Initiative hin werden die dortigen Reliquien erhoben, von den Chersonesen feierlich eingeholt und in ihrer Kathedrale niedergelegt. Fortan fördern Cyrill und sein Bruder Method den Clemenskult, indem sie bei ihrer Slavenmission Clemensreliquien mit sich führen und diese unter Papst Hadrian II. (867-872) nach Rom in die Kirche San Clemente übertragen, wo sie heute noch ruhen. Das in Cherson zurückgelassene Haupt des Clemens überführt Großfürst Vladimir 988 nach Kiev und lässt es hier 989 wohl in der Zehntkirche niederlegen, wenn es auch 1240 dem Tatarensturm zum Opfer gefallen sein dürfte. Neben den in Cherson, bei den Slaven, in Rom und in Kiev verehrten Clemensreliquien und den zahlreichen Clemenskirchen in Nord-, Mittelund Osteuropa19 bezeugt aber auch die Hagiographie die Verehrung des Clemens von Rom in West und Ost.
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Zum Martyrium des Clemens vgl. hier und im Folgenden ebd., 47-56 (mit Quellen und Literatur). Zur Auffindung des Clemensgrabes und zur Verehrung der Clemensreliquien in Cherson, bei den Slaven, in Rom und in Kiev vgl. ebd., 57-68 (mit Quellen und Literatur). 19 Zu den zahlreichen Clemenskirchen in England, Island, Norwegen, Dänemark, Schweden und in den norddeutschen Küstenländern, aber auch in den Niederlanden, Belgien, Deutschland und Russland vgl. zusammenfassend Hofmann, Dietrich, Die Legende von Sankt Clemens in den skandinavischen Ländern im Mittelalter (= Beiträge zur Skandinavistik 13) Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1997, 157-219.
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4. Die Entfaltung des hagiographischen Clemensbildes im Westen Wie z. B. aus der oben erwähnten Passio sancti Clementis (5. Jahrhundert), aus den Nachrichten des Archidiakons Theodosius (um 520/30) und des Gregor von Tours († 594),20 aber auch aus der im mittelalterlichen Skandinavien verbreiteten Clemenslegende21 und aus der Legenda Aurea des Jakobus a Voragine († 1298)22 hervorgeht, entfaltet sich im Abendland eine reiche Clemenshagiographie. Besonders repräsentativ sind dafür die Martyrologien, zumal ihr Text auch in der Liturgie Verwendung findet. Schon die Texte der historischen Martyrologien, die im 8. Jahrhundert am Ende der Heiligen Messe und seit dem frühen 9. Jahrhundert während der Prim verlesen werden,23 sind sehr nüchtern formuliert und orientieren sich hauptsächlich an der Historie. Diese Charakterisierung gilt schon für das Ende des 9. Jahrhunderts entstandene Martyrologium des Usuard von St. Germain des Prés († wohl 877), das bis zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils die maßgebliche Grundlage des Martyrologium Romanum bildet24 und Clemens als ersten von sechs Heiligen am 23. November folgendermaßen kommemoriert: „Gedächtnis des heiligen Bischofs Clemens, der als Vierter ab dem seligen Apostel Petrus den Pontifikat der Römischen Kirche inne hatte und während der Verfolgung Trajans ins Meer gestürzt und mit dem Martyrium gekrönt wird.“25 Usuard folgt hier den von Mommsen Index genannten Papstkatalogen des 5. bis 7. Jahrhunderts, die Petrus für den ersten Bischof von Rom halten und Clemens daher irrtümlich auf den vierten Platz ihrer Bischofsliste rücken,26 wie auch dessen Bischofsamt gemäß den obigen Ausführungen in einem weiteren Sinn zu interpretieren ist. Ansonsten verweist Usuard lediglich auf das historisch wahrscheinliche Ertränkungsmartyrium der Passio sancti Clementis und datiert dieses – chronologisch korrekt – in die Regierungszeit Kaiser Trajans (98-117), übergeht aber den Martyriumsort. 20 21 22 23
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Zu den Zeugnissen des Archidiakons Theodosius und des Gregor von Tours vgl. Hofmann, Unser heiliger Vater Klemens (wie Anm. 4), 57. Vgl. Hofmann, Die Legende (wie Anm. 19). Vgl. Jakobus a Voragine, Legenda Aurea 166 (Ed. Maggioni, Giovanni Paolo, Iacopo da Varazze, Legenda Aurea [= Millennio Medievale 6, Testi 3] Bd.2, Florenz 19982, 1188-1202). Zu den historischen Martyrologien und ihren liturgischen Ort vgl. zusammenfassend Hofmann, Johannes, Kalender, Martyrologium, Menologion, Synaxarion, in: Döpp / Geerlings (wie Anm. 1), 419f, hier 419 (mit Literatur). Vgl. ebd., 419. Martyrologium des Usuard zum 23. November (Ed. Dubois, Jaques, Le Martyrologe d’Usuard. Texte et Commentaire [= SHG 40] Brüssel 1965, 346): „Natalis sancti Clementis episcopi, qui quartus a beato Petro Apostolo Romanae Ecclesiae pontificatum tenuit et sub persecutione Traiani in mare praecipitatus martyrio coronatur“ (Übers. des Verfassers). Zur historisch korrekten Zählung des Clemens als dritten Bischof von Rom vgl. Hofmann, Unser heiliger Vater Klemens (wie Anm. 4), 16-19, zum diesbezüglichen Irrtum der Index genannten Papstkataloge vgl. ebd., 16f.
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Ausführlicher äußert sich das von Kardinal Baronius redigierte und 1584 als offizielles Martyrologium der Römischen Kirche vorgeschriebene Martyrologium Romanum, das seither viele Auflagen und Verbesserungen erfährt, im vergangenen Jahrhundert insbesondere im Jahr 1922.27 Diese Auflage wird allerdings stark kritisiert, weshalb sie 1940 von den Bollandisten verbessert publiziert und mit historischen und kritischen Anmerkungen versehen wird. Ihre am 23. November an erster Stelle angebrachte Clemenskommemoration lautet folgendermaßen: „Gedächtnis des heiligen Papstes Clemens, der als Dritter nach dem seligen Apostel Petrus den Pontifikat inne hatte und der – während der Verfolgung Trajans nach Cherson verbannt – hier mit einem um seinen Hals gebundenen Anker ins Meer gestürzt und mit dem Martyrium gekrönt wird. Sein Leib wurde unter Papst Nikolaus I. nach Rom überführt und in der Kirche, die schon vorher für ihn errichtet worden war, ehrenhaft beigesetzt.“28 Die Redaktoren legen Clemens hier zwar auf anachronistische Weise den Papsttitel bei,29 bezeichnen ihn aber zu Recht als dritten nach Petrus und damit letztlich als dritten Bischof von Rom. Ebenso rezipieren sie aus der Passio sancti Clementis seine oben wahrscheinlich gemachte Verbannung nach Cherson und sein hier im Meer erfolgtes Ertränkungsmartyrium. Schließlich übernehmen sie in sehr allgemeiner Formulierung die auf authentische Quellen zurückgehende Nachricht über die Translation der Clemensreliquien in die römische Titelkirche San Clemente, begehen dabei aber den Fehler, dieses Geschehen in die Zeit Papst Nikolaus’ I. (858-867) zu datieren. Diesen Fehler revidiert die 1948 erschienene dritte Auflage der Martyrologiumsausgabe von 1922, indem sie den bisherigen Text weitgehend übernimmt, die Beschreibung der Reliquientranslation jedoch – auf der Grundlage der oben genannten authentischen Quellen – zutreffend korrigiert:
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Vgl. hier und im Folgenden Saxer, Victor, Martyrologien, in LThK3 6 (1997) 1441-1443, hier 1443. Martyrologium Romanum zum 23. November (Ed. Hippolyt Delehaye u. a., Martyrologium Romanum ad formam editionis typicae scholiis historicis instructum [= ActaSS, Propylaeum ad mens dec.] Brüssel 1940, 540): „Natalis sancti Clementis papae, qui tertius post beatum Petrum apostolum pontificatum tenuit, et in persecutione Traiani apud Chersonesum relegatus, ibi alligata ad collum eius anchora in mare praecipitatus martyrio coronatur; cuius corpus Nicolao primo pontifice Romam translatum, in ecclesia, quae eius nomine antea fuerat extructa, honorifice reconditum est“ (Übers. des Verfassers). 29 Zu dem erst seit dem 5. Jahrhundert fast exklusiv den Bischöfen von Rom und Alexandrien vorbehaltenen Papsttitel vgl. unter dem Lemma pápas (papás, páppas) die Quellenbelege bei Lampe, G[eoffrey] W. H., A Patristic Greek Lexicon, Oxford 1961 (13. unveränderte Auflage 1997), 1006A1b und c.
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„Sein Leib aber wurde unter Papst Hadrian II. von den heiligen Brüdern Cyrill und Method überführt und in der Kirche, die schon vorher für ihn errichtet worden war, ehrenhaft beigesetzt.“30 Das nach dem Vaticanum II erneuerte Martyrologium Romanum sieht neuerdings vor, dass seine Verlesung während der Laudes31 oder außerhalb des Stundengebets32 erfolgen soll. Im Zuge der nachkonziliaren Kalenderreform behält es den 23. November zwar als Gedenktag des Clemens bei, setzt inhaltlich aber folgende neue Akzente: „[Gedächtnis] des heiligen Papstes Clemens I., eines Märtyrers, der als Dritter nach dem seligen Apostel Petrus die Römische Kirche leitete und an die Korinther einen berühmten Brief schrieb, um unter ihnen Frieden und Eintracht zu stärken. An diesem Tag wird die Beisetzung seines Leibes in Rom begangen.“33 Es wird also die bisherige Clemensüberlieferung übernommen, die ihn als Papst, als dritten Bischof von Rom nach Petrus und als Märtyrer charakterisiert; doch fehlen – wohl aufgrund historischer Unsicherheiten34 – Nachrichten über Art, Ort und Zeit des Martyriums. Neu ist der Verweis auf den authentischen Brief des Clemens an die Korinther, der – wie oben ausgeführt – in Ost und West breit rezipiert wurde und daher von den Redaktoren wohl als Beispiel für die überlokale päpstliche „Sorge um alle Kirchen“ (2 Kor 11,28)35 herangezogen wurde. *** Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Clemens im alten Martyrologium Romanum als Papst bezeichnet und aus chronologischen und wohl auch ekklesiologi30
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Martyrologium Romanum. Tertia post typicam editio iuxta primam a typica editionem anno MDCCCCXXII a Benedicto XV adprobatam, Vatikan 1948, 289f zum 23. November: „Ipsíus autem corpus Hadriáno Secúndo Summo Pontífice, a sanctis Cyríllo et Methódio frátribus Romam translátum, in Ecclésia quae eius nómine ántea fúerat exstrúcta, honorífice recónditum est“ (Übers. des Verfassers). Vgl. Martyrologium Romanum ex decreto sacrosancti oecumenici concilii Vaticani II instauratum auctoritate Ioannis Pauli PP. II promulgatum, Vatikan 20042, 29. Vgl. ebd., 31. Ebd., 637 zum 23. November: „Sancti Cleméntis papae, mártyris, qui, tertius post beátum Petrum Apóstolum, Románam rexit Ecclésiam et ad Corínthios praecláram scripsit epístulam ad pacem et concórdiam inter illos firmándam. Hac die deposítio córporis eius Romae cólitur“ (Übers. des Verfassers). Oben wurde allerdings die Historizität von Art, Ort und Zeit des Martyriums wahrscheinlich gemacht! Wie Hofmann, Johannes, Verbindlichkeit, Wandel und Grenzen der Bestimmungen der ersten vier ökumenischen Synoden zum Vorrang der alten Hauptkirchen des Römischen Reiches und zum Aufstieg Konstantinopels und Jerusalems, in: Costellazioni geo-ecclesiali da Costantino a Giustiniano: Dalle Chiese `Principali’ alle Chiese Patriarcali. XLIII Incontro di Studiosi dell’Antichità Cristiana. Roma, 7-9 maggio 2015 (= SEAug 149), Rom 2017, 181-209, hier 196 neuerdings feststellt, gebraucht bereits Papst Innozenz I. († 417) diese paulinische Formulierung, um damit die überlokale Sorgepflicht der römischen Bischöfe auszudrücken.
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schen Gründen als dritter Bischof von Rom nach dem Apostel Petrus und als unter Kaiser Trajan bei Cherson ertränkter Märtyrer charakterisiert wird. In der Redaktion von 1948 wird darüber hinaus seine von den heiligen Brüdern Cyrill und Method durchgeführte Translation in die römische Titelkirche San Clemente festgehalten. Das neue Martyrologium Romanum beschränkt sich auf seine Bezeichnung als Papst, Märtyrer und dritten Bischof von Rom nach Petrus. Besonders hebt es seinen authentischen Brief an die Gemeinde von Korinth hervor, um dadurch wohl die überlokale päpstliche Sorge um auswärtige Ortskirchen zu betonen.
5. Die Entfaltung des hagiographischen Clemensbildes im Osten Vergleichbare, aber auch unterschiedliche Züge machen sich im Clemensbild der östlichen Hagiographie bemerkbar. Für sie ist nicht zuletzt die martyrologiumsartige Synaxarnotiz repräsentativ, die Clemens gewidmet ist. Unter Synaxarnotizen sind näherhin jene knappen hagiographischen Texte zu verstehen, die in den orthodoxen Kirchen byzantinischer Tradition36 sowie in den vorchalzedonischen Kirchen der Kopten, Armenier und Äthiopier37 entstanden sind. Ursprünglich sind sie im griechischen Sprachraum in selbständigen, das ganze Kirchenjahr umfassenden Synaxarien überliefert;38 doch werden sie hier spätestens im sechzehnten Jahrhundert in das Menaion39 integriert,40 aus dem sie am Gedenktag des entsprechenden Heiligen im byzantinischen Morgengottesdienst41 vorgelesen und in dieser Funktion auch von den oben genannten vorchalzedonischen Kirchen übernommen werden. Das in ihnen entfaltete Clemensbild soll daher als Pars pro toto für die reiche östliche Clemens-Hagiographie in den Blick genommen werden.
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Unter den verschiedenen orthodoxen Kirchen byzantinischer Tradition sind nach Bremer, Thomas / Gazer, Hac ̣ik Rafi / Lange, Christian (Hg.), Die orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition, Darmstadt 2013, X jene östlichen Kirchen zu verstehen, die „im allgemeinen Bewusstsein als klassisch „orthodox“ angesehen werden“ und „sich alle zur christologischen Aussage des Konzils von Chalkedon (451)“ bekennen. Wie Mykhaleyko, Andriy, Die katholischen Ostkirchen (= BenshH 113 = Die Kirchen der Gegenwart 3), Göttingen 2012, 106-152 detailliert darstellt, entstanden seit dem 16. Jahrhundert auch katholische Ostkirchen dieser Prägung. Zu den aufgezählten und weiteren vorchalzedonischen Kirchen, die auch als altorientalische Kirchen bezeichnet werden, vgl. ausführlich Lange, Christian / Pinggéra, Karl (Hg.), Die altorientalischen Kirchen. Glaube und Geschichte, Darmstadt 2010. Vgl. die knappe Entstehungsgeschichte der Synaxarien im byzantinischen Raum bei Hofmann, Unser heiliger Vater Klemens (wie Anm. 4), 4 (mit Literatur). Wie ebd., 3 (mit Literatur) dargestellt wird, handelt es sich beim Menaion um ein in allen orthodoxen Kirchen byzantinischer Tradition übliches liturgisches Buch, das – aufgeteilt in zwölf Monatsbände – für das tägliche Stundengebet das Proprium Sanctorum des unbeweglichen Kirchenjahres bereithält. – Die in anderen Sprachen der orthodoxen Kirchen byzantinischer Tradition vorliegenden Menaion-Varianten werden im Folgenden allerdings nicht herangezogen. Vgl. ebd., 72. Zur Geschichte und zur Stellung der Synaxarnotizen im byzantinischen Morgengottesdienst vgl. zusammenfassend Hofmann, Kalender (wie Anm. 23), 419f (mit Literatur).
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5.1 Das hagiographische Profil der Clemensnotiz im Menaion der griechischen orthodoxen Kirche42 Das aktuelle griechische Menaion würdigt die Tagesheiligen des 24. November im Morgengottesdienst (Orthros) mit elf Synaxarnotizen und gedenkt unter diesen an erster Stelle des Clemens von Rom. Freilich dürfte das Clemensgedächtnis ursprünglich am 25. November gefeiert worden sein und unter diesem Datum spätestens im 5. Jahrhundert vom chersonesischen Grab des Heiligen seinen Ausgang genommen haben, bis es im 14. Jahrhundert dem Fest der heiligen Katharina „Platz macht“ und auf den 24. November vorverlegt wird. Der Text der Clemensnotiz reicht in seinem Kern bis ins 10. Jahrhundert zurück und erfährt im 12. Jahrhundert seine Endredaktion. Die Redaktoren greifen in erster Linie auf einen Text zurück, der die sogenannte ältere Clementinen-Epitome (entstanden spätestens im 9./10. Jahrhundert) sowie die griechische Version der ursprünglich lateinischen Passio sancti Clementis (entstanden im 5. Jahrhundert) umfasst. Im 12. Jahrhundert fügen sie das sogenannte Miraculum Clementis (entstanden frühestens im 7. Jahrhundert) hinzu und je einmal ziehen sie die Apostolischen Konstitutionen (entstanden um 380) sowie irrtümlich die Passio des Clemens von Ankyra († 304/12) heran. Wie den meisten Synaxarnotizen des griechischen Menaions verleihen sie schließlich auch der Clemensnotiz folgende strukturell Gestalt: 1. Tagesdatum. 2. Titel des Gedächtnisses. 3. Epigramm des Christophorus Mitylinäus († um 1050) auf den Heiligen. 4. Bios des Heiligen. Im Titel würdigt die Notiz Clemens bereits im 10. Jahrhundert zunächst durch den Ehrentitel eines Vaters im Heiligtum als einen hervorragenden Vertreter des bischöflichen Priester-, Hirten- und Lehramtes und präsentiert ihn anschließend als Bischof von Rom. Das Epigramm des Christophorus Mitylinäus bringt daraufhin die für Clemens ambivalente Bedeutung des Ankers zum Ausdruck, indem es im Sinne altchristlicher Ankersymbolik den Anker durch ein Wortspiel einerseits als todbringendes Marterwerkzeug beschreibt, andererseits Christus als endgültigen Anker bezeichnet, bei dem Clemens nach seinem Martyrium eintrifft und ewiges Leben gewinnt. Nach dem Epigramm stellt der Bios – analog zur Vita Cypriani (3. Jahrhundert) – Clemens zunächst mit lobenden Attributen vor, indem er ihn schon im 10. Jahrhundert durch den substantivierten Superlativ sophótatos als einen Gelehrten – genauer gesagt als einen wahren Philosophen – darstellt. Danach fügt ein Redaktor des 12. Jahrhunderts die historisch nicht haltbare Nachricht über die römische Herkunft des Clemens aus kaiserlicher Familie in den Bios ein. Schon im 10. Jahr42
Zum ganzen Abschnitt 5.1 und zu den zugehörigen Belegen vgl. Hofmann, Das Profil des Klemens von Rom (wie Anm. 3), 116-120.
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hundert ist dagegen in der Einleitung des Bios davon die Rede, dass sich der Heilige auf die hellenische Wissenschaft, d. h. auf die in heidnischer Zeit entstandenen wissenschaftlichen Disziplinen verstanden habe. Folglich lässt diese ältere Redaktionsschicht des Bios unter dem Einfluss der Pseudoclementinen nur die von Mythen gereinigte hellenische Wissenschaft als Bildungsgrundlage des Clemens gelten. Die historische Realität des Clemensbriefes (1 Clem.) trifft die Endredaktion des 12. Jahrhunderts freilich besser, wenn sie unbefangen davon spricht, Clemens habe die ganze persönlichkeitsformende und dem Mythos gegenüber offene Bildung der hellenischen Wissenschaft empfangen. Der nun folgende Hauptteil des Clemensbios beschäftigt sich mit seinem spezifisch christlichen Lebenslauf. Dieser beginnt mit einer unglücklichen Meerfahrt, die nach der Endredaktion des 12. Jahrhunderts in einem Schiffbruch endet. Daraufhin begegnet Clemens dem Apostelkoryphäen Petrus und wird von ihm in den christlichen Glauben eingeführt. Offensichtlich scheint der Endredaktor des 12. Jahrhunderts mit dem Bild des Schiffbruchs ein beliebtes Erzählmotiv aufzugreifen, mit dem er wohl den geistigen Schiffbruch charakterisieren will, den Clemens auf seiner Suche nach der Wahrheit mit der heidnischen Philosophie erleidet. Die vom Endredaktor ebenfalls thematisierte persönliche Bekanntschaft des Heiligen mit den Aposteln Petrus und Paulus und ihrem Kerygma dürfte dagegen auf der historisch erschließbaren Biographie des Clemens beruhen. Als syntaktische und inhaltliche Einheit folgt daraufhin schon im 10. Jahrhundert ein sehr informativer und im Bios stets beibehaltener Satz, wonach Clemens, nachdem er ein Verkündiger des Evangeliums geworden und die Anordnungen der Apostel niedergeschrieben habe, zum Bischof von Rom eingesetzt worden sei. Durch den Ehrentitel eines Verkündigers des Evangeliums sollen Clemens und seine Lehre qualitativ wohl in die Nähe der Apostel gerückt werden, während man mit den angeblich von ihm aufgezeichneten Anordnungen der Apostel offensichtlich seine zuverlässige Überlieferung der authentischen kirchlichen Ordnung zum Ausdruck bringen will. Beide Charakteristika – die apostolische Verkündigungstätigkeit und die getreuliche Überlieferung apostolischer Anordnungen – dürften deshalb hier zur Sprache kommen, um dadurch die hervorragende Eignung des Clemens zum Bischof von Rom zu unterstreichen; denn unmittelbar nach ihrer Nennung ist von seiner römischen Amtseinsetzung die Rede. Wenn es historisch auch nicht möglich ist, Clemens die Anordnungen der Apostel, mit anderen Worten, die oben erwähnten, erst um 380 entstandenen Apostolischen Konstitutionen, zuzuschreiben, so kann man mit historischen Methoden doch wahrscheinlich machen, dass er ein mit dem Apostel Paulus zusammenarbeitender Verkündiger des Evangeliums ist, der später der Gemeinde von Rom zusammen mit einem Presbyterkollegium in einem weiteren, allerdings noch nicht monepiskopal interpretierbaren Sinn als Bischof vorsteht. Gleich danach leitet der Bios mit einer bis ins 10. Jahrhundert zurückreichenden Formulierung zum Martyrium des Clemens über, indem er berichtet, Clemens sei unter einem Domitian festgenommen und gefoltert worden. Freilich liegt hier
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eine Verwechslung mit dem Martyrium des Clemens von Ankyra († 304/12) vor. Historisch glaubwürdig ist dagegen die anschließende Nachricht über die Verbannung des Clemens nach Cherson und sein Ertränkungsmartyrium, das er dort im Meer mittels eines um den Hals gebundenen Ankers erleidet; denn mit dieser Formulierung kehrt ein Redaktor des 12. Jahrhunderts zu den fundierten Angaben der Passio sancti Clementis zurück und korrigiert so irrtümliche ältere Bios-Varianten. Erst seit dem 12. Jahrhundert beschließen den Bios zwei um das chersonesische Clemensgrab kreisende Wunderlegenden, die in der hagiographischen Literatur erstmals im 5. und 6. Jahrhundert auftauchen und sich im gegenwärtigen griechischen Menaion durch einen neuen Absatz vom vorausgehenden Text absetzen. In der ersten Legende ist davon die Rede, dass das auf einer Meeresinsel bei Cherson gelegene Clemensgrab alljährlich am Gedenktag des Heiligen durch gottgewirktes Zurückweichen des Meeres zugänglich wird, während die zweite Legende von der wunderbaren Auffindung eines am Clemensgrab zurückgelassenen und ertrunken geglaubten Kindes erzählt. In beiden Wunderlegenden dürfte jeweils ein Motiv des Isis- und Osirismythos aufgegriffen und in Gestalt einer christlichen Auferstehungslegende zu einer Ätiologie der Clemensgrabinsel und der zugehörigen Jahreswallfahrt umgeformt worden sein. Damit gelingt es der seit der sogenannten „Konstantinischen Wende“ erstarkenden Ortskirche von Cherson offensichtlich, Clemens und sein Meeresgrab zu überzeugenden Symbolen christlicher Auferstehungshoffnung zu stilisieren und so den lokalen Isis- und Osiriskult zu verdrängen; denn der ursprünglich in Ägypten beheimatete, seit der Spätantike aber im ganzen Römischen Reich – auch in der Gegend von Cherson – verbreitete Isis- und Osiriskult ist maßgeblich vom Inselgrab des ertrunkenen Gottes Osiris und von der Auffindung seines wiederbelebten Leichnams geprägt.
5.2 Das hagiographische Profil der Clemensnotiz im Synaxar der koptischen Kirche43 Das aktuelle Synaxar der vorchalzedonischen koptischen Kirche, das im Wesentlichen auf das um 1250 von Bischof Michael von Atrīb und Malīğ arabisch bearbeitete und wohl im 14. Jahrhundert nochmals arabisch redigierte koptische Synaxar zurückgeht, würdigt die Tagesheiligen des 29. Hatur (= 25. November) mit zwei Notizen, indem es das ursprüngliche Gedächtnisdatum des Clemens von Rom zwar beibehält, ihn aber erst an zweiter Stelle kommemoriert44. Die Struktur dieser Notiz 43
Zum ganzen Abschnitt 5.2 und zu den zugehörigen Belegen vgl. ausführlicher Hofmann, Das Profil des Klemens von Rom (wie Anm. 3), 120-122. Deshalb werden im Folgenden nur wörtliche Zitate und weiterführende Literaturhinweise zu den herangezogenen Quellen durch Anmerkungen belegt. 44 Vgl. Koptische Clemensnotiz zum 29. Hatour bzw. 25. November (arab. Ed./franz. Übers. Basset, René, Le Synaxaire Arabe Jacobite [Rédaction Copte], II. Les mois de Hatour et de Kihak [= PO 3] Turnhout 1971, 283-285, hier 283; lat. Übers. Forget, Jaques, Synaxarium Alexandrinum, Bd. 1 [= CSCO 78] Löwen 1921, 164f, hier 164; dt. Übers. Suter, Robert u. Lilly, Das Synaxarium. Das
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ist etwas einfacher als die griechische, umfasst jedoch ebenfalls vier Elemente, nämlich: 1. Das Tagesdatum. 2. Den Titel des Clemensgedächtnisses. 3. Den Clemensbios. 4. Die Anrufung der Fürsprache des Clemens. Der Titel der Notiz charakterisiert den Heiligen als „den großen heiligen Clemens, Papst von Rom“, der am gleichen Tag, also am 25. November, den Märtyrertod stirbt.45 Mit dem Epitheton groß würdigt sie offenbar die bedeutende Rolle, die Clemens in der kirchlichen Literatur Ägyptens spielt.46 Darüber hinaus legt sie ihm – unberührt von diesbezüglichen griechisch-lateinischen Kontroversen – ganz unbefangen den Papsttitel bei, zumal der koptische Patriarch von Alexandrien diesen Titel bis auf den heutigen Tag führt.47 Der Bios folgt inhaltlich und strukturell weitgehend der griechischen Clemensnotiz, erweitert sie aber durch weitere Nachrichten und ausführlichere Darstellung. So findet die erste Begegnung des Clemens mit Petrus – im Unterschied zu den Pseudoclementinen und ihren arabischen Epitomen – ausdrücklich in Rom statt, wo der Apostel den Clemens – gemäß klassischem vorchalzedonischem Tenor – vor allem von der „Göttlichkeit Christi“ überzeugt, sodass Clemens zum Glauben findet, von Petrus getauft wird und ihm folgt48. Außerdem wird Clemens als Novum die Verfasserschaft der Viten der Jünger und was ihnen von den Kaisern widerfuhr49 zugeschrieben, eine Zusammenstellung jüngerer pseudepigraphischer Apostelakten, die wohl erst Mitte des dreizehnten Jahrhunderts oder etwas später ins Arabische übertragen wurden. Ausführlicher, aber nicht grundlegend anders als in der griechischen Notiz, wird die nach Clemens’ Ertränkung erfolgte Auffindung seines Leichnams geschildert, während die beiden auch bei den Griechen üblichen, um das Clemensgrab kreisenden Wunderlegenden den Bios beschließen.
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koptische Heiligenbuch mit den Heiligen zu jedem Tag des Jahres, Waldsolms-Kröffelbach 1994, 111f, hier 111). Vgl. Koptische Clemensnotiz zum 29. Hatour bzw. 25. November (arab. Ed./franz. Übers. Basset [wie Anm. 44], 283; lat. Übers. Forget [wie Anm. 44], 164; dt. Übers. Suter [wie Anm. 44], 111). Zur Bedeutung des Clemens in der antiken und mittelalterlichen kirchlichen Literatur vgl. – unter Einbeziehung Ägyptens – Hofmann, Unser heiliger Vater Klemens (wie Anm. 4), 22-44; ders., Ps.Clementinische Literatur (wie Anm. 13). Zu dem seit dem 5. Jahrhundert fast exklusiv den Bischöfen von Rom und Alexandrien vorbehaltenen Papsttitel vgl. die Quellenbelege bei Lampe (wie Anm. 29) 1006A1b und c. Zu dem bis heute dem koptischen Patriarchen von Alexandrien beigelegten Papsttitel vgl. Lange / Pinggéra (wie Anm. 37), 65. Vgl. Koptische Clemensnotiz zum 29. Hatour bzw. 25. November (arab. Ed./franz. Übers. Basset [wie Anm. 44], 283; lat. Übers. Forget [wie Anm. 44], 164; dt. Übers. Suter [wie Anm. 44], 111). Ebd.
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5.3 Die Clemensnotiz im Synaxar der armenischen Kirche50 Das 1240 von Mönch Israel redigierte und 1269 von Kyriakos dem Orientalen erweiterte Synaxar der vorchalzedonischen armenischen Kirche würdigt die Tagesheiligen des 16. Tré (= 24. November) mit zwei Notizen, wobei es das ursprüngliche Gedächtnisdatum des Clemens von Rom zugunsten des Festes der heiligen armenischen Übersetzer (bzw. Schriftschöpfer) Isaak, Mesrop und anderer um einen Tag vorverlegt und ihn daher am 24. November an erster Stelle kommemoriert51. Die Struktur dieser Notiz umfasst vier Elemente, nämlich: 1. Das Tagesdatum. 2. Den Titel des Clemensgedächtnisses. 3. Den Clemensbios. 4. Die abschließende Charakterisierung des Clemens als Fürsprecher für Lebende und Tote. Der Titel der armenischen Clemensnotiz bezeichnet den Heiligen als „heiligen Clemens, Patriarchen von Rom“52 und ehrt ihn damit als Inhaber des ersten jener fünf bedeutendsten Bischofssitze der spätantiken Reichskirche, die seit Kaiser Junstinian I. († 565) Patriarchate genannt werden. Der Clemensbios gleicht im Wesentlichen dem seit dem 12. Jahrhundert üblichen Text der griechischen Clemensnotiz. Es fehlt jedoch die Nachricht über Clemens’ Herkunft aus kaiserlicher Familie, wie auch der Leichnam des Clemens in der armenischen Version nicht – wie in der Passio sancti Clementis und in der griechischen Clemensnotiz – sofort aufgefunden, sondern seine Lage erst in der christlichen Ära dem zuständigen, allerdings anonym bleibenden Ortsbischof offenbart und von ihm auch erhoben wird53. In diese Auffindungsversion mag daher die historisch glaubwürdige Überlieferung über die 861 erfolgte Wiederentdeckung des verschollenen Clemensgrabes eingeflossen sein, gemäß der Konstantin-Cyrill ebenfalls im Rahmen einer Offenbarung und unter maßgeblicher Beteiligung des Ortsbischofs Georg von Cherson das verloren geglaubte Clemensgrab erneut auffindet. Zu den beiden üblichen, um das Clemensgrab kreisenden Wunderlegenden fügt sich als Novum eine dritte Legende, gemäß der der zuständige Bischof am Ende des Clemensfestes
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Bei den nachfolgenden Ausführungen handelt es sich im Wesentlichen um eine gekürzte Version von Hofmann, Das Profil des Klemens von Rom (wie Anm. 3), 122-124. Dort sind auch die einschlägigen Belege zu finden, weshalb im Folgenden nur wörtliche Zitate und wichtige Hinweise auf Quellen und weiterführende Literatur durch Anmerkungen belegt werden. 51 Vgl. armenische Clemensnotiz zum 16. Tré bzw. 24. November (arm. Ed./franz. Übers. Bayan, G., Le Synaxaire Arménien de Ter Israel, IV. Mois de Tré [= PO 16] Turnhout 1974, 107-109, hier 107). 52 Armenische Clemensnotiz zum 16. Tré bzw. 24. November (arm. Ed./franz. Übers. Bayan [wie Anm. 51], 107). 53 Vgl. die armenische Clemensnotiz zum 16. Tré bzw. 24. November (arm. Ed./franz. Übers. Bayan [wie Anm. 51], 10713f).
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Lampen am Grab des Heiligen entzünden lässt, die im nächsten Jahr brennend vorgefunden werden.54
5.4 Die Clemensnotiz im Synaxar der äthiopischen Kirche55 Das Synaxar der vorchalzedonensischen äthiopischen Kirche, das sich selbst als Übersetzung des arabisch von Bischof Michael von Atrīb und Malīğ und anderen Vätern bearbeiteten koptischen Synaxars in die Gecez-Sprache versteht56, darüber hinaus unter Kaiser Dāwit II. († 1412) Ergänzungen erfuhr und schließlich „im 17./18. Jh. durch ein abessinisches ‚Proprium‘ angereichert“57 wurde, würdigt die Tagesheiligen des 29. Khědâr (= 25. November) mit vier Synaxarnotizen, wobei es das ursprüngliche Gedächtnisdatum des Clemens von Rom zwar beibehält, ihn aber erst an vierter Stelle kommemoriert58. Wie die koptische Notiz umfasst die vorliegende vier Strukturelemente, nämlich: 1. Das Tagesdatum. 2. Den Titel des Clemensgedächtnisses. 3. Den Clemensbios. 4. Die Anrufung der Fürsprache des Clemens. Der Titel der äthiopischen Clemensnotiz charakterisiert den Heiligen – ganz ähnlich wie der koptische – als „den großen heiligen Clemens, Patriarchen der Stadt Rom“, der am gleichen Tag, also am 25. November, Märtyrer wird.59 Der äthiopische Clemensbios gleicht dem koptischen inhaltlich und strukturell allerdings nur in den wesentlichen Zügen. Bei den umfangreichen Ausführungen über die Familie des Clemens, ihre Bekehrung durch den Apostel Petrus und ihr weiteres Schicksal, aber auch bei den Nachrichten, die ausführlich von der Begegnung des Clemens mit Petrus, von seiner Bekehrung, seinem missionarischen Wirken und seiner Einsetzung zum Bischof von Rom berichten, orientiert er sich nämlich am ersten Buch
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Vgl. die armenische Clemensnotiz zum 16. Tré bzw. 24. November (arm. Ed./franz. Übers. Bayan [wie Anm. 51], 10911-13). Bei den nachfolgenden Ausführungen handelt es sich im Wesentlichen um eine gekürzte Version von Hofmann, Das Profil des Klemens von Rom (wie Anm. 3), 124f. Dort sind auch die einschlägigen Belege zu finden, weshalb im Folgenden nur wörtliche Zitate und wichtige Hinweise auf Quellen und weiterführende Literatur durch Anmerkungen belegt werden. So die Titelseite des äthiopischen Synaxars (engl. Übers. Wallis Budge, E[rnest] A[lfred], The Book of the Saints of the Ethiopian Church, Bd. 1, Nachdruck Hildesheim / New York 1976, 1). Fiaccadori, Gianfranco, Äthiopien, V. Christliche Literatur, in: LThK 13 (1993), 1149-1154, hier 1150 (mit Literatur). Vgl. äthiopische Clemensnotiz zum 29. Khědâr bzw. 25. November (äthiop. Ed./franz. Übers. Colin, Gérard, Le Synaxaire Éthiopien. Mois de Hedār [= PO 44/3], Turnhout 1988, 398-403, hier 398; engl. Übers. einer ähnlichen Textvariante bei Wallis Budge [wie Anm. 56], 304-306, hier 304). Vgl. ebd.
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der Kämpfe der Apostel60, an einem Buch, das hauptsächlich der Person des Apostels Petrus gilt und offensichtlich Bestandteil jener pseudepigraphischen Apostelakten ist, die wahrscheinlich Anfang des vierzehnten Jahrhunderts aus einer arabischen Vorlage ins Äthiopische übersetzt und im äthiopischen Clemensbios – ähnlich wie im koptischen – Clemens selbst zugeschrieben werden61. So lokalisiert der äthiopische Clemensbios – nur um ein Element seiner literarischen Abhängigkeit zu benennen – den Schiffbruch des Clemens in enger Anlehnung an die Kämpfe der Apostel ausdrücklich in die Nähe von Alexandrien und verortet dort auch dessen Bekehrung durch Petrus. Ansonsten unterscheidet er sich inhaltlich kaum vom koptischen, wenn er auch – wie schon angeklungen – wesentlich ausführlicher ist. *** Zusammenfassend lässt sich über die vier östlichen Clemensnotizen also sagen, dass sie in wesentlichen Zügen ihres Clemensbildes übereinstimmen, indem sie Clemens als einen antiken Gelehrten charakterisieren, der – vom Apostel Petrus in den christlichen Glauben eingeführt – die Frohe Botschaft verkündet, die authentische kirchliche Ordnung getreu tradiert und in diesem Sinn als Bischof von Rom wirkt. Zum standhaften Christusbekenntnis bereit, wird er gemäß griechischer Überlieferung nach Cherson, gemäß den anderen Versionen an einen nicht lokalisierten Ort verbannt und erleidet dort das Ertränkungsmartyrium. Schließlich verherrlicht ihn Gott durch zwei Auferstehungshoffnung weckende Wunder, indem das Meeresgrab des Clemens alljährlich an seinem Festtag zugänglich wird und sich dort ein ertrunken geglaubtes Kind als lebend erweist. In der koptischen und äthiopischen Kirche am 25. November an zweiter oder gar an vierter Stelle im Synaxar kommemoriert, mag sein Bild dort zumindest an seinem Gedenktag etwas verblasst sein. Doch bei den Griechen und Armeniern ist Clemens als Hauptheiliger des 24. November nach wie vor im gottesdienstlichen Gedächtnis ihrer Kirchen lebendig.
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Vgl. Die äthiopische Clemensnotiz zum 29. Khědâr bzw. 25. November (äthiop. Ed./franz. Übers. Colin [wie Anm. 58], 398; engl. Übers. einer ähnlichen Textvariante bei Wallis Budge [wie Anm. 56], 304) mit Mashafa Gadla Hawâryât 1 (= The History of Saint Peter at Rome; äthiop. Ed. Wallis Budge, Ernest A., The Contendings of the Apostles, Bd. 1, London 1899 [Reprint Amsterdam 1976] 7-36; engl. Übers. Ders., The Contendings of the Apostles, Bd. 2, London 19352 [Reprint Amsterdam 1976], 5-25). 61 Vgl. äthiopische Clemensnotiz zum 29. Khědâr bzw. 25. November (äthiop. Ed./franz. Übers. Colin [wie Anm. 58], 39831-4001; engl. Übers. einer ähnlichen Textvariante bei Wallis Budge [wie Anm. 56], 304).
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5.5 Clemens – „(un)vergessen“ im Heiligenkalender der persischen Kirche Obwohl sich die Reichskirche und die vorchalzedonischen Kirchen aufgrund der Kontroversen um das Konzil von Chalzedon (451) voneinander getrennt haben,62 bezeugen nicht zuletzt die oben vorgestellten Clemensnotizen in den Synaxarien der koptischen, armenischen und äthiopischen Kirche, dass die Kommunikation zwischen ihnen nie ganz abgerissen und im hagiographischen Austausch sogar sehr lebendig geblieben ist. Anders verläuft die Entwicklung zwischen der Reichskirche und der aufgrund der Kontroversen um das Konzil von Ephesus (431) von ihr getrennten persischen oder Apostolischen Kirche des Ostens.63 Stehen doch die benachbarten Staaten des Oströmischen und des Persischen Reiches einander in der Spätantike so feindlich gegenüber, dass die Kommunikation zwischen ihnen und den in ihren Reichen lebenden Christen nachhaltig gestört wird. Im 4. und 5. Jahrhundert lebt nämlich ein Teil der assyrisch-aramäischen Christenheit Mesopotamiens um das Zentrum Edessa im Oströmischen Reich, während ein anderer Teil – mit den Zentren Nisibis und Seleucia-Ctesiphon – im Persischen Reich der Sassaniden ansässig ist.64 Letztere Christen werden aufgrund des politischen Gegensatzes zwischen dem Persischen und dem Oströmischen Reich von der Reichskirche zunehmend isoliert. So übernimmt zwar eine 410 auf Befehl des persischen Großkönigs65 in der persischen Hauptstadt Seleucia-Ctesiphon zusammengetretene Synode der persischen Kirche die Bestimmungen, die sechs führende Bischöfe der benachbarten Ostregion des Oströmischen Reiches66 ihnen vorschlagen;67 doch deklarieren die Bischöfe derselben Synode gleichzeitig in Kanon 12 ihre offensichtlich vom Großkönig geforderte kirchliche Autonomie: „Ueber die dem auf dem Stule [sic!] von Seleucia und Ctesiphon sitzenden Katholikos gebührende Ehre. Wir alle nehmen gemeinsam an und lassen uns auch von dem Grosskönig Jesdegerd befehlen, dass wir B[ischöfe] aller Orte des Orients und unsere Nachfolger dem B[ischof-]K[atholikos,] dem Meister der B[ischöfe,] dem M[eister] von S[eleucia-]C[tesiphon] – das heisst jedem B[ischof,] der auf dem 62
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Zu den diesbezüglichen Trennungsprozessen und der damit verbundenen Entstehung der vorchalzedonischen Kirchen vgl. zusammenfassend Hofmann, Johannes, Zentrale Aspekte der Alten Kirchengeschichte [1] (= Theologische Lehr- und Lernbücher 4,1), Würzburg 20132, 197-204 (mit Literatur). Zu den diesbezüglichen Kontroversen und der damit verbundenen Entstehung der vorephesinischen persischen oder Apostolischen Kirche des Ostens vgl. zusammenfassend ebd., 173-187 (mit Literatur). Vgl. hier und im Folgenden zusammenfassend ebd., 185-187 (mit Literatur). Zum diesbezüglichen Befehl des persischen Großkönigs vgl. Lange, Christian, Mia Energeia. Untersuchungen zur Einigungspolitik des Kaisers Heraclius und des Patriarchen Sergius von Constantinopel (= STAC 66), Tübingen 2012, 481 bes. Anm. 53 (mit Quelle und Literatur). Bei diesen Bischöfen handelt es sich laut ebd., 482 (mit Quelle in Anm. 55) um Porphyrius von Antiochien, Acacius von Aleppo, Pacida von Edessa, Eusebius von Tella und Acacius von Amida. Zur diesbezüglichen Rezeption vgl. ebd., 483 bes. Anm. 57 (mit Literatur).
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grossen Stule von Kōkē sitzt – bis zur Ankunft Christi unterworfen sein wollen in Allem[,] was zu Recht befohlen wird.“68 Um gegenüber der großköniglichen Obrigkeit jeden Verdacht einer Konspiration mit dem Römischen Reich auszuschließen,69 formuliert eine erneut in SeleuciaCtesiphon versammelte Synode im Jahr 424 die Selbständigkeit ihrer Kirche – unter Abgrenzung vom Westen – sogar noch deutlicher, indem sie betont, „dass […] an die abendländischen P[atriarchen] die Orientalen nicht (mehr) gegen ihren P[atriarchen] appellieren dürfen. Sondern jedes Gericht, das vor ihm seine Lösung nicht findet, soll für Christi Richterstuhl bewahrt werden. Und wir bestimmen und bekräftigen dieses Übereinkommen als unauflöslich, weil wir es in der h. Trinität besigeln [sic!]. Im Worte der Trinität soll niemand eine Versammlung gegen den K[atholikos] veranstalten, […], noch Capitel des Tadels und der Anklage gegen ihn schreiben dürfen, […], noch soll man Exemplare solcher Capitel in die Provinzen verschicken dürfen, […], noch soll aus irgend welchem Grunde jemand denken und sagen, dass der K[atholikos] des Orients von seinen Untergebenen oder von seinen Mitpatriarchen gerichtet wird. Sondern er soll alle seine Untertanen richten; das Gericht über ihn aber werde Christo aufbewahrt, der ihn erwählt, erhöht und an die Spitze seiner Kirche gestellt hat.“70 Darüber hinaus verlegt der 457 aus Edessa vertriebene Theologe Narses (syr. Narsai; † 503) seine einflussreiche Theologenschule ins persische Nisibis, wo er sie mit den Autoritäten Diodor von Tarsus († vor 394) und Theodor von Mopsuestia († 428) auf die klassische antiochenische Theologie ausrichtet.71 Auf der Basis dieser Lehrtradition legt eine Synode 486 in Seleucia-Ctesiphon die persische Kirche auf ein strikt antiochenisches Bekenntnis fest.72 Ein letzter Schritt der Abgrenzung erfolgt schließlich von reichskirchlicher Seite, als die soeben genannten theologischen Autoritäten der persischen Kirche zusammen mit Ibas von Edessa auf dem 553 in Konstantinopel tagenden fünften ökumenischen Konzil postum verurteilt 68
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Synode von 410, Kanon 12 (Ed. Chabot, J[ean] B[aptiste], Synodicon Orientale, ou, Recueil de Synodes Nestoriens [= NEMBN 37] Paris 1902, 26f; dt. Übers. Braun, Oscar, Das Buch der Synhados. Nach einer Handschrift des Museo Borgiano, Stuttgart 1900, 21; franz. Übers. Chabot, Synodicon, 266). Vgl. Lange, Mia Energeia (wie Anm. 65), 487 bes. Anm. 72 unter sinngemäßer Zitierung von Müller, Caspar Detlef G., Geschichte der orientalischen Nationalkirchen (= KIG 1, Lfg. D,2) Göttingen 1981, D298. Synode von 424 (Ed. Chabot, Synodicon [wie Anm. 68], 51; dt. Übers. Braun [wie Anm. 68], 57f; franz. Übers. Chabot, Synodicon [wie Anm. 68], 296). – Zu den internen Konflikten in der persischen Kirche, die zu dieser synodalen Bestimmung geführt haben, vgl. auch Baumer, Christoph, Frühes Christentum zwischen Euphrat und Jangtse. Eine Zeitreise entlang der Seidenstraße zur Kirche des Ostens, Stuttgart 2005, 87f; Lange, Mia Energeia (wie Anm. 65), 487f. Vgl. ausführlicher Lange, Mia Energeia (wie Anm. 65), 497f (mit Literatur) und zusammenfassend Hofmann, Zentrale Aspekte [1] (wie Anm. 62), 186 (mit Literatur). Vgl. bei Lange, Mia Energeia (wie Anm. 65), 494-496 die eingehende Analyse des streng antiochenischen Glaubensbekenntnisses dieser Synode (mit Quelle und Literatur).
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werden.73 Angesichts dieser gegenseitigen „Abschottung“ ist es nachvollziehbar, dass die Verehrung des Clemens von Rom nicht in den syrischen Osten kommuniziert wird und sein Gedenktag daher im Heiligenkalender der persischen Kirche bzw. der Apostolischen Kirche des Ostens nicht zu finden ist.74 Während diese Kirche aber in neuerer Zeit einen dramatischen Rückgang erleidet und gegenwärtig etwa 385.000 Mitglieder zählt,75 kann sich Mitte des 16. Jahrhunderts in ihrem Stammland ein katholischer Zweig als Chaldäische Kirche mit gegenwärtig etwa 400.000 Gläubigen76 und im südindischen Kerala als Syro-malabarische Kirche mit gegenwärtig etwa 3,5 Millionen Gläubigen77 etablieren. Nach Wolfgang Hage ist die Chaldäische Kirche heute eine „Kirche mit syrischem Erbe in katholischem Gewand, die auch in ihre Liturgie und in ihr kirchliches Leben Abendländisches aufgenommen hat und dem Gregorianischen Kalender […] folgt“78. Das gilt allerdings nicht für den Gedenktag des Clemens von Rom, den die Chaldäische Kirche ebenso wenig kennt wie ihre vorephesinische Schwesterkirche.79 Dagegen rezipiert die Syro-malabarische Kirche von der römisch-katholischen den 23. November als Gedenktag des Clemens80 und entfaltet damit zwar kein eigenes Clemensbild, lässt den heiligen römischen Brückenbauer aber zumindest in einem katholischen Zweig der persischen Kirche nicht in Vergessenheit geraten. ***
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Zum diesbezüglichen „Drei-Kapitel-Streit“ und den damit verbundenen Zielen Kaiser Justinians vgl. ausführlich ebd., 447-457. Vgl. den Kalender der Sonn- und Feiertage des unbeweglichen und beweglichen Kirchenjahres sowie den Heiligenkalender der Apostolischen Kirche des Ostens bei Maclean, Arthur John (Übers. / Einf.), East Syrian Daily Offices, London 1894 (Nachdruck Adamant Media Corporation 2006), [264]-283; vgl. ebenso auch Fiey, Jean Maurice, Le Sanctoral Syrien Oriental d´apres les evangéliaires breviaires du XIth au XVIII Siecles, in: Or Syr 8 (1963), 21-54; Ders., Saints Syriaques (= Studies in Late Antiquity and Early Islam 6), Princeton 2004. Zu den Gründen der dramatischen Dezimierung der Apostolischen Kirche des Ostens und ihrer gegenwärtigen Mitgliederzahl vgl. Moga, Ioan, 2. Assyrische Kirche des Ostens, in: Oeldemann, Johannes (Hg.), Konfessionskunde (= Handbuch der Ökumene und Konfessionskunde 1) Paderborn 2015, 129-136, hier 132f. Einen Überblick über die bewegte Geschichte dieser katholischen Ostkirche und ihre gegenwärtige Mitgliederzahl bietet Mykhaleyko (wie Anm. 36), 80-83 (mit Literatur). Zur bewegten Geschichte dieser katholischen Ostkirche und zu ihrer gegenwärtigen Mitgliederzahl vgl. den Überblick ebd., 83-88 (mit Literatur). Hage, Wolfgang, Das orientalische Christentum (= RM 29,2) Stuttgart 2007, 404, zitiert nach Mykhaleyko (wie Anm. 36), 82f. Nachdem Herr Dipl. theol. Joachim Braun, der des Syrischen mächtige und an der Eichstätter Forschungsstelle Christlicher Orient tätige Wissenschaftliche Mitarbeiter und Doktorand, das ihm vom Verfasser in syrischer Sprache vorgelegte Breviarium Chaldaicum, Bd. 1-3, Paris 1886-1887 gründlich durchgesehen hatte, kam er zu dem gut begründeten Ergebnis, dass sich Clemens von Rom in letzterem Brevier nicht finde. Für seine überzeugenden Bemühungen sei Herrn Braun an dieser Stelle herzlichst gedankt! Zu Clemens von Rom im Kalender der Syro-malabarischen Kirche vgl. Sacra Congregatio pro Ecclesia Orientali, Ordo Celebrationis “Quddaša” iuxta usum Ecclesiae Syro-Malabarensis, Rom 1959, 69: „23 Novembris: S. Clemens, Papa.“
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Johannes Hofmann
Zusammenfassend lässt sich über die Verehrung des Clemens von Rom in der persischen Kirche also sagen, dass er aufgrund des oströmisch-persischen Gegensatzes keinen Eingang in ihren Heiligenkalender findet. Die Syro-malabarische Schwesterkirche der persischen Kirche übernimmt allerdings von der römischkatholischen den 23. November als seinen Gedenktag und sorgt so dafür, dass Clemens auch in bedeutenden Teilen des persisch geprägten Kulturraumes nicht vergessen wird.
6. Epilog Wie gezeigt wurde, besitzt der Brief des Clemens von Rom an die Gemeinde von Korinth eine weit über Rom hinausweisende Bedeutung im christlichen Osten. Ebenso verläuft sein historisch rekonstruierbares Leben zwischen West und Ost, wie auch seine Reliquien schon früh in Ost und West verehrt werden. Darüber hinaus machen sich in weiten Kulturräumen Afrikas, Asiens und Europas jeweils charakteristische „Clemensbilder“ in der westlichen und in der östlichen Hagiographie bemerkbar. Schließlich wird deutlich, dass Clemens in Ost und West im Dienst Christi und seiner Kirche tätig war und in östlichen und westlichen Kirchen als profilierter Heiliger gleichermaßen präsent ist. Kraft seines spezifischen Charismas möge er daher die wachsende Einheit unter den Christen des Ostens und des Westens mit wohlwollender Fürsprache begleiten!
Spiritualität der Gemeinschaft
Methodische Aspekte ausgehend von Johannes Paul II.
Bogdan Biela* Im apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte erinnerte Papst Johannes Paul II. am Ende des großen Jubiläums des Jahres 2000 an Folgendes: „Die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen, darin liegt die große Herausforderung, die in dem beginnenden Jahrtausend vor uns steht, wenn wir dem Plan Gottes treu sein und auch den tiefgreifenden Erwartungen der Welt entsprechen wollen“1. Auf die pastoralen Prioritäten verweisend2, um die Kirche zu einem Zuhause und einer Schule der Gemeinschaft zu machen, warnte er gleichzeitig vor der Versuchung zuerst zu handeln: „Vor der Planung konkreter Initiativen gilt es, eine Spiritualität der Gemeinschaft zu fördern [...]. Machen wir uns keine Illusionen: Ohne diesen geistlichen Weg würden die äußeren Mittel der Gemeinschaft recht wenig nützen. Sie würden zu seelenlosen Apparaten werden, eher Masken der Gemeinschaft als Möglichkeiten, daß diese sich ausdrücken und wachsen kann“3. Spiritualität der Gemeinschaft bedeutet vor allem, den Blick des Herzens auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu lenken, das in uns wohnt und dessen Licht auch auf dem Angesicht der Brüder und Schwestern neben uns wahrgenommen werden muß“4. Im Zusammenhang mit diesen Worten lohnt es sich, den letzten Brief von Johannes Paul II. an die Priester vom 13. März 20055 in den Blick zu nehmen. Kurz vor seinem Tod wollte der Papst das Geheimnis seines Lebens teilen und uns ermutigen, denselben Weg zu gehen. In der Einleitung des Briefes schreibt Johannes Paul II: „Wenn die ganze Kirche aus der Eucharistie lebt, muß das Leben * 1
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Der Aufsatz wurde von Julia Muchewicz ins Deutsche übersetzt. Jan Paweł II, List Apostolski Novo millennio ineunte Ojca Świętego Jana Pawła II do biskupów, duchowieństwa i wiernych na zakończenie Wielkiego Jubileuszu Roku 2000. Libreria Editrice Vaticana 2001, hier NMI 43. [Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. an die Bischöfe, den Klerus, die Ordensleute und an die Gläubigen zum Abschluss des grossen Jubiläums des Jahres 2000. (Deutsche Version), URL: http://w2.vatican.va/content/johnpaul-ii/de/apost_letters/2001/documents/hf_jp-ii_apl_20010106_novo-millennio-ineunte.html [Zuletzt aufgerufen am 07. März 2019]. Vgl. ebd., NMI 30-40. Ebd., NMI 43. Ebd. List Ojca Świętego Jana Pawła II do kapłanów na Wielki Czwartek 2005 Słowa ustanowienia Eucharystii „formułą życia”, Katowice 2005.
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Bogdan Biela
des Priesters in besonderer Weise eine ‚eucharistische Gestalt‘ haben. Die Einsetzungsworte der Eucharistie dürfen für uns daher nicht nur eine Konsekrationsformel sein, sondern eine ‚Formel für das Leben‘.“6 Diese Formel kann nicht nur bei der Förderung der Spiritualität der Gemeinschaft hilfreich sein, sondern auch zu einer Art Methodologie werden, die dazu führt, dass unsere Gemeinschaften zu „Schulen der Gemeinschaft“ werden. In Anbetracht dieser Worte zeigt der Papst Elemente der Spiritualität auf, die eng mit dem übereinstimmen, was er schon in Novo millennio ineunte thematisiert.7
1. Spiritualität der Gemeinschaft als Bildungsprinzip Als Grundlage aller Tätigkeit der Kirche steht der Ruf Christi duc in altum8. Die aus dem Evangelium bekannte Stelle „Fahre hinaus, wo es tief ist“ (Lk 5,4) machte der Papst zum Leitmotiv der Botschaft, die er der Kirche zu Beginn des neuen Jahrtausends verkündet hatte. Sie ist eng verbunden mit der von Johannes Paul II. betonten Förderung der Spiritualität der Gemeinschaft, „indem man sie überall dort als Erziehungsprinzip herausstellt, wo man den Menschen und Christen formt, wo man die geweihten Amtsträger, die Ordensleute und die Mitarbeiter in der Seelsorge ausbildet, wo man die Familien und Gemeinden aufbaut“9. Nur auf dieser Grundlage kann eine pastorale Tätigkeit ausgeübt werden. Zu den Prioritäten des Papstes gehören: die Heiligkeit, das Gebet, die sonntägliche Eucharistiefeier, das Sakrament der Versöhnung, der Vorrang der Gnade, das Hören auf das Wort Gottes und die Verkündigung des Wortes Gottes.10 Damit diese „externen Instrumente der Gemeinschaft“ jedoch keine seelenlosen Mechanismen oder nur scheinbare Gemeinschaft verkörpern, sondern Mittel, um dieselbe auszudrücken und zu entwickeln, müssen bestimmten Haltungen folgen.11 6 7
Ebd., Nr. 1. Der Artikel ist eine veränderte und vervollständigte Version folgender Texte: Biela, Bogdan, Parafia miejscem urzeczywistniania się komunii Kościoła, Katowice 2006, 548-553; ders., Krzewienie duchowości komunii w nauczaniu Jana Pawła II, „Warszawskie Studia Pastoralne” 4 (2006), 24-35. 8 Vgl. Jan Paweł II, NMI 1 (wie Anm. 1). 9 Ebd., NMI 43. 10 Vgl. ebd., NMI 30-40. 11 Vgl. ebd., NMI 43; Vgl. Węcławski, T., Siedem słów, „Tygodnik Powszechny” 50 (1999), 1 i 10; Trzeba iść. Debata „Tygodnika”. O tekście ks. Tomasza Węcławskiego „Siedem słów” rozmawiają ks. Boniecki, Adam / Gowin, Jarosław, bp Nycz, Kazimierz, ks. Stopka, Artur i ks. Węcławski, Tomasz. Dyskusję prowadzi Okoński, Michał, „Tygodnik Powszechny” 51-52 (1999), 12-13; Moszkowski, W., Nie ten kontekst i nie ta pułapka. Komu przeszkadza Ojciec Święty?, „Nasz Dziennik” (31. 12. 1999 – 2. 01. 2000), 19; Szostek, A., Popielgrzymkowy katechizm. Wokół „Siedmiu słów”, „Tygodnik Powszechny” 1(2000), 13; Słomiński, T., Trzeba się nawrócić, „Tygodnik Powszechny” 1(2000), 13; Hryniewicz, W., Nie jesteśmy sami. Wokół „Siedmiu słów”, „Tygodnik Powszechny” 3 (2000), 11; Bednarska, M., Siedem słów. Listy do redakcji, „Tygodnik Powszechny” 3 (2000), 11; Przybecki, A., Jak być Kościołem w Polsce dzisiaj? „Siedem słów”
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1.1 Die Heiligkeit Die Perspektive, in die alle pastoralen Aktivitäten eingebettet werden sollten, ist die Perspektive der Heiligkeit.12 Die Priorität der Heiligkeit beruht auf der Überzeugung, „daß es widersinnig wäre, sich mit einem mittelmäßigen Leben zufriedenzugeben, das im Zeichen einer minimalistischen Ethik und einer oberflächlichen Religiosität geführt wird, wenn die Taufe durch die Einverleibung in Christus und die Einwohnung des Heiligen Geistes ein wahrer Eintritt in die Heiligkeit Gottes ist. Einen Katechumenen fragen: ‚Möchtest du die Taufe empfangen?‘, das schließt gleichzeitig die Frage ein: ‚Möchtest du heilig werden?‘“13. Die Schlüsselrolle in der Förderung der Spiritualität der Gemeinschaft spielt folglich die Haltung des Glaubens. Sie setzt eine ganze Reihe von Aktivitäten voraus, bei denen es notwendig ist, das Verständnis und die Erfahrung des bei der Taufe erhaltenen Glaubens zu vertiefen und gleichzeitig sich zu ihrer ständigen Verbesserung zu verpflichten, aber sich auch der Wahrheit anzunähern, dass der so verstandene Glauben die Grundlage der Gemeinschaft ist.14
1.2 Das Gebet Ein anderes Element, das die Spiritualität der Gemeinschaft fördert – eng mit dem ersten verbunden –, ist die „Erinnerung an das Gebet“. Für die Grundlage der „‚Pädagogik der Heiligkeit‘ braucht es ein Christentum, das sich vor allem durch die Kunst des Gebets auszeichnet. [...] Das Erlernen dieser trinitarischen Logik des christlichen Gebets, indem man es vor allem in der Liturgie, Höhepunkt und Quelle des kirchlichen Lebens, aber auch in der persönlichen Erfahrung lebt, ist das Geheimnis eines wirklich lebendigen Christentums, das keinen Grund hat, sich vor der Zukunft zu fürchten, weil es unablässig zu den Quellen zurückkehrt und sich in ihnen erneuert“15. Bei der Gestaltung der Spiritualität der Gemeinschaft stellt sich also die Frage, wo und wie in ihr Platz ist, die Gebetskunst zu bilden oder auch einzuführen. Wie soll man cura pastoralis gestalten, sodass unsere christlichen Gemeinschaften zu echten Gebetsschulen werden?16 Die Begegnung mit Jesus bedeutet nicht, dass diese „nur im Flehen um Hilfe Ausdruck findet, sondern auch
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jako propozycja dla duszpasterstwa, w: ebd., Duszpasterstwo w Polsce. Poszukiwanie nowych form obecności, Poznań 2001, 129-148; Biela, Bogdan, Cura pastoralis w świetle Novo millennio ineunte. Kontekst Roku Eucharystii, „Ślaskie Studia Historyczno-Teologiczne 38 (2005) z. 1, 6380. Vgl. Jan Paweł II, NMI 30 (wie Anm. 1). Ebd., NMI 31. Vgl. Przybecki (wie Anm. 11), 133. Vgl. Jan Paweł II, NMI 32 (wie Anm. 1). Vgl. ebd., NMI 33.
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in Danksagung, Lob, Anbetung, Betrachtung, Zuhören, Leidenschaft der Gefühle bis hin zu einer richtigen ‚Liebschaft‘ des Herzens“17.
1.3 Das Sakrament der Versöhnung Ein Ausdruck der Gemeinschaft ist auch die Haltung der Vergebung. Die Schwierigkeit des Vergebens und der Bitte um Vergebung ist umso stärker, je stärker im Menschen das Gefühl der Gefahr innewohnt, das Fehlen einer angemessenen Anerkennung, Unterschätzung und Ungerechtigkeit, die manchmal durch Verachtung oder sogar Missachtung anderer Menschen kompensiert wird.18 Auf diesem Weg ist die Bemühung, Christus als mysterium pietatis zu entdecken, von besonderer Bedeutung – als denjenigen, in dem Gott uns sein barmherziges Herz zeigt und uns mit ihm vereint. „Dieses Antlitz Christi“, lehrt Johannes Paul II., „muß man auch durch das Sakrament der Buße neu zeigen“19. Daher rührt auch inmitten der vom Papst gesetzten Prioritäten der Appell, dass die Kirche zu Beginn des dritten Jahrtausends keine Angst davor haben soll, „neuen pastoralen Mut [zu fassen], damit die tägliche Pädagogik der christlichen Gemeinden überzeugend und wirksam die Praxis des Sakramentes der Versöhnung vorzulegen vermag“20. Unsere Unfähigkeit zu vergeben hat sehr oft dazu beigetragen, der Vergebung, die wir im Sakrament der Versöhnung erhalten, zu entgehen. Ein Mensch, der in seinem eigenen Leben nicht oft erlebt, was Barmherzigkeit ist, hört auf, ihren Sinn und ihre Bedeutung zu verstehen, auch in Beziehung zu seinem Nachbarn – wem wenig vergeben wird, der liebt selber wenig (vgl. Lk 7,47).21
1.4 Das Hören des Wortes Gottes Bei der Gestaltung der Spiritualität der Gemeinschaft muss auch Raum für die Haltung des „Annehmens“ sein, die mit dem Hören des Wortes Gottes verbunden ist. Es besteht kein Zweifel, dass es Anstrengung erfordert, die Heilige Schrift tiefer zu verstehen. Daher gehören die Offenheit für die Botschaft des Evangeliums und ein ständiges Wiederkehren zum Hören des Wortes Gottes, was zu einer der wichtigsten Prioritäten der Seelsorge zählt, zu den Dingen, die sich bedeutend auf die Form des christlichen Lebens auswirken. Ohne diese Haltung ist es schwierig, die herausragende Bedeutung der Heiligkeit und des Gebetes zu erkennen. „Besonders notwendig ist es, daß das Hören des Wortes zu einer lebendigen Begegnung in der alten und noch immer gültigen Tradition der lectio divina wird. Sie läßt 17 18 19 20 21
Ebd., NMI 33. Vgl. Węcławski (wie Anm. 11), 10. Jan Paweł II, NMI 33 (wie Anm. 1). Ebd., NMI 37. Vgl. Przybecki (wie Anm. 11), 138.
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uns im biblischen Text das lebendige Wort erfassen, das Fragen an uns stellt, Orientierung gibt und unser Dasein gestaltet“22. Die so gebildete Fähigkeit, das anzunehmen, was Gott zu uns sagt, hilft dabei, zu verstehen, dass unsere Gemeinden immer mehr zu Gemeinschaften der Gemeinschaft werden müssen, zu Familien der Familie, zu Häusern mit offenen Türen, und gleichzeitig die immer wiederkehrende Versuchung zu überwinden, die mithilfe einer Wand von Verachtung und einer Mauer der Angst vor anderen Menschen versucht sich von der Welt zu trennen.23 So bedeutet letztlich der Aufruf zum Hören des Wortes Gottes, dass es um die Annahme derjenigen Menschen geht, die Gott in unser Leben geschickt hat, denen Er erlaubt hat, hier mit uns zu sein, durch die Er mit uns sprechen und uns retten will.
1.5 Die Eucharistie Wertschätzung fordert auch die Haltung, die sich aus dem Wort „Eucharistie“ ergibt. Es fehlt uns oft an Dankbarkeit im Sinne einer Aufgabe, die sehr anspruchsvoll ist. Wer diese Aufgabe übernimmt, wer bereit ist, nicht nur für leichte und angenehme Dinge zu danken, sondern auch für die Dinge, die schwer anzunehmen sind, kommt auf denselben Weg der Heilung, der mit der Vergebung verbunden ist.24 Es ist also kein Zufall, dass das wichtigste Werk der Kirche die Eucharistie ist. Die Kirche erinnert uns in ihrer Lehre ständig daran, dass das gesamte Leben des Menschen und die gesamte menschliche Zeit als ein Akt des Lobes und des Dankes an den Schöpfer gelebt werden sollte. Deshalb betont sie ständig die Wichtigkeit der Teilnahme an der Eucharistie, in der wir die Erfahrung des Dankes teilen. Dies sollte bei der pastoralen Arbeit berücksichtigt werden, „durch besondere Hervorhebung der sonntäglichen Eucharistiefeier und des Sonntags selbst, der als besonderer Tag des Glaubens, als Tag des auferstandenen Herrn und des Geschenkes des Geistes [...] wahrgenommen wird“25. Alle pastoralen Initiativen sollten von der Sonntags-Eucharistie ausgehen, die das Zentrum der Organisation aller Aktivitäten der Gemeinschaft und gleichzeitig die Schule der Ekklesiologie sein sollte. Denn im christlichen Bewusstsein wird so ein Bild der Kirche Priorität bekommen – einer Gemeinschaft mit verschiedenen Diensten und Charismen, die sich in ihrer Form an der Ordnung der eucharistischen Sonntagsliturgie orientiert. Ebenso wird die Fähigkeit, die Vielzahl der Geschenke wahrzunehmen, die jeden Tag empfangen werden – obgleich es in manchen Situationen schwer ist, diese zu empfangen –, vom Erleben der Messe als einem Ort des Wachstums in der Haltung der Danksagung abhängen. Hier gelangt nämlich offensichtlich die Wahrheit zu uns, dass wir von Gott empfangen und Gott 22 23 24 25
Jan Paweł II, NMI 39 (wie Anm. 1). Przybecki (wie Anm. 11), 140-141. Vgl. Węcławski (wie Anm. 11), 10. Jan Paweł II, NMI 35 (wie Anm. 1).
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danken, indem wir den Wert Seiner Gaben und Seiner Güte wahrnehmen.26 Die Unfähigkeit, die Haltung des Dankes anzunehmen und in ihrem Lichte das Leben zu gestalten, hat ihren Ursprung sicherlich in der Missachtung der Eucharistie sowie ihrer Reduzierung auf ein lediglich kulturelles oder auch gewöhnliches Phänomen.
1.6 Der Vorrang der Gnade Ein weiteres Element der Spiritualität der Gemeinschaft ist mit dem Vorrang der Gnade verbunden. Es gibt nämlich eine echte Versuchung, „die seit jeher jeden geistlichen Weg und selbst das pastorale Wirken gefährdet: zu glauben, daß die Ergebnisse von unserem Machen und Planen abhängen. Gewiß bittet uns Gott um eine reale Mitwirkung an seiner Gnade und fordert uns daher auf, alle unsere intellektuellen und praktischen Fähigkeiten in unseren Dienst für die Sache des Reiches Gottes zu investieren. Aber wehe, wenn wir vergessen, daß wir ‚ohne Christus nichts vollbringen können‘“27. Dies bedeutet, dass der Ausgangspunkt jeder Tätigkeit der kirchlichen Gemeinschaft tief in Jesus Christus verwurzelt sein sollte, aus dem der Christ die Kraft zu seinem Tun zieht. An das Primat Christi und – in Bezug auf Ihn – an das Primat des inneren Lebens und der Heiligkeit erinnert uns ununterbrochen das Gebet. „Muß man sich, wann immer dieses Prinzip nicht eingehalten wird, noch wundern, wenn die pastoralen Vorhaben auf ein Scheitern zusteuern und im Herzen ein entmutigendes Gefühl der Frustration zurücklassen?“28 Deshalb ist es so wichtig, dass alle Initiativen in der pastoralen Arbeit nicht nur auf menschlichem Einfallsreichtum, Planung und Vorhersehbarkeit basieren, sondern vor allem auf der tiefen persönlichen Beziehung des Menschen zu Christus. Daher überrascht es nicht, dass das spirituelle Leben und die Erfolge der Evangelisierung in der Gemeinde auf ihren Gebeten beruhen.29
1.7 Die Verkündung des Wortes Gottes Indem wir das Geschenk annehmen, dessen Name Jesus Christus ist, entdecken wir gleichzeitig, dass niemand unter uns ist, der nichts zu geben hätte. Es gibt keinen Augenblick im Leben, in dem wir nichts zu geben hätten. Es gibt auch keine Umstände, in denen es niemanden gäbe, dem man etwas geben könnte.30 „Wenn wir 26 27 28 29
Vgl. Przybecki (wie Anm. 11), 142-143. Jan Paweł II, NMI 38 (wie Anm. 1). Ebd. Vgl. Nowak, M., O nową wizje parafii, Warszawa 1994, 22-24; Macchioni, G., Ewangelizacja w parafii. Metoda „komórek”, Kraków 1997, 43-54; Slipek, L., Parafia jakiej pragnę, Warszawa 2001, 149-158. 30 Vgl. Węcławski (wie Anm. 11), 10. Do św. s. Faustyny Jezus skierował słowa: „Żądam od ciebie uczynków miłosierdzia, które mają wypływać z miłości ku mnie. Miłosierdzie masz okazywać
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wirklich von der Betrachtung Christi ausgegangen sind, werden wir in der Lage sein, ihn vor allem im Antlitz derer zu erkennen, mit denen er sich selbst gern identifiziert hat“31. Aktive und konkrete Liebe zu jedem Menschen lehrt uns daher, unser eigenes Leben als ein großes Geschenk zu verstehen, das der Mensch erhält, um es anderen zu geben (vgl. KDK 24). So ist es die Haltung der Barmherzigkeit, die „das christliche Leben [...] gleichermaßen bestimmt und kennzeichnet“32. Die Aufforderung zur Barmherzigkeit ist eng mit dem Apostolat verbunden und dieses wiederum mit der Verkündigung des Wortes Gottes. „Das ist – so der Papst – mit Sicherheit eine Priorität für die Kirche am Beginn des neuen Jahrtausends“33. Dieser neue Impuls im Apostolat, „der als tägliche Verpflichtung der christlichen Gemeinden und Gruppen gelebt werden soll“34, verbindet sich mit dem Wort „gehen“. Es bezeichnet nicht die Anstrengung, deren Ziel es ist, von einem Ort zum anderen zu gelangen, sondern vielmehr die Einstellung des Lebens. Das einfachste Wort ist sicherlich das schwierigste. Abgesehen von der mangelnden Begeisterung für die Evangelisierung gibt es keine Möglichkeit, die Spannung zwischen verständlicher Zugehörigkeit zum christlichen Erbe und der Notwendigkeit, Änderungen vorzunehmen, zu vermeiden, denn was uns gefällt, gefällt nicht unbedingt Gott.35 Diese Haltung hängt mit dem Erwachen des ursprünglichen Eifers und der Zustimmung zusammen, um an der Begeisterung der apostolischen Verkündigung, die in Pfingsten ihren Anfang hatte, teilzuhaben.36 „Der Imperativ Jesu: ‚Geht hinaus ... und verkündet das Evangelium!‘ – so der Papst in seinem apostolischen Schreiben Christifideles laici – behält seine Bedeutung und seine unaufschiebbare Dringlichkeit. Nicht nur die Situation der Welt, sondern auch in vielen Teilen der Kirche verlangen heute allerdings absolut, daß diesem Wort Christi noch unmittelbarer und hochherziger gefolgt werde. Jeder Jünger ist unmittelbar persönlich berufen; keiner kommt umhin, seine persönliche Antwort zu geben: ‚Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!‘“37.
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zawsze i wszędzie bliźnim, nie możesz się od tego usunąć ani wymówić, ani uniewinnić. Podaję ci trzy sposoby czynienia miłosierdzia bliźnim: pierwszy - czyn, drugi - słowo, trzeci - modlitwa; w tych trzech stopniach zawiera się pełnia miłosierdzia i jest niezbitym dowodem miłości ku mnie. W ten sposób dusza wysławia i oddaje cześć miłosierdziu mojemu”. Kowalska, Faustyna S. M., Dzienniczek. Miłosierdzie Boże w duszy mojej, Warszawa 1993, 232. [An die hl. Schwester Faustyna richtete Jesus die folgenden Worte: Ich verlange von dir Taten der Barmherzigkeit, die aus der Liebe zu mir hervorgehen sollen. Du sollst die Barmherzigkeit immer und überall deinen Nächsten erweisen, du kannst dich davor weder drücken noch rausreden, oder davon freisprechen. Ich gebe dir drei Möglichkeiten, deinen Nächsten Barmherzigkeit zu erweisen: erstens - die Tat, zweitens - das Wort, drittens - das Gebet; in diesen drei Stufen ist die Fülle der Barmherzigkeit enthalten und ist ein unwiderlegbarer Beweis der Liebe zu mir. Auf diese Weise preist und verehrt die Seele meine Barmherzigkeit.] Jan Paweł II, NMI 49 (wie Anm. 1). Ebd. Ebd., NMI 40. Ebd. Vgl. Węcławski (wie Anm. 11), 10. Vgl. Jan Paweł II, NMI 40 (wie Anm. 1). Johannes Paul II, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles Laici von Papst Johannes Paul II. über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt. (Deutsche Version), in:
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2. Eucharistische Methodologie zur Förderung der Spiritualität der Gemeinschaft Die in den Worten der Konsekration verborgene „Formel für das Leben“ kann auch ein Werkzeug für die Verwirklichung der Spiritualität der Gemeinschaft sein: Er nahm das Brot und sagte Dank, brach es, reichte es mit den Worten: Das ist mein Leib, nehmt und esset alle davon, tut dies zu Meinem Gedächtnis.
2.1 Er nahm das Brot in seine Hände So wie Jesus beim letzten Abendmahl das Brot in seine Hände nimmt, nimmt uns Gott in seine eigenen Hände. Nicht wir haben Ihn auserwählt, denn Er liebte uns zuerst. Jesus nahm uns in seine Hände, um uns nach seinem Bild und seiner Ähnlichkeit zu formen, damit wir Heilige sind und mit Glauben auf seine Liebe antworten. Das Wichtigste in dieser Phase der Gestaltung der Spiritualität ist es, zu erkennen, dass, bevor wir anfangen für den Herrn zu arbeiten, Er an uns arbeitet. Mit anderen Worten: Bevor wir die Liebe Gottes verkünden können, müssen wir sie persönlich erfahren.38 In seinem Schreiben Novo millennio ineunte merkt Johannes Paul II. an: „Es gibt eine Versuchung, die seit jeher jeden geistlichen Weg und selbst das pastorale Wirken gefährdet: zu glauben, daß die Ergebnisse von unserem Machen und Planen abhängen. Gewiß bittet uns Gott um eine reale Mitwirkung an seiner Gnade und fordert uns daher auf, alle unsere intellektuellen und praktischen Fähigkeiten in unseren Dienst für die Sache des Reiches Gottes zu investieren. Aber wehe, wenn wir vergessen, daß wir ‚ohne Christus nichts vollbringen können‘ (vgl. Joh 15,5). Das Gebet läßt uns genau in dieser Wahrheit leben. Es erinnert uns beständig an den Primat Christi und im Verhältnis zu ihm an den Primat des inneren Lebens und der Heiligkeit. Muß man sich, wann immer dieses Prinzip nicht eingehalten wird, noch wundern, wenn die pastoralen Vorhaben auf ein Scheitern zusteuern und im Herzen ein entmutigendes Gefühl der Frustration zurücklassen? Dann machen wir die Erfahrung, die den Jüngern beim wunderbaren Fischfang zuteilwurde. Das Evangelium berichtet von dieser Episode: ‚Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen‘ (Lk 5,5). Das ist der Augenblick des Glaubens, des Gebets, des Dialogs mit Gott, um das Herz dem Strom der Gnade zu öffnen und dem Wort Christi zu gestatten, uns mit aller Kraft zu durchdringen: Duc in altum! Es war Petrus, der bei jenem Fischfang das Wort des Glaubens sprach: ‚Doch wenn du es sagst, werde ich die Netze auswerfen‘ (Lk 5,5). Gestattet dem Nachfolger Petri an diesem Beginn des Jahrtausends, die ganze Kirche zu diesem Glaubensakt einzuladen, der sich in einem erneuerten Bemühen
http://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_exhortations/documents/hf_jp-ii_exh_30121988 _christifideles-laici.html [Zuletzt aufgerufen am 07. März 2019], hier CL 33. 38 Vgl. Prado Flores, J. H., Formacja uczniów, Łódź 1992, 55-59.
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um das Gebet ausdrückt“39. „Wir wissen jedoch gut“, fährt der Papst fort, „daß auch das Gebet nicht ‚automatisch‘ vorausgesetzt werden kann. Beten muß man lernen, indem man diese Kunst immer aufs Neue gleichsam von den Lippen des göttlichen Meisters selbst abliest. So haben es die ersten Jünger getan: ‚Herr, lehre uns beten!‘ (Lk 11,1)“40. Und so sollte es unsere Haltung sein, uns vom Heiligen Geist führen zu lassen, den Überraschungen des Geistes Gottes zur Verfügung zu stehen und auf den Willen Gottes zu vertrauen.
2.2 Segnete es Wenn Jesus das Brot in seinen Händen hält, segnet Er es. Das erste, was Gott für uns tut, Er segnet uns. Das griechische Verb „segnen“ besteht aus zwei Wörtern: dem Wort „gut“ und dem Wort „sagen“. Das Erste, was der Herr tut, ist, dass Er gut spricht, das heißt, Er sagt die Wahrheit. Er spricht ein lebendiges und wirksames Wort aus, das Geist und Leben ist, es ist schärfer als ein zweischneidiges Schwert. Jedes Wort, das wir hören, verändert unser Denken in einem Maße, das unsere Art zu sein und zu handeln definiert. Es ist bedenkenswert, dass das erste und wichtigste Gebot nicht zu lieben, sondern zu hören ist, denn Gott kann uns nur dadurch zur Liebe befähigen, indem er uns seine Liebe ausdrückt. Wir wissen aus Erfahrung, dass es auch Dinge gibt, die das Wort Gottes in uns unterdrücken und es ihm nicht erlauben, Wurzeln zu schlagen, geschweige denn Früchte zu tragen. Dazu zählen: Weltliche Sorgen, Durst nach Reichtum, Lust am Fleisch. Manchmal ist sogar unser Gebet kein Gespräch mit Gott, sondern ein Monolog. Als Samuel die Stimme hörte, sagte der Priester Eli zu ihm, dass Gott ihn anrief und er antworten sollte: „Sprich, Herr, dein Diener hört.“ Wir sagen oft das Gegenteil: „Sei still, Herr, denn dein Diener spricht.“41 „Es besteht kein Zweifel, – lesen wir in Novo millennio ineunte – daß man diesen Primat des Gebets und der Heiligkeit nur von einem erneuerten Hören des Wortes Gottes her annehmen kann. Seitdem das II. Vatikanische Konzil die herausragende Rolle des Wortes Gottes im Leben der Kirche unterstrichen hat, hat man im eifrigen Hören und aufmerksamen Lesen der Heiligen Schrift sicher große Fortschritte gemacht. Der Heiligen Schrift ist die Ehre sicher, die sie im öffentlichen Gebet der Kirche verdient. Auf sie greifen nunmehr in größerem Maße die einzelnen und die Gemeinden zurück; gerade unter den Laien gibt es viele, die sich ihr auch mit der wertvollen Hilfe theologischer und biblischer Studien widmen. […] Besonders notwendig ist es, daß das Hören des Wortes zu einer lebendigen Begegnung in der alten und noch immer gültigen Tradition der lectio divina wird. Sie läßt uns im biblischen Text das lebendige Wort erfassen, das Fragen an uns stellt, Ori39 40 41
Jan Paweł II, NMI 38 (wie Anm. 1). Ebd., NMI 32. Vgl. Prado Flores (wie Anm. 38), 59-61.
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entierung gibt und unser Dasein gestaltet“42. Wiederum im Brief vom Gründonnerstag stellt der Papst fest: „In einer Zeit, in der die schnellen Veränderungen in Kultur und Gesellschaft den Sinn für die Tradition geringer werden lassen und insbesondere die jungen Generationen der Gefahr aussetzen, die Verbindung zu den eigenen Wurzeln zu verlieren, ist der Priester aufgerufen, in der ihm anvertrauten Gemeinde der Mensch der getreuen Erinnerung an Christus und an sein ganzes Geheimnis zu sein: an die Vorausverkündigung Christi im Alten Testament, an die Erfüllung im Neuen Testament und an die fortschreitende Vertiefung des Geheimnisses Christi unter der Anleitung des Heiligen Geistes gemäß der Verheißung: ‚Er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe‘ (Joh 14,26)“43. Unsere Haltung ist es zu hören. Vielleicht sollten wir öfters um die Gabe des Gehörs oder auch des Hörens bitten. Das beste Beispiel für das Hören des Gotteswortes gibt uns die „große Lehrmeisterin der Eucharistie“44 Maria.
2.3 Brach es Das Brot in die Hände nehmend und mit Seinem Wort wandelnd, segnete Jesus es und brach es. Der dritte Aspekt des Eintritts in die Spiritualität der Gemeinschaft besteht darin, gebrochen oder gereinigt zu werden. Ohne diese Voraussetzung werden wir keine spirituellen Opfer darbringen können. Der Apostel Paulus bringt diese Notwendigkeit mit Hilfe der Idee des jüdischen Paschafestes, der Quelle der Eucharistie, zum Ausdruck: Wir müssen zum ungesäuerten Brot werden. Unser Hauptproblem ist, dass wir immer noch viele Dinge mitschleppen, die es uns nicht erlauben, dem Herrn frei zu dienen. Deshalb wendet Jesus aus Liebe zu uns verschiedene „reinigende Mittel“ an. Dies sind: Verfolgung in der „Welt“ – Kritik, Spott, Missinterpretation, Amtsentzug usw. Die Situation der Verfolgung stellt in gewisser Weise die Normalform des Christseins dar. Als Jünger Jesu sollten wir nicht fragen, warum sie uns verfolgen, sondern warum wir nicht verfolgt werden. Misserfolg: Eine Niederlage gibt uns manchmal eine wunderbare Gelegenheit, um zu zeigen, dass wir nicht um der Früchte willen arbeiten, sondern wegen der uns anvertrauten Mission. Probleme: Schwierigkeiten reinigen uns, weil sie uns erkennen lassen, dass die von uns geleistete Arbeit nicht unsere, sondern die Gottes ist. Wir werden dann darauf aufmerksam gemacht, dass die Probleme, obwohl sie uns überwältigend erscheinen, die Macht Gottes keinesfalls übersteigen können. Verleumdung: Gott will nicht unser Leiden, sondern unsere Reinigung; Und das ist 42 43
Ebd., NMI 39. Jan Paweł II, Słowa ustanowienia Eucharystii „formułą życia“. List Ojca Świętego Jana Pawła II do kapłanów na Wielki Czwartek 2005. Katowice 2005. [Johannes Paul II., Schreiben des Heiligen Vaters Johannes Paul II. an die Priester zum Gründonnerstag 2005. (Deutsche Version), in: http://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/letters/2005/ documents/hf_jp-ii_let_20050313_priests-holy-thursday.html [Zuletzt aufgerufen am 07. März 2019], hier Nr. 5. 44 Vgl. ebd., Nr. 8.
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immer schmerzhaft. Betrügerische Vorwürfe können so zu einem wirksamen Mittel werden, das zeigt, dass wir dem Herrn nicht für irgendeine Art von persönlichem Gewinn dienen. Wenn wir in der Lage sind, Ihm inmitten von Schwierigkeiten zu dienen, wird unsere Hingabe selbstloser sein. Entsagung: Eine ernsthafte Bedrohung für einen Diener des Evangeliums ist es, seinen Dienst zum Preis einiger Vorteile zu verkaufen. Der Jünger des Herrn sollte sich nicht fragen, was er durch seinen Dienst am Herrn gewonnen hat, sondern was er verloren hat. Wenn wir nichts verlieren (Ansehen, Ruf, Ruhm, Macht, Privilegien, materielle Güter usw.), müssen wir ernsthafte Zweifel haben, ob wir dienen oder bedient werden. Wir sollten uns zwei sehr spezifische Fragen stellen: Was habe ich schon für den Herrn aufgegeben? Was bin ich nicht bereit zu verlieren? Prüfung seitens des Guten – man kann sagen, dass dieses Phänomen im Leben der Propheten und Heiligen sogar die Norm ist: Sie werden von ihren Vorgesetzten sowie Mitbrüdern nicht verstanden, sie werden verfolgt, bis hin zum Tod. Wir werden keinen Heiligen finden, der zu Lebzeiten heiliggesprochen werden würde. Die wahren Propheten werden nicht selten von Verteidigern von Strukturen unterdrückt. Wenn wir von denen geprüft oder verfolgt werden, die an der Spitze der Hierarchie der religiösen Struktur stehen, erhält unser Vertrauen eine einzigartige Gelegenheit, uns allein Gott anzuvertrauen.45 Unsere Haltung verbunden mit der Handlung des Brotbrechens bedeutet uns reinigen zu lassen. Dies hängt eng mit dem Sakrament der Buße und der Versöhnung und der Haltung der Vergebung zusammen. In Novo millennio ineunte schreibt Johannes Paul II.: „Wir dürfen, liebe Brüder im Priesteramt, vor zeitbedingten Krisen nicht resignieren! Die Gaben des Herrn – und die Sakramente gehören zu den wertvollsten – kommen von Demjenigen, der das Herz des Menschen gut kennt und der der Herr der Geschichte ist. […] Sodann bitte ich um einen neuen pastoralen Mut, damit die tägliche Pädagogik der christlichen Gemeinden überzeugend und wirksam die Praxis des Sakramentes der Versöhnung vorzulegen vermag. […] Jesus Christus als mysterium pietatis wieder freizulegen. In Christus zeigt uns Gott sein mitfühlendes Herz und versöhnt uns ganz mit sich“46.
2.4 Reichte es Nachdem das Brot bereits in die Hände genommen, gesegnet und gebrochen wurde, wird es verteilt. Es bleibt nicht in den Händen Jesu, sondern wird anderen gegeben. Derjenige, der bei Jesus bleibt, bleibt nicht untätig, sondern beginnt, so wie Jesus, sich anderen hinzugeben. Das Zeichen dafür, dass wir Jesus begegnet sind, ist, dass wir anfangen andere zu suchen, damit sie Ihn ebenfalls kennenlernen und
45 46
Vgl. Prado Flores (wie Anm. 38), 61-79. Jan Paweł II, NMI 37 (wie Anm. 1).
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Ihm folgen. Wer Jesus entdeckt hat, teilt seine Entdeckung mit anderen.47 In seinem Gründonnerstagsbrief schreibt Johannes Paul II.: „Die Selbst-Verschenkung Christi, die ihren Ursprung im trinitarischen Leben des Gottes der Liebe hat, erreicht ihren höchsten Ausdruck im Opfer am Kreuz, dessen sakramentale Vorausnahme das Letzte Abendmahl ist. Wir können die Konsekrationsworte nicht wiederholen, ohne daß wir uns in diese geistliche Haltung einbegriffen wissen. In einem gewissen Sinn muß der Priester lernen, auch von sich selbst in Wahrheit und mit Großmut zu sprechen: ‚nehmet und esset‘. Tatsächlich hat sein Leben Sinn, wenn er es versteht, sich zu einer Gabe zu machen, indem er sich der Gemeinschaft zur Verfügung stellt und sich in den Dienst eines jeden begibt, der ihn braucht“48. Einen besonderen Platz in diesem Dienst nimmt die Evangelisierung ein. „Das ist mit Sicherheit eine Priorität für die Kirche am Beginn des neuen Jahrtausends. Der Bestand einer ‚christlichen Gesellschaft‘, die sich, trotz der vielen Schwächen, die das Menschliche immer kennzeichnen, ausdrücklich an die Werte des Evangeliums hielt, gehört inzwischen auch in den alten Evangelisierungsgebieten der Vergangenheit an. Heute muß man sich mutig einer Situation stellen, die im Zusammenhang mit der Globalisierung und der neuen gegenseitigen Verflechtung von Völkern und Kulturen, die sie mit sich bringt, immer vielfältiger und anspruchsvoller wird. Unzählige Male habe ich in diesen Jahren den Aufruf zur Neuevangelisierung wiederholt. Ich bekräftige ihn jetzt noch einmal, vor allem um darauf hinzuweisen, daß es unbedingt nötig ist, in uns wieder den Schwung des Anfangs dadurch zu entzünden, daß wir uns von dem glühenden Eifer der apostolischen Verkündigung, die auf Pfingsten folgte, mitreißen lassen. Wir müssen uns die glühende Leidenschaft des Paulus zu eigen machen, der ausrief: ‚Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!‘ (1 Kor 9,16).“49
2.5 Das ist mein Leib So wie das Brot sich in den Leib Jesu Christi verwandelt, so verwandeln wir uns auch in Ihn. Der Heilige Geist hört nicht auf in uns zu wirken, bis wir uns in das Bild Jesu Christi verwandelt haben. „Ich lebe, aber nicht mehr ich selbst, sondern Christus lebt in mir.“ sagt der hl. Paulus. Dies ist jedoch keine individualistische Vision. Gott möchte, dass wir alle zusammen den Leib seines Sohnes bilden – die Gemeinschaft. Es geht darum, im Leib Christi zu leben, in dem wir viele Glieder mit verschiedenen Funktionen finden, so dass jeder nach dem Wachstum des Körpers als Ganzes sucht, nicht nach einem persönlichen Gewinn, nicht einmal in spiritueller Form.50 In Novo millennio ineunte hat Johannes Paul II. dies wie folgt ausgedrückt: „Die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen, 47 48 49 50
Vgl. Prado Flores (wie Anm. 38), 82-85. Jan Paweł II, Słowa ustanowienia Eucharystii „formułą życia“ (wie Anm. 43), Nr. 3. Jan Paweł II, NMI 40 (wie Anm. 1). Vgl. Prado Flores (wie Anm. 38), 86-89.
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darin liegt die große Herausforderung, die in dem beginnenden Jahrtausend vor uns steht, wenn wir dem Plan Gottes treu sein und auch den tiefgreifenden Erwartungen der Welt entsprechen wollen“51. „Der andere große Bereich, wo sich ein entschlossenes Engagement für die Planung auf der Ebene der Gesamtkirche und der Teilkirchen ausdrücken muß, ist die Gemeinschaft (koinonía, communio), die das eigentliche Wesen des Geheimnisses der Kirche verkörpert und deutlich macht“52. „Die Räume der Gemeinschaft müssen im gesamten Leben jeder Kirche Tag für Tag auf allen Ebenen gepflegt und ausgeweitet werden. Hier muß die Gemeinschaft zum Strahlen kommen in den Beziehungen zwischen Bischöfen, Priestern und Diakonen, zwischen Hirten und dem ganzen Volk Gottes, zwischen Klerus und Ordensleuten, zwischen kirchlichen Vereinigungen und Bewegungen. Zu diesem Zweck muß man die vom Kirchenrecht zur Mitarbeit in der Teilkirche vorgesehenen Organe, wie die Priester- und Pastoralräte, immer besser zur Geltung bringen. […] Theologie und Spiritualität der Gemeinschaft bewirken nämlich ein wechselseitiges Zuhören zwischen Hirten und Gläubigen. Dadurch bleiben sie einerseits in allem, was wesentlich ist, a priori eins, und andererseits führt das Zuhören dazu, daß es auch in den diskutierbaren Fragen normalerweise ausgewogene und gemeinsam vertretbare Entscheidungen kommt. Zu diesem Zweck müssen wir uns die alte pastorale Weisheit zu eigen machen, welche die Hirten, ohne jegliche Schmälerung ihrer Autorität, dazu ermutigte, das ganze Volk Gottes so weit wie möglich anzuhören. Bezeichnend ist, woran der heilige Benedikt den Abt des Klosters erinnert, wenn er ihn auffordert, auch die jüngsten Mitglieder zu befragen: ‚Der Herr offenbart oft einem Jüngeren, was das Bessere ist‘. […] Und der heilige Paulinus von Nola mahnt: ‚Wir wollen an den Lippen aller Glaubenden hängen, weil in jedem Gläubigen der Geist Gottes weht‘“53. Unsere Haltung ist es typischerweise, sich dem Individualismus zu versagen. Wir sind alle Glieder des Leibes Christi und gleichzeitig Glieder für uns untereinander.
2.6 Esset alle davon So wie das eucharistische Brot konsumiert wird, wird auch der Jünger Jesu konsumiert. Das bedeutet, dass es für andere ausgegeben wird. Wenn der Weizen nicht gemahlen und gegessen wird, dient er nicht als Nahrung. Der wahre Apostel ist der Weizen, der als Nahrung anderen zum Wachstum verhilft. Konsumiert zu werden bedeutet, denjenigen zur Verfügung zu stehen, die uns brauchen.54 „Das Jahrhundert und das Jahrtausend, die im Anbruch begriffen sind, werden noch sehen müssen – und es ist wünschenswert, daß sie das mit größerem Nachdruck tun –, zu welcher Hingabe die Liebe zu den Ärmsten fähig ist. Wenn wir wirklich von der 51 52 53 54
Jan Paweł II, NMI 43 (wie Anm. 1). Ebd., NMI 42. Ebd., NMI 45. Vgl. Prado Flores (wie Anm. 38), 89-91.
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Betrachtung Christi ausgegangen sind, werden wir in der Lage sein, ihn vor allem im Antlitz derer zu erkennen, mit denen er sich selbst gern identifiziert hat: ‚Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen‘ (Mt 25,35-36). Diese Aussage ist nicht nur eine Aufforderung zur Nächstenliebe; sie ist ein Stück Christologie, das einen Lichtstrahl auf das Geheimnis Christi wirft. Daran mißt die Kirche ihre Treue als Braut Christi nicht weniger, als wenn es um die Rechtgläubigkeit geht.55 Wir brauchen heute „eine neue ‚Phantasie der Liebe‘, die sich nicht so sehr und nicht nur in der Wirksamkeit der geleisteten Hilfsmaßnahmen entfaltet, sondern in der Fähigkeit, sich zum Nächsten des Leidenden zu machen und mit ihm solidarisch zu werden, so daß die Geste der Hilfeleistung nicht als demütigender Gnadenakt, sondern als brüderliches Teilen empfunden wird. Daher muß es uns gelingen, daß sich die Armen in jeder christlichen Gemeinde wie ‚zu Hause‘ fühlen. Wäre dieser Stil nicht die großartigste und wirkungsvollste Vorstellung der Frohen Botschaft vom Reich Gottes? Ohne diese durch die Liebe und das Zeugnis der christlichen Armut vollzogene Weise der Evangelisierung läuft die Verkündigung, die auch die erste Liebestat ist, Gefahr, nicht verstanden zu werden oder in jenem Meer von Worten zu ertrinken, dem die heutige Kommunikationsgesellschaft uns täglich aussetzt. Die Liebe der Werke verleiht der Liebe der Worte eine unmißverständliche Kraft“56. Kurz gesagt, unsere Haltung ist es sich anderen hinzugeben.
2.7 Tut dies zu meinem Gedächtnis „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ – mit diesen Worten beschließt Jesus die Eucharistie. Dennoch sind die Worte Jesu viel mehr als nur ein Aufruf zum eucharistischen Kult. Wenn er sagt: „Tut dies“ meint er gleichzeitig auch: Tretet in die „ekstatische“ Liebe ein, die Ich euch hier zeige, liebt genauso wie Ich. Die reale Präsenz Jesu in der Eucharistie gibt uns die Möglichkeit, „dies zu tun“ zu Seinem Gedächtnis. Er tritt wirklich während der hl. Kommunion in uns mit all seiner Liebe ein, damit wir Ihn mit Seiner Liebe lieben können. Die Eucharistie ist eine Garantie dafür, dass wir viel mehr tun können als „in unserer Macht liegt“. Anstatt nur menschlich zu handeln, können wir es sowohl menschlich als auch göttlich tun, weil er selbst in uns eindringt: „So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an“ (Röm 8,26). Unser christliches Leben basiert nämlich auf zwei grundlegenden Aussagen: „denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“ und „Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht“ (Joh 15,5). 55 56
Jan Paweł II, NMI 49 (wie Anm. 1). Ebd., NMI 50.
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Abschließend kann man mit Johannes Paul II. feststellen, dass alles mit der Kontemplation Christi beginnt.57 Es ist Gott, der den Weg weist! Manchmal werden schwierige Bedingungen im Leben und in der pastoralen Arbeit von Gott selbst geschaffen und nicht von bloßem Zufall. Ohne Verfolgung in Judäa würden die Apostel bis heute vielleicht eine geschlossene „Gemeinschaft“ in Jerusalem pflegen. Man muss darauf vertrauen, dass Jesus, während er einen in die Weite sendet, gleichzeitig großzügig ausrüstet. Indem er der Kirche eine Aufgabe gibt, verweist er auf das Werkzeug.
3. Zusammenfassung Indem Johannes Paul II. zum Ende des großen Jubiläums des Jahres 2000 im Schreiben Novo millennio ineunte auf die seelsorgerischen Prioritäten und die Ausrichtung des Handelns58, um „die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft [zu] machen“59, verwies, warnte er ausdrücklich vor der Versuchung zuerst zu handeln. „Vor der Planung konkreter Initiativen gilt es, eine Spiritualität der Gemeinschaft zu fördern [...]. Machen wir uns keine Illusionen: Ohne diesen geistlichen Weg würden die äußeren Mittel der Gemeinschaft recht wenig nützen. Sie würden zu seelenlosen Apparaten werden, eher Masken der Gemeinschaft als Möglichkeiten, daß diese sich ausdrücken und wachsen kann“60. Die Förderung der Spiritualität der Gemeinschaft sollte daher ein Erziehungsprinzip sein, überall dort „wo man den Menschen und Christen formt, wo man die geweihten Amtsträger, die Ordensleute und die Mitarbeiter in der Seelsorge ausbildet, wo man die Familien und Gemeinden aufbaut“61. Nach den vom Papst benannten pastoralen Prioritäten kann die Perspektive der Heiligkeit mit der Einstellung des Glaubens verbunden werden, die Priorität des Gebets mit der Erinnerung, das Sakrament der Versöhnung mit der Vergebung, das Hören des Wortes Gottes mit dem Annehmen, den Empfang der Eucharistie mit dem Dank, den Vorrang der Gnade mit dem Geben, das Verkünden des Wortes Gottes mit dem Gehen. Entsprechend dem Vorschlag von Johannes Paul II. kann das Werkzeug zur Förderung der Spiritualität der Gemeinschaft die in den Worten der Weihe verborgene „Formel für das Leben“ sein: Er nahm das Brot in die Hand, das bedeutet, sich vom Heiligen Geist besonders im Gebet führen zu lassen; segnete es – zuhören; brach es – erlauben, sich reinigen zu lassen; verteilte es – um zu evangelisieren; „Das ist mein Leib“ – Gemeinschaft schaffen, Individualismus aufgeben; „nehmt und esset alle davon“ – barmherzig sein, sich selbst den anderen hingeben; „tut dies zu meinem Gedächt57 58 59 60 61
Vgl. ebd., NMI 16-28. Vgl. ebd., NMI 29-41. Ebd., NMI 43. Ebd. Ebd.
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nis“ – mit der Liebe Christi lieben in der Kraft des Geistes Gottes. Indem wir die oben genannten Haltungen verwirklichen, werden wir zu Verkündigern der Spiritualität der Gemeinschaft, auf deren Grundlage wir „die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen“62.
62
Ebd.
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1. Unerkannte Probleme bei der Schriftauslegung „Biblisch predigen – was denn sonst?“, so möchte man fragen. Jede Predigt hat auch katholischerseits „ex textu sacro“ zu geschehen. Sie ist Auslegung des biblischen Wortes, ist Gotteswort im Menschenwort. So kennzeichnet die Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils die Homilie in der folgenden Weise: „Die Homilie, in der im Laufe des liturgischen Jahres aus dem heiligen Text die Geheimnisse des Glaubens und die Richtlinien für das christliche Leben dargelegt werden (Homilia, qua per anni liturgici cursum ex textu sacro fidei mysteria et normae vitae christianae exponuntur, ut pars ipsius litugicae valde commendatur)“ (SC 52). Was die Inhalte angeht, gibt das letzte Ökumenische Konzil vor: „Schöpfen soll sie vor allem aus dem Quell der Heiligen Schrift und der Liturgie, ist sie doch die Botschaft von den Wundertaten Gottes in der Geschichte des Heils, das heißt im Mysterium Christi, das allezeit in uns zugegen und am Werk ist, vor allem bei der liturgischen Feier“ (SC 35).1 So ist jede Predigt biblisch, oder sie ist keine Predigt, sondern religiöses Geplauder und verbales Allerleigerausche. Ist mit dieser Selbstverständlichkeit aber auch schon die Frage „Biblisch predigen – was denn sonst?“ gelöst, bevor sie überhaupt erst bearbeitet wurde? Scheinbar ja. Denn dass die Schriftpredigt programmatisch durch Soziologie, Psychologie und Politologie ersetzt wird, kommt wohl nur noch ausnahmsweise 1
Die „Grundordnung des Römischen Messbuchs“ Nr. 65 legt unter Berufung auf SC 52, CIC can. 767 § 1, und die Instruktion „Inter Oecumenici“ Nr. 54 (AAS 56 [1964], 890) fest: „Die Homilie ist ein Teil der Liturgie und wird nachdrücklich empfohlen: Denn sie ist notwendig, um das christliche Leben zu nähren. Sie soll einen Gesichtspunkt aus den Lesungen der Heiligen Schrift oder aus einem anderen Text des Ordinariums oder des Propriums der Tagesmesse darlegen – unter Berücksichtigung des Mysteriums, das gefeiert wird, und der besonderen Erfordernisse der Hörer“ (Missale Romanum. Editio Typica Tertia 2002. Grundordnung des Römischen Messbuchs. Vorabpublikation zum Deutschen Messbuch [3. Auflage] [12. Juni 2007]. Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [= Arbeitshilfen 215], Bonn 2007, 48). CIC can. 768 unterscheidet näherhin zwei Inhalte, die Heilslehre und ein ihr entsprechendes Leben ebenso wie die Weltgestaltung der Christen: 1. „Die Verkündiger des Wortes Gottes haben den Gläubigen vor allem darzulegen, was zur Ehre Gottes und zum Heil der Menschen zu glauben und zu tun nötig ist.“ 2. Aber auch die kirchliche Lehre über Menschenwürde und Freiheit, Einheit und Festigkeit der Familie, Pflichten gegenüber Gesellschaft und Ordnung der zeitlichen Angelegenheiten sind darzulegen. Insofern lässt sich sagen: Die Predigt redet von allem, aber in Rückbezug auf das letzte Ziel des Menschen und der Welt. Methodisch weist der CIC can. 769 ausdrücklich auf den Hörer- und den Situationsbezug hin. SC 55 legt dabei den engen Bezug zum Tagesfest, zum Kirchenjahr und zum Erlösungsgeheimnis nahe und rät auch zu vertiefenden Predigtreihen.
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und im Klischee von besonders hartnäckigen „Alt-Achtundsechzigern“ vor. Nein, Predigt ist Schriftauslegung, das ist in der Tat weithin Konsens. Aber wie bei vielen Selbstverständlichkeiten verbergen sich die Probleme gerade darin, dass man hier vor lauter Eintracht kein Problem mehr sieht. Denn nicht jede Predigt über die Bibel ist auch schon biblische Predigt. Nennen wir darum zunächst einige problematische Formen biblischer Predigt und wählen dafür als Beispieltext das Messiasbekenntnis des Petrus (Mk 8,27-35).2 Dabei kann man nämlich ganz dicht am Schrifttext bleiben und doch die eigentlich homiletische Aufgabe verpassen: • Die Wiederholung: „Im heutigen Evangelium haben wir gehört...“, und nun wird der Duktus des soeben Vorgetragenen einfach noch einmal gesagt, also etwa: Es gab damals verschiedene Ansichten über Jesus von Nazaret, so die, er sei der wiedergekommene Johannes, Elia oder ein anderer Prophet. Mehr als diese Ansichten aber bekennt Petrus: „Du bist der Messias!“ (Mt 8,29). Nun müsste die Predigt eigentlich beginnen, aber damit endet sie dann auch schon oder sie geht unvermittelt über auf den heutigen religiösen Pluralismus. Auf diese Weise sagt die Predigt mit eigenen Worten nichts anderes als das, was die Gläubigen ohnehin eben erst gehört haben. Der Erkenntnisgewinn ist gleich null. • Der Garderobenhaken: Eine Perikope dient bloß als Aufhänger für all das, was zu sagen ein Prediger gerade Lust hat. An wie vielen Orten etwa wird das Petrusbekenntnis bloß zum Anlass für eine Rede zur Lage der Kirche unter dem amtierenden Papst, und zwar je nach Sympathie für Treueschwüre oder auch Absetzbewegungen. Oder man fabriziert aus den verschiedenen Ansichten der Menschen über Jesus das Bild einer pluralistischen Kirche, in der die verschiedensten Meinungen ein Zuhause haben dürfen. Ob diese Auffassung freilich einen Anhaltspunkt im biblischen Text hat, bleibt mehr als fraglich, denn der Garderobenhaken wird bekanntlich von dem Kleidungsstück, das man gerade darüberhängt, verdeckt. • Das exegetische Seminar: Nun will sich ein Prediger vor allem als bibelwissenschaftlicher Experte profilieren. „Ich bin schlau, und ihr seid es nicht,“ das ist dann allzu oft die Ich-Botschaft, die sich bei den Hörern einprägt. Akribisch werden da die unterschiedlichen Messiaserwartungen – Johannes der Täufer, Elias oder sonst einer der Propheten – historisch untersucht und verschiedenen Gruppierungen in Israel zugeordnet. Bei der Gemeinde bleibt nur haften: All das ist schrecklich weit vom Hier und Heute entfernt. • Aber es gibt auch das Gegenteil – die unbedarfte Auslegung: Predigt ist Zeugnis, nicht Lehre, so meint man, und je kraftvoller man all seine Lieb2
Vgl. Möde, Erwin, Christusnachfolge: Die „zweifache“ Berufung des Simon Petrus – Eine psychoanalytische Textanalyse, in: Una Sancta: Zeitschrift für ökumenische Begegnung 72 (2017) Heft 4, 242-248.
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lingsideen vorbringt, umso weniger kümmert man sich darum, ein getreuer Hörer des Wortes Gottes zu sein. Dahinter steht die selbst wieder unbelegte Voraussetzung, je lauter der Brustton einer Überzeugung sei, umso schneller habe man andere überzeugt. Dass man sich anderen auch aufdrängen kann, dass man mit allzu offenkundigem Bekehrungseifer abstoßend wirkt, diese Lebenserfahrung wird da einfach in den Wind geschlagen. Denn oft nimmt die Predigt einen geradezu antiintellektuellen Gestus an, für den jede kritische Nachfrage gleich Glaubensschwäche und -abfall bedeutet. Ironisch, aber treffend malt Rolf Zerfaß diesen Stil so: „Das Mäuslein Frederick, das für den Winter Wärmestrahlen sammelt, wird dann zum eigentlichen Kerygmaträger des Advent; Jesaja gibt nur mehr das Stichwort.“3 • Die Verallgemeinerung: Hier handelt es sich um ein Problem, das viele wohl gar nicht als solches erkennen. Dabei wird das Besondere, das Einmalige der Heilsgeschichte zum Sinnbild des Allgemeinmenschlichen. Bei diesem Prozess verliert es aber sein Einmalig-Konkretes, wird Offenbarung als Geschichte zur Religion innerhalb der Grenzen des Humanums. Da wird die Messiasfrage zum Umgang mit Vorurteilen, die die Besonderheit eines Menschen einengen. Typischerweise geschieht diese Verallgemeinerung häufig bei der Wunderpredigt. „Wenn jeder gibt, was er hat, dann werden alle satt...“, dieses recht banale Lied von der Brotvermehrung etwa reduziert die Machttat Christi auf eine Anstandsregel bei Tisch; die Heilung des Aussätzigen wird zum Appell, auf Ausgegrenzte zuzugehen; die Erweckung der Tochter des Jairus zu einem Beispiel einfühlsamer Trauerarbeit und die Heilung des Gelähmten zum Sinnbild für die Neuaufbrüche einer gelähmten Kirche.
• Die verlorene Systematik: Eines der vielen Vorurteile zum beliebten Thema „vorkonziliar – nachkonziliar“ besteht in der Meinung, früher habe man in der Predigt auf völlig unbiblische Weise Themen abgehandelt. Nun war die alte Predigt, wie wir aus vielen Predigthandbüchern wissen, in der Regel sehr schriftnah, bisweilen sogar eine regelrechte Vers-für-Vers-Auslegung. Aber das Missverständnis besteht darin, dass die Schriftnähe es manche heutigen Prediger anders als früher ausschließen lässt, dabei ein Thema systematisch abzuhandeln. Doch nichts verbietet es, etwa anlässlich der Taufe Jesu eine katechetische Predigt zur Notwendigkeit, Bedeutung und Wirkung der Taufe zu halten. Und das Messiasbekenntnis des Petrus, die Leidensankündigung und die Kreuzesnachfolge können durchaus dazu dienen, Grundaussagen der Christologie und der Soteriologie vorzutragen.
3
Zerfaß, Rolf, Grundkurs Predigt. 2 Bde., Düsseldorf 41995 (Bd. 1), 1992 (Bd. 2), II,107.
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Benedikt XVI., selbst ein großer Prediger, weist in seinem Apostolischen Schreiben „Sacramentum Caritatis“4 Nrr. 45-46 der Betrachtung des Wortes Gottes und seiner Auslegung in der Homilie eine große Bedeutung für die Feier der Eucharistie zu. In diesem Zusammenhang regt er regelrechte thematische Predigtzyklen zu den vier Hauptstücken der Katechese an: „In Verbindung mit der Bedeutung des Wortes Gottes erhebt sich die Notwendigkeit, die Qualität der Homilie zu verbessern. Sie ist ja ‚Teil der liturgischen Handlung‘5 und hat die Aufgabe, ein tieferes Verstehen und eine umfassendere Wirksamkeit des Wortes Gottes im Leben der Gläubigen zu fördern. Deshalb müssen die geweihten Amtsträger die Predigt sorgfältig vorbereiten, indem sie sich auf eine angemessene Kenntnis der Heiligen Schrift stützen‘. Oberflächlich-allgemeine oder abstrakte Predigten sind zu vermeiden. Im Besonderen bitte ich die Prediger, dafür zu sorgen, dass die Homilie das verkündete Wort Gottes in so enge Verbindung mit der sakramentalen Feier und mit dem Leben der Gemeinde bringt, dass das Wort Gottes für die Kirche wirklich Rückhalt und Leben ist. Darum berücksichtige man den katechetischen und den ermahnenden Zweck der Homilie. Es erscheint angebracht, den Gläubigen – ausgehend vom Drei-Jahres-Lektionar – wohlbedacht thematische Homilien zu halten, die im Laufe des liturgischen Jahres die großen Themen des christlichen Glaubens behandeln und dabei auf das zurückgreifen, was vom Lehramt maßgebend vorgeschlagen wird in den „vier Säulen“ des Katechismus der Katholischen Kirche und dem später erschienenen Kompendium: dem Glaubensbekenntnis, der Feier des christlichen Mysteriums, dem Leben in Christus und dem christlichen Gebet“ (Nr. 46 mit Zitat der Propositio 19 der Bischofssynode). „Biblisch predigen – was denn sonst?“, die Frage hat durch manche Beobachtung nun längst ihre Selbstverständlichkeit verloren. Aus einer rhetorischen ist eine echte Frage geworden. An einer angemessenen, erhellenden Antwort ist nun zu arbeiten.
2. Die Trennung von Text und Verkündigung Hinter all diesen Missverständnissen der Predigt als Schriftauslegung steht ein „proton pseudos“, nämlich die Trennung von Text und Verkündigung. Man tut so, als wäre der Text das eine und die Predigt das andere. Dann schaut der Prediger 4
5
Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum Caritatis Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe, den Klerus, die Personen gottgeweihten Lebens und an die christgläubigen Laien über die Eucharistie, Quelle und Höhepunkt von Leben und Sendung der Kirche (= VApS 177) (22. Februar 2007). 2., korrigierte Auflage, Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2007. Grundordnung Nr. 29; vgl. SC 7.33.52.
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zunächst in die Bibel, und erst in einem zweiten Schritt überlegt er sich, was sie den Hörern an dieser Stelle sagen könnte. Er setzt voraus, dass das Schriftwort in sich fern, schwer verständlich, wenig interessierend und weltfremd sei und durch die Predigt erst noch attraktiv gemacht werden müsse. Damit behandelt er die Schrift aber gerade als toten Buchstaben, mit dem er wie mit einem leblosen Gegenstand umgehen kann. Dann fotografiert der eine ihn ab (Wiederholung), der andere spielt bloß mit ihm (Garderobenhaken), der dritte seziert ihn (exegetisches Seminar), der vierte tritt ihn mit Füßen, weil er sich ja doch nicht wehren kann (unbedarfte Auslegung), der vierte gebraucht ihn als Spiegel (Verallgemeinerung), und der fünfte klebt an ihm und kann sich von seiner Struktur nicht lösen (verlorene Systematik). Nun ist aber das Schriftwort nicht Buchstabe, sondern Geist. Das bedeutet praktisch, dieses Wort Gottes hat nicht nur eine unmittelbare literale Bedeutung, sondern auch eine Botschaft für jeden, der es hört: „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2 Tim 3,16). Der Geist aber ist lebendig, und er spricht von sich aus im Hier und Heute. Darum kann man ihn nicht wie einen toten Gegenstand behandeln und nach Gutdünken etwas aus ihm machen. Vielmehr ergreift seine Lebendigkeit die Hörer; sie hat ihnen etwas zu sagen. Darauf zu hören, ihm Stimme zu geben, das ist die biblische Predigt. Sie ist An-Sprache, und darum ist sie nichts anderes als der Akt, in dem der Geist selbst aus dem Schriftwort Menschen heute anspricht. Eine Möglichkeit, die Schrift selbst in ihrer unmittelbaren Lebensnähe und Existenzbedeutung aufzuschließen, stellt die psychologische oder näherhin psychoanalytische Erschließung des Schrifttextes dar. Um einen Sammelbegriff zu prägen, der nicht an einzelne psychologische Schulen gebunden ist, könnte man von psychagogischer Schriftauslegung sprechen, insofern sie die Selbsterschließung der Schrift gegenüber der Seele in all ihren Dimensionen ermöglicht – Erwin Möde hat sich darum wie kaum ein Zweiter verdient gemacht. Darin wird das Wort zumindest vom Anspruch her nicht mit textfremden Kategorien überlagert, sondern Einsichten über die Psyche des Menschen helfen dazu, dass der Text sich zeigt, ja dass er sich jedem Einzelnen in einer sehr persönlichen Weise entsprechend seiner psychischen Disposition zeigt. Dahinter steht die Überzeugung: „Der Text trägt den Sinn; aus ihm heraus generiert sich der Sinn je neu und verschieden vom ersten Mal.“6 Doch eine solche psychagogische Schriftauslegung ist methodisch durchaus anspruchsvoll und steht immer in der Gefahr, die eigenen Kategorien in Perikopen und Schriftworte hineinzulesen oder gar willkürlich mit ihnen zu assoziieren. Um6
Möde, Erwin, Studien zur biblischen Anthropologie. Ein Beitrag zur Spiritualitätstheologie, München 1994, 6; Vgl. ders., Hesekiels Tiefenschau des menschlichen Wesens, in: ebd. 21-42; ders., Der Passionsweg Jesu Christi: Vom „Hosianna“ zum „Kreuzige“, in: ebd. 61-84; ders., Der Gang nach Emmaus (Lk 24,12-35): Paradigma hermeneutischer Wegführung, in: ebd. 89-103; ders., Die Heilkraft des Glaubens: Spirituelle Erschließung einer biblischen Heilungsgeschichte (Joh 4,43f), in: Möde, Erwin, Christliche Spiritualität und Mystik, Regensburg 2009, 95-109; ders., Christusnachfolge (wie Anm. 2).
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so dankbarer darf man Erwin Möde sein, dass er verschiedentlich und mit seiner Doppelkompetenz als professioneller Psychologe und umsichtiger Fundamentaltheologe die Methodik einer solchen Predigt und Verkündigung erschlossen und selbst in verschiedenen Auslegungen exemplarisch vorgeführt hat. Die Pointe seiner Darlegungen scheint mir im von ihm angeführten Abstinenzgebot zu liegen. Danach gilt es, „den Signifikanten (das gesprochene Wort) zunächst unbedeutet wörtlich zu nehmen: indem sich der Analytiker einer vorgefaßten und vorauseilenden Deutung des Sprachtextes seines Analysanden enthält (daher ‚Abstinenz‘), kann sich der unbewußte Sinn im Gesprochenen ansagen. So kann sich die persönliche Wahrheit eines Lebens momenthaft zu erkennen geben, ohne je definitiv faßbar zu werden.“7 Diese Abstinenz führt also gerade dazu, den Text in seiner Wörtlichkeit ernstzunehmen und ihn nicht machthaft bereits in einen bestimmten Verstehenshorizont hineinzupressen. Wenn jemand somit eine Perikope im Blick auf die Verkündigung liest, dann beginnt der Text in neuer Art zu sprechen. Dabei öffnet ihm das besagte Messiasbekenntnis des Petrus etwa die Augen für all die Erwartungen, die die Menschen heute an den Nachfolger des Petrus haben: der „Mann des Jahres“, der Star, der Hoffnungsträger oder eben auch der Sündenbock, der unverbesserliche ehemalige Panzer-Kardinal oder der Ewig-Gestrige. Zu alldem, ob positiv oder negativ, sagt das Schriftwort: „Biegt euch Petrus nicht nach eurem Gutdünken zurecht, sondern fragt euch vielmehr: Wie lehrt er euch, voll und ganz an Jesus als den Christus zu glauben?“
3. Von der Exegese zur Predigt? So gibt es keine lineare Entwicklung „von der Exegese zur Predigt“8. Wie der Bibeltext vielmehr bereits aus dem Glauben der Kirche entstanden ist – die Kirche 7 8
Möde, Studien (wie Anm. 6), 12. Vgl. allerdings differenziert Kamphaus, Franz, Von der Exegese zur Predigt, Mainz 1968. Einen Überblick über die ältere Literatur im evangelischen Raum gibt Jetter, Werner, Die Predigt und ihr Text. Beobachtungen und Bemerkungen zu einem elementaren Problem evangelischer Theologie und Kirche, in: Monatsschrift für Pastoraltheologie 54 (1965), 406-453. Hier kehrt das spannungsvolle Verhältnis zwischen Schriftnähe und Gegenwartsbezug immer wieder in teilweise leidenschaftlichen Diskussionen wieder, so vehement gegen das Paradigma einer festen, autoritativen Textaussage, die es auszurichten gelte, Deneke, Axel, Die Texte sind offen! Ein Plädoyer für eine eisegetische Predigt, in: ZGDP 16 (1998), H. 4, 21-23. Für die Befreiung von einer Textfixiertheit der Predigt tritt ein Engemann, Wilfried, „Unser Text sagt...“ Hermeneutischer Versuch zur Interpretation und Überwindung des „Texttods“ der Predigt, in: ZThK 93 (1996), 450-480; ders., Semiotische Homiletik. Prämissen - Analysen - Konsequenzen, Tübingen / Basel 1993 (zwei Versuche, die Predigt nicht textfixiert sein zu lassen). Das für die Entstehung der christlichen Predigt als Schriftauslegung maßgebliche Judentum hat diese über lange Zeit hauptsächlich als Exegese verstanden, nicht zuletzt als Ableitung konkreter toragemäßer Verhaltensweisen aus den biblischen Weisungen (vgl. zum Übergangsprozess der jüdischen zur christlichen Predigt Engemann, Wilfried,
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ist vor dem Text! –, so kann das Hinhören auf die Menschen den Text gerade erst wirklich verstehen lassen. Die Bibel selbst ist ja vielmehr eine „Bibliothek von ‚Predigten’, die so ins Schwarze trafen, daß sie unvergessen geblieben sind“.9 Darum vollzieht das Predigen zirkuläre Bewegung10 zwischen Text, Hörern und Situation – das „homiletische Dreieck“11 – hin und her. Prägnant beschreibt Rolf Zerfaß die Predigtweise Jesu: „Der Ort, an dem Jesus das Evangelium weitergegeben hat, war der Tisch, nicht der Schreibtisch. Am Tisch haben viele Platz, am Schreibtisch nur einer. Am Tisch redet man miteinander, am Schreibtisch grübelt man vor sich hin.“12 So ist auch für jeden, der predigt, die Kanzel mehr als ein Ausführungsorgan des am Schreibtisch Ausgetüftelten. Deshalb kann es nicht im Sinn einer Alternative heißen: Buchstabe oder Geist, so als wäre eine biblische Predigt das Gegenteil zu einer situationsbezogenen Predigt. Gegenwartsbezug kann nicht auf Kosten der Schriftnähe gehen, ebenso kann das Schöpfen aus der Schrift nicht die heutigen Fragen und Erfahrungen verdursten lassen. Wenn das Wort Gottes nur es selbst ist, wenn es Menschen mitten ins Herz trifft, dann besteht das doppelte Kriterium einer guten Predigt in der Erschließung des Wortes Gottes als Nahrung für heute ebenso wie in der Durchleuchtung des Hier und Heute auf die großen Themen der Schrift hin: • Gelingt es, das Schriftwort so zu lesen, dass es klärende und lehrende, tröstende und mahnende Kraft für die Gläubigen entwickelt13? • Und gleichzeitig: Werden in dieser Predigt Situationen, Anschauungen und Erfahrungen der Anwesenden im Tiefsten durchsichtig auf das, worauf das Wort Gottes immer zielt: die Abkehr vom Verderben und die Hinkehr zum Heil?
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Einführung in die Homiletik (= UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher 2128), Tübingen / Basel 2002, 87-95; in der Synagoge hatte die Predigt demnach die Aufgabe, „den Hörenden dieses 'Gesetz' sowohl (als Text) beizubringen wie zu seiner Umsetzung im Alltag anzuleiten“ [ebd. 88, vgl. Apg 13,15], doch die hellenistisch-jüdischen Predigten „erzählen und belehren nicht nur, sondern argumentieren auch“ und entwickeln durchaus ein missionarisches Interesse [ebd. 89]). Bei der Predigt in jüdischen Gemeinden kam es jedoch im Lauf des 19. Jahrhunderts – wohl auch infolge der wachsenden Assimilierung - zu einem Wandel „from Exegesis to Exposition – von der Exegese zur thematischen Darlegung “ (Saperstein, Marc, Art. „Sermons in Modern Judaism“, in: Encyclopaedia of Judaism, Brill Online, 2014). Zerfaß, Grundkurs II (wie Anm. 3), 49; ebd. 50 spricht Zerfaß von der Bibel als einer Art von Gemäldegalerie, in der jedoch der Eigenanspruch jedes Bildes leicht unterzugehen droht. Vgl. Nicol, Martin, Grundwissen Praktische Theologie. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 2000 (3.3.10). Vgl. Wollbold, Andreas, Predigen – Grundlagen und praktische Anleitung, Regensburg 2017, 200233. Zerfaß, Grundkurs II (wie Anm. 3), 47. In diesem Sinn etwa Müller, Philipp, Zwischen den Zeilen lesen und aufmerken. Was verdeutlicht eine sorgfältige Exegese?, in: LS 50 (1999), 15-19 (sorgfältige und gleichzeitig hörerbezogene Schriftauslegung).
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4. Biblisch predigen praktisch – die Verschränkung von narratio und argumentatio All dies ist noch recht grundsätzlich. Wie aber geht das praktisch, biblisch zu predigen? Hier kann kein Kompendium biblischer Predigtpraxis geboten werden. Vielmehr soll nur eine – allerdings grundlegende – Anforderung an jeden Prediger vorgestellt werden, die jeder vom Predigtaufbau her kennt.14 Im Sinn der klassischen Einteilung der Rede hat auch die Predigt einen Rahmen, nämlich die Eröffnung („exordium“) und den Schluss („peroratio“). Dazwischen aber finden sich nach der bewährten klassischen rhetorischen Theorie zwei Teile: die Darlegung der Sache („narratio“) und ihre argumentative Durchdringung („argumentatio“). Mit diesen beiden Teilen aber sind auch die zwei Pole der biblischen Predigt genannt, der Text auf der einen und sein Anspruch an die anwesenden Hörer auf der anderen Seite. Diese beiden Pole sind also zum einen die Wiedergabe des Damals („Erzählung“) und zum anderen die Auseinandersetzung zwischen dem Gelesenen und dem Heute („Argumentation“ im Sinn des Erwägens von Gründen und Gegengründen und des Durchdringens von Text und Situation). 1. Die Erzählung bzw. Darstellung der Sache („narratio“) meinte ursprünglich beim gerne von der klassischen Rhetorik gebrauchten Paradigma der Gerichtsrede die Wiedergabe des Tathergangs oder überhaupt die Erläuterung, worum es bei der folgenden Rede aus der Sicht des Redners eigentlich geht. Doch „narratio“ beschränkt sich keineswegs auf eine unbeteiligte Wiedergabe von Fakten. Ein Geschehen wird aus eigener Sicht perspektivisch dargestellt, und so leitet die „narratio“ bereits zum Folgenden hin, sie öffnet die Augen für die eigene Sichtweise, die eigene „causa“, von der man überzeugen will. Vor Gericht wird darum derselbe Vorgang aus der Sicht des Verteidigers ganz anders aussehen als aus der des Staatsanwalts. Damit steht fest: Bereits die „narratio“ ist parteiisch, sie legt die Sache, das Thema der Predigt, von einem Standpunkt aus dar. Nun ist eine solche Perspektivierung ein überaus gefährliches Unterfangen. Wirklichkeitsverdrehung, Ideologie, Verkürzung und Unterschlagung lauern. Solche Untugenden haben die Rhetorik zu allen Zeiten in Verruf gebracht. Dennoch verfällt ein christlicher Prediger nicht zwangsläufig diesen Formen der Wirklichkeitsverdrehung. Denn zum einen muss er Rechenschaft geben über die Zulässigkeit seiner Textauffassung, d. h. seine Auslegung muss philologisch vor dem Literalsinn verantwortet sein.15 14
Zum Folgenden vgl. Wollbold, Predigen (wie Anm. 11), 266-291, sowie grundsätzlich Eggs, Ekkehard, Art. „Argumentation“, in: HWRh 1, 914-991; Kopperschmidt, Josef, Methodik der Argumentationsanalyse (= problemata 119), Stuttgart / Bad Cannstatt 1989; Veith, Walter F., Art. „Argumentatio“, in: HWRh 1, 904-914. 15 Vgl. dazu aus exegetischer Sicht Gzella, Holger, L'esegesi biblica e gli studi orientali alla soglia di un nuovo millennio: Acta Pontificii Instituti Biblici 11/6 (2010), 731-747, hier 736f (eigene Übersetzung): „Man kann behaupten, dass die biblische Exegese unter dem Einfluss der Theorien der Postmoderne ganz besonders eine rigoros philologische Schulung nötig hat, weil es angesichts der Vielfalt der Ansätze im augenblicklichen Diskurs nicht mehr klar ist, dass nicht alle Interpretationen gleich angemessen sind, um den Text auszulegen. Wenn wir nicht überhaupt vom Literalsinn
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Zugleich muss er sicherstellen, dass er nicht bloß im eigenen Namen redet, sondern gebunden an das gemeinsame Credo der Kirche, denn nur dann redet er im Namen aller. Dabei manipuliert er also nicht, sondern er bezeugt, was Glaube der Kirche ist. Dieser Glaube bestimmt die Perspektive, die ihm die Augen geöffnet hat – seit alters her wird darum Glaube und Taufe als photismos, als Erleuchtung verstanden – und die jedem Gläubigen helfen kann, selbst aus dieser Perspektive Gott und die Welt neu zu sehen. Im Licht dieses Glaubens sind jedoch etwa bei unserem Beispiel, dem Petrusbekenntnis, nicht alle Auffassungen über Jesus gleich oder gar beliebig. Es gibt Wahr und Falsch, denn es gibt den Standpunkt des Glaubens, der aber „iuxta unanimem consensum patrum“16 gleichzeitig über allen Einzelmeinungen steht. Damit ergibt sich der Maßstab für den Bezug zum biblischen Wort in der „narratio“: Was sagt es, wenn es im Licht des kirchlichen Glaubens – also an dieser Stelle etwa der altkirchlichen christologischen Bekenntnisse – gelesen wird? Die „narratio“ kann und soll dabei durchaus bereits die Aspekte des Gegenwartsbezuges herausstellen, die dann in der „argumentatio“ entfaltet werden. Ein solcher Standpunkt des Glaubens ist nicht Ideologie, sondern Perspektive – im wahrsten Sinn des Wortes. Per-spektive (von lateinisch „per-spicere“: hindurch-schauen, genau hinschauen) meint den scharfen Blick von einem ruhigen, festen Standort aus. Entscheidend ist nicht, wieder und wieder zu behaupten, wie fest oder schwankend man steht, sondern was einer dabei in den Blick bekommt. Da kommt einer zur Sache, darum geht es nun. Die Sache nämlich ist nichts weniger als das Credo, das den Sinn der ganzen Wirklichkeit erhellt. 2. Die argumentative Durchdringung („argumentatio“) verarbeitet das Dargelegte nun denkerisch. Darin soll sich zeigen, wie vom biblischen Wort zum Hier und Heute der Hörer Brücken geschlagen werden können, wie es sie anspricht, herausfordert, bestärkt und belehrt und wie umgekehrt eigene Erfahrungen, Fragen, Werte und Denkmuster im Licht des Wortes Gottes neu zu verstehen sind. Dazu wird man sowohl Buchstaben als auch Geist dieses Wortes zu erhellen suchen. Der Buchstabe erfordert es nicht selten, sprachliche und historische Hintergründe zu geben, Zusammenhänge aufzuweisen, das Gehörte auf den Punkt zu bringen, vielleicht auch zuzuspitzen, in jedem Fall zu klären und durchsichtig zu machen, um bei den Hörern Aha-Erlebnisse auszulösen. Der Geist verlangt, die Welt der Hörer daraufhin auszulegen, wie sie der Heilsbotschaft begegnen könnte: das offene Abschied nehmen wollen, dann hilft uns die Philologie, uns einer solchen intersubjektiven Ebene anzunähern, wie sie von der Stellung der Exegese in der Theologie und ihrer Bedeutung für die Glaubenslehre gefordert ist. Auf diese Weise kann der Literalsinn, der fest in der Tradition der Kirche verankert ist, der persönlichen Annäherung an die Texte ausgleichend entgegenwirken, indem er den Leser an die eigene Subjektivität und ihre Grenzen erinnert und so den ‚Mehrwert an Sinn‘ der Heiligen Schrift unterstreicht.“ 16 So die klassische Formel einer kirchlichen Schriftauslegung, wie sie die „Professio fidei Tridentina“ formuliert (hier zitiert nach: Enchiridion Biblicum. Documenta ecclesiastica sacram scripturam spectantia. Auctoritate Pontificiae Commissionis de Re Biblica edita. Editio quarta aucta et recognita, Neapel-Rom 1961, Nr. 73): „Item sacram scripturam iuxta eum sensum, quem tenuit et tenet sancta Mater Ecclesia, cuius est iudicare de vero sensu et interpretatione sacrarum Scripturarum, admitto; nec eam umquam nisi iuxta unanimem consensum Patrum, accipiam et interpretabor.”
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Lebensbuch des kleinen Täuflings, der Familienalltag zwischen Reibereien und Herzschmerz, die Ambivalenzen des Wirtschaftswachstums usw. „Das Verhältnis von Erzählung und argumentativer Durchdringung kann philosophisch verstanden werden mit Hilfe dessen, wie Thomas von Aquin die Arbeit des Verstandes zweiteilt. In seinem aufnahmebereiten Teil (‚intellectus possibilis’) lässt er sich von den Wahrnehmungen beeindrucken. Das heißt, am Anfang steht eine wirkliche Begegnung mit der Sache, sowohl in der Heils- als auch in der ‚Weltgeschichte’. Das Denken steht im Dienst der Sache, es erschöpft sich nicht in Floskeln, in frommen Sprüchen, in Denkautomatismen oder in der Reflexreaktion: ‚Das kenne ich doch schon alles!’ Was bei dieser Begegnung entsteht, wird dann an den kreativen, eigentätigen Verstand (‚intellectus agens’) weitergegeben. Er macht die eigentliche Personmitte aus, er verwirklicht in der Begegnung mit der Wirklichkeit sich selbst. Wichtig dafür ist, dass dies nur durch den Vorgriff auf den Horizont des Seins selbst geschehen kann, also in einer Grundhaltung der Offenheit für die Wirklichkeit, in der sich Gott selbst anzeigt und zugleich verbirgt, d. h. zutiefst in der Suche nach Gott in allen Dingen (Ignatius von Loyola).“17 Wie genau sich das Verhältnis der „narratio“ zur „argumentatio“ in der einzelnen Predigt gestaltet, hängt nun vom Predigttyp ab. Nennen wir dafür abschließend nur zwei Grundtypen, die klassische Homilie und die thematische Predigt.18 Bei der ersten steht die „narratio“, bei der zweiten die „argumentatio“ im Vordergrund. Dennoch verschränken beide Typen die beiden Pole von Schriftnähe und Gegenwartsbezug in charakteristischer Weise miteinander. 1. Die klassische Homilie nach der Art der jüdischen Synagogalpredigt und in ihrer Nachfolge der Kirchenväter schreitet Vers für Vers, manchmal sogar Wort für Wort einer Perikope ab. Ihr Wortlaut steht ganz im Vordergrund, der Prediger spricht nur aus, was der Text selbst an Leben entfaltet: Anspielungen auf andere Bibelverse, Stichwortbezüge, Assoziationen zum Buch des gelebten Lebens oder zum liturgischen Vollzug, geistliche Weisung u. v. a. Ernstes, Überraschendes, Tiefgründiges holt der Prediger dabei aus dem Text wie aus einer Schatzkiste hervor. So sagt Melito von Sardes († um 180) in seiner berühmten Paschapredigt: „Der Bericht der Schrift vom Auszug der Hebräer wurde verlesen und die Worte des Mysteriums wurden verkündet [...]. Nun begreifet also, Geliebte, wie neu und wie alt [...] es ist, das Mysterium des Passa.“19 Vers für Vers dem Text nachzugehen, sich seiner Dynamik zu überlassen und sich selbst führen zu lassen, das ist die hohe, aber auch schwierige Kunst der klassischen Homilie. Wenn sie misslingt, dann kommt es stattdessen zu einem bloßen Nachbeten des Textes oder gar zu 17 18 19
Wollbold, Andreas, Handbuch der Gemeindepastoral, Regensburg 2004, 219. Vgl. ebd. 199f sowie ausführlicher Wollbold, Predigen (wie Anm. 11), 140-144. Melito von Sardes, Peri pascha 1f (Melito von Sardes, Vom Passa. Die älteste christliche Osterpredigt. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Josef Blank [= Sophia. Quellen östlicher Theologie 3], Freiburg i. Br. 1963, 101).
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einer bloßen Plauderei über alles, was jemandem anlässlich der einzelnen Sätze eben so einfällt. 2. Die thematische Predigt lässt sich von einer Perikope ein Thema, also einen umgrenzten Bereich der Wirklichkeit, erhellen. Das könnte bei einer Predigt zum Messiasbekenntnis des Petrus die Antwort auf die Frage sein: „Wer ist Jesus von Nazaret?“ Dabei dient der Bezug zum Schriftwort gewissermaßen wie ein Trampolin dem Abfedern in die Höhe des Themas. D. h. die „narratio“ beschränkt sich auf kurze, aber präzise Vergewisserungen, dass die Darlegung des Themas nicht ins Leere läuft, sondern ganz biblisch-kirchliche Lehre ist und bleibt. Quantitativ umfangreicher ist dagegen die systematische Entfaltung der These – Jesus Christus ist der Sohn des menschgewordenen Gottes – und ihre Durchdringung nach Pro und Contra.
„Selig die Armen im Geiste...“ (Mt 5,3) – Eine spiritualitätstheologische Lesart der matthäischen Makarismen
Georg Rubel Zu seinem 60. Geburtstag gab Erwin Möde ein Buch heraus mit dem Titel „Seitenblicke ins Leben. Gedanken zum Sonntag“1. Die darin enthaltenen 70 Beiträge hatte er in den zurückliegenden Jahren jeweils einmal im Monat als „Wort zum Sonntag“ für seine Heimatzeitung, die „Landshuter Zeitung“, verfasst. In einem dieser kurzen Artikel vom Juli 2014 geht er auf die erste Seligpreisung bei Matthäus „Selig, die arm sind im Geiste (...)“ ein und stellt sich die Frage, wer in Mt 5,3 mit den Armen im Geiste gemeint sei.2 Zum 65. Geburtstag von Erwin Möde will ich thematisch an diesen Beitrag anknüpfen und dem Jubilar mit einer spiritualitätstheologischen Lesart der matthäischen Makarismen einen literarischen Glückwunsch entbieten.
1. Das Problem der Übersetzung von Mt 5,3-12 Wie Erwin Möde richtig bemerkt, ist jede Übersetzung bereits eine theologische Interpretation des Textes.3 Dieses hermeneutische Problem stellt sich auch und in besonderer Weise im Hinblick auf die matthäischen Makarismen in Mt 5,3-12. Zwei Beispiele seien hier zur Illustration angeführt, bevor eine eigene Übersetzung des griechischen Originaltextes geboten wird.
1.1 Zur Übersetzung von µακάριος Allen voran gilt es zu klären, wie das griechische µακάριος adäquat ins Deutsche zu übersetzen ist. Die Einheitsübersetzung und mit ihr die meisten Ausleger geben µακάριος mit „selig“ wieder. Wenn dieser traditionelle und antiquiert anmutende Begriff verwendet wird, dann muss er in seiner gesamten Bedeutungsvielfalt er1 2 3
Möde, Erwin, Seitenblicke ins Leben. Gedanken zum Sonntag, Straubing 2014. Vgl. ebd., 102-104. Vgl. ebd., 103.
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klärt werden. In unserem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Seligen nicht einseitig auf die Verstorbenen zu reduzieren sind. Dieser Aspekt ist für die Makarismen von enormer Bedeutung. Sie wollen gerade nicht auf das Jenseits vertrösten, sondern preisen Menschen im hic et nunc selig. Als Alternative bietet sich an, das µακάριος mit „glücklich“ wiederzugeben. Diese Übersetzung trifft insofern zu, als die Makarismen von ihrer Grundintention her nichts anderes sind als Gratulationsrufe bzw. Glückwünsche. Die Gefahr bei dieser Wiedergabe liegt jedoch darin, Glück als innerweltliche Größe ohne jeglichen Transzendenzbezug zu begreifen. Wie aus dem Nachsatz der ersten Seligpreisung explizit hervorgeht, sind die Makarismen in einem eschatologischen Kontext zu verorten. Die Armen sind deshalb glücklich zu preisen, weil ihnen das Himmelreich gehört.4 Wie diese bruchstückhaften Beobachtungen zeigen, gibt es keine allein selig bzw. glücklich machende Übersetzung von µακάριος. Letztendlich ist jede Übersetzung ein Kompromiss. Wenn ich mich nunmehr für die Variante „selig“ entscheide, dann liegt das hauptsächlich daran, dass es sich dabei um die gebräuchlichere Übersetzung handelt. Im deutschen Sprachgebrauch ist von Seligpreisungen und nicht von Glücklichpreisungen die Rede. Diese terminologische Entscheidung geschieht in dem Wissen, dass bei µακάριος immer auch die Konnotation „glücklich“ mitschwingt.
1.2 Zur Übersetzung von τῷ πνεύµατι In aller Dringlichkeit stellt sich die Frage, wie die Wendung τῷ πνεύµατι im Deutschen wiederzugeben ist. Je nachdem, für welche Variante man sich entscheidet, ändert sich die Stoßrichtung der Aussage. An diesem Beispiel zeigt sich sehr schön, wie der Text durch eine bestimmte Übersetzung eine bestimmte Interpretation erfährt.5 Dabei ist zu klären, ob sich πνεῦµα auf den göttlichen oder auf den menschlichen Geist bezieht. Zudem ist zu fragen, ob der Dativ als dativus instrumentalis oder als Dativ der Beziehung zu verstehen ist. Insgesamt ergeben sich also für die Wendung τῷ πνεύµατι vier Deutungsmöglichkeiten.6 1. Möglichkeit: Bezieht man πνεῦµα auf den göttlichen Geist und interpretiert man den Dativ als dativus instrumentalis, so müsste die Übersetzung lauten: „durch göttlichen Geist arm“. Soll damit etwa gemeint sein, dass Gott durch die Einwirkung seines Geistes den Menschen arm macht? Diese Übersetzung macht keinen Sinn und lässt sich auch nicht mit dem Kontext vereinbaren. 2. Möglichkeit: Wenn sich πνεῦµα auf den göttlichen Geist bezieht und der Dativ als Dativ der Beziehung gedeutet wird, dann müsste übersetzt werden: „arm an 4 5 6
Vgl. dazu Luz, Ulrich, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Mt 1-7 (EKK.NT I/1), Zürich 52002, 276f. Vgl. Möde (wie Anm. 1), 103. Vgl. dazu Luz (wie Anm. 4), 277f.
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göttlichem Geist“. Unabhängig davon, dass eine solche Aussage im Griechischen anders formuliert werden würde, lässt sich diese Deutung auch theologisch nicht halten. Warum sollte gerade denen, die arm an göttlichem Geist sind, das Himmelreich gehören? 3. Möglichkeit: Ist mit πνεῦµα der menschliche Geist gemeint und wird der Dativ als dativus instrumentalis gedeutet, dann müsste man übersetzen: „durch menschlichen Geist arm“, d. h. „durch den eigenen Geist arm“. Wäre diese Übersetzung zutreffend, so hätte der Text die geistig Minderbemittelten im Blick. Eine solche Interpretation ist durchweg abwegig und wird der Aussage des Textes in keiner Weise gerecht. 4. Möglichkeit: πνεῦµα bezieht sich auf den menschlichen Geist und der Dativ ist als Dativ der Beziehung zu verstehen. Dementsprechend lautet die Übersetzung: „im menschlichen Geiste arm“ bzw. „in Bezug auf den menschlichen Geist arm“. Nachdem die ersten drei Möglichkeiten nicht in Frage kommen, bleibt nur die vierte Möglichkeit übrig: „arm in Bezug auf den menschlichen Geist“. Damit ist jedoch nicht ein bestimmter Zustand, sondern eine bestimmte Haltung gemeint, wie die folgende Auslegung noch zeigen wird. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist es nicht nachvollziehbar, dass die revidierte Einheitsübersetzung an der alten Übersetzung festhält und τῷ πνεύµατι nach wie vor mit „arm vor Gott“ wiedergibt. Diese Übersetzung ist keine wörtliche Wiedergabe des griechischen Originaltextes, sondern bereits eine weitgehende Interpretation desselben.
1.3 Der Text Mt 5,3-12 3 Selig die Armen im Geiste, denn ihnen gehört das Himmelreich. 4 Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. 5 Selig die Gütigen, denn sie werden die Erde erben. 6 Selig die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden. 7 Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden. 8 Selig die im Herzen Reinen, denn sie werden Gott schauen. 9 Selig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heißen. 10 Selig die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihnen gehört das Himmelreich. 11 Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und lügnerisch alles Böse gegen euch sagen um meinetwillen. 12 Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln. So nämlich haben sie die Propheten vor euch verfolgt.
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2. Der Kontext von Mt 5,3-12 Es gibt keinen isolierten Text. Jeder Text ist eingebunden in einen Kontext und gewinnt von diesem her und durch die Beziehung zu ihm seine Bedeutung. Dieses hermeneutische Credo gilt auch für die matthäischen Makarismen, die an pointierter Stelle im Matthäusevangelium stehen.
2.1 Der Makrokontext von Mt 5,3-12 Im Matthäusevangelium finden sich fünf große Reden Jesu. Auf die Bergpredigt (Mt 5,1-7,27) folgen die Aussendungsrede (Mt 10,5-42), die Gleichnisrede (Mt 13,1-52), die Gemeinderede (Mt 18,1-35) und die eschatologische Rede (Mt 24,125,46). Diese Reden finden sich allesamt im Hauptteil des Matthäusevangeliums und lassen eine konzentrische Anordnung erkennen. Die erste und die letzte Rede sind aufeinander hin komponiert. Die Aussendungsrede und die Gemeinderede rahmen die Gleichnisrede, die wie die übrigen Reden das zentrale Thema „Himmelreich“ behandelt.7 Allen diesen Reden ist gemeinsam, dass sie durch die stereotype Formel „als Jesus diese Rede beendet hatte“ abgeschlossen werden.8 Von den fünf großen Reden sticht eine hinsichtlich ihrer Stellung, ihres Umfangs, ihres Aufbaus und ihres Inhalts besonders hervor: die Bergpredigt. Bei ihr handelt es sich um die erste Rede Jesu im Matthäusevangelium. Zusammen mit der eschatologischen Rede bildet sie die umfangreichste Rede. Sie ist kunstvoll aufgebaut und lässt eine „einzigartige Ringkomposition“9 erkennen. Wie keine andere Rede enthält sie den Kern der Sendung und Botschaft Jesu10 und fasst das gesamte Evangelium zusammen. Kurzum: Die Bergpredigt ist die wichtigste Rede Jesu im Matthäusevangelium und fungiert als „Evangelium im Evangelium“.
2.2 Der Mikrokontext von Mt 5,3-12 Die Bergpredigt beginnt mit einem theologischen Paukenschlag. Am Anfang der ersten und wichtigsten Rede Jesu steht kein geringerer Text als die Seligpreisungen. Dies ist alles andere als purer Zufall, handelt es sich doch beim Beginn (hier sind die Zuhörer noch aufmerksam) und beim Ende (hier werden die wichtigsten Punkte zusammengefasst) um die neuralgischen Punkte einer Rede. Durch die bewusste Platzierung der Seligpreisungen am Beginn der Bergpredigt gibt der 7
Vgl. zur kompositorischen Anordnung der fünf Reden Jesu im Matthäusevangelium Ebner, Martin, Das Matthäusevangelium, in: Ebner, Martin / Schreiber, Stefan, Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2008, 132f. 8 Vgl. Mt 7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1. 9 So Ebner (wie Anm. 7), 128. 10 Vgl. Möde (wie Anm. 1), 102.
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Matthäusevangelist zu erkennen, dass es sich hierbei um einen für ihn zentralen theologischen Text handelt. Eingeleitet werden die Makarismen von einer expositorischen Notiz, die zwei bedeutsame Elemente enthält. Aufgrund der vielen Menschen steigt Jesus auf einen Berg. Für Matthäus ist der Berg der Ort des Gebets11, der Offenbarung12 und der Lehre13. Über diese allgemeinen Konnotationen hinaus mag der Berg hier in Mt 5,1 speziell die Erinnerung an den Berg Sinai wachrufen. Wie Mose steigt auch Jesus auf den Berg hinauf14, wird aber nicht zum zweiten Mose, weil seine Stellung eine ganz andere ist. Während Mose passiv bleibt und von Gott die Gesetzestafeln empfängt, agiert Jesus aktiv und lehrt auf dem Berg. Jesus überragt Mose bei Weitem. Als zweites interessantes Detail lässt sich an dieser kurzen Exposition festmachen, dass Jesus im Sitzen lehrt. Wie der Lehrer in der Synagoge, so sitzt Jesus und bringt damit seine gesamte Vollmacht und Autorität als Lehrender zum Ausdruck.15 Das, was er im Folgenden verkündet, ist eine amtliche Weisung und hat dementsprechend verbindlichen Charakter.
3. Eine formale Analyse von Mt 5,3-12 Es erfolgt an dieser Stelle eine formale Analyse von Mt 5,3-12. Ausgehend von der Gattung und der Form der Seligpreisung geht es darum, die Struktur und den Aufbau der matthäischen Makarismen herauszuarbeiten.
3.1 Zur Gattung der Seligpreisung Seligpreisungen, nach ihrem ersten Wort µακάριος auch Makarismen genannt, begegnen nicht erst in der Bergpredigt des Matthäus bzw. in der Feldrede des Lukas. Vielmehr handelt es sich dabei um eine verbreitete Gattung in der alttestamentlichen und frühjüdischen Literatur. Es ist zu beobachten, dass Seligpreisungen zunächst in einem weisheitlichen Kontext zu finden sind: „Selig der Mann, der nicht nach dem Rat der Frevler geht, nicht auf dem Weg der Sünder steht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern sein Gefallen hat an der Weisung des Herrn, bei Tag und Nacht über seine Weisung nachsinnt. Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Bächen voll Wasser, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter
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Vgl. Mt 14,23. Vgl. Mt 17,1; 28,16. Vgl. Mt 5,1f; 24,3. Vgl. Ex 19,3; 24,15. Vgl. Gnilka, Joachim, Das Matthäusevangelium. Kommentar zu Kapitel 1,1-13,58 (HThK.NT I/1), Freiburg i. Br. 2000 (Sonderausgabe), 109.
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nicht welken. Alles, was er tut, es wird ihm gelingen.“16 Wie aus diesem Beispiel sehr schön hervorgeht, beziehen sich die Makarismen der Weisheitsliteratur auf die innerweltliche Existenz des Menschen und bringen die Sorge für ein rechtes und gelingendes Leben zum Ausdruck. Entsprechend der vorherrschenden Vorstellung vom Tun-Ergehens-Zusammenhang wird derjenige, der vor Gott rechtschaffen lebt, für sein Tun mit Wohlergehen belohnt: „Selig der Mann, der den Herrn fürchtet und sich herzlich freut an seinen Geboten. Seine Nachkommen werden mächtig im Land, das Geschlecht der Redlichen wird gesegnet.“17 Spätestens seit Hiob wird Kritik an dem innerweltlich gedachten und in der Weisheitsliteratur propagierten Tun-Ergehens-Zusammenhang laut. Diese Kritik führt dazu, dass die Seligpreisungen in der apokalyptischen Literatur eine eschatologische Ausrichtung erfahren: „Selig, ihr Gerechten und Auserwählten, denn herrlich wird euer Erbteil sein.“18 Der Lohn bezieht sich nun nicht mehr auf das diesseitige, sondern auf das jenseitige Leben. Dieser Wechsel von der rein innerweltlichen zur eschatologischen Perspektive ist wichtig für das richtige Verständnis der Seligpreisungen Jesu, bewegen sie sich doch im theologischen Spannungsfeld zwischen der Zusage der Basileia Gottes in der Gegenwart und Verheißungen für die endzeitliche Zukunft.19
3.2 Zur Form der Seligpreisung Was die Form der Seligpreisungen betrifft, so lässt sich bei ihnen eine festgeprägte Struktur erkennen. Eingeleitet wird der Makarismus mit dem Wort „selig“20. Es folgt die Beschreibung des Zustandes bzw. der Haltung dessen, der seliggepriesen wird: „Selig die Nation, deren Gott der Herr ist, das Volk, das er sich zum Erbteil erwählt hat.“21 Hier liegt ein zweigliedriger Makarismus vor. In den meisten Fällen kommt als drittes Element noch eine Begründung der Seligpreisung mit „denn“ hinzu. Als Beispiel für einen solchen dreigliedrigen Makarismus lässt sich Spr 3,13f anführen: „Selig der Mensch, der Weisheit gefunden, der Mensch, der Einsicht gewonnen hat. Denn sie zu erwerben ist besser als Silber, sie zu gewinnen ist besser als Gold.“ Die Anrede in den Seligpreisungen kann variieren. Es lassen sich Beispiele für eine Anrede in der zweiten Person22 und für eine Anrede in der dritten Person23 anführen. Da letztere Form deutlich überwiegt, dürfte die Anrede in der dritten Person gattungstypisch sein. In der hebräischen Bibel finden sich meist nur einzelne Seligpreisungen, vereinzelt sind zwei Makarismen aneinanderge16 17 18 19 20 21 22 23
Ps 1,1-3. Ps 112,1f. äthHen 58,2. Zum Sitz im Leben der alttestamentlichen Makarismen vgl. Broer, Ingo, Die Seligpreisungen der Bergpredigt. Studien zu ihrer Überlieferung und Interpretation (BBB 61), Bonn 1986, 40-44. Im Hebräischen durch ein Substantiv, im Griechischen durch ein Adjektiv. Ps 33,12. Vgl. beispielsweise Dtn 33,29 (im Singular) oder Jes 32,20 (im Plural). Vgl. beispielsweise Ps 33,12 (im Singular) oder Ps 2,12 (im Plural).
„Selig die Armen im Geiste...“ (Mt 5,3)
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reiht.24 In den späten Schriften des Alten Testaments und in der nichtkanonischen frühjüdischen Literatur zeigt sich eine Entwicklung hin zu einer Aneinanderreihung von mehreren Makarismen, wobei das Wort „selig“ nicht immer wiederholt wird.25 Damit ist der Weg vorgezeichnet zu den Seligpreisungen Jesu in der Bergpredigt bzw. Feldrede. Neben einzelnen Makarismen im Neuen Testament26 liegt in Mt 5,3-12 sowie in Lk 6,20-23 eine Reihe von mehreren Makarismen vor.
3.3 Zur Struktur der Seligpreisungen in Mt 5,3-12 Der Matthäusevangelist bietet in Mt 5,3-12 eine Reihe von neun Makarismen, die allesamt gleich aufgebaut sind. Jede Seligpreisung beginnt mit dem Wort „selig“ (µακάριος) und nennt sodann den Zustand bzw. die Haltung dessen, der seliggepriesen wird. Bei allen Seligpreisungen wird eine Begründung mit „denn“ (ὅτι) angefügt. Es handelt sich also durchweg um dreigliedrige Makarismen. Aufgrund dieses festen Formschemas stellen die matthäischen Makarismen eine in sich geschlossene und durchkomponierte Einheit dar. Es fällt auf, dass in der ersten und achten Seligpreisung die gleiche Begründung angeführt wird: „denn ihnen gehört das Himmelreich“ (ὅτι αὐτῶν ἐστιν ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν). Durch die wörtliche Aufnahme von Mt 5,3 in Mt 5,10 werden die ersten acht Seligpreisungen gerahmt und bilden durch den zentralen Begriff „Himmelreich“ (βασιλεία τῶν οὐρανῶν) auch eine inhaltliche Einheit. In formaler Hinsicht werden diese Makarismen dadurch zusammengehalten, dass sie durchweg in der dritten Person Plural formuliert sind. Das Stichwort „Gerechtigkeit“ (δικαιοσύνη) begegnet in der vierten und achten Seligpreisung jeweils in betonter Endstellung. Dieses Gliederungssignal weist darauf hin, dass die acht Seligpreisungen aus zwei Strophen bestehen. Die erste Strophe umfasst die Seligpreisungen eins bis vier und erweist sich in sprachästhetischer Hinsicht insofern als Einheit, als die Seliggepriesenen im Griechischen jeweils mit π beginnen.27 Die Seligpreisungen fünf bis acht formieren die zweite Strophe, die von gleicher Länge ist wie die erste.28 Die neunte und letzte Seligpreisung fällt in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen. Auf den ersten Blick zeigt sich, dass sie bedeutend länger ist als die anderen Makarismen, erstreckt sie sich doch über zwei Verse.29 Zudem fällt auf, dass der Evangelist nunmehr von der dritten in die zweite Person Plural wechselt und damit seine Adressaten direkt anspricht: „Selig seid ihr...“ (µακάριοί ἐστε...). Schließlich lässt sich konstatieren, dass die neunte Seligpreisung eine gewisse Wiederholung 24 25 26 27 28 29
Vgl. hierzu Ps 32,1f; 84,5f; 144,15. Vgl. Sir 14,20-27; 25,7-10. Vgl. Mt 16,17; Joh 20,29. Vgl. πτωχοί in Mt 5,3; πενθοῦντες in Mt 5,4; πραεῖς in Mt 5,5; πεινῶντες in Mt 5,6. Beide Strophen bestehen im griechischen Text aus jeweils 36 Worten. Im ersten Teil (Mt 5,11) wird der Zustand der Seliggepriesenen sehr ausführlich geschildert. Der zweite Teil (Mt 5,12) enthält vor der Begründung eine neuerliche Anrede und danach noch einen Vergleich.
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zur unmittelbar vorhergehenden achten Seligpreisung darstellt, werden doch in beiden Makarismen diejenigen seliggepriesen, die verfolgt werden.
4. Ein Vergleich zwischen Mt 5,3-12 und Lk 6,20-23 Die Seligpreisungen sind uns an zwei Stellen im Neuen Testament überliefert, einmal bei Lukas zu Beginn der Feldrede, das andere Mal bei Matthäus am Anfang der Bergpredigt. Zwischen beiden Texten gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede. Um die Aussageabsicht der matthäischen Makarismen, sozusagen ihr theologisches Proprium, eruieren zu können, ist es nötig, beide Versionen miteinander zu vergleichen.
4.1 Gemeinsamkeiten zwischen Mt 5,3-12 und Lk 6,20-23 Beiden Fassungen ist zunächst einmal gemeinsam, dass es sich jeweils um eine Aneinanderreihung mehrerer Makarismen handelt, die stets mit dem Wort „selig“ eröffnet werden. Diese Gemeinsamkeit mag auf den ersten Blick unwichtig erscheinen, sie ist aber vor dem Hintergrund der skizzierten traditionsgeschichtlichen Entwicklung der Seligpreisungen vom Alten Testament über die frühjüdische Literatur bis hinein ins Neue Testament von Bedeutung.30 Sodann lässt sich feststellen, dass die lukanischen und matthäischen Makarismen dieselbe Grundstruktur aufweisen und in formaler Hinsicht parallel aufgebaut sind. Sämtliche Seligpreisungen bei Lukas und Matthäus sind dreigliedrig: Eröffnung mit „selig“ – Zustand bzw. Haltung der Seligzupreisenden – Begründung mit „denn“. Die Anrede erfolgt stets mit Ausnahme der jeweils letzten Seligpreisung in der dritten Person Plural. Was den Inhalt betrifft, so entsprechen sich drei Makarismen der Sache nach. Es sind dies die Armen, denen das Reich Gottes bzw. das Himmelreich gehört (Lk 6,20 par Mt 5,3), die Hungernden, die satt werden (Lk 6,21 par Mt 5,6) und die Weinenden, die lachen werden (Lk 6,21) bzw. die Trauernden, die getröstet werden (Mt 5,4). Schließlich besteht eine Gemeinsamkeit zwischen der lukanischen und matthäischen Fassung der Makarismen darin, dass die letzte Seligpreisung bei Lukas und Matthäus (Lk 6,22f und Mt 5,11f) hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer formalen Struktur aus dem Rahmen fällt und sich jeweils deutlich von den vorherigen Seligpreisungen unterscheidet.31 Die soeben aufgeführten Gemeinsamkeiten lassen sich damit erklären, dass Lukas und Matthäus auf eine gemeinsame Quelle zurückgegriffen und die entsprechenden Makarismen (die vier Seligpreisungen bei Lukas
30 31
S. o. zur Form der Seligpreisung unter Punkt 3.2. S. o. zur Struktur der Seligpreisungen unter Punkt 3.3.
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sowie die erste, zweite, vierte und neunte Seligpreisung bei Matthäus) der Spruchquelle Q entnommen haben.
4.2 Unterschiede zwischen Mt 5,3-12 und Lk 6,20-23 Neben den Gemeinsamkeiten gibt es deutliche Unterschiede zwischen der lukanischen und matthäischen Version der Seligpreisungen. Sofort fällt auf, dass die beiden Fassungen unterschiedlich lang sind. Lukas bietet in Lk 6,20-23 vier Seligpreisungen: die Armen, die Hungernden, die Weinenden, die um des Menschensohnes willen Verfolgten. Matthäus hat in Mt 5,3-12 über diese vier mit Lukas gemeinsamen Seligpreisungen hinaus noch fünf weitere Seligpreisungen (die Gütigen, die Barmherzigen, die im Herzen Reinen, die Friedensstifter, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten) und kommt somit auf insgesamt neun Makarismen. Es soll an dieser Stelle nicht erörtert werden, wie dieser Unterschied hinsichtlich des Umfangs erklärt werden kann. Vielmehr genügt der Hinweis, dass die zusätzlichen Seligpreisungen bei Matthäus nicht aus der Spruchquelle Q stammen32, sondern in einem Stadium zwischen der Logienquelle und der Matthäusredaktion angefügt wurden.33 Ob sie auf vormatthäische Tradition zurückgehen oder von Matthäus selbst gebildet wurden, wird in der Forschung kontrovers diskutiert.34 Die besseren Argumente sprechen mit Hubert Frankemölle dafür, die zusätzlichen Makarismen bei Matthäus der redaktionellen Tätigkeit des Evangelisten zuzuschreiben.35 Nicht nur im Umfang, sondern auch im Wortlaut unterscheiden sich die lukanische und die matthäische Fassung der Seligpreisungen. Während Matthäus durchweg in der dritten Person formuliert („selig die Armen im Geiste, denn ihnen gehört das Himmelreich“), wechselt Lukas zwischen der dritten Person in der Zusage („selig die Armen“) und der zweiten Person in der Begründung („denn euch gehört das Reich Gottes“). Lukas fügt in der zweiten und dritten Seligpreisung das Temporaladverb „jetzt“ (νῦν) ein und betont damit die gegenwärtige Situation: „Selig, die ihr jetzt hungert […] jetzt weint“ (Lk 6,21). Im Unterschied zur absoluten Redeweise von den Armen in Lk 6,20 spricht Mt 5,3 von den Armen im Geiste. Durch diesen Zusatz kommt es zu einer theologisch äußerst bedeutsamen Verschiebung der Aussage der ersten Seligpreisung. Eine analoge Beobachtung lässt sich bei der vierten matthäischen Seligpreisung machen. Ist in Lk 6,21 von den Hungernden die Rede, so werden in Mt 5,6 diejenigen seliggepriesen, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit. Hier erfolgt ein zweifacher Eingriff in den Text. Zum einen ist hier nicht nur vom Hunger, sondern parallel dazu auch vom 32 33 34 35
Warum hätte Lukas eine längere Fassung der Seligpreisungen kürzen sollen? Zur Überlieferungsgeschichte der Seligpreisungen vgl. Luz (wie Anm. 4), 271f. Zur Diskussion vgl. ausführlich Broer (wie Anm. 19), 53-63. Vgl. Frankemölle, Hubert, Die Makarismen (Mt 5,1-12; Lk 6,20-23). Motive und Umfang der redaktionellen Komposition, in: BZ N. F 15 (1971), 52-75, hier 68-73.
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Durst die Rede. Zum anderen wird hier der Begriff „Gerechtigkeit“ in den Makarismus eingetragen, der nochmals bei der achten Seligpreisung in Mt 5,10 begegnet.36 Anstelle vom „Reich Gottes“ (βασιλεία τοῦ θεοῦ)37 wird in Mt 5,3 und Mt 5,10 vom „Himmelreich“ (βασιλεία τῶν οὐρανῶν) gesprochen, wie es dem jüdischen Sprachgebrauch entspricht. Die zweite Seligpreisung ist bei Matthäus anders formuliert. Sind es in Lk 6,21 die Weinenden, die lachen werden, so richtet sich Mt 5,4 an die Trauernden, die getröstet werden. Schließlich lassen sich bei der jeweils letzten Seligpreisung (Lk 6,22f und Mt 5,11f) erhebliche Unterschiede im Wortlaut feststellen, von denen hier nur der wichtigste genannt werden soll. In Mt 5,11 heißt es „um meinetwillen“ (ἕνεκεν ἐµοῦ), in Lk 6,22 dagegen „um des Menschensohnes willen“ (ἕνεκα τοῦ υἱοῦ τοῦ ἀνθρώπου). Lukas tauscht also das Personalpronomen gegen einen christologischen Hoheitstitel aus. Für unsere Themenstellung am interessantesten sind diejenigen Veränderungen, die sich der matthäischen Redaktion zuordnen lassen. Dazu gehören der Zusatz die Armen „im Geiste“ in Mt 5,3 sowie die Einfügung des Begriffs „Gerechtigkeit“ als Objekt des Hungers und Durstes in Mt 5,6.38 Beim Terminus „Gerechtigkeit“ handelt es sich um ein typisch matthäisches Vorzugswort39, das im Evangelium in einer ganz bestimmten Bedeutung verwendet wird.40 Es ist deshalb mit ziemlicher Sicherheit davon auszugehen, dass es Matthäus in die vierte Seligpreisung eingetragen hat. Wenn diese Einschätzung zutrifft, dann geht auch der Zusatz die Armen „im Geiste“ in Mt 5,3 auf das Konto der matthäischen Redaktion, lässt sich doch in beiden Fällen die gleiche Arbeitsweise des Evangelisten erkennen.
5. Die theologische Transformation der Seligpreisungen durch Matthäus Der Vergleich zwischen der lukanischen und matthäischen Fassung der Seligpreisungen hat gezeigt, dass Matthäus seine Vorlage aus Q erheblich bearbeitet hat. Durch seine redaktionelle Tätigkeit gelingt dem Evangelisten eine theologische Transformation der Makarismen. Worin diese besteht und wie sie sich im Einzelnen gestaltet, soll im Folgenden am Beispiel der ersten und vierten Seligpreisung dargestellt werden.
36 37 38 39
Vgl. oben zur Struktur der Seligpreisungen unter Punkt 3.3. Vgl. Lk 6,20. Vgl. Gnilka (wie Anm. 15), 117. Der Begriff kommt bei Matthäus mit sieben Belegen viel häufiger vor als in den anderen Evangelien (jeweils nur ein Beleg im Lukas- und im Johannesevangelium). 40 S. u. die Auslegung zu Mt 5,6.
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5.1 Von den Armen (Lk 6,20) zu den Armen im Geiste (Mt 5,3) Laut Lk 6,20 preist Jesus die Armen selig und spricht ihnen bedingungslos die Basileia Gottes zu. Wer ist mit den Armen gemeint? Der griechische Begriff πτωχός bezeichnet die äußerste Armut, den Bettler, denjenigen, der sich bücken muss.41 Lukas hat hier also ganz konkret die materielle Armut im Blick. Die Armen in Lk 6,20 sind die Mittellosen, diejenigen, die keinen Besitz haben und am Rande des Existenzminimums leben. Zu diesem materiellen kommt noch der soziale Aspekt von Armut. Die Armen in Lk 6,20 sind nicht nur die Mittellosen, sondern auch die Machtlosen und Rechtlosen, diejenigen, die unterdrückt und verachtet werden. Beide Gruppen dürfte Lukas im Blick haben. Die im wirtschaftlichen und die im sozialen Sinne Armen werden von Jesus seliggepriesen und bekommen von ihm die Basileia Gottes zugesagt. Matthäus fügt hinter den Armen τῷ πνεύµατι ein und gibt mit diesen beiden Worten der Seligpreisung eine völlig neue Ausrichtung. Mit den Armen in Mt 5,3 sind nicht die Mittellosen und Unterdrückten wie bei Lukas gemeint. Aber an welche Gruppe von Menschen denkt Matthäus, wenn er von den Armen im Geiste spricht? Wie die obigen Überlegungen zur Übersetzung von τῷ πνεύµατι gezeigt haben, ist πνεῦµα nicht auf den göttlichen, sondern auf den menschlichen Geist zu beziehen. Zudem ist der Dativ nicht als dativus instrumentalis zu interpretieren, sondern als Dativ der Beziehung.42 In Mt 5,3 werden demnach die Armen hinsichtlich ihres Geistes seliggepriesen. Joachim Gnilka schlägt folgende drei Deutungsmöglichkeiten vor: 1. Seliggepriesen werden diejenigen, die geistig niedergeschlagen, zerknirscht, mutlos, verzweifelt sind. 2. Seliggepriesen werden diejenigen, die freiwillig arm sind und um des Himmelreiches willen auf materielle Güter verzichten. 3. Seliggepriesen werden jene, die als Bettler vor Gott stehen und ihre ganze Hoffnung auf Gott setzen.43 Die erste sowie die zweite Möglichkeit scheiden vom Kontext her aus. Wie die folgenden Seligpreisungen eindeutig erkennen lassen, geht es Matthäus in den einzelnen Makarismen nicht um einen bestimmten Zustand, sondern um eine bestimmte Haltung. Deswegen kommt nur die dritte Möglichkeit in Betracht. Joachim Gnilka verweist in diesem Zusammenhang auf die Gemeindemitglieder von Qumran, die sich selbst als die „Armen des Geistes“44 bezeichnet haben. Damit bringen sie zum Ausdruck, dass sie die Armut als eine geistige Haltung gegenüber Gott verstehen. Als Arme geben sie sich ganz Gott hin und erwarten von ihm jegliche Hilfe.45 Diese Armenfrömmigkeit findet sich nicht nur in Qumran, sondern ist tief im Alten Testament verwurzelt. Nach alttestamentlichem Verständnis steht Gott auf der Seite der Armen und Notleidenden, er verhilft ihnen zu ihrem Recht und ge41 42 43 44 45
Vgl. Gnilka (wie Anm. 15), 119f. S. o. zur Übersetzung von τῷ πνεύµατι unter Punkt 1.2. Vgl. Gnilka (wie Anm. 15), 120f. 1 QM 14,7; 1 QH 14,3. Vgl. dazu ausführlich Gnilka (wie Anm. 15), 121f.
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währt ihnen seinen besonderen Schutz: „Denn der Herr hat nicht verachtet, nicht verabscheut des Elenden Elend. Er hat sein Angesicht nicht verborgen vor ihm; er hat gehört, als er zu ihm schrie.“46 Dementsprechend setzen die Armen ihrerseits ihr Vertrauen auf Gott und erwarten von ihm Rettung und Befreiung: „Du aber Gott und Herr, handle an mir, wie es deinem Namen entspricht! Ja, gut ist deine Huld, befreie mich! Denn ich bin arm und gebeugt, mein Herz ist durchbohrt in meinem Innern.“47 Es ist davon auszugehen, dass sich Matthäus als Judenchrist von der alttestamentlichen Armenfrömmigkeit hat inspirieren lassen. Dementsprechend versteht er das Armsein im Geiste nicht als einen Zustand, sondern als eine Haltung vor Gott. Die Armen im Geiste machen sich klein und bücken sich vor Gott, weil sie sich in aller Not ganz auf Gott verlassen und jegliche Hilfe von ihm allein erwarten. Legt man πτωχός im Sinne von „niedrig“ aus, so kommt man zu der Interpretation, dass in Mt 5,3 die im Geist Niedrigen und damit Demütigen seliggepriesen werden.48 Diese Deutung der Armut als Demut hat sich in der Alten Kirche durchgesetzt und wurde von vielen Vätern vertreten. Ob Matthäus bei den Armen im Geiste an Demütige gedacht hat, lässt sich bezweifeln, schließlich legt sich ein solches Verständnis vom griechischen πτωχός nicht nahe. Unabhängig davon, wie weit man in der Auslegung geht, lässt sich doch folgende klare Aussage treffen. Im Unterschied zu Lukas versteht Matthäus die Armut nicht in einem materiell-sozialen, sondern in einem geistig-religiösen Sinn. Durch den Zusatz τῷ πνεύµατι transformiert er die erste Seligpreisung dahingehend, dass er sie spiritualisiert und verinnerlicht. Diese Tendenz der Spiritualisierung und Verinnerlichung, die sich in der ersten Seligpreisung erkennen lässt, zeigt sich auch in den folgenden Seligpreisungen und erweist sich somit als theologisches Transformationsprogramm des Matthäusevangelisten in Mt 5,3-12.
5.2 Von den Hungernden (Lk 6,21) zu den Hungernden und Dürstenden nach Gerechtigkeit (Mt 6,3) Die erste Seligpreisung bei Lukas (Lk 6,20) fungiert als Überschrift über die beiden folgenden Seligpreisungen (Lk 6,21) und gibt programmatisch die inhaltliche Ausrichtung der Makarismen vor. Umgekehrt konkretisieren die zweite und dritte Seligpreisung die erste Seligpreisung und füllen sie weiter aus. Wenn in der ersten Seligpreisung die Armen und in der zweiten Seligpreisung die Hungernden seliggepriesen werden, dann lässt sich der Zusammenhang zwischen beiden Makarismen dahingehend herstellen, dass sich die Armut im Hunger manifestiert: „Hunger
46 47 48
Ps 22,25. Vgl. auch Ps 14,6; 25,9; 34,3. Ps 109,21f. Vgl. Luz (wie Anm. 4), 278.
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ist ein Zeichen elementarer Armut.“49 Diejenigen, die hier seliggepriesen werden, sind so arm, dass sie sich nichts zu essen leisten können und deswegen hungern müssen. Es sind also ganz konkret die leiblich Hungernden, die Lukas im Blick hat. Die passivische Formulierung im verheißenden Nachsatz „denn ihr werdet gesättigt werden“ (ὅτι χορτασθήσεσθε) zeigt an, dass Gott ihren existentiellen Mangel an Speise beseitigen und sie mit seinen Gaben beschenken wird (passivum divinum).50 Matthäus erweitert die Seligpreisung der Hungernden in zweierlei Hinsicht. Er fügt in Mt 5,6 „die Dürstenden“ (διψῶντες) hinzu und gibt mit dem Akkusativ „Gerechtigkeit“ (τὴν δικαιοσύνην) das Objekt des Hungerns und Dürstens an. Mit diesem redaktionellen Eingriff richtet der Evangelist die vierte Seligpreisung neu aus und transformiert sie auf eine andere theologische Ebene, wie die folgende Auslegung zu zeigen versucht. Mit den Hungernden in Mt 5,6 sind nicht die leiblich Hungernden wie bei Lukas gemeint. Aber an welche Gruppe von Menschen denkt Matthäus bei den nach der Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden? Der Begriff δικαιοσύνη kann unterschiedlich verstanden werden. Mit Ulrich Luz lässt sich „Gerechtigkeit“ als eine göttliche Gabe oder als ein menschliches Verhalten oder in Kombination beider Vorstellungen als göttliche Gabe, die dann für den Menschen zur Aufgabe wird, deuten.51 In der protestantischen Exegese wird Gerechtigkeit von Paulus her interpretiert. Wenn der Apostel von Gerechtigkeit spricht, dann meint er dabei stets die Gerechtigkeit, die von Gott kommt.52 Vor diesem paulinischen Hintergrund werden die Hungernden in Mt 5,6 als diejenigen verstanden, die sich nach der Gerechtigkeit Gottes sehnen und von ihm das eschatologische Heil erwarten. Zu dieser Auslegung passt die Begründung „denn sie werden gesättigt werden“ (ὅτι αὐτοὶ χορτασθήσονται). Die passivische Formulierung ist als passivum divinum zu interpretieren. Dementsprechend ist es Gott, der die Hungernden sättigt und mit seiner Gerechtigkeit beschenkt. Demgegenüber verstehen die katholischen Ausleger „Gerechtigkeit“ als menschliches Verhalten und verweisen in diesem Zusammenhang auf die Verwendung des Begriffs im Matthäusevangelium.53 Bei Matthäus erscheint „Gerechtigkeit“ nie als Gabe Gottes, sondern bezieht sich immer auf ein Verhalten des Menschen. Der Mensch wird zu einem bestimmten Tun aufgefordert. Er soll die Gerechtigkeit und damit den Willen Gottes erfüllen.54 Eine solche Deutung der „Gerechtigkeit“ als menschliches Verhalten legt sich auch vom unmittelbaren Kontext nahe. Neben Mt 5,6 begegnet der Terminus δικαιοσύνη auch in Mt 5,10 und wird 49 50 51 52 53 54
So Eckey, Wilfried, Das Lukasevangelium unter Berücksichtigung seiner Parallelen. Teilband I: 1,1-10,42, Neukirchen-Vluyn 22006, 296. Vgl. Lk 1,53. Vgl. Luz (wie Anm. 4), 283. Vgl. Gal 5,5; Röm 1,17; 3,5.21. Vgl. Gnilka (wie Anm. 15), 124. Vgl. Mt 3,15; 5,20.
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hier in der achten Seligpreisung eindeutig in einem anthropologischen Sinne verwendet. Da nicht davon auszugehen ist, dass der Evangelist Matthäus binnen weniger Verse ein- und denselben Begriff in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht, ist „Gerechtigkeit“ in Mt 5,6 auf das menschliche Verhalten zu beziehen. Diese Interpretation wird durch die Ausrichtung der übrigen Seligpreisungen untermauert. Bei den Gütigen in Mt 5,5, den Barmherzigen in Mt 5,7, den im Herzen Reinen in Mt 5,8 und den Friedensstiftern in Mt 5,9 werden diejenigen Menschen seliggepriesen, die bestimmte ethische Haltungen an den Tag legen und aufgrund ihres Tuns von Gott belohnt werden. Nach diesen Überlegungen wird klar, dass δικαιοσύνη in Mt 5,6 nicht als göttliche Gabe, sondern als menschliches Verhalten zu verstehen ist. An dieser Stelle bleibt nur noch zu klären, wie diese Auslegung mit dem Bildwort vom Hungern und Dürsten zu vereinbaren ist. Wie aus biblischen und außerbiblischen Texten hervorgeht, kann „hungern und dürsten“ sowohl im Sinne von „sich sehnen nach“55 als auch im Sinne von „sich mühen um“56 verwendet werden. Letztere Bedeutung lässt sich gut mit der ethischen Ausrichtung der vierten Seligpreisung in Einklang bringen. Somit werden in Mt 5,6 diejenigen seliggepriesen, die sich um Gerechtigkeit mühen und mit ihrem Verhalten darum bestrebt sind, den Willen Gottes zu erfüllen.57 Im Unterschied zu Lukas versteht Matthäus die Hungernden nicht in einem konkret-leiblichen, sondern in einem geistig-religiösen Sinn. Dadurch, dass er die Gerechtigkeit als Objekt des Hungerns und Dürstens in den Text einträgt, transformiert er die Aussage der Seligpreisung, weg von einem wörtlichen hin zu einem spirituellen Verständnis.
6. Matthäus und der Beginn der Rezeptionsgeschichte der Seligpreisungen Kein Text der Bibel hat eine so breite Rezeption erfahren wie die Seligpreisungen der Bergpredigt. Von der Antike an über das Mittelalter und die Neuzeit bis hinein in die Moderne und Postmoderne wurden die Makarismen immer wieder und auf ganz verschiedene Weise ausgelegt.58 Ulrich Luz kategorisiert die unterschiedlichen Interpretationen der Seligpreisungen und macht drei Grundtypen fest: die Seligpreisungen als Gnadenzuspruch, als ethische Ermahnung und als Lebensordnung der Gemeinde.59 Mit Blick auf seine Zusammenschau und auch mit Blick auf 55 56 57 58
Vgl. beispielsweise Am 8,11; Bar 2,18; Aristoteles, Cael 2,12. Vgl. beispielsweise Sir 24,21f; Philo, Fug 139; Cicero, Ep ad Quint 3,5. Vgl. dazu ausführlich Luz (wie Anm. 4), 283f. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte der Seligpreisungen exemplarisch die Darstellungen von Wollbold, Andreas, Die Seligpreisungen mit großen Auslegern bedacht, Köln 2007 und Stiewe, Martin / Vouga, François, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums (NET 2), Tübingen 2001. 59 Vgl. dazu Luz (wie Anm. 4), 273-275.
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die vielen anderen Darstellungen der Auslegungsgeschichte der Seligpreisungen ist nicht nur darauf hinzuweisen, sondern ausdrücklich zu betonen, dass die Rezeptionsgeschichte der Makarismen nicht erst mit den Kirchenvätern, sondern bereits mit Matthäus beginnt. Wie der Vergleich mit der lukanischen Parallele gezeigt hat, nimmt der Matthäusevangelist entscheidende Veränderungen an seiner Vorlage aus Q vor und greift nicht nur sprachlich-stilistisch, sondern auch und vor allem inhaltlichtheologisch in den Text ein. Zum einen fügt Matthäus zu den vier Seligpreisungen noch fünf weitere hinzu und baut somit die Reihe der Makarismen in erheblichem Umfang aus. Zum anderen gibt der Evangelist durch zwei wichtige Zusätze zu erkennen, wie er die Seligpreisungen verstanden wissen will. Die Einfügung von τῷ πνεύµατι in Mt 5,3 stellt den hermeneutischen Schlüssel für die matthäische Interpretation der Seligpreisungen dar. Der Evangelist bleibt nicht wie Lukas bei einem wörtlichen Verständnis der Makarismen stehen, sondern transformiert sie auf eine spirituelle Ebene. Seliggepriesen werden die Armen im Geiste. Ebenso versteht Matthäus die Hungernden nicht im konkreten Sinn wie Lukas, sondern interpretiert sie in Mt 5,6 durch die Hinzufügung von τὴν δικαιοσύνην in einem spirituellen Sinn als diejenigen, die sich um Gerechtigkeit mühen. Damit setzt der Matthäusevangelist das in der ersten Seligpreisung initiierte theologische Programm der Spiritualisierung und Verinnerlichung der Makarismen fort und verstärkt es sogar noch, indem er hier in der vierten Seligpreisung den ethischen Aspekt betont. Diese Tendenz der Ethisierung zeigt sich auch in den Makarismen, die Matthäus gegenüber Lukas hinzufügt. Wenn die Gütigen, die Barmherzigen, die im Herzen Reinen, die Friedensstifter und die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten seliggepriesen werden, dann geht es dem Evangelisten jeweils um ein bestimmtes Tun des Menschen, das auf die Erfüllung des Willens Gottes, wie er in den ethischen Weisungen Jesu zum Ausdruck kommt, ausgerichtet ist. Spiritualisierung, Verinnerlichung, Ethisierung. Mit dieser Trias lässt sich die theologische Transformation der Seligpreisungen durch Matthäus zusammenfassen. Der Evangelist Matthäus steht damit am Beginn der Rezeptionsgeschichte der Seligpreisungen. Er bietet uns eine spiritualitätstheologische Auslegung der Makarismen. Gleichzeitig liefert er mit seiner Interpretation der Seligpreisungen einen unschätzbaren Beitrag zu einer Anthropologie, die auch noch im 21. Jahrhundert ihre volle Aktualität besitzt und für die christliche Lebensführung bedenkens- und nachahmenswert ist: „Seligpreisungen beinhalten somit eine Art Anthropologie: Sie beschreiben, was ein glücklicher, wahrhaftiger, authentischer Mensch ist. Die Seligpreisungen im Evangelium sind die Proklamation jener Form des Menschseins, die dem Evangelium entspricht, des Jünger-Jesu-Seins.“60
60
So Martini, Carlo Maria, Selig seid ihr! Die Seligpreisungen der Bergpredigt als Lebensorientierung, München 2002, 22f.
Ignatianische Spiritualität im Apostolischen Schreiben Gaudete et exsultate
Klarissa Humml
1. Einführung Im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Gaudete et exsultate aus dem Jahr 2018 versucht Papst Franziskus aufzuzeigen, wie man Heiligkeit in der Welt von heute leben kann. Dem liegt ein Wiederkehren – oder genauer: ein immer wieder neu und auf die jeweilige Zeit angepasstes Aufkommen der Gottes- und damit verbunden der Glaubensfrage zugrunde: Gibt es Gott und wenn ja, wie kann ich meinen Glauben leben? Erwin Möde beschreibt dies wie folgt: „Wenn im Menschen diese Frage unversehens in Schwingung gerät, sich in Sprache und Bewusstsein artikuliert, sodann geschieht ihm aus der ‚normalen‘ Zeiterfahrung heraus etwas zeit-los Grenzwertiges: Es öffnet sich ihm die Passage zum Christlichen, die sich in jeder Zeit und für jede Generation anders erschließt.“1 Das Nachsynodale Apostolische Schreiben Gaudete et exsultate des Heiligen Vaters Papst Franziskus über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute vom 19. März 2018 versucht, eine Antwort darauf zu geben und bedient sich dabei zahlreicher Beispiele aus der Frömmigkeitsgeschichte. Eines dieser Beispiele soll anhand dieses Artikels näher beleuchtet werden: die ignatianische Spiritualität. Dazu wird v. a. auf zwei Abschnitte aus Gaudete et exsultate eingegangen, in denen das Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola2 explizit aufgegriffen wird. Zum einen ist dies der Abschnitt 69, in dem die „heilige Indifferenz“ angesprochen wird, wie sie das Prinzip und Fundament in Nummer 23 des Exerzitienbüchleins3 einführt. Des Weiteren wird Abschnitt 153 von Gaudete et exsultate besprochen. Hier sind die
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Möde, Erwin, Was ist der Mensch? Christentum als Erlösungsreligion. Heilssuche als therapeutischer Prozess, in: Falkensteiner Gespräche 3. Was ist der Mensch?, Kümpers-Greve, Annelie / Gorschenek, Günther (Hg.), Münsterschwarzach 2014, 61-77, hier 77. Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, nach dem spanischen Autograph übersetzt von Peter Knauer SJ, Würzburg 2008. Im weiteren Verlauf des Artikels werden Nummern aus dem Exerzitienbüchlein mit der Abkürzung „EB“ gekennzeichnet.
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Begriffe „Geschichte“ und „Gedächtnis“ von zentraler Bedeutung und werden mit der Betrachtung, um Liebe zu erlangen (EB 230-237) in Beziehung gesetzt. In einem ersten Schritt werden die beiden Abschnitte aus Gaudete et exsultate vorgesellt. Anschließend wird das Augenmerk den beiden Betrachtungen aus dem Exerzitienbuch, die im Apostolischen Schreiben erwähnt werden, zugewandt. Zuletzt geht es um die Frage, welche Implikationen die Erwähnung gerade dieser beiden Betrachtungen für Gaudete et exsultate haben könnte.
2. Gaudete et exsultate Abschnitt 69 von Gaudete et exsultate befindet sich im Dritten Kapitel des Schreibens, welches den Titel „Im Licht des Meisters“ trägt. Dabei wird eine Annäherung an die Heiligkeit anhand der Seligpreisungen versucht. Der besagte Abschnitt ist Teil der Erläuterungen zur ersten Seligpreisung: „Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.“ (Mt 5,3) Abschnitt 67 beginnt mit der Kernidee der Erläuterungen zur ersten Seligpreisung: „Das Evangelium lädt uns ein, die Wahrheit unseres Herzens zu erkennen, um zu sehen, worauf wir die Sicherheit unseres Lebens setzen.“ In Abschnitt 68 wird Reichtum als Fülle bzw. Überfüllung und Armut als (Frei-)Raum dargestellt. So ist ein reiches Herz gesättigt und hat keinen Platz mehr für Gott oder die Mitmenschen. Dieser Freiraum im Herzen, die Offenheit für Gott und Menschen soll durch die in Abschnitt 69 angesprochene Indifferenz ermöglicht werden. Mit Blick auf das Lukasevangelium, in dem der Zusatz „im Geiste“ fehlt, wird die Perspektive von der geistigen Armut auf die tatsächliche Armut und ihren Mehrwert für die Heiligkeit erweitert. Papst Franziskus lädt somit zu Genügsamkeit im eigenen Leben sowie Großzügigkeit und Solidarität mit den Armen ein. Der Absatz zur ersten Seligpreisung schließt mit folgender Aussage: „Im Herzen arm sein, das ist Heiligkeit.“4 Abschnitt 153 von Gaudete et exsultate steht im Kontext des Vierten Kapitels „Einige Merkmale der Heiligkeit in der Welt von heute“, genauer im Absatz mit dem Titel „Im beständigen Gebet“, welcher den Abschluss des Kapitels bildet. Der Absatz beginnt mit der Feststellung, dass beim Betenden mit einer „gewohnheitsmäßigen Offenheit für die Transzendenz […], die sich in Gebet und Anbetung äußert“5, zu rechnen ist. Weiterhin wird der Heilige als „ein Mensch mit einem betenden Geist“6 charakterisiert, welcher sich durch eine sich im Alltag zeigende Sehnsucht nach Gott auszeichnet.7 Außerdem wird auf die Rolle des Schweigens 4
5 6 7
Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate des Heiligen Vaters Papst Franziskus über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 213, 19. März 2018, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2018, Nr. 70. Ebd., Nr. 147. Ebd. Vgl. ebd., Nr. 148.
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eingegangen. Dabei sind Momente der Ruhe und Abgeschiedenheit zwar notwendig, dürfen aber keinesfalls zu einer Weltflucht führen.8 Nach dieser prinzipiellen Warnung vor dem Missverständnis von kontemplativem Gebet als Weltabgewandtheit geht der für diesen Artikel zentrale Abschnitt 153 auf die Bedeutung der Geschichte ein. Verschiedene Ebenen von Geschichte werden hier aufgegriffen: die Weltgeschichte, die Geschichte des Alten und Neuen Bundes sowie die persönliche Lebensgeschichte. Gott wird als ein Gott beschrieben, der geschichtsmächtig ist und dies auch sein möchte. Gebet stützt sich auf Vergangenes, auf Erinnerungen. Diese Struktur des Gebets nährt dessen Inhalt und Form und fördert gleichzeitig das Bewusstsein von Gottes Wirkmächtigkeit und seiner Erinnerung dem Einzelnen gegenüber. Nach dem Abschnitt 153 wird nochmals der Realitätsbezug christlichen Gebets und seine Rückbindung an das Doppelgebot betont.9 Zuletzt wird „das betende Lesen des Wortes Gottes“ als Kern der „ureigenen Identität des christlichen Lebens“10 herausgestellt und beschrieben, dass die Begegnung mit Christus im Wort der Heiligen Schrift zur Eucharistie führt.
3. Prinzip und Fundament Ziel dieses Abschnittes ist zunächst ein allgemeiner Blick auf das Prinzip und Fundament und dessen Stellenwert im Exerzitienbuch. In einem weiteren Schritt soll die Betrachtung vor dem Hintergrund des Abschnittes in Gaudete et exsultate, welcher diese erwähnt, untersucht werden.
3.1 Allgemein In der ersten Woche der dreißigtägigen Exerzitien beschäftigen sich die Exerzitanten mit ihrer eigenen Sündhaftigkeit und der Sünde in der Welt. Jedoch ist mit dem Prinzip und Fundament (EB 23) ein entscheidender Aspekt vorgeschaltet. Das Prinzip und Fundament steht nach den Anmerkungen (EB 1-20) am Anfang der Exerzitien und bildet gewissermaßen eine Zusammenfassung und Vorausschau auf das Ziel der vier Wochen.11 Der Auftakt der Exerzitien handelt von Ursprung und Ziel des Menschen: „Der Mensch ist geschaffen, um Gott unseren Herrn zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und ihm zu dienen und mittels dessen seine Seele zu retten; und die 8 9 10 11
Vgl. ebd., Nr. 149-152. Vgl. ebd., Nr. 154. Ebd., Nr. 156. Vgl. Köster, Peter / Andrissen, Herman, Sein Leben ordnen. Anleitung zu den Exerzitien des Ignatius von Loyola, Freiburg i. Br. 1991, 91-93.
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übrigen Dinge auf dem Angesicht der Erde sind für den Menschen geschaffen und damit sie ihm bei der Verfolgung des Ziels helfen, zu dem er geschaffen ist.“ (EB 23) In diesem Satz kommen die entscheidenden Gedanken zum Tragen, die sich im Laufe der Exerzitien entfalten und in der genannten Betrachtung De amore (EB 230-237) gipfeln sollen: die Schöpfung als Ort des Menschen und seiner Gottesbeziehung, die Indifferenz als Ordnungsinstrument, welches Freiheit zur Entscheidung ermöglicht, die Dankbarkeit des Menschen für sein Leben als Gabe Gottes sowie das ignatianische magis, das v. a. bei der Betrachtung De amore zentral ist. Bereits hier wird klar: Indifferenz bedeutet nicht Weltabgewandtheit, strenge Aszese und Apathie. Vielmehr geht es um eine rechte Bestimmung der Beziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung und eine Indienstnahme des Geschaffenen.12 Ignatius spricht von drei Entitäten: von Gott, dem Schöpfer, dem Menschen als seinem Geschöpf und von den übrigen geschaffenen Dingen. Gott als Schöpfer vorzustellen, zieht eine Verhältnisbestimmung mit sich: Ich bin Geschöpf Gottes, die übrigen Dinge sind jedoch auch Gottes Schöpfung. „Gott ehren heißt, nichts in der Welt mit ihm zu verwechseln, sondern alles immer nur auf ihn verweisend zu verstehen.“13 Dadurch wird der Wert der Schöpfung unterstrichen: Sie ist weder schlecht noch einfach Mittel zum Zweck, sondern Gabe Gottes.14 Die Schöpfung ist in sich gut und geordnet, durch die Sünde jedoch in Unordnung geraten. Durch die Erlösungstat Christi wird Ordnung wieder möglich. Karl Rahner beschreibt dies so: „In der Menschwerdung sind alle Dinge durch den Logos schon grundsätzlich in Gott hineinintegriert. Alles ist in Christus angenommen, aber auch ans Kreuz und in den Tod gerufen und erst im Durchgang durch beides zur Glorie bestimmt.“15 Insofern steht die Heimholung der Schöpfung ab dem Schöpfungsakt bis zur Erlösung in der Ordnung der trinitarischen Liebe unter dem eschatologischen Vorbehalt. Der Begriff der „übrigen Dinge“ ist sehr umfassend und manchmal verschwimmen die Grenzen zwischen dem eigenen Ich und anderen Dingen der Schöpfung. Das kann durch verschiedene Wechselbeziehungen und Identifikationen geschehen. Von daher definiert Karl Rahner „die übrigen Dinge“ genauer, insbesondere unter Abgrenzung zum „reinen Ich“: „Darunter begreift Ignatius alles, was zwischen meinem bloßen Ich und Gott steht. Dazu gehört vieles an mir selbst, womit ich vielleicht sogar ‚realiden12
Vgl. Ruhstorfer, Karlheinz, Das Prinzip ignatianischen Denkens. Zum geschichtlichen Ort der „Geistlichen Übungen“ des Ignatius von Loyola, in: Freiburger theologische Studien, Smolinsky, Heribert u. a. (Hg.), Bd. 161, Freiburg i. Br. 1998, 43; 46-48. 13 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen (wie Anm. 2), Fußnote 12, 38. 14 Vgl. ebd., Fußnote 12, 39. 15 Rahner, Karl, Betrachtungen zum ignatianischen Exerzitienbuch, in: Rahner, Karl, Sämtliche Werke / 13. Ignatianischer Geist. Schriften zu den Exerzitien und zur Spiritualität des Ordensgründers, Solothurn 2006, 46.
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tisch‘ bin und womit ich mich naiv zu identifizieren suche. In den Exerzitien soll ich mich all dem gegenüberstellen, meine Verschiedenheit davon begreifen suchen. Ich soll inne werden, daß ich mir in dem reinen Ich unvertretbar bin, ihm nicht davonlaufen und meine Verantwortung nicht auf die Umwelt und ihre Sachhaftigkeit abschieben kann.“16 Diese „distanzierende Trennung“ ist laut Rahner eine lebenslange Aufgabe, bei welcher es darum geht, stetig zu unterscheiden zwischen Schöpfer und Schöpfung und dem ureigenen Selbst, um Verwechslungen auszuschließen, aber eben auch darum, diese drei Entitäten in eine rechte Beziehung zu setzen: „Was bleibt, ist die ‚Spitze der Seele‘, die von Gott gesetzte freie und sich überantwortete Person, die allem anderen gegenübersteht, das andere annimmt oder ablehnt, ordnet und prägt und gerade in solchem Tun Gott und sich selbst erreicht, das Verhältnis zwischen Gott und sich findet.“17 Dieser Vorgang der Unterscheidung ermöglicht Ordnung und Erkenntnis und befähigt dadurch zur freien Entscheidung und Tätigkeit. Es geht nicht um eine stoische Gleichgültigkeit gegenüber allen Dingen außer mir und allen Regungen in mir, sondern um ihre „rechte Indienstnahme“18 und ihre „Integration auf Gott hin“19. Dies kann niemals abstrakt vorgenommen werden, sondern hat immer mit der persönlichen (Heils-)Geschichte zu tun. So lautet eine Empfehlung der „Gruppe für ignatianische Exerzitien“: „Exerzitienbegleiter pflegen zu betonen, dass es hilfreich ist, mit der eigenen Heilsgeschichte zu beten.“20 Eine Hinführung zur Beschäftigung mit der eigenen Biographie vor dem Hintergrund der allgemeinen Heilsgeschichte Gottes mit der Welt, kann die Beschäftigung mit der Autobiographie des Ignatius, der Bericht des Pilgers, sein,21 an erster Stelle sollte hierzu jedoch die Betrachtung des Lebens Jesu dienen.22 Durch die Betrachtungen über Ereignisse des Lebens Jesu, erhält der Exerzitant nicht nur Erkenntnisse über Jesus Christus, sondern auch über sich selbst. Diese Art von Biographiearbeit ist die Voraussetzung einer rechten Unterscheidung.23 Um zu einem vertieften Verständnis zu kommen, was Indifferenz bedeutet, ist ein Blick auf Karl Rahners Definition des Begriffs hilfreich: „Indifferenz ist der Abstand von den Dingen, der allein ein sachliches Sehen ermöglicht, wie es zu einer Entscheidung erforderlich ist.“24 Weiterhin stellt er fest, „daß wir von Haus 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Ebd., 45. Ebd. Ebd. Ebd. Ignatianische Exerzitien weltweit. Erfahrungen – Reflexionen – Orientierungen. Ein Expertenbericht, Gruppe für ignatianische Exerzitien (Hg.), München 2003, 90. Vgl. ebd. Ebd., 91. Vgl. ebd., 106. Rahner, Betrachtungen zum ignatianischen Exerzitienbuch (wie Anm. 15), 47.
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aus nie die Indifferenten sind, wenn wir zu einer freien Entscheidung antreten“25. Es geht folglich nicht um ein passives Geschehen-Lassen, Ertragen oder Empfangen, sondern um eigenverantwortliches, aktives Entscheiden, Tun und Lassen.26 Dabei kann man nicht einfach beschließen, indifferent zu sein, sondern muss diese Haltung einüben.27 Mit dieser Forderung zur aktiven Indifferenz wird noch einmal betont, dass der Exerzitant dem Geschaffenen gegenüber nicht gleichgültig werden soll. „Gott wächst im Menschen, je positiver dessen Beziehung zu den Dingen ist und umgekehrt. (Das muß betont werden, weil der Mensch immer wieder versucht ist, das Irdische als unbedeutend, vorläufig und minderwertig anzusehen.)“28 Demnach hat das Loslösen von den übrigen Dingen den Zweck der Entscheidungsfindung und rechten Verhältnisbestimmung zwischen Mensch, übrigen Dingen und Gott nach der Entscheidung. Die Sünde tritt in diesem Kontext als Störfaktor auf, der das klare Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung undeutlich werden lässt und Unordnung auf und zwischen den verschiedenen Beziehungsebenen produziert.29 Durch diese Unordnung ist Indifferenz zu erlangen eine Aufgabe, die durchaus einiges an Mühe und Zeit erfordert, die aber in Erkenntnis und Klarheit resultiert und somit zu einer freien Entscheidung befähigt. Die grundsätzliche Bedingung für die Möglichkeit von Indifferenz liegt außerhalb des Menschen in der Ordnung stiftenden Erlösungstat Christi.30 Die Unordnung der Sünde kann in diesem Leben jedoch nie vollkommen und dauerhaft überwunden werden und somit hat die Haltung der Indifferenz Wegcharakter und steht unter dem eschatologischen Vorbehalt.31 Am Ende des Prinzip und Fundaments wird bereits das magis angesprochen: „und genauso folglich in allem sonst, indem wir allein wünschen und wählen, was uns mehr zu dem Ziel hinführt, zu dem wir geschaffen sind.“ (EB 23) Indifferenz ist nicht das angestrebte Ziel und soll kein Dauerzustand werden. Vielmehr ist sie ein Instrument, welches von vornherein auf das mehr ausgerichtet ist und sich im Vollzug dieser Ausrichtung letztlich auflösen muss.
3.2 In Gaudete et exsultate In Abschnitt 69 von Gaudete et exsultate wird die Indifferenz im Kontext der Seligpreisung über die Armut (im Geiste) aufgegriffen. Der Abschnitt zur ersten Seligpreisung beginnt mit dem Aufruf zu einer richtigen Prioritätensetzung: „Das 25 26 27 28 29 30
Ebd., 48. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd., 46. Vgl. Ignatianische Exerzitien weltweit (wie Anm. 20), 86. Vgl. Rahner, Einübung priesterlicher Existenz, in: Rahner, Karl, Sämtliche Werke / 13. Ignatianischer Geist. Schriften zu den Exerzitien und zur Spiritualität des Ordensgründers, Solothurn 2006, 431. 31 Vgl. ders., Betrachtungen zum ignatianischen Exerzitienbuch (wie Anm. 15), 45; 49.
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Evangelium lädt uns ein, die Wahrheit unseres Herzens zu erkennen, um zu sehen, worauf wir die Sicherheit unseres Lebens setzen.“32 Das deckt sich mit dem Aufruf im Prinzip und Fundament, das Erreichen des Ziels zum Kriterium im Umgang mit den übrigen Dingen zu machen. Durch die Kontextualisierung in den Bereich der geistigen und materiellen Armut erscheint die Indifferenz als ein Freiraum für Gott. Die Betonung der Freiheit deckt sich mit der Grundidee vom Prinzip und Fundament, wobei Ignatius deutlicher betont, was die durch die Indifferenz gewonnene Freiheit ermöglicht: die Entscheidung zum magis. Zusätzlich ist zu betonen, dass es ein spezifisch ignatianisches Verständnis von Armut gibt, welches neben anderen Einflüssen sicherlich im Hintergrund des Armutsgedankens von Papst Franziskus mitschwingt. Um das Spezifikum des ignatianischen Armutsverständnisses zu unterstreichen, spricht Günter Switek von apostolischer Armut: „Darin sind sowohl der sendende Herr, das Beispiel der ausgesandten Apostel, die biblischen Armutsmotive und Armutsformen, das Ordensziel als auch die Notwendigkeit einer ständigen Anpassung impliziert.“33 Armut steht im ignatianischen Sinne im apostolischen Charisma des Ordens und die Armutsmotive richten sich immer auf die apostolische Sendung. Switek betont dabei mehrfach, dass Armut keinen spirituellen Selbstzweck erfüllt, sondern nur im Hinblick auf das apostolische Charisma Sinn ergibt. Daneben stehen die Aussagen über Armut vor dem Hintergrund des ignatianischen Verständnisses von Gerechtigkeit. Der in den Exerzitien vertiefte Glaube soll demnach in doppelter Weise zur Gerechtigkeit führen: Zum einen in einem theologischen Sinn zur Wiederherstellung der in der Schöpfung gegründeten Ordnung und zum anderen in einem gesellschaftlichen Sinn als Sorge für die Armen und Unterdrückten.34 Die starke Betonung der Armut in Verbindung mit der Indifferenz in Gaudete et exsultate kann demgegenüber den Eindruck erwecken, mit Indifferenz sei eine Geisteshaltung des Verzichts und der Aszese gemeint. Dagegen ist zu betonen: „Die Indifferenz ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern um der Wahl der Dinge, ‚quae magis conducant ad finem‘, Raum zu bieten. Sie ist Freiheit zur Entscheidung, die eigentlich nicht mehr meine ist, sondern die Gottes: Seinen Willen suche ich in der Wahl.“35 V. a. mit Blick auf die Betrachtung, um Liebe zu erlangen wird dies noch deutlicher. Auch in Abschnitt 153 aus Gaudete et exsultate werden einige wichtige Punkte für das richtige Verständnis von Indifferenz aufgegriffen.
32 33
Gaudete et exsultate (wie Anm. 4), Nr. 67. Switek, Günter, In Armut predigen. Untersuchungen zum Armutsverständnis bei Ignatius von Loyola, in: Studien zur Theologie des geistlichen Lebens, Wulf SJ, Friedrich / Subbrack SJ, Josef, Bd. 6, Würzburg 1972, 280. 34 Vgl. Kiechle, Stefan, Ignatius von Loyola. Leben – Werk – Spiritualität, Würzburg 2010, 199f. 35 Rahner, Betrachtungen zum ignatianischen Exerzitienbuch (wie Anm. 15), 49.
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4. De amore 4.1 Allgemein „Die Betrachtung über die Liebe ist eigentlich der Ertrag dessen, was in der Wahl, dem Kernstück der Übungen, verkostet und getan werden soll: die reine Bewegtheit durch die Liebe Gottes über alles bloß Gesetzmäßige und Ableitbare“36. Die Betrachtung, um Liebe zu erlangen befindet sich am Ende der vierten Woche der Exerzitien. In dieser Woche nimmt die Zahl der Übungen stark ab. Hier wird deutlich, dass es bei den Exerzitien nicht um die Einübung einer spezifischen Gebetsroutine geht, sondern um die Einnahme einer Grundhaltung, einem Aufbau der Beziehung mit Gott. „Es gilt, in der Betrachtung im tiefsten ein klares Ja zu sagen zu dem, was ist und nicht erst von uns gemacht wird: zu Gott und seiner unabsehbaren Liebe. Von hier aus zeigt sich, daß die Indifferenz das gerade Gegenteil von aller Gleichgültigkeit und Blasiertheit ist.“37 Das mehr, welches bereits im Prinzip und Fundament eingeführt wurde, wird nun vertieft. De amore ist gegliedert in zwei Bemerkungen, zwei Hinführungen und vier Punkte. Die Betrachtung beginnt mit folgender Bemerkung: „Die Liebe muß mehr in die Werke als in die Worte gelegt werden.“ (EB 230) Die nächste Bemerkung beschreibt die Gegenseitigkeit in der Beziehung von Liebendem und Geliebten. In den Hinführungen geht es darum, mich selbst vor Gott zu positionieren und um das zu bitten, was ich will: „Um innere Erkenntnis von soviel empfangenem Guten [...], damit ich, indem ich es gänzlich anerkenne, in allem seine göttliche Majestät lieben und ihr dienen kann.“ (EB 233) Der erste Punkt entfaltet die Erinnerung an die Dankbarkeit für die Gaben Gottes sowie den Gedanken des Gebens und Empfangens in der Gott-Mensch-Beziehung. Bei allen Punkten gibt es den Blick auf das Allgemeine und darauf folgend den Rückbezug auf mich persönlich. Der zweite Punkt betrachtet die Schöpfung mit den aufsteigenden Schöpfungsgaben: Sein, Leben, Wahrnehmung, Vernunft. In Rückbezug auf die eigene Person soll die Gottebenbildlichkeit betrachtet werden. Im dritten Punkt wird die creatio continua betrachtet. Gott müht sich in dem Sinne, dass er beständig gibt und entstehen lässt. Im vierten Punkt wird mit den Bildern von Sonnenstrahlen und einer Wasserquelle beschrieben, wie Gottes Gaben (Gerechtigkeit, Barmherzigkeit...) vom Himmel herabsteigen. „Sieht man sich die einzelnen Punkte der Betrachtung über die Liebe näher an, dann merkt man, daß sie sich gegenseitig beleuchten und ineinander greifen. Immer wieder wird die Liebe Gottes von einer anderen Sicht gezeigt, der dann unsere Liebe in je bestimmter Weise antworten soll. Man kann die Gesichts-
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Ebd., 239. Ebd., 50.
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punkte etwa so andeuten: Gott gibt, Gott wohnt ein, Gott müht sich, Gott steigt ab.“38 Durch den Mitvollzug der Liebe Gottes, soll die Liebe als Dienst an Kirche und Welt erkannt werden.39 Christus wird zwar in De amore nicht explizit erwähnt, der Text steht aber im Zusammenhang mit dem Rest der Exerzitien und man kommt nicht umhin, ihn in Verbindung mit der Person Jesu zu lesen. „Sosehr sie (die Liebe Gottes) also hier vom Geschöpflichen im allgemeinen abgelesen scheint, ist sie doch die Liebe, die mir durch Jesus Christus und seine Gnade zuteil geworden ist.“40 Die zuteil gewordene Gnade wurzelt im Kreuzestod Christi und dieser ist auch Fundament jeder menschlichen Freiheit und Erkenntnis: „Aber, Gott in der harten und grausamen, zerspaltenen und bedrohlichen Welt wirklich zu finden, durch ihre lastenden Gegensätze doch noch und erst recht das eine selige Versöhntwerden in der Liebe herauszuspüren, das bringt der Mensch im Grunde nur fertig, wenn er das Kreuz des Erlösers nicht scheut und an die Liebe Gottes glaubt, obwohl er an seinem Kreuz in der Welt hängen muß. Das Finden Gottes in allen Dingen gelingt nur, die Transparenz der Dinge auf Gott erfährt nur der, welcher diesem Gott dort begegnet ist, wo er in das Dichteste, das am meisten von Gott gleichsam Abgesperrte, in das Finstere und Undurchlässigste dieser Welt hinuntergestiegen ist: am Kreuz Christi.“41 Durch diese Betrachtung und Verinnerlichung der göttlichen Wahrheit wird eine „gewohnheitsmäßige Offenheit für die Transzendenz“42 hervorgebracht und ins Gebet eingeführt.43
4.2 In Gaudete et exsultate Sowohl in Abschnitt 153 aus Gaudete et exsultate als auch in der Betrachtung, um Liebe zu erlangen ist die Geschichtsmächtigkeit Gottes zentrales Thema. Ignatius unterstreicht, dass Gott nicht nur einmalig geschaffen hat und jetzt zurückgezogen existiert, sondern dass sein Schöpfersein, seine Zuwendung und sein Interagieren mit der Welt fortdauern. Die Welt ist dabei der Ort der persönlichen Gottesbeziehung. In beiden Quellen werden bestimmte Ebenen, bzw. Facetten der Interaktion Gottes mit seiner Schöpfung beschrieben. In De amore schenkt Gott, wohnt ein, müht sich und steigt herab. In Abschnitt 153 aus Gaudete et exsultate zeigt sich 38 39 40 41 42 43
Ebd., 242. Vgl. ebd., 240. Ebd. Ebd. Gaudete et exsultate (wie Anm. 4), Nr. 147. Vgl. ebd.
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Gott im Bund mit dem Gottesvolk, in der Heiligen Schrift, der Kirche, dem Leben der anderen und in der eigenen Lebensgeschichte. Vor diesem Hintergrund wird folgende Forderung verständlich: „Das Gebet sollte – gerade weil es sich von der Gabe Gottes nährt, die sich in unser Leben ergießt – immer ein gutes Gedächtnis besitzen.“44 Dieses Gedächtnis bezieht sich sowohl auf die Heilsgeschichte Gottes mit der Welt als auch auf die persönliche Heilsgeschichte. Beide Texte heben hervor, dass der Einzelne nicht passiver Empfänger der Gaben Gottes ist oder einen Dienst in Gehorsam gegenüber einem Herrscher ausüben soll, sondern, dass hier eine echte Beziehung zwischen Gott und Mensch besteht: „Die Liebe besteht in Mitteilung von beiden Seiten“ (EB 231). In beiden Texten wird hervorgehoben, dass Heiligkeit in der realen Welt stattfindet.45 Der Heilige ist verortet in der Geschichte und erkennt in ihr und in seiner eigenen Biographie das Wirken Gottes, für das er dankbar ist. Zudem steht er nicht alleine vor Gott, sondern ist eingebunden in ein Volk, eine Gemeinschaft, die Kirche. In den Abschnitten 149-152 wird auch in Gaudete et exsultate unterstrichen, dass Zeiten des Schweigens und der Einkehr gut seien, dies jedoch nicht in einer Abkehr von der Welt resultieren dürfe. Der Zusammenhang von Glaube und Gerechtigkeit zeigt auf, dass Liebe im ignatianischen Sinn in Dienst an und in Welt und Kirche resultiert.46 Man kann in beiden Texten von einer „Mystik der Vereinigung mit dem handelnden Gott“47 sprechen.
5. Von der Indifferenz zum magis In Bezug auf das Prinzip und Fundament und die Betrachtung, um Liebe zu erlangen, stellt Karl Rahner fest, dass sie Parallelen aufweisen: v. a. dass sie nicht explizit von Christus sprechen, beide eine Randstellung im Exerzitienbüchlein einnehmen und eher „Prinzipien einer Metaphysik der Liebe“48 zu bieten scheinen, letztendlich jedoch dezidiert christlich sind.49 Prinzip und Fundament und De amore bilden demzufolge den Rahmen um die vier Wochen der Übungen. Sie sind Einführung, Fazit und Konzentrat der gesamten Exerzitien.50 In diesem Sinne führt Rahner fort: „Sie sind nicht ein Stück, sondern das Ganze, und beidesmal das Ganze, nur am Anfang gleichsam in einem formalen Vorblick auf das Ganze, und in der Betrachtung de amore das Ganze, das wirklich durch die konkrete Bewegung der 44 45 46 47 48 49 50
Ebd., Nr. 153. Ignatianische Exerzitien weltweit (wie Anm. 20), 130. Ebd., 132. Ebd., 130. Rahner, Betrachtungen zum ignatianischen Exerzitienbuch (wie Anm. 15), 239. Vgl. ebd. Vgl. Ruhstorfer (wie Anm. 12), 48f.
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Exerzitien hindurchgegangen ist, so daß das, was da geschehen ist, sich den letzten und endgültigen Namen geben kann, der vorsichtig bisher vermieden wurde und sich nun selber „Liebe“ nennen kann.“51 Beide beleuchten sich gegenseitig. So wird im De amore das Ziel des Prinzips und Fundaments ersichtlich: geordnete Beziehung zwischen Gott, Welt und dem Ich sowie der tätige Nachvollzug der göttlichen Liebe. Zudem wird der Instrumentalcharakter der Indifferenz, für den Vorläufigkeit prägend ist, dem eigentlichen Ziel gegenüber, dem magis, deutlich erkennbar. Das wurde freilich schon zu Beginn angesprochen: „Die Schlussfolgerung des Fundaments weist zwei Glieder auf: die Forderung nach der Indifferenz und nach der Wahl jener Dinge, ‚quae magis conducant ad finem‘ […].“52 Mit der Entscheidung zum magis muss sich die Indifferenz zwangsweise in Nichtindifferenz auflösen.53 Daraus ergibt sich, dass Indifferenz kein Dauerzustand ist, den man einmal erarbeitet und dann behält, gleich eines spirituellen Reifegrades. Auch ist sie kein Gefühl des Gleichmuts und der allgemeinen Gelassenheit, sondern hat mit konkreten Entscheidungen zu tun und muss immer wieder erkämpft und erarbeitet werden. Rahner drückt das folgendermaßen aus: „Wesentlich ist damit gesagt, daß wir hier keine feste Stätte haben, daß Gott der immer noch Größere ist, und gefordert wird damit, daß wir lebendig bleiben und uns nie stur auf eine Bahn festlegen. Hüten wir uns vor einer inneren Verholzung, die man oft bei sogenannten Patentaszeten beobachten kann. Wir sollen keine sublimen Spießer werden.“54 Mit Blick auf Erich Przywaras Gedanken zur ignatianischen Spiritualität in Majestas Divina, wird das angestrebte Ziel der Exerzitien noch einmal ersichtlicher. Er schreibt: „Darum ist das die Reife des Lebens: ‚nicht minder Andacht zu finden in den äussern Werken der Liebe und des Gehorsams als in Gebet und Betrachtung, weil wir nur wirken dürfen aus Liebe und Dienst Gottes und zu Seinem Ruhm und Seiner Ehre‘; und darum besteht darin die Höhe des Gebets, zu der alle Gebetsübung nur Vorstufe ist, –: ‚Gott zu finden in allen Verrichtungen und Arbeiten... Geist der Andacht lebendig in allen Dingen’“55 Die Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola sind nicht die Höhe der ignatianischen Spiritualität, sondern lediglich eine Hinführung und in diesem Kontext ist die Indifferenz – es sei noch einmal betont – nicht Ziel, sondern Instrument. Somit 51 52 53 54 55
Rahner, Einübung priesterlicher Existenz (wie Anm. 30), 428. Rahner, Betrachtungen zum ignatianischen Exerzitienbuch (wie Anm. 15), 47. Vgl. ebd., 49. Ebd., 49f. Przywara, Erich, Majestas divina. Ignatianische Frömmigkeit, Augsburg u. a. 1925, 60.
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kann die Erwähnung der „heiligen Indifferenz“ in Abschnitt 69 von Gaudete et exsultate missverständlich sein, da sie hier nicht als Instrument in der freien Entscheidungsfindung mit dem Ziel des Erreichens des magis eingeführt wird, sondern gleichsam als spirituelle Grundhaltung erscheint. Das ist aber eine Verkürzung, denn die Indifferenz und die Exerzitien im Ganzen sind keinesfalls Selbstzweck. Von einer Exerzitien-Spiritualität zu sprechen, wäre daher durchaus falsch. Das wäre eine Spiritualität der Übungen und Verrichtungen. Die Geistlichen Übungen sind jedoch lediglich ein Mittel zum Finden einer angemessenen Spiritualität. So schreibt Przywara weiter: „Nicht im Suchen eines zu Erreichenden, – nicht mehr ‚Gott suchen‘ sondern ‚Gott finden‘, nicht im Zwang einer gesteigerten Übung, sondern ‚ohne eine bestimmte Regel oder Ordnung‘, – als das selbstverständliche freie Atmen unseres ganzen Lebens und Wirkens, so dass Denken und Wollen und alle Anstrengung gerichtet ist auf das äussere Werk unserer Hände, – Weil das unseres Lebens Leben geworden ist, ‚in allem zu lieben und zu dienen Seiner göttlichen Majestät‘, mit Ihm in stummer Gegenwart der Liebe, Ihn schauend, Ihm lauschend, in Ehrfurcht unsagbarer Nähe“56. Es geht um eine tiefe Selbstverständlichkeit in der Gottesbeziehung, die ein geordnetes und liebevolles Verhältnis zu Mitmenschen und Welt zur Folge hat.57 Dass gerade die Texte Prinzip und Fundament und De Amore in Gaudete et exsultate aufgegriffen werden, ist interessant. Vieles, was zentral für die ignatianische Spiritualität ist, findet sich in diesen beiden Texten in konzentrierter Form wieder. Nicht nur die Abschnitte 69 und 153 selbst, sondern ihr Kontext in Gaudete et exsultate, lassen beim Kenner ignatianischer Spiritualität Bekanntes anklingen. Insbesondere die Einbettung des Abschnitts 153 in das vierte Kapitel über „Einige Merkmale der Heiligkeit in der Welt von heute“ und im Unterkapitel „Im beständigen Gebet“, macht dies ohne Zweifel deutlich. Damit ist u. a. die „gewohnheitsmäßige Offenheit für die Transzendenz“58 und die Charakterisierung des Heiligen als „Mensch mit einem betenden Geist“59 mit einer sich im Alltag zeigenden Sehnsucht nach Gott60 sowie der Verweis auf Christusbegegnung in Schrift und Eucharistie gemeint. Kritisch zu hinterfragen ist jedoch, ob man bei jedem Leser von Gaudete et exsultate das beschriebene Maß an Vorkenntnis voraussetzen kann. Ohne Kenntnisse der ignatianischen Spiritualität könnte Gaudete et exsultate durchaus die Gefahr von Missverständnissen und Verkürzungen bieten. Es wäre sicherlich sinnvoll gewesen, die aufgegriffenen Kernbegriffe und -themen ignatianischer Spiritualität wenigstens in einer Fußnote knapp zu erklären. Eine ausführli56 57 58 59 60
Ebd., 61. Ebd., 62. Gaudete et exsultate (wie Anm. 4), Nr. 147. Ebd. Ebd., Nr. 148.
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che Darlegung der ignatianischen Spiritualität wäre freilich nicht zu erwarten gewesen, denn der Fokus von Gaudete et exsultate liegt mehr auf einer skizzenhaften Darstellung der reichhaltigen Quellen der Spiritualitätsgeschichte und ihrer Bedeutung für eine Spiritualität im Heute, die den Leser zu einer vertieften Beschäftigung mit gewissen spirituellen Strömungen führen kann. Somit erscheint die Erwähnung von Prinzip und Fundament und von De amore in Gaudete et exsultate als Einladung für den Leser zum persönlichen Vertiefen der ignatianischen Spiritualität.
Der Mensch als Berufener – Gemeinschafts- und Lebensgestaltung
Mentale Architektur und Wirtschaftsanthropologie – eine Zukunftsaufgabe
Ulrich Hemel Menschen nehmen die Welt durch ihre Sinne auf. Doch das, was wir hören oder sehen, schmecken oder tasten, trifft nicht auf eine Tabula Rasa. Denn wir haben Vorerfahrungen, Stimmungen und Dispositionen, die uns helfen, das einzuordnen, was wir erleben. Die Gesamtheit dieser Einordnung nenne ich im Folgenden „Mentale Architektur“.
1. Situative Wahrnehmung und „mentale Architektur“: ein Modell zur Einordnung sozialer Lebenssituationen Jede Einordnung ist so etwas wie eine mentale Rahmenhandlung, die wir auch „Framing“ nennen können. Steht Schwarzwälder Schinken auf dem Tisch, freut sich der eine über eine Delikatesse, der andere wird sich zurückhalten, weil Schweinefleisch nicht „halal“, also islamisch-religiös erlaubt, ist, und der dritte wird den Schinken deshalb ignorieren, weil er Vegetarier ist. Das sind drei Einordnungen oder „mentale Rahmenhandlungen“ für ein und dieselbe Sache. Und obwohl die Einordnungen blitzschnell unser Handeln bestimmen werden, so sind sie doch keineswegs trivial: denn sie stehen nicht für sich, sondern folgen einem Zusammenhang der Welterschließung, der sich in unserem Inneren zu einem Gesamtbild fügt. Ich spreche hier von „mentaler Architektur“, im Grunde verstanden als das Gefüge der mehr oder weniger stimmig, mehr oder weniger widerspruchsfrei wirksamen Wahrnehmungsgewohnheiten und habituellen Glaubenssätze, die unsere Weltwahrnehmung determinieren. Es handelt sich hier nicht vordergründig um religiösen Glauben, sondern eher um habituelle Autobahnen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns, die gewohnheitsmäßig unseren Weltzugang prägen. Solche „habituellen“ Verhaltensweisen finden inzwischen vermehrt Aufmerksamkeit auch in der Psychologie und der Wirtschaftsethik. 1 In Gesprächen zwischen Hans-Ferdinand Angel und mir, dem Autor, in Regensburg in den 1980er und 1990er Jahren haben wir für alltagsbezo1
Vgl. Verplanken, Bas, The Psychology of Habit: Theory, Mechanisms, Change and Contexts, Bath 2018; ferner: Hemel, Ulrich / Fritzsche, Andreas / Manemann, Jürgen (Hrsg.), Habituelle Unternehmensethik. Von der Ethik zum Ethos, Baden-Baden 2012.
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gene Glaubensakte mit eher habituellem Charakter den Begriff der „Kreditionen“ geprägt. In der Zwischenzeit ist „Credition Research“ zu einem selbständigen Forschungszweig weiter entwickelt worden.2 Vorgängig zur Ausbildung alltagsstabiler Glaubenssätze oder Kreditionen aber steht der Akt der Wahrnehmung und der Einordnung. Da das Leben viele Tage und Situationen kennt, können wir uns jedoch kaum jemals von der Zirkularität aus neuen Eindrücken, vorhandenen Wahrnehmungsrastern und deren Veränderung bis hin zur Ausbildung modifizierter Kreditionen abkoppeln. In aller Regel bestätigen Alltagserfahrungen unsere vorhandenen Muster, so wie es oben der Fall ist: Der Vegetarier und der Muslim werden den Schinken nicht essen, andere schon. Unsere mentale Architektur ist folglich handlungsrelevant. Denn aus dem „Framing“, der Einordnung einer Situation, ergeben sich Handlungsoptionen. Diese wiederum fallen nicht vom Himmel. Sie sind vielmehr Ergebnis einer Zuweisung von Bedeutung, die – phänomenologisch gesehen – nicht im Gegenstand der Wahrnehmung, sondern im Verhalten des einzelnen Menschen liegt. Ob der Schinken nun eine „Delikatesse“ ist, ein moralisch bedenklicher Anschlag auf Tierwohl und Klimaschutz oder eine „unreine Speise“, das ist keine dem Schinken innewohnende Eigenschaft, sondern Ergebnis einer zwar sehr schnellen, aber eben doch hochwirksamen individuellen und gruppenspezifischen Einordnung. Handlungsoptionen sind auf genau diese Einordnung bezogen, denn ihrer inneren Begründungslogik nach folgen sie ja der wirksamen mentalen Architektur, die am Werk ist. Auf Nachfrage könnte der eine sagen „Tiere esse ich nicht“, der andere „Wir Muslime essen kein Schweinefleisch“ und der dritte „Schinken schmeckt einfach wunderbar“. Im einen Fall wird ein ethischer, im nächsten ein religiöser, im dritten eher ein hedonistischer Begründungsstrang zur Geltung gebracht. Der Schinken auf dem Tisch ist aber immer noch der gleiche. Handlungsoptionen, die sich aus unserer Einordnung oder dem „Framing“ ergeben, führen schließlich zu einer subjektiv validen Handlungsauswahl und Situationsbewältigung, die man auch „Coping“ nennen könnte.3 Weil Handlungen aus vorab erworbenen Haltungen entstehen, sind diese kaum jemals so spontan wie sie wirken. Der Habitus der Spontaneität ist schließlich auch eine Haltung, und diese wiederum findet ihren Ort im Gesamten der mentalen Architektur der betreffenden Person. Mentale Architektur kann sich ebenso ändern, wie sich unsere Einstellungen und Haltungen ändern können. In der Regel aber beschreibt sie ein eher stabiles Gefüge innerer Wahrnehmungsgewohnheiten, die sich berechenbar auf Handlungen und Haltungen auswirken. Anders gesagt: Wenn jemand Verhalten verändern 2
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Vgl. Angel, Hans-Ferdinand et. al. Credition Research, 2014, 56; Angel, Hans-Ferdinand, Die creditive Basis wirtschaftlichen Handelns. Zur wirtschaftsanthropologischen Bedeutung von Glaubenssätzen, in: Dierksmeier, Claus / Hemel, Ulrich / Manemann, Jürgen (Hrsg.), Wirtschaftsanthropologie, Baden-Baden 2015, 167-205. Zur Fruchtbarkeit des Coping-Begriffs vgl. beispielsweise Eckenrode, John, The Social Context of Coping, New York 1991.
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möchte, bei sich oder bei anderen, dann muss er die Perspektive wechseln. Ändert sich durch die Perspektive die Einordnung einer Situation, dann ändern sich mit dem veränderten „Framing“ auch die Auswahl von Handlungsoptionen und das „Coping“ in Form konkreter Handlungen. Ich habe das Thema der mentalen Architektur bewusst von einer Alltagssituation her aufgeworfen – dem Abendessen mit ein paar Scheiben Schwarzwälder Schinken. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass mentale Architektur nicht nur auf der Höhe einer veritablen „Religion oder Weltanschauung“ wirkt, sondern bis in die situative Bewältigung des Alltags von Bedeutung ist. Richtig ist aber auch, dass es einfachere und komplexere Formen der Weltwahrnehmung, der Selbst- und Weltdeutung gibt. Architektur kann sich – ganz wörtlich genommen – in unterschiedlichen Stockwerken und Gebäudetypen entfalten, und das gilt auch für die mentale Architektur. Vorausgesetzt und angenommen wird dabei, dass jeder Mensch eine für ihn verhaltensprägende Form mentaler Architektur ausbildet und dass deren größter Deutungsumfang am Ende sich in den klassischen Religionen und Weltanschauungen von Judentum bis Christentum, von säkularem Humanismus bis hin zu einem gemäßigten oder radikalen Islam spiegelt. Formen der Selbst- und Weltwahrnehmung haben ihre Bedeutung auch für das wirtschaftliche Handeln im engeren Sinn. Weil diese habituellen Modi von Wahrnehmung ein anthropologisches Fundament haben und sie auf die Konstitution der „Species Mensch“ bezogen ist, schlage ich im Folgenden den Ausbau einer eigenen Disziplin zur Betrachtung des wirtschaftlich handelnden Menschen vor und nenne diese Wirtschaftsanthropologie.4
2. Phänomenologie des wirtschaftenden Menschen: Wirtschaftsanthropologie als Leerstelle der Sozialphilosophie Wirft man einen Blick auf die Philosophiegeschichte, dann lassen sich vielfältige Formen philosophischer und theologischer Anthropologie unterscheiden. 5 Dabei kommt es immer wieder zu neuen Akzentsetzungen. Gleichwohl ist unumstritten, dass einige Grundthemen in praktisch allen Anthropologien reflektiert werden: Der Mensch in seiner Leiblichkeit, seiner Geschichte, seiner Sozialität.6 Der wirtschaftliche Bereich wird dabei so gut wie immer ausgespart. Dies ist einerseits verständlich, denn kaum ein Philosoph oder Theologe hat unmittelbare persönliche Erfahrung vom Alltag in einem Wirtschaftsbetrieb. Andererseits ist es
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Vgl. Hemel, Ulrich, Wirtschaftsanthropologie. Grundlegung einer Wissenschaft vom Menschen, der wirtschaftlich handelt, in: Dierksmeier / Hemel / Manemann, a.a.O. (wie Anm. 2), 9-26. Vgl. Bohlken, Eike / Thies, Christian (Hrsg.), Handbuch Anthropologie, Stuttgart 2009, ferner: Pleger, Wolfgang, Handbuch der Anthropologie, Darmstadt 22017. Vgl. Bordt, Michael, Philosophische Anthropologie, München 2011.
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gleichwohl erstaunlich, wenn man bedenkt, dass das Wirtschaftsleben ja den Alltag von Millionen Menschen prominent und stark beschäftigt. Zu den Besonderheiten in der „Mentalen Architektur“ vieler Personen gehört dabei ein monetaristisch verengtes Bild vom Wirtschaften. Als wirtschaftlich relevant wird überwiegend ein Handeln gesehen, das auf einen in Geld auszudrückenden Gegenwert ausgerichtet ist: Also ein Kauf-Akt, eine Arbeitsleistung gegen Geld, eine in Rechnung zu stellende Dienstleistung. Aus der Sicht einer phänomenologisch orientierten Wirtschaftsanthropologie greift diese Sichtweise zu kurz. Erstens gab es über tausende von Jahren wirtschaftliches Handeln, aber keine Geldökonomie. Zumindest ist eine solche aus der Steinzeit nicht bekannt. Zweitens zeigt schon der allgemein bekannte Begriff der Subsistenzwirtschaft, dass es offenbar sehr wohl wirtschaftliches Handeln gibt, welches zweckorientiert in die Welt eingreift, aber nicht unmittelbar monetär bewertet wird. Denn der Subsistenzbauer baut seine eigenen Äpfel und Kartoffeln an, lagert und verzehrt sie. Monetär wird seine Leistung erst dann, wenn er den Überschuss zum Markt bringt und dort gegen Geld zum Kauf anbietet. Die Grenze zwischen dem monetär bewerteten und nicht monetär bewerteten wirtschaftlichen Handeln ist fließend.7 Wer für sich oder seine Familie ein Essen kocht, der stellt keine Rechnung. Im Gasthof würde er für das gleiche Essen bezahlen wollen und müssen. Wer die Großmutter zu Hause pflegt, wird nicht monetär belohnt, aber die Anrechnung von Pflegezeiten in der Rentenversicherung ist ein Schritt in diese Richtung. Wer hingegen die Großmutter im Altenheim pflegen lässt, wird für die „Dienstleistung Pflege“ zahlen müssen. Aus wirtschaftsanthropologischer Perspektive ist die Reduktion ökonomischer Betrachtungsweisen auf geldwirtschaftliche Handlungen Ausdruck eines Wahrnehmungsversagens und einer philosophisch-psychologischen Leerstelle. Überlegungen zum Tausch als einem Vorläufer der Geldwirtschaft reichen hier nicht aus. Denn gerade der Tausch hat weitere anthropologische Funktionen wie die Definition einer gemeinsamen Beziehungsebene, den Ausdruck sozialer Macht und die Expression des eigenen Personseins. 8 Eine weitere Besonderheit aus einer wirtschaftsanthropologischen Sichtweise ist die institutionelle Einbindung, die den Kontext jedes wirtschaftlichen Handelns bestimmt. Ob es sich um einen Markt, ein Unternehmen, eine öffentliche Leistung wie eine Kindertagesstätte oder um ein Krankenhaus handelt: stets handeln dort Menschen nicht nur nach ihren privaten Vorlieben, sondern im Rahmen einer determinierten institutionellen Logik. Diese wird sich mehr oder weniger stark am Grundprinzip der Humanität reiben.
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Vgl. Hemel, Ulrich, Die Wirtschaft ist für den Menschen da. Vom Sinn und der Seele des Kapitals, Ostfildern 2013, 26-28. Vgl. Rolle, Robert, Homo oeconomicus: Wirtschaftsanthropologie in philosophischer Perspektive, Würzburg 2005; anthropologische Aspekte finden sich auch bei Graeber, David, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart 52012.
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Die Spannung zwischen einer institutionell-funktionalen und einer personenzentrierten humanistischen Betrachtungsweise ist in modernen Gesellschaften eine bedeutende Herausforderung. Sie ist in gewisser Weise der Preis für die Vorteile von Arbeitsteilung und Spezialisierung. Was zählt, ist nicht der Mensch, sondern die funktional betrachtete Ausübung einer Aufgabe, die im Einzelfall geradezu dehumanisierend wirkt.9 In großen Organisationen kann man dann gelegentlich hören: „Privat bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.“
3. Personalität, Sozialität, Humanität: Selbststeuerung im Kontext von Macht und Ohnmacht Weil eben zum wirtschaftlichen Handeln ein je spezifischer Kontext gehört, der seine eigene Geschichte, seine eigene Normativität, aber auch seine eigenen Freiräume hat, kann eine sinnvolle Wirtschaftsanthropologie ohne die Analyse der spezifischen Wirkweise von Selbststeuerung im Kontext von Macht und Ohnmacht nicht betrachtet werden.10 Der Begriff der Selbststeuerung bezieht sich dabei sowohl auf die einzelne Person wie auf Unternehmen und Organisationen. Diese werden ja auch in allen Rechtssystemen als „juristische Personen“ mit eigener Handlungsfähigkeit betrachtet. Schon die Interaktion natürlicher Personen mit juristischen Personen ist ein transformativer Akt, der die funktionale Zwecktätigkeit sozialer Systeme auf die Interessenlagen, Emotionen und Werte von Individuen treffen lässt. Wirtschaftliches Handeln innerhalb von Systemen hat daher als Handlung von Personen einen letztlich personalen Kern. Dieser personale Kern wird aber häufig verdunkelt und abgeschattet durch manifeste funktionale Systeminteressen, die von subjektiven Lebenslagen abstrahieren. Organisationen – und auch Unternehmen – haben daher in ihrem Systeminteresse immer auch einen enthumanisierenden, abstrahierenden Anteil, auch dann, wenn sie sich ausdrücklich, so wie das Rote Kreuz, die Caritas oder die Diakonie, auf die Humanisierung der Welt beziehen wollen. Wirtschaftsanthropologie muss zu diesem impliziten Interessenkonflikt Stellung beziehen oder ihn zumindest analysieren können. Die Redeweise von der menschlichen Personalität und Sozialität gewinnt dadurch eine kontextuelle Kontur. Menschen sind niemals „nur Menschen“. Sie sind immer auch Menschen in einer sozialen, oftmals wirtschaftlich interessierten Rolle. Sie verlieren ihre Menschlichkeit dadurch nicht, aber sie müssen immer wieder abwägen, durch welchen sozialen Filter sie ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten betrachten. „Persona“ ist ja vom
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Vgl. Hemel, Wirtschaft (wie Anm. 7), 126-130: Die Psychodynamik des Kapitals als Auslöser für ethische Desensibilisierung. 10 Dazu neuerdings: Bauer, Joachim, Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, München 72017.
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Wortsinn her auch die Maske, durch die hindurch die Stimme des jeweiligen Menschen ertönt.11 Wirtschaften dient dem Eigenwohl und dem Gemeinwohl. Wer aber definiert, welche Handlung gemeinwohldienlich ist? Und wie wird die Stimme des einzelnen Menschen, der als Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin tätig ist, wahrgenommen? Faktisch ist der Wirk- und Resonanzraum einzelner Personen hoch unterschiedlich, meist vermittelt durch ihre gesellschaftliche Position. Ein Geschäftsführer wird eher gehört als ein Rezeptionist, eine Chefärztin eher als ein Krankenpfleger. Es gibt also gerade auch im wirtschaftlichen Raum die Realität der Meinungsführerschaft, aber auch des Definitionsprivilegs, etwa wenn jemand bestimmen kann: „Wir hier machen das so“. Weiterhin kann es zu sehr konkreten wirtschaftlichen Handlungen kommen, die durch politische Zwecksetzungen und Priorisierungen vermittelt werden. Wenn der Staat wie etwa in Deutschland direkt oder indirekt über rund 50% des Bruttosozialprodukts verfügt, dann wirtschaftet er, vermittelt durch Politikerinnen und Politiker, mit Steuergeldern. Das Wirtschaften mit Steuergeldern bleibt aber trotz politischer Interessen auch eine Form des wirtschaftlichen Handelns. Wer nun mit welchem Geltungsanspruch definiert, ob eine verbesserte Obdachlosenhilfe, ein Finanzanreiz für die Ansiedlung neuer Unternehmen oder der Ausbau einer Schule dem Gemeinwohl dient, das ist eine in der Demokratie zu Recht strittige Frage. Sie wird – wie auch die konkrete strategische und operative Ausrichtung von Unternehmen – im Feld von Macht und Ohnmacht, idealerweise durch Wahlen und durch transparente Entscheidungen, zu beantworten sein. Das Handeln der einzelnen Person nutzt einerseits die durch Institutionen, Organisationen und Unternehmen eröffneten Spielräume für die eigenen Zwecke und Interessen. Es ist andererseits auch Spielball institutioneller Verstrickungen, Prägungen, auch Einengungen und Überwältigungen. Der Raum der personalen Selbststeuerung schrumpft dabei niemals auf „null“, kann aber unter dem Diktat des echten oder vermeintlichen Sachzwangs so stark reduziert sein, dass Entfremdungsgefühle ihren Raum finden. Umgekehrt kommt es gelegentlich vor, dass natürliche Personen ihre institutionelle Macht zum Schaden der ihnen anvertrauten Organisation oder ihres Unternehmens nutzen und so den Raum einer im engeren Sinn „werteorientierten“ Unternehmensführung verlassen.12 Der Raum von Macht und Ohnmacht ist keine Einbahnstraße. Ein Beispiel dafür ist die Ausplünderung eines Unternehmens durch verantwortungslose und unternehmerisch desinteressierte Erben oder aber die risikoreiche Existenzgefährdung eines Konzerns durch den Größenwahn einzelner Führungspersonen, so wie etwa beim Untergang von Enron unter dem CEO Koslowski. 11 12
Vgl. Pleger (wie Anm. 5), 212: Zum Begriff der Person. Vgl. Hemel, Ulrich, Wert und Werte. Ethik für Manager – Ein Leitfaden für die Praxis, München 2 2007.
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Dies führt zu einem gewissen Paradox: Denn natürliche Personen können wirtschaftlich miteinander handeln auch ohne juristische Person, aber umgekehrt gilt dies nicht: Juristische Personen können nicht ohne natürliche Personen handeln, die Vertretungsmacht haben. Und weil jede Anthropologie den Primat der Betrachtungsweise vom Menschen her zu pflegen hat, soll im nächsten Abschnitt die einzelne Person im Kontext ihres wirtschaftlichen Handelns, ihres Lebenslaufs und ihrer Identität betrachtet werden.
4. Identitätsbildung und Lebenslauf: Verletzlichkeit und Schöpferkraft der Person Aus der klassischen Anthropologie ist der Topos der Geschichtlichkeit des Menschen bekannt, der nicht zuletzt auf die Folge vieler Generationen und deren kulturelle und zivilisatorische Leistung abzielt. Für wirtschaftswissenschaftliche Zusammenhänge können wir uns hier auf die faszinierenden Erkenntnisse der Wirtschaftsgeschichte beziehen. Für das wirtschaftliche Handeln des einzelnen spielt diese aber allenfalls eine indirekte Rolle. Auf der Ebene der Individualität und des Individuums spiegelt sich Geschichtlichkeit insbesondere durch den eigenen Lebenslauf. Dieser wiederum beeinflusst das Handeln jedes einzelnen Menschen unmittelbar: Er ist ja im Rahmen seiner eigenen Biographie zu dem geworden, der er ist. Zu einem Individuum gehören also auch Vorlieben im Lebensstil, im Kaufverhalten, in seinen wirtschaftlichen Präferenzen. Der große Erfolg digitaler Giganten wie Amazon, Facebook, Google und Apple hat ja gerade damit zu tun, dass diese Unternehmen höchste Aufmerksamkeit auf das konkrete, individuelle und auf der Zeitachse ablesbare Verhalten der einzelnen Personen legen. Wirtschaftsanthropologisch ist also „Individualität“ eine zentrale Kategorie, die der Vertiefung bedarf. Zu dieser Vertiefung gehört der Person-Charakter jedes Menschen. Menschen sind ja nicht einfach die Summe ihrer Daten, sondern Zentrum ihrer eigenen Selbststeuerung unter den Vorbedingungen ihrer Möglichkeiten, ihres Lebenslaufs und der Gestaltungskraft der persönlichen Identitätsbildung.13 Jeder Lebenslauf aber beginnt mit der Geburt eines Menschen, und er endet mit dem Tod. Universell gilt darüber hinaus, dass wir an jedem Tag unseres Lebens auf eine bestimmte Menge von Tagen zurücksehen und uns auf eine bestimmte, uns aber unbekannte Menge von Tagen noch freuen können. Zum Lebenslauf gehört also eine „biographische Perspektivität“, ein Standpunkt, der implizit oder explizit zu unserem Lebensgefühl gehört. Denn es ist ein Unterschied, ob ich als 2013
Vgl. Hemel, Ulrich, Heimat und personale Selbstbildung. Eine pädagogische Reflexion, in: Hemel, Ulrich / Manemann, Jürgen (Hrsg.), Heimat finden – Heimat erfinden. Politisch-philosophische Perspektiven, München 2017, 157-174.
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jähriger das „Leben noch vor mir habe“ oder als 60-jähriger „den größten Teil meines Lebens schon gelebt habe“. Die biographische Perspektivität wird beim Menschen grundsätzlich verbunden mit dem Bewusstsein eigener Möglichkeiten und Grenzen. Ein 60-jähriger wird kein Weltklassesportler mehr, auch wenn er es anstrebt. Ein 20-jähriger kann nicht auf 25 Jahre Berufserfahrung zurückblicken. Solche natürlichen Grenzen sind nicht so trivial, wie es scheint. Denn mit ihnen verbinden sich Entscheidungen, die auch in das soziale und wirtschaftliche Leben hineinragen. Wird man einem 60-jährigen eine künstliche Hüfte einsetzen wollen? Nach heutigem Verständnis eher ja. Und bei einem 90-jährigen? Nach heutigem Stand der Medizin voraussichtlich nein. Kann ein 90-jähriger darüber entscheiden, ob er in seiner Wohnung bleibt oder in ein Pflegeheim zieht? Selbstverständlich, er ist ja eine eigenständige Person. Wirtschaftsanthropologisch ist der Umgang des einzelnen Menschen mit Blick auf seine biographische Perspektivität von großer praktischer Bedeutung. Kaum ein Unternehmen verzichtet darauf, seine Zielgruppen in Altersklassen aufzuteilen, schon deshalb, weil zu einem bestimmten Lebensalter auch bestimmte Präferenzen für Produkte und Dienstleistungen gehören. So gewinnt „Sicherheit“ bei älteren Menschen beispielsweise an Stellenwert. Produkte und Dienstleistungen rund um „Abenteuer, Freiheit und Entfaltung“ richten sich tendenziell (aber natürlich nicht immer) eher an jüngere Menschen. Dies verweist auf eine anthropologische Konstante. Menschen sind nämlich grundsätzlich verletzlich. Sie sind aber auch grundsätzlich schöpferisch, kreativ und gestaltend tätig. Verletzlichkeit und Schöpferkraft gehören unabdingbar zum Menschen, und zwar während des gesamten Lebens. Dennoch gibt es bestimmte Zeiten und Kontexte, bei denen die Verletzlichkeit besonders stark zum Ausdruck kommt, etwa bei einem Unfall, während einer Krankheit, aber speziell auch am Anfang und am Ende des Lebens. Ein Säugling kann alleine nicht überleben. Ein hochaltriger multimorbider Patient mit Pflegegrad 5 kann es auch nicht. Trotzdem sind ausnahmslos alle Menschen verletzlich und schutzbedürftig. Menschen sind weniger instinktsicher als Tiere, sie sind auf soziales Miteinander angewiesen. Darauf verweist auch die Arbeitsteiligkeit und Spezialisierung im wirtschaftlichen Feld. Verletzlichkeit bedeutet nicht nur, dass uns jederzeit eine Krankheit oder ein Unfall treffen kann, sondern sie führt zu einer Art Kopfkino, bei dem wir uns veranlasst sehen, Vorsorge zu treffen für die Wechselfälle des Lebens. Davon lebt beispielsweise die Versicherungswirtschaft. Im sozialpolitischen Feld entsteht aus dem Schutz- und Vorsorgebedürfnis letztlich die Krankenund die Rentenversicherung. Aber auch Sicherheitsdienste und andere Wirtschaftszweige leben vom Gedanken der Vorsorge. Die andere Seite unserer Selbstwirksamkeit ist die Schöpferkraft. Menschen sind gut darin, sich trotz aller inneren und äußeren Beharrungskräfte auf neue Situationen einzustellen und vorhandene Elemente neu zu kombinieren, um ein Problem zu lösen oder eine Situation zu bewältigen. So kam es zur Erfindung des Rads, Jahrhunderte später zur Erfindung des Automobils und zur Entwicklung künstli-
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cher Intelligenz. Da die Auswirkung von Schöpferkraft von der Produktinnovation bis hin zur kreativen Marktdurchdringung unmittelbare Auswirkungen auf andere Menschen hat, ist ihr sozialphilosophischer Raum stets Gegenstand strittiger Diskussion. Denn wem gehören die Ergebnisse von Innovation? Wer ist verantwortlich für Folgekosten? Wer zahlt für die nötige Infrastruktur? Wie werden Lasten verteilt, und wie gelingt es, Missbrauch von Marktmacht oder politischer Macht zu verhindern? Ob es sich nun um die Folgen der Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit oder von Schöpferkraft und Selbstwirksamkeit handelt, fest steht: Wirtschaftliches Handeln hat politische Implikationen. Es umfasst die Individualität ebenso wie die Sozialität von Menschen. Zum wirtschaftlichen Handeln gehörten daher unabdingbar auch ein Institutionengefüge sowie eine generelle Rahmenordnung zur Setzung und Einhaltung von Spielregeln. Dieser Aspekt soll im nächsten Abschnitt näher beleuchtet werden.
5. Zugehörigkeit und Differenz, Kooperation und Wettbewerb: Vom Individuum zur sozialanthropologischen Institutionenbildung Der wirtschaftsanthropologische Ausgangspunkt bei der Verletzlichkeit ebenso wie der Schöpferkraft jeder Person nivelliert Unterschiede zwischen Menschen nicht ein, sondern sucht nach gemeinsamen Strukturen des Menschseins, die unabhängig von ihrer kulturellen und politischen Überformung das wirtschaftliche Leben und Handeln prägen. Es ist auf diesem Hintergrund hilfreich, beide Aspekte sowohl individual- wie auch sozialphilosophisch zu entfalten. Denn zum Begriff der Person gehört ihre Einzigartigkeit, ihre Differenz zu anderen. Durch unsere Individualität grenzen wir uns von anderen Personen ab und sind doch auf sie bezogen. In der Markt- und Unternehmenssprache geht es hier in der Übertragung auf ein Produkt oder eine Dienstleistung um einen USP, eine Unique Selling Proposition, also die Besonderheit des eigenen Angebots. Dass auch Personen sich selbst als Marke inszenieren können, zeigt das Beispiel des 2019 verstorbenen Modeschöpfers Karl Lagerfeld. Menschen bilden ihre Einzigartigkeit im sozialen Raum. 14 Wir werden am „Du“ zum „Ich“, wie Martin Buber es gerne formulierte und wie es im Symbolischen Interaktionismus (Goerge Herbert Mead) weiter entfaltet wurde. Weil Identität immer sowohl fragil wie auch dynamisch ist, brauchen Menschen aber auch ein Gefühl von Zugehörigkeit und Verwurzelung. Jedes Kind will wissen, zu welcher
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Auf diesem Feld hat sich speziell im angelsächsischen Raum die „Sozialanthropologie“ als eigener Forschungsbereich ausgebildet, vgl. etwa Evans-Pritchard, Edward E., Social Anthropology, Routledge 2004 (Reprint 1951).
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Familie es gehört, zu welcher Schulklasse, zu welchem Fußballverein, zu welcher Sprach- und Religionsgemeinschaft. Zugehörigkeit spiegelt unsere Sozialität. Sie gibt Halt und Orientierung, aber sie grenzt auch von anderen Menschen und Gruppen ab. Wer für eine bestimmte Firma arbeitet, von dem wird die Haltung innerer und äußerer Loyalität erwartet, zumindest für die Zeit seiner Beschäftigung dort. Ob ich aber einen Wettbewerber als „Feind“ oder als „Marktbegleiter“ sehe und bezeichne, das drückt Unterschiede in der Intensität der Abgrenzung aus. Bisweilen funktioniert Abgrenzung auch durch Exklusivität. Nicht jeder Fluggast hat Zugang zur Senator Lounge, nicht jeder Besucher im Fußballstadion hat Zutritt zum VIP-Bereich. Und bereits für das alltägliche Leben gilt: Nicht jeder und nicht jede wohnt im Einfamilienhaus im besten Stadtteil der Stadt, nicht jeder und nicht jede fährt ein Fahrzeug der Luxusklasse. So gehört die Inszenierung von Zugehörigkeit auch anhand nur kleiner Zeichen und Symbole zur soziokulturellen Kompetenz von Bürgerinnen und Bürgern einer bestimmten Region, aber auch zu den Marketingmechanismen kleiner und großer Firmen. Den genannten Sachverhalt können wir auch unter der Brille der Institutionenbildung betrachten. Denn aus unserem Bedürfnis nach Zugehörigkeit entspringt die Institution der „Kooperation“, aus unserem Bedürfnis nach Abgrenzung, Einzigartigkeit und Differenz die Institution des „Wettbewerbs“. Beide sind wirtschaftsanthropologisch fundamental, aber in ihrer Wirksamkeit gerade aufgrund ihres fundamental menschlichen Charakters nicht auf das Spielfeld der Wirtschaft begrenzt. Denn Kooperation und Wettbewerb gibt es auch im Sport, in der Musik, im Spiel sowie in Sozialverbänden wie der Familie, der Schulklasse, dem Betrieb, in politischen Parteien und Interessengruppen, in Völkern und Nationen. Tatsächlich wäre es überraschend, wenn sozialanthropologische Konstanten wie Wettbewerb und Kooperation ausschließlich für einen Lebensbereich gälten. Für das Wirtschaftsleben ist es allerdings entscheidend, wie das Verhältnis von Wettbewerb und Kooperation geregelt ist. Wer bestimmt, wie weit Wettbewerb gehen darf? Wo sind Grenzen der Kooperation? Denn weder ethisch noch ökonomisch kann gelten, dass Kooperation immer gut und Wettbewerb immer schlecht wäre. Jedes funktionierende Kartell ist eine Form der Kooperation, die wirtschaftspolitisch als unerwünscht gilt. Ein weiteres Beispiel ist die Mafia und generell das organisierte Verbrechen, denn bei ihnen handelt es sich um sozial hoch dysfunktionale Formen der Kooperation. Daher ist es auch sinnvoll, Unternehmen als Akteure der Zivilgesellschaft zu begreifen und die Zivilgesellschaft sowohl vom Staat wie auch vom organisierten Verbrechen zu unterscheiden.15 Umgekehrt kann Wettbewerb zur Suche nach der besten Lösung, zur freiheitlichen Ausprägung gezielt eingesetzter Schöpferkraft ebenso wie zur 15
Vgl. Hemel, Ulrich, Spielregeln in der globalen Zivilgesellschaft, in: Klasvogt, Peter / Fisch, Andreas (Hrsg.), Was trägt, wenn die Welt aus den Fugen gerät? Christliche Weltverantwortung im Horizont der Globalisierung, Paderborn 2010, 149-158.
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Vernichtung anderer und zur Zerstörung führen, etwa im Zusammenhang mit einem ökologisch unverantwortlichen Wirtschaften. Das wirtschaftsanthropologische Leitmotiv einer Verschränkung von Individualität und Sozialität kommt also auch bei der Frage nach dem besten Verhältnis zwischen Kooperation und Wettbewerb zum Ausdruck. Eine ganzheitliche Wirtschaftsanthropologie muss sich folglich auch der politischen Rahmenhandlung widmen, die den Raum für wirtschaftliches Handeln eröffnet, aber auch definiert und begrenzt. Es ist insofern kein Zufall, dass die Wirtschaftswissenschaften von jeher den Unterschied zwischen Mikro- und Makroökonomie, zwischen Betriebs- und Volkswirtschaft, zwischen der Theorie des individuellen ökonomischen Handelns und der Politischen Ökonomie unterschieden haben. Die Frage nach dem Verhältnis individual- und sozialpsychologischer Betrachtung lässt sich als die Suche einer geeigneten „Wirtschaftsethik der Balance“ begreifen.
6. Der Sinn einer Balance-Ethik im dynamischen Ausgleich zwischen dem Homo Oeconomicus und dem Homo Cooperativus Praktische Bedeutung gewinnt die noch junge Disziplin der Wirtschaftsanthropologie dann, wenn es um das übergreifende Verständnis von Wirtschaft und wirtschaftlichem Handeln geht. Dieses ist bis heute durch Auseinandersetzungen rund um den modellhaften Gedanken des „homo oeconomicus“ geprägt, wie er von Adam Smith in die Wirtschaftswissenschaften eingeführt wurde. In neuerer Zeit wurden zwar speziell verhaltenspsychologische Aspekte stärker gewichtet, etwa im Rahmen der Behavioural Economics. 16 Tatsächlich aber bleibt das Leitmotiv des egoistischen, rationalen Nutzenmaximierers nach wie vor im Vordergrund der Betrachtung. Gleichzeitig gibt es in der europäischen Kultur schon seit Jahrhunderten den Gedanken des „zoon polítikon“, der auf Aristoteles zurückgeht. Hier geht es um den Menschen als Teil eines Gemeinwesens, um den „politischen“ und den sozialen Charakter, der jeder Person zumindest in Teilen zu eigen ist. Für die wirtschaftsanthropologische Theoriebildung schlage ich in diesem Zusammenhang den Begriff des „Homo Cooperativus“ vor, den an Sinn und sozialer Zugehörigkeit interessierten Menschen. Neu an diesem Framing, dieser mentalen Einordnung, ist die dynamische Balance und „Ellipse“ zwischen beiden Begriffen. Denn jeder einzelne Mensch ist beides: Homo oeconomicus und homo cooperativus. Es hat gar keinen Sinn, den nutzenmaximierenden Charakter menschlichen Handelns zu bestreiten. Phäno16
Immer noch klassisch: Becker, Gary S., Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 21993.
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menologisch nicht weniger eindeutig ist der Befund zur Sozialität, zum kooperativen, Sinn suchenden und gemeinschaftsbetonten Charakter des Menschen. Nicht umsonst werden Wertschöpfung und Sinnschöpfung in der modernen Personalarbeit in enger wechselseitiger Verschränkung wahrgenommen und adressiert. Gehören aber beide Seiten zu uns, stellt sich die Frage nach der Balance. Und diese Balance ist eine lebenslange Aufgabe von Erziehung und Bildung, von Selbststeuerung und politischem Kalkül, von Eigeninteresse und Altruismus. Die Abwägungsprozesse bei Entscheidungen, die stärker in Richtung „Nutzenmaximierung“ oder stärker in Richtung „Kooperationsbedürfnis“ gehen, sind nicht immer bewusst. Sie folgen aber prägenden Verhaltensgewohnheiten, die unser eigenes Leben, aber auch das Leben in den uns formenden Gruppierungen überformen. Dies gilt nicht nur im privaten Raum der Familie, sondern auch im öffentlichen Leben und in der Politik. Dabei kann das Pendel immer wieder anders ausschlagen: Vom Kooperationswunsch der Europäer in der EU bis zum Brexit 2019, vom transatlantischen Bündnis bis zum „America First“ von Donald Trump. Gleiches gilt für die Wirtschaft. Denn sowohl in den Unternehmen selbst wie zwischen ihnen herrscht ein jeweils auszufüllender Raum von Kooperation und Wettbewerb, von unmittelbarer Nutzenmaximierung hin zum Streben nach „Reputationsgewinn“ und nach gesellschaftlicher Anerkennung. In jedem Betrieb gibt es den internen Wettbewerb um die besten Positionen, um Aufstieg und Auszeichnung, um Geltung und Macht. Dieser interne Wettbewerb kann nach Fairnessregeln ablaufen, aber auch mit Intrigen verbunden sein. Er kann innerhalb des Gesamtsystems zerstörerische oder konstruktive Wirkung entfalten, je nach Kontext und Ausprägung. Und auch zwischen Unternehmen herrscht nicht einfach der Wirtschaftskrieg des bloßen Wettbewerbs. Vielmehr gibt es vielfältige Formen der Kooperation, vom Arbeitgeberverband und der Gewerkschaft bis zur Einkaufs- und Vermarktungsgemeinschaft, von Wertschöpfungsketten in der Produktion bis zur Arbeitsteilung in wirtschaftlichen Aufgabengebieten. Oft spricht man ausdrücklich von „Coopetition“, also der Mischung aus Kooperation und Wettbewerb zum wechselseitigen Nutzen. Die Frage nach der situativ richtigen Balance zwischen unmittelbarer, vielleicht auch kurzfristiger Nutzenorientierung und Formen sinnvoller Kooperation ist eine Daueraufgabe, die jeder Mensch, jede Gruppe, jede Organisation und jedes Unternehmen immer wieder neu zu lösen hat. Dass es diese Aufgabe als dauerhafte Aufgabe gibt, ist freilich Ausdruck der grundlegenden anthropologischen Gegebenheit, dass Menschen in besonderem Ausmaß symbol-, planungs- und kooperationsfähig sind, ohne dass damit ihr Aggressions- und Durchsetzungspotenzial aufgehoben wäre.
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7. Der Entfaltungsimperativ der Menschenwürde Der komplexe Zusammenhang zwischen aggressiven und kooperativen Potenzialen von Menschen ist seit jeher Thema religiöser, weltanschaulicher und sozialphilosophischer Überlegungen. Für das noch junge Feld der Wirtschaftsanthropologie geht es vor allem um die Frage nach dem Zusammenhang von Eigennutz und Gemeinwohl, von Wettbewerb und Mindeststandards von Humanität. Die Kritik an der „unsichtbaren Hand“, die laut Adam Smith insgesamt zum Gemeinwohl führt, hat als einen der Hintergründe die Frage nach humanen Mindeststandards, denn der eigennützige Wettbewerb kann auch die Form der Vernichtung, der Menschenverachtung und der Zerstörung von Natur und Gesellschaft annehmen. Themen wie eine erneuerte Soziale Marktwirtschaft oder – im angelsächsischen Raum – der „inclusive capitalism“ zeigen, dass die Frage nach gemeinwohlfördernden Spielregeln bis heute aktuell ist. Wirtschaftsanthropologisch gibt es gleichwohl jenseits des Gesetzes von Angebot und Nachfrage einen Entfaltungsimperativ, der mit dem Gedanken der Menschenwürde verknüpft werden kann. Dazu empfiehlt sich folgendes Gedankenexperiment: Marius hat nach dem Ende seines Studiums zwei Job-Angebote. Beide befinden sich 15 Minuten von seinem Wohnort entfernt. Das Gehalt ist bei beiden Angeboten gleich. Wie wird Marius sich entscheiden? Unter „Ceteris Paribus“-Bedingungen kann man würfeln. Wahrscheinlicher aber ist die Suche nach weiterer Information. Und bei dieser Informationssuche erfährt Marius, dass bei Firma A ein unangenehmes Betriebsklima herrscht, die Fluktuation hoch und der Chef unberechenbar und cholerisch ist. Weiterhin hört er, dass bei Firma B viel Wert auf Fort- und Weiterbildung gelegt wird, dass ein respektvoller Umgang herrscht und der Geschäftsführer an einem guten Betriebsklima interessiert ist. Nun wird es nicht überraschen, dass Marius sich für Firma B entscheidet. Und so einfach die Entscheidung sein mag, so interessant ist doch die wirtschaftsanthropologische Schlussfolgerung. Wenn nämlich unter sonst gleichen Bedingungen die höhere Arbeitgeberattraktivität bei demjenigen Unternehmen herrscht, das für gute Arbeitsbedingungen und förderliche Personal- und Organisationsentwicklung sorgt, dann gibt es „rein ökonomische“ Gründe für gutes Talentmanagement und gute Unternehmensführung. Der Imperativ der Menschenwürde 17 für Unternehmen lautet daher: „Handle so, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich bestmöglich im Unternehmen entfalten können“. Im realen Wirtschaftsleben, so könnte man einwenden, wird es im Wettbewerb um ein attraktives und ein weniger attraktives Unternehmen nicht zu einem Ange17
Vgl. Hemel, Ulrich, Menschenwürdiges Handeln als Leitmotiv, in: Hemel / Fritzsche / Manemann (wie Anm. 1), 32-41.
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bot gleicher Lohnhöhe kommen. Funktional gesehen kann sich der „angenehme Betrieb“ ein etwas niedrigeres Einstiegsgehalt leisten. Daraus folgt aber nur, dass der wirtschaftliche Wettbewerb ein geeignetes Regulativ der Anpassung von Leistungserwartungen ist. Interessant ist und bleibt aber das Verhalten „unter gleichen Bedingungen“. Ökonomisch gesehen wirkt sich der „Imperativ der Entfaltung“ von Mensch und Organisation in Zeiten knapper Arbeitskräfte stärker aus als in Zeiten erhöhter Arbeitslosigkeit. Denn wer „aus der Fülle des Angebots“ wählen kann, der mag für sich entscheiden, dass sich große Anstrengungen rund um die Entfaltung humaner Potenziale nicht lohnen, weil eben kaum Knappheit herrscht. Aber auch hier gilt: konjunkturelle Überlegungen setzen die grundlegende Betrachtung „unter gleichen Bedingungen“ (ceteris paribus) nicht außer Kraft. Und es kann auch tatsächlich nicht überraschen, dass Menschen auch in von Menschen gestalteten Organisationen grundsätzlich an der Entfaltung ihrer Potenziale interessiert sind! Diesen Gedanken können wir abschließend auf Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen in ihrer Gesamtheit anwenden.
8. Der Gestaltungsimperativ des „guten Lebens“ für alle Wirtschaftsanthropologie bildet durch ihr spezifisches Anwendungsfeld „Wirtschaft“ eine Brücke zwischen dem einzelnen Subjekt, der Person, dem Individuum, und der durch Geschichte, Brauchtum, Gesetze und Infrastruktur geprägten Sozialität des Menschen. Soziale Kontextualität ist daher unmittelbar mit wirtschaftlichem Handeln verbunden und ihr mehr oder weniger sichtbarer „Hintergrund“. Daraus lässt sich die Forderung ableiten, dass eine wirtschaftsanthropologische Perspektive sich unbedingt auf die Deskription, die möglichst genaue Beschreibung, die Empirie und die Phänomenologie von wirtschaftlichem Handeln natürlicher und juristischer Personen und Organisationen stützen sollte. Sie sollte aber bei der Phänomenologie nicht stehen bleiben. Die konkrete Ausgestaltung der je schon notwendigen Balance zwischen Individualität und Sozialität zieht die Aufgabe der normativen Betrachtung nach sich. Gesucht wird nämlich nach dem bestmöglichen Gleichgewicht zwischen „Kooperation“ und „Wettbewerb“, zwischen gesellschaftlichen Schutzvorkehrungen und Mindeststandards auf der einen Seite und der Förderung von Entfaltungsfreiheit, Unternehmergeist und Innovation auf der anderen Seite. Weil Werte und Interessen in normativen und in spezifisch politischen Handlungsfeldern jeweils zu unterschiedlichen Bewertungen möglicher Handlungsoptionen führen, gilt für normative wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen eine definierte Grenzerfahrung: Denn normative Ansprüche können nicht im strengen Sinn wissenschaftlich abgeleitet
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werden, auch wenn wissenschaftliche Befunde sich für die Verwendung in normativen Kontexten eignen.18 Die Suche nach der besten Lösung kann schließlich nicht staatlich verordnet werden. Umgekehrt aber wird es nie einen gemeinsamen Standard für Steckdosen, für Mobiltelefon-Ladegeräte und dergleichen geben, wenn es dafür nicht staatliche oder – im Fall von Europa – überstaatliche Regulierungen gibt, die zumindest „verfahrensrational“ legitimiert sind. Der Gestaltungsimperativ des „guten Lebens“ für alle bringt es mit sich, dass über die beste Lösung im politischen Raum gestritten werden muss. Jeder einzelne Mensch, jede Gruppierung, aber auch jedes Unternehmen hat eine eigene Perspektive. Solche Perspektiven sind zu sammeln, in ihrem sachlichen Gehalt zu gewichten und zu entscheidungsreifen Alternativen zusammenzuführen. Hilft die Atomenergie, den Klimawandel zu bewältigen oder bürdet sie uns Folgekosten auf, die wir vor zukünftigen Generationen nicht verantworten können? Sollen Kunststoffprodukte über eine „Plastiksteuer“ verteuert werden, damit weniger Abfall die Erde und die Weltmeere kontaminiert? Dies sind Beispiele für strittige Fragen, bei denen auf Wissenschaft beruhende Argumente gut eingebracht werden können, nicht aber zur Deduktion politischer Forderungen taugen. Denn aus rein wirtschaftsanthropologischer Perspektive sind solche Fragen nicht zu beantworten. Sie müssen im sozialen und politischen Leben gestellt und auch entschieden werden. Dabei wird es regelmäßig zu Auseinandersetzungen darüber kommen, was „Gemeinwohl“ wirklich bedeutet. Die Balance zwischen Gruppenegoismus und Gemeinwohlorientierung muss dabei stets neu gesucht, justiert und gefunden werden. Dabei geht es regelmäßig um die Auseinandersetzung zwischen eher „planwirtschaftlichen“ und eher „wettbewerblichen“, eher „sozialistischen“ und eher „liberalen“ Lösungen. Und auch diese Auseinandersetzungen finden im Raum von Macht und Ohnmacht statt, nicht im luftleeren Raum. Sie sind niemals „rein objektiv“, „wissenschaftlich“ und „argumentativ“ zu führen, sondern grundsätzlich konditioniert und belastet durch Ungleichgewichte in der Verfügung über Entscheidungsmacht, Einfluss und soziale Geltung. Wirtschaftliches Handeln ist insofern letztlich nur eine der vielen Facetten des Menschseins. Sie ragt aber in den hochindividuellen Raum des persönlichen Lebensentwurfs ebenso hinein wie in den Raum der Politik. Ein grundlegendes und stets verbessertes Verständnis des Menschen, der wirtschaftlich handelt, ist in diesem gesamten Raum von höchster Individualität bis zur allgemeinen Sozialität im politischen Raum wesentlich. Die Verbindung von empirischer und philosophisch konzeptioneller Forschung, von psychologischer und im engeren Sinn wirtschaftswissenschaftlicher Arbeit, von historischer und sozialpoli-
18
Vgl. aus sozialphilosophischer Perspektive: Liebsch, Burkhard, Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale, Bd.1-2, Freiburg i. Br. / München 2018.
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Ulrich Hemel
tischer Betrachtung könnte den Reiz einer von Haus aus interdisziplinären, neuen Wirtschaftsanthropologie ausmachen. Die Ziel- und Sinnrichtung wirtschaftlichen Handelns im mikroökonomischen und im makroökonomischen Kontext steht ja auf jeder sozialen Ebene, vom einzelnen Konsumenten und dem einzelnen Betrieb bis hin zum Handeln ganzer Volkswirtschaften stets neu zur Frage. Von der Beantwortung dieser Frage nach sinnvollem, aber auch effektivem wirtschaftlichen Handeln unter Beachtung einer sinnvollen Balance zwischen „Wettbewerb“ und „Kooperation“ sowie unter Berücksichtigung des Leitbilds menschenwürdigen Wirtschaftens im Interesse des guten Lebens aller knapp acht Milliarden Menschen auf der Erde hängt schließlich die Zukunft der Menschheit und unseres Planeten ab.
Nachhaltigkeitsmanagement braucht Praktische Weisheit
Eine systematische Reflexion*
André Habisch / Laura Sasse / Claudius Bachmann
1. Einleitung: Betriebliches Nachhaltigkeitsmanagement Handeln von Organisationen unter dem Leitmotiv der Nachhaltigkeit (‚Sustainability‘) zu analysieren und zu gestalten, ist im vergangenen Jahrzehnt mehr und mehr von einer Nischentätigkeit kleiner Forschungszirkel zu einer allgemein geteilten Forderung von Politik, Öffentlichkeit, Medien und Fachwissenschaft geworden. Dabei haben eine Reihe von Faktoren zusammengespielt. Zunächst wächst durch neue Indizien für Klimaveränderungen – wie etwa das Abschmelzen der Polkappen sowie der Verlust der Artenvielfalt (Biodiversität) durch das Aussterben von Insekten- und Vögelarten etc. – die Einsicht in die Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsorientierung. Die öffentliche Auseinandersetzung mit Unternehmensskandalen wie der Finanzkrise, Umweltkatastrophen wie der Explosion der Bohrplattform Deep Water Horizon 2010 (11 Tote und 800 Mio. Liter Röhöl im Golf von Mexico) oder dem Emissionsbetrug in der Autoindustrie hat die fragwürdige Praxis (ehemals) renommierter Unternehmen wie der Deutschen Bank, British Petroleum oder Volkswagen etc. offenbart. Skandale haben die betroffenen Unternehmen nicht nur Milliardensummen an Anwaltskosten, Strafzahlungen und Schadensersatzleistungen gekostet; sie – und die regelmässige Medienberichterstattung darüber – haben vor allem Vertrauen in die Ernsthaftigkeit nachhaltigkeitsbezogener Bekundungen, PR-Initiativen und Nachhaltigkeitsberichte zerstört. So dokumentiert etwa die regelmässig im Rahmen des Edelmann Trust-Barometers erhobene Untersuchung ein im historischen Vergleich geringes Vertrauen in Führungskräfte der Wirtschaft (2019: 56 Prozent). Infolge dieser Entwicklungen kommt es seit Jahren auch zu einer immer engeren Regulierung unternehmerischer Aktivitäten. So wurden etwa Dokumentationspflichten im Bereich von Finanzanlagen nach der Krise drastisch verschärft – was paradoxerweise vor allem die Kostensituation kleinerer Institute belastet, die meist nicht unmittelbar an der Krise beteiligt waren. Seit 2017 ist es zudem börsennotierten Gesellschaften sowie wichtigen Unternehmen im Privatbesitz seitens des Europäischen Gesetzgebers auferlegt, regelmäßig nicht nur über ihre Bilanzzahlen, sondern auch über die Nachhaltigkeitseigenschaften ihrer Ge* Der vorliegende Beitrag ist die stark überarbeitete und verkürzte Fassung eines englischsprachigen Beitrags, der 2018 im Journal of Business Ethics erschienen ist, vgl. dazu FN 8.
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André Habisch / Laura Sasse / Claudius Bachmann
schäftstätigkeit zu berichten. Transparenz- und Berichtspflichten sollen dabei eine doppelte Wirkung entfalten: a) Zunächst erwarten nachhaltigkeitsbewusste Kunden und Beobachter, dass Unternehmen ihre diesbezüglichen Ziele nachvollziehbar transparent darlegen und mithin eine proaktive Rolle bei der Lösung von Sozial- und Umweltproblemen übernehmen. In Entsprechung zu solchen, sich verändernden Erwartungshaltungen sollen Unternehmen nicht nur über ihre wirtschaftliche Lage, sondern auch über die ökologischen und sozialen Auswirkungen ihrer Aktivitäten berichten. 1 Im Rahmen solcher nicht-finanziellen Berichterstattung (‚non-financial reporting‘) werden dann z. B. ökologische Kennziffern (wie CO2 Emissionen und Flächenverbrauch), soziale Faktoren (wie Maßnahmen zum Arbeits- und Menschenrechtsschutz für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weltweit) und ökonomische Kennziffern (wie die Ausgaben für Aus- und Weiterbildung oder für Spenden und bürgerschaftliches Engagement des Unternehmens) abgefragt. b) Wichtig ist es aber auch, innerhalb der Organisation ein Bewusstsein für Nachhaltigkeitswirkungen des eigenen unternehmerischen Handelns zu schaffen bzw. zu fördern. Großunternehmen beschäftigen oft Tausende, ja Zehntausende von qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die jeweils in ihren eigenen ‚system-immanenten‘ Kategorien handeln und Entscheidungen treffen müssen. Dabei geraten Nachhaltigkeitsaspekte nicht selten aus dem Blick oder ‚rutschen‘ auf hintere Plätze in der (impliziten) Prioritätsskala des eigenen Alltags. Die bloße Erhebung nachhaltigkeitsrelevanter Daten im Rahmen der nicht-finanziellen Berichterstattung einer Organisation – oft ein aufwändiger Prozess mit Hunderten, ja Tausenden einzelner Ab- und Rückfragen – erhöht dabei tendenziell das Bewusstsein für die damit verbundenen Herausforderungen und hält diese im täglichen Entscheidungsalltag ko-präsent. Im Rahmen einer sog. Wesentlichkeitsanalyse (‚materiality analysis‘) müssen Unternehmen zudem in einem spezifizierten Prozess festlegen, welche Nachhaltigkeitsmaßnahmen für ihr Unternehmen von besonderer Bedeutung sind und welche mithin in den kommenden Jahren den Schwerpunkt ihrer nicht-finanziellen Berichterstattung darstellen sollen.2 Die im zweiten Punkt zum Ausdruck gebrachte Reflexion auf die konkreten Wahrnehmungen und Entscheidungsprozesse im Alltag dokumentiert eine zentrale Schwäche vieler Nachhaltigkeitsdiskussionen, wie sie in Deutschland geführt werden. Aufgrund der nach wie vor stark industriellen Prägung unseres Landes dominieren hier ökologische Themen, Lösungen werden oftmals als technische Lösun1
2
Belz, Frank M. / Binder, Julia K., Sustainable entrepreneurship: A convergent process model. Business Strategy & the Environment, 26(1), 2017, 1-17; Hockerts, Kai, A cognitive perspective on the business case for corporate sustainability. Business Strategy & the Environment, 24(2), 2015, 102-122. Vgl. dazu ausführlich Sasse-Werhahn, Laura, The Practical Wisdom behind the GRI, first online 12. Februar 2019, in: Humanistic Management Journal 2019, https://doi.org/10.1007/s41463-01900054-w.
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gen gesucht. Es erscheint dann eher als Aufgabe von Unternehmensleitungen oder von Produktionsabteilungen, energieeffiziente und ‚faire‘ Produkte zu entwickeln und zu vermarkten: etwa emissionsarme Fahrzeugtypen, ökologische Lebensmittel oder Anlageformen mit transparenter Risikoverteilung. Es findet mithin eine ‚mentale Delegation‘ an die dafür zuständigen Stellen (neben den genannten etwa die Nachhaltigkeits- oder CSR Abteilung eines Unternehmens oder einer Organisation) statt. Bei einer solchen Praxis wird aber vernachlässigt, dass Nachhaltigkeitskennziffern letztlich durch eine Vielzahl von Entscheidungen auf allen Handlungsebenen (makro: politisch/gesellschaftlich, meso: organisatorisch und mikro: persönlich) beeinflusst werden. Am Beispiel von Organisationshandeln: für die ‚Querschnittsaufgabe‘ Nachhaltigkeit werden letztlich Entscheidungsprozesse in ganz unterschiedlichen Abteilungen einer Organisation (wie z. B. Einkauf/Beschaffung, Personal, Kommunikation, Strategie, Standortmanagement, Qualitätskontrolle etc.) relevant. Alle diese Entscheidungen sind nicht einfach ‚für‘ oder ‚gegen‘ Nachhaltigkeitsziele gerichtet. Vielmehr werden sie letztlich im Kontext bestimmter Situationen getroffen, in denen es häufig darum geht, verschiedene Interessen und (jeweils berechtigte) Anliegen gegeneinander abzuwägen, um zu einer sachgerechten Entscheidung zu kommen. Die Forschung zum Nachhaltigkeitsmanagement von Organisationen konzentriert sich mithin in letzter Zeit zunehmend auf die inhärenten Komplexitäten und Ambiguitäten der Praxis – ein Phänomen, das in der englischsprachingen Literatur unter dem Stichwort ‚Management von Spannungen im betrieblichen Nachhaltigkeitsbereich‘ („tension management in Corporate Sustainability“) diskutiert wird. Frühere Forschungen neigten demgegenüber dazu – so die Kritik – wirtschaftliche Aspekte (den sogenannten „Business Case“) gegenüber ökologischen und sozialen Überlegungen zu priorisieren.3 Demgegenüber besteht die eigentliche Aufgabe in einer Klärung, wie mit Spannungen zwischen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekten systematisch umgegangen werden kann. 4 3
4
Beckmann, Markus / Hielscher, Stefan / Pies, Ingo, Commitment strategies for sustainability: How business firms can transform tradoffs into win-win outcomes. Business Strategy & the Environmnet 23(1), 2014, 18-37; Carroll, Archie B. / Shabana, Kareem M., The business case for corporate social responsibility: A review of concepts, research and practice. International Journal of Management Reviews, 12(1), 2010, 85-105; Salzmann, Oliver / Ionescu-Somers, Aileen / Steger, Ulrich, The business case for corporate sustainability: Literature review and research options. European Management Journal, 23(1), 2005, 27-36. Bansal, Pratima, Evolving sustainably: A longitudinal study of corporate sustainable development. Strategic Management Journal, 26, 2005, 197-218; Brinkmann, Johannes, On business ethics and moralism. Business Ethics: A European Review 10(4), 2001, 311-319; Epstein, Marc J. / Buhovac, Adriana R. / Yuthas, Kristi, Managing social, environmental and financial performance simultaneously. Long Range Planning, 48(1), 2015, 35-45; Gladwin, Thomas N. / Kennelly, James J. / Krause, Tara S., Shifting paradigms for sustainable development: Implications for management theory and research. Academy of Management Review, 20(4), 1995, 874-907; Hahn, Tobias / Pinkse, Jonatan / Preuss, Lutz / Figge, Frank, Tensions in corporate sustainability: Towards an integrative framework. Journal of Business Ethics, 127(2), 2015, 297-316; Høvring, Christiane M. / Andersen, Sophie E. / Nielsen, Anne E., Discursive tensions in CSR multi-stakeholder dialogue: A Foucauldian perspective, first online 20. September 2016, in: Journal of Business Ethics, 2018.
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Auf diesen Diskurs beziehen wir uns mit diesem Beitrag. Dafür greifen wir die aus der traditionellen Tugendlehre stammende Idee der „Praktischen Weisheit“ auf, die in jüngster Zeit als Entscheidungs- und Führungsqualität auch in der Organisationsforschung erneute Aufmerksamkeit erfährt.5 Wir plädieren dafür, dass die Perspektive Praktischer Weisheit für den Umgang mit Konfliktsituationen im betrieblichen Nachhaltigkeitsmanagement sensibilisieren könnte, um eine „entweder/ oder“ Divergenz von ökologischen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeitsaspekten zu überwinden. Wir sind dabei nicht die ersten, die auf den Zusammenhang zwischen betrieblichem Nachhaltigkeitsmanagement und Praktischer Weisheit hinweisen.6 Intezari beschreibt diesen vielmehr wie folgt: „Weisheit manifestiert sich durch und fördert die organisatorische Nachhaltigkeit, und [...] Weisheit fördert die Fähigkeit zur organisatorischen Nachhaltigkeit“ 7. Im Folgenden schlagen wir einen konzeptionellen Ansatz vor, der diese Funktionszusammenhänge systematisch veranschaulicht: Praktischer Weisheit kommt für das Organisationshandeln eine Rahmungs-, Vertiefungs-, und Orientierungsfunktion zu; komplementär dazu besitzt organisatorisches Nachhaltigkeitsmanagement für die praktische Weisheit eine Kontextualisierungs-, Operationalisierungs- und Ermöglichungsfunktion.
2. Betriebliches Nachhaltigkeitsmanagement erfordert praktische Weisheit Die Komplexität der Herausforderungen des betrieblichen Nachhaltigkeitsmanagements wurzelt letztlich in den vielfältigen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Erwartungen, denen sich eine Organisation (ob privatwirtschaftlich, öf-
5 6
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https://doi.org/10.1007/s10551-016-3330-4; Maon, François / Lindgreen, Adam / Swaen, Valérie, Thinking of the organization as a system: The role of managerial perceptions in developing a corporate social responsibility strategic agenda. Systems Research and Behavioral Science, 25(3), 2015, 413-426, 2008; Byl, Connie A. van der / Slawinski, Natalie, Embracing tensions in corporate sustainability: A review of research from win-wins and trade-offs to paradoxes and beyond. Organization & Environment, 28(1), 2015, 54-79. Bachmann, Claudius / Habisch, André / Dierksmeier, Claus, Practical wisdom: Management’s no longer forgotten virtue. Journal of Business Ethics, 153(1), 2017, 147-165. Intezari, Ali, Integrating wisdom and sustainability: Dealing with instability. Business Strategy & the Environment, 24(7), 2015, 617-627; Marker, Anthony W., The development of practical wisdom: Its critical role in sustainable performance. Performance Improvement, 52(4), 2013, 11-21; Roos, Johan, Practical wisdom: Making and teaching the governance case for sustainability. Journal of Cleaner Production, 140(1), 2017, 117-124; Sasse, Laura, The practical wisdom behind the global reporting initiative. In Proceedings of the 3rd International Conference CSR, Sustainability, Ethics & Governance. 3rd International Conference CSR, Sustainability, Ethics & Governance Sustainable Management as a New Business Paradigm. Cologne, 2016; Xiang, Wei-Ning, Ecophronesis. The ecological practical wisdom for and from ecological practice. Landscape and Urban Planning, 155, 2016, 53-60. Vgl. Intezari (wie Anm. 6), 618.
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fentlich oder gemeinnützig) ausgesetzt sieht. 8 Diese externen Erwartungen bestehen gleichzeitig und befinden sich teilweise im Widerspruch zueinander: etwa der schnelle und kostengünstige Aufbau von Produktionsanlagen, eine umfassende Berücksichtigung ökologischer Wechselwirkungen und die gerechte Befriedigung der legitimen Erwartungen von Vertragspartnern, Lieferanten, Mitarbeiterinnen etc. Viele Unternehmen versuchen angesichts dessen, die Komplexität durch Priorisierung (Trade-off) widersprüchlicher Nachhaltigkeitsanforderungen zu beseitigen. 9 Gemeinnützige Organisationen wie NGOs, Regierungsorganisationen oder öffentliche Pflegedienste (z. B. Bildung, Krankenhäuser, Polizei, Altenpflege) unterliegen dabei in der Regel weniger engen wirtschaftlichen Gewinnvorgaben. Doch börsennotierte oder im Privatbesitz befindliche Unternehmen sehen sich teilweise mit hohem Wettbewerb und enormer Volatilität konfrontiert: Sie müssen versuchen, in beschränkter Zeit kurzfristige Anliegen mit langfristigen Perspektiven oder finanzielle Belange mit sozialen Anforderungen in Einklang zu bringen. Diesem komplexen Charakter von Nachhaltigkeitsthemen kann nur durch eine Verbreiterung der zugrundeliegenden (Entscheidungs-) Perspektive entsprochen werden. Diese aber erfordert dringend Praktische Weisheit. Wie Intezari darlegt, „bietet Weisheit Lösungen, um die Kongruenz dieser Merkmale in Bezug auf angemessene Entscheidungen und nachhaltige Leistungen effektiv zu steuern“10. Das jahrtausendealte Konzept der praktischen Weisheit ist ein mehrdimensionales Konzept 11 , das Jahrhunderte überdauert hat und verschiedene Disziplinen beschäftigt. Bis zum Siegeszug des Rationalismus in der Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts war Praktische Weisheit das herausragende Bildungsziel für den Führungsnachwuchs in Militär, Verwaltung, Wirtschaft und Staat. 12 Philosophische und theologische Autoren bearbeiten Weisheitskonzepte in bestimmten Tugendentraditionen, etwa bei Aristoteles (384-322 v. Chr.), in den Weisheitsbüchern des alttestamentlichen Kanons, bei Thomas von Aquin (1225-1274), Konfuzius (551-479 v. Chr.), in der islamischen Tradition (‚Hikma‘) etc. Psychologische Weisheitsforschung arbeitet mit empirischer Methode vor allem im Bereich der 8
Gladwin (wie Anm. 4), 874-907; Schneider, Anselm / Meins, Erika, Two dimensions of corporate sustainability assessment: Towards a comprehensive framework. Business Strategy & the Environment, 21(4), 2012, 211-222. 9 Angus-Leppan, Tamsin / Benn, Suzanne / Young, Louise, A sensemaking approach to trade-offs and synergies between human and ecological elements of corporate sustainability. Business Strategy & the Enviroment, 19(4), 2010, 230-244; Hahn, Tobias / Figge, Frank / Pinkse, Jonatan / Preuss, Lutz, Trade-offs in corporate sustainability: You can’t have your cake and eat it. Business Strategy & the Environment, 19(4), 2010, 217-229. 10 Vgl. Intezari (wie Anm. 6), 624. 11 Ardelt, Monika, Empirical assessment of a three-dimensional wisdom scale. Research on Aging, 25(3), 2003, 275-324; Webster, Jeffrey D., An exploratory analysis of a self-assessed wisdom scale. Journal of Adult Development, 10(1), 2003, 13-22; Wink, Paul / Helson, Ravenna, Practical and transcendent wisdom: Their nature and some longitudinal findings. Journal of Adult Development, 4(1), 1997, 1-15. 12 Vgl. dazu Habisch, André, Gemeinwohl und Praktische Weisheit: Perspektiven Christlicher Sozialethik im 21. Jahrhundert, in: Papier, Hans-Jürgen / Meynhardt, Timo (Hrsg.), Freiheit und Gemeinwohl – Ewige Gegensätze oder zwei Seiten der Medaille?, 2016, 159-172.
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Persönlichkeitsforschung. 13 In der Management- und Organisationsliteratur spielt Weisheit in Bereichen wie Leadership, Entscheidungsverhalten, Personalmanagement, Strategie und Organisation, Nachhaltigkeitsmanagement etc. eine Rolle.14 Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Verständnis Praktischer Weisheit als exzellentem sozialen Handeln. Wie Zhu, Rooney und Phillips skizzieren, „sind für einen praxisorientierten Weisheitsansatz Herausforderungen wie der Umgang mit konkurrierenden Logiken fast unvermeidlich; er betrachtet sie als die Dinge, die man im Leben erwarten muss und die daher als unvermeidbarer Teil der Lebensreise des Lebens bewältigt werden müssen“ 15 . Praktische Weisheit geht mithin gerade deshalb über Wissen und Intellekt hinaus, weil sie beides mit dem Bewusstsein fundamentaler Prinzipien des eigenen Handelns und sozialer Praxis verbindet.16
3. Zur Kongruenz von Praktischer Weisheit und der Bearbeitung von Spannungen im Nachhaltigkeitsmanagement Praktische Weisheit einerseits sowie der aktuelle Diskurs über das Austarieren von Spannungen zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekten im Nachhaltigkeitsmanagement einer Organisation andererseits weisen also erhebliche Parallelen zueinander auf. Zukünftige Führungskräfte müssen lernen, langfristige Ziele wie die Schaffung nachhaltiger Lebens- und Arbeitsbedingungen wirksam anzustreben und dies zugleich mit den kurz- und mittelfristigen Anforderungen an ihr Organisationshandeln zu vermitteln. So sieht etwa Intezari die Gemeinsamkei13
Trowbridge, Richard H., Waiting for Sophia: 30 years of conceptualizing wisdom in empirical psychology. Research in Human Development, 8(2), 2011, 149-164; Walsh, Roger, What is wisdom? Cross-cultural and cross-disciplinary syntheses. Review of General Psychology, 19(3), 2015, 278-293. 14 Alammar, Fahad / Pauleen, David, Exploring managers’ conceptions of wisdom as management practice. Journal of Management & Organization, 22(4), 2016, 550-565; Bachmann, Claudius / Sasse, Laura / Habisch, André, Applying the practical wisdom lenses in decision-making: An integrative approach to humanistic management. Humanistic Management Journal, 2(2), 2018, 125150; Intezari, Ali / Pauleen, David, Management wisdom in perspective: Are you virtuous enough to succeed in volatile times? Journal of Business Ethics, 120(3), 2014, 393-404; Jones, Coy A., Wisdom paradigms for the enhancement of ethical and profitable business practices. Journal of Business Ethics, 57(4), 2005, 363-375; McKenna, Bernard / Rooney, David / Boal, Kimberley B., Wisdom principles as a meta-theoretical basis for evaluating leadership. Leadership Quarterly, 20(2), 2009, 177-190; Moberg, Dennis, Mentoring and practical wisdom: Are mentors wiser or just more politically skilled? Journal of Business Ethics, 83(4), 2008, 835-843; Sison, Alejo J. G. / Hartman, Edwin M. / Fontrodona, Joan, Reviving tradition: Virtue and the common good in business and management. Business Ethics Quarterly, 22(1), 2012, 207-210. 15 Zhu, Yunxia / Rooney, David / Phillips, Nelson, Practice-based wisdom theory for integrating institutional logics: A new model for social entrepreneurship learning and education. Academy of Management Learning & Education, 15(3), 2016, 607-625. 16 Küpers, Wendelin M. / Pauleen, David, Learning wisdom: Embodied and artful approaches to management education. Scandinavian Journal of Management, 31(4), 2015, 493-500.
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ten zwischen Weisheit und Nachhaltigkeit darin begründet, dass beide Konzepte in Bezug auf Lebenserfolg, Umweltschutz und Wirtschaftswachstum ähnliche Werte und Annahmen teilen. Ganz ähnlich beschreiben auch Hahn et al. ein integriertes Spannungsmanagement von Nachhaltigkeitsaspekten als Ausdruck Praktischer Weisheit17, insofern es nämlich a) Manager mit einer umfassenden Sichtweise auf Nachhaltigkeitsthemen ausstattet, um ökologische und soziale Reformen in der Gesellschaft anstossen zu können. Praktische Weisheit umfasst vielfältige Formen spirituellen Wissens um ein – individuell wie gesellschaftlich – gutes Leben. Sie ermöglicht es damit einer Person nicht nur, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern vielmehr auch, dafür ein wirklich verfolgenswertes Ziel auszuwählen. 18 Durch das Zusammendenken von sozialethischen Ziel- mit ökonomischen Umsetzungsaspekten19 überwindet Praktische Weisheit einen engen, individualistischen Fokus und orientiert sich auf Gemeinwohlziele hin. Wie Zhu et al. feststellen, verwendet praktische Weisheit „implizites Wissen und Erfahrung, betrachtet die langfristige Zukunft und greift auf ein breites Spektrum an Erkenntnisquellen und Handlungsperspektiven zu“ 20. Auch die Weisheitsforschung in der Psychologie impliziert, dass sich ein weiser Mensch simultan um das persönliche und das gesellschaftliche Wohlbefinden kümmert. 21 b) Weiterhin wissen kompetente Spannungsmanager um die massive Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit von ökologischen und sozialen Systemen.22 Gerade deshalb gehen sie Nachhaltigkeitsfragen nicht hastig, sondern gut überlegt und strukturiert an. Hier zeigen sich grundlegende Ähnlichkeiten mit der Weisheitsliteratur: Praktische Weisheit wird dort als jene Form des Entscheidungsverhaltens charakterisiert, die Fachwissen durch eine Reihe moralischer, epistemischer und praktischer Überlegungen ergänzt.23 Sie entfaltet mithin ihre besondere Leistungsfähigkeit in komplexen Situationen, in denen kein einheitliches Regelwerk eine ‚richtige‘ Entscheidung eindeutig festlegt. 24 In diesem Sinne weist Praktische Weisheit dem Entscheidungssubjekt einen Weg, wie „man das Richtige zur richtigen Zeit und aus dem richtigen Grund tut“ 25 . Damit umschreibt sie genau jene Führungsqualität
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Hahn, T., Preuss, L., Pinkse, J., Figge, F., Cognitive frames in corporate sustainability: Managerial sensemaking with paradoxical and business case frames. Academy of Management Review, 39(4), 2014, 463-487. Sison / Hartman / Fontrodona (wie Anm. 14), 207-210. Melé, Domènec, Practical wisdom in managerial decision making. Journal of Management Development, 29(7/8), 2010, 637-645. Zhu / Rooney / Phillips (wie Anm. 15), 607-625, hier 610. Baltes, Paul B. / Staudinger, Ursula M., Wisdom. American Psychologist, 55(1), 2000, 122-136. Hahn / Preuss / Pinkse / Figge (wie Anm. 17), 463-487. Intezari / Pauleen (wie Anm. 14), 393-404. Grassl, Wolfgang, Aquinas on management and its development. Journal of Management evelopment, 29(7/8), 2010, 706-715; Roca, Esther, Introducing practical wisdom in business schools. Journal of Business Ethics, 82(3), 2008, 607-620. Küpers / Pauleen (wie Anm. 16), 493-500, hier 494.
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umsichtigen Spannungsmanagements, das den komplexen und in ihren Folgen unvorhersehbaren Nachhaltigkeitsthemen in besonderer Weise entspricht. Wir haben mithin das Management von Spannungen zwischen verschiedenen Nachhaltigkeitsaspekten im Kontext des Organisationshandelns einerseits und Praktische Weisheit andererseits aufeinander bezogen. Daraus leiten wir nun drei inhaltliche Dimensionen ab. Die traditionelle Nachhaltigkeits-Triade des Organisationshandelns setzt sich aus der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Dimension zusammen. 26 Durch Inkommensurabilität und (Teil-)Widersprüche entstehen aber – wie erwähnt – immer wieder Spannungen zwischen diesen drei Dimensionen. 27 Um Nachhaltigkeitsentscheidungen in der Organisation besser zu strukturieren, identifizieren wir gegenüber der klassischen Nachhaltigkeits-Triade eine weitere, ebenfalls in der Literatur vorbereitete 28: (1) die zeitliche Dimension, (2) die räumliche Dimension und (3) die kontextuelle Dimension einer Entscheidungssituation. Die traditionelle Nachhaltigkeits-Triade bildet den inhaltlichen Hintergrund, der alle Nachhaltigkeitsüberlegungen durchzieht. Die Triade der zeitlichen, räumlichen und kontextuellen Dimensionen von Nachhaltigkeitsentscheidungen hingegen erlaubt es uns, die oben erhobene Strukturisomorphie von Praktischer Weisheit und Spannungsmanagement noch konkreter auszuarbeiten, um die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Feldern zu veranschaulichen.
4. Dimensionen weiser Entscheidungspraxis 4.1 Zeitliche Dimension Eine wichtige Ursache für Spannungen im Kontext von Nachhaltigkeitsentscheidungen ergibt sich aus der Tatsache, dass diesbezüglich kurz- und langfristige Auswirkungen voneinander abweichen und mithin bewertet werden müssen. Dabei akzentuiert die zeitliche Dimension eine vertikale, generationenübergreifende Perspektive 29 , die die Notwendigkeit eines Gleichgewichts zwischen ökonomischen, sozialen und ökologischen Fragen im Zeitablauf betrachtet. 30 In diesem Sinne repräsentiert das Nachhaltigkeitsprinzip den ethischen Impuls, dass „das menschliche Leben unbegrenzt weitergehen kann, der Einzelne gedeihen kann und sich menschliche Kulturen entwickeln können, während Vielfalt, Komplexität und 26 27 28 29 30
Elkington, John, Cannibals with forks: The triple bottom line of 21st century business. Oxford 1997. Margolis, Joshua D. / Walsh, James P., Misery loves companies: Rethinking social initiatives by business. Administrative Science Quarterly, 48(2), 2003, 268-305. Hahn / Pinkse / Preuss / Figge (wie Anm. 4), 297-316. Vgl. dazu die ursprüngliche Definition von Nachhaltigkeit als inter-generationelle Gerechtigkeit im Brundtland-Report 198. Schneider / Meins (wie Anm. 8), 211-222.
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Funktion des ökologischen Lebenserhaltungssystems geschützt sind“ 31. Dazu ist es für Entscheidungssubjekte notwendig, über Grenzen oder unmittelbare Auswirkungen hinauszuschauen und spezifische Aspekte der jeweiligen Situation und mögliche Interdependenzen mit übergeordneten Ebenen zu berücksichtigen. Praktische Weisheit gestaltet alltägliche und ephemere Bewältigungsbedürfnisse auf langfristige, visionäre Perspektiven hin. 32 In diesem Sinne führen kluge Entscheidungen und Handlungen „sowohl aus kurz- als auch aus langfristiger Sicht zu menschlichem Erfolg“33. Psychologische Weisheitsforschung, die den Zusammenhang zwischen zeitlicher Orientierung, zeitlichem Horizont und Weisheit untersucht34, sieht weise Menschen in diesem Sinne mit jenen kognitiven und motivationalen Ressourcen ausgestattet, die es ihnen erlauben, sowohl Retrospektion als auch Prospektion flexibel zu nutzen, um das Wohlbefinden steigern und positive Handlungserrgebnisse zu bewirken.
4.2 Räumliche Dimension Die räumliche Dimension betont die Bedeutung der verschiedenen sozialen (z. B. individuellen oder gesellschaftlichen) bzw. physischen Orte (z. B. entwickelte sich entwickelnde Regionen). Dieser räumliche Begriff von Nachhaltigkeit lenkt die Aufmerksamkeit auf die horizontale, intragenerationelle Perspektive, die ihrerseits eine Vielzahl möglicher Spannungen kennt. Räumliche Spannungen entstehen zum Beispiel, wenn der Umfang der unternehmerischen Verantwortung verschwimmt und die Grenzen der sozialen Bereiche erodieren: etwa wenn multinationale Unternehmen die sozialen oder humanitären Standards von Heimat- und Gastland in Einklang bringen müssen. Dies ist besonders deshalb relevant, weil betriebliches Nachhaltigkeitsmanagement in Entwicklungsländern weit weniger praktiziert wird als in entwickelten Ländern. 35 In solchen Fällen weist Spannungsmanagement über die Unternehmensgrenzen hinaus 36 und steht vor der Herausforderung, Unternehmenswachstum und Profitabilität des Unternehmens mit gesellschaftlichen Zielen nachhaltiger Entwicklung zu verbinden. 37 Führungskräfte wer31 32 33 34
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Khalili, Nasrin, Practical sustainability: From grounded theory to emerging strategies (Trans.). New York 2011, 6. McKenna / Rooney / Boal (wie Anm. 14), 177-190. Intezari (wie Anm. 6), 619. Vgl. Webster, Jeffrey D. / Bohlmeijer, Ernst T. / Westerhof, Gerben J., Time to flourish: the relationship of temporal perspective to well-being and wisdom across adulthood. Aging & Mental Health, 18(8), 2014, 1046-1056. Crane, Andrew / Henriques, Irene / Husted, Bryan / Matten, Dirk, A new era for business & society. Business & Society, 54(1), 2015, 3-8, 2015; Jamali, Dima, The CSR of MNC subsidiaries in developing countries: Global, local, substantive or diluted? Journal of Business Ethics, 93(S2), 2010, 181-200. Searcy, Cory, Measuring enterprise sustainability. Business Strategy & the Environment, 25(2), 2016, 120-133. Wilson, Mel, Corporate sustainability: What is it and where does it come from? Ivey Business Journal, 67(6), 2003, 1-5.
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den dann mit räumlich komplexen Situationen konfrontiert, die durch Spannungen zwischen legitimen aber teilweise miteinander unvereinbaren Ansprüchen auf individueller, firmeninterner und systemischer Ebene gekennzeichnet sind. Eine auf Organisationsebene angemessene Reaktion auf ein Nachhaltigkeitsproblem (z. B. eine strikte Durchsetzung des Verbots jeder Art von Kinderarbeit) könnte dann aus individueller Perspektive (Versorgungspflichten von Kindern gegenüber der extrem armen Familie) oder systemischer Sicht (unterentwickeltes Rechts- und Sozialsystem) dennoch als unangemessen empfunden werden. Daher erkennt das Spannungsmanagement die unaufhebbare Kontextualisierung von Nachhaltigkeitsproblemen mit einer bestimmten räumlichen Umgebung an. In diesem Sinne betont schon Aristoteles, dass praktische Weisheit über die individuelle Ebene hinausgeht und sich mit dem beschäftigt, was letztlich gut für die Menschheit ist (NE1140b). Der Psychologe Sternberg definiert Weisheit als „die Erreichung eines Gemeinwohls durch ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ebenen intrapersoneller, zwischenmenschlicher und außerpersönlicher Interessen“ 38. Aktuelle Managementstudien zur Praktischen Weisheit betonen die unverzichtbare Sozialität und Vernetzheit des Menschen.39 So sind beispielsweise weise Führungskräfte in der Lage, erfolgreich mit widersprüchlichen Interessen verschiedener Anspruchsgruppen umzugehen.40 Prassad Kaipa, einflussreicher CEO-Berater und Silicon Valley Coach, spricht über „aufgeklärtes Eigeninteresse“ 41 und versteht darunter einen Ansatz der Selbst-Transzendenz, der für weise Manager zu einer unternehmerischen Notwendigkeit wird. Diese und andere Wahrnehmungen von Praktischer Weisheit in der philosophischen, psychologischen und Management-Fachliteratur teilen die Grundannahme, dass Praktische Weisheit des Menschen mit seiner räumlichen Situiertheit zu tun hat – inklusive deren Folgen für ihn selbst und für andere, für seine Umwelt und Gesellschaft. Praktische Weisheit als Spannungsmanagement muss die Auswirkungen von Produkten und Dienstleistungen auf interne und externe Interessengruppen sowie auf die Gesellschaft insgesamt berücksichtigen. 42 Interne Unternehmenskommunikation (z. B. Kooperationsprojekte, Inhaltsgemeinschaften, Nachhaltigkeitsbotschafter) oder multiperspektivische Messinstrumente (z. B. Balanced Scorecard) sind Beispiele für Instrumente des Spannungsmanagements in diesem Sinne.
38 39 40 41 42
Sternberg, Robert J., What is wisdom and how can we develop it? The Annals of the American Academy of Political and Social Science, 591(1), 2004, 164-174, hier 164. Vgl. Bachmann / Habisch / Dierksmeier (wie Anm. 5). Freeman, R. Edward et al., Strategic ethics – strategy, wisdom and stakeholder theory: A pragmatic and entrepreneurial view of stakeholder strategy (Trans.), Thousand Oaks 2007. Kaipa, Prasad / Radjou, Navi, From smart to wise: Acting and leading with wisdom (Trans.), San Francisco, 2013. Intezari (wie Anm. 6), 617-627.
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361
4.3 Kontextuelle Dimension Die wichtigste Quelle von Spannungen ergibt sich aus der kontextuellen Einbettung der Organisation. Nachhaltigkeit basiert auf der Erkenntnis, dass die Probleme der Welt untrennbar miteinander verbunden und interdependent sind. 43 Nachhaltigkeitsprobleme resultieren grundsätzlich aus einem komplexen Konstrukt oftmals miteinander konkurrierender, ökonomischer, ökologischer und sozialer Anforderungen heraus.44 Dabei müssen zahlreiche Interessengruppen, Zielfunktionen und Ressourcenkonstellationen berücksichtigt werden. 45 Manager werden nur dann richtige Entscheidungen treffen, wenn sie sich der kontextuellen Einbettung der jeweiligen Situation bewusst werden und Faktoren wie wirtschaftlichen Druck, gesellschaftliche Erwartungen, rechtliche Verfahren oder persönliche Nachhaltigkeitswahrnehmungen und -präferenzen bestmöglich miteinander vermitteln. Auch das Konzept Praktischer Weisheit prägt seit der Antike eine wesentlich kontextuelle Dimension, die grundlegend mit den spezifischen Umständen einer Situation verbunden ist. Dies beinhaltet die Fähigkeit, die komplexe Realität in ihren vielschichtigen Facetten aufgeschlossen wahrzunehmen und ganzheitlich zu verstehen.46 In der Tradition der aristotelischen Phronesis, des konfuzianischen Yì sowie nach den Ergebnissen der zeitgenössischen empirischen Weisheitsforschung führt Praktische Weisheit zu einem angemessenen Urteilsvermögen in jeder Situation und zur Scharfsinnigkeit bei der Wahl der richtigen Mittel. Dies ist angesichts der Komplexität und Geschwindigkeit des heutigen Geschäftslebens besonders relevant. 47 In der mittelalterlichen westlichen Philosophie wurde die praktische Weisheit denn auch als „auriga virtutum“ bezeichnet, als Wagenlenkerin der Tugenden, die die anderen (Kardinal-)tugenden der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und des Masshaltens situationsadequat zu stimulieren bzw. zu zähmen weiß. 48 Ganz ähnlich verstehen Zhu und Kollegen Praktische Weisheit als „ein tugendhaftes und situationsgerechtes Kompetenzbündel[...], das Sozialunternehmer materiell unterstützen kann“ 49 . Die entsprechenden Fähigkeiten, d. h. verschiedene Arten von Integration, Mediation oder Balance, werden in der zeitgenössischen psychologischen 50 und Managementforschung 51 als Kernbestandteile praktischer Weisheit hervorgehoben. In diesem Sinne veranlasst Praktische Weisheit eine Person dazu, die Eindimensionalität der ökonomischen Rationalität zu überwinden 52 und fördert 43 44
45 46 47 48 49 50 51 52
Bansal (wie Anm. 4), 197-218; Gladwin (wie Anm. 4), 874-907. Epstein / Buhovac / Yuthas (wie Anm. 4), 35-45; Slawinski, Natalie / Bansal, Pratima, A matter of time: The temporal perspectives of organizational responses to climate change. Organization Studies, 33(11), 2012, 1537-1563. Hahn / Preuss / Pinkse / Figge (wie Anm. 14), 463-487. Bachmann / Sasse / Habisch (wie Anm. 14), 125-150. Intezari / Pauleen (wie Anm. 14), 393-404. Vgl. Pieper, Josef, Das Viergespann, München 1977. Zhu / Rooney / Phillips (wie Anm. 15), 610, eigene Übersetzung. Sternberg (wie Anm. 38). McKenna / Rooney / Boal (wie Anm. 14), 177-190. Nonaka, Ikujiro / Chia, Robert / Holt, Robin / Peltokorpi, Vesa, Wisdom, management and organi-
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ein integratives und ganzheitliches Verständnis der situativen sozio-kulturellen Umwelt.
5. Schluss: Praktische Implikationen, Einschränkungen und weitere Forschung Jüngere Studien haben das Management von Spannungen als eine der wichtigsten Herausforderungen im Nachhaltigkeitsmanagement identifiziert.53 Der vorliegende Beitrag interpretiert diese Herausforderung im Licht des traditionellen Konzepts Praktischer Weisheit. Unser Beitrag weist dabei eine Reihe praktischer und theoretischer Implikationen auf. So untermauert er die in der einschlägigen Fachliteratur bereits dargestellte Wechselbeziehung zwischen Spannungsmanagement in der Nachhaltigkeitspraxis und Praktischer Weisheit weiter und bestätigt damit Ergebnisse anderer Autoren bezüglich des engen Zusammenhangs beider Konzepte. Die bisherige Forschung zum Nachhaltigkeitsmanagement basiert oft auf der Unterscheidung zwischen ökonomischer/kurzfristiger Orientierung gegenüber sozial-ökologischer/langfristiger Orientierung 54 . Durch die Verknüpfung mit der Weisheitssemantik entsteht aber eine wesentlich differenziertere Sichtweise: Zwar besteht auch Praktische Weisheit darauf, kurzfristige Dringlichkeit mit der Berücksichtigung langfristiger Auswirkungen in Einklang zu bringen sowie kurzfristige Gewinne nicht auf Kosten langfristiger Risiken überzubetonen.55 Durch die Möglichkeit, raum- und kontextbezogene Aspekte zu integrieren, geht Praktische Weisheit aber über die herkömmliche dualistische (‚kurzfristig-langfristig‘) Sichtweise hinaus. Sie erleichtert den Umgang mit komplexen und miteinander verflochtenen Nachhaltigkeitsthemen, ohne dabei wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte gegeneinander auszuspielen, wie das oft im Kontext des oben skizzierten Dualismus geschieht. In diesem Sinne bietet unser Beitrag Akademikern und Managementpraktikern Unterstützung, die versuchen, interne Spannungen im Nachhaltigkeitsmanagement auf verantwortete Weise anzugehen. Darüber hinaus wollen wir durch eine nuanciertere, integrativere Perspektive und verschiedene interdisziplinäre Sichtweisen auf eine Situation auch dazu beitragen, Praktische Weisheit in der Ausbildung von Führungskräften wieder neu zu einem konzeptionellen Leitbegriff werden zu lassen. 56 Auf diese Weise kann eine neue Generation von Führungskräften mit jenen Kompetenzen ausgestattet werden, zation. Management Learning, 45(4), 2014, 365-376. Hahn / Pinkse / Preuss / Figge, Tensions (wie Anm. 4), 297-316; Høvring / Andersen / Nielsen (wie Anm. 4); Van der Byl, Slawinski (wie Anm. 4), 54-79. 54 Hahn / Pinkse / Preuss / Figge (wie Anm. 4), 297-316. 55 Dyllick, Thomas / Hockerts, Kai, Beyond the business case for corporate sustainability. Business Strategy & the Environment, 11(2), 2002, 130-141. 56 Roos (wie Anm. 6), 117-124. 53
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die erforderlich sind, um die mit praxisbezogenem Nachhaltigkeitsmanagement unvermeidbar verbundenen Herausforderungen zu bewältigen. Wie jeder wissenschaftliche Artikel weist dieser Beitrag aber auch klare methodische und inhaltliche Grenzen auf, die gleichzeitig Anknüpfungspunkte für die zukünftige Forschung aufzeigen. Indem wir die inhaltlichen Bezüge zwischen Umgang mit Spannungen im Nachhaltigkeitsmanagement einerseits und Praktischer Weisheit andererseits hervorheben, bietet unser konzeptionelles Modell den notwendigen Ausgangspunkt für mögliche zukünftige Forschungsfragen wie: Was bedeutet Praktische Weisheit für einen verantwortlichen Umgang mit den Risiken einer Organisation? Was kann Praktische Weisheit dazu beitragen, das kulturelle oder soziale Kapital eines Wirtschaftsstandorts zu heben, um die soziale und menschenrechtliche Situation einfacherer Arbeiterinnen und Arbeiter zu verbessern? Unser Beitrag stellt eine Meta-Analyse dar, die zwei normative Leitkonzepte miteinander in Beziehung setzt. Dieses Vorgehen regt weiterführende Praxisstudien an. So würde beispielsweise eine gründliche und kritische Untersuchung realer Beispiele praktisch weisen/nicht weisen Nachhaltigkeitsmanagements, z. B. durch Fallstudien ge-/misslungenen Spannungsmanagements, wertvolle Erkenntnisse bringen. Dies ist besonders relevant, da Organisationen keineswegs gleichmäßig den Imperativen einer wettbewerbsgetriebenen Marktlogik unterliegen. Viele Wirtschaftsunternehmen sind vielmehr mit handfesten Erwartungen von Anspruchsgruppen (Aktionäre, Kreditgeber, Mitarbeiter, Kunden, Öffentlichkeit etc.) konfrontiert, die einen immensen Druck auf die Führungskräfte und das Management ausüben und zwar in viel stärkerem Maße als die Leitung gemeinnütziger Organisationen oder öffentlicher Einrichtungen. In der Praxis existieren daher große Unterschiede, in welchem Umfang und unter welchen Umständen sich Weisheitsaspekte in die eine oder andere Richtung auswirken. Diese Unterschiede sollten in der zukünftigen Forschung besser berücksichtigt bzw. in ihren konkreten Auswirkungen anschaulich gemacht werden. Nach Aristoteles‘ Verständnis von Praktischer Weisheit als Tugend ist das richtige Gleichgewicht oder die Mitte zwischen den Extremen von Mangel und Überfluss zu finden. In diesem Sinne müsste auch ein Praktisch weises Nachhaltigkeitsmanagement die ‚Eckpunkte‘ des eigenen Entscheidungskontinuums identifizieren und es verstehen, sich darin jeweils ‚sachgerecht‘ zu bewegen. Da unser Beitrag konzeptioneller Natur ist, wird insbesondere eine weitere empirische Verfeinerung und praktische Anwendung notwendig sein. Welche Teilaspekte von Weisheit – etwa das Bewusstsein der eigenen Unwissenheit, die (daraus resultierende) integrative Suche nach relevanten Informationen aus verschiedenen Quellen, das Wissen um letzte Ziele des eigenen Handelns etc. 57 – können bei bestimmten typischen Aufgaben von Nachhaltigkeitsmanagement besonders hilfreich sein? Unser Brückenschlag könnte auch als Wegweiser für eine zukünftige Forschungsagenda in diesem Bereich dienen. Praktische Weisheit erscheint ja 57
Vgl. Bachmann / Habisch / Dierksmeier (wie Anm. 5).
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besonders hilfreich angesichts der Herausforderung, dass Organisationen zugleich integrativ und fokussiert, dienend und eigennützig agieren müssen 58 – Ziele, die oft in Spannung miteinander stehen oder sogar gegensätzliche Orientierungen notwendig machen. Praktische Weisheit fragt dann, wie Nachhaltigkeitsmanagement dem Gemeinwohl dienen könnte, anstatt nur auf den Druck der wichtigsten Interessengruppen zu reagieren; wie es der Umwelt und zukünftigen Generationen dienen würde, anstatt z. B. nur Kataloge von Energiekosteneinsparungsmaßnahmen abzuarbeiten. Nur mit einer solchen umfassenden Perspektive ausgestattet können wir beginnen zu beurteilen, wie und inwieweit die verschiedenen jeweils wünschenswerten, aber oft kaum miteinander zu vereinbarenden Nachhaltigkeitspostulate kombiniert werden können, ohne dass wir in der Praxis einfach einen Aspekt über den anderen stellen und den anderen dabei komplett vernachlässigen. In einer Zeit digitaler Revolutionen, künstlicher Intelligenz und immer engerer weltweiter Interdependenzen kommt Praktischer Weisheit als Leitbegriff einer Ethik organisatorischen Handelns in unserer Wahrnehmung mithin eine Schlüsselfunktion zu.
58
Vgl. dazu auch Stangel-Meseke, Martina / Boven, Christine / Braun, Gershon / Habisch, André / Scherle, Nicolai / Ihlenburg, Frank, Practical Wisdom and Diversity. Aligning Insights, Virtues and Values, Heidelberg / New York 2019.
Gelebte communio und dienstleistungsorientierte Praxis
Überlegungen aus dem Tourismus für die Pastoral
Sebastian Speer
1. Einleitung Von den fachlich über den ohnehin schon breiten Lehrkanon der christlichen Spiritualität und Homiletik sowie der Pastoraltheologie und -psychologie hinausgehenden, vielfältigen Publikationen von Erwin Möde allein in den letzten Jahren, haben aus der Perspektive eines tourismusökonomischen Betrachters besonders zwei Beiträge im Klerusblatt transdisziplinäre Beachtung verdient. Während im ersten 1 eine Basis durch die Analyse kirchlicher Kennzahlen des Annuarium Statisticum Ecclesiae und deren Analyse in Hinblick auf die Entwicklung der christlichen Bevölkerung einerseits sowie eine grundlegende Untersuchung der räumlichinstitutionellen Strukturen in Deutschland andererseits geschaffen wurde, integriert darauf aufbauend der zweite Beitrag die Handlungsdimension in die pastorale und organisationale Betrachtung.2 Darüber hinaus zeigt der Eichstätter Theologe nicht nur konkrete Implikationen für die pastorale Praxis vor Ort auf, wenn er konstatiert, dass „Änderungen pastoraler Rahmenstrukturen nicht zu vermeiden sind“ 3, sondern weist auch auf die Bedeutung des Zusammenspiels von Anthropologie und communio hin, bei welcher das Konstrukt der Pfarrgemeinde unter Schaffung räumlicher und institutioneller Strukturen den Dienst am Menschen ins Zentrum communio-anthropologischen Wirkens stellt. In seiner Analyse zeigt der Honorierte Trends auf, die über die bloße spirituelle Dimension hinausgehen und insbesondere ressourcenbezogene, menschliche sowie zwischenmenschliche Aspekte darstellen: „Das veränderte Mobilitäts- und Kommunikationsverhalten der Menschen, die unterschiedlichen Ressourcen und Qualitäten von (priesterlichen) Seelsorgern, die Herausforderung von der Rede vom Reich Gottes in binnenkirchlichen Vollzügen und die geringe pastorale Planbarkeit 1
2 3
Möde, Erwin / Kießig, Sebastian, Pastorale Räume in zeitgemäßer Neugestaltung. Reflexion auf empirisch-gesamtwirtschaftliche Daten (1974-2013), in: Klerusblatt: Zeitschrift der katholischen Geistlichen in Bayern und der Pfalz, Bd. 96, Nr. 5, 2016, 109-110. Möde, Erwin / Kießig, Sebastian: Pfarrgemeinden, pastorale Praxis und pastorales Handeln sind im stetigen Fluss, in: Klerusblatt (wie Anm. 1), Nr. 12, 2016, 289-292. Ebd., 289.
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Sebastian Speer
in einer lebendigen communio.“4 Die Feststellungen eines Wandels in Lebenswirklichkeit und -umfeld der Menschen heute erfahren besondere Akzentuierung, indem für die Zwecke der durchgeführten Analyse zwei essentielle Dimensionen menschlichen Zusammenlebens miteinander verbunden werden: So bilden die räumlich-territoriale und die gesellschaftlich-soziale Dimension die horizontale bzw. vertikale Achse des zwischen ihnen aufgespannten Interaktionsraums. Während Erwin Möde mit erstgenannter Perspektive die zuvor festgestellten Veränderungen im Mobilitätsverhalten der Menschen aufgreift, zielt er mit zweitgenannter auf die Lebendigkeit der zwischenmenschlich stattfindenden communio ab. Beide Dimensionen, auch wenn sie zunächst getrennt analysiert werden können, sind jedoch in der alltäglichen Praxis untrennbar miteinander verbunden. Die sowohl mit der Komplexität der Veränderungen als auch mit den thematisierten, anhaltenden Veränderungen einhergehenden Herausforderungen stellt der Theologe und Psychologe ebenso dar, wie er mögliche Lösungsvorschläge diskutiert. Ausgehend von dieser zunächst theologisch unerwarteten Herangehensweise an die sich in räumlichen und gesellschaftlichen Dimensionen bewegenden Veränderungen der Pastoral, möchte dieser Beitrag das Spektrum der Betrachtung noch einmal erweitern, indem er Entwicklungen und Überlegungen aus dem Kontext der Tourismuswissenschaften in die Erkenntnisse und pastoralpraktischen Handlungsvorschläge Mödes einfließen lässt. Ein solch transdisziplinärer Austausch über Fachgrenzen hinweg vermag es bisweilen, eigene, Disziplin-immanente Denkmuster aufzubrechen und bislang außerhalb des fachlichen Fokus befindliche Methoden und Lösungsansätze zu offenbaren. 5 Diesen Hintergrund bedenkend wird in diesem Beitrag zunächst der Ausgangspunkt der Überlegungen dargestellt, weshalb sich die Perspektiven pastoraler und pfarrgemeindlicher Praxis einerseits und touristischen Selbstverständnisses und Ausprägung andererseits zu einer integrierten Betrachtung eignen (Abschnitt 2). Daran anschließend werden ausgewählte Parallelitäten vorgestellt und in Bezug auf mit ihnen einhergehende Herausforderungen sowie disziplinübergreifende, wenngleich bisweilen provokant erscheinende Lösungsansätze hin verglichen (Abschnitt 3), bevor eine integrierende, kritisch reflektierende und in einem Fazit mündende Schlussbetrachtung erfolgt (Abschnitt 4).
4 5
Ebd., 289. Vgl. Wickson, Fern / Carew, Anna L. / Russell, Alice W., Transdisciplinary research: characteristics, quandaries and quality, in: Futures, Bd. 38, Nr. 9, 2006, 1046-1059; Wiesmann, Urs / BiberKlemm, Susette / Grossenbacher-Mansuy, Walter / Hirsch Hadorn, Gertrude / Hoffmann-Riem, Holger / Joye, Dominique / Pohl, Christian / Zemp, Elisabeth, Enhancing transdisciplinary research: A synthesis of fifteen propositions, in: Hirsch Hadorn, Gertrude / Hoffmann-Riem, Holger / Biber-Klemm, Susette / Grossenbacher-Mansuy, Walter / Joye, Dominique / Pohl, Christian / Wiesmann, Urs / Zemp, Elisabeth (Hrsg.), Handbook of transdisciplinary research, Dordrecht, NL 2008; Pechlaner, Harald / Zehrer, Anita (Hrsg.), Tourismus und Wissenschaft. Wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Perspektiven, Berlin 2017.
Gelebte communio und dienstleistungsorientierte Praxis
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2. Ausgangspunkt der Überlegungen Auch wenn eine wissenschaftliche Verbindung von theologischer und touristischer Ebene auf den ersten Blick schwer miteinander vereinbar scheint, lässt sich dieser Eindruck bereits durch einen Verweis auf das Phänomen des religiösen Reisens – des Pilgerns – relativieren. Während das Erleben einer Pilgerreise bisweilen ein Verkaufsschlager in der Populärliteratur geworden ist, 6 wird sie ebenso als Zeugnis für den Weg der eigenen Spiritualitätssuche genutzt. 7 Darüber hinaus ist die Verbindung von Reisen und Religion Gegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, die ein breites, fließendes Kontinuum von der Theologie, über die Geschichtswissenschaft bis hin zur Tourismuswissenschaft abbilden.8 Im hier betrachteten Fall stehen weder eine theologische Betrachtung des Reisens noch eine touristische Analyse der Pastoral im Vordergrund. Vielmehr geht es um die Darstellung von sich aus zwei fachlichen Quellen speisenden Ansätzen, die neue Zugänge zur Verbindung von pfarrgemeindlicher und pastoraler Praxis in ihrem geografischen und sozialen Umfeld ermöglichen. Die Grundlage, auf die in den im Folgenden dargelegten Überlegungen aufgebaut wird, bildet die vom Autor in drei zentralen Eigenschaften beschriebene Charakterisierung der Pfarrgemeinde: 1. Es existiert ein flächendeckendes Angebot pastoraler Grundvollzüge bei variabler Organisationsstruktur. 2. Es herrscht eine Singularität pastoraler Praxis bei unterschiedlich ausgeprägten Kompetenzniveaus. 3. Das Sakrament der Taufe ist das wichtigste Zugangskriterium zur Gemeinde.9 Zusammengefasst und von den theologischen Begrifflichkeiten abstrahiert handelt es sich bei der praktischen Ausprägung der Pastoral um ein aus verschiedenen 6
7 8
9
Vgl. Spiegel Online: Top 40: Das sind die Bestseller des Jahrzehnts, 2015; Online unter: http://www.spiegel.de/fotostrecke/meistverkaufte-buecher-2005-bis-2015-fotostrecke-125950-32.ht ml [Zuletzt aufgerufen am 29. Oktober 2018] unter Verweis auf: Kerkeling, Hape, Ich bin dann mal weg, München 2006. Vgl. Ignatius von Loyola / Sievernich SJ, Michael, Bericht des Pilgers. Mit 80 Kupferstichen von Peter Paul Rubens, Wiesbaden 2006. Das Kontinuum kann anhand folgender, exemplarisch genannter Beiträge umrissen werden (in chronologischer Reihenfolge): Esch, Arnold, Gemeinsames Erlebnis – Individueller Bericht. Vier Parallelberichte aus einer Reisegruppe von Jerusalempilgern 1480, in: Zeitschrift für Historische Forschung, Bd. 11, Nr. 4, 1984, 385-416; Bausinger, Hermann / Beyrer, Klaus / Korff, Gottfried (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991; Haab, Barbara, Pilgerfahrt. Weg und Bewegung, in: Archive for the Psychology of Religion, Bd. 23, Nr. 1, 2000, 144-163; Herbers, Klaus, Jakobsweg. Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, München 3 2011; Pechlaner, Harald / Hopfinger, Hans / Schön, Silvia / Antz, Christian (Hrsg.), Wirtschaftsfaktor Spiritualität und Tourismus. Ökonomisches Potenzial der Werte- und Sinnsuche, Berlin, 2012; Pechlaner, Harald / Hopfinger, Hans / Schön, Silvia / Antz, Christian, Kulturfaktor Spiritualität und Tourismus: Sinnorientierung als Strategie für Destinationen, Berlin 2012; Pechlaner, Harald / Innerhofer, Elisa (Hrsg.), Sinnsuche im Urlaub. Chancen und Perspektiven für den Tourismus, Bozen 2016. Vgl. Möde / Kießig (wie Anm. 2), 290.
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Services von unterschiedlichen Dienstleistern und der dafür benötigten Infrastruktur bestehendes Angebot, welches flächendeckend für alle nutzungsberechtigten Mitglieder verfügbar sein sollte, wenngleich Unterschiede in Hinblick auf die Angebotsvielfalt und die qualitative Professionalität der Anbieter auftreten können. Die Tourismuswissenschaft kann insofern einen qualifizierten Zugang zu dem vorgestellten Handlungskontext bieten, als dass die beiden Dimensionen räumlichen und sozialen Zusammenlebens und Interagierens sowie das raumbezogene Angebot von auf das Wohl des Menschen in den Mittelpunkt stellenden Leistungen unterschiedlicher Kompetenzniveaus Kernbestandteile der Disziplin sind. Somit lassen sich gemeinsame Merkmale zwischen der pastoralen und pfarrgemeindlichen Praxis und dem destinationsbezogenen Phänomen des Tourismus extrahieren, die allesamt nicht für sich alleine stehen, sondern interdependent wirken und sich gegenseitig beeinflussen: 1. Bezugsraum: Die Bedeutung eines durch hierarchische Strukturen und Institutionen geprägten geographischen und sozialen Raums 2. Angebot: Das Anbieten (un-)entgeltlicher, menschenzentrierender Dienstleistungen sowie die korrespondierende Erwartungshaltung 3. Qualität: Erfahren durch Erleben und die Bedeutung von Kompetenz und Authentizität 4. Beziehung: Die Gastfreundschaft, Aufnahme und Integrationskraft einer sozialen Gruppe Diese selektiv ausgewählten, wenngleich das umfassende Spektrum der beiden Fachdisziplinen bei weitem nicht erschöpfenden, vier thematischen Vergleichsebenen werden im weiteren Verlauf dieses Artikels einerseits im Lichte der pastoraltheologischen Perspektive Erwin Mödes reflektiert und andererseits um komplementierende Gedanken aus den Bereichen der Tourismuswissenschaft ergänzt.
3. Individuelle Betrachtung der Vergleichsebenen Die im Vorangegangenen präsentierten vier Ansatzpunkte eines interdisziplinären Zugangs von pastoraler Praxis im pfarrgemeindlichen Raum zum einen sowie touristischer Praxis im Destinationsraum zum anderen werden nun in der zuvor dargestellten Reihenfolge thematisiert, um anschließend einer transdisziplinären Analyse unterzogen zu werden.
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3.1 Die Bedeutung eines durch hierarchische Strukturen und Institutionen geprägten geographischen und sozialen Raums Die erste, im wahrsten Bedeutungssinne fundamentale Betrachtungsebene ist der geographische Raum sowie dessen Konstruktion und Strukturierung. Alleine auf diese – auf die Worte Mödes zurückgreifend – horizontale Dimension heruntergebrochen, finden kirchlich-pastorale Strukturen Ausdruck in geographischhierarchischer Ebene. So erfolgt unterhalb der höchsten kirchlichen Autorität, des Papstes, eine gebietsmäßig vollständige Untergliederung des Lebensraums des Volkes Gottes in Kirchenregionen10 und -provinzen,11 Erzdiözesen und ihnen zugeordnete Suffragane, 12 die ihrerseits wiederum in die geringere geographische Ausmaße annehmenden räumlichen Strukturen der Dekanate und Pfarreien aufgeteilt werden. 13 Diese häufig historisch gewachsene, bisweilen aber auch bis in jüngste Zeit hinein künstlich geschaffene räumliche Gliederung besteht – von einigen Ausnahmen abgesehen – zunächst unabhängig von, jedoch zugleich parallel zu politisch-administrativen Grenzen. Zwar reflektiert die auf hierarchische Abhängigkeiten abzielende Strukturierung das Selbstverständnis der kirchlichen Gemeinschaft, der Communio Ecclesiarum;14 mit der Strukturierung des geographischen Raums geht aber zudem eine institutionale Ordnung einher: Angefangen bei den Bischofssitzen mit ihren administrativen Institutionen vor Ort, mit Krankenhäusern, Pflege- und Bildungseinrichtungen, differenzieren sich diese Strukturen bis in die Gemeinden hinein aus, wo sie über von der Gemeinde getragene Kindergärten und -tagesstätten bis hin zu caritativen Einrichtungen das Leben der Menschen konkret beeinflussen können – ohne dass hierfür in vielen Fällen eine aktive Mitgliedschaft in der kirchlichen Gemeinde vorausgesetzt wird. Das von Erwin Möde beschriebene Charakteristikum einer Pfarrgemeinde, eine „[…] veränderungsfähige Struktur [zu sein], die eine flächendeckende kirchliche Präsenz, d. h. eine allumfassende Präsenz der pastoralen Grundvollzüge, gewährleistet […]“,15 unterstreicht die Bedeutung einer geographisch verankerten Präsenz der Institution Kirche sowie ihrer Angebote, um ihre Mitglieder überall ansprechen zu können. Konsequenterweise weist der Eichstätter Pastoraltheologe in seinem Zwischenfazit16 auf die unmittelbare Abhängigkeit von sich im pastoralen Angebot ausdrückenden Sendungsauftrag und der für diese Aufgabe geschaffenen, räumlich-institutionellen Struktur – zunächst unabhängig von deren Größe – hin und kommt zu dem Schluss, dass „[…] auch in horizontalen und vertikalen innovativwachsenden Lebensräumen von Menschen nicht auf die Pfarrgemeinde verzichtet 10 11 12 13 14
Vgl. CIC, Can. 433 § 1. Vgl. CIC, Can. 431. Vgl. CIC, Can. 372 § 1; CIC, Can. 435. Vgl. CIC, Can. 374 §§ 1,2. Vgl. Aymans, Winfried / Mörsdorf, Klaus, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici. Band III. Verkündigungsdienst, Heiligungsdienst, Paderborn 2006, 271. 15 Möde / Kießig (wie Anm. 2), 290. 16 Ebd.
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werden [kann].“17 Diesen Gedanken zusammenfassend stellen pastorale Räume die Grundlage pastoraler Praxis dar, wenngleich innerhalb der jeweiligen Gebietseinheiten mitunter Disparitäten in Hinblick auf die Bereitstellung bestimmter Angebote nicht auszuschließen sind und deren Inanspruchnahme mit divergierenden Anstrengungen vonseiten der Gläubigen verbunden sein können. Dass neben der horizontalen Nähe18 auch eine vertikale vonnöten ist, wird an späterer Stelle (Abschnitt 3.4) aufgegriffen. Wendet man sich zunächst grundlegend der räumlichen, touristischen Projektionsfläche zu, stehen dem Theorie- und Methodenkasten des Wissenschaftlers unterschiedliche Raumkonzepte der Humangeographie zur Verfügung. Diese theoretischen Grundlagen weitestgehend beiseite lassend sei jedoch besonders auf das Untersuchungsobjekt des sozial konstruierten Raums verwiesen, welches sich neben jenem eines aufgrund geographischer oder klimatischer Merkmale abgrenzbaren Raums etabliert hat. Ausschlaggebend für diesen Ansatz ist die Zentrierung des Menschen und dessen Sicht auf den Raum sowie die von ihm zu bestimmten Zwecken vorgenommene Konstruktion und Abgrenzung des Raums. Somit können sozial konstruierte Räume nicht nur für jede Person anders aussehen; auch können die in ihnen gemachten Erfahrungen oder die an sie gerichteten Erwartungen individuell unterschiedlich ausfallen.19 Bereits aus dieser Perspektive betrachtet, existiert eine Parallele zum horizontalen Gemeindeverständnis Erwin Mödes, welches nur für praktizierende Gläubige – und damit einen zumindest in Deutschland immer geringer werdenden Bevölkerungsanteil20 – ein relevanter und mit einer Bedeutung aufgeladener Raum ist. Auch in der Tourismusforschung wird eine Destination als Zielgebiet touristischer Aktivität vom Urlauber selbst konstruiert, zunächst weitestgehend unabhängig – wenngleich in gewissen Maßstäben geprägt von destinationsbezogener Werbung – von politisch-administrativen oder gar destinationsspezifisch-institutionellen Räumen.21 Geht man über die theoretische Raumkonzeption hinaus, spielt im Tourismus die räumliche Komponente in zweierlei Hinsicht eine wesentliche Rolle: einerseits für die Touristen, deren Destinationswahl häufig durch die (natur-)räumliche Aus17 18
Ebd. Vgl. ebd., unter Verweis auf: Marx, Reinhard, Die Vergrößerung des pastoralen Raumes und die Nähe zu den Menschen, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), „Mehr als Strukturen… Entwicklungen und Perspektiven der pastoralen Neuordnung in den Diözesen“, Dokumentation des Studientages der Frühjahrs-Vollversammlung 2007 der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen Nr. 213, 2007, 62-67. 19 Vgl. Simmel, Georg, Soziologie des Raums, in: Simmel, Georg, Aufsätze und Abhandlungen 19011908. Band 1 (Band 7 der Georg Simmel-Gesamtausgabe), Frankfurt a. M. 1995 [1908], 132-183; Pott, Andreas, Orte des Tourismus. Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung, Bielefeld, 2007. 20 Möde / Kießig (wie Anm. 2), 291. 21 Vgl. Peñaloza, Lisa / Venkatesh, Alladi, Further evolving the new dominant logic of marketing: From services to the social construction of markets, in: Marketing Theory, Bd. 6, Nr. 3, 2006, 299316; Saraniemi, Saila / Kylänen, Mika, Problematizing the concept of tourism destination: An analysis of different theoretical approaches, in: Journal of Travel Research, Bd. 50, Nr. 2, 2011, 133143.
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stattung zum einen sowie die Ausstattung des konkreten Destinationsraums zum anderen beeinflusst wird;22 andererseits für die Bevölkerung vor Ort, die die Ausprägung des Tourismus in ihrem Lebensraum mit allen positiven wie negativen Konsequenzen – inklusive jener der Infrastrukturbereitstellung für und -nutzung durch Touristen – spürt. Als weitere Parallele zur gemeindlichen Struktur weisen auch Destinationen als zunächst rein geographisch abgegrenzte Gebiete eine hierarchische Struktur, einhergehend mit einer institutionellen und organisatorischen Gliederung auf, wenngleich diese nicht immer trennscharf und überschneidungsfrei sein müssen.23 Ähnlich einer Diözese mit ihren institutionellen Einrichtungen und Angeboten werden Destinationen in der Regel durch Destination Management Organisationen (DMOs) geführt, die ebenso für die Entwicklung des geographischen Destinationsraums, der dortigen Infrastruktur (z. B. Seilbahnen), der Institutionen (z. B. Fremdenverkehrsämter) und Einrichtungen (z. B. Kurhäuser) sowie für das konkrete Angebot zuständig sind. 24 Der Zweck einer geographisch abgrenzbaren Einheit, die als Destination gemanagt wird, besteht folglich primär in der Bereitstellung eines sich aus vielen Institutionen, Einrichtungen und Angeboten zusammensetzenden touristischen Produkts mit menschlichem Adressaten in einem angemessenen und händelbaren Raum. Ebenso wie die räumlichen und infrastrukturellen Ausstattungsmerkmale einer Destination gleichzeitig attraktiv für Einheimische wie Gäste sein können, trifft selbiges auf das Attraktionspotential einer Gemeinde zu, welches mindestens teilweise durch in einem geographisch begrenzten Raum bereitgestellte, vorzufindende infrastrukturelle und organisationale Angebote determiniert wird. Wie mit den vorangegangenen Darstellungen aufgezeigt werden sollte, ähneln sich aus sozialräumlicher Perspektive, vom jeweiligen Konstruktionszweck abstrahierende, kirchliche und touristische Raumdefinitionen in vielen Aspekten. So lässt sich als eine wichtige gemeinsame Herausforderung die bisweilen bestehende Diskrepanz zwischen geographisch abgegrenztem und dem vom Menschen sozial konstruierten Raum, mit der Folge einer nicht immer effizienten und optimalen Angebotsbereitstellung, identifizieren. Gleichzeitig wirkt das Angebot attrahierend auf Einheimische wie potentielle Besucher. Einen konsequent entwickelten und praxistauglichen Lösungsansatz in diesem Rahmen zu diskutieren, erscheint schwierig, da institutionelle und infrastrukturelle Ausstattungsmerkmale häufig mit 22
Klenosky, David B., The “pull” of tourism destinations: A means-end investigation, in: Journal of Travel Research, Nr. 40, 2002, 385-395. 23 In Deutschland sind unterhalb der nationalen Ebene, repräsentiert durch den Deutschen Tourismusverband e.V. (DTV), die Tourismusorganisationen der Bundesländer angesiedelt, beispielsweise die BAYERN TOURISMUS Marketing GmbH (by.TM). Innerhalb Bayerns existieren dann hierarchisch untergeordnet sowohl regionale Tourismusverbände, z. B. die einer geographisch eindeutigen, da in der Regel Regierungsbezirk-orientierten Abgrenzung unterliegenden Tourismusverbände Franken oder Ostbayern, als auch Destinationen wie das Fränkische Seenland oder der Naturpark Altmühltal, die zum einen weniger starre Grenzen haben und sich zum anderen sogar räumlich teilweise überschneiden. 24 Pechlaner, Harald, Tourismus-Destinationen im Wettbewerb, Wiesbaden 2003.
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einem sowohl hohen als auch langfristigen Planungs- und Investitionsaufwand einhergehen. Eine gewisse raumbezogene Basisausstattung ist jedoch – abhängig von der jeweiligen örtlichen aktuellen und potentiellen Nachfrage – grundsätzlich notwendig. Allerdings besteht im Bereich der immateriellen Angebote und Services ein gewisser Spielraum, auf den im nächsten Abschnitt eingegangen wird.
3.2 Das Anbieten (un-)entgeltlicher, menschenzentrierender Dienstleistungen sowie die korrespondierende Erwartungshaltung Nachdem zuvor der geographische und institutional organisierte Aktionsraum thematisiert wurde, gelten die zweiten Überlegungen der angebotenen Dienstleistung selbst sowie dem Preis, der für ihre Bereitstellung und Nutzung aufgerufen wird. Da eine Diskussion über das Für und Wider unterschiedlicher Kirchensteuersysteme zu weit gehen würde, spielen in diesem Rahmen das Entgelt und die Art und Weise seiner Entrichtung eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wird auf den Kern des Angebots und dessen Nutzer fokussiert: den Menschen selber sowie dessen körperliches, geistiges und seelisches Wohl. Ausgehend von den pastoraltheologischen Ausführungen des mit diesem Bande zu Ehrenden ist es Ziel und Zweck der Kirche, die drei zentralen pastoralen Grundvollzüge der Liturgie (λειτουργία), dem Dienst am Menschen (διακονία) und der Verkündigung (μαρτυρία), unabhängig von sich verändernden räumlichen, organisationalen oder institutionellen Strukturen, für ihre Gläubigen zugänglich und somit verfügbar zu machen. Als Ausgangspunkt dient dazu die vonseiten der Kirche bereitgestellte Infrastruktur, die als Unterstützung zur Erbringung der intendierten Dienstleistung am Menschen fungiert. Gemeint sind hier beispielsweise Schulen oder Universitäten als infrastrukturelle Vehikel des kirchlichen Bildungsauftrags, Caritaseinrichtungen als Einrichtungen kirchlicher Nächstenliebe oder Gemeinderäumlichkeiten für die Feier der Heiligen Messe sowie die Vorbereitung auf Sakramente (bspw. Kommunion- oder Firmunterricht). Neben der für die Angebote notwendigen Infrastruktur spielen jedoch auch Menschen als Mittler oder Erbringer einer entsprechenden Dienstleistung eine zentrale Rolle. In besonderer Weise gilt dies in der Kirche für die Geistlichen: „[…] die vertikale Dimension, die Beziehung zwischen Gott und Menschen, ist die erste Nähe des Priesters zum Menschen.“25 Neben den Umständen, wie und durch wen ein kirchlich-pastoraler Dienst angeboten wird, bleibt die Frage nach dem Kern dieses Angebots. Aus rein marktwirtschaftlicher Sicht existiert ein Angebot nur dann, wenn diesem eine entsprechende Nachfrage entgegensteht. Häufig muss jedoch Überzeugungsarbeit, z. B. in Form von Werbung geleistet werden, um eine entsprechende Nachfrage zu gene25
Möde / Kießig (wie Anm. 2), 291.
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rieren – insbesondere, wenn Nutzer aus einer Vielzahl in der Substanz konkurrierender Angebote wählen können.26 Neben ethisch-moralischen Leitlinien stellt das Angebot der Kirche insbesondere den Menschen und dessen körperliches und seelisches Heil – meist eine Kombination aus beiden Aspekten – in den Mittelpunkt des eigenen Wirkens.27 Zusammengefasst bilden die durch die Priester und Laien der Kirche vielfältig angebotenen Dienstleistungen folglich ein Angebotsbündel – bestehend aus mehreren, überwiegend frei kombinierbaren Einzelleistungen –, welches grundsätzlich menschenzentrierend und, da unmittelbar in das Erlösungswirken Jesu Christi hineingenommen, für Gläubige heilsrelevant 28 ist. Wendet man sich dem Tourismus zu, weist auch eine Destination eine Infrastruktur auf, die dazu dient, das touristische Produkt für den Gast erfahrbar und erlebbar zu machen. Die verschiedenen Angebotsbestandteile des Leistungsbündels wirken – im Gegensatz zu den kirchlichen Angeboten29 – komplementär und interdependent. Auch der Tourismus adressiert mit seinem Angebot Menschen und deren Wohlbefinden, wobei die gemachten Erfahrungen mit dem Gesamtprodukt aber aufgrund unterschiedlicher Erwartungshaltungen, situativer Faktoren und subjektiver Empfindungen von den Touristen unterschiedlich aufgefasst werden können.30 Das Ziel, für Entspannung, körperliches und geistiges Wohl – die Seele „baumeln“ zu lassen – zu sorgen, ist somit auch ein prägender Bestandteil vieler touristischer Ausprägungsformen (z. B. Kururlaub, Erholungsurlaub, Strandurlaub, usw.). Die Frage nach den Kosten eines solchen anthropo-fokussierenden und dem Menschen immanenten Wohlbefindens werden im Tourismus in der Regel weniger grundsätzlich geführt als im Bereich des kirchlichen Angebots. Gemein ist beiden Ausprägungsformen, dass gewisse Angebote, die eine zweckangemessene Grund-
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Vgl. Scherle, Peter, Zukunft der Volkskirchen. Werte liefern, das können auch andere, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.11.2018. Online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debat ten/zukunft-der-volkskirchen-werte-liefern-koennen-auch-andere-15885445.html [Zuletzt aufgerufen am 15. November 2018]. Dörnemann, Michael, Einer ist Arzt, Christus. Medizinales Verständnis von Erlösung in der Theologie der griechischen Kirchenväter des zweiten bis vierten Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Antikes Christentum, Bd. 17, Nr. 1, 2013, 102-124. Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Dominus Jesus über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche. Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 148 (06. August 2000), hier insbesondere §§ 9 ff; Kongregation für die Glaubenslehre, Schreiben Placuit Deo an die Bischöfe der katholischen Kirche über einige Aspekte des christlichen Heils; Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 212 (22. Februar 2018), hier insbesondere §§ 12 ff. Gemeint ist beispielsweise hier, dass ein gläubiger Christ seine Kinder weder auf eine kirchliche Bildungseinrichtung schicken muss, noch ein wirtschaftlich gut dastehender Gläubiger caritative Einrichtungen oder Angebote in Anspruch zu nehmen braucht. Vgl. Stickdorn, Marc / Zehrer, Anita, Service design in tourism: Customer experience driven destination management. Vortrag gehalten während der First Nordic Conference on Service Design and Service Innovation, Oslo, 24.-26. November 2009.
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versorgung31 darstellen, in der Regel kostenfrei zugänglich sind, zusätzlich in Anspruch genommene Infrastrukturen oder Dienstleistungen, 32 die ein höheres Servicelevel aufweisen und mit Investitionen einhergehen, hingegen kosten – eine Angebotsstrategie, die im Softwarebereich als Freemium33 bekannt ist. Auch wenn das Offerieren grundsätzlich entgeltlicher Angebote aus marktwirtschaftlicher Perspektive gesehen an der Tagesordnung ist, sollte sich zumindest aus kirchlicher Anbieterperspektive die Frage gestellt werden, inwiefern das menschliche Heil betreffende Maßnahmen gratis erfolgen sollte. Zwar ist eine entgeltliche Inanspruchnahme eines Produkts oder einer Dienstleistung, an deren positive Auswirkungen ein Konsument glaubt, alltägliche Praxis und trägt zugleich dazu bei, laufende Kosten und anstehende Investitionen in benötigte Ressourcen und die Aufrechterhaltung des dahinterstehenden Systems zu finanzieren. 34 Allerdings kann das Freemium-Konzept eine interessante Alternative bieten, wenn von einem monetären, zusätzlich zur Taufe existierenden Zugangskriterium zum menschenorientierten Heilsauftrag der Pastoral Abstand genommen werden möchte. Während zusätzlich der Tourismus insofern aus Nutzersicht vollständig liberal geprägt ist, als sich die Reisenden frei entscheiden, welche Destination, welches Hotel und welches Programm vor Ort am ehesten zu ihrem persönlichen Wohlergehen beitragen kann, ist dies aufgrund des deutschen Kirchensteuersystems nicht ohne weiteres möglich. Die den deutschen Diözesen automatisch zufließenden Steuergelder führen dann mitunter zu ineffizienten Finanzallokationen und Ausgaben, für die der Finanzierer nicht immer Verständnis aufbringt. Die Herausforderungen, der sich die kirchliche Aufgabe im Allgemeinen sowie die pfarrgemeindliche Pastoral im Besonderen ausgesetzt sehen, sind zweierlei: Zunächst gilt es, das eigene Selberverständnis (Wie sehe ich meinen Auftrag? Was benötige ich zu dessen Erfüllung?) sowie das Fremdverständnis (Wie wird mein Auftrag von anderen gesehen? Was wird aus ihrer Sicht zu dessen Erfüllung erwartet?) zu vergleichen und gegebenenfalls eine Anpassung des eigenen Angebots vorzunehmen. Ausgehend davon gilt es festzulegen, ob ein Nutzungsentgelt verlangt werden möchte. Ist dies der Fall, muss überzeugend kommuniziert werden, dass ein qualitativ hochwertiges Angebot am Markt typischerweise Geld kostet. Hinzu kommt, in einem weiteren Schritt die an das Angebot zu einem gewissen Preis gestellten Erwartungen zu erfüllen. Um hierbei den zuvor aufgezeigten Ineffizienzen im eigenen Interesse entgegenzuwirken, bietet sich das Zulassen von Konkurrenz im eigenen Markt an. Ebenso wie ein Tourist die Wahl zwischen ver31
Beispiele hierfür sind die Messfeier im Rahmen des kirchlichen Angebots oder die Touristeninformation im Bereich des Destinationsangebots. 32 Man denke hier an ein kirchliches Internat oder einen Organisten für die Hochzeit (Kirche) bzw. an die Nutzung einer Seilbahn oder den Besuch in einem Museum (Tourismus). 33 Vgl. Gassmann, Oliver / Frankenberger, Karolin / Csik, Michaela, Geschäftsmodelle entwickeln. 55 innovative Konzepte mit dem St. Galler Business Model Navigator, München 2013, hier 134 ff. 34 Vgl. Scherle (wie Anm. 26), In diesem Kontext fordert der evangelische Theologe Peter Scherle beispielsweise, die Strukturen aus eigener Motivation auf ein bedarfsgerechtes und finanzierbares Maß zu reduzieren.
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schiedenen Destinationen hat und innerhalb dieser Destinationen wiederum die Wahl zwischen unterschiedlichen Hotels und Attraktionen, denen er durch die Nutzung Geld zukommen lässt, ließe sich dieses Prinzip auch auf den kirchlichen Bereich übertragen. Die zugrundeliegende Idee ist, dass nur attraktive, nachgefragte, genutzte und als wichtig empfundene Angebote am Markt überleben, da diese aufgrund von generierten Einnahmen finanziell tragfähig sind. Beispiele diesem Prinzip folgender, steuerfinanzierter Systeme sind in Spanien oder Italien vorzufinden. Dort können die Steuerzahler selbst bestimmen, welchem kirchlichen oder sozialen Zweck sie Zuwendungen zukommen lassen möchten, 35 wodurch sowohl Menge als auch Höhe der finanziellen Beiträge einen Indikator für die Qualität und Bedeutung der sozialen Zwecke verfolgenden Angebote darstellen können. Abgesehen von der Frage, wer für die Finanzierung der benötigten, grundlegenden organisationalen und institutionellen Infrastruktur zuständig sein wird und somit die Gefahr des free-riding 36 möglichst zu minimieren, ist ein entscheidender Anreiz dieses Systems, dass durch eine Analyse der Zuwendungsströme Rückschlüsse auf die Attraktivität der Angebote gezogen und entsprechende Anpassungen abgeleitet werden können.
3.3 Erfahren durch Erleben und die Bedeutung von Kompetenz und Authentizität Ausgehend vom geographischen Raum der Gemeinde und des pastoralen Angebots unabhängig vom konkreten räumlichen Bezug, wird sich mit den nachfolgenden Überlegungen der Ausprägung und Bereitstellung des Dienstleistungsangebots vor Ort zugewandt, in deren Rahmen man nicht nur in kirchlichen Kreisen auf die Serviceerfahrung-determinierenden Aspekte der Kompetenz und Qualität stößt. Erwin Möde zeigt in seinem Beitrag über den Wandel der Pastoral in Pfarrgemeinden Beispiele auf, in welchen beide genannten Aspekte in einen Bedeutungszusammenhang mit direkter Auswirkung auf die pastorale Praxis genannt werden. 37 Er kommt zu dem Schluss, „[…] dass Menschen unserer gegenwärtigen Zeit nicht irgendwelche kirchlichen pastoralen Grundvollzüge suchen, sondern qualitativ ansprechende und zielführende pastorale Initiativen suchen. Zielführend meint dabei, kompetent dialogfähig zu sein bzw. das Reich und die Existenz Gottes authentisch zu bezeugen.“38 Allerdings muss der Eichstätter Theologe zugleich fest35
Petersen, Jens, Kirchensteuer kompakt. Strukturierte Darstellung mit Berechnungsbeispielen, Wiesbaden 32017, hier 247. 36 Free-riding bezeichnet die unentgeltliche Nutzung einer investitionsaufwändigen Infrastruktur meist öffentlichen Charakters ohne sich jedoch an den entstehenden Aufbau- oder Instandhaltungskosten finanziell zu beteiligen. Vgl. z. B. Isaac, R. Mark / Walker, James M. / Thomas, Susan H., Divergent evidence on free riding: An experimental examination of possible explanations, in: Public Choice, Bd. 43, Nr. 2, 1984, 113-149. 37 Vgl. Möde / Kießig (wie Anm. 2), 290. 38 Ebd.
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stellen, dass die pastorale Praxis in der Realität zumeist anders aussieht und der Erwartungshaltung der Menschen in Hinsicht auf die Breite, Tiefe und Qualität des Angebots nicht immer entsprochen werden kann. Dabei gäbe es, so arbeitet Möde heraus, durchaus die Möglichkeit, sich durch kompetente externe Dienstleister und spezialisierte Institutionen unterstützen zu lassen. 39 Neben dieser Kompetenzdimension, so sein Fazit, müsse der Sendungsauftrag der getauften Christen durch die Liturgie regelmäßig bestärkt und die Gemeindemitglieder zur Wahrnehmung eines aktiven Sendungsbewusstseins motiviert werden. 40 Hierfür ist jedoch ein authentisches und gelebtes communio-Gefühl, basierend auf einem gegenseitigen Interesse am anderen, vonnöten. Denn nur durch persönliche Beziehung innerhalb der Gemeinde kann am Ende eine Beziehung zur Kirche und ihrem Sendungsauftrag erwachsen, für den ein Gläubiger bereit ist, authentisch einzustehen und motiviert zu bezeugen. Schlussendlich ist Glaube gelebte Authentizität im Sinne eines unverfälschten und nicht als aufgesetzt wahrgenommenen, echten und persönlichen Zeugnisses für das Reich Gottes. Die in den vorangegangenen Überlegungen angesprochenen, angebotsbezogenen Ausprägungsdimensionen der Kompetenz, Qualität und Authentizität sind ihrerseits auch alle im Bereich des Tourismus präsent und spielen dort eine kaum minder wichtige Rolle als im bereits aufgezeigten Gemeindekontext. Die auf Kompetenz der involvierten Leistungsträger beruhende Servicequalität wird im Tourismus als einer von zwei zentralen Elementen eines wettbewerbsfähigen Angebots angesehen. So ist diese als Gastlichkeit bezeichnete Qualität der angebotenen Dienstleistungen – in Abgrenzung zu der im folgenden Abschnitt (3.4) thematisierten Gastfreundschaft – insbesondere für die Zufriedenheit der Gäste relevant.41 Qualitativ attraktive Angebote werden im Tourismus – an dieser Stelle sei an Erwin Mödes Argument verwiesen, spezialisierte Dienstleister gezielt zu involvieren und zweckbezogen bei der Angebotsgestaltung auf diese zurückzugreifen – von einer Vielzahl unterschiedlicher Anbieter erbracht, die sich in der Regel auf einen Servicebestandteil der touristischen Dienstleistungskette fokussiert haben. Orchestriert und auf ein strategisches Destinationsentwicklungsziel durch die Dachorganisation der DMO hin ausgerichtet, steht der Tourismus exemplarisch für ein von vielen spezialisierten, unabhängigen, im jeweiligen Destinationskontext jedoch in einem Wirkungsverbund stehenden Dienstleistern erbrachtes, kohärentes Angebot.
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Vgl. ebd., 291. Vgl. ebd. Vgl. Pechlaner, Harald / Raich, Frieda, Gastfreundschaft und Gastlichkeit im Tourismus. Kundenzufriedenheit und -bindung mit Hospitality Management, Berlin 2007; Pechlaner, Harald / Nordhorn, Christian / Volgger, Michael, Flucht, Migration und Tourismus – Perspektiven einer „New Hospitality“?, in: Pechlaner, Harald / Volgger, Michael (Hrsg.), Die Gesellschaft auf Reisen – Eine Reise in die Gesellschaft, Wiesbaden 2017, 207-220.
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Neben der rein kompetenzbegründeten Qualität des Angebots spielt zusätzlich der Aspekt der Authentizität eine zunehmend wichtige Rolle im Tourismus. 42 Die Bedeutung wird umso präsenter, wenn man Phänomene wie AirBnB, bei denen der Tourist versucht, nach Möglichkeit wie ein Einheimischer bei Einheimischen zu leben sowie von diesen lokale Besonderheiten, Bräuche, Orte und die art de vivre kennenzulernen, untersucht oder Authentizitätsaspekte wie Kultur, Kulinarik, Lebensweise oder ähnliches als wesentliche Merkmale eines touristischen Angebots begreift.43 So wird der Wunsch nach authentischem Erleben, manifestiert durch die gewünschte Teilnahme am Leben der gastgebenden Gesellschaft, immer häufiger von Touristen geäußert – auch wenn er bisweilen auf den Widerstand der Bevölkerung vor Ort stößt, die sich mit diesem Phänomen überfordert fühlt und dementsprechend negative Auswirkungen auf die Gastfreundschaft provoziert (vgl. Abschnitt 3.4). Zusammengefasst ist festzustellen, dass die Kombination aus auf Kompetenz beruhender Qualität einerseits und Authentizität andererseits wesentliche Erfolgsfaktoren für das touristische Dienstleistungsbündel darstellen. Dabei ist sowohl das auf Gastlichkeit ausgerichtete Zusammenspiel von DMO und Dienstleistern vor Ort als auch die Gastfreundschaft der Dienstleister und der Bevölkerung essentiell. Aus diesen Parallelen zwischen pastoralem und touristischem Angebot lässt sich zunächst die Herausforderung für die kirchlichen Strukturen ableiten, sich auf die Servicequalität des eigenen Dienstleistungskanons zu konzentrieren. Hierbei sollte nicht davor zurückgeschreckt werden, auch externe Akteure und Dienstleister mit in die Angebotserstellung zu involvieren. Da auch im Tourismus die für die geographisch-determinierte Organisationseinheit der Destination zuständige DMO notwendigen Einfluss auf die Akteure nimmt und deren Tätigkeiten auf die vorgegebene Strategie hin ausrichtet, ist es eine Überlegung, diese Aufgabenverteilung auch in kirchliche Strukturen zu übertragen. Dabei sollten die Aufgaben entsprechend der jeweiligen individuell-persönlichen oder kollektiv-institutionellen Stärken zugewiesen werden, sodass nicht notwendigerweise ein Pfarrer oder Dechant die Aufgabe der DMO übernehmen sollte, sondern vielmehr ein in operativen und administrativen Tätigkeiten ausgebildeter Laie in der Funktion eines Gemeindemanagers. Neben diesem rein kompetenzzentrierenden Qualitätsaspekt gilt es in der Gemeinde jedoch zugleich, Authentizität zu schaffen und aufrecht zu erhalten, um somit als communio dauerhaft anziehend zu wirken und dem Sendungsauftrag
42
Vgl. Kagermeier, Andreas / Köller, Julia / Stors, Natalie, Share Economy im Tourismus. Zwischen pragmatischen Motiven und der Suche nach authentischen Erlebnissen, in: Zeitschrift für Tourismuswissenschaft, Bd. 7, Nr. 2, 2015, 117-146; Zehrer, Anita, Authentizität – Inszenierung. Die subjektive Wahrnehmung des touristischen Produkts, in: Egger, Roman / Herdin, Thomas (Hrsg.), Tourismus im Spannungsfeld von Polaritäten, Wien / Berlin 2010, 259-273. 43 Vgl. Dolnicar, Sara (Hrsg.), Peer-to-peer accommodation networks. Pushing the boundaries. Wolvercote, UK 2018; Kagermeier et al. (wie Anm. 42); Schäfer, Robert, Tourismus und Authentizität. Zur gesellschaftlichen Organisation von Außeralltäglichkeiten, Bielefeld 2015.
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nachkommen zu können.44 Für Tourismus und Kirche gilt letztendlich gleichermaßen: Wer es versteht, ein attraktives Angebot, welches nicht nur dem eigenen Selbstverständnis, sondern auch dem Fremdverständnis entspricht, anzubieten, hat eine Chance auf langfristige Nachfrage und Erfolg. Hinzu kommt zusätzlich die Bedeutung der Beziehungsdimension, der sich im folgenden Abschnitt zugewandt wird.
3.4 Die Gastfreundschaft, Aufnahme und Integrationskraft einer sozialen Gruppe Der letzte gedankliche Ansatzpunkt, der den im vorangegangenen Abschnitt eingeführten Gedanken einer attraktiven Angebotsgestaltung aufgreift, wird in diesem Abschnitt um Überlegungen bezüglich der Beziehungskomponente des Dienstleistungsangebots erweitert. Wiederum ausgehend von der pastoraltheologischen Analyse Erwin Mödes lässt sich dieser der Ruf nach einem partizipativen, auf freiwilliger Bereitschaft beruhenden Ansatz entnehmen. So schreibt er in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung der pastoralen Praxis bei den Menschen in der Pfarrei: „Eine […] pastorale communio lässt sich nicht zentral planen und koordinieren, sondern bedarf bereitwilliger und aufgeschlossener Menschen vor Ort, die einen sensus für die Bildung einer communio haben und diesen Weg auch bereitwillig vorangehen wollen.“45 Freiwilligkeit und Bereitschaft, ausgehend vom pastoralen Sendungsauftrag, verstehen sich somit als essentielle Vorbedingungen, sowohl für einen funktionierenden Aufbau als auch für das langfristige Bestehen einer Gemeinde. Dass eine solche communio jedoch nicht statisch wie die ihr übergeordnete hierarchisch-institutionalisierte Struktur sein muss – oder gar sein darf –, leitet sich aus den eingangs aufgezeigten Veränderungen der heutigen Lebenswirklichkeit ab. Viele Gläubige unterliegen im Arbeits- und Privatleben vielfältigen Mobilitätsmustern, durch die sie – sofern ein regelmäßiger Gottesdienstbesuch praktiziert wird – zu Gast in anderen Pfarreien und Gemeinden sind. Damit auch in solchen Fällen das Gefühl gelebter communio spürbar wird, ist eine bereitwillige und offenherzige Aufnahme sowie eine Bereitschaft zu vertikaler, interpersonaler Nähe (vgl. Abschnitt 3.1) durch die besuchte Gemeinde notwendig. 46 Dass eine unmittelbare Akzeptanz Fremder nicht in einer häufig durch eine eigene Identität geprägten community selbstverständlich ist, zeigt sich nicht nur im Alltag jenseits kirchlichen Gemeindelebens. Auch kirchenintern stellt die Aufnahme Externer bisweilen eine Herausforderung dar, weshalb schon der heilige Benedikt in seiner Ordensregel der Aufnahme von Gästen – gemäß dem Sprichwort „Gast im Haus, Gott im Haus“ – 44
Vgl. zum Thema der Wettbewerbsfähigkeit von Gemeinden und Pfarreien auch: Hertel, Eugen, Konzeption eines Gemeindemanagement-Modells zur Bewältigung von Komplexität. Ein systematischer Impuls aus freikirchlicher Perspektive, Berlin 2016; Schmid, Hans, Kirchen im Wettbewerb – Kirchen mit Zukunft. Praktische Überlegungen eines Aussenseiters, Wien 2007. 45 Möde / Kießig (wie Anm. 2), 291. 46 Vgl. ebd., 292, unter Verweis auf: Marx, Reinhard (wie Anm. 18).
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und insbesondere jenen gleichen Glaubens einen bedeutenden Stellenwert zuschreibt.47 Die auf kurze Zeit ausgelegte gastfreundschaftliche Aufnahme macht in der communio auch eine auf lange Frist betrachtete Integration des von außen Kommenden in die Pfarrgemeinschaft notwendig. Da zudem immer auch Mitglieder eine Gemeinde verlassen werden, ist eine Durchlässigkeit im sozialen Gefüge der communio vonnöten, die zwar zunächst dem menschlichen Bedürfnis nach Konstanz widerstrebt, 48 aber sowohl die Gemeinschaft auf lange Sicht lebendig erhält als auch erst dem Glauben die zwischenmenschliche Beziehungsdimension verleiht, auf der der Auftrag Jesu „Liebe deinen Nächsten“ beruht. Auch im Tourismus ist die mit der Aufnahme von Gästen verbundene Dimension zwischenmenschlicher Beziehung essentieller Bestandteil eines wettbewerbsfähigen Angebotes. Erst die als Gastfreundschaft bezeichnete Beziehungsebene führt gemeinsam mit der in Abschnitt 3.3 behandelten Servicedimension der Gastlichkeit zu einem attraktiven, Nachfrage generierenden Produkt, welches sich zur (langfristigen) Kundenbindung eignet. 49 Mag auch die objektiv messbare Dienstleistungsqualität noch so gut sein; wenn die emotionale Komponente in der Gastgeber-Gast-Beziehung nicht spürbar wird, leidet die subjektiv gefühlte sowie erlebte Qualität. Somit nimmt die erlebte Gastfreundschaft und Herzlichkeit im Urlaub – sei es beim Empfang im Hotel an der Rezeption oder beim Einholen der ersten Informationen in der Tourist Information – einen wichtigen Stellenwert beim Erleben des touristischen Gesamtproduktes ein. Nicht ausschließlich, aber auch aus dem Grund einer bereits begrifflichen und mentalen Abgrenzung von den ankommenden Gästen, wurde im deutschen Sprachraum in den 1980er Jahren der bis dato vorherrschende Begriff „Fremdenverkehr“ zunehmend durch das Wort „Tourismus“ ersetzt.50 Allen fremdenfreundlichen Bestrebungen in der Tourismusbranche zum Trotz haben negative bis ins offen Oppositionelle hineingehende Erfahrungen, beispielsweise in letzter Zeit insbesondere aufgrund des Verhaltens der Bürger Barcelonas, Schlagzeilen gemacht51 und sich als Folge des Phänomens „overtourism“ 52 im tourismuswissenschaftlichen Kontext sowie darüber hinaus etabliert. 47 48 49 50
51
52
Vgl. S. Benedicti Regula, Caput LIII, §§ 1-2, online unter: http://www.intratext.com/IXT/LAT001 1/_P1I.HTM [Zuletzt aufgerufen am 14. November 2018]. Vgl. Bukowski, William M. / Laursen, Brett / Rubin, Kenneth H., Handbook of peer interactions, relationships, and groups, New York / London 22018. Vgl. Pechlaner / Raich (wie Anm. 41); Pechlaner et al. (wie Anm. 41). Vgl. Freyer, Walter, Tourismus. Einführung in die Fremdenverkehrsökonomie, München 102011; Schlenke, Ulrich / Stewig, Reinhard, Endogener Tourismus als Gradmesser des Industrialisierungsprozesses in Industrie- und Entwicklungsländern, in: Erdkunde, Bd. 37, Nr. 2, 1983, 137-145. Vgl. Martins, Marco, Tourism planning and tourismphobia: An analysis of the strategic tourism plan of Barcelona 2010-2015. MPRA Paper Nr. 88203 (2018), online unter: https://mpra.ub.unimuenchen.de/88203/ [Zuletzt aufgerufen am 14. November 2018]. Vgl. Martín Martín, José María / Guaita Martínez, Jose Manuel / Salinas Fernández, José Antonio, An analysis of the factors behind the citizen’s attitude of rejection towards tourism in a context of overtourism and economic dependence on this activity, in: Sustainability, Bd. 10, Nr. 8, 2018, Beitrag 2851, online unter: https://doi.org/10.3390/su10082851 [Zuletzt aufgerufen am 14. November 2018]; Seraphin, Hugues / Sheeran, Paul / Pilato, Manuela, Over-tourism and the fall of Venice as a destination, in: Journal of Destination Marketing & Management, Bd. 9, 2018, 374-376.
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Wenn jedoch in Destinationen die Beziehungsebene zwischen Touristen und einheimischer community aufgrund von Überforderung der lokalen Bevölkerung mit der quantitativen Menge an Besuchern einerseits und der nicht immer sich als Gast verhaltenden Besucher andererseits in der Praxis herausgefordert wird, sehen sich Kirchengemeinden solchen extremen sozialen Spannungen in aller Regel nicht ausgesetzt. Sowohl die zeitlich begrenzte Aufnahme wie auch die dauerhafte Integration weniger Personen in einen durch Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Glaubenspraxis geprägten sozialen Kontext fällt – so lassen die bislang wenigen wissenschaftlichen Studien in diesem Bereich vermuten 53 – einer in sich homogenen Gruppe zumeist leichter. Konnten also bereits zuvor einige unterschiedlich stark ausgeprägte Parallelen in den Bereichen der geographischen und strukturellen Verortung sowie der Angebotsgestaltung aufgezeigt werden, ist Gastfreundschaft wahrscheinlich das wesentliche, zwischenmenschliche Merkmal, das Glaube und Tourismus verbindet. In beiden Fällen gilt es nämlich, über das reine „Dienst leisten“ hinauszugehen, hin zu einem zwischenmenschlichen Verhältnis des Dienens aus dem Wunsch, dem Mitmenschen etwas Gutes zu tun. Die Herausforderung der Pastoral liegt in Zeiten sich verändernden Mobilitätsverhaltens von Gläubigen vor allem im Aspekt der, gleich ob zeitweiligen bis unbefristeten, aber jedenfalls herzlichen Aufnahme der zur Gemeinschaft Hinzukommenden, die communio im Glauben spürbar werden lässt. Glaube kann somit wahrlich Heimat geben – egal wo und für wie lange. Zudem hilft die Beziehungsebene des Glaubens die Abschottung einer pfarrgemeindlichen community zu überwinden und sie im Sinne des pastoralen Sendungsauftrags in Richtung einer communio allen Gläubigen zu öffnen. Auf diese Weise kann nicht nur dem Sendungs- und Verkündigungsauftrag ein menschenfreundliches Gesicht gegeben werden, sondern zusätzlich kann die Attraktivität des pastoralen Angebots sowie die Bereitschaft, ein solches wahrzunehmen, erhöht werden.
4. Zusammenfassende und integrierende Betrachtung Ausgehend von den Überlegungen Erwin Mödes über die Zukunft der Pastoral in geographisch-administrativer Perspektive sowie praktischer Anbietersicht, wurden zuvor Parallelen zwischen Pastoraltheologie und Tourismus aufgezeigt. Dieser Gedanke kam auf, da sich aus der Perspektive des Autors gerade aufgrund der existenten Gemeinsamkeiten mögliche Ansätze aus touristischer Perspektive zur Herangehensweise an die in der Pastoral bestehenden Herausforderungen ableiten lassen können. Nachdem zuvor die vier Ebenen der administrativen und institutio53
Vgl. Ellison, Christopher G. / George, Linda K., Religious involvement, social ties, and social support in a southeastern community, in: Journal for the Scientific Study of Religion, Bd. 33, Nr. 1, 1994, 46-61; Putnam, Robert D., E Pluribus Unum: Diversity and community in the twenty-first century. The 2006 Johan Skytte Prize Lecture, in: Scandinavian Political Studies, Bd. 30, Nr. 2, 2007, 137-174.
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nellen Ausgangsbasis (1), dem menschenzentrierenden Angebot (2), der auf Kompetenz und Qualität beruhenden Servicequalität (3) sowie der auf zwischenmenschlicher Fürsorge für das Wohl des anderen basierenden Beziehungsqualität (4) in den vorangegangenen Kapiteln separat betrachtet wurden, ist es nun an der Zeit, eine gleichwohl zusammenfassende wie integrierende Sichtweise einzunehmen. Ebenso wie die vier singulär angesprochenen Aspekte in touristischer wie pastoraler Praxis untrennbar miteinander verbunden sind, muss auch in der theoretischen Betrachtung eine Brücke zwischen diesen interdependenten, sowohl die horizontale als auch die vertikale Dimension umfassenden Themen geschlagen werden. Hierzu werden in der nachfolgenden Reflektion die zentralen Herausforderungen im Bereich der pastoralen Praxis, für die es effektive und bewährte Parallelansätze im Tourismus gibt, resümiert und kritisch präsentiert. In diesem Fall wird jedoch – im Gegensatz zum Vorgehen in Abschnitt 3 – vom eigentlichen Kernanliegen, dem Dienst am Menschen, ausgehend argumentiert, um den Fokus der Überlegungen in einer alternativen sachlogischen Reihenfolge darzustellen. Ausgehend von der auf den Menschen und dessen Wohl ausgerichteten Dienstleistung lässt sich das pastorale Angebot gut durch die beiden für das touristische Leistungsangebot ausschlaggebenden Faktoren der Service- und Beziehungsqualität charakterisieren. Während die Servicequalität aus der zuvor abgeleiteten, kompetenzzentrierenden „Arbeitsteilung“ abgeleitet werden kann und für eine grundsätzliche und objektiv nachvollziehbare Zufriedenheit mit dem Angebot sorgen soll, ist die Beziehungsqualität für die subjektive, auf zwischenmenschlichen Beziehungen beruhende Erfahrungsdimension ausschlaggebend. Von besonderem Stellenwert nehmen seit jüngster Zeit die Faktoren der Authentizität einerseits sowie einer herzlichen Willkommens- und Aufnahmekultur andererseits ein. Da pastorale Praxis insbesondere in der vertikalen, über bloße soziale Interaktionen hinausgehenden, anthropo-zentrierenden Dimension stattfindet, sollte der Mensch – theologisch gesehen als Ebenbild Gottes, ökonomisch gesprochen als Adressat des Serviceangebots – wieder in den Mittelpunkt des Handelns und Dienens gestellt werden. Hierzu bietet sich für kirchliche Gemeinden beispielsweise das touristische Konzept der Rezeption oder der Tourist Information an. Beide Institutionen haben gemein, dass sie als erste Anlaufstelle für neu ankommende Gäste eines Hotels, respektive einer Destination dienen und unter anderem drei zentrale Funktionen erfüllen: Während sie erstens als Zugang zur besuchten sozialen Entität dienen und den ersten persönlichen Kontakt zwischen Gast und Gastgeber herstellen, sind sie zweitens ein Ort, an den sich jederzeit mit Fragen oder Anliegen gewendet werden kann, da das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Urlauber zentrale Aufgaben sind. Drittens weisen sie eine Türöffner- und Vermittlerfunktion für die repräsentierte community auf, wodurch ein Anschluss Außenstehender an das soziale Gefüge ermöglicht wird. Wurde sich eingehend mit der konkreten Ausgestaltung des Angebots auseinandergesetzt, begegnet man der Herausforderung, das Servicebündel kompetent, kohärent einer Vielzahl an (potentiellen) Nutzern bereitzustellen und anzubieten.
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Um das Dienstleistungsangebot zugleich möglichst flächendeckend als auch ansprechend bereitstellen zu können, sollte vor dem Hintergrund eines wachsenden Personalmangels im geistlichen Dienst und im Sinne einer Kompetenzschärfung auf spezialisierte Dienstleister zurückgegriffen werden. Diese können beispielsweise administrative und operative Tätigkeiten im täglichen „Gemeindebetrieb“ übernehmen, Geistliche in dieser Hinsicht entlasten und ihnen somit Zeit für nur durch sie zu vollziehende pastorale Grundvollzüge einräumen. Die Summe qualitativ hochwertiger Einzelerfahrungen macht dabei in der Gemeinde ebenso wie im Tourismus das Gesamtbild aus. Der seelsorglichen Organisationseinheit kann dabei, ähnlich einer touristischen DMO, eine vielmehr orchestrierende und sich auf die eigenen Kernkompetenzen konzentrierende Funktion zukommen. Letztlich stellt sich die Frage, welcher organisatorischer (Infra-)Strukturen und Institutionen es bedarf, ein solches Angebot in der Fläche auf Dauer bereitstellen zu können. Zwar sollte eine geographische Verankerung allein aufgrund planerischer Aspekte der Steuerung sowie der Sicherstellung eines flächendeckenden Angebotes stets einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Zugleich sollte man sich aber bewusst sein, dass sich Menschen nur bedingt an vorgegebene räumliche Abgrenzungen und Strukturen halten, sich zwischen verschiedenen organisatorischen Raumeinheiten bewegen und eigene Raumkategorien konstruieren. Eine auf geographisch-hierarchischen Strukturen basierende Planung sollte deshalb – auch in Hinblick auf sich zukünftig verschiebende Nachfragemuster – mit einer gewissen Flexibilität in Hinblick auf die inhaltliche und lokale Schwerpunktsetzung, auch abhängig von der Verfügbarkeit kompetenter Dienstleister, erfolgen. Die durch den Historiker Alfred Chandler geprägte, wenngleich in den Wirtschaftswissenschaften kontrovers diskutierte, organisationstheoretische These structure follows strategy54 bietet sich unter den umrissenen Bedingungen im Fall kirchlichhierarchischer Strukturen an. Gemeinsam mit den im Laufe dieses Beitrags artikulierten Überlegungen bieten es diese drei konkludierenden, den gedanklichen Kreis schließenden Gedanken Ansatzpunkte für die praktische Ausgestaltung der Pastoral in räumlichen Strukturen und sozial konstituierter communio. Die Relevanz transdisziplinärer Ansätze, die Erwin Möde durch die Verbindung von pastoraltheologischer Ebene mit streng quantitativen Analyseverfahren und in der Organisationstheorie zu verortenden Herleitungen aufzeigt, kann, darf und sollte unter Verweis auf die Potentiale theoretischer Übertragbarkeit sowie praktischer Anwendbarkeit als nicht zu gering erachtet werden. Der sich exemplarisch Mustern des Tourismus bedienende Beitrag möchte sich als prototypisch für eine womöglich unerschöpfliche Vielfalt an Zugängen zu einer zukunftsorientierten Pastoraltheologie verstehen. Solange eine solche fachliche Öffnung aus Nächstenliebe zum und Dienst am Menschen gedacht wird, wird sie sich stets gut begründen lassen. 54
Chandler, Alfred D. Jr., Strategy and structure: Chapters in the history of the American industrial enterprise, Cambridge MA 1962.
Eingeladen zum Fest des Glaubens und Introibo ad Altare Dei
Der pastorale Dienst durch die Liturgie der Kirche*
Sebastian Kießig Die Liturgie der katholischen Kirche bietet viele facettenreiche Details als auch grundsätzliche Thematiken1, die im innerkirchlichen Diskurs wie auch aus paganen wissenschaftlichen Perspektiven fachlich verdichtet, ganz alltäglich aber auch polemisch besprochen werden. Gleichsam diese mit der Anbetung Gottes eine theozentrische Dimension hat, dient Gott in liturgischen Feiern auch dem Menschen – Liturgie hat somit auch einen anthropologischen Charakter. Ausdruck von Aspekten dieser Anthropologie ist das stetige und sukzessive Wandeln von liturgischen Riten und Formen, der variierenden Gestalt liturgischer Feiern und der abwechselnden Impulse durch das Kirchenjahr. Das Ziel dieses Beitrages ist es, pastoraltheologische Überlegungen zum Zugang dieses anthropologischen Charakters der Liturgie zu besprechen, damit der pastoraltheologische Grundvollzug der λειτουργία, der Anbetung Gottes durch sein Volk und dem Wirken Gottes an seinem Volk auch in der heutigen Zeit dienlich sein kann. Methodisch ist vorab anzumerken, dass der Begriff der Liturgie kurz erläutert und im praktischen Zugang aus Gründen der exemplarischen Anschaulichkeit eingegrenzt werden soll. Der Begriff der Liturgie leitet sich vom griechischen λειτουργία ab, dem die etymologischen Wörter ἔργον (Werk) und λαός (Volk) zugrunde liegen. Seit dem zweiten Jahrhundert vor Christus wird dieser Begriff in kultischen Zusammenhängen für den Dienst am Jerusalemer Tempel verwendet und ging sodann auch für unterschiedliche kultische Dienste in das Neue Testament ein. Dem heutigen Verständnis von Liturgie als einer christlichen gottesdienstlichen Versammlung kommt dabei das Verständnis in Apg 13,2 am nächsten, in der es heißt: „[…] als sie zu Ehren des Herrn Gottesdienst feierten [λειτουρ* 1
Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag, der am 07. Mai 2018 bei e.v. KDStV Langobardia im CV zu Bayreuth gehalten wurde. Für die Drucklegung wurde dieser vielseitig ergänzt. Vgl. Möde, Erwin, Sine musica nulla religio: Atem, Sprache und Gesang als Medien religiöser Primärerfahrung, in: Wester, Simeon / Wallner, Karl / Krutzler, Martin (Hrsg.), Die Mystik des gregorianischen Chorals, Heimbach 2007, 59-81. Erwin Möde beschäftigt sich im vorliegenden Aufsatz mit Fragen religiöser Primärerfahrung im gesellschaftlich-(post-)säkularen Umfeld. Er analysiert, dass Aspekte anthropologischen religiösen Zugangs, wie Leibhaftigkeit und Liebe, gegenwärtig vor allem in der Liturgie – und speziell der Kirchenmusik – erfahren werden können.
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γούντων] und fasteten.“ Dieses Verständnis setzte sich in nachapostolischer Zeit durch und ist der Wesenskern des Verständnisses von Liturgie, der bis heute in vielfach abgewandelter Form vorherrschend ist.2 Die Liturgie als solche bezeichnet folglich alle gottesdienstlichen Versammlungen.3 In der Ausführung des Aufsatzes zur Veranschaulichung herangezogene Beispiele werden aus Gründen der Verständlichkeit auf eine einzige Form von gottesdienstlicher Versammlung beschränkt: der Heiligen Messe bzw. der Feier der Eucharistie. Methodisch ist ferner anzumerken, dass es ein Anliegen ist, möglichst anschauliche Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zu wählen, ist doch die Liturgie als Ganze ein organisches Gefüge, das nicht in einzelnen Jahrzehnten oder Jahrhunderten gedacht werden kann, sondern stets von der Überlieferung der Heiligen Schrift und seiner reichen Tradition anzugehen ist. Somit werden einige Aspekte aus den verschiedenen Jahrhunderten besprochen, um sodann zu den Entwicklungen im 20. Jahrhundert, zum pastoralen Verständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils und pastoralen wie liturgischen Ringen in der Nachkonzilszeit bis zur Gegenwart zu kommen.
1. Liturgie war seit jeher Teil des aktiven Ringens der Kirche Im Jerusalemer Abendmahlssaal, dessen Geschehen in jeder Feier der Eucharistie und in besonderer Weise am Abend des Gründonnerstags vergegenwärtigt wird, gab Jesus Christus seinen Jüngern – und durch diese allen nachfolgenden Christen, also auch heute – den Auftrag: „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ (Lk 22,19 / 1 Kor 11,24) Mit dem „dies“ ist das Brechen des Brotes nach dem Dankgebet gemeint, das er als Leib für „euch hingegeben“ hat. Mit dem Auftrag Jesu Christi zogen die zwölf Apostel in ihre unterschiedlichen geographischen Wirkbereiche und interpretierten diesen biblischen Auftrag vielfältig. Dies lässt sich nicht nur anhand der bis heute existierenden unterschiedlichen 22 Ritusfamilien unter dem Dach der katholischen Kirche erahnen4; aus Überlieferungen der Heiligen Schrift ist bekannt, dass über Aspekte dieser Gedächtnisfeier gerungen wurde. Die neutestamentlich überlieferten vielfachen paulinischen Mahnungen um die Einheit der Gemeinden (vgl. Röm 15,1-13), setzten sich auch in korrigierenden Hinweisen für die Feier des Herrenmahls fort:
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Vgl. Gerhards, Albert / Kranemann, Benedikt, Einführung in die Liturgiewissenschaft, Darmstadt 3 2013, 16. Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution Sacrosanctum Concilium, Nr. 13, in: AAS 56 (1964), 97-138, hier 103. Vgl. Bieritz, Karl-Heinrich, Liturgik, Berlin / New York 2004, 336-342.
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„Wenn ich schon Anweisungen gebe: Das kann ich nicht loben, dass ihr nicht mehr zu eurem Nutzen, sondern zu eurem Schaden zusammenkommt. […] Was ihr bei euren Zusammenkünften tut, ist keine Feier des Herrenmahls mehr; denn jeder verzehrt sogleich seine Speisen, und dann hungert der eine, während der andere schon betrunken ist. Könnt ihr denn nicht zu Hause essen und trinken? Oder verachtet ihr die Kirche Gottes? Wollt ihr jene demütigen, die nichts haben?“ (1 Kor 11,17.20-22) Anhand der massiven Vorwürfe des Apostels Paulus an die Gemeinde von Korinth – die Exegeten verorten die Entstehung des Textes auf das Jahr 50-51 n. Chr. –, sich auf das Herrenmahl vorzubereiten, ist ersichtlich, dass es bereits wenige Jahre, konkret knapp zwanzig, nachdem Jesus Christus den Auftrag zur Fortsetzung des Herrenmahls gegeben hat, massivste Auseinandersetzung um die Feier des kultischen Herrenmahls im Kontext eines weltlichen Mahles gab. Wie viel Alkohol sollte getrunken werden? Wie gehen arme und reiche Menschen beim Mahl miteinander um? Und im Kern: Unter welchen Voraussetzungen hat eine Mahlfeier stattzufinden? Die Überlegungen und Entwicklungen setzten sich in unterschiedlichen Aspekten fort, einige wenige seien exemplarisch genannt: Um die Jahrhundertwende vom ersten zum zweiten Jahrhundert entstand die syrische Didache, die für die lokalen christlichen Gemeinden eine Kirchenordnung erließ.5 Mit dem beginnenden vierten Jahrhundert, als die Kirche infolge der Konstantinischen Wende und des Toleranzediktes von Mailand zur Staatsreligion erhoben wurde, folgte eine weitere signifikante Veränderung in der Praxis des Herrenmahls – die Einführung des wöchentlichen Rhythmus für die Gemeinde, das Herrenmahl zu begehen. Seit dem frühen vierten Jahrhundert bildet also die Sonntagseucharistie den Mittelpunkt des Glaubenslebens der Christen, wobei heute bekannte Phänomene auch schon im vierten Jahrhundert verbreitet waren. So urteilte beispielsweise die Provinzialsynode von Elvira im Jahr 306, dass diejenigen Christen, die dreimal hintereinander nicht zur Sonntagseucharistie ihrer Gemeinde kamen, vom Empfang der eucharistischen Gaben auf Zeit ausgeschlossen wurden.6 Im fünften Jahrhundert folgte ein weiterer Schritt in der Entwicklung der Liturgie, der bis zum heutigen Tag eine hohe Relevanz besitzt: Mit dem Sacramentarium Veronense wurde erstmals die Liturgie der Messfeier verschriftlicht bzw. die Texte der unterschiedlichen Sonntage und Festtage in einer Sammlung zusammengeführt, so dass die Texte wiederverwandt werden konnten. Dieser Schritt galt einerseits als organisches Wachstum, d. h. als ein aufeinander aufbauendes ver5
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Vgl. Schöllgen, Gregor, Art. Didache, in: LThK 3, Freiburg i. Br. 31995, Sp. 207f. „Die früheste Kirchenordnung, gewöhnlich zu den Apostolischen Vätern gezählt, behandelt Probleme des Gemeindelebens, besonders Katechese, Liturgie, Charismen und Ämter, Buße.“ Die Kapitel 9,1-10,7 beschäftigen sich dabei vordergründig mit den „Eucharistie“-Gebeten, wobei umstritten ist, ob diese zu Eucharistie- oder Agapefeiern gehören. Vgl. Bärsch, Jürgen, Kleine Geschichte des christlichen Gottesdienstes, Regensburg 2015, 35.
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flechtendes Entstehen der Liturgie auseinander heraus. Andererseits galten die Verschriftlichung der Liturgie und die damit einsetzende Vereinheitlichung liturgischer Gebete als eine Konstituierung, die ihrerseits kaum verglichen werden kann. Der Liturgiewissenschaftler Josef Andreas Jungmann konstatiert: „Es ist den zwei Jahrtausenden der Kirchengeschichte an keiner Stelle ein größerer Umbruch sowohl im religiösen Denken wie in den entsprechenden Einrichtungen erfolgt, als es in den fünf Jahrhunderten zwischen dem Ausgang der Patristik und dem Beginn der Scholastik der Fall ist.“7 Die Einschätzung Jungmanns aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive unterstreicht die hohe Bedeutung, welche das Sacramentarium Veronense und die zu jener Zeit entwickelten liturgischen Überlieferungen für die nachfolgenden Jahrhunderte bis zum heutigen Tage haben Ein weiterer wichtiger Meilenstein besonders für die Liturgie der Messfeier waren die Lehrentscheidungen des IV. Laterankonzils im Jahre 1215. Nach zwei intensiven Streitigkeiten, dem sog. ersten und zweiten Abendmahlsstreit, wurde die lehramtsgemäße weltkirchliche Grundlage für das heutige Eucharistieverständnis gelegt, das zudem durch Transsubstantiationstheorie anschlussfähig an den philosophischen Diskurs ist. Das Konzil hierzu im Wortlaut: „Es gibt aber eine allgemeine Kirche der Gläubigen, außerhalb derer überhaupt keiner gerettet wird, in der der Priester selbst zugleich das Opfer ist, Jesus Christus, dessen Leib und Blut im Sakrament des Altars unter den Gestalten von Brot und Wein wahrhaft enthalten sind, wenn durch göttliche Macht das Brot in den Leib und der Wein in das Blut wesenhaft verwandelt sind, damit wir selbst zur Vollendung des Geheimnisses der Einheit von dem Seinigen empfangen, was er selbst von dem Unsrigen empfangen hat. Und dieses Sakrament kann freilich nur ein Priester vollziehen, der gültig geweiht wurde entsprechend den Schlüsseln der Kirche, die Jesus Christus selbst den Aposteln und ihren Nachfolgern gewährte.“8 Mit der Festlegung dessen, dass Eucharistie die wahrhafte Wesensverwandlung von Brot in den Leib und Wein in das Blut Christi bedeutet, zudem diese nur von einem gültig geweihten Priester vorgenommen werden kann, unterstreicht das Konzil die bis dato vielfach praktizierte Form des Feierns der Eucharistie, klärt monastische Streitfragen zur somatischen Realpräsenz und gibt zudem der Kirche eine lehramtliche Grundlage, aufgrund derer alle nachfolgenden liturgischen Bücher entstanden sind bzw. bis heute entstehen. Für den Blick auf die liturgische Praxis kann gesagt werden, dass dieses im 13. Jahrhundert stattgefundene Konzil eine Entscheidung auf der Ebene der Glaubens7
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Vgl. Jungmann, Josef Andreas, Die Abwehr des germanischen Arianismus und der Umbruch der religiösen Kulturen im frühen Mittelalter, in: Ders., Liturgisches Erbe und pastorale Gegenwart. Studien und Vorträge, Innsbruck / Wien / München 1960, 3-86, hier 3. IV. Laterankonzil, Kap. 1: Der katholische Glaube, zitiert nach: DH 802.
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lehre konkretisierte, zugleich vergleichsweise wenig praktische Fragestellungen eine Relevanz hatten, da diese sonst ausführlicher in den Konzilsbeschluss eingegangen wären. Anhand dieser drei Beispiele – der Hl. Schrift, dem Sacramentum Veronense und dem Eucharistiedekret des IV. Laterankonzils – kann exemplarisch die Kontinuität in der Liturgieentwicklung betonen werden. Die historische Perspektive muss noch um einen weiteren Aspekt ergänzt werden. Im Laufe des organischen Wachstums der katholischen Liturgie bildeten sich zwei Ritenfamilien heraus, die der lateinischen Ritusfamilie und die des byzantinisch-orientalen Ritus‘. Während die byzantinisch-orientale Ritenfamilie bis zum heutigen Tag aus vielen verwandten Riten besteht – in der Summe geht man von 22 aus – umfasst die lateinische Ritenfamilie einen Ritus, in gegenwärtig zwei Formen. Wesensmerkmale der lateinischen Liturgie, die durchgängig auch als römische Liturgie bezeichnet wird, ist das Betonen der hierarchischen Ordnung durch Insignien, rituelle Abläufe und Ehrbezeichnungen, die Profilierung der priesterlichen Amtsgebete, ein juridischer Sprachstil in den Gebeten, das Ausweisen einer expliziten Verkündigungsdimension sowie eine bewusste Akzentuierung der Rolle der Gläubigen.9 Diese Wesensmerkmale wurden dabei weitgehend aus den römischen Papstliturgien, die im Pontifikat Gregor des Großen im fünften Jahrhundert grundgelegt wurden, entnommen. Der Ritus selbst verbreitete sich außerhalb der Stadt Roms vielfach durch Glaubensstreitigkeiten v. a. den Folgedisputationen um den Arianismus in einzelnen Gegenden und Ortskirchen, so dass die römische Liturgie als sichtbare praktische Antwort auf offene Fragen der Glaubenslehre fruchtete.10
2. Aspekte einer konkreten Liturgieentwicklung im 20. Jahrhundert Im 20. Jahrhundert ist ebenso wie in den Jahrhunderten zuvor eine sukzessive Entwicklung im Zugang der Menschen zur Liturgie festzustellen. Gemeinhin spricht man in der Theologie vom Feststellen einer Liturgischen Bewegung, die es im frühen 20. Jahrhundert gab. Diese Liturgische Bewegung ist aber keine organisierte Sammlung, kein verbandsorientierter kircheninterner Interessenverein, ebenso keine theologische Denkschule von miteinander verbundenen praktischen Theologinnen und Theologen, sondern ein Empfinden in gewissen Teilen des Volkes Gottes, die vielerorts entstanden ist. Man bezeichnete mit einigem zeitlichen Abstand, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts „an verschiedenen Orten und aus den Initiativen unterschiedlicher Personen und Gruppen in einer ganz bestimmten ge9 10
Vgl. Gerhards / Kranemann (wie Anm. 2), 75. Vgl. ebd., 78f.
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sellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Zeitsituation herausgewachsenen“ Sensibilitäten in Fragen der Liturgie als Bewegung, die im Laufe der Zeit immer weitere Kreise in der Kirche erfasste.11 In der heutigen historischen Liturgiewissenschaft wird diese Bewegung in drei Phasen unterschieden. Zunächst die Phase der Vorbereitung, die vor allem das aufkommende Bewusstsein einer liturgischen Fortentwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts umfasst, sodann eine pastorale Phase, die ab den 1920er Jahren verortet werden kann und praktische Konzepte im größeren Kontext, z. B. dem eines Katholikentages, diskutierte. Es folgte eine Phase der Erneuerung der Liturgie im Sinne einer Reform des Gottesdienstes, die mit der Promulgation der Enzyklika Mediator Dei durch Papst Pius XII. begann und bis in Phase der nachkonziliaren Herausgabe der liturgischen Bücher dauerte. Hinter dem Herausentwickeln der Liturgischen Bewegung steht eine Geisteshaltung, die sich auch in anderen Gebieten des geistlichen Lebens der Kirche ausdrückte. Bereits 1922 stellte hierzu Romano Guardini fest: „Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen.“12 Die gläubigen Christen des frühen 20. Jahrhunderts lebten folglich in einem Bewusstsein, dass das Verständnis von Kirche aktiv diskutiert wurde, folglich die theologische Genese der Kirche, der heilsgeschichtlich und eschatologische Auftrag an sie, in einem dialogischen Zueinander zum praktischen Christsein und damit dem konkreten Glaubensakt im Alltag stand. Was die Lehre formulierte und die Theologie im Traktat der Ekklesiologie rezipierte, musste im praktischen Glaubensalltag vorfindbar sein. So setzte parallel zu dem Bewusstsein, dass das praktische Bild von Kirche von jedem einzelnen Christen in seinem Lebens- und Wirkumfeld mitbestimmt wird, auch das Bewusstsein ein, dass die Liturgie durch jeden einzelnen Christen mitgetragen und im Gebet mitvollzogen werden muss. Bereits Jahrzehnte vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) prägte Papst Pius X. einen Begriff für diese aktive Teilnahme eines getauften Christen, der später programmatisch für die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil durchgeführten Reformen stand: Pius X. forderte in seinem Schreiben zur Erneuerung der Kirchenmusik Tra le sollecitudini13 vom 22. November 1903 die Gläubigen auf, „aus der tätigen Teilnahme“ (participatio actuosa) an den hochheiligen Mysterien der Kirche teilzunehmen. 14 Somit kennzeichnete bereits die erste Phase der Vorbereitung der Liturgischen Bewegung eine Änderung der Haltung vieler Christinnen und Christen zur Liturgie als auch zaghafte neue Aspekte in lehramtlichen Dokumenten. Die zweite Phase der Liturgischen Bewegung, die Phase der Erprobung pastoraler Konzepte als auch die Phase der theologischen Grundierung des Anliegens liturgischer Neuerungen unterstrich das Empfinden eines sich wandelnden Verständnisses des Christseins, was zu Beginn der Jahrhundertwende einsetzte: Odo 11 12 13 14
Vgl. Bärsch (wie Anm. 6), 157. Guardini, Romano, Vom Sinn der Kirche, Mainz 1922, 1. Vgl. Pius X., Motu proprio Tra le sollecitudini, 22. November 1903, in: ASS 36 (1903-4), 329-387. Vgl. Bärsch (wie Anm. 6), 159.
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Casel prägte für dieses Verständnis den Begriff der Mysterientheologie. Dieses theologische Verständnis drückt aus, dass gläubige Menschen einen Austausch zwischen dem Heilsbringer und Heilssuchenden suchen, den sie in einem verdichteten, d. h. performativen Geschehen in der Liturgie verorten. Wichtig ist dabei, die Annahme des Mysteriums, d. h. das Begegnen mit der Tat Jesu Christi selbst, so dass das historische Heilsgeschehen mit seinem Heilsgehalt als eschatologisches Geschehen in der Zeit vergegenwärtigt wird.15 Somit drückte Odo Casel eine theologische Variante dessen aus, was bereits zuvor intuitiv formuliert wurde: Durch die Liturgie bewusst als Einzelne/r und in Gemeinschaft mit dem Herrn in persönliche Berührung kommen und diese personale Gottesbeziehung stetig durch die Liturgie erneuern und bewusst halten. Weitere theologische Beiträge knüpfen an das Verständnis Odo Casels an, beispielsweise Romano Guardini mit seinem Werk Vom Geist der Liturgie aus dem Jahr 1918.16 Das theologische Wirken zahlreicher Liturgikerinnen und Liturgiker wurde auch auf weltkirchlicher Ebene bemerkt und vielmehr noch rezipiert. Der seinerzeitige Kardinalstaatssekretär, Luigi Kardinal Maglione, formulierte in einem Brief vom 24. Dezember 1943 an den damaligen Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Adolf Kardinal Bertram, dass die Liturgischen Bewegungen segensreich wirkten, zugleich aber auch darauf geachtet werden müsse, dass keine willkürlichen Neuerungen zugelassen werden.17 Vier Jahre später, im Jahr 1947, griff Papst Pius XII. in der später als Liturgie-Enzyklika bezeichneten Enzyklika Mediator Dei die Feststellung auf, dass die Liturgie als Vollzug des Priesteramtes Jesu Christi das Handeln des gesamten Volkes Gottes, d. h. der geweihten Kleriker als auch aller Getaufter bedarf. Die Enzyklika führt aus, dass „[…] nicht nur […] die Priester opfern, sondern auch alle Gläubigen. Denn was im Besonderen durch den Dienst der Priester vollzogen wird, das geschieht allgemein durch das Verlangen der Gläubigen. […] Das Opfer wird grundsätzlich in der Person Jesu Christi dargebracht. Deshalb ist jene Opferung, die auf die Konsekration folgt, gewissermaßen die Bezeugung, dass die ganze Kirche mit dem von Christus vollzogenen Opfer übereinstimmt und zugleich mit ihm opfert.“18 Es kann folglich gesagt werden, dass in einem knappen halben Jahrhundert die theologische Entwicklung auf mehreren Ebenen kontinuierlich in einem DreiPhasen-Schritt voranschritt, so dass einerseits im 20. Jahrhundert eine Kontinuität der Liturgischen Bewegung festgestellt werden kann, zugleich diese aber auch als Vorarbeit zu den liturgischen Impulsen des Zweiten Vatikanischen Konzils angesehen werden können. So skizzierte 1947 Erzbischof Giovanni Battista Montini, 15 16 17 18
Vgl. Warnach, Viktor, Art. Mysterientheologie, in: LThK 7, Freiburg i. Br. 21986, Sp.724-727. Vgl. Guardini, Romano, Vom Geist der Liturgie, Freiburg i. Br. 1918. Vgl. Bärsch (wie Anm. 6), 166f. Pius XII., Enzyklika Mediator Dei, 02. November 1947, in: AAS 39 (1947), 521-595, hier 548.
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der spätere Papst Paul VI., dass die Enzyklika Mediator Dei die Magna Charta der liturgischen Erneuerung der Kirche sei.19 Bereits in den 1950er Jahren kamen praktische liturgische Erneuerungen hinzu, die das liturgische Leben der Kirche fortan begleiteten. Im Jahr 1951 wurde die Ostervigil – besser bekannt als Osternacht –, die vielen Christinnen und Christen quasi als heiligste, verdichteste, anspruchsvollste und wichtigste liturgische Feier des Kirchenjahres präsent ist, wieder in die Nacht vom Karsamstag zum Ostermorgen verlegt.20 Zuvor war diese Feier vielfach als eine liturgische Feier mit geringer Beteiligung des Volkes Gottes am Karsamstagmorgen gefeiert worden. Auf diese Weise erlangte die Messfeier der Ostervigil eine Festtagsgestalt zurück, die über Jahrhunderte verloren war und bis in die heutige Zeit ganz wesentlich die Spiritualität gelebter Liturgieerfahrung zahlreicher Menschen auch hierzulande prägt.
3. Liturgie und das Zweite Vatikanische Konzil Mit diesen exemplarischen Zugängen der Kontinuität zur pastoralen und liturgischen Entwicklung kann die geistliche Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils verstanden werden. Folglich beginnt die Konstitution Sacrosanctum Concilium (Konstitution über die heilige Liturgie), die am 04. Dezember 1963 als erstes Dokument des Vaticanum secundum mit der Mehrheit von 2.147 zu vier Gegenstimmen von Papst Paul VI. promulgiert wurde, mit einer wichtigen pastoralen Zielsetzung, die stets den liturgischen Entwicklungen der Zeit dienlich war. Sie lautet: „Das Heilige Konzil hat sich zum Ziel gesetzt, das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen, die dem Wechsel unterworfenen Einrichtungen den Notwendigkeiten unseres Zeitalters besser anzupassen, zu fördern, was immer zur Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann, und zu stärken, was immer helfen kann, alle in den Schoß der Kirche zu rufen.“21 Dieser erste Artikel der Liturgiekonstitution drückt vor allen anderen Artikeln den pastoralen Dienst der Kirche in der Liturgie aus: es geht darum das Leben der Gläubigen zu vertiefen, zugleich die Einheit aller Christen zu mehren und den Ruf in den Schoß der Kirche zu erneuern. Damit ist es die erste Aufgabe jegliches Nachdenkens wie Ringens der Liturgie, die Ausrichtung auf Gott zu erneuern und jede/n einzelne/n Christin/en in liturgischen Feiern tiefer in das Geheimnis Jesus
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Vgl. Bärsch (wie Anm. 6), 167. Vgl. ebd., 168. Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution Sacrosanctum Concilium, Nr. 1, in: AAS 56 (1964), 97-138, hier 97.
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Christus einzuführen, ehe er dann sich den Herausforderungen eines jeden Zeitalters stellen kann. Mit dieser Sichtweise steht die Konstitution Sacrosanctum Concilium folglich in einem hermeneutischen Verständnis zum pastoralen Ansatz des Zweiten Vatikanischen Konzils, das von Papst Johannes XXIII., jenem Papst, der das Konzil 1959 einberief und 1962 eröffnete, knapp als pastoraltheologische Methodik skizziert wurde22: 1. Für die pastorale Praxis gilt es zunächst, die Lehre der Kirche genau zu studieren, zu rezipieren und zu verkünden. Ohne Kenntnis der Orthodoxie ist eine Antwort aus dem Leben der Kirche für das Leben der Menschen nicht möglich. 2. Im zweiten Schritt ist es die Aufgabe der Kirche – vielmehr aber noch der akademischen Theologie – die Kenntnisse des Seins und Denkens der christgläubigen Völker und der profanen Umwelt zu erschließen. Nur wer das alltägliche Leben von Menschen versteht, hat auch eine Chance, kirchliches Glaubensgut und pastoralen Glaubensvollzug, einer nichtgläubigen Umwelt zu bezeugen bzw. mit Vernunft zu bekennen. 3. Mit der Kenntnis von Orthodoxie und weltlicher Praxis kann eine Orthopraxie gelingen. Eine passgenaue Handlungsoption aus der Mitte der Kirche für die Menschen einer jeden Zeit ist eine immerwährende Herausforderung, die sicherlich auch nicht stetig und beim ersten Anlauf gelingt, jedoch – in unserer Zeit und unserer Gesellschaft sicherlich mehr als in den unmittelbar uns vorhergehenden Generationen – das Kennzeichen eines vom Geist Christi durchdrungenen und lebensbejahenden Handelns ist. Beim Blick auf die methodischen Voraussetzungen für dieses pastorale Verständnis, für eine Ekklesiopraxie, kommt man vielfach auch mit Grenzen in Berührung: Zum einen bedarf die Theologie einer hohen fachlichen und methodischen Kompetenz und Aufgeschlossenheit für sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, um in der Gegenwart einer jeden Zeit die weltlichen Prozesse nachzuvollziehen und Antworten geben zu können.23 Diese Aufgabe erfordert eine hohe Aufgeschlossenheit für eine Gesellschaft und ist – je ausgeprägter der Bruch zwischen Kultur und Evangelium ist – für die Kirche eine immense Herausforderung. Die Vertreterinnen und Vertreter der kirchlichen Lehre in Lehramt und Theologie, die dabei Brückenbauer zur Welt sind, stehen vor der Herausforderung, zugunsten des Nachvollziehens innerweltlicher Mechanismen nicht die Theologie zu vergessen.24
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Vgl. Johannes XXIII., Gaudet Mater Ecclesiae. Ansprache zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils, 11. Oktober 1962, in: AAS 54 (1962), 786-796. Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution Gaudium et spes, Nr. 62, in: AAS 58 (1966), 1025-1115, hier 1082-1084. 24 Vgl. Ratzinger, Joseph, Das II. Vatikanum und seine Bedeutung für die Religionsdidaktik, in: Richter, Klemens (Hrsg.), Das Konzil war erst der Anfang, Mainz 1991, 202f. 23
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Dieses pastorale Verständnis auf die Liturgie, die immerhin einer der drei pastoraltheologischen Grundvollzüge ist, anzuwenden, kann wie folgt verstanden werden: 1. Es gilt sich der großen hermeneutischen Tradition der Kirche bewusst zu werden, die durch alle Zeiten die Liturgie und den Gottesdienst, zunächst als die Anbetung Gottes versteht. 2. Das Volk Gottes jeder Zeit muss sich einen Zugang zur Liturgie mit jeder neuen Generation erschließen, in die Liturgie der Kirche hineinwachsen und das Paschamysterium neu ergründen. Dabei ist auf die veränderten Lebensbedingungen der Menschen zu achten. – Beispielsweise hat die gegenwärtige junge Generation dank der Digitalisierung des öffentlichen Lebens einen vollkommen neuen Sensus zur Lebensführung, der auch in den liturgischen Feiern reflektiert werden wird.25 3. Jede liturgische Neuerung bedarf einer breiten Annahme und Zustimmung durch das Volk Gottes, eines „liturgischen Könnens“ der Gläubigen und vor allem die grundsätzliche Ausrichtung auf die Mitte jeder liturgischen Feier: die Begegnung mit Jesus Christus; in der Feier der Eucharistie in Form des Paschamysteriums.26 Genannt sei, dass das Zweite Vatikanische Konzil mit diesem Verständnis des pastoralen Dienstes an die Gedanken zur Liturgie herantrat. Aus der Tradition der Kirche wurden als Hauptmotive für die liturgische Erneuerung die Gewichtung der Heiligen Schrift sowie die tätige Teilnahme aller Gläubigen am liturgischen Geschehen aufgenommen. Damit soll dem im 20. Jahrhundert gewonnenen Verständnis des aktiven Mitvollziehen des Einzelnen Rechnung getragen werden. Ziel ist es, den Dialog zwischen Gott und Mensch – Gott spricht sein Wort an die Menschen und der Mensch gibt Gott seine Ant-Wort auf seinen Anruf27 – zu intensivieren, so dass jeder einzelne ein bewussteres Christsein annimmt und aktives Glied der Gemeinschaft der Kirche ist. Die pastorale Dimension liegt beispielsweise auch der gesamten Theologie der Evangelisierung, Neuevangelisierung und des Kerygmas zugrunde, was beispielsweise durch die Dokumente dreier Päpste Evangelii nuntiandi28, Christifideles Laici29 und Evangelii gaudium30 durchgehend rezipiert wurde.
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Vgl. Kießig, Sebastian, Familie – Medien – Mensch: Positive Zugänge der katholischen Kirche zu social media, in: Polak, Grzegorz / Celary, Ireneusz (Hrsg.), Media w rodzinie w perspektywie pastoralno-spolecznej, Katowice 2018, 27-44. Vgl. AEM 35. „[…] die Gläubigen bezeugen in ihren Zurufen, dass Christus gegenwärtig ist und zu ihnen spricht.“ Vgl. SC 7 (wie Anm. 21). Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi, 08. Dezember 1975, in: AAS 68 (1976), 576. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christifideles Laici, 30. Dezember 1988, in: AAS 81 (1989), 396-431. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium, in: AAS 105 (2013), 1019-1137.
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Auf der Grundlage dieser Theologie der Liturgie sowie dieser praktischen Theologie wurden im Nachgang des Zweiten Vatikanischen Konzils die liturgischen Bücher überarbeitet und der neue Ordo Missae, der verbindliche Kodex für die Messfeiern, zum ersten Adventssonntag 1969 in Kraft gesetzt.31 In den nachfolgenden Jahren folgten die weiteren liturgischen Bücher.
4. Liturgisches Ringen in der Nachkonzilszeit Das liturgische Ringen im Volke Gottes im Nachgang des Zweiten Vatikanischen Konzils, die unterschiedlichen pastoralen Zielsetzungen der verschiedenen liturgischen Angebote und die Vielfältigkeit, die das liturgische Angebot in der Gestaltung der Feierform annahm, zeugen von einer unterschiedlichen Interpretation der pastoralen Methodik. Einige Aspekte kennzeichnen die wesentlichen Rahmenbedingungen für alle pastoralliturgischen Herausforderungen der gegenwärtigen Zeit benennen.
4.1 Liturgie und Leben Papst Franziskus charakterisiert in seiner Verkündigung, dass die Liturgie der Kirche stets im Leben des Volkes Gottes beheimatet sein müsse. In der ersten Chrisammesse, der er als Papst vorstand, predigte er: „Die Leute mögen es, wenn das Evangelium so gepredigt wird, dass man die Salbung spürt, sie mögen es, wenn das Evangelium, das wir predigen, ihr Alltagsleben erreicht, wenn es wie das Salböl Aarons bis an den ‚Saum‘ der Wirklichkeit hinabfließt, wenn es die Grenzsituationen, die ‚Randgebiete‘ erleuchtet, wo das gläubige Volk stärker der Invasion derer ausgesetzt ist, die seinen Glauben ausplündern wollen. Die Leute danken uns, weil sie spüren, dass wir unter Einbeziehung der Situation ihres Alltagslebens gebetet haben, mit ihren Leiden und ihren Freuden, ihren Ängsten und ihren Hoffnungen. Und wenn sie spüren, dass der Duft des Gesalbten schlechthin, der Duft Christi, durch uns zu ihnen kommt, fühlen sie sich ermutigt, uns all das anzuvertrauen, von dem sie möchten, dass es den Herrn erreiche: ‚Beten Sie für mich, Pater, denn ich habe dieses Problem‘, ‚segnen Sie mich, Pater‘, ‚beten Sie für mich‘ – das sind Zeichen dafür, dass die Salbung am Saum
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Vgl. Gerhards / Kranemann (wie Anm. 2), 106.
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des Gewandes angekommen ist, denn sie wird in Bittgebet verwandelt, in Bittgebet des Gottesvolkes.“32 Diese den Menschen sehr lebensnah zugewandten Beobachtungen, welche die Beziehung zwischen Menschen und dem Liturgen auf sehr bildliche Weise veranschaulichen, zeigen einerseits, dass die Liturgie der Kirche, der Gottesdienst, die Feier der Eucharistie, zum Leben eines katholischen Gläubigen ganz wesentlich dazugehören. Für eine/n Gläubige/n gehört das Herannahen an Gott, das Hineingehen in das Paschamysterium zum Wesensbestandteil des persönlichen Glaubenslebens, zur Mitte des persönlichen Suchens nach dem Reiche Gottes auf Erden. Zugleich muss diesem päpstlichen Statement aber auch angemerkt werden, dass es „das“ Leben von Menschen nicht gibt bzw. das in unserer pluralistischen Gesellschaft, es unterschiedliche Säume, unterschiedliche Duftnoten Christi, unterschiedliche Priester bedarf. Folglich benötigt es für eine pluralistische Gesellschaft auch unterschiedliche Stilprägungen von Liturgie, was der Titel dieses Aufsatzes in seiner kirchenmusikalischen Spannung ausdrückt: Eingeladen zum Fest des Glaubens und Introibo ad Altare Dei. Unterschiedliche praktische Impulse kennzeichnen diese pluralistischen Eindrücke: „Es war ein eindrucksvoller Moment: Wir hatten Haupt- und Ehrenamtliche einer größeren Pfarrei für ein paar Tage in einem Zukunftsworkshop begleitet. […] Den Abschluss unserer gemeinsamen Zeit sollte eine kleine Liturgie bilden, um den mit dem Workshop eingeleiteten Prozess der Pfarrei unter Gottes Segen zu stellen. So leiteten wir eine Segenskette ein: Dabei stellen sich alle in einem Kreis auf, einer oder eine tritt hervor und beginnt damit, die Menschen hintereinander der Reihe nach zu segnen, um sich abschließend am Ende wieder anzustellen und so den Segen selbst zu empfangen. Der oder die auf diese Weise zuerst Gesegnete schließt sich an und folgt dem ersten Beispiel, daraufhin auch der oder die zweite, so dass eine Segenskette beginnt, bei der jeder durch jeden gesegnet wird. Wir erlebten in dieser einfachen Liturgie einen sehr zerbrechlichen Moment, aber auch – oder vielleicht genau deswegen – einen voller Stärke und Klarheit. Man spürte dem einen oder der anderen ab, dass es Mut kostete, jedem anderen im Team und auch Gott auf diese Weise zu begegnen. Für alle war es das erste Mal in dieser Form gewesen: gemeinsam einander Segen zu schenken und Segen zu empfangen. […] Wir können hier ja im Wesen wirklich von einer Neuerung, von einem Experiment selbst sprechen. […] Warum experimentieren wir? Experimente und Versuchsreihen finden wir vor allem in Innovationsprozessen. […] Experimente dienen diesem Prozess der Erneuerung, indem sie ihn mit Erfahrungen anreichern und 32
Franziskus, Liturgie und Leben. Predigt bei der Chrisam-Messe, 28. März 2013 (in den AAS noch nicht erschienen), in: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2013/documents/papa-fran cesco_20130328_messa-crismale.html [Zuletzt aufgerufen am 15. Januar 2019].
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im Ergebnis zeigen, ob sie selbst Innovationspotential entfalten können. Ohne Experimente würden Innovationsprozesse stoppen oder gar nicht erst starten. […] Liturgische Experimente sind, wie man hier auf wunderbare Weise sehen kann, für die und in der Kirche kein Selbstzweck. Sie erfüllen einen Dienst an einer größeren Dynamik, nämlich einem Wesenskern kirchlichen Seins: […] Die Frage nach dem Warum heiliger Experimente ist die Frage nach der Mission, nach der Sendung der Kirche. […] Ob bei einer virtuellen Komplet, ökumenisch gefeiert auf Twitter, bei einer Segnung von 20 Fahrzeugen bei einer Porsche-Club-Ausfahrt, bei einer Whiskeyliturgie, bei der Wiederentdeckung und Weiterentwicklung von traditionsreichen Formen wie dem Herzensgebet oder der Tagzeitenliturgie.“33 Dieser O-Ton spricht sich für eine Liturgie im Leben einer Gemeinschaft der Pfarrgemeinde aus, die aus dem speziellen Milieu der sich Engagierenden besteht und bei einem punktuellen Workshop miteinander ein liturgisches Experiment geschehen lassen. Ein anderer O-Ton aus der Sicht eines Einzelnen: „Als ich die heilige Messe in der außerordentlichen Form des römischen Ritus das erste Mal besuchte, gab es diesen Begriff noch nicht. Er wurde erst ein halbes Jahr später erfunden. Bis dahin sprach man von der alten, der lateinischen oder auch der tridentinischen Messe. Mich interessierte das nicht. Ich war nur der Empfehlung eines flüchtigen Bekannten gefolgt und konnte mit keinem dieser Begriffe etwas anfangen. Für mich war es bereits der dritte Anlauf, nach 15 Jahren wieder regelmäßig zur Kirche zu gehen. […] Meine ersten Annäherungsversuche an die alte Liturgie verliefen daher in der Form der teilnehmenden Beobachtung. Ich wollte dabei sein, mittendrin, mir alles anschauen, lernen und verstehen. Ich sah den feierlichen Schmuck der Kirche, den Altar, die Messgewänder, die rituellen Handlungen, die Kniebeugen vor dem Altar. Ich hörte die Schola den Choral singen und die Gemeinde im Wechselgesang antworten. Alles war ein einziger Gesang, der in eine große Stille mündete. Ich fand es wunderschön. Die Bewegungen und Handlungen des Priesters und der Ministranten waren von Sorgfalt und Ernsthaftigkeit geprägt. Sie folgten einer geheimnisvollen Ordnung, die ich nicht verstand und hinter der sie ganz zurücktraten. Die Form stand in ihrer Einheit ganz für sich. Es gab keine erklärenden Einschübe, keine Paraphrasen, keine niedrigschwelligen Angebote und keine Übersetzungen. Wer hier mitwollte, der konnte das nicht im Vorbeigehen erledigen. Es würde also Anstrengung kosten. Die Messe wirkte selbstbewusst, bedeutungsvoll, und sie verwies in allem ganz auf Gott. […] Von der Messe angezogen, entschloss ich mich, von jetzt an öfter zu 33
Herrmann, Maria, Art. Tradition und Experiment (II). Von der Sache mit dem Selbstzweck. Liturgische Experimente und die Frage nach dem Warum, in: https://www.euangel.de/ausgabe-32015/liturgie-zwischen-tradition-und-experiment/faszination-von-tradition-und-experiment-ii/ [Zuletzt aufgerufen am 07. Januar 2019].
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kommen, um über Gott und seine Kirche nachzudenken. Die Atmosphäre schien mir dafür geeignet zu sein. Sie befreite mich: Ich kam aus meinem Alltag raus, zur Ruhe und in eine neue Welt. Ich wusste natürlich, wo ich war, was mich aber umgab und was ich nicht kannte, ließ ich im Nachdenken über Gott und seine Kirche am Horizont vorbeiziehen. Ich musste nicht mehr abbeißen, als ich kauen konnte. Auch das war eine große Freiheit.“34 Ein drittes Beispiel verdeutlicht uns den Zugang eines Seelsorgers zur Lebensrealität eines Paares – und somit einer kleinen Gemeinschaft. „Wie zum Beispiel bei einem jungen katholischen Wissenschaftler, der standesamtlich mit einer Nichtgetauften verheiratet ist. Lange sind die beiden miteinander in einem regen Austausch. Keine bzw. keiner will den bzw. die andere überrumpeln. In allen Gesprächen zeigt sich ein hoher Respekt vor den Lebenserfahrungen des je anderen. Man mag fragen, wie es geschehen konnte, aber beide haben wohl den richtigen Augenblick verstreichen lassen, sich für eine kirchliche Trauung zu entscheiden. Es ist unausgesprochene Realität im Alltag vieler junger Wissenschaftler, die eine Aufgabe in der Universität vor Augen haben, dass die Arbeit alle anderen Lebensfragen in den Hintergrund zu stellen droht. Und was gewiss nicht nur für die beiden gilt, sondern ebenso für viele, die am Beginn ihres Arbeitslebens stehen, das greift tief hinein sowohl in den gelebten Glauben als auch in das Ringen um ihn: Arbeit frisst Leben auf. […] So auch bei dem hier vorgestellten Ehepaar, das in den Augen der Kirche noch keines ist. Eine Woche vor einem erneuten Umzug, notwendig geworden durch eine Lehrverpflichtung in einer anderen Stadt, ereilte mich ein Anruf der Ehefrau, der Nichtgetauften. Nicht nur, dass sie sich verabschieden wollte von mir, der ich auch ihre beiden Kinder taufen durfte und ihnen Freund geworden bin, sie wollte mit mir auch überlegen, wie sie doch noch mit ihrem Mann (und ihren zwei Kindern) gesegnet in die neue Stadt ziehen konnten. Wenn ihr auch die Rituale und die Formalien fremd seien, so wolle sie doch mit ihrer Familie weiter nach dem suchen, was ihrem Liebsten schon vertraut und wichtig ist. Das überhöhte Maß eines Sakramentes wäre ihr fremd, ein Segen sei ihr wertvoll. […] Eine fröhliche und unbekümmerte Feier im Garten der Familie bleibt mir in nachhaltiger Erinnerung, wo eine dem anderen und wir gemeinsam die Hände auflegten und uns erfreuten an dem Versprechen Gottes, die Familie und uns zu behüten auf allen Wegen.“35 34
Kobs, Andreas, Art. Tradition und Experiment (I). Mein Weg zur Kirche durch die alte Liturgie, in: https://www.euangel.de/ausgabe-3-2015/liturgie-zwischen-tradition-und-experiment/faszinationvon-tradition-und-experiment-i/ [Zuletzt aufgerufen am 07. Januar 2019]. 35 Simonsen, Christoph, Art. Und wenn es anders kommt: Gottes-Dienst ist Segen. Vielfalt kirchlicher Liturgie jenseits der Eucharistiefeier, in: https://www.euangel.de/ausgabe-3-2015/liturgie-zwisch en-tradition-und-experiment/und-wenn-es-anders-kommt-gottes-dienst-ist-segen/ [Zuletzt aufgerufen am 07. Januar 2019].
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Summierend zeigen diese drei Beispiele die unterschiedlichen Lebensbezüge auf. Einmal handelte es sich um die große Gemeinschaft der Engagierten einer Pfarrgemeinde, einmal um die kleine Gemeinschaft eines Paares mit Kindern, einmal um die Perspektive eines Einzelnen. Alle Beispiele stammen aus den 2010er Jahren. Vermutlich war kein liturgischer Zugang irgendeiner Konstellation bzw. dem einen Autor in die Wiege gelegt, denn das Leben hat sich in allen Lebenssituationen entwickelt. Welchen Saum, welchen Duft Christi, welchen Pater benötigen diese exemplarischen Menschen für ihr Leben? Aus pastoraltheologischer Sicht heißt die Antwort, dass es verschiedene Formen pastoraler Handlungen gibt, durch welche der pastoraltheologische Grundvollzug der Liturgie geleistet wird. Neben der klassischen Sakramentenseelsorge, gibt es die Einzel- und Kategorialseelsorge, als auch die neuen pastoralen Handlungen im kirchlichen Umfeld. In der Folge heißt dies für den Saum, den Duft Christi und den Priester, dass es keine einheitliche verbindliche Sozialform geben kann, da diese das Leben der Menschen in seiner Vielfalt nicht abbilden könnte. Folglich geht es auch darum zu fragen, welche Verbindlichkeit der pastorale Dienst durch die Liturgie der Kirche benötigt, um als solcher näher zu Gott zu führen.
4.2 Zulässigkeit und „liturgisches Leben-lassen“ Im binnenkirchlichen katholischen Diskurs, das zeigen uns die notierten aktuellen Beispiele als auch der Blick auf die kontinuierliche liturgische Entwicklung, wird seit jeher um die „richtige“ Liturgie und ein authentisches Feiern Gottes gerungen. Aus der pastoraltheologischen Methodik lässt sich sagen, dass dies ein schmaler Grat ist, der in der normativen Beantwortung hohe Risiken in sich birgt. Der liturgische Grundsatz des „lex orandi – lex credendi“ bietet einen erprobten Zugang. Dieser einfache lateinische Grundsatz besagt, dass die Liturgie der Kirche das Spiegelbild des Glaubens der Kirche ist. Glaube und Liturgie sind somit die zwei Seiten einer Medaille. Das Römische Messbuch selbst bezeichnet diesen Glaubensgrundsatz wie folgt: „Jede Teilkirche muss mit der Gesamtkirche nicht nur hinsichtlich der Glaubenslehre und der sakramentalen Zeichen übereinstimmen, sondern auch hinsichtlich der universal von der apostolischen und ununterbrochenen Überlieferung empfangener Gebräuche, die einzuhalten sind, nicht nur um Irrtümer zu vermeiden, sondern auch damit der Glaube unversehrt weitergegeben wird; denn das Gesetz des Betens (lex orandi) der Kirche entspricht ihrem Gesetz des Glaubens (lex credendi).“36
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Grundordnung des Römischen Messbuchs, Freiburg i. Br. 32002, Nr. 397.
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Dies bedeutet, dass die vielen Glaubenssätze, lehramtlichen Entwicklungen, Konzilsentscheidungen, also alle organischen Entwicklungen hin zum depositum fidei, dem Glaubensgut der Kirche, über Jahrhunderte ausreifte und in die Liturgie einfloss. Besonders in den Präsidialgebeten der Messfeier sowie dem Eucharistischen Hochgebet kommen diese vielen Glaubenssätze liturgisch zur Sprache. Der pastorale Dienst der Kirche zeichnet sich dadurch aus, durch den Dienst der Liturgie eine vollumfängliche Glaubensverkündigung zu leisten, d. h. die gesamte Glaubensgenese der Kirche, die in den liturgischen Büchern grundgelegt ist, in das Gebet der Kirche einzubringen und in der Verkündigung zu entfalten. Somit ist der pastorale Dienst in der Liturgie der Kirche jener, der nach der Methodik von Papst Johannes XXIII. am stärksten das Glaubensgut der Kirche studiert, annimmt und verkündet. Besonders sichtbar wird dies in der Feier der Eucharistie, die primär eine Feier für getaufte und sich zum katholischen Glauben bekennende Menschen ist, denn nur jene können vollumfänglich an diesem Sakrament teilhaben. Verglichen mit den pastoraltheologischen Grundvollzügen der Diakonia und Martyria entfaltet folglich die liturgische Dimension in der Eucharistiefeier ein pastorales Handeln, das ganz explizit das zustimmende Bekenntnis der Christinnen und Christen voraussetzt. Damit ist die Liturgie jener pastoraltheologische Grundvollzug, der am ausgeprägtesten in das Binnenleben der Kirche ad intra angelegt ist, gleichsam dieser für gläubige Menschen einen wichtigen anthropologischen Charakter hat. Mehr als in anderen Bereichen kirchlichen Lebens zeichnet die pastorale Dimension der Liturgie die unmittelbare Zentrierung auf Gott aus. Auch wenn besonders die Feier der Eucharistie eine anthropologische Dimension in der Gestalt der feiernden Gemeinde gewinnt, ist der Grund allen Zusammenkommens das Lob Gottes und die Vergegenwärtigung des Herrn. In der Heiligen Messe gewinnt diese Zentrierung auf Gott nochmals eine verdichtende Gestalt durch die Wandlung und das Sakrament der Eucharistie. Die Eucharistie ist das Zentrum in dieser Form der Liturgie, so dass der pastorale Dienst in der Liturgie ein sakramentaler, heiliger Dienst ist, einer, der unmittelbar die göttliche Dimension sakramental berührt. Es verlangt daher einen hohen Respekt aller liturgischen Kultdienerinnen und Kultdiener, die diesen pastoralen Dienst leisten, denn sie wirken vielfach im Bereich der Mitte des persönlichen Glaubens vieler Gläubiger. In der vor gut zehn Jahren stattfindenden Diskussion um das Motu proprio Summarum pontificum, mahnte Papst Benedikt XVI. genau jene Ehrfurcht an, die allen Geistlichen und Gläubigen abzuverlangen ist, die seitdem kodifizierten beiden Formen des römischen Ritus mit gleicher Ehrfurcht anzugehen: „Es gibt keinen Widerspruch zwischen der einen und der anderen Ausgabe des Missale Romanum. In der Liturgiegeschichte gibt es Wachstum und Fortschritt, aber keinen Bruch. Was früheren Generationen heilig war, bleibt auch uns heilig und groß; es kann nicht plötzlich rundum verboten oder gar schädlich sein. Es tut
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uns allen gut, die Reichtümer zu wahren, die im Glauben und Beten der Kirche gewachsen sind und ihnen ihren rechten Ort zu geben. Um die volle communio zu leben, können die Priester, die den Gemeinschaften des alten Usus zugehören, selbstverständlich die Zelebration nach den neuen liturgischen Büchern im Prinzip nicht ausschließen. Ein völliger Ausschluss wäre nämlich nicht in Übereinstimmung mit der Anerkennung des Wertes und der Heiligkeit des Ritus in seiner erneuerten Form.“37 Papst Benedikt XVI. mahnte also an, dass die überlieferte Liturgie nicht falsch sein könne, zudem diese auch nicht pauschal gegen die Akzente des Zweiten Vatikanischen Konzils zu setzen sei. Vielmehr müsse das geistliche Wohl der Gläubigen – traditioneller formuliert: Das Heil der Seelen – die wichtigste Antriebsfeder für den pastoralen Dienst der Kirche in der Liturgie sein. Selbiges gilt zweifelsohne auch für die erneuerte Liturgie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, wie Papst Benedikt XVI. auch Ehrfurcht für die Glaubensbegegnungen in der ordentlichen Form des römischen Ritus seitens der Vertreter der Tradition einfordert. Diese beiden Punkte stehen somit für ein liturgisches „Leben-lassen“ im Rahmen des Dienstes der Kirche an Gott und den Menschen. Der pastorale Dienst der Kirche mit der Methodik Johannes XXIII. kann folglich gelingen, wenn man sich an liturgisch-rubrizistischen Normen orientiert und die liturgische Vielfalt, die im Rahmen der Normen möglich sind, geschehen lässt.
4.3 Sensibilität vor der Ehrfurcht eines jeden gläubigen Menschen Ein abschließender Gedanke zum pastoralen Dienst der Kirche in der Liturgie besteht im Wahrnehmen der Sensibilität vor der Ehrfurcht eines jeden gläubigen Menschen. Beispiele für Polemik und normative-liturgische Abqualifizierungen gibt es reichlich, jedoch begegnet in der Liturgie ein Dienst, der mehr als viele andere pastoralen Aufgabenbereiche in der Kirche in das Heilige, in die Begegnung mit Gott hineinführt. Im Kern ist dieser pastorale Dienst ein zutiefst seelsorglicher, er verlangt den persönlichen Glauben, das Bekenntnis zum trinitarischen Gott und zum Dienst der Kirche. Papst Franziskus selbst formuliert daher den Respekt vor der Sensibilität gläubiger Menschen in der Liturgie: „Durch die Liturgie betritt Jesus unser Herz. Die Priester müssen also darauf achten, ihm den ersten Platz einzuräumen, ihn sichtbar werden zu lassen, sodass die Menschen, wenn sie uns anschauen, Jesus sehen. Wir müssen das Sichtbarwerden Christi sein. 37
Benedikt XVI., Motu proprio Summorum Pontificum, 07. Juli 2007, in: AAS (2007), 777-781, hier 778.
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In einer Welt die uns ständig aus uns selbst herauszieht, indem sie den Menschen durch seine Sinne und materielle Güter in einem völligen Verlust des Wesentlichen gefangen hält, ist die Liturgie wirklich die Tür zu unserer Vereinigung mit Gott durch unsere Vereinigung mit Jesus. Sie bereitet uns auf die himmlische Liturgie vor, in der es uns gegeben sein wird, Gott unmittelbar, von Angesicht zu Angesicht zu betrachten und ihn ewig zu lieben. In der Liturgie erfahren wir das Sichtbarwerden und die wirksame Gegenwart Jesu Christi, wenn der Priester ganz in das österliche Geheimnis eingeht, das mit Glauben, Andacht und Schönheit in der heiligsten Eucharistie gefeiert wird.“38 Mit dem Wissen einer christlichen Anthropologie, dass man in der Liturgie Christus selbst begegnet, der seinen Dienst als erster Pastor an den Menschen vollzieht, kann man zum Fest des Glaubens hinzutreten, indem man am Altare Gottes betet.
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Vgl. Sarah, Robert, Gott oder nichts. Ein Gespräch über den Glauben, Kißlegg 2015, 385.
Israel, der Einzelne und die Völker in Micha 6,1-8*
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1. Fragestellung Zu den Problemstellungen, mit denen sich das weite Feld der Anthropologie beschäftigt, gehört auch die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zum größeren Ganzen, sei dies seine nächste Umgebung, Familie und Freunde oder die Gesellschaft und das Volk, zu dem er zählt. Während sich im Selbstverständnis eines im westlichen Kulturkreis integrierten Menschen der Unterschied zwischen Individuum und Gruppe, zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft relativ klar benennen lässt, ist dies hinsichtlich der Identität eines alttestamentlichen Menschen nicht so eindeutig.1 So gibt es hier durchaus Überschneidungen, insofern sich der Einzelne nicht nur von seiner Einbettung in Familie, Sippe oder Volk her definiert 2, sondern auch umgekehrt – etwa im Konstrukt der „Korporativen Persönlichkeit“3 – eine Einzelperson, mag diese real oder fiktiv sein, als Inbegriff eines Volkes dient und an deren Handeln4, bisweilen auch an ihrem Aussehen5 wesentliche Charakte* Mit diesem Beitrag möchte ich den Jubilar Prof. Dr. Dr. Erwin Möde ehren, mit dem ich seit vielen 1
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Jahren freundschaftlich verbunden bin. Vgl. Wolff, Hans Walter, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973, § 24, 309-316; Oorschot, Jürgen van, § 12 Individuum und Gesellschaft, in: Diedrich, Walter (Hrsg.), Die Welt der Hebräischen Bibel. Umfeld – Inhalte – Grundthemen, Stuttgart 2017, 171-183 (mit weiterführender Literatur). Sehr gut zu erkennen ist dies an den biblischen Stammbäumen, durch die nicht nur das Verhältnis des Einzelnen zu seinen Mitmenschen, Verwandten und Volksangehörigen geklärt wird, sondern auch das Verhältnis unter den Völkern, insofern etwa in den Stammbäumen der Genesis die gesamte frühe Menschheitsgeschichte als Familiengeschichte dargestellt wird. Zur korporativen Persönlichkeit vgl. Fraine, Joan de / Koch, Robert, Adam und seine Nachkommen: der Begriff der „Korporativen Persönlichkeit“ in der Heiligen Schrift, Köln 1962; Rogerson, John W., The Hebrew Conception of Corporate Personality: A Re-Examination, JThS NS 21, 1970, 3-5; die Funktion der „Korporativen Persönlichkeit“ beschreibt Klaus Koenen in WiBiLex, Art. Erzählungen (A), https://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/17700 [Zuletzt aufgerufen am 19. Januar 2019] folgendermaßen: „Für Gruppen stellen die Erzählungen eine Form der Kommunikation dar, die sowohl zur Konsensbildung beitragen kann, wo rationale Argumentation nicht möglich ist, als auch zur kollektiven Identitätsbildung, indem eine Identifikationsfigur angeboten wird, die auch eine ‚korporative Persönlichkeit‘ darstellen kann.“ Vgl. z. B. Jakob, dessen hinterhältiges Verhalten gegenüber seinem Bruder Esau (vgl. Gen 27) in Hos 12,4 als symptomatisch für das Verhalten des Volkes Jakob/Israel gesehen wird. Ein sehr sprechendes Beispiel ist hier Esau, der Bruder Jakobs, den das Alte Testament als den Stammvater der Edomiter kennt, jenes biblischen Volkes, das im Südteil des heutigen Jordaniens siedelte. Diese Gegend hat aufgrund des dort vorkommenden nubischen Sandsteins eine rötliche Färbung. Tatsächlich wird Esau/Edom ֱאדֺםhäufig mit der roter Farbe ̔ādom ׇאדֺםin Zusammenhang gebracht. Dies gilt bereits bei seiner Geburt, wenn er als „rötlich, über und über mit Haaren
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ristika eines Volkes abgelesen werden können. Die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Einzelnem und dem größeren Ganzem, dem er angehört, gestaltet, spielt nicht zuletzt für die alttestamentliche Prophetie eine wichtige Rolle, erweckt doch gerade die Gerichtsprophetie oft genug den Eindruck, dass Vergehen zwar Einzelnen oder Gruppen im Volk angelastet werden6, jedoch das gesamte Volk dem Gericht verfällt.7 Diese Frage, wie sich nun das Verhältnis zwischen Volk und Einzelnem im Alten Testament darstellen kann, soll in diesem Artikel anhand von Mi 6,1-8 geprüft und erläutert werden. Dieses Kapitel wendet sich nämlich zunächst an eine unbestimmte Hörerschaft (V. 1) und dann an Israel als Ganzes (Vv. 3-5). Daran anschließend gibt eine – zumindest grammatikalisch – singularische Größe eine in Form von rhetorischen Fragen formulierte Antwort auf die zuvor an Israel seitens JHWH gestellten Fragen (Vv. 6-7). Auf diese rhetorischen Fragen wiederum erfolgt eine Antwort in Form einer Anweisung (V. 8), die sich ebenfalls an ein singuläres Objekt richtet. Diese wiederum ist so formuliert, dass es den Anschein hat, damit werde nicht nur ein Einzelner innerhalb Israels angesprochen, sondern der Horizont der Adressatenschaft weite sich auch auf Menschen außerhalb Israels, ja auf die ganze Menschheit. D. h. Mi 6,1-8 changiert zwischen universaler Hörerschaft, Israel und dem Einzelnen. So stellt sich gerade in Mi 6,1-8 die Frage nach dem jeweiligen Verhältnis der darin auftretenden kollektiven und individuellen Größen zunächst in Bezug auf Israel, dann aber auch darüber hinausgreifend auf die Völkerwelt. Um dies zu klären, ist es nicht zuletzt notwendig, Mi 6,1-8 in seiner Einbindung in den heutigen Kontext sowohl hinsichtlich synchroner wie diachroner Aspekte zu betrachten. Dies wiederum kann Aufschluss über die Funktion und die damit verbundene Hermeneutik geben, welche Mi 6,1-8 in der Michaschrift8 hinsichtlich der Verbindung der Themen Israel, der Einzelne und die Völker spielt.
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bedeckt“ שעָר ֵׂ ( ַאדְ מֹונִי כֻּּלֹו ְכאַדֶּ ֶּרתGen 25,25) beschrieben wird und später gerne Rotes isst, was ihm dann auch den Namen ‚Edom‘ einbringt (vgl. z. B. Gen 25,30; Jes 63,2). Den aus der Sicht Israels wilden und ungestümen Charakter dieses Volkes bildet ebenfalls bereits Esau/Edom ab, vgl. Gen 25,27. So charakterisiert Rainer Albertz in seiner Religionsgeschichte Israels Propheten wie Hosea, Amos, Jesaja und Micha als Männer aus einer eher begüterten Schicht, die als Teil einer in Distanz zum königlichen Hof stehenden Oppositionsbewegung sozialkritisch agierten und sich dabei aufgrund ihrer religiösen Motivation von den Interessen und Ansichten ihrer Schicht trennen konnten; Albertz, Rainer, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Band 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Königszeit, ATD Ergänzungsreihe 8/1, Göttingen 1992, 255f. Sehr anschaulich ist dies beispielsweise anhand von Mi 3,9-12 zu sehen. Schuldvorwürfe gegen die Häupter, Priester und Propheten der Stadt (vgl. Mi 3,11) gehen einher mit Vernichtungsdrohungen gegen Zion (vgl. Mi 3,12). Das sich daraus ergebende Problem einer Inhaftungsnahme des ganzen Volkes für die Vergehen seiner Oberschicht wird unterschiedlich erklärt. Albertz (wie Anm. 6), 260, etwa deutet dieses folgendermaßen: „Mit dem Unrecht, das der israelitischen Gesellschaft geschieht, steht die Gottesbeziehung Israels insgesamt auf dem Spiel. […] An der Frage der gesellschaftlichen Gerechtigkeit entscheidet sich für die Propheten die Zukunft Israels insgesamt; ein Volk, dessen Solidaritätsbeziehungen so zerrüttet sind, hat ihrer Meinung nach keine Zukunft mehr, wenn die Verantwortlichen nicht sofort ihre Schuld annehmen und ihr Verhalten ändern.“ Es wird hier der Begriff „Michaschrift“ gewählt, eine Terminologie, die Schart, Aaron, Die Entstehung des Zwölfprophetenbuches, BZAW 260, Berlin / New York 1998, V, vorgeschlagen hat, um
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2. Der Text Micha 6,1-8 1
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Hört doch das, was JHWH spricht. Erhebe einen Streit mita den Bergen und die Hügel sollen deine Stimme hören. Hört ihr Bergea, den Streit JHWHs und die Beständigenb, die Fundamente der Erde. Denn ein Streit JHWHs mit seinem Volk ist es und mit Israel setzt er sich auseinander. Mein Volk, was habe ich dir getana und (mit) was habe ich dich ermüdet? Antworte mir! Fürwahr, ich habe dich hinaufgehen lassen vom Land Ägypten und vom Sklavenhaus habe ich dich ausgelöst, und ich habe vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirijam. Mein Volk, bedenke doch, was Balak der König von Moab plante und was ihm Bileam der Sohn Beors antwortete, von Schittim bis Gilgal, damit du die Heilstaten JHWHs erkennst. Mit was soll ich hintretena vor JHWH, mich beugenb zum Gott der Höhe? Soll ich etwa vor ihn hintreten mit Brandopfern, mit einjährigen Kälbern? Wird JHWH etwa Gefallen haben an Tausenden Widdern, an Zehntausenden Flüssen von Öl, soll ich etwa meinen Erstgeborenen für meine Sündea geben, die Frucht meines Leibes für die Schuld meiner Personc? Man hat dir Mensch verkündeta, was gut ist und was JHWH bei dir sucht: nichts anderes als Recht zu tun und Treue zu lieben und achtsam zu gehenb mit deinem Gottc.
damit den Unterschied zwischen dem Zwölfprophetenbuch und den darin befindlichen einzelnen Schriften anzuzeigen, welche, entsprechend der Überzeugung weiterer Teile der neueren Zwölfprophetenforschung, nicht gänzlich unabhängig voneinander entstanden sind, sondern miteinander auf verschiedene Weise korrespondieren.
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3. Textkritische Anmerkungen 1 a Umstritten ist die Übersetzung der Präposition את. Sie kann entweder als „mit“9 übersetzt werden, also „erhebe einen Streit mit den Bergen“ (vgl. S: )ܥܡoder im lokalen Sinn10 (z. B. Gen 20,16; Jes 30,8) „erhebe einen Streit bei den Bergen“. G scheint eher erstere Bedeutung vorauszusetzen, wenn sie mit πρὸς τὰ ὄρη „zu/ gegen die Berge“ übersetzt (vgl. V: adversum montes). 2 a„Ihr Berge“ übersetzt Codex Vaticanus mit λαοι „ihr Völker“ und stellt damit einen (engeren) Zusammenhang mit Mi 1,2 und 5,14 sowie Mi 7,16 11 her. b Anstelle von „ ְו ָה ֵׂאתָ נִיםund die Beständigen“ wird meistens ein ursprüngliches „ ְו ַה ֲאזִינּוund hört hin“ vorausgesetzt.12 G übersetzt mit „ihr Abgründe“ (αἱ φάραγγες), ähnlich auch S, die hier von den „Tiefen der Fundamente der Erde“ ( ܘܥܡܩܐ ̈ ) spricht. 3 a G ergänzt nach V. 3aα ein „oder womit habe ich dich betrübt“ ἢ τί ἐλύπησά σε13, wobei sie drei Möglichkeiten in Gestalt einer Reihung oder als Alternativen („oder“) einander gegenüberstellt. Dabei scheint diese Aufzählung auf eine Steigerung hinaus zu laufen: „tun“ – „betrüben“ – „Schwierigkeiten bereiten“ (τί παρηνώχλησά σοι). 6 a G übersetzt „hintreten“ mit „fassen“ („mit was soll ich den Herrn fassen“ ἐν τίνι καταλάβω τὸν κύριον) und b „beugen“ mit „sich anklammern“ („mich an meinen Gott, den Höchsten anklammern“ ἀντιλήμψομαι θεοῦ μου ὑψίστου). V. 6b gibt G dementsprechend mit: „Soll ich ihn fassen mit…?“ (καταλήμψομαι αὐτὸν) wieder. 7 a V. 7b übersetzt S: „wenn ich meinen Erstgeborenen gäbe, wäre es Schuld für mich, und (wenn ich) die Früchte meines Leibes (gäbe), wären sie Sünde meiner Seele“, interpretiert den Vers also im Sinne des aus dem alttestamentlichen Gesetz bekannten Verbotes von Kinderopfern (vgl. Dtn 18,10). b Wörtl. „meine Seele“; das hebr. נַ ְפשִיkann im Sinne eines Personalpronomens verwendet werden und so die ganze Person bezeichnen. 9 10
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Vgl. Gesenius, Wilhelm, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Berlin / Göttingen / Heidelberg, Neudruck der Auflage von 1915/171962, 77. Ebd.; so neuerdings auch wieder Waltke, Bruce K., A Commentary on Micah, Grand Rapids/Michigan 2007, 345, mit der Begründung, dass die Formulierung „einen Streit gegen jemanden erheben“ gewöhnlich nur im Zusammenhang mit Personen verwendet wird; allerdings werden die Berge gelegentlich als Metapher für eine personale Größe, z. B. Völker gesehen, was sich etwa in der Übersetzung des Codex Vaticanus widerspiegelt, der hier den Kontext im Blick hat; vgl. dazu auch Jes 41,15. Utzschneider, Helmut, Michaias Micha, in: Karrer, Martin / Kraus, Wolfgang, Septuaginta Deutsch. Erläuterung und Kommentare II, Psalmen bis Daniel, Stuttgart 2011, 2362-2380, hier 2375. Vgl. BHS; Wolff, Hans Walter, Dodekapropheton 4, Micha, Neukirchen-Vluyn 1982, 137; man müsste dann eine Verschreibung von זnach ת, Metathesis von נund יbei gleichzeitiger Diplographie des םim folgenden מסדיannehmen. Utzschneider, Michaias Micha (wie Anm. 11), 2375, weist darauf hin, dass auch in Mi 4,10 und 5,3 „ein hebr. Verbum ( )הלאתיךdurch zwei griech. wiedergegeben“ wird.
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8 a Die Kausativform von „( נגדer/man hat dir verkündet“ ) ִהגִיד לְָךin V. 8aα gibt G als Passivum wieder und interpretiert V. 8a als Fragesatz: „Ist dir nicht verkündet worden, Mensch, was gut ist…? (εἰ ἀνηγγέλη σοι ἄνθρωπε τί καλόν;). V übersetzt hier futurisch in 1.Pers.sing.: „Ich werde dir verkünden“, so dass entsprechend dieser Interpretation der Prophet spricht (indicabo, vgl. S: „ich verkündete dir“ )ܚܘܝܬܟ. b Die Semantik des Infinitiv absolutus im Kausativstamm ְו ַה ְצנֵׂ ַעist umstritten, da auch die Etymologie der Wurzel nicht klar ist. Entsprechend HAL werden folgende Bedeutungen angesetzt: a) „rein sein“, b) „behutsam, sorgfältig“, „einsichtig, bedachtsam“; „achtsam“, wobei HAL eine Bedeutung im Sinne von b) präferiert.14 G übersetzt mit ἕτοιμον εἶναι „bereit zu sein (mit dem Herrn, deinem Gott zu gehen)“, vgl. S „bereit“ ( ;)ܥܬܝܕV: „ängstlich besorgt“ i. S. von Sorgfalt (sollicitus); T „demütig“/ „fromm“ ()צניע. 15 c In V. 8bγ ergänzt G vor „deinem Gott“ ein „(mit) dem Herrn“ hat hier also wohl den Gottesnamen gelesen, vgl. S entsprechend 7a1 ()ܡܪܝܐ. S interpretiert die Präposition „mit“ im Sinne einer Nachfolge „hinter (deinem Gott zu gehen)“.
4. Gliederung und formale Eigenarten Der Text setzt in V. 1a und V. 2a mit zwei Höraufrufen ein. Der erste in V. 1a wendet sich an eine nicht näher bestimmte Adressatenschaft und fordert ein zunächst unbekanntes Gegenüber dazu auf, einen Streit zu erheben, der sich gegen die Berge richtet. Der zweite Höraufruf in V. 2a richtet sich direkt an die Berge und die Grundfesten der Erde. Im Folgesatz V. 2b wird das Subjekt („JHWH“) und Objekt („Israel“) des Streites ausdrücklich benannt. Der inhaltliche Duktus beider Verse verläuft demnach vom zunächst Unbestimmten zum Konkreten. Formal meinen viele Exegeten vor allem in den Vv. 2-8 ein sogenanntes „rib-pattern“16 zu finden, mit dem im Alten Testament mehrfach eine rechtliche Auseinandersetzung JHWHs mit seinem Volk vor Zeugen beschrieben wird. Elemente dieses pattern seien folgende fünf Punkte: 1. Aufruf an kosmische Größen; 2. Fragen; 3. Aufzählung der Gunsterweise; 4. Ablehnung ritueller Gegenleistungen; 5. Positive Forderungen, die an die Bundesverpflichtung erinnern. Dabei sei der ursprüngliche Sitz im Leben der Kult gewesen. Allerdings geben Vertreter dieser These zu, dass die Durchführung dieses „rib-pattern“ sehr unterschiedlich ist, so dass sich die Frage 14
Vgl. Koehler, Ludwig / Baumgartner, Walter, Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament, Lieferung III, Leiden 1983, 973. 15 Dem folgt Gesenius (wie Anm. 9), 688, mit „demütig wandeln“. 16 Vermeylen, Jacques, Du Prophète Isaïe à l´apocalyptique. Isaïe, I-XXXV, miroir d´un demimillénaire d´expérience religieuse en Israël, Tome II, Paris 1978, 597; neuerdings auch wieder Smith-Christopher, Daniel L., Micah. A Commentary, Louisville/Kentucky 2015, 189f, der hier allerdings eine Modifikation des pattern sieht. Zur Kritik am rib-pattern, vgl. Eck, Joachim, Jesaja 1 – Eine Exegese der Eröffnung des Jesaja-Buches. Die Präsentation Jesajas und JHWHs, Israels und der Tochter Zion, BZAW 473, Berlin / Boston 2015, 93-118.
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stellt, ob man wirklich von einer festen literarischen Form sprechen kann. Hinzu kommt, dass sich offenbar innerhalb des Textes die Adressatenschaft ändert. Ist wirklich vorauszusetzen, dass auch in Vv. 6-7 noch das in Vv. 3-5 angesprochene Israel antwortet und in V. 8 derselbe Sprecher wie in V. 3 spricht? Dies aber wäre Voraussetzung des oben beschriebenen „rib-pattern“, das ja von einer Auseinandersetzung zwischen JHWH und seinem Volk ausgeht. Kurz zur inneren Struktur: V. 2 ist durch das Stichwort „sein Volk“ עמוmit V. 3a „mein Volk“ עמיverknüpft. Damit wird klar, dass V. 2 Prophetenrede, V. 3 hingegen JHWH-Rede ist. Die Vv. 3-5 gliedern sich durch die Anrede „mein Volk“ עמיin zwei Teile: Vv. 3f und V. 5. Dabei bestehen die Vv. 3f aus einer Frage (V. 3) mit einem durch die Interjektion „( כיfürwahr“) betont hervorgehobenen Rückblick auf das Heilshandeln JHWHs in der Geschichte Israels (V. 4). Dieser gliedert sich in drei Teile, die jeweils durch „und“ וmiteinander verknüpft sind. Dabei beziehen sich die beiden ersten auf dasselbe Geschehen (Auszug aus „Ägypten“ bzw. Befreiung aus dem „Sklavenhaus“), während der dritte Teil von der sich anschließenden Wanderung durch die Wüste handelt. Dabei ist JHWH direkter Agens („ich habe herausgeführt“ bzw. „ausgelöst“ bzw. „gesandt“). V. 5 knüpft durch die ebenfalls zweimalige Verwendung des Fragepronomens „was“ מהund durch die Anrede „mein Volk“ עמיan V. 3 an. Der Aufbau des geschichtlichen Rückblickes ist ebenfalls dreigliedrig. Auch hier beziehen sich die beiden ersten Glieder auf dasselbe Geschehen (Konfrontation mit dem Moabiterkönig „Balak“), während das dritte die anschließende Wanderung von „Schittim“ (jenseits von Jericho noch auf jordanischer Seite) bis zur ersten Station im Verheißungsland „Gilgal“ (nördlich von Jericho) in den Blick nimmt. Im Unterschied zu V. 4 ist hier allerdings von einem direkten Wirken JHWHs nicht die Rede und die Anspielung auf den Referenztext geschieht lediglich in Andeutungen. Nur wer die biblische Erzählung kennt, kann den Rückbezug auf das Handeln Gottes verstehen (vgl. Num 22/23). Durch das Stichwort „antworten“ ענהist zudem V. 5aβ mit V. 3aβ verknüpft. Durch Gottes Wirken antwortete Bileam dem Balak zugunsten Israels (vgl. Num 22,38), doch Israel gibt keine entsprechende Antwort auf das Heilswirken Gottes. V. 5bβ schließlich bringt in einer Art Zusammenfassung den Zweck der zuvor beschriebenen Episoden ins Wort: Beides sind Heilstaten JHWHs. Somit zeigt sich, dass sich JHWH sowohl in seinem direkten, wie indirekten Wirken erschließt. Direkter Adressat ist also zunächst eine ungenannte Hörerschaft, dann die Berge und schließlich „mein Volk“, also Israel. Erst ein Blick auf die kontextuelle Einbindung von Mi 6,1-5 wird die damit verbundenen Implikationen zeigen. Der zweite Abschnitt umfasst Mi 6,6-8. Zunächst fällt auf, dass hier nicht JHWH spricht, sondern eine Einzelperson, die in V. 3b die von JHWH geforderte Antwort zu geben scheint. Dies geschieht in Form von vier Fragen. Dabei stellt V. 6a eine grundsätzliche Frage, der in den Vv. 6b.7a.b drei rhetorische Fragen fol-
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gen, die ihre implizierte negative Antwort bereits in sich tragen17 und damit keine Antwort auf die grundsätzliche Frage in V. 6a enthalten. Inhaltlich ist eine Steigerung der Opfer bis zur höchstmöglichen (eigentlich verbotenen, siehe die Interpretation von S) Opferform, der Hingabe des eigenen Kindes, zu erkennen. V. 7b verdeutlicht, wozu diese Opfer dienen und zeigt zugleich, dass es hier nicht um einen normalen Opferkult geht, sondern um eine grundsätzliche Bereinigung des Verhältnisses zu Gott. Auch in V. 8 spricht eine einzelne Person. Da hier von JHWH in der dritten Person gesprochen wird, muss es sich um eine dritte Größe, wahrscheinlich den Propheten, handeln. 18 Formal betrachtet, schlüpft er in die Rolle eines am Heiligtum amtenden Priesters, der dem Opfernden üblicherweise Hinweise auf die JHWH-gefällige Darbringung des Opfers gibt (vgl. z. B. Hag 2,11-13). Entsprechend der unbestimmten Anrede „Mensch“ ָאדָ םist nun offensichtlich nicht mehr Israel als Ganzes, sondern der Einzelne im Blick. Die mit ָאדָ ם verbundenen Konnotationen19 lassen es dabei allem Anschein nach bewusst offen, ob es sich um den einzelnen Israeliten oder aber überhaupt um jeden (einzelnen) Menschen handelt. Es wird hier also offenbar ein Zweifaches bezweckt: Nach der kollektiven Anrede in Vv. 1-5, der zwischen kollektivem und individuellem Ich changierenden Vv. 6f (siehe unten) findet nun eine Fokussierung auf den einzelnen Israeliten und dabei zugleich eine Ausweitung über Israel hinaus statt, auf jeden möglichen Menschen auch unter den Völkern. 20 Rückblickend von V. 8 auf die vorausgehenden Vv. 6f lässt sich auch hier der Sprecher identifizieren. Von Vv. 35 kommend scheint es sich dabei zunächst um einen einzelnen Sprecher zu han17
Letzteres ist u. a. an dem Fragepartikel הin ה ֲאקַדְ ֶּמּנּו ַ , ֲהי ְִרצֶּהund ֵׂ( ַה ֶּאתvgl. Gesenius [wie Anm. 9], 172), aber auch an den sich ins Unermessliche bzw. Verbotene steigernden Opfergaben zu erkennen. 18 Die hier unpersönlich wiedergegebene Übersetzung „man hat dir verkündet“ könnte man mit Schart (wie Anm. 8), 197, folgendermaßen deuten: „Inhalt und Form von Mi 6,8 lassen es deshalb durchaus möglich erscheinen, daß bei der Vermittlungsinstanz der theologischen Summe in Mi 6,8 an Propheten, vielleicht sogar konkret an Hosea, Amos und Micha gedacht ist.“ Dies würde sich mit einer Beobachtung treffen, die ich anhand von Mi 2,6 formuliert habe, insofern der pluralische Vetitiv der Gegner Michas „Prophezeit nicht!“ sich über die Michaschrift hinaus auch auf Hosea und Amos bezieht, vgl. Zapff, Burkard M., Ist Micha der Amos des Südreiches? – Beobachtungen zum Verhältnis von Mi 2 und 3 zur Amosschrift, in: „Darum ihr Hirten, hört das Wort des Herrn“ (Ez 34,7.9). Studien zu prophetischen und weisheitlichen Texten, hrsg. von Müller, Christoph Gregor / Helmer, Matthias, Festschrift für Bernd Willmes zum 65. Geburtstag, Freiburg i. Br. 2017, 142-155, hier 148f. 19 Neben der Bezeichnung des ersten Menschen als אדם, wodurch die Gattungsbezeichnung „Adam“ schließlich zu einem Eigennamen wird (vgl. Gen 3,20), fungiert אדםvor allem als kollektive Artbenennung des Menschen i. S. von „Menschheit“, häufig aber auch, wie in unserem Fall, wird אדם zur Bezeichnung einzelner Individuen verwendet, aus denen die Menschheit besteht, i. S. von „jeder“. Dies ist besonders dann der Fall, wenn von „ כל אדםjeder Mensch“ gesprochen wird: z. B. Ps 39,6; Ijob 36,25, vgl. Gesenius (wie Anm. 9), 10. 20 Vgl. Riotto, Michelangelo, Il culto autentico (Mi 6,1-8), in: Parola di vita: rivista di formazione biblica; bimestrale dell’Associazione Biblica Italiana, Bd. 54, 2009, 22-28, hier 24: „L’orrizzonte tuttavia è più ampio, come già indica il contesto di 5,14; infatti al termine Dio interpellerà semplicemente l’uomo (v.8), conferendo così alle proprie parole una portata universale“; ähnlich Dempster, Stephen G., Micah. The Two Horizons Old Testament Commentary, Grand Rapids/Michigan 2017, 159.
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deln, der jedoch kollektiven Charakter hat. 21 Dafür spricht nicht zuletzt die riesige Zahl an Widdern für das Opfer und die noch einmal gesteigerte Zahl an Ölbächen, die addiert auf den gesamten Opferbetrieb am Tempel dann doch nicht unfassbar erscheint.22 Allerdings verändert sich der Eindruck einer kollektiven Größe spätestens von V. 7b her, geht es doch hier um die (theoretische) Hingabe des Erstgeborenen und der eigenen Leibesfrucht, noch dazu für das eigene Selbst, bzw. die eigene Person23, womit wohl נפשוzu übersetzen ist.24 Der Einzelne tritt damit als Teil des Volkes Israel zunehmend in den Blick, dessen widerspenstiges Verhalten auf die Ebene des Einzelnen heruntergebrochen wird und vom Einzelnen aufzuarbeiten ist. Für diesen Zusammenhang spricht schließlich auch die Aufnahme des Stichwortes „was“ מהin V. 8. Fragt JHWH in V. 3 nach dem, „was“ er Israel angetan habe und in V. 5 „was“ Balak gegen Israel plante und „was“ ihm Bileam antwortete, um diesen Plan zu vereiteln, so verkündet V. 8 jedem Einzelnen, „was“ er tun könne, um der Erwartung JHWHs zu entsprechen und seine Sünden zu tilgen. Nach dieser ersten Übersicht nun ein weiterer Blick auf die kontextuelle Einbindung, die manches von dem Gesagten noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lässt.
5. Kontextuelle Bezüge Zunächst unabhängig davon, wie man die folgenden Beobachtungen aus der redaktionskritischen Perspektive heraus wertet, fällt auf, dass Mi 6,1-8 eine ganze Reihe von semantischen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit den vorausgehenden Kapiteln in der Michaschrift teilt. Hinzu kommt, dass auch Rückbezüge auf die beiden, im Dodekapropheton vorausgehenden, Schriften Hosea und Amos festzustellen sind, so dass man Mi 6,1-8 beinahe als so etwas wie eine Zusammenfassung wichtiger Themen der Botschaft Hoseas, Amos und Michas betrachten könnte. 25 Auch hier zunächst die wichtigsten Beobachtungen: Der mit einem Nachdruck versehene Höraufruf in Mi 6,1 („Höre doch“ שמְעּו־נָא ִ ) eröffnet nicht nur einen neuen Abschnitt, sondern greift positiv gewendet ein Stichwort auf, mit dem Mi 5,14 21 22
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24 25
Möglicherweise ist hier zunächst an Israel gedacht, in dessen Namen der Prophet als Einzelner spricht. So etwa Utzschneider, Helmut, Micha, Züricher Bibelkommentare, Zürich 2005, 136; allerdings ist durchaus eine Steigerung angezielt, die dann ihren Schlusspunkt im (hypothetischen) Menschenopfer findet. Vgl. auch Dempster (wie Anm. 20), 156, der im Zusammenhang des Kindesopfers von einer Verstärkung hinsichtlich der Intimität und Personalität spricht: „The reference to ‚fruit of my womb‘ intensifies the word ‚firstborn,‘ making it more intimate and personal.“ Siehe die Anmerkung zu V. 7 unter „Textkritik“. So bereits Schart (wie Anm. 8), 197: „Es zeigt sich, daß die Formulierungen in Mi 6,8 wichtige Zentralbegriffe nicht nur aus Mi, sondern auch aus Am und Hos aufnehmen, um so etwas wie eine Summe prophetischer Sicht dessen, was Jahwes Wille ist zu formulieren“; vgl. Jeremias, Jörg, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, ATD 24,3, Göttingen 2007, 199.
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endete, wo von den Völkern die Rede ist, die nicht hören ( שמֵׂעּו ָ )הַגֹוי ִם ֲאשֶּר ֹלא. Durch seine nachdrückliche Form bezieht sich der Höraufruf zugleich auf die beiden Höraufrufe in Mi 3,1 und 9, die dort jedoch an konkrete Adressaten – die „Häupter (des Hauses) Jakobs“ bzw. die „Ältesten des Hauses Israels“ – ergehen. Zudem könnte auch Mi 1,2 im Blick sein, wo sich der Höraufruf, diesmal jedoch nicht mit einem Nachdruck versehen, an die Völker richtet. Gegenüber diesen Höraufrufen fällt nun auf, dass Mi 6,1 ohne jegliche Adressatennennung ergeht. Angesprochen sein können hier alle bisher genannten Adressaten der Michaschrift. Darüber hinaus aber auch der fiktive Leser der Michaschrift! 26 In jedem Fall geschieht hier offensichtlich eine bewusste Ausweitung gegenüber den vorausgehenden Höraufrufen. Wenn in V. 1b von „Bergen“ die Rede ist, die vom Handeln JHWHs betroffen sind und dabei wahrscheinlich als Prozessgegner fungieren 27, so wird damit ein Stichwort aus Mi 1,4 aufgegriffen, wo ebenfalls zunächst die Berge vom Handeln JHWHs betroffen sind, die angesichts der Theophanie JHWHs zerschmelzen. Ähnlich wie dort, mündet das Geschehen auch hier in eine Auseinandersetzung JHWHs mit seinem Volk (vgl. Mi 6,2a und Mi 1,5-7). D. h. das Folgende geschieht in einer universalen Perspektive, bei der die möglichen Adressaten nicht nur Zeugen, sondern zugleich in irgendeiner Form involviert sind. Dies unterscheidet Mi 6,1 auch von einer ähnlichen Eröffnung in Jes 1,2, wo sich zwar auch Größen der Schöpfung („Himmel“ und „Erde“) als Zeugen der Auseinandersetzung JHWHs mit seinem Volk finden, eigentliche Adressaten hier aber ausschließlich Israel bzw. Jerusalem und Juda sind. Die folgenden Verse weisen nun, wie bereits gesagt, eine Reihe von Rückbezügen zur Hosea- und Amosschrift auf. So erinnert die Rede vom „Streit JHWHs“ mit seinem Volk an Hos 4,1, wo vom Streit JHWHs mit den „Bewohnern des Landes“ (ָָארץ ֶּ שבֵׂי ה ְ )כִי ִריב לַ ַֽיהוָה עִם־יֹוdie Rede ist. Demnach bezeugt Micha diesen Rechtsstreit, weitet ihn aber nun auf ganz Israel aus,28 zu dem, neben den Bewohnern des Nordreiches, auch die des Südreiches zählen, was durch die Parallelstellung „mein Volk“ und „Israel“ in V. 3a unterstrichen wird. Der im Rahmen der Auseinandersetzung von JHWH angeführte Rückverweis auf sein Heilshandeln an Israel durch die Hinaufführung aus Ägypten in V. 4aα nimmt fast wörtlich Formulierungen aus Amos 2,10a; 3,1 und 9,7b auf, 29 die dort ebenfalls mit einem, diesem Heilshandeln JHWHs nicht angemessenen, Verhalten Israels konfrontiert werden. Synchron gelesen macht sich der literarische 26 27
Vgl. Utzschneider, Micha (wie Anm. 22), 130. Diese zunächst recht merkwürdige Konstellation führt in der Forschung zu verschiedenen Lösungsvorschlägen, welche die „Berge“ metaphorisch verstehen wollen. Wöhrle, Jakob, Die frühen Sammlungen des Zwölfprophetenbuches. Entstehung und Komposition, BZAW 360, Berlin / New York 2006, 172f möchte in Anlehnung an Codex Vaticanus (siehe Textanmerkungen) in den Bergen die Völker sehen, von denen bereits in Mi 5,14 die Rede ist; Wright, Ernest G., The Old Testament against Its Environment, SBT 2, Chicago, repr. London 1950, 36 hingegen schreibt: „Must we not interpret such passages in the light of the Divine Assembly, the members of which constitute the host of heaven and of earth?“. 28 Vgl. Schart (wie Anm. 8), 192; allerdings wird das Motiv des (Rechts-)streites nach Schart in der Form aufgenommen, dass JHWH nicht mehr die Schuld beim Volk, sondern bei sich selbst sucht. 29 Vgl. Vermeylen (wie Anm. 16), 596.
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Micha somit die Worte Hoseas und Amos zu eigen. Dies gilt nicht zuletzt für die Frage der Angemessenheit eines Opfers für JHWH, die Mi 6,6-8 behandelt. So wird auch in Amos 5,22 die Darbringung von Brandopfern als etwas charakterisiert, woran JHWH kein Gefallen hat: „Wenn ihr mir auch Brandopfer opfert und an euren Gaben habe ich kein Gefallen“ כִי אִם־תַ עֲלּו־לִי ע ֹלֹות ּו ִמנְח ֹתֵׂ יכֶּם ֹלא א ְֶּרצֶּה. Ähnlich wie hier, werden auch in Amos 4,4 verschiedene Opferarten genannt, die zwar Israel liebt, die das Gerichtshandeln JHWHs aber dennoch nicht abwenden können. Vor dem Hintergrund der Verkündigung beider Propheten, insbesondere des Amos, müsste eigentlich der Fragesteller in V. 6f bereits die negative Antwort wissen, was ja die rhetorischen Fragen, die eine negative Beantwortung implizieren, im Grunde bereits erkennen lassen. Die Stichworte „verkünden“ ִהגִיד, „meine Sünde“ שעִי ְ ִפund „Schuld meiner Person“ ַחטַאת נַ ְפשִיin V. 7 weisen auf Mi 3,8 zurück,30 wo der (literarische) Micha davon spricht, dass es seine Aufgabe sei, „Jakob seine Sünde und Israel seine Schuld zu verkünden“ ְל ַהגִיד ְל ַי ַֽ ֲעק ֹב ִפשְעֹו ּו ְליִש ְָראֵׂל ַחטָאתֹו. Damit aber greift der Sprecher die dortige Verkündigung des Propheten an Jakob und Israel auf und erklärt sie für berechtigt. Allerdings wird sie nun – zumindest grammatikalisch – individualisiert. Ist in Mi 3,8 von der Sünde Jakobs und dem Vergehen Israels die Rede, so spricht in Mi 6,7 ein Einzelner, wobei dieser, wie bereits gesagt, vom Verständnis her zwischen einer kollektiven und individuellen Größe changiert. Wenn V. 8 davon spricht, dass „man“ bereits verkündet hat, „was gut ist“ מַה־טֹובund was JHWH erwartet, so ist dies offensichtlich vor dem Hintergrund von Mi 3,2a zu lesen.31 Dort nämlich verurteilt der Prophet die Oberschicht, weil sie das Gute hassen und das Böse lieben: שֹנְאֵׂי טֹוב וְא ֹ ֲהבֵׂי ָרעָה. Zugleich bezieht sich der Vers auf Amos 5,14f, wo der Prophet dazu auffordert, das Gute und nicht das Böse zu suchen: ְַאל־רע ָ דִ ְרשּו־טֹוב ו, weil eben JHWH das Gute sucht. Stehen diese Formulierungen an den genannten Stellen im Kontext einer Anklage des Propheten gegen einzelne Gruppen im Volk, ja ganz Israel, so werden sie hier nun durch die Anrede „Mensch“ auf jeden Einzelnen fokussiert und gleichzeitig zu einer allgemeinen universalen Forderung. Dies gilt nicht zuletzt auch für die weiteren Lexeme, die V. 8 verwendet. So betrachtet es Mi 3,1 als Aufgabe der Häupter Israels das „Recht“ שפָט ְ ַה ִמzu kennen, welches diese aber entsprechend Mi 3,9 verabscheuen. 32 Auch in der Verkündigung des Amos spielt der Begriff „Recht“ eine wichtige Rolle (vgl. Amos 5,7.15.24). „Treue“ ֶּחסֶּדhingegen findet sich als wichtiger Begriff in der Prophetie des Hosea33 und erscheint dort ebenfalls in Alternative zur Opferpraxis (Hos 4,1; 6,6). In Hos 12,7 mündet zudem, ähnlich wie in Mi 6,8, das Bewahren von „Treue“ und „Recht“ in eine positive Haltung gegenüber „deinem Gott“:
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Vgl. Nogalski, James, Literary Precursors to the Book of the Twelve, BZAW 217, Berlin / New York 1993, 142; er denkt vor allem an Mi 1,5-7. 31 Vgl. Schart (wie Anm. 8), 195. 32 Vgl. Kessler, Rainer, Micha, HThKAT 49, Freiburg / Basel / Wien 1999, 260. 33 Vgl. Utzschneider, Micha (wie Anm. 22), 140.
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„Treue und Recht bewahre und hoffe allezeit auf deinen Gott“ שפָט שְמ ֹר ְו ַקּוֵׂה ְ ֶּחסֶּד ּו ִמ אֶּל־אֱֹלהֶּיָך תָ מִיד. Auch die bereits beobachtete Individualisierung bei gleichzeitiger Universalisierung durch die Anrede des Adressaten mit אדםfindet in V. 8 ihre inhaltliche Bestätigung. So fordert Mi 6,8b dazu auf, „achtsam zu gehen mit deinem Gott“. Dies aber erinnert an den Wunsch der Völker in Mi 4,2c, JHWH möge sie unterweisen, damit sie auf seinen Wegen gehen können34: „Und er lehre uns seine Wege und auf seinen Pfaden wollen wir gehen“ ְיֹורנּו מִדְ ָרכָיו ְונֵׂ ְלכָה בְא ֹ ְַֽרח ֹתָ יו ֵׂ ו. Jene dort von den Völkern ersehnte Weisung JHWHs wird nun in Mi 6,8 eingelöst. 35 Tatsächlich erhält hier jeder – – אדםdie entsprechende Weisung JHWHs. Damit aber wird gleichzeitig die für die Jetztzeit geltende Aussage in Mi 4,5 aufgehoben, wo jeder Angehörige der Völker „im Namen seines Gottes“ und nur Israel im Namen JHWHs geht. Mi 6,8 schließt damit alle möglichen Adressaten des Höraufrufs in Mi 6,1 in einer Aufforderung zusammen. Er enthält die passende Antwort, die Israel auf die Fragen JHWHs in Vv. 3-4 geben könnte, er ruft dabei jeden einzelnen Israeliten dazu auf, diese Antwort in seinem Handeln zu geben. Gleichzeitig richtet er sich an die, im Unterschied zu Mi 5,14, hörbereiten Völker und gibt ihnen die Antwort auf die von ihnen in Mi 4,2c geäußerte Sehnsucht von JHWH Belehrung zu erhalten. Der Vers eröffnet auch hier jedem einzelnen unter den Völkern die Möglichkeit, seinen persönlichen Beitrag zu leisten und damit den Unterschied zwischen Israel und den Völkern in Mi 4,5 aufzuheben. Mit Mi 6,8 endet nicht nur ein sinn- und nutzlos gewordener Opferdienst, sondern zugleich werden Israel und die Völker durch das Tun jedes Einzelnen zu einer neuen Einheit zusammengeführt.
6. Literarkritische und redaktionsgeschichtliche Überlegungen Auch Mi 6,1-8 wurde in der Forschungsgeschichte verschiedentlich einer literarkritischen Analyse unterzogen. Zwei Indizien für eine literarkritische Scheidung wurden dabei immer wieder angeführt. So fällt, wie bereits mehrfach erwähnt, der doppelte Höraufruf in Vv. 1a und 2a auf, der sich an verschiedene Adressaten richtet (V. 1a: unbestimmt; V. 2a: Berge/Fundamente der Erde). Tatsächlich scheinen sich dabei unauflösbare inhaltliche Spannungen zu ergeben, sind doch die Berge in V. 1b allem Anschein nach Streitgegner JHWHs36, während sie in V. 2 zu 34
Einen Bezug zu Mi 4,1-4 stellt bereits Kessler (wie Anm. 32), 270 her: „‚Der Mensch‘ weiß nur, ‚was gut ist‘, wenn er mit ‚den Völkern‘ zum Zion zieht und sich von dort Weisung holt (Mi 4,14).“ 35 Smith-Christopher (wie Anm. 16), 197 stellt darüber hinaus eine Verbindung mit Mi 4:5 her: „Finally, I stress the association of ‘walking’ with God in Mic 6:8 and walking with God in peace in 4:5“. 36 Gelegentlich wurde deshalb vorgeschlagen, das אתals Präposition i. S. von „bei“ zu übersetzen, also „bei den Bergen“.
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Zeugen der Auseinandersetzung JHWHs mit seinem Volk werden. Zudem wechseln, wie ebenfalls bereits gesagt, die jeweiligen Adressaten. In V. 1a werden anonyme Adressaten angesprochen, in V. 1b ist wohl JHWH Adressat, an den die Aufforderung ergeht, einen Streit mit den Bergen zu erheben, während in V. 2a die Berge Adressaten der Anrede sind und in V. 2b über JHWH bzw. über den Streit mit seinem Volk gesprochen wird. V. 1a scheint dabei, wie bereits die synchrone Analyse ergeben hat, im Hinblick auf Mi 5,14 formuliert zu sein. In V. 3a wiederum wechselt der Adressat, insofern nun Israel selbst Objekt der Anrede JHWHs ist. Dies wiederum weist auf den Aufruf (wohl des Propheten) in V. 1 zurück, auf das zu hören, was JHWH spricht. Man könnte also V. 1a als Aufruf an ein universales Forum verstehen, vor dem sich der Streit JHWHs mit Israels vollzieht, eine Vorstellung, die auch Mi 1,2 (Höraufruf an die Völker) und Jes 1,2 (Höraufruf an Himmel und Erde) belegen. Allerdings sind, entsprechend Mi 1,2, die Völker selbst Objekte der Zeugenschaft JHWHs, während sie hier nur hören sollen, was JHWH spricht. Entscheidet man sich in Mi 1,2 mit guten Gründen, diesen Vers als nachträgliche Ergänzung auszuscheiden, 37 so gilt dies wohl auch im vorliegenden Fall. Damit könnte man den beschriebenen Unterschied zu Mi 1,2 so begründen, dass dort die Völker noch eine undifferenzierte Einheit bilden, während sie sich hier in Völker aufteilen, die nicht hören und somit dem Gericht JHWHs verfallen (Mi 5,14) und Völker, die hören und sich das folgende zu Herzen nehmen sollen (Mi 6,1). Dabei ist der Vers wohl im Zusammenhang mit Mi 5,14 eingefügt worden.38 V. 2a könnte man dann analog zu Jes 1,2 als ursprüngliche Eröffnung des Kapitels betrachten, der seine Fortsetzung in V. 2b findet, in dem der Rechtstreit JHWHs mit seinem Volk angekündigt wird. Dafür spricht auch, dass dieser Versteil durch das Stichwort „sein Volk“ עמוmit „mein Volk“ עמיin V. 3a verknüpft. D. h. das eigentliche inhaltliche Problem der beiden Eingangsverse liegt in V. 1b. Hier hilft m. E. ein Blick auf den Beginn der Michaschrift in Mi 1 weiter. Auch dort werden zunächst die Berge von der Theophanie JHWHs tangiert, insofern sie vor ihm zerschmelzen (Mi 1,4). Die Auseinandersetzung mit Israel betrifft also den ganzen Kosmos (vgl. Mi 1,4 mit M 1,5f). Zudem kommen die Berge bzw. Höhen als Orte des Götzendienstes (vgl. Mi 1,5c) und der Sünde (Mi 3,11f) in den Blick, sind also ebenso wie Israel nicht schuldfrei. Diese enge Verknüpfung von Israel und den Bergen scheint nun auch hier aufgenommen zu werden, so dass m. E. für eine literarkritische Scheidung zwischen V. 1b und 2a keine ausreichenden Gründe bestehen. Es bleibt also als ursprünglicher Text Vv. 1b-5. Ein zweiter Punkt betrifft das literarische Verhältnis der beiden Abschnitte Vv. 3-5 und Vv. 6-8. Nicht nur formal, sondern auch inhaltlich differieren beide Textabschnitte erheblich. Geht es in Vv. 3-5 um eine Art Verteidigungsrede JHWHs, so 37
Vgl. Zapff, Burkard M., Wie Micha zu Jesaja wurde, in: Blumberg, Anselm / Petrynko, Oleksander (Hg.), Historia magistra vitae. Leben und Theologie der Kirche aus ihrer Geschichte verstehen. Festschrift für Johannes Hofmann zum 65. Geburtstag, Eichstätter Studien NF 76, Regensburg 2016, 539-555, hier 544.552. 38 So jüngst auch wieder Wöhrle (wie Anm. 27), 173.
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sind die Vv. 6-7 formal und inhaltlich im Stil einer Anfrage eines am Heiligtum Opfernden an den dort amtenden Priester gehalten, 39 worauf in V. 8 eine grundsätzliche Antwort erfolgt. Dabei entsprechen die Fragen in keiner Weise der in V. 3b von JHWH erwarteten Antwort. Dies gilt nicht nur deshalb, weil es sich hier statt einer Antwort formal um weitere, wenn auch rhetorische Fragen handelt und diese von einem anderen Subjekt gestellt werden, sondern auch deshalb, weil die damit verknüpften Implikationen – angemessene Mittel zur Sündentilgung – grundsätzlich an den von JHWH gestellten Fragen vorbeigehen. Dennoch sind beide Abschnitte in verschiedener Weise miteinander verknüpft. Zu nennen ist hier das Fragepronomen „was“ מה, das beide Abschnitte durchzieht (V. 3, 5aα.β jeweils מה, 6aα במה. 8aα.β מהbzw. )ומהund der durchgängige Rückbezug auf die Prophetie der Hosea- und Amosschrift. Inhaltlich kann man Vv. 6-7 insofern als Fortsetzung von Vv. 3-5 verstehen, als hier ein Eingeständnis schuldhaften Verhaltens gegenüber JHWH vorliegt, weil etwa Israel auf dessen Heilstaten nicht in adäquater Weise antwortete. Dabei will das hier sprechende Subjekt die Großtaten JHWHs nun mit menschlichen Großtaten bezüglich der Opferpraxis beantworten. Aus diesen Überlegungen wiederum ergibt sich, dass Mi 6,1-8 – abgesehen von V. 1a – mit großer Wahrscheinlichkeit als literarisch einheitlich zu betrachten ist. 40 Hinsichtlich einer redaktionsgeschichtlichen Beurteilung von Mi 6,1-8 im Kontext der heutigen Michaschrift wurde in jüngerer Zeit 41 (wieder) auf die starke Prägung des Abschnittes durch nordisraelitische Traditionen, wie etwa das Exodusmotiv oder die erwähnten Bezüge zu hoseanischer und amosischer Prophetie hingewiesen, so dass manche hier ein Relikt nordisraelitischer Prophetie vermuten. So hat bereits van der Woude die These eines „Deuteromicha“ entwickelt 42, dem er neben Mi 6,1-8 auch Mi 6,9-16 und 7 zuweisen wollte. Nun weisen jüngere Studien zur Michaschrift daraufhin43, dass auch Mi 1-3 starke Korrespondenzen zur
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40 41
42 43
Vgl. Lescow, Theodor, Redaktionsgeschichtliche Analyse von Micha 6-7, ZAW 84, 1972, 182-212, hier 188. Dabei merkt Lescow mit Recht gegenüber früheren Annahmen an, dass Mi 6,6-8 keinen unmittelbar kultischen Anlaß reflektiert; ob man deshalb, wie Lescow meint, von einer „ironischpolemischen Glossierung“ ausgehen kann, bleibt doch eher fraglich; es geht hier ja nicht um eine grundsätzliche Ablehnung des Kultes, sondern um dessen Nutzlosigkeit bei der Tilgung von Sünden; vgl. auch Utzschneider, Micha (wie Anm. 22), 135. Gegen Wöhrle (wie Anm. 27), 174 So etwa Joosten, Jan, YHWH’s Farewell to Northern Israel (Micah 6,1-8), ZAW 125, 2013, 448462. Er vermag vor allem eine Reihe von Verbindungslinien zu 1 Sam 12 aufzuweisen und interpretiert diese als Hinweis darauf, dass durch die Darstellung der Rede JHWHs im Gewand Samuels das definitive Ende der Beziehung JHWHs zum Nordreich Israels angezeigt werde; durch seine Fokussierung auf 1 Sam 12 übersieht er jedoch die gleichzeitig bestehenden Beziehungen zu Jos 24. Dann aber geht es hier nicht um das Ende der Beziehung JHWHs zum Nordreich, sondern um das letzte und entscheidende Wort JHWHs an sein Volk und die daraus zu ziehenden Folgerungen i. S. einer positiven Entscheidung. Vgl. Woude, Adam S. van der, Deutero-Micha: Ein Prophet aus Nord-Israel?, NedThT 25, 1971, 365-378. Vgl. Corzilius, Björn, Michas Rätsel. Eine Untersuchung zur Kompositionsgeschichte des Michabuches, BZAW 483, Berlin / Boston 2016, 188; Zapff, Micha zu Jesaja (wie Anm. 37); Ders., Micha der Amos (wie Anm. 18), 147-152; Ders., Rückschlüsse aus der Entstehung der Michaschrift
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Hosea- und Amoschrift aufweist, ein Sachverhalt, der etwa auch durch die in der Überschrift der Michaschrift entwickelte Hermeneutik, welche in Korrespondenz zu Hos 1,1 und Amos 1,1 steht, unterstrichen wird. 44 Dabei zeigt sich in Mi 6,1-8, dass dieser Abschnitt wesentliche Aussagen der Michaschrift aufgreift und weiterführt. Dies gilt in erster Linie durch die in V. 7 zum Ausdruck kommende Anerkennung von Schuld und Sünde, die nun nicht mehr nur als kollektive, sondern gleichzeitig auch als individuelle Problematik erkannt wird. Gleichzeitig wird, ebenfalls in Anklang an amosische Worte, ein adäquater Weg zur Bewältigung der Schuld und der Etablierung eines heilen JHWH-Verhältnisses gewiesen (vgl. V. 8). Dabei scheint der Vers bereits durch die allgemeine Formulierung eine weitere Adressatenschaft im Blick zu haben, die sowohl individualisiert wie universalisiert wird und dabei an Formulierungen der Völkerwallfahrt anknüpft (siehe oben). Dies aber spricht dafür, dass Mi 6,1-8 auf dieselbe literarische Ebene zu setzen ist, wie diejenigen Texte in Mi 1-3 und wohl auch Mi 4,1-3; 5,9-13, die ähnliche Berührungen mit Hosea und Amos aufweisen und ausgehend von einem Grundbestand im Städtegedicht in Mi 1,9-16 überhaupt erst die heutige Michaschrift im Kontext von Hosea und Amos (und Jesaja) kreierten. Dabei dürfte es sich bei Mi 6,1-8* (möglicherweise zusammen mit Mi 6,9-16) um den einstigen Abschlusstext der Michaschrift gehandelt haben. Durch die Einfügung einer umfangreichen Fortschreibung in Mi 7 und Mi 1-5, der wir u. a. Mi 1,2 und Mi 5,14 verdanken, 45 wurde nun auch Mi 6,1a eingefügt, so dass ausdrücklicher Adressat von Mi 6,8 nicht allein Israel und der Einzelne in ihm, sondern auch jene Völker und jeder Einzelne in ihnen ist, der im Unterschied zu Mi 5,14 „hört“. Ist dort von einem Völkergericht die Rede, so eröffnet sich nun hier auch den Völker die Möglichkeit des Heiles und jene in Mi 4,2c formulierte Sehnsucht der Völker „auf den Wegen JHWHs zu gehen“ wird konkretisiert. Auffällig dabei ist, dass sich eine solche Tendenz zur Individualisierung bei gleichzeitiger Universalisierung im Hinblick auf Menschen aus den Völkern auch in Jes 56,1-8 findet. Ähnlich wie in Mi 6,8 findet sich auch dort ein Aufruf das Recht zu wahren und es wird der Mann und der „Sohn des Menschen“ ( !בֶּן־ָאדָ םV. 2) seliggepriesen, der dies tut. Wie die folgenden Verse zeigen, vollzieht sich dabei auch in Jes 56 eine Ausweitung auf Menschen aus den Völkern, wenn hier sogar Proselyten und Verschnittene Teil des Gottesvolkes sein können. Zwar unterscheidet sich Jes 56,1-8 insofern, als hier auch noch von einem Opferkult die Rede ist, an dem JHWH Gefallen hat, dennoch sind diese Ähnlichkeiten auffallend und könnten auf ähnliche theologische Kreise im schriftgelehrten Judentum hinweisen, die in beiden Corpora, dem Jesajabuch und dem Zwölfprophetenbuch tätig waren. auf das Werden des Zwölfprophetenbuches, in: Fabry, Heinz-Josef, The Books of the Twelve Prophets. Minor Prophets – Major Theologies, BETL CCXCV, Leuven / Paris / Bristol 2018, 79-101. Vgl. Schart (wie Anm. 8), 42-46.220-223; Zapff, Micha zu Jesaja (wie Anm. 37), 541-543; Ders. Micha der Amos (wie Anm. 18), 142-144. 45 Vgl. Zapff, Burkard M., Redaktionsgeschichtliche Studien zum Michabuch im Kontext des Dodekapropheton, BZAW 256, Berlin / New York 1997; Zusammenfassung auf S. 296f. 44
Israel, der Einzelne und die Völker
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7. Zusammenfassung Die synchrone, kontextbezogene und diachrone Analyse hat gezeigt, dass es sich bei Mi 6,1-8 um einen theologischen Abschlusstext in der Michaschrift handelt, der durch seine Kontextualisierung im Zusammenhang mit Mi 4,1-3 und 5,14 eine Ausweitung seines Adressatenkreises erfahren hat. Während V. 8 wohl ursprünglich nur an den Einzelnen in Israel gerichtet war, erfährt er durch die Einbindung in die Völkerperspektive der Michaschrift Mi 1,2 und 5,14 eine Ausweitung der Adressatenschaft. Gleichzeitig zeigt sich an diesem Text, dass dessen Formulierung offensichtlich mit einem neuen Bewusstsein der Verantwortung jedes Einzelnen einhergeht, der sich gerade als Einzelner als Teil Israels versteht und daraus die Umkehr aus Sünde und Schuld und die Erneuerung seines Volkes leisten will und kann. Diese Verbindung zwischen Einzelnem und Volk wird nicht zuletzt daran deutlich, dass das sprechende menschliche Ich in Mi 6,1-8 kollektiv und individuell verstanden werden kann, wobei der Duktus des Textes eine stärkere Individualisierung nahelegt. Dahinter steht offensichtlich eine Zeit, in der sich der einzelne Gläubige in Israel stärker seiner Individualität bewusst wurde, ohne deshalb den Bezug zum Gottesvolk zu übersehen oder gar zu verlieren. Die anhand der diachronen Analyse festzustellende Ausweitung auf die Völker, in der auch jeder Einzelne seinen Weg mit dem Gott Israels gehen kann, steht offenbar vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass es auch unter den Völkern Menschen gibt, die „tun, was mir (JHWH) gefällt“ (vgl. Jes 56,4). So scheint sich diese Ausweitung in ähnlichen theologischen Kreisen vollzogen zu haben, denen wir die jüngsten Fortschreibungen des Jesajabuches verdanken. Der Mensch als Einzelner oder als soziales Wesen? Mi 6,1-8 zeigt m. E. einen Weg, der die Extreme meidet, wo sich der Einzelne als Teil des Gottesvolkes durchaus seiner Verantwortung für das Ganze bewusst ist, und das Gottesvolk seine Grenzen auf die Völkerwelt hin öffnet. Vielleicht nicht der schlechteste Weg um als Christ in den Umbrüchen unserer Zeit und Kirche zu bestehen.
„Sorgt euch nicht um euer Leben!“ (Mt 6,25)
Das Bild vom Menschen in der Verkündigung Jesu
Lothar Wehr
1. Hinführung Wenn in dieser Festschrift – ganz im Sinne des Geehrten – Anregungen für eine heutige Anthropologie geboten werden sollen, dann ist aus Sicht des Neutestamentlers besonders ein Blick auf den historischen Jesus erhellend. Jesus hat in Bezug auf sein Menschenbild – wie auch in anderen Fragen, z. B. in der Gesetzesthematik – keine systematische Lehre hinterlassen. Seine Anthropologie kann deshalb nur von einzelnen seiner Äußerungen her erschlossen werden. Grundlegend ist dabei seine Verkündigung von der Herrschaft Gottes. In Jesu Wirken bricht die endzeitliche Gottesherrschaft bereits an. Dies bedeutet, dass Gott mit seiner heilenden und neuschaffenden Macht dem Menschen entgegenkommt. Die Menschen erfahren diese Macht Gottes im Rahmen des Wirkens Jesu in sehr unterschiedlicher Weise. Gottes machtvolles Wirken begegnet den Menschen in den Heilungswundern Jesu, in der Vergebungsbotschaft und in der Auslegung der Tora, die auf das umfassende Wohl des Menschen abzielt. Beispielsweise sind Heilungen am Sabbat geboten (Mk 3,1-6), weil sie der Freude des Sabbats entsprechen; die Nächstenliebe umfasst auch die Liebe zum Feind (Mt 5,44); das Verbot des Tötens schließt das Vermeiden des Zürnens im Herzen ein, wo der Ursprung der bösen Tat liegt (Mt 5,21f) usw. Jesus handelt vom Menschen also immer in Hinblick auf dessen Bezug zu Gott. Im Folgenden sollen einige wichtige Züge des jesuanischen Menschenbildes skizziert werden. Im Anschluss daran werden einige Konsequenzen für den christlichen Glauben und dessen Verkündigung in unserer Zeit aufgezeigt. Dazu soll es zunächst um den historischen Jesus gehen; es soll also von den Jesusworten ausgegangen werden, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als historisch erweisen lassen. Die Deutungen und die Anliegen der Evangelisten sollen weitgehend ausgeblendet werden. Es geht also um die Grundlagen der christlichen Verkündigung in der Botschaft Jesu selbst.
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2. Grundzüge des Menschenbildes Jesu Grundlegend für das Menschenbild Jesu ist, dass er den Menschen im Gegenüber zu Gott sieht. Dies hängt mit seiner Botschaft von der Gottesherrschaft zusammen. Im Wirken Jesu kommt Gott mit seiner heilsamen Macht auf die Menschen zu. Die Gottesherrschaft, die sich in den Zeichenhandlungen, den Wundern und den Worten Jesu zeigt, insbesondere seiner neuen Auslegung des jüdischen Gesetzes, offenbart, dass Gott sich den Menschen in Liebe und Wohlwollen zuwendet. Bei Jesus ist dies aber nicht nur eine Zusage in Worten; die Zuwendung Gottes wird vielmehr in seinem Wirken für die Menschen erfahrbar. Krankheiten werden geheilt, Dämonen, die man im Rahmen der Verkündigung Jesu vor allem als Verursacher von Krankheiten zu denken hat, werden ausgetrieben, Sündenvergebung durch Gott wird den Menschen zugesagt, das Sabbatgebot und andere Tora-Gebote werden zum Wohle des Menschen neu ausgelegt. Jesus offenbart also in seinem Wirken die Liebe Gottes zu den Menschen. Genau dies ist Grundlage des jesuanischen Menschenbildes. Der Mensch steht vor Gott als Empfangender, er erfährt die Gnade Gottes und ist nun aufgerufen, auf das heilende Handeln Gottes zu antworten. Dabei ist zunächst das glaubende Vertrauen des Menschen wichtig, dass er Gott entgegenbringt.
2.1 Der Mensch als Glaubender Der Glaube als Grundhaltung des Menschen Gott gegenüber begegnet immer wieder in der Jesusüberlieferung, insbesondere im Zusammenhang mit Wundern Jesu. Mehrfach heißt es da: „Dein Glaube hat dich gerettet“ (Mt 9,22; Mk 5,34; 10,52; Lk 7,50; 8,48; 17,19; 18,42). Auch wenn sich dieser Satz nicht sicher als historisches Jesuswort erweisen lässt und auch wenn er zumindest in einigen Wundererzählungen nachösterlich hinzugefügt wurde, gibt er doch einen wichtigen Zug der Verkündigung Jesu wieder. Jesus kann nur dort Wunder wirken, wo die Menschen Glauben haben, also Vertrauen in Gott und Offenheit für das Wirken Gottes. Wer diesen Glauben hat, dem verheißt Jesus, dass er mit seinem Glauben – im Bild gesprochen – einen Maulbeerbaum ins Meer versetzen kann (Lk 17,6), ja, dass ihm alles möglich ist (Mk 9,23: „Alles kann, wer glaubt.“). Als ganz auf Gott Vertrauende brauchen die Jünger Jesu sich nicht zu sorgen: „Sorgt euch nicht um das Leben, was ihr essen sollt, und nicht um den Leib, was ihr anziehen sollt“ (Lk 12,22). Begründet wird diese Mahnung mit Hinweisen auf die Schöpfung, auf die Raben und die Lilien, die von Gott versorgt bzw. prächtig gekleidet werden (Lk 12,24.27). Diese weisheitlich geprägte harmonische Sicht auf die Schöpfung finden wir immer wieder in der Verkündigung Jesu. So verweist Jesus darauf, dass Gott „die Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). In seiner Schöpfung sorgt Gott in gleicher Weise für alle, ob sie nun seinem Willen folgen oder nicht. Im
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Matthäusevangelium wird damit die Forderung Jesu begründet, auch die Feinde zu lieben (Mt 5,44), sie also in die Nächstenliebe einzuschließen. 1 Diese Argumentation ist Jesus zuzutrauen, spielt doch das Schöpferhandeln Gottes immer wieder auch in der ethischen Botschaft Jesu eine Rolle. Die Jünger Jesu sollen sich an der Gottesherrschaft ausrichten. Um die Gottesherrschaft zu erlangen, soll man zum Einsatz seines Lebens bereit sein. In sehr drastischen Metaphern unterstreicht Jesus, wie wertvoll das verheißene Heil ist: „Wenn dich dein rechtes Auge zum Anstoßnehmen [= Abfall von Gott] bewegt, dann reiß es aus und wirf es von dir! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verlorengeht, als dass dein ganzer Leib in die Gehenna geworfen wird. Und wenn dich deine rechte Hand zum Anstoßnehmen bewegt, dann hau sie ab und wirf sie von dir! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verlorengeht, als dass dein ganzer Leib in die Gehenna kommt“ (Mt 5,29-30). Hier liegt keine Aufforderung zur Selbstverstümmelung vor, sondern eine eindringliche Mahnung. Sogar das Wertvollste soll der Mensch aufgeben, wenn er dadurch der Gehenna entgehen und die Gottesherrschaft erlangen kann. Jesus selbst hat sich ganz in den Dienst der Gottesherrschaft gestellt. Dies erweist sich nicht nur in seiner Verkündigung in Wort und Tat, sondern auch in seiner Bereitschaft, am Ende seines Wirkens auch den tödlichen Konflikt nicht zu meiden. Es zeigt sich aber auch in der von Jesus gewählten Lebensform. Er hat bewusst „um des Himmelreiches willen“ (Mt 19,12) auf die Ehe verzichtet. Dieses Wort von den „Eunuchen um des Himmelreiches willen“ dürfte Jesus vor allem auf sich selbst bezogen haben. Ein dauerhafter bewusster Verzicht auf die Ehe aus religiösen Gründen ist dem Judentum fremd und markiert deswegen wahrscheinlich eine Besonderheit des Selbstverständnisses Jesu, denn Jesus war nicht verheiratet. Jesus hat also selbst die radikale Ausrichtung auf Gott und dessen Herrschaft gelebt. In seiner Person und in seiner Verkündigung hat Gott sich deshalb mit seiner Machtfülle offenbaren können. Auch die Jünger sollen aus dieser Orientierung am Reich Gottes leben.
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Die neuerdings immer wieder aufgestellte Behauptung, Jesus sei in Bezug auf die Feindesliebe nicht originell, sondern bewege sich im Rahmen des Frühjudentums (so z. B. Strotmann, Angelika, Der historische Jesus: eine Einführung [Grundwissen Theologie, UTB 3553], Paderborn 22015, 150-152), überzeugt nicht. So ist Spr 25,21f („Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen, und wenn er durstig ist, gib ihm zu trinken. Denn so häufst du glühende Kohlen auf sein Haupt und der HERR wird es dir vergelten“, zitiert nach Strotmann, 151, die sich bei der Übersetzung an die Zürcher Bibel hält) gerade nicht mit dem Gebot, den Feind zu lieben, gleichzusetzen. Die Motivation ist eine völlig andere als in der Verkündigung Jesu. Außerdem umfasst „Liebe“ mehr als nur, äußerste Not zu beseitigen. Weiterführend Theißen, Gerd / Merz, Annette, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 347-349.
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2.2 Die gute Schöpfung und die Tora Offenbar sehr zentral ist in der Verkündigung Jesu Gott als Schöpfer, der mit der Schöpfung dem Menschen auch bestimmte Gebote gegeben hat. So wird die Neuauslegung des Sabbatgebotes durch Jesus in Mk 2,27 mit der Erschaffung des Sabbats in Verbindung gebracht: „Der Sabbat ist um des Menschen willen geworden/entstanden [ἐγένετο, hier im Sinne von gemacht/geschaffen worden], und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ Dieses Wort hat offenbar bei den synoptischen Seitenreferenten Matthäus und Lukas Anstoß erregt; sie haben es nämlich von Markus nicht übernommen. Vermutlich haben sie es als eine Sabbatauslegung verstanden, die dem Menschen eine willkürliche Sabbatinterpretation erlauben könnte. Der Verweis auf die Schöpfung und die Tatsache, dass dieses Wort nachösterlich als anstößig empfunden wurde, machen die Historizität dieses Wortes sehr wahrscheinlich. Jesus will im Rahmen seiner Verkündigung sagen, dass der Sabbat dem Wohle des Menschen dienen soll. Dies passt auch zu den in unterschiedlichen Evangelien-Traditionen bezeugten Sabbatheilungen Jesu (Mk 3,1-6; Lk-Sondergut: Lk 13,10-17; 14,1-6; Joh 5,2-16; 9,1-41). Für Jesus ist der Sabbat ein Tag der Freude, an dem gerade dem Nächsten Gutes getan werden soll, auch wenn dafür Ruhegebote für den Sabbat übertreten werden. Wenn einem Kranken Gesundheit geschenkt werden kann, dann muss alles dafür getan werden (Mk 3,4: „Ist es am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder zu töten?“). Diese Interpretation des Sabbats als Freudentag für den Menschen, gerade auch für den Kranken, ist in der Schöpfung grundgelegt. Sie entspricht dem Willen des Schöpfers; dafür hat Gott am siebten Tag geruht (Gen 2,2f) und so den Sabbat eingesetzt.
2.3 Die Grundlage der Ehe in der Schöpfungsordnung Auch in der Frage der Ehescheidung bezieht sich Jesus auf den ursprünglichen Willen des Schöpfers. Die Erlaubnis, im Falle einer Entlassung der Ehefrau dieser eine Scheidungsurkunde mitzugeben, damit sie wieder heiraten kann, ist nach Mk 10,5 ein Zugeständnis an die menschliche Hartherzigkeit (σκληροκαρδία). Von der Schöpfung her seien die Ehepartner von Gott miteinander verbunden worden; so sei eine Trennung dem Menschen nicht erlaubt (Mk 10,6-9). Begründet wird dies mit einer Kombination der beiden Schriftstellen Gen 1,27 und 2,24. Gott habe den Menschen als Mann und Frau erschaffen (Gen 1,27) und beide seien nun ein Fleisch (Gen 2,24). Zwar sagen die beiden Stellen ursprünglich nichts über die Ehe aus, erst recht nicht über ein Verbot der Ehescheidung, aber schon im Judentum hat man Gen 1,27 auf die Ehe bezogen und damit die Einehe begründet, also das Ver-
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bot, mehrere Frauen zu heiraten.2 Man hat also Gen 1,27 für eine Ehe-Ethik herangezogen. Auch wenn dem markinischen Text die vom hebräischen Text abweichende Septuaginta-Fassung von Gen 2,24 zugrunde liegt, so ist die Argumentation im Kern auch mit dem von Jesus wahrscheinlich am ehesten verwendeten hebräischen Text möglich. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass hier eine Beweisführung vorliegt, die auf Jesus zurückgeht.3 Die Argumentation mit den beiden Schöpfungserzählungen würde dann im Rahmen der Ehelehre Jesu die Begründung für das strenge Verbot bieten, dass der Mann die Frau aus der Ehe nicht entlassen darf. Diese Forderung, die sowohl im Markusevangelium (Mk 10,11 par Mt 19,9) als auch in der Logienquelle (Mt 5,32 par Lk 16,18) überliefert wurde, ist dort nämlich jeweils nicht weiter begründet. Sie findet sich nur als Forderung. Der Hinweis auf Gen 1,27 und 2,24 wäre dann die Begründung aus der Verkündigung Jesu. 4
2.4 Der Mensch als Sünder Ein zentraler Grundzug im jesuanischen Menschenbild ist die Überzeugung von der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. Dabei geht es neben der Erlösung von Krankheit und Tod vor allem um die Befreiung von der Sünde. Der Mensch ist Sünder und als solcher auf die Vergebung durch Gott angewiesen. Historisch gesehen hat Jesus nicht selbst beansprucht, Sünden zu vergeben. Er hat vielmehr die Vergebung durch Gott zugesagt. Er nahm nicht die Vollmacht in Anspruch, selbst Sünden zu vergeben – entsprechende Worte (z. B. Mk 2,105) sind mit aller Wahrscheinlichkeit nachösterlich –, aber er lässt aufgrund seines einmalig engen Gottesverhältnisses einen besonderen Einblick in den Willen Gottes und auch in dessen Handeln erkennen. So kann er Menschen zusagen, dass Gott ihnen die Sünden vergibt. So geschieht es beim Zusammentreffen mit dem Gelähmten (Mk 2,5), dem Jesus nicht sagt: „Ich vergebe dir die Sünden“, sondern in einem Passivum divinum: „Deine Sünden werden dir (jetzt von Gott) vergeben“: ἀφίενταί (= Präsens Passiv) σου αἱ ἁμαρτίαι. Dieser Satz kann als ein historisches Jesuswort gesehen werden, weil er einerseits daran festhält, dass Gott Sünden vergibt, zum anderen aber die besondere Gottesbeziehung Jesu voraussetzt. Auch bewahrt er die im Judentum ohne Parallele stehende voraussetzungslose Zusage der Sündenvergebung, wie sie typisch ist für die Verkündigung Jesu (z. B. Mk 2,15-17). Auch das 2
3
4 5
So in Qumran, s. CD IV, 20-21. Vgl. dazu Wehr, Lothar, Ehe und Schöpfungsordnung in der Jesusüberlieferung. Zur Debatte um Mk 10,6-9, in: Zentralinstitut für Ehe und Familie in der Gesellschaft (ZFG) an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (Hg.), Familien-Prisma 6 (2014), 34-36, hier 35. In der Regel wird die Historizität bestritten. Vgl. aber Dschulnigg, Peter, Das Markusevangelium (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 2), Stuttgart 2007, Mk, 269 Anm. 168. Ausführlicher zu diesen Fragen: Wehr (wie Anm. 2), 34-36. Vgl. ebd., 36. Es geht um den himmlischen Menschensohn, der die Vollmacht hat, „auf der Erde“, wie ausdrücklich hervorgehoben wird, Sünden zu vergeben.
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Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23-35) ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich: „Für sich betrachtet erscheint es als alltäglich und durchaus legitim, die Bezahlung der Schuld von dem Mitknecht zu verlangen, also auf sein Recht zu pochen. In der Parabel ist aber eine Szene vorgeschaltet, die den Knecht als jemanden bestimmt, dem selber eine riesige Schuld erlassen wurde. Sein Verhalten rückt dadurch in ein völlig anderes Licht. Es erscheint als grotesk und absurd [...] Der Knecht verweigert seinem Mitknecht, worum er selbst gebeten hat.“6 „Der, der um Vergebung gebeten wird, wird durch die Parabel als jemand aufgewiesen, der selbst aus der (ungleich größeren) Vergebung Gottes heraus lebt.“ 7 Die Erfahrung, die die Menschen mit Jesus machen, dass ihnen ihre Sünden vergeben werden, soll sie zu einer Haltung der Dankbarkeit führen und ihre Bereitschaft fördern, auch ihren Mitmenschen im persönlichen Umgang zu vergeben.
2.5 Die künftige Gottesherrschaft So sehr Jesus durch seine Verkündigung in Wort und Tat die Gegenwart der Gottesherrschaft sichtbar und erfahrbar macht (Heilungen, Dämonenaustreibungen, Zusage der Sündervergebung, Offenbarung des eigentlichen Gotteswillens usw.), so zurückhaltend ist er im Hinblick die Beschreibung der künftigen Gottesherrschaft. Hier finden wir bei Jesus nur wenige Bilder und Andeutungen. Dies liegt zum einen an der jüdischen Zurückhaltung gegenüber einer bildlichen Darstellung Gottes, zum anderen an der Überzeugung Jesu, dass die Welt Gottes eine völlig andere ist und mit menschlichen Vorstellungen nicht angemessen beschrieben werden kann. Wir finden in der Jesusverkündigung bereits aus dem Judentum bekannte Bilder für die künftige Heilszeit: Hochzeit (Mt 22,1-13), Erntezeit (Mk 4,3-9.26-29), Wein (Mk 14,25). Aus dem Streitgespräch mit den Sadduzäern ist das Wort Jesu überliefert, dass die Menschen in der künftigen Welt Gottes sein werden „wie die Engel in den Himmeln“ (Mk 12,25) und deswegen nicht mehr heiraten. Die Argumentation in diesem Gespräch dürfte im Kern auf Jesus zurückgehen. Die verhandelte Frage (Glaube an die Auferstehung der Toten) hat ihren Ort nämlich am ehesten in der Auseinandersetzung mit den zur Zeit Jesu noch als jüdische Gruppe existierenden Sadduzäern. Zudem war die Frage, ob es eine Auferstehung der Toten gibt, nach Ostern weder im nach der Tempelzerstörung (70 n. Chr.) bestimmenden pharisäischen Judentum noch im frühen Christentum kontrovers. Außerdem ist die Argumentation ganz jüdisch und noch nicht von der Christologie beeinflusst (Argumentation mit der Auferstehung Jesu). Jesus will sagen: Die Welt Gottes ist eine völlig andere. Sie ist nicht bloß eine Verlängerung irdischer Verhältnisse.
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Konradt, Matthias, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015, 295. Ebd.
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Die wenigen Bilder, die Jesus für die künftige Gottesherrschaft verwendet, betonen die Heilsfülle und die Andersartigkeit der Welt Gottes im Vergleich zu dieser gegenwärtigen Welt. Was Jesus aber immer wieder hervorhebt, ist die Überzeugung, dass es für den Menschen jede Anstrengung lohnt, diese Gottesherrschaft zu erreichen. Es sollte sogar das entscheidende Ziel im menschlichen Leben sein.
3. Schlussfolgerungen Das Menschenbild Jesu unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von dem Blick auf den Menschen, wie er unser modernes Lebensgefühl bestimmt. Der moderne Mensch sieht sich weithin als autonomes Wesen, das gerade in seiner Freiheit und Selbstbestimmtheit sein Menschsein verwirklicht. Dies steht dem Menschenbild Jesu nicht direkt entgegen. Von der Verkündigung Jesu her wäre dieses Selbstverständnis aber zu ergänzen um den Aspekt, dass der Mensch Gott sein Leben verdankt und dass sein Leben am besten gelingt, wenn es bewusst als ein Leben vor Gott gelebt wird. Gerade das Bewusstsein, Gott gegenüber dankbar sein zu dürfen für das Leben, das man von ihm erhielt, aber auch für Vergebung von Schuld und die Erneuerung des eigenen Daseins in der Taufe, könnte eine Bereicherung für heute sein. Viele Menschen könnten gerade durch das Bewusstsein der Dankbarkeit Gott gegenüber eine neue Zufriedenheit mit ihrer Lebenssituation finden. Viele Berater in den unterschiedlichen kirchlichen Einrichtungen und viele, die in der Jugendarbeit tätig sind, beklagen die häufig gerade bei jungen Menschen fehlende Dankbarkeit als einer Grundhaltung im Leben. 8 Trotz der Wertschätzung der Ehe und ihrer Fundierung im Schöpferhandeln Gottes hat Jesus einerseits die Ehe als eine Institution dieser gegenwärtigen Zeit gesehen, die im Gottesreich ein Ende findet, und andererseits selbst ehelos gelebt, um damit ein Zeichen für seine Ausrichtung auf die Gottesherrschaft zu setzen. Die Wertschätzung Jesu für die Ehe mündete in die kirchliche Ehelehre, seine zölibatäre Lebensform findet sich schon früh in der Kirche. Paulus lebte bewusst ehelos, um ganz für die Verkündigung des Evangeliums leben zu können. Nach 1 Kor 9,5.12-15 hat Paulus auf viele Rechte verzichtet, um dem Evangelium kein Hin8
Auch das Instumentum laboris (unter Nr. 211) zur Bischofssynode vom Oktober 2018 zum Thema „Die Jugendlichen, der Glaube und die Berufungsunterscheidung“ stellt in Bezug auf die Ausbildung der Priesteramtskandidaten fest: „Zwei Gefahren, denen auch die Wege der Ausbildung ausgesetzt sind, betreffen den auf das autonome Subjekt fixierten Individualismus, der Anerkennung und Dankbarkeit Gott gegenüber ebenso ausschließt wie die Kooperation mit Seinem Handeln, und den Kult der Innerlichkeit, der den Menschen in der virtuellen Welt einer falschen Innerlichkeit einschließt, wo das Bedürfnis nach Interaktion mit den anderen und der Gemeinschaft keinen Platz mehr hat“ [Hervorhebung vom Verf.], unter: http://www.synod2018.va/content/synod2018/de/instr umentum-laboris--die-jugendlichen--der-glaube-und-die-erken.html [Zuletzt aufgerufen am 22. März 2019].
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dernis in den Weg zu legen und es frei verkünden zu können; zu diesen Rechten zählt er neben dem Recht, sich von den Gemeinden versorgen zu lassen, das Recht, eine Ehefrau auf die Missionsreisen mitzunehmen. Auf all diese Rechte hat er um des Evangeliums willen verzichtet. Wie für Jesus gab es auch für Paulus und die spätere Kirche bis heute angesichts des Reiches Gottes unterschiedliche Lebensformen. Diese Vielfalt hat sich in der Geschichte der Kirche als ein geistlicher Reichtum erwiesen. Wenn heute in Teilen der Weltkirche die enge Verbindung von Priesteramt und zölibatärer Lebensform in Zweifel gezogen und in ihrem Wert in Frage gestellt wird, dann wird damit letztlich ein wichtiger Aspekt in der Verkündigung des historischen Jesus geleugnet. Eine Wahlfreiheit des Priesters hinsichtlich seiner Lebensform würde nicht nur den Klerus spalten, wie es ja auch in den Ostkirchen der Fall ist, sondern letztlich den Zölibat entwerten. Denn welches Zeichen ist ein eheloses Leben, wenn es nicht fest mit dem Amt verbunden ist? Verheiratete und Nicht-Verheiratete leben schließlich auch in der weltlichen Gesellschaft nebeneinander, ohne dass der ehelosen Lebensform irgendein Zeichencharakter zukommt. Das Aufrüttelnde und auch in dieser Welt Provozierende des Zölibats würde verschwinden. Damit wäre dieses bedeutende Zeichen für die Ausrichtung des christlichen Lebens auf die Gottesherrschaft aus dem alltäglichen kirchlichen Leben praktisch verschwunden. Es lebte nur noch in den Klöstern weiter. Der Blick Jesu auf den Menschen zeigt, dass der Mensch berufen ist, bewusst vor Gottes Angesicht zu leben und sein Leben auf Gott auszurichten. Wer sein Leben in der Nachfolge Jesu leben will, tut es in Dankbarkeit Gott gegenüber, im Vertrauen auf Gottes Beistand und in der Offenheit für das Wirken Gottes in seinem Leben. Der Mensch ist von der Schöpfung her auf Gott ausgerichtet. Er ist als Sünder auf die Vergebung durch Gott angewiesen. Er orientiert sich in seinem Leben an der Ordnung, die Gott in seine Schöpfung hineingelegt hat, und an der Offenbarung des Willens Gottes, wie Jesus sie seinen Jüngern darlegte und wie sie der Kirche anvertraut ist. Auf diesem Weg will Gott den Menschen aus der Begrenztheit herausführen, die in der Sterblichkeit ihren letzten Ausdruck findet, und in seine bleibende Gemeinschaft aufnehmen. Das Bild Jesu vom Menschen führt uns zum Wesentlichen, zum Kern unserer Berufung als Christen und relativiert damit vieles, um das in unserer Kirche oft so heftig und polemisch gestritten wird.
Christliche Familie und gelebte Evangelisierung nach Papst Franziskus
Ireneusz Celary* Im Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium erinnert Papst Franziskus daran, dass die Evangelisierung die wichtigste Aufgabe der Kirche war, ist und sein wird.1 Ganz am Anfang dieses Dokuments fordert er jeden Christen auf, sich an der Evangelisierungsmission der Kirche zu beteiligen und jeden Jünger Christi „gleich an welchem Ort und in welcher Lage er sich befindet, noch heute seine persönliche Begegnung mit Jesus Christus zu erneuern oder zumindest den Entschluss zu fassen, sich von ihm finden zu lassen, ihn jeden Tag ohne Unterlass zu suchen” 2. Die Evangelisierungsarbeit – verbunden mit der Verkündigung des Evangeliums – ist die wichtigste christliche Berufung und setzt nach Ansicht des gegenwärtigen Papstes das aktive Handeln eines jeden Kirchenmitglieds voraus. 3 Denn durch die Taufe und die Stärkung durch andere Sakramente (hauptsächlich Firmung und Eucharistie) wird jeder Gläubige dazu befähigt, in Jesu Sinn zu handeln.4 Im Be* Der Aufsatz wurde von Julia Muchewicz ins Deutsche übersetzt. 1
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Vgl. Franciszek, Adhortacja apostolska Evangelii Gaudium o głoszeniu Ewangelii w dzisiejszym świecie, Nr. 176; 261, Watykan 2013 (im Folgenden: EG); Polak, Mieczysław, Kairos der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit als Prinzip einer missionarischen Seelsorge, in: Poznańskie Studia Teologiczne 29 (2015), 94-95; Ruh, Ulrich, Papst Franziskus. Plädoyer für Evangelisierung, in: Herder Korrespondenz 68 (1) (2014), 7; Sobczyk, Adam Józef, Duchowość misyjna formą głoszenia Ewangelii dzisiaj na podstawie Evangelii gaudium papieża Franciszka, in: Teologia i Moralność 1 (2015), Nr. 15, 255; 261-262. Franciszek, EG 3 (wie Anm. 1); Denn dank Christus ist die Entwicklung von Gottes Leben im Menschen möglich, doch sie hängt von seiner Antwort auf Gottes Gnade ab. Christus ist also die Quelle des geistigen Lebens, der Anfang jedoch ist die Annahme des Sakraments der Taufe durch den Menschen und die Voraussetzung seiner Entwicklung ist die Zusammenarbeit mit Christus. Es gibt viele Faktoren, die die Annahme der Gabe Christi und das Streben nach Gemeinschaft mit Gott beeinflussen, aber das grundlegende Element ist die Lebenssituation: Es ist eine Berufung, die Gemeinschaft mit Gott im Priestertum zu suchen, eine andere, Ordensmann oder ein in der Welt alleinlebender Erwachsener zu sein und wiederum eine andere, in einer Familie zu leben. Vgl. Hadryś, Jacek, Życie w rodzinie szansą pełnego udziału w życiu Bożym, in: Teologia i Moralność 11 (2016), Nr. 2, 149. Vgl. Franciszek, EG 78 (wie Anm. 1); In der Verkündigungsbulle Misericordiae Vultus schreibt Papst Franziskus, dass „[...] die Zeit gekommen [ist], das Evangelium auf eine neue Weise zu verkünden. Eine neue Phase der Evangelisierung, die seit immer andauert. Eine neue Aufgabe für alle Christen, von ihrem Glauben mit mehr Enthusiasmus und Überzeugung zu zeugen.“ Übersetzt nach: Franciszek, Bulla Misericordiae Vultus, Rzym 11 IV 2015, Nr. 4; Ders., Ewangelizacja jest naszą rewolucją, in: www.papiez.wiara.pl/doc/2580689.To-jest-ewangelizowane-to-jest-nasza-rew olucja [Zuletzt aufgerufen am 20. Januar 2019]. Vgl. Franciszek, Potrzebny jest tlen Ewangelii. Przemówienie w czasie audiencji dla uczestników zgromadzenia plenarnego Papieskiej Rady do spraw Krzewienia Nowej Ewangelizacji, 14 X 2013,
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wusstsein dieser Grundbedingung für die Wirksamkeit aller Evangelisierung erinnert Franziskus daran, dass „[j]eder Christ […] in dem Maß Missionar [ist], in dem er der Liebe Gottes in Jesus Christus begegnet ist“5. Seiner Meinung nach reicht es jedoch nicht aus, die Liebe, die Gott uns geschenkt hat, passiv anzunehmen. Aus ihr ergeben sich auch große Verpflichtungen. 6 Denn Liebe, so Papst Franziskus, erfordert auch Erwiderung und die Annahme der Erlösung als ihre Frucht sowie die Weitergabe an andere: „Das Evangelium lädt vor allem dazu ein, dem Gott zu antworten, der uns liebt und uns rettet – ihm zu antworten, indem man ihn in den anderen erkennt und aus sich selbst herausgeht, um das Wohl aller zu suchen“7. Wenn der Mensch die rettende Liebe Gottes erlebt, weckt diese in ihm den Wunsch, sie zu verbreiten, also andere zu evangelisieren: „Der erste Beweggrund, das Evangelium zu verkünden, ist die Liebe Jesu, die wir empfangen haben; die Erfahrung, dass wir von ihm gerettet sind, der uns dazu bewegt, ihn immer mehr zu lieben“8. Franziskus zufolge sollten sich die Evangelisierenden zunächst selbst der Evangelisierung unterziehen, bei der es sich nicht um ein einmaliges Ereignis handelt, sondern um einen lebenslangen Prozess und eine dauerhafte christliche Ausbildung. 9 Jeder Evangelisierende muss nämlich verstehen, dass die Kirche ihm, wenn sie ihn zu dieser Verpflichtung beruft, auch einen Weg der persönlichen Entwicklung und einer erfüllenden Umsetzung der christlichen Berufung zeigt (vgl. 1 Kor 9,16).10 In Evangelii Gaudium lesen wir, dass all die, die zum Teilen der Guten Nachricht von der Erlösung verpflichtet sind, die
in: L’Osservatore Romano 34 (2013), Nr. 12, 19; Kluz, Marek, Podstawy odpowiedzialności moralnej chrześcijanin za misję ewangelizacyjną w świecie, in: Studia Theologica Varsaviensia 2 (2016), 151. 5 Franciszek, EG 120 (wie Anm. 1). 6 Franziskus bestätigt dies in EG 266 (wie Anm. 1) mit den Worten: „Man kann eine hingebungsvolle Evangelisierung nicht mit Ausdauer betreiben, wenn man nicht aus eigener Erfahrung davon überzeugt ist, dass es nicht das Gleiche ist, Jesus kennen gelernt zu haben oder ihn nicht zu kennen, dass es nicht das Gleiche ist, mit ihm zu gehen oder im Dunkeln zu tappen, dass es nicht das Gleiche ist, auf ihn hören zu können oder sein Wort nicht zu kennen, dass es nicht das Gleiche ist, ihn betrachten, anbeten und in ihm ruhen zu können oder es nicht tun zu können. Es ist nicht das Gleiche, zu versuchen, die Welt mit seinem Evangelium aufzubauen oder es nur mit dem eigenen Verstand zu tun. Wir wissen sehr wohl, dass das Leben mit ihm viel erfüllter wird und dass es mit ihm leichter ist, in allem einen Sinn zu finden. Deswegen verkünden wir das Evangelium. Der wahre Missionar, der niemals aufhört, Jünger zu sein, weiß, dass Jesus mit ihm geht, mit ihm spricht, mit ihm atmet, mit ihm arbeitet. Er spürt, dass der lebendige Jesus inmitten der missionarischen Arbeit bei ihm ist. Wenn einer Jesu Gegenwart nicht im Herzen des missionarischen Einsatzes selbst entdeckt, verliert er schnell die Begeisterung und hört auf, dessen sicher zu sein, was er weitergibt; es fehlt ihm an Kraft und Leidenschaft. Und ein Mensch, der nicht überzeugt, begeistert, sicher, verliebt ist, überzeugt niemanden.“ 7 Ebd., EG 39. 8 Ebd., EG 264; Vgl. Rusiecka, Jowita, Zbawienie w ujęciu papieża Franciszka, in: Biblioteka Teologii Fun-damentalnej 10 (2015), 177-178; Polak (wie Anm. 1), 95. 9 Vgl. Franciszek, EG 266 (wie Anm. 1). 10 Vgl. Mąkosa, Paweł, Dynamika ewangelizacji według adhortacji apostolskiej Evangelii Gaudium papieża Franciszka, in: Studia Pastoralne (2014), Nr. 10, 329.
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Berührung der Liebe Christi erfahren haben. 11 Die Jünger Christi sollten diese jedoch in jedem Augenblick und in allen Lebensbereichen predigen, um „als Verkünder des Evangeliums zu wachsen. Zugleich“, so Franziskus, „bemühen wir uns um eine bessere Ausbildung, eine Vertiefung unserer Liebe und ein deutlicheres Zeugnis für das Evangelium. Daher müssen wir uns alle gefallen lassen, dass die anderen uns ständig evangelisieren“12. Auch die christliche Familie sollte an der Evangelisierungsarbeit teilnehmen. 13 Franziskus zufolge sind moderne Christen aufgerufen, nach neuen Formen zu suchen, die ihr Leben mit Glauben beleben. Sie werden dazu ermutigt, die Routine zu verlassen, nach einer neuen Sprache und nach neuen Symbolen zu suchen. Dies gilt auch für christliche Familien. Und das alles, damit das Evangelium die moderne Welt in einer für den Alltag verständlichen Sprache erreicht. Der Papst ist sich dessen bewusst, dass die Familie heute wie auch in der Vergangenheit, ein für das Leben der Kirche unverzichtbares Gut ist, ein wertvoller Beitrag für die Evangelisierung des Lebens, ein unverzichtbares Erbe der menschlichen Gesellschaft selbst. Sie braucht jedoch besondere Zuwendung und Schutz, da sie vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt ist. Der gegenwärtige Papst betont, dass es heute viele traditionelle Familien gibt, die versuchen, ihre Evangelisierungsmission zu erfüllen, aber es gibt auch Familien, deren Grundlage brüchig oder bedroht ist. 14 Daher ist die Erinnerung an die evangelisierende Funktion der christlichen Familie – laut Franziskus – eine große Aufgabe, die ständig vor ihr offenbart werden sollte, damit sie sie immer besser verwirklichen kann.15 11
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Franziskus betont, dass eine Begegnung mit Jesus – mit Gottes Liebe – der einzige Weg ist, um erfolgreich zu evangelisieren. Diese Begegnung ist Grundlage für Freundschaft, befreit uns von einem isolierten Gewissen und Egoismus, hebt Humanismus und Altruismus hervor. Der Mensch lässt Gott führen. Aus dieser Quelle entspringt die authentische Freude der Evangelisierung (vgl. EG 8 [wie Anm. 1]). Vgl. Sobczyk, Adam Józef, Spotkanie z Chrystusem jako podstawa duchowości osób konsekrowanych według nauczania papieża Franciszka, in: Teologia i Człowiek 29 (2015), Nr. 1, 148. Vgl. Franciszek, EG 121 (wie Anm. 1); Vgl. Drożdżewicz, Piotr, Misyjne przeobrażenie Kościoła i nawrócenie duszpasterstwa w świetle adhortacji Evangelii Gaudium, in: Rocznik Teologii Katolickiej 14 (2015), Nr. 1, 15-16. Vgl. Sawa, Przemysław, Nauczanie papieża Franciszka o rodzinie w kontekście jej powołania do ewangelizacji, in: Studia Pastoralne 49 (2016), 58. Papst Franziskus sprach darüber zu Beginn der XIV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode, die vom 4. - 25. Oktober 2015 stattfand. Franziskus unterstrich darin die Bedeutung der Liebe in Ehe und Familie: „Heute erleben wir in gewisser Weise Adams Erfahrung: viel Macht, die von viel Einsamkeit und Schwäche begleitet wird; und die Familie ist ein Bild dessen. Die Entwicklung einer soliden und fruchtbaren Liebesbeziehung wird immer weniger ernst genommen: in Gesundheit und Krankheit, in Wohlstand und Armut, im Guten wie im Schlechten. Bleibende, treue, zuverlässige, stabile, fruchtbare Liebe wird immer öfter lächerlich gemacht und als etwas überholt wahrgenommen.“ Übersetzt nach: Franciszek, Homilia wygłoszona 4 X 2015, in: L’Osservatore Romano wersja polska 36 (2015) Nr. 10, 15-16; vgl. Paglia, Vincenzo, Adhortacja apostolska Amoris Laetitia. Wartość „synodalna” adhortacji apostolskiej, in: Studia Socialia Cracoviensia 9 (2017), Nr. 1, 13. Vgl. Dyduch, Jan, Posłannictwo rodziny w Kościele i świecie w świetle XIV Synodu Biskupów, in: Polonia Sacra 21 (2017), Nr. 1, 67-68; Śmigiel, Wiesław, Rodzina wspólnotą ewangelizowaną i podmiotem ewangelizacji, in: Łódzkie Studia Teologiczne 23 (2014), Nr. 3, 53-54.
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1. Die Familie als Gegenstand der Evangelisierungsmission der Kirche Das Abschlussdokument der XIV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode in Rom betont, dass trotz der zahlreichen Krisen, die die heutige Familie betreffen16, sie immer noch Gegenstand der Wünsche und Sehnsüchte einer großen Anzahl von Menschen ist, vor allem von jungen Menschen. Deshalb hat die Kirche ununterbrochen, von Anfang ihrer Existenz an durch die Jahrhunderte hindurch und auch jetzt, immer das „Evangelium der Familie“17 verkündet, das sie von ihrem Begründer Jesus Christus erhalten hat. 18 Es sei darauf hingewiesen, dass der Raum des Familienlebens auch ein Beispiel für einen konkreten Bereich ist, der in der Lehre von Papst Franziskus besonders hervorgehoben wurde. 19 Der Papst glaubt, dass die Verkündigung über Ehe und Familie zumindest hinsichtlich der Sprache und Kommunikationsweise sich ständig an die gegenwärtigen Bedingun-
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Vor allem im Bereich der Kultur- und Zivilisationsprozesse treten neue Herausforderungen, Chancen und Bedrohungen für die Familie, für ihre Werte, ihre Würde und ihre Berufung auf. Das Ausmaß und die Bedeutung dieser Prozesse für die Familie scheinen sowohl in der öffentlichen Debatte als auch im Bewusstsein der Familien noch wenig präsent zu sein. Vgl. Drożdż, Michał, Rodzina w świetle dobrej nowiny, in: Studia Socialia Cracoviensia 9 (2017), Nr 1, 33-34. 17 Papst Paul VI. betonte bereits, dass die Familiengemeinschaft ein besonderer Ort für die Evangelisierung ist. In Evangelii Nuntiandi stellte er fest, dass „die Familie wie die Kirche ein Raum sein [muss], wo das Evangelium ins Leben übersetzt wird und wo daher dieses Evangelium aufleuchtet. Im Schoß einer Familie, die sich dieser Sendung bewusst ist, verkünden alle Familienmitglieder das Evangelium, und es wird ihnen verkündet.“ Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii Nuntiandi, Nr. 71 (weiter: EN). Es ist eine Evangelisierung innerhalb der Familie, aber auch gegenüber anderen Familien durch ein „Zeugnis eines echt christlichen Lebens“ (EN 41); vgl. Franciszek, Ewangelia małżeństwa. Przesłanie na VIII Światowe Spotkanie Rodzin w Filadelfii, in: L`Osservatore Romano wersja polska 36 (2015), Nr. 1, 33-34. 18 Vgl. XIV Zwyczajne Zgromadzenie Synodu Biskupów, Wyzwania duszpasterskie związane z rodziną w kontekście ewangelizacji. Relacja końcowa Synodu Biskupów dla ojca świętego Franciszka, 24 X 2015, Nr. 2, in: L’Osservatore Romano wersja polska 35 (2014), Nr. 11, 8-9; Franciszek, Dar odnowionej bliskości między rodziną a Kościołem, in: L`Osservatore Romano wersja polska 36 (2015), Nr. 10, 47-50. 19 In diesem Aufruf bezieht sich Franziskus vor allem auf die Lehre seiner Vorgänger: Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Laut Johannes Paul II. sind zum Evangelisierungsdienst Christi heute alle seine Jünger aufgerufen, „im angemessenen Verhältnis“ teilzunehmen. Vgl. Jan Paweł II, Encyklika Redemptor Hominis 21; Jan Paweł II, Nowa ewangelizacja, postęp człowieka, kultura chrześcijańska. Przemówienie wygłoszone na otwarcie obrad IV Konferencji Ogólnej Episkopatu Ameryki Łacińskiej, 12 X 1992 r., L’Osservatore Romano wersja polska,12 (1992), Nr. 1, 24. Benedikt XVI. erinnert wiederum daran, dass das Ziel der evangelisierenden Tätigkeit christlicher Familien nicht nur auf die Stigmatisierung negativer sozialer Phänomene beschränkt sein darf, sondern vor allem auf ihrer aktiven Beteiligung an der Arbeit beruhen sollte, der Welt das Evangelium der Hoffnung zu verkünden sowie die spirituell und moralisch armen und moralisch bedrängten Menschen zu unterstützen, damit sie wieder bewusst von neuem für Christus einstehen und Ihm konsequent durch das Leben bis zur Fülle des Reiches Gottes folgen können. Vgl. Benedykt XVI, Nowa ewangelizacja przez żywą wiarę w rodzinie. Benedykt XVI do Maltańczyków, 17 IV 2010, in: Sprawy Rodziny. Kwartalnik Duszpasterstwa Rodzin 91 (2010), Nr. 3, 11-13; Ders., Rodziny chrześcijańskie „małymi Kościołami”. Benedykt na „Anioł Pański”, 30 VIII 2009, in: Sprawy Rodziny. Kwartalnik Duszpasterstwa Rodzin 88 (2009), Nr. 4, 11-12.
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gen anpassen muss20, damit sie nicht zu einer Verteidigung irgendeiner realitätsfernen Doktrin wird.21 Im Apostolischen Schreiben Amoris Letitia unterstreicht Franziskus daher, dass die Familie nicht mehr nur als passive Empfängerin von Bildung, pastoraler oder sakramentaler Bestrebungen betrachtet wird, sondern vielmehr als „Subjekt pastoralen Handelns über die ausdrückliche Verkündigung des Evangeliums und das Erbe vielfältiger Formen des Zeugnisses: die Solidarität gegenüber den Armen, die Offenheit für die Verschiedenheit der Personen, die Bewahrung der Schöpfung, die moralische und materielle Solidarität gegenüber den anderen Familien, vor allem den bedürftigsten, den Einsatz für die Förderung des Gemeinwohls, auch durch die Überwindung ungerechter sozialer Strukturen, ausgehend von der Umgebung, in der man lebt, indem Werke leiblicher und geistlicher Barmherzigkeit geübt werden.“22 Der gegenwärtige Papst erinnert gleichzeitig daran, dass die Familie von Nazareth uns dazu verpflichtet, die Berufung und Mission der Familie, jeder Familie, wieder zu entdecken. Es ist nämlich die große Aufgabe der Familie – so der Papst – dem kommenden Jesus einen Platz zu bereiten. Jesus in der Familie anzunehmen, in den Kindern, im Ehemann, in der Ehefrau, in den Großeltern, damit er in ihr anwesend sein kann. Ihn anzunehmen, damit die Familie spirituell wachsen kann. 23 20
Dies drückt er unter anderem in Amoris Laetitia aus: „Als Christen dürfen wir nicht darauf verzichten, uns zugunsten der Ehe zu äußern, nur um dem heutigen Empfinden nicht zu widersprechen, um in Mode zu sein oder aus Minderwertigkeitsgefühlen angesichts des moralischen und menschlichen Niedergangs. Wir würden der Welt Werte vorenthalten, die wir beisteuern können und müssen. Es stimmt, dass es keinen Sinn hat, bei einer rhetorischen Anprangerung der aktuellen Übel stehen zu bleiben, als könnten wir dadurch etwas ändern. Ebenso wenig dient es, mit der Macht der Autorität Regeln durchsetzen zu wollen. Uns kommt ein verantwortungsvollerer und großherzigerer Einsatz zu, der darin besteht, die Gründe und die Motivationen aufzuzeigen, sich für die Ehe und die Familie zu entscheiden, sodass die Menschen eher bereit sind, auf die Gnade zu antworten, die Gott ihnen anbietet.“ Übersetzt nach: Franciszek, Adhortacja apostolska „Amoris Laetitia” do biskupów, do kapłanów i diakonów, do osób konsekrowanych, do małżonków chrześcijańskich i do wszystkich wiernych świeckich o miłości w rodzinie, 19 III 2016, Nr. 35, Kraków 2016 (weiter: AL); vgl. Franziskus, Darstellen, was Familie ist. Privilegierter Raum der Begegnung in ungeschuldeter Liebe. Botschaft zum 49. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel, in: Communicatio Socialis 48 (2015), H. 1, 86-87. 21 Laut Franziskus „darf [man] nicht bei einer rein theoretischen, von den wirklichen Problemen der Menschen losgelösten Verkündigung stehen bleiben. Die Familienpastoral muss erfahrbar machen, dass das Evangelium der Familie die Antwort auf die tiefsten Erwartungen des Menschen darstellt“ (AL 201 [wie Anm. 20]). Vgl. Franciszek, Przemówienie na zakończenie XIV Zgromadzenia Zwyczajnego Ogólnego Synodu Biskupów, 24 X 2015, in: L`Osservatore Romano wersja polska 36 (2015), Nr. 1, 12; Ozorowski, Mieczysław, Ewangelia rodziny. Posynodalna perspektywa pomocy rodzinie, in: Teologia i Człowiek 11 (2016), Nr. 2, 123; Zarembski, Zbigniew, Wskazania papieża Franciszka dla duszpasterstwa rodzin, in: Duszpasterstwo w świetle nauczaniu papieża Franciszka, Hrsg. Lipiec, Dariusz, Lublin 2014, 163-180. 22 Franciszek, AL 290 (wie Anm. 20). 23 Vgl. ebd., AL 27, 314 (wie Anm. 20); Während der Vollversammlung des Päpstlichen Rates für die Verbreitung der Neuevangelisierung stellte Franziskus fest: „Es nützt nichts sich in vielen sekundären oder überflüssigen Dingen zu zerstreuen, man muss sich hingegen auf die grundlegende Realität konzentrieren, welche die Begegnung mit Christus, mit Seiner Barmherzigkeit, Seiner Liebe und der Liebe der Nächsten, so wie Er uns geliebt hat, ist.“ Übersetzt nach: Franciszek (wie Anm. 4), 19; Vgl. Modlitwa papieża Franciszka do Świętej Rodziny, in: L`Osservatore Romano wersja polska 34 (2013), Nr. 12, 14.
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Angesichts des Erlebens von Zweifeln, Schwächen, Verschließung vor dem Geschenk des Lebens oder der Vereinsamung, sollte die Ehe und die christliche Familie – wie wir in Amoris Laetitia lesen – ihren Blick auf die Heilige Familie von Nazareth richten und geistigen Reichtum daraus ziehen. „Der Bund der Liebe und der Treue, aus dem die Heilige Familie von Nazareth lebt, erleuchtet das Prinzip, das jeder Familie Gestalt gibt und sie befähigt, den Wechselfällen des Lebens und der Geschichte besser zu begegnen. Auf dieser Grundlage kann jede Familie auch in ihrer Schwachheit ein Licht im Dunkel der Welt werden.“ 24 Der gegenwärtige Papst weist darauf hin, dass eine Ära der Familie 25, die eine führende Rolle in der Evangelisierungsmission spielen soll, gekommen ist. Trotz der kulturellen und sozialen Krise, die die Familie heute schwächt, kann sie – seiner Meinung nach – immer wieder die Stärke zeigen, die darin liegt, dass sie in der Lage ist zu lieben und Liebe zu lehren. Trotz der großen Schwierigkeiten und Hindernisse, mit denen die armen und marginalisierten Familien konfrontiert sind, versuchen sie würdevoll zu leben, indem sie sich Gott anvertrauen, der niemanden verlässt.26 Die Quelle der Begeisterung in der evangelisierenden Familie sollte laut Franziskus die Präsenz Jesu in ihr werden. 27 Er unterstreicht, dass das Sakrament der Ehe die Familie zu dieser Aufgabe befähigt. 28 Dies bekräftigt und bestärkt zum einen das Bekenntnis zu apostolischem Engagement, das sich in der Umsetzung der königlichen Würde des Getauften manifestiert. Zum anderen wird dadurch das Engagement in der familiären Umgebung sowie im weiteren Umfeld der Familie, dem diese Form menschlicher Gemeinschaft fremd geworden ist, geformt. 29 24 25
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Franciszek, AL 66 (wie Anm. 20). Vgl. Faber, Eva-Maria, Eine begrenzte und herausfordernde Wirklichkeit. Partnerschaft, Ehe und Familie im Nachsynodalen Schreiben Amoris Laetitia, in: Studia Teologiczno-Historyczne Śląska Opolskiego 37 (2017), Nr. 1, 29. Franziskus erinnert daran, dass „die gute Nachricht von der Familie ein sehr wichtiger Teil der Evangelisierung ist, die die Christen allen Menschen am Zeugnis ihres eigenen Lebens weitergeben können; und das tun sie bereits, das ist in säkularisierten Gesellschaften selbstverständlich: wahrlich christliche Familien zeichnen sich durch Treue, Geduld, Offenheit für das Leben und Respekt den älteren Menschen gegenüber aus.“ Übersetzt nach: Franciszek, W rodzinie uczymy się kochać i bronić życia. Audiencja dla uczestników zgromadzenia plenarnego Papieskiej Rady ds. Rodziny z 25 X 2013, in: L`Osservatore Romano wersja polska 34 (2013), Nr. 12, 28; Jeżewski, Michał, Kwestia rodziny i małżeństwa chrześcijańskiego w świetle katechez wygłoszonych przez Ojca Świętego Franciszka w latach 2014/2015, in: Teologia i Człowiek 11 (2016), Nr. 2, 78-81. Vgl. Franciszek, W rodzinie uczymy się kochać... (wie Anm. 21), 28-29; D'Sa, Francis X., Das Evangelium gaudii von Papst Franziskus, in: Krämer, Klaus / Vellguth, Klaus (Hg.), Evangelii Gaudium. Stimmen der Weltkirche (Theologie der einen Welt 7), Freiburg i. Br. / Basel / Wien 2015, 25. In Amoris Laetitia (AL 73 [wie Anm. 20]) schreibt Papst Franziskus, dass „das Sakrament […] weder eine ‚Sache‘ noch eine ‚Kraft‘ [ist], denn in Wirklichkeit begegnet Christus selbst durch das Sakrament der Ehe den christlichen Gatten. Er bleibt bei ihnen und gibt ihnen die Kraft, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und ihm so nachzufolgen, aufzustehen, nachdem sie gefallen sind, einander zu vergeben, die Last des andern zu tragen.“ Vgl. Dyduch, Maciej, Adhortacja Amoris Laetitia twórczą kontynuacją adhortacji Familiaris consortio?, in: Droga do Amoris Laetitia, Hrsg. Kroczek, P., Kraków 2017, 31. Vgl. Lumen Gentium 11, 44, 36 und Gaudium et Spes 48, 49; Vgl. Franciszek, Głoście Ewangelię, jeśli trzeba, także słowami. Spotkanie z młodzieżą przed bazyliką Matki Bożej Anielskiej 4 X
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Franziskus verweist darauf, dass die Evangelisierungsaufgabe der Familie heutzutage noch deutlicher ins Bewusstsein rücken sollte, da die in der heutigen Kultur stattfindenden postmodernen Transformationen30 zum Verschwinden der Nähe zu Christus beitragen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen und damit das Zeugnis ihres Glaubens immer weniger sichtbar wird. 31 In seiner Verkündigung beschreibt Papst Franziskus Ehe und Familie als eine wahre und authentische Berufung.32 Er stellt sie mit einer Berufung zum Priestertum und zum Ordensleben gleich. Er begreift sie als Antwort von zwei Christen, die den Willen Gottes erkannt und das Ehesakrament empfangen haben. Dieser Ruf des Herrn definiert der gegenwärtige Papst als eine Berufung, aus zwei Körpern einen Körper und ein gemeinsames Leben zu schaffen. Diese Wahl und die Antwort, die Gott von den Ehepartnern erhalten hat, werden durch die Gnade des Schöpfers in dieses Sakra-
2013, in: L`Osservatore Romano wersja polska 35 (2014), Nr. 11, 18; Ders., Dwoje w jednym. Audiencja generalna z 2 IV 2014, in: L`Osservatore Romano wersja polska 36 (2015), Nr. 5, 37; Menke, Karl-Heinz, Die Sakramentalität des christlichen Glaubens. Ein zentrales Anliegen der Enziklika „Lumen fidei“, in: Anthropotes 33 (2017), 71; Sobczyk, Adam Józef, Rodzina chrześcijańska w nauczaniu papieża Franciszka, in: Teologia i Moralność 2 (2014), Nr. 14, 202. 30 Die Kirche sieht sich heute mit Tendenzen konfrontiert, die darauf abzielen, die religiöse Dimension in die Sphäre des Privatlebens zu drängen und religiösen Einfluss aus dem öffentlichen Raum zu beseitigen. Einige Gesellschaften stellen klar persönlichen Erfolg und wirtschaftlich-ökonomisches Wachstum in den Mittelpunkt. In anderen Regionen der Welt führen ungerechte soziale und wirtschaftliche Systeme zu Religionsformen, die mit Radikalismus und konfessionellem Extremismus belastet sind, kombiniert mit politischem und religiösem Fanatismus. Nicht selten führt die eine oder die andere Situation zu einem sozialen Druck oder sogar zu Einschränkungen der Entfaltungsmöglichkeit in christlichen Familien. In Evangelii Gaudium erklärt Franziskus (EG 94 [wie Anm. 1]) diese Situation auf zwei Arten: Es geht um die Faszination für Gnostizismus und prometheanischen Neopelagianismus. Vgl. Bacq, Philippe, Für eine Erneuerung vom Ursprung her. Auf dem Weg zu einer „zeugenden Pastoral“, in: Feiter, Reinhard / Müller, Hadwig (Hg.), Frei geben. Pastoraltheologische Impulse aus Frankreich, Ostfildern 2012, 30-55. 31 Vgl. Franciszek, Encyklika Lumen fidei, Rzym 2013, Nr. 52-54 (weiter: LF); Menke (wie Anm. 24), 64; Bucher, Rainer, Mehr als Stellschrauben, in: Herder Korrespondenz 70 (2016), H. 6, 15; Faber (wie Anm. 20), 30-31. 32 Franziskus erinnert daran, dass die Familie nach Gottes Wort eine Gemeinschaft ist, die Gemeinschaft von Männern und Frauen sowie Kindern, ein Bild der Einheit zwischen dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist (vgl. AL 29 [wie Anm. 20]). „Vor den Familien und in ihrer Mitte muss immer wieder die Erstverkündigung erklingen, das, was ‚am schönsten, am größten, am anziehendsten und zugleich am notwendigsten ist‘ (vgl. EG 35 [wie Anm. 1], AL 58 [wie Anm. 20]) und es ‚muss die Mitte der Evangelisierungstätigkeit […] bilden‘ (ebd. EG 164, ebd. AL 58). Dem Papst zufolge ist es notwendig, ständig zu ihm zurückzukehren, ihm zuzuhören und ihn auf verschiedene Weise zu predigen, insbesondere während der Katechese (vgl. ebd. EG 164 [wie Anm. 1]). Denn nichts ist fester und zuverlässiger als die Prophezeiung, daher sollte die gesamte christliche Gruppierung das Kerygma verkünden (vgl. ebd. EG 165, AL 58 [wie Anm. 20]) und im Herzen jeder Familie sollte ein Kerygma eingesetzt werden, um den Weg des ehelichen Familienlebens zu beleuchten. „Alle müssten wir aufgrund der lebendigen Erfahrung in unseren Familien sagen können: ‚Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen‘ (1 Joh 4,16). Nur von dieser Erfahrung aus wird die Familienpastoral erreichen können, dass die Familien zugleich Hauskirchen und evangelisierender ‚Sauerteig‘ in der Gesellschaft sind.“ (AL 290 [wie Anm. 20]).
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ment aufgenommen. Es gibt ihnen spirituelle Unterstützung und Kraft zum gemeinsamen Leben.33 Betrachtet man die konkrete Existenz des menschlichen Individuums in Verbindung mit anderen persönlichen Entitäten, wird die fundamentale Rolle der Liebe als die grundlegende intersubjektive Bindung erkannt, dank der das Individuum neben anderen existiert und eine gemeinsame Existenz schafft. Die Analyse der menschlichen Existenz erlaubt es uns, in ihre tiefsten Schichten die Einstellung zum anderen Menschen wahrzunehmen. Nach Franziskus ist eben dieses EheFamilie-Umfeld am besten dazu geeignet, christliche Liebe in der Welt zu erlernen und zu entwickeln. Denn die menschliche Liebe entstammt der Liebe Gottes zum Menschen und verpflichtet ihn zur Dankbarkeit dem Schöpfer gegenüber und zur gegenseitigen zwischenmenschlichen Liebe, wobei die Ehe- und Familienliebe eine besondere Form darstellt (vgl. Mt 22,39; Joh 13,34).34 Auch in der Enzyklika Lumen fidei bestätigt Papst Franziskus, dass die Familie von Gott als Gemeinschaft von Menschen gegründet wurde, die durch Liebesbande verbunden sind.35 Deshalb ist die Berufung der Familie ein ständiges Bestreben in der heutigen säkularisierten Welt diese Gemeinschaft des Lebens und der Liebe aufzubauen36 und dieser Mission durch die Liebe zu Kindern, Kranken und älteren Menschen nachzukommen;37 durch den gegenseitigen täglichen Dienst aller; durch das Teilen von Gütern, Freude und Leid. 38 Nach Meinung von Franziskus verpflichtet die Verkündigung des Evangeliums der Liebe daher zu echten, ehrlichen und menschlichen Beziehungen, um so zu einer authentischen Begegnung mit Gott zu gelangen. Dieses evangelisierende Zeugnis der Familie sollte auch in verschiedenen Umgebungen und sozialen Kontexten präsent sein. 39
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Vgl. Franciszek, Głoście Ewangelię, jeśli trzeba, także słowami… (wie Anm. 24), 17; Faber (wie Anm. 20), 31-32; Menke (wie Anm. 24), 78. Vgl. Franciszek, Dwoje w jednym… (wie Anm. 24), 37. Vgl., ebd.; LF 52 (wie Anm 31). Vgl. Franciszek, Prawo miłości. Audiencja generalna 12 VI 2013, in: L`Osservatore Romano wersja polska 34 (2013), Nr. 8-9, 50; Franziskus, Darstellen, was Familie ist… (wie Anm. 17), 87; Sandler, Willibald, Sakramentale Barmherzigkeit für Menschen in „komplexen Situationen“. Zutritt von wiederverheirateten Geschiedenen zu den Sakramenten nach Amoris Laetitia, in: Studia Teologiczno-Historyczne Śląska Opolskiego 37 (2017), Nr. 1, 63-64. Vgl. Franciszek, AL 276-278 (wie Anm. 20). Vgl. ebd.; EG 66 (wie Anm. 1); Vgl. Franciszek, W rodzinie uczymy się kochać… (wie Anm. 21), 28; Ders., Głoście Ewangelię, jeśli trzeba, także słowami… (wie Anm. 24), 17; Ders., Ludzie starsi to my. 8. Katecheza papieża z 4 marca 2015, in: L`Osservatore Romano wersja polska 36 (2015), Nr. 3-4, 39-40; Jeżewski (wie Anm. 21), 74-76. Vgl. Franciszek, Dzieci i dziadkowie są nadzieją ludu, in: L`Osservatore Romano wersja polska 35 (2014), Nr. 5, 27-28.
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2. Herausforderungen hinsichtlich der Familie und ihrer Evangelisierungsaufgabe in der Kirche und der Welt Papst Franziskus betont, dass die Evangelisierungsaufgabe der Familie heute sehr oft in einer komplexen kulturellen und sozialen Realität verwirklicht wird. 40 Diese Realität wirkt sich nicht immer positiv auf das Verhalten und die Einstellung der Eltern aus.41 Denn oft wird die Familie gehemmt oder gestört, wenn sie im Glauben und im guten Leben wächst. 42 Papst Franziskus zufolge besteht in einer Welt, die derzeit von vielen feindseligen Ideologien bedroht ist 43 , in der eine große Gruppe von Christen ihre Ehe nicht mehr auf dem Evangelium des Lebens und der Liebe gründet44, ein besonders großer Bedarf an Evangelisierung durch die Familie.45 In diesen Ideologien wird die traditionelle Form und der dauerhafte Charakter der Ehe und der Familie, der die Grundlage für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft darstellt, negiert.46 Franziskus Meinung zufolge besteht der Weg der 40
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Im Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium (EG 66 [wie Anm. 1]) stellt Papst Franziskus die Angelegenheit auf folgende Weise dar: „Die Familie macht eine tiefe kulturelle Krise durch wie alle Gemeinschaften und sozialen Bindungen. Im Fall der Familie wird die Brüchigkeit der Bindungen besonders ernst, denn es handelt sich um die grundlegende Zelle der Gesellschaft, um den Ort, wo man lernt, in der Verschiedenheit zusammenzuleben und anderen zu gehören, und wo die Eltern den Glauben an die Kinder weitergeben.“; Vgl. Polak, Mieczysław, Pastoralna promocja wiernych świeckich w kontekście duszpasterstwa rodzin, in: Roczniki Teologiczne 61 (2014), Nr. 6, 151. Vor allem lässt sich ein stark ausgeprägter Konsumismus beobachten, der das ablehnt, was nicht mehr nützlich oder befriedigend ist und das in Beziehungen, Freundschaften oder Religionen und Streben nach Vergnügen, Überfluss und Luxus überträgt, was von Schein und Narzissmus, Materialismus und einer Lebensweise begleitet werden kann, die Familien und die christliche Moral zerstört, ein Gefühl von Leere und deren Kompensierung durch die Schaffung verschiedener Idole, der Ökonomie der Ausgrenzung, des Götzendienstes und der Herrschaft des Geldes, soziale Ungleichheit oder Gewalt erzeugt (vgl. EG 53-60 [wie Anm. 1]). Vgl. Misiaszek, Kazimierz, Wychowanie katolickie wobec wyzwań współczesności, in: Studia Koszalińsko-Kołobrzeskie 25 (2018), 191-196. Papst Franziskus erwähnt auch den sogenannte „übermäßigen Individualismus“. Seiner Meinung nach verzerrt er die heutigen Ehe- und Familienbeziehungen und führt dazu, dass alle Familienmitglieder als „einsame Inseln“ betrachtet werden, deren einziger Nutzen darin besteht, ihre eigenen Ziele zu erreichen und individuelle Vorteile zu erzielen. (vgl. AL 33 [wie Anm. 20]). Vgl. Smykowski, Krzysztof, Sytuacja współczesnej rodziny w świetle Adhortacji apostolskiej „Amoris Laetitia”, in: Studia Bydgoskie 10 (2016), 107. Johannes Paul II. hat darüber bereits in Familiaris Consortio 1 geschrieben. Seiner Meinung nach „[leben] [v]iele Familien [...] in dieser Situation in Treue zu den Werten, welche die Grundlage der Familie als Institution ausmachen. Andere sind ihren Aufgaben gegenüber unsicher und verwirrt oder sogar in Zweifel und fast in Unwissenheit über die letzte Bedeutung und die Wahrheit des ehelichen und familiären Lebens.“; vgl. Faber (wie Anm. 20), 33-34. Dieser zerstörerische Einfluss wird von Franziskus als eine ideologische und politische Kolonisation beschrieben, die die wahre Gestalt der Familie zerstört. Dies gilt nicht nur für das Absprechen der Möglichkeit der Eltern, die Identität ihrer Kindern in den tiefsten Dimensionen des Lebens zu gestalten, sondern auch den Angriff auf die Ehe als solche durch Relativismus, Kurzlebigkeit und die Verschließung vor dem Leben (vgl. AL 41-42 [wie Anm. 20]). In einer seiner Katechesen über die Familie schreibt Franziskus zu diesem Thema: „Alle Arten kritischer Intellektueller haben Eltern auf tausende von Arten zum Schweigen gebracht, um die jungen Generationen vor echten oder imaginären Schäden zu schützen – die Erziehung in der Familie. Die Familie wurde unter anderem wegen Autoritarismus, Verderbtheit, Konformismus und emotionaler Repression angeklagt, was Konflikte hervorruft. Zwar gab es eine offene Spaltung
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Kirche jedoch darin, Gottes Barmherzigkeit auch denen anzubieten, die aufrichtig darum bitten, nicht im Verurteilen. Niemand kann für immer verurteilt werden, denn dies ist nicht die Logik des Evangeliums.47 Die Evangelisierungsaufgabe der Familie sollte jedoch in erster Linie darauf abzielen, der Welt die sakramentale Bedeutung des Ehe- und Familienlebens zu erschließen und den Reichtum des christlichen Familienlebens in der modernen Welt zu zeigen.48 Die Gnade des Sakraments der Ehe gibt nämlich die Kraft, unter allen Umständen des Lebens in Treue verbunden zu bleiben. Dank dessen können eine Frau und ein Mann zusammen gehen, „trzymając się za ręce, powierzając się wielkiej dłoni Pana. Zawsze trzymając się za ręce, przez całe życie! I nie zwracając uwagi na tę kulturę tymczasowości, która dzieli nasze życie na kawałki” 49. Franziskus betont, dass einen sehr wichtigen Teil der Evangelisierung dieser „Guten Nachricht“ die Verkündigung über die Familie darstellt. Deshalb ruft er sie auf, jedem mit Respekt und Mut die Schönheit der Ehe und der vom Evangelium inspirierten Familie anzubieten. Zu diesem Zweck sollten sie sich mit Aufmerksamkeit und Liebe den Familien mit Schwierigkeiten zuwenden, insbesondere denjenigen, die ihr Land verlassen mussten, gebrochenen Menschen, die kein Zuhause oder Arbeit haben oder aus so vielen anderen Gründen leiden; den Ehepaaren, die eine Krise durchleben, und denen, die sich bereits getrennt haben.50 Als christliche Fa-
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zwischen Familie und Gesellschaft, zwischen Familie und Schule wurde der Bildungspakt gebrochen. So entstand eine Krise im Bildungsbund von Gesellschaft und Familie, weil das gegenseitige Vertrauen untergraben wurde. Die Symptome dafür sind vielfältig. Zum Beispiel haben sich die Beziehungen zwischen Eltern und Lehrern in der Schule abgeschwächt. Manchmal gibt es Spannungen und gegenseitiges Misstrauen. Die Konsequenzen davon fallen natürlich auf Kinder zurück. Auf der anderen Seite ist die Zahl so genannte „Experten“ stark angewachsen, die die Position der Eltern einnahmen, sogar in den intimsten Aspekten der Bildung. Sie wissen alles über das emotionale Leben, die Persönlichkeit und ihre Entwicklung, ihre Rechte und Pflichten, sie kennen Ziele, Motivationen und Techniken. Und die Eltern müssen nur zuhören, lernen und sich anpassen. Ihrer Rolle beraubt, sind sie oft so besorgt und besitzergreifend ihren Kindern gegenüber bis zu diesem Maß, um sie niemals zu korrigieren. Sie neigen dazu, sich immer mehr den ‚Experten‘ anzuvertrauen, selbst bei den heikelsten und persönlichsten Fragen des Lebens, sich selbst in eine Ecke stellend. Auf diese Weise droht Eltern heute, sich selbst aus dem Leben ihrer Kinder auszuschließen, das ist extrem gefährlich! Dies ist nicht immer der Fall, aber manchmal beobachten wir solche Fälle.“ Übersetzt nach: Franciszek, Rodzice nie mogą zrezygnować z wychowania dzieci. 19. Katecheza papieża z 20 maja 2015, in: L`Osservatore Romano wersja polska 36 (2015), Nr. 6, 45. Vgl. Franciszek, AL 296-297 (wie Anm. 20); vgl. Sobczyk, Rodzina chrześcijańska… (wie Anm 24), 207. Vgl. Franciszek, W rodzinie uczymy się kochać... (wie Anm. 21), 27-28. Vgl. Franciszek, Rodzina oparta na związku mężczyzny i kobiety jest faktem antropologicznym, in: L’Osservatore Roman wersja polska 35 (2014), Nr. 12, 37. Händchen haltend und sich der großen Hand des Herrn anvertrauen. Immer Hand in Hand, mein ganzes Leben! Und ohne auf diese Kultur der Zeitlichkeit zu achten, die unser Leben in Stücke teilt. In seiner Rede am Tag der Familien, am 26. Oktober 2013, zum Ende des Jahres des Glaubens, stellte Papst Franziskus die folgende Diagnose der familienfeindlichen Mentalität in der heutigen Kultur fest: „Das Leben ist oft schwierig. Auch oft tragisch – wir haben vor einem Moment davon gehört. Arbeit ist eine lästige Pflicht; Jobsuche ist ein Kampf. Heute einen Job zu finden, erfordert viel Arbeit. Aber das Wichtigste im Leben ist nicht der Mangel an Liebe. Es ist schwer für uns, wenn uns niemand anlächelt, wenn wir nicht akzeptiert werden. Es gibt Stille, manchmal sogar in
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milien sollten sie allen nahe sein. Ihr Zeugnis ist der am besten lesbare Weg, um den Wert und die Schönheit der ehelichen und familiären Berufung zu zeigen. Von der Familie – betont Franziskus – hängt alles ab, weil sie die Grundlage für das ganze Leben gibt.51 In dem bereits zitierten Schreiben weist der Papst darauf hin, dass eine tiefe kulturelle Krise52 einen Lebensstil begünstigt, der das Wachstum und die Stabilität der Beziehung53 zwischen Personen schwächt und die Bindung des Familienlebens deformiert.54 Er betont, dass die Mentalität, die seit langem im Verhältnis des Menschen zu anderen Lebewesen und Gütern existiert und die er als Logik des Nutzens und Wegschmeißens55 bezeichnet, auf die zwischenmenschlichen Beziehungen in Ehe und Familie übertragen wurde. Andernorts weist Franziskus darauf hin, dass die Familie – wie alle anderen Gemeinschaften und sozialen Bindungen – Risiken ausgesetzt ist. Es besteht beispielweise eine gefährliche Tendenz, die Ehe mit einer Form der emotionalen Befriedigung zu identifizieren, die auf beliebige Weise handhabbar ist und sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Befindlichkeit ändert. 56
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der Familie, zwischen Ehemann und Ehefrau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Brüdern. Ohne Liebe wird die Anstrengung noch schwieriger, unerträglich. Ich denke an ältere Menschen, die allein sind, an Familien, die Schwierigkeiten haben, weil sie keine Hilfe und Unterstützung für diejenigen zu Hause erfahren, die besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge brauchen. Übersetzt nach: http://papiez.wiara.pl/doc/1754972 .Rodziny zyjcie radoscia wiary/2 [Zuletzt aufgerufen am 29. Januar 2019]. Vgl. Franciszek, AL 223-226 (wie Anm. 20). Vgl. ebd.; EG 66 (wie Anm. 1). In Amoris Laetitia (vgl. AL 39 [wie Anm. 20]) weist Franziskus darauf hin, dass die Unbeständigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen und die Geschwindigkeit beunruhigend ist, mit der ein moderner Mensch von einer emotionalen Beziehung zur anderen wechseln kann. Am Beispiel von Computern und sozialen Netzwerken, die für einen jungen Mensch so leicht lesbar sind, stellt er dar, dass der Glaube an die Möglichkeit des schnellen „Verbindens“, „Trennens“ und „Blockierens“ der Liebe auf Verlangen des Verbrauchers zur Gewohnheit geworden ist. Das scheint auch eine Folge des verstärkten Individualismus zu sein, der das Familienleben stark beeinflusst. Das Bestehen einer Beziehung ist in diesem Sinne von Kosten und Nutzen abhängig und das Hauptmotiv sie aufrechtzuerhalten besteht darin, der Einsamkeit Abhilfe zu schaffen, sich vor anderen Wechselfällen des Lebens zu schützen oder andere Vorteile zu erlangen. Es sollte hier unter anderem die weite Verbreitung von nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften erwähnt werden. Dies ist kein neues Phänomen. Zu den vielen Gründen für die Bildung dieser Art von Beziehungen gehören vor allem die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die mangelnde finanzielle Stabilität. Die Wichtigkeit dieses Problems wird auch von Papst Franziskus erkannt (vgl. AL 40 [wie Anm. 20]). Vgl. Franciszek, Encyklika „Laudato si”, Rzym 2015, Nr. 123; Jan Paweł II, Adhortacja apostolska Ecclesia in Europa, Nr. 9; Jan Paweł II, Przemówienie do uczestników V Międzynarodowego Kongresu ds. Rodziny: Głównym obowiązkiem jest uznać godność i prawa kobiety 8 XI 1980, in: Jan Paweł II. Nauczanie papieskie, III, 2, 1980, Poznań-Warszawa 1986, 568-569. Die beiden Vorgänger von Papst Franziskus, Johannes Paul II. und Benedikt XVI., wiesen ebenfalls darauf hin, dass die postmodernistische Kultur das Verständnis von Ehe bei vielen Menschen verändert hat und in vielen westlichen Ländern die Tendenz erkennbar ist, die ehelichen und familiären Bindungen zu schwächen. Daher bestehe eine wichtige pastorale Aufgabe darin, beharrlich die Wahrheit über die eheliche Liebe zu verkünden, die immer menschlich sein, die ganze Person umfassen, treu und exklusiv sowie offen für das Leben sein sollte. Vgl. Jan Paweł II, Ojcostwo i macierzyństwo w zamyśle Bożym. Przemówienie do uczestników Tygodnia Studiów nad Małżeństwem i Rodziną, 27 VIII 1999, in: L`Osservatore Romano wersja polska 20 (1999), Nr. 11, 12; Benedykt XVI, Rodziny oparte na trwałym małżeństwie mężczyzny i kobiety. Przemówienie
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In der Familie als Basiszelle der Gesellschaft bedarf die Fragilität von Beziehungen einer neuen, besonderen Aufmerksamkeit. 57 Auf diese Gefährdung verweist bereits das Dekret des Konzils über das Apostolat der Laien, Apostolicam Actuositatem: Christliche Familien sollen sich demzufolge stärker in die Erneuerung der Ordnung weltlicher Angelegenheiten einbringen. Dies sollte so geschehen, dass sie, ohne Rechte zu verletzen, mit den Normen des christlichen Lebens abgestimmt und an verschiedene örtliche und zeitliche Bedingungen angepasst werden kann. 58 Laut Meinung des derzeitigen Papstes braucht die postmoderne und globalisierte Welt heute eine Familie, die den Menschen lehrt, in Vielfalt zu leben. Insbesondere braucht sie ein lebendiges Zeugnis der Eltern, die den Glauben und den Zusammenhang moralischer und spiritueller Werte vermitteln. 59 Franziskus erinnerte auch die polnischen Bischöfe während ihres Besuchs ad limina Apostolorum daran, dass die Kirche in Polen die Evangelisierung der Familie nicht vergessen darf, vor allem durch die Familienseelsorge, die jetzt in der Kirche neue Priorität bekommen hat.60
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do nowej ambasador Holandii, 2 X 2009, in: Sprawy Rodziny. Kwartalnik Duszpasterstwa Rodzin 88 (2010), Nr. 4, 12-13. Vgl. Franciszek, EG 67 (wie Anm. 1); Wenn Ehepartner Schwierigkeiten in ihren Beziehungen durchleben, sollten sie auf die Hilfe und Unterstützung der Kirche zählen können. Im Falle des Zerbrechens einer Ehe, bei dem eine berechtigte Annahme der Ungültigkeit der Ehe besteht, können die Ehepartner das entsprechende kirchliche Verfahren nutzen, um die Ehe für nichtig zu erklären. Vgl. XIV Zwyczajne Zgromadzenie Synodu Biskupów, Relacja końcowa Synodu Biskupów… (wie Anm. 15), 79-82; Faber, Eva-Maria/Lintner, Martin, Theologische Entwicklungen in Amoris Laetitia hinsichtlich der Frage der wiederverheirateten Geschiedenen, in: Wendepunkt für die Moraltheologie? Reflexionen im Anschluss an Amoris Laetitia, Hrsg. Goertz, Stephan / Witting, Caroline, Freiburg i. Br. 2016 (Katholizismus im Umbruch 4), 279-320. Vgl. Apostolicam Actuositatem 7; Auch Papst Johannes Paul II. hat die Form der gegenwärtigen Zivilisation, in der das Streben nach Komfort und Vergnügen zur Erosion des Ehe- und Familienlebens beigetragen hat, oft sehr streng kritisiert. Mann und Frau seien inzwischen nicht mehr in der Lage in dauerhaften Beziehungen zu leben, während sie mit ihrer Sexualität oftmals sehr unpersönlich umgehen und nur als Element der Verwirklichung ihrer vielfältigen Bedürfnisse ansehen. Vgl. Johannes Paul II., Überlegungen zur Seelsorge für die wiederverheirateten Geschiedenen. Ansprache während der Vollversammlung des Päpstlichen Rates für die Familie am 24. Januar 1997, in: Zur Seelsorge wiederverheirateter Geschiedener. Dokumente, Kommentare und Studien der Glaubenskongregation. Mit einer Einleitung von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. (Römische Texte und Studien 6), Hrsg. Voderholzer, Rudolf, Würzburg 2014, 43-46; Bajda, Józef, Jan Paweł II – promotor rodziny – w kontekście procesów integracyjnych w Europie, in: Studia nad Rodziną 7 (2003), Nr. 2, 59-61. Vgl. Franciszek, EG 67 (wie Anm. 1); Vgl. ebd.; Boże miłosierdzie nikogo nie wyklucza. Przemówienie do polskich biskupów przybyłych do Watykanu z wizytą „ad limina Apostolorum”, in: L’Osservatore Romano wersja polska 35 (2014), Nr. 2, 27-29; Franziskus, Darstellen, was Familie ist... (wie Anm. 17), 89; Śmigiel (wie Anm. 12), 56.
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3. Die Evangelisierungsaufgabe der Familie in der Heimatkirche Der Lebensraum der Familie sollte nach Franziskus zur Hauskirche61 umgewandelt werden, in einen Ort die Eucharistie zu feiern, die Gegenwart Christi, welche dafür sorgt, dass die Hausbesitzer Gottes Segen erhalten (vgl. Ps 128,4-5). Die religiöse Bildung spielt in dieser Hauskirche 62 eine wichtige Rolle. 63 Der Papst stellt die Familie anhand biblischer Quellen als Ort der Katechese für Kinder dar. Er verweist auf die Art der Osterfeier (vgl. Ex 12,26-27; Num 6,20-25). Er bezieht sich auch auf die jüdische Haggada und die dialogische Erzählung, die den Ritus des Pascha-Abendmahls begleitet (vgl. Ps 78,6-6). Die Familie ist daher ein Ort, an dem – wie wir in Lumen fidei lesen – Eltern für ihre Kinder die ersten Glaubenslehrer werden.64 Laut Papst Franziskus bedrängt die gegenwärtig propagierte Säkularisierung, die eine Welt ohne Gott aufbauen und die christlichen Spuren in der Welt verwischen oder sogar zerstören will, immer die Familie65, die so zu einer ausgelaugten Umgebung wird.66 Seiner Meinung nach ist ein konkreter Ausdruck von Sorge um einen anderen Menschen in der christlichen Familie das Aufbauen eines tragenden Glaubensum-
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Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Bezeichnung der Familie als „Hauskirche“ hervorgehoben. Angesichts dieser Definition wird die Familie zu einem Ort, der Teil der Mission der Universalkirche mit Blick auf die Neuevangelisierung ist. Wie die Universalkirche, die auf die Evangelisierung hingeordnet ist und mit ihren Dienst an sich selbst beginnt, um „ihre Lebendigkeit, ihren Schwung und ihre Stärke [zu] bewahren [...], um das Evangelium zu verkünden“ (Paul VI. EN 15 [wie Anm. 17]), muss auch die Familie in ihrem inneren beginnen. Vgl. Franciszek, Święci świadkowie miłosierdzia. Homilia podczas Mszy św. kanonizacyjnej dwóch Papieży – Jana XXIII i Jana Pawła II, 27 IV 2014, in: Akta Konferencji Episkopatu Polski (2014), Nr. 1, 27; Ozorowski, Edward, Kościół domowy w Kościele powszechnym, in: Teologia małżeństwa i rodziny, Bd. 2, Hrsg. Majdański, Kazimierz, Warszawa 1990, 41-49. Im Schreiben Amoris Laetitia (AL 87 [wie Anm. 20]) lehrt Franziskus die gegenseitige Durchdringung von Kirche und Familien: „Die Kirche ist eine Familie aus Familien, die durch das Leben aller Hauskirchen ständig bereichert wird. Daher wird ‚kraft des Ehesakramentes […] jede Familie im umfassenden Sinn ein Gut für die Kirche. In dieser Hinsicht wird es für die Kirche heute zum wertvollen Geschenk, die Wechselseitigkeit zwischen Familie und Kirche zu betrachten: Die Kirche ist ein Gut für die Familie, die Familie ist ein Gut für die Kirche […]‘“. Die XIV. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode verweist darauf, indem sie sich auf die Lehre des II. Vatikanischen Konzils zum Thema der Familie als „Hauskirche“ beruft, dass die christliche Familie als „Hauskirche“ eine evangelisierende Aufgabe einnimmt und Gegenstand der Seelsorge ist. Sie baut ebenfalls die kirchliche Gemeinschaft mit auf: „Die im Ehestand leben, haben gemäß ihrer eigenen Berufung die besondere Pflicht, durch Ehe und Familie am Aufbau des Volkes Gottes mitzuwirken“ (Codex Iuris Canonici, c. 266,1). Vgl. Franciszek, LF 52-54 (wie Anm 31). In Familiaris Consortio erinnerte uns Johannes Paul II. daran, dass der Mensch in erster Linie ein Familienwesen ist. Deshalb ist die Familie auch der erste und beste Ort für Leben und Entwicklung (vgl. Familiaris consortio 86). Die Familie als soziale Zelle hat das Recht, sie vor Bedrohungen zu schützen. Ihre wichtige Bedeutung sollte vor allem von der internationalen Gemeinschaft gewürdigt werden. Vgl. Kowalska, Irena, Zewnętrzne zagrożenia życia rodzinnego, in: Studia nad Rodziną 6 (2002), Nr. 1, 67. Vgl. Franciszek, EG 86 (wie Anm. 1); Vgl. Biały, Stanisław, Poszanowanie prawdy – szczególnie o rodzinie jako kryterium autentycznego jednoczenia się Europy, in: Studia nad Rodziną 7 (2003), Nr. 2, 111-112.
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feldes in allen Lebensphasen, angefangen von der Kindheit.67 Eltern sollten heutzutage68 also gemeinsam den Glauben in der Familie ausüben und den Prozess des Glaubens der Kinder schon früh begleiten69, um ihnen beizubringen, mit Gott zu leben, damit sie trotz aller Widerstände von außen die Freude am Guten erleben können (vgl. Röm 7,15).70 Daher sollten sie mit Wort und Beispiel den Kindern die Treue zu allen Geboten Gottes71 vorleben. So verstanden ist die Familie eine besondere Schule des Großmuts. Sie lehrt, Verantwortung zu übernehmen, was in diesen Zeiten nicht einfach ist.72 Eine Familie, die für andere Menschen offen ist, wird automatisch in eine Schule umgewandelt, in der alle erzogen werden, individualistische Mentalität zu überwinden.73 Sie wird auch zu einem Ort, an dem junge Berufene auf dem Weg ihrer Heiligkeit voranschreiten werden.74 67
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Vgl. Franciszek, LF 52-54 (wie Anm 31).Vgl. Menke (wie Anm. 24), 78; Polak, Mieczysław, Pedagogia ewangelizacji na przedpolach wiary, in: Peryferia wiary wyzwaniem dla Kościoła, Hrsg. Przygoda, Wiesław, Fiałkowski, Marek, Lublin 2015, 61-82. Auch Benedikt XVI. wies darauf hin, dass christliche Eltern die umfassende Entwicklung ihrer Kinder, insbesondere ihre religiöse und moralische Entwicklung, bewusst fördern sollten. Vgl. Benedykt XVI, Rodziny chrześcijańskie „małymi Kościołami”. Benedykt na „Anioł Pański” 30 VIII 2009, in: Sprawy Rodziny. Kwartalnik Duszpasterstwa Rodzin 88 (2009), Nr. 4, 11-12. Vgl. Franciszek, AL 17 (wie Anm. 20). Die Basis dieser familiären Glaubensbildung ist das Wachsen in einer persönlichen Beziehung zu Gott. Die Familie ist eine Umgebung der Vermittlung Seiner Zärtlichkeit und Barmherzigkeit, durch die Erfahrung der elterlichen Liebe. Umso mehr kann man die Familie als eine Art Krankenhaus betrachten, in dem Kranke behandelt werden, ein Bezugspunkt für Kinder, eine Unterkunft für die ältere Generation. So wird die Familie zu einer sozial wertvollen Einrichtung. Vgl. Franciszek, Wielkie bogactwo społeczne, www.opoka.org.pl/bibliotek a/W/WP/fra nciszek_i/homilie/ekwador_msza_06072015.ht ml [Zuletzt aufgerufen am 29. Januar 2019]. In Amoris Laetitia (AL 166 [wie Anm. 20]) erinnert Papst Franziskus daran, dass „[d]ie Familie [...] nicht nur der Bereich der Zeugung [ist], sondern auch der Annahme des Lebens, das ihr als Geschenk Gottes begegnet“. Er betont auch die Rolle der Mutter in Bezug auf das in die Welt kommen eines neuen Menschen, denn jedes Kind, das sich im Schoß seiner Mutter bildet, ist die Frucht des ewigen Plans von Gott dem Vater und Seiner treuen Liebe. Mutter und Vater sollten gemeinsam auf die Geburt eines Kindes warten, sie sollten es mit Liebe und Freude erwarten: „Die Liebe der Eltern ist ein Werkzeug der Liebe Gottes des Vaters, der die Geburt eines jeden Kindes mit Zärtlichkeit erwartet, es bedingungslos akzeptiert und es großherzig aufnimmt.“ (AL 168-170 [wie Anm. 20]). Auf der anderen Seite verpflichtet Franziskus die Kinder, das Gebot des Gehorsams und der Liebe gegenüber den Eltern anzunehmen und zu praktizieren (vgl. Ex 20,12). Vgl. Franciszek, Każdego dnia odbudowujmy pokój w rodzinie. Rozważanie Papieża podczas spotkania modlitewnego z rodzinami z 26 X 2013, in: L`Osservatore Romano wersja polska 34 (2013), Nr. 12, 11-12; Jeżewski (wie Anm. 21), 72-74. Franziskus erinnert daran, dass „Das, was wir brauchen, vor allem in diesen Zeiten, glaubwürdige Zeugen sind, die mit ihrem Leben und ihrem Wort das Evangelium zeigen, die Faszination an Jesus Christus, der Schönheit Gottes, erwecken.“ Übersetzt nach: Franciszek (wie Anm. 4), 18. Papst Johannes Paul II. zufolge muss die Familie heute in erster Linie zu einem Ort der Humanisierung der Person und der Gesellschaft und zu einer Schule der reicheren Menschheit werden (vgl. Gaudium et Spes 52). Durch die gegenseitige Liebe und Gemeinschaft all ihrer Mitglieder trägt die Familie am wirksamsten dazu bei, die Menschlichkeit von Kindern zu stärken und zu entwickeln, indem Vertrauen, Lebensbeispiel und persönliche Muster geschaffen werden. Vgl. Jan Paweł II, Rodzina w służbie ewangelizacji. Rozważania przed modlitwą „Anioł Pański” 21 I 2001, in: L`Osservatore Romano wersja polska 23 (2002), Nr. 1, 52-53. Vgl. Franciszek, LF 53 (wie Anm 31); Vgl. ebd., Miłość cierpliwa, która rodzi radość. Homilia Ojca Świętego na Mszy św. dla rodzin, 27 X 2013, in: L`Osservatore Romano wersja polska 34
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Papst Franziskus spricht davon, dass Eltern ihre Kinder so vorbereiten sollten, dass jeder von ihnen den Ruf Gottes verstehen und erfüllen kann. 75 Dadurch widmet der Papst der religiösen Bildung und der Glaubensentwicklung von Kindern größte Aufmerksamkeit, wobei er die Bedeutung der biologischen, intellektuellen, emotionalen und sozialen Bildung dazu nicht im Gegensatz versteht. 76 Eltern sind die ersten Lehrer, Erzieher und Zeugen des Glaubens. Diese Art der Evangelisierung sollte – seiner Meinung nach – insbesondere durch gemeinsames Familiengebet77, gemeinsame Teilnahme an der Sonntagsmesse 78, an den Sakramenten, besonders häufige Teilnahme am Sakrament der Buße und der Kommunion, das Lesen des Wortes Gottes, die mit dem Familienleben verbundene Liturgie, Ausdrücke der Volksfrömmigkeit, den Hochzeitstag oder den Jahrestag der Geburt und der
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(2013), Nr. 12, 12; Ders., Powołania, świadectwo prawdy. Orędzie na Światowy Dzień Modlitw o Powołania 2014 r., in: L`Osservatore Romano wersja polska 35 (2014), Nr. 2, 5-6; XIV Zwyczajne Zgromadzenie Synodu Biskupów, Relacja końcowa Synodu Biskupów... (wie Anm. 15), 42; 66-67; Pilichowski, Zbigniew, Papieża Franciszka uwagi na temat powołania kapłańskiego i konieczności formacji, Studia Loviciencia (2015), Nr. 17, 191-200. Franziskus sieht die Familie auch als Schule der Vorbereitung für die Welt. Dieser evangelisierende und soziale Charakter christlicher Familien spiegelt das Gebet von Papst Franziskus zur Heiligen Familie vom 27. Oktober 2013 treffend wider: „Lehre uns, deine Tugenden nachzuahmen mit weiser geistlicher Disziplin, schenke uns den klaren Blick, der es versteht, das Werk der Vorsehung in den täglichen Wirklichkeiten des Lebens zu erkennen. [...] lass in uns die Wertschätzung für die Stille neu erwachen, mach unsere Familien zu Abendmahlssälen des Gebets und verwandle sie in kleine Hauskirchen, erneuere das Verlangen nach Heiligkeit, stütze die edle Mühe der Arbeit, der Erziehung, des Zuhörens, des gegenseitigen Verstehens und der Vergebung. [...] erwecke in unserer Gesellschaft wieder das Bewusstsein des heiligen und unantastbaren Charakters der Familie [...]. Jede Familie sei aufnahmefreudige Wohnstatt der Güte und des Friedens für die Kinder und für die alten Menschen, für die Kranken und Einsamen, für die Armen und Bedürftigen“. Papst Franziskus, Gebet zur Heiligen Familie von Nazareth, deutsche Version in: https://w2.vatican.va/content/france sco/de/prayers/documents/papa-francesco_preghiere_20131027_sinodo-famiglia.html [Zuletzt aufgerufen am 25. Februar 2019]. In Amoris Laetitia (vgl. AL 287-289 [wie Anm. 20]) lesen wir, dass dieser Prozess mit der Taufe beginnt, weil der Glaube ein Geschenk Gottes in diesem Sakrament ist und die Eltern Gottes Werkzeuge sind, damit Glaube sich entwickelt und reift. Franziskus verweist auf die Tatsache, dass in Zeiten der Rekreation, bei einer vorübergehenden Abkehr von den täglichen Pflichten, Gott mit dem Menschen spricht und, wie im Fall des hl. Josef, zu konkreten Maßnahmen aufruft. Auf diese Weise können die Ehepartner den Willen Gottes für sich und die Familie erkennen. Das Gebet erlaubt ihnen auch, die Früchte der durchgeführten Aktivität zu betrachten. Vgl. Franciszek, Chrońcie największy skarb waszego kraju, in: L`Osservatore Romano wersja polska 36 (2015), Nr. 2, 18-19. Vgl. Franciszek, AL 15 (wie Anm. 20). In der Katechese vom 12. August 2015 schreibt Franziskus dort unter anderem über die Feier des Sonntags in der Familie: „Die Familie verfügt über eine bemerkenswerte Kompetenz, den authentischen Wert des Feiertags zu verstehen, zu führen und zu unterstützen. Wie schön sind die Feiertage in der Familie, sie sind wunderschön! Und vor allem der Sonntag. Es ist kein Zufall, dass Feiertage, bei denen es Platz für die ganze Familie gibt, die besten sind! Das Familienleben selbst erscheint uns durch die Augen des Glaubens besser als die Mühen, die wir dafür bezahlen. Es erscheint uns als ein Meisterwerk der Einfachheit, schön, gerade weil es nicht künstlich ist, es ist nichts Vorgetäuschtes, aber es kann alle Aspekte des wirklichen Lebens verkörpern. Er erscheint uns als etwas ‚sehr Gutes‘ wie Gott nach der Erschaffung eines Mannes und einer Frau sagte (vgl. Gen 1,31). Deshalb ist der Feiertag ein wertvolles Geschenk Gottes, ein wertvolles Geschenk, das Gott der menschlichen Familie gemacht hat: Lasst uns ihn nicht zerstören!“ Übersetzt nach: Franciszek, Nie bądźmy niewolnikami pracy. Katecheza papieża z 12 sierpnia 2015, in: L`Osservatore Romano wersja polska 36 (2015), Nr. 9, 48.
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Taufe von Kindern vollzogen werden. Die Familie sollte das Wort Gottes annehmen, nach der Heiligen Schrift leben, der kirchlichen Lehre zuhören und dieses Wort an alle Suchenden weitergeben.79 Als Beispiel für das Familiengebet empfiehlt Papst Franziskus, dass wir gemeinsam am Tisch das Vater Unser und den Rosenkranz beten. Er empfiehlt besonders das Fürbitt-Gebet in der Familie, d. h. „modlenie się za siebie nawzajem: mąż za żonę, żona za męża, obydwoje za dzieci, dzieci za rodziców, za dziadków […] Trzeba się – pisze on w Lumen fidei - modlić za siebie wzajemnie. To jest modlenie się w rodzinie, i ta modlitwa umacnia rodzinę” 80. Eine wirksame Hilfe für die Familie im Dienst der Evangelisierung sieht der Papst auch beim Lesen der Heiligen Schrift, die für ihn eine Quelle der Familienspiritualität ist. Denn es zeigt der Familie den Sinn ihres Daseins, die Motivation zur Beständigkeit und die Kraft, Widrigkeiten zu überwinden. Sie zeigt aber auch Gott als Hörenden und für das Leid empfänglichen Vater (vgl. Offb 21,4).81
4. Fazit Das gesamte Pontifikat von Papst Franziskus ist von einer außerordentlichen Sorge um die Evangelisierung geprägt. In seiner Verkündigung betont er das aktive Bauen des Reiches Gottes auf Erden durch die Gläubigen. Er predigt allen Menschen die Wahrheit, die Schönheit und die Liebe Christi. Mit seiner persönlichen Einstellung vereint er sie, auch diejenigen, die weit weg von der Kirche stehen. Alle Gläubigen sind jedoch aufgerufen, Prediger der Freude des Evangeliums zu werden. Er betont, dass das apostolische Handeln die Freude am Evangelium überall dort verbreitet, wo Gläubige leben, überall dort, wo die Frage nach der menschlichen Entwicklung gestellt wird – nach Richtung, Sinn, Kriterien und Bewertung dieser Entwicklung. Überall dort haben getaufte Menschen die Möglichkeit, aus79
Vgl. Franciszek, AL 205-216; 287-288 (wie Anm. 20); Vgl. ders., Biblia w każdej rodzinie, in: L`Osservatore Romano wersja polska 35 (2014), Nr. 10, 9; Ders., Miłość cierpliwa, która rodzi radość... (wie Anm. 63), 12; Śmigiel (wie Anm. 12), 58; Zellma, Anna, Pedagogiczne aspekty adhortacji papieża Franciszka Amoris Laetitia, in: Studia Teologiczno-Historyczne Śląska Opolskiego 37 (2017), Nr. 1, 237; 243; Dyduch (wie Anm. 23), 39. 80 „Für einander beten: Ehemann für Ehefrau, Ehefrau für Ehemann, sowohl beide für Kinder als auch die Kinder für die Eltern, für die Großeltern […] Sie müssen füreinander beten. Dies ist das Beten in der Familie, und dieses Gebet stärkt die Familie.“ Vgl. Franciszek, Miłość cierpliwa, która rodzi radość... (wie Anm. 63), 12; Ders., Ewangelizuje się na kolanach. Homilia w czasie mszy św. na spotkaniu z seminarzystami, nowicjuszami i nowicjuszkami w Roku Wiary, 7 VII 2013, in: L`Osservatore Romano wersja polska 34 (2013), Nr. 8-9, 46; Szmulewicz, Henryk, Pilne zadanie uczniów Chrystusa: głosić radość Ewangelii we współczesnym świecie, in: Tarnowskie Studia Teologiczne 33 (2014), Nr. 1, 147-148. 81 Vgl. auch Franciszek, AL 22 (wie Anm. 20) und ders. EG 262 (wie Anm. 1); Vgl. Sobczyk, Adam Józef, Koncepcja duchowości małżeństwa i rodziny w świetle adhortacji Amoris Laetitia, in: Teologia i Człowiek 35 (2016), Nr. 3, 185; Ders., Rodzina chrześcijańska... (wie Anm. 24), 211; Ozorowski, Mieczysław (wie Anm. 18), 129.
Christliche Familie und gelebte Evangelisierung
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gehend von der Botschaft der Fülle der Offenbarung in Christus, das Wort Gottes zu predigen, indem sie mit ihrem eigenen Leben ein Beispiel geben. Eines der großen Themen des Pontifikats von Papst Franziskus ist seine Reflexion über die Evangelisierungsaufgabe der Familie. Der Papst spricht von der Familie als der grundlegendsten Zelle der Gesellschaft und als einer der wichtigsten Prioritäten der pastoralen Arbeit. Er weist darauf hin, dass eine wahrhaft christliche Familie durch Treue, Geduld, Offenheit gegenüber dem Leben und Respekt für ältere Menschen erkannt werden kann. Das Geheimnis all dessen ist seiner Meinung nach die Präsenz Jesu in der Familie. Der Papst ruft dazu auf, das Evangelium der Familie zu verkünden, das heißt die vollständige und ganzheitliche Wahrheit über Ehe und Familie, die in Gottes Plan für die Errettung des Menschen niedergeschrieben ist. Indem er die Berufung und Mission der Familie zeigt, möchte er allen Familien helfen und spricht daher auch über verschiedene Situationen heutiger Ehen und Familien. Er fordert jedoch die christlichen Familien auf, ein lebendiges und freudiges Zeugnis von der Gegenwart Christi im Sakrament der Ehe und in ihrem Familienleben, einer kleinen Kirche, zu geben. Laut Franziskus ist die Evangelisierungsaufgabe der Familie auch eine kreative Beteiligung an der kirchlichen und sozialen Gemeinschaft, denn auf diese Weise wird sie durch das Zeugnis zu einer rettenden Gemeinschaft für die Welt.
Anthropologie für das 21. Jahrhundert Wer sind wir? Wo gehen wir hin?
„Sind berufstätige Frauen die besseren Mütter?“ – ein provokantes Thema
Walter Schmidt
1. Wissenschaftliche Einordnung des Themas – Wer sind wir? Wo gehen wir hin? In den vergangenen 2.500 Jahren waren es in der Regel die Philosophen, die den anthropologischen Ehrgeiz zeigten, das menschliche Wesen erkennen und in Worte fassen zu wollen. Heute sind wir in der Lage, hochkomplexe soziologische Entwicklungen des Menschen zu analysieren und zu deuten. Mediziner und Biologen helfen uns dabei, neue Lösungen zu finden – unterstützt durch eine sich mit hoher Geschwindigkeit entwickelnden Digitalisierung der Informationstechnologie. Aus der allgemeinen Anthropologie, der Wissenschaft vom Menschen, leitet sich die philosophische Anthropologie ab, deren Grundüberlegungen wir für die Verortung unseres Themas benützen wollen. Hier wird der Mensch nicht nur als Objekt, sondern als Subjekt wissenschaftlich untersucht. Dabei geht es um qualitative Eigenschaften des Menschen wie Personalität, Entscheidungsfreiheit und die Möglichkeiten der Selbstbestimmung.1 Unser hier gewählter Fokus führt uns zur Sozialanthropologie, der Wissenschaft von Menschen in der Gesellschaft. 2 Sie analysiert die soziale Organisation des Menschen. Unter der Berücksichtigung der gegebenen Umweltbedingungen des menschlichen Lebens ergibt sich Lindenbergs PREEMM-Modell3, das wir den folgenden Ausführungen zugrunde legen. Dieser modellierte individuelle Akteur (man) ist in seinen Handlungsmöglichkeiten Einschränkungen unterworfen (resourceful). Er kann nicht von den ihm unbekannten ‚objektiven’ Begebenheiten ausgehen, sondern ist auf eine subjektive Schätzung 1 2 3
Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 21965. Evans-Pritchard, Edward E., Social Anthropology, Anthropology and Ethnography, Oxon 2004. Lindenberg, Siegwart, An assessment of the new political economy: Its potential for the social sciences and for sociology in particular, in: Sociological Theory, Vol. 3, No. 1, 1985, 99-114.
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angewiesen (expecting), um die Handlungsoptionen in Hinblick auf seine eigentlichen Ziele zu bewerten (evaluating) und sich dann zu entscheiden, dass sein erwarteter Gesamtnutzen maximiert wird (maximising). Ein PREEMM wird also in eine Entscheidung nur soviel Zeit und Geld investieren, wie sich auf Grund der Wirklichkeit der anstehenden Entscheidung lohnt. In der Regel wird er daher Entscheidungshilfen wie Rechtsnormen und Tradition oder auch die Meinung von als vertrauenswürdig eingeschätzten „Experten“ befolgen, da nonkonformes Verhalten zumeist Kosten (Sanktionen) nach sich zieht. Allerdings ist ein PREEMM durchaus in der Lage, Handlungsrestriktionen zu umgehen, wenn er sich dadurch Vorteile verspricht. Wenn wir überzeugt sind, dass unser modellierter, individueller Akteur alle menschlichen Handlungsmöglichkeiten in sich vereint, müssen wir ihm Leben einhauchen und ihn als Mann und Frau in die ihn umgebende Gesellschaft stellen. Schon die griechischen Philosophen haben die Bedeutung von Mutterschaft und Vaterschaft für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft hervorgehoben. Aristoteles schrieb in der Nikomachischen Ethik: „Die Freundschaft zwischen Mann und Frau scheint auf der Natur zu beruhen, denn der Mensch ist von Natur noch mehr zum Beisammensein zu zweien angelegt als zur staatlichen Gemeinschaft, sofern die Familie ursprünglicher und notwendiger ist als der Staat und das Kinderzeugen allen Lebewesen gemeinsam ist. Die anderen freilich beschränken die Gemeinschaft gerade darauf, bei den Menschen besteht sie aber nicht nur um der Kindererzeugung willen, sondern wegen der Lebensgemeinschaft. Denn die Aufgaben sind von vornherein differenziert und verschieden bei Mann und Frau. Also helfen Sie einander, indem jedes das Seinige zum Gemeinsamen beiträgt. Darum scheint sowohl das Nützliche wie auch das Angenehme in dieser Freundschaft vorhanden zu sein. Sie wird auch auf Tugend begründet sein, wenn beide tugendhaft sind. Denn jeder von beiden hat seine Tugend, und sie werden sich daran freuen“.4 Dieses allgemeine Bild des Zusammenlebens von Mann und Frau ist durch die Jahrhunderte weitergetragen worden und hat vor allem durch die christlichen Kirchen die Ausprägung gefunden, die bis heute eine christliche Ehe beschreiben: Einen dauerhaften Bund von Mann und Frau, der einen Zusammenhalt in guten wie in schlechten Zeiten sichert. Im Zentrum dieser Betrachtung steht die Bedeutung von Vaterschaft und Mutterschaft für den Einzelnen, für das Zusammenleben von Mann und Frau, für die Erziehung und Sozialisation der Kinder und für die Reproduktion der Gesellschaft. Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts unterliegen Mutterschaft und Vaterschaft starken soziokulturellen Einflüssen, die sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts wei4
Aristoteles, Nikomachische Ethik, VII 14, Stuttgart 1969.
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ter verstärken, d. h. ihr Erscheinungsbild wandelt sich mehr und mehr. Im Zentrum dieser Veränderungen stehen die Einstellungen von Mann und Frau zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
2. Statistische und soziologische Grundlagen des sozialen Wandels In unserer industrialisierten Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts sind die meisten Mütter erwerbstätig. 2010 waren sechs von zehn Müttern und mehr als acht von zehn Vätern mit mindestens einem im Haushalt lebenden ledigen minderjährigen Kind aktiv erwerbstätig.5 Mit zunehmendem Alter des jüngsten Kindes steigt die Erwerbstätigkeit der Mütter deutlich an. 2010 waren 32% der Mütter, deren jüngstes Kind im Krippenalter von unter drei Jahren war, aktiv erwerbstätig. Mütter deren jüngstes Kind im Kindergartenalter (3-5 Jahre) war, waren bereits zu 60% erwerbstätig. Im Grundschulalter der Kinder (6-9 Jahre) nahm der Anteil der erwerbstätigen Mütter auf 67% zu. Mütter mit 15-17-jährigen Kindern erreichten die höchste Erwerbstätigkeitsquote von 73%. Die Erwerbstätigenquote der Väter lag im Jahr 2010, je nach Alter des jüngsten Kindes, nahezu unverändert zwischen 83% und 85%. Um zu erkennen, dass wir mitten in einem soziokulturellen Veränderungsprozess stehen, müssen wir feststellen, dass nicht nur der Beteiligungsgrad, sondern auch der zeitliche Umfang der Erwerbstätigkeit von Müttern wesentlich vom Alter der Kinder abhängt. So arbeiteten 2010 insgesamt 70% der erwerbstätigen Mütter im Alter von 15 bis 64 Jahren auf Teilzeitbasis, bei Männern waren es lediglich 6%. Hauptmotiv für die Einschränkung des Beschäftigungsumfanges waren nicht Arbeitsmarkt bedingte, sondern persönliche und familiäre Verpflichtungen, um mehr Zeit für die Betreuung und Erziehung der Kinder zur Verfügung zu haben. Der soziale Wandel in der Erwerbstätigkeit der Frau wird von Veränderungen in anderen Bereichen des sozialen Zusammenlebens von Mann und Frau begleitet. So verringern moderne Technologien und vorgefertigte Lebensmittel die notwendige Hausarbeit. Die Ausbildung der Frau hat seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts stark zugenommen und eine Gleichstellung in vielen Berufen mit der des Mannes erreicht. Die ehelichen Beziehungen erweisen sich als weniger stabil. Traditionelle Einstellungen bezüglich der Geschlechterrollen verlieren an Einfluss. Veränderungen in der Kindererziehung von autoritären zu mehr autoritativen Modellen setzen sich durch. Die Rollenmodelle der Eltern verändern sich und beeinflussen die Sozialisation der Kinder im stärkeren Maße. Die Familie entwickelt sich von einer emotionalen und ökonomischen Fortpflanzungsgesellschaft mehr und mehr zu einer Sozialeinrichtung für Kinder. 5
Mikrozensus, hg. vom Statistischen Bundesamt, Wiesbaden, Januar 2012, Wirtschaft und Statistik, 33ff.
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3. Wo sind wir? – Die Gesellschaft ist gespalten Die Berufstätigkeit von Müttern bleibt kontrovers. Insbesondere in Deutschland hat dieses Thema zu heftigen Debatten geführt. Vom „Heimchen am Herd“ sprechen die einen, von der „Rabenmutter“ die anderen. Frauen in Deutschland sind im internationalen Vergleich seltener erwerbstätig, seltener Mütter und noch seltener beides zusammen. Wenn deutsche Frauen Kinder bekommen, dann reduzieren sie häufig ihre Erwerbstätigkeit. Die Beschäftigungsquote von Frauen mit Kindern unter 12 Jahren liegt hierzulande mit 55,6% um 23% niedriger als die Beschäftigungsquote kinderloser Frauen. 6 Wenn Erwerbstätigkeit, dann meist in Teilzeit: Von 1995 mit 29% auf 2005 mit über 39%. Deutschland hat in der EU-15 neben Großbritannien die höchste Teilzeitquote bei Frauen. Aber die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hängt nicht nur von den institutionellen Rahmenbedingungen, sondern auch von den gesellschaftlichen Einstellungen zur Familie und der Rolle der Frau ab. Und hier scheiden sich die Geister in ein modernes und in ein traditionelles Rollenverständnis. Als „modern“ gelten Einstellungen, die die Erwerbstätigkeit der Frau positiv bewerten und Familie und Frauenerwerbstätigkeit für vereinbar halten. Demgegenüber werden Einstellungen als „traditionell“ bezeichnet, wenn der Mann der alleinige Ernährer der Familie ist und die Berufstätigkeit der Frau und die Kindererziehung für unvereinbar gehalten werden. Studien haben erbracht, dass in den meisten westeuropäischen und skandinavischen Ländern die „traditionelle“ Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau von der Bevölkerung schon 2007 mehrheitlich abgelehnt wurde. Dagegen sprachen sich die meisten ost- und südeuropäischen Länder mehrheitlich dafür aus, dass die Frau zuhause bleibt und sich um die Kinder kümmert, während der Mann arbeitet. Vor allem die älteren (über 65-jährigen), sowie Personen mit niedrigem Bildungsniveau betrachten die Berufstätigkeit der Mutter deutlich kritischer als Jüngere und Höhergebildete. Damit zeigt sich ein Generationenkonflikt, da offensichtlich im Zuge der Bildungsexpansion der Frauen ein Wertewandel stattgefunden hat, der heute über 10 Jahre später einem modernen Familienbild mehrheitlich den Vorzug gibt. Obwohl unsere Gesellschaft mehr und mehr altert, werden die jüngeren und gut ausgebildeten Frauen die gesellschaftlichen Einstellungen zunehmend dominieren. Heute äußern sich die berufstätigen Frauen trotz aller Selbstzweifel an der von ihnen gewählten Identität deutlich positiver über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als nicht berufstätige Frauen.
6
Scheuer, Angelika / Dittmann, Jörg, Berufstätigkeit von Müttern bleibt kontrovers. Einstellungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Deutschland und Europa, in: Informationsdienst Soziale Indikatoren, 38, 2007, 1-5.
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4. Wohin gehen wir? Die Folgen der Berufstätigkeit der Mütter für die Kinder – Neue Forschungen und ihre Ergebnisse Die Mehrzahl der deutschen und amerikanischen Studien haben sich in den vergangenen Jahren mit der Stellung der berufstätigen Frauen in der Gesellschaft und ihrer veränderten Rolle in der Familie befasst. Die Auswirkungen der Berufstätigkeit der Mütter auf die Kinder stand nicht im Zentrum dieser Untersuchungen. Diese Lücke füllen nun Forschungsprojekte, die überraschende und gesellschaftlich relevante Ergebnisse zu Tage gebracht haben. Die Eine ist die MichiganStudie „Mothers at Work: Effects on Children’s Wellbeing” von Hoffman und Youngblade. 7 Die Andere ist die von der Konrad-Adenauer-Stiftung beauftragte und von Una M. Röhr-Sendlmeier im Oktober 2015 durchgeführte Untersuchung „Wie viel Mutter braucht das Kind? – Zur Situation berufstätiger Mütter und ihrer Kinder.“8 Beide Studien setzen die Forschungen früherer Untersuchungen fort und zeigen damit auch den gesellschaftlichen Wandel, den die Berufstätigkeit der Frau und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder durchläuft. Es wurden sowohl Kinder im Vorschul- und Schulalter, als auch sozusagen die nächste Generation nämlich berufstätige junge Männer und Frauen, deren Mütter und Väter berufstätig sind, untersucht. Als erste Annäherung an das Thema der Berufstätigkeit von Müttern gehen wir der Studie „Wie viel Mutter braucht das Kind?“ nach. Die von Una M. Röhr-Sendlmeier dargestellten Forschungsergebnisse nehmen auf eigene frühere und andere Studien Bezug, die sich mit der Abwesenheit der Mütter und deren Auswirkungen auf das Wohl des Kindes befassen. Problemstellung und Ergebnisse stellen sich folgendermaßen dar:
4.1 Mütterliche Schuldgefühle – Sichere Bindung der Kinder Zweifel und mütterliche Schuldgefühle beeinflussen vor allem in Deutschland die Entscheidung der Mütter, ob sie berufstätig werden sollen oder nicht. Für seine gesunde Entwicklung braucht ein Kind sichere Bindungen. Es muss Bezugspersonen um sich herum haben, die sensibel auf seine Bedürfnisse eingehen – sein Lächeln, seine Gesten und seine Lautäußerungen beantworten. Diese Personen müssen dem Kind sowohl emotionale Stabilität als auch Raum für eigenständige Erkundungen seiner Umgebung geben. In der Entwicklungspsychologie ist unbestritten, dass umfassende sensorische und soziale Umweltanregungen in den ersten Lebensjahren für das Kind von zentraler Bedeutung sind. Diese Anregungen müs7 8
Hoffman, Lois W. / Youngblade, Lise M., Mothers at Work: Effects on Childern’s Well-being, Cambridge 1999. Röhr-Sendlmeier, Una M., Wie viel Mutter braucht das Kind? – Zur Situation berufstätiger Mütter und ihrer Kinder. Expertise für die Konrad-Adenauer-Stiftung, in: Analysen & Argumente, 188, 2015, 1-10.
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sen nicht unbedingt ausschließlich von der Mutter bereitgestellt werden. Kinder erhalten zusätzliche Lernimpulse, wenn sie nicht nur durch eine einzige Person, sondern z. B. auch vom Vater betreut werden. Die Sensitivität der betreuenden Personen, die dem Kind in einer kontinuierlichen Beziehung Geborgenheit, Wärme und Unterstützung geben, ist ein Garant für die Entwicklung stabiler, sozialer Bindungen, für Verhaltenssicherheit und den Aufbau von Bewältigungsstrategien. Kinder, die sicher gebunden sind, kommen besser in Kindergarten und Schule zurecht, sind sozial kompetenter und zeigen weniger Verhaltensauffälligkeiten.
4.2 Wie viel Zuwendung der Mutter braucht ein Kind in den ersten Schuljahren? Als wichtigster Erklärungsfaktor für die Entwicklung des Kindes erwies sich durchgehend die Sensitivität der primären Bezugsperson, in der Regel der Mutter. Eine sichere Mutter-Kind-Beziehung wird durch einen Krippen- und Kindergartenbezug nicht beeinträchtigt, besonders wenn das Kind nicht vor Vollendung des ersten Lebensjahres dort untergebracht ist. Auch bei einer Tagesmutter ist eine Phase der sanften Eingewöhnung wichtig, in der die Mutter anwesend ist und erst allmählich die außerfamiliäre Aufenthaltsdauer gesteigert wird. Die Qualität und Kontinuität der außerfamiliären Betreuung ist von hoher Bedeutung. In kleinen Gruppen können die betreuenden Personen sensibel auf die Kinder eingehen, entwicklungsangemessene Anregungen und sichere Rückzugsmöglichkeiten geben. Eine gute außerhäusliche Betreuung kann Entwicklungs- und Erziehungsdefizite kompensieren, die bei ungünstiger familiärer Betreuung auftreten können. Kinder profitieren von einer frühen institutionellen Betreuung. Der Vorteil liegt darin, dass neue kognitive Fähigkeiten und nicht kognitive Persönlichkeitsmerkmale wie Selbstwertgefühl, die Fähigkeit Freundschaften zu schließen und die Akzeptanz von Normen schon im Vorschulalter herausgebildet werden und dies die Effizienz im Erlernen weiterer gesellschaftlich wichtigen Fähigkeiten erhöht. Die Vorurteile gegenüber berufstätigen Müttern wegen möglicher schädlicher Einflüsse auf die Schulleistungen des Kindes hat die Studie, die über 7.000 Familien und 18.000 teilnehmende Personen umfasste, widerlegt und positive Auswirkungen einer mütterlichen Berufstätigkeit nachgewiesen. Die berufstätigen Mütter unterschieden sich von den nicht erwerbstätigen in Bezug auf ihre Leistungsmotivation und die Bedeutung, die sie der Übernahme von Verantwortung und Teamarbeit in ihrem Beruf beimaßen. Die Autoren schlussfolgerten, dass Mütter, die in einem Bereich ihres Lebens, der Arbeitswelt, auf der Basis eigener Qualifikation erfolgreich handeln, dies in dem anderen, dem familiären Bereich auch tun. Bei den Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Schulformen ging die Ausbildung, Berufstätigkeit und Leistungsbereitschaft der Mutter mit besseren Schulleistungen, einem höheren schulischen Selbstvertrauen und einer höheren Leistungs-
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motivation einher. Die Qualifikation und Berufstätigkeit der Mütter sind also als wichtige, wirksame bildungsrelevante Ressource für die Kinder anzusehen. Durch die berufstätige Mutter bzw. zwei berufstätige Elternteile erleben die Kinder ein breites und stärker auf Leistung bezogenes Spektrum von Verhaltensmöglichkeiten. Die mütterliche Berufstätigkeit kann die kindliche Entwicklung dadurch positiv beeinflussen, dass das Kind sich die mütterliche Arbeitshaltung und vorgelebte Lern- und Bewältigungsstrategien zum Vorbild nimmt. Durch die Wertschätzung der Leistungsbemühungen und -erfolge des Kindes unterstützen die berufstätigen Eltern aktiv die Entwicklung seines Fähigkeitskonzeptes, motivieren es und begünstigen seinen Schulerfolg. Mütter, die den Umgang mit beruflicher Anforderung und dem Wissen über unterschiedliche Aspekte beruflichen Lebens vermitteln können, fördern schon dadurch ihre Kinder. Denn Einstellungen, Wissen, Fertigkeiten und emotionale wie kognitive Einflüsse gehen in die Berufswahlbereitschaft der Kinder ein. Je höher sie ausgeprägt ist, desto besser sind Jugendliche in der Lage, fundierte Entscheidungen im Hinblick auf ihren beruflichen Lebensweg zu treffen. Die mütterliche Berufstätigkeit als Einflussvariable auf die Entwicklung der Kinder muss in größerem Rahmen des familialen Kontextes, der Zufriedenheit der Familienmitglieder, der vorgelebten Geschlechterrollen und des praktizierten Erziehungsstiles gesehen werden. In der folgenden Darstellung der „MichiganStudie“ gehen wir den Zusammenhängen nach, wie sich diese bei berufstätigen Frauen und Männern auf die Entwicklung des Kindes auswirken.
4.3 Die Schulleistungen der Töchter Töchter von berufstätigen Müttern zeigen bessere Leistungen in der Schule, haben mehr Erfolg in ihrer späteren Berufskarriere, entscheiden sich häufiger für unübliche Berufslaufbahnen und fühlen sich ihrem Beruf gegenüber stärker verpflichtet. In allen Leistungstests hatten diese Töchter bessere Ergebnisse in Lesen, Sprachkompetenz und Mathematik. Sie hatten weniger Lernschwierigkeiten, verfügten über eine höhere Frustrationstoleranz und beteiligten sich aktiver am Klassengeschehen. Sie verfügten außerdem über mehr Selbstwirksamkeit, sie hatten das Gefühl, mehr auf die Vorgänge in ihrer Umwelt selbst aktiv Einfluss nehmen zu können als die Söhne.
4.4 Die Schulleistungen der Söhne Unter Berücksichtigung des Bildungsstatus der Mütter erzielten die Kinder von berufstätigen Müttern, einschließlich der Jungen, bessere Ergebnisse in Sprachaus-
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druck, Lesen und Mathematik und dies unabhängig vom Geschlecht, sozioökonomischem Status und dem Ehestatus der Mutter. Anzumerken ist, dass die Söhne von ganztägig berufstätigen Müttern häufiger ausagierende Verhaltensweisen zeigten als die Söhne von nicht berufstätigen Hausfrauen der befragten Mittelschicht. Söhne von nicht berufstätigen Hausfrauen wurden als gehemmt und stark angepasst beschrieben (Muttersöhnchen).
4.5 Unterschiede in der sozialen Entwicklung Töchter von berufstätigen Müttern wurden vor allem in der Interaktion mit ihren Mitschülern in der Klassengemeinschaft als unabhängiger beschrieben und sie hatten höheren Grad an sozioemotionaler Anpassung. Sie zeigten mehr positive Formen der Selbstbehauptung und eine höhere Frustrationstoleranz. Außerdem verfügten sie über bessere soziale Fertigkeiten, zeigten weniger Verhaltensauffälligkeiten und waren weniger schüchtern und auch unabhängiger. Die Söhne berufstätiger Mütter konnten zwar auch bessere Schulleistungen vorweisen, aber es gab nur wenige Hinweise darauf, dass die Berufstätigkeit der Mutter einen positiven Einfluss auf ihre soziale Entwicklung ausübte. Hier ist wohl der Vorbildfunktion des Vaters eine größere Rolle beizumessen, deren detaillierte Analyse noch aussteht.
4.6 Einstellung bezüglich der Geschlechterrollen Als weiteres Forschungsergebnis hält die „Michigan-Studie“ fest, dass die Kinder berufstätiger Mütter weniger traditionell orientierte Einstellungen bezüglich der Geschlechterrollen ausbilden, wobei dieses Ergebnis eher für Töchter als für Söhne zutrifft. Töchter berufstätiger Mütter kamen häufiger zum Ergebnis, dass Frauen männer- spezifische Aktivitäten genauso gut wie Männer ausüben können. Dieses Ergebnis traf für Töchter alleinerziehender Mütter gleichermaßen zu wie bei Mädchen, welche mit beiden Elternteilen aufwuchsen. Bei Jungen wirkt sich der Beschäftigungsstatus der Mutter nicht darauf aus, inwieweit sie den Müttern Kompetenzen in der traditionellen Männerdomäne zuschrieben. Auf der anderen Seite waren sowohl Söhne wie Töchter, welche mit beiden Elternteilen aufwuchsen und deren Mütter berufstätig waren, der Meinung, dass Männer durchaus in der Lage sind, typische Frauenaufgaben zu erledigen. Dieser Meinung waren Söhne und Töchter von Hausfrauen nicht. Das liegt wohl daran, dass die Männer berufstätiger Frauen sich aktiver an traditionellen Frauenaufgaben und an der Kindererziehung beteiligen. Die „Michigan-Studie“ spricht von mehreren Aspekten des Familienlebens – familiale Mediatoren genannt – die die Entwicklung des Kindes beeinflussen.
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4.7 Die Rolle des Vaters Wenn die in der Studie untersuchten Mütter berufstätig waren, beteiligten sich die Väter aktiver im Haushalt und bei der Kinderbetreuung. Dies verstärkte direkt den Effekt der mütterlichen Berufstätigkeit. Somit ergab sich eine Verbindung ausgehend von der Berufstätigkeit der Mutter über die Rolle des Vaters hin zu den Schulleistungen der Kinder. Die aktive Teilnahme der Männer an der Kinderbetreuung wirkt sich positiv auf die Schulleistungen von Jungen und Mädchen aus. Besonders profitieren davon die Mädchen, die die Meinung vertreten, dass Frauen auch in typischen Männerdomänen kompetent sind. Die veränderte, weniger traditionelle Aufteilung der familiären Rollen zwischen Mann und Frau hat sich als wichtiges Bindeglied in der Verknüpfung der Berufstätigkeit der Mütter mit der Selbstwirksamkeit, Leistungsmotivation und Schulleistung der Töchter erwiesen. Rollenfunktionen, welche bisher einer typischen Geschlechterrollentypisierung unterlagen, lösen sich zunehmend auf. In dieser Rolle hat der Mann wesentliche Teile der bisherigen Mutterrolle übernommen. Die Organisation und Durchführung der Freizeitaktivitäten liegen weiterhin zum größeren Teil in der Hand des Mannes.
4.8 Das Wohlbefinden der Mutter Vor der Entscheidung für den Beruf sind viele Frauen immer noch von Zweifeln geplagt. In den meisten Forschungsarbeiten wurden berufstätige Mütter aber als zufriedener und ausgeglichener beschrieben, sie hatten niedrigere Stresswerte und weniger depressive Verstimmungen. Es wird aber deutlich, dass die Berufszufriedenheit der Frauen nicht aus der Arbeit an sich resultiert, sondern aus der vermehrten sozialen Unterstützung und Stimulation von Seiten der Berufskollegen, dem höheren Familieneinkommen und dem deutlicheren Gefühl der Kontrolle über den eigenen Lebenslauf. Eine positive Beziehung zwischen der psychischen Gesundheit der Mutter und einer effektiven Erziehung sowie der kognitiven und emotionalen Entwicklung der Kinder konnte belegt werden. Es zeigt sich aber, dass die Beziehung zwischen der Berufstätigkeit der Mutter und ihrem Erziehungsstil ebenfalls durch ihr Wohlbefinden beeinflusst wurde. Berufstätige Mütter wenden häufiger einen autoritativen und seltener einen autoritären Erziehungsstil an. Eine autoritative Erziehung zeichnet sich dadurch aus, dass zwar die Eltern Kontrolle ausüben, dabei aber Erklärungen geben, anstatt sich auf Machtausübung und harsche Disziplin zu verlassen. Beispielsweise konnte bei nicht berufstätigen Müttern ein Zusammenhang zwischen Permissivität, also Freizügigkeit in der Erziehung und aggressiven Verhaltensweisen der Söhne aufgezeigt werden. Formen autoritärer Kontrolle durch die Mutter standen in Beziehung zu vermehrten aggressiven Verhaltensweisen der Töchter. Dagegen korreliert der vornehmliche Gebrauch eines autoritativen Erziehungsstiles bei berufstätigen Müttern mit den besseren Schulleistungen der Kinder. Formen der autoritären Disziplinierung kamen in der Arbei-
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terschicht häufiger vor als in der Mittelschicht. Einen besonders strengen Erziehungsstil fand man bei alleinerziehenden, nicht berufstätigen Müttern. Ein permissiver Erziehungsstil war häufiger bei nicht berufstätigen Müttern der Arbeiterschicht zu beobachten. Dabei zeigten sich nur für Jungen negative Folgen: Sie waren bei gleichaltrigen Kameraden nicht gerne gesehen und wurden von den anderen als aggressiv und zerstörerisch beurteilt. Obschon Jungen berufstätiger Mütter aus der Mittelschicht bessere kognitive Leistungen aufwiesen, waren sie dennoch die einzige Gruppe, die in ihrer sozialen Entwicklung von der Erwerbstätigkeit der Mutter nicht profitieren konnte. Der Zusammenhang zwischen der Berufstätigkeit der Mutter, ihrem Erziehungsstil und der Entwicklung der Kinder wird deutlich. Der Einfluss des Erziehungsstils wird durch die Mutter-Kind-Interaktion verstärkt. Nicht berufstätige verheiratete Mütter äußern sich häufig über positive Interaktion mit ihren Kindern, berufstätige verheiratete Mütter berichten dasselbe, jedoch im Hinblick auf ihre Töchter und nicht bei ihren Söhnen. Alle untersuchten berufstätigen Mütter schildern den offenen Ausdruck von Gefühlen. Zwar gab es keine Zusammenhänge zwischen dem häufigeren offenen Gefühlsausdruck und der Entwicklung der Kinder bei solchen mit berufstätigen verheirateten Müttern, jedoch bei Kindern mit alleinerziehenden Müttern. Ihre Kinder wiesen bessere soziale Fertigkeiten auf und zeigten weniger aggressive Verhaltensauffälligkeiten. Insbesondere, wenn der andere Elternteil nicht zur Verfügung steht, erlangen diese Formen der positiven Interaktion besondere Bedeutung.
5. Untersuchung von Säuglingen und Kleinkindern Auch die „Michigan-Studie“ ging der Frage nach, inwiefern sich eine frühe Wiederaufnahme der Berufstätigkeit auf die Entwicklung der Kinder auswirkt. Bei Kindern zwischen dem ersten Lebensjahr und dem dritten Schuljahr konnten in Bezug auf die Berufstätigkeit während der ersten Lebensjahre der Kinder keine signifikanten Ergebnisse ermittelt werden. Die Daten verschiedener anderer Studien sind nicht eindeutig zu interpretieren, weisen aber darauf hin, dass berufstätige Mütter mit kleinen Kindern versuchen, die Zeit ihrer Abwesenheit zu kompensieren, indem sie mit ihrem Kind vermehrt direkt interagieren und in ihrer Freizeit viel Zeit mit ihm verbringen. Bei der noch andauernden Untersuchung des National Institute of Child Health and Development 9 geht es um die Auswirkungen einer frühkindlichen Fremdbetreuung. Die ersten Ergebnisse weisen drauf hin, dass die Qualität der MutterKind-Interaktion und insbesondere die Sensitivität der Mutter gegenüber den Be9
National Institute of Child’s Health and Youth Development – Early Child Care Research Network, Duration and development timing of poverty and children’s cognitive and social development from birth through third grade, in: Child Development, 76, 2005, 795-810.
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dürfnissen des Kindes, die Bindungssicherheit des Kindes beeinflussen. Die institutionelle Betreuung, der Beschäftigungsstatus der Mutter, sowie das Alter des Kindes bei Wiederaufnahme der Arbeit durch die Mutter wirken sich dagegen nicht auf die Bindungssicherheit aus. Die Sensitivität der Mutter und deren psychologische Anpassung scheint – ob berufstätig oder nicht – der wichtigste Einflussfaktor zu sein. Die Mütter, so das Ergebnis, zeigten umso weniger Sensitivität und Engagement gegenüber ihrem Kind, je länger das Kind durch eine oder mehrere hochqualifizierte Personen fremdbetreut wurde. Das Kind hat durch eine qualifizierte Fremdbetreuung auch andere enge Bezugspersonen gefunden.
6. Schlussfolgerungen und Ausblick – Unsere Gesellschaft steht in einem Paradigmenwechsel Die in den Studien vorgestellten Forschungsergebnisse bieten wenig Halt für die einst vorherrschende Sichtweise, dass der Eintritt junger Mütter in den Arbeitsmarkt eine Bedrohung für das Wohlergehen der Kinder darstellt. Es handelt sich vielmehr um einen sozialen Wandel, der in Beziehung zu anderen Veränderungen der Sozialstrukturen unserer Gesellschaft steht, so unter anderem der zunehmenden Vermischung der Geschlechterrollen und dem Wandel von autoritären zu autoritativen Formen der Erziehung. Tatsächlich weisen Kinder berufstätiger Mütter bessere Schulleistungen als Kinder von Hausfrauen auf und zeigen eine bessere soziale Anpassung. Aus den Forschungsergebnissen kann abgeleitet werden, dass sich die meisten Familien an die Berufstätigkeit der Mütter erfolgreich anpassen und dadurch eine gut funktionierende Umwelt aufbauen. Die Studien haben im Detail gezeigt, dass sich die Berufstätigkeit der Frau nicht gleichermaßen positiv auf Töchter und Söhne auswirkt. Den Töchtern fällt es offenbar leichter als den Söhnen vom Rollenmodell der berufstätigen Mutter zu lernen und für ihre eigene Entwicklung zu nutzen. Von berufstätigen Müttern erzogene Söhne bringen sich als Erwachsene mehr in die Familie und die Fürsorge der anderen Familienmitglieder ein, erwachsene Töchter verbringen dagegen weniger Zeit mit ihrer eigenen Hausarbeit, aber ihre Familienfürsorge verringern sie nicht. Ob Söhne dauerhaft gegenüber den Töchtern berufstätiger Mütter benachteiligt werden, wird sich erst in der nächsten Generation erweisen und muss noch genauer untersucht werden. Wenn die Berufstätigkeit der Mutter an sich keine negativen Folgen für die Kinder mit sich bringt, dann bekommen die Forschungsergebnisse über die Fremdbetreuung von Kindern eine zunehmende Bedeutung, die besagen, dass die Qualität und Stabilität der Betretung für Säuglinge und Kleinkinder von großer Bedeutung ist.
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Der Sozialstaat reagiert mit einer Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen auf diese Bedürfnisse. Dies kann dazu führen, dass ein umfassender gesamtgesellschaftlicher Anpassungsprozess an ein bereits dominierendes Muster der industrialisierten Welt erfolgt: an die Berufstätigkeit der Mütter. Weiter verbesserte Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer zu schaffen, ist ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen für die Zukunft. Es ist empirisch belegt, dass die Zufriedenheit und das Wohlbefinden von Familien zunehmen, wenn die Mutter in der Kinderbetreuung unterstützt wird und beide Eltern durch eine Berufstätigkeit bessere Lebensperspektiven haben. Es ist aber an der Zeit, dass Männer und Frauen lernen, auch aus sich heraus, mit eigener Kraft ein familiengerechtes Leben zu führen. 10 Denn die besten „Mütter“ sind diejenigen Mütter und Väter, denen es gelingt, selbst miteinander Vereinbarungen zum Wohle einer harmonischen Familie zu treffen. „Einerseits ist die Behauptung, es habe einmal eine ideale Form der Familie gegeben und wir könnten an dieser Schimäre festhalten, während sich die übrigen Verhältnisse in der Gesellschaft ändern, nicht aufrichtig. Andererseits ist es genauso irrig, anzunehmen, ein intaktes Gesellschaftssystem könne ohne die emotionale Unterstützung und Sorge existieren, die offenbar allein die Eltern einem Heranwachsenden geben könnten. Denn wie viele Formen die Familie in der Geschichte auch angenommen haben mag, eine Konstante der Familie bleibt bestehen: Sie umfasst Erwachsene beiderlei Geschlechts, die die Verantwortung für ihr Wohlergehen und das ihrer Nachkommen übernommen haben“. 11
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Schmidt, Walter, Rushhour des Lebens, Berlin, 2009, unter: www.rushhour-des-lebens.de [Zuletzt aufgerufen am 09. Oktober 2018]. 11 Csikszentmihalyi, Mihaly, Lebe gut! Wie Sie das Beste aus Ihrem Leben machen, München 2001, 116.
„Scis illos dignos esse?“1
Zur „hinreichenden Reife“ als Eignungskriterium für Priesteramtskandidaten
Andreas Weiß
1. Einleitung Die Frage in der Überschrift richtet der Bischof in der Liturgie der Priesterweihe vor der Erwählung der Kandidaten an den für die Ausbildung derselben zuständigen Regens, der die Bewerber ihm eben vorgestellt hat. Dieser antwortet im Dialog der Liturgie: „Ex interrogatione populi christiani et suffragio virorum ad quos pertinet testificor illos dignos esse inventos“2. Das Adjektiv „dignus“3 hebt dabei auf die für die kommende Berufsausübung erforderlichen 4 Eigenschaften ab, die der episcopus proprius als Letztverantwortlicher im Skrutinium nach c. 1051 CIC abschließend zu prüfen hatte. Es stellt gewiss keine leichte Aufgabe dar, die Eignung eines Weihebewerbers richtig einzuschätzen. Nicht nur der auf verschiedenen Ebenen unterschiedlicher Seelsorgebereiche erfolgte Machtmissbrauch in der jüngeren Geschichte der Katholischen Kirche lässt vermuten, dass es in der Frage der Eignung von Amtsträ1 2 3
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Congregatio de Cultu Divino et Disciplina Sacramentorum (folgend: C Cult), De Ordinatione Episcopi, Presbyterorum et Diaconorum, Città del Vaticano 1990, 58, Nr. 122. „Das Volk und die Verantwortlichen wurden befragt; ich bezeuge, dass sie für würdig gehalten werden.“ „Dignus“ führt auf eine falsche Fährte, als ob es nur um Ansehen, untadeligen Lebenswandel, erwiesene Charakterstärke etc. des Kandidaten ginge. Im Blick ist vielmehr die umfassende Würdigung („omnibus perpensis“ in c. 1029 CIC) seiner Eignung („idoneus“, „idoneitas“) im kanonischen Sinn (vgl. cc. 1026, 1052 CIC) – so auch das in spanischer Sprache abgefasste Rundschreiben Entre las más delicadas der C Cult v. 10.11.1997, Prot. N. 589/97: Notitiae 33 (1997), 495-506 (engl. Version ebd., 507-518); Comm 30 (1998), 50-59. Konkret geht es um das Vorliegen positiv formulierter Eignungskriterien (cc. 1026-1029, 10311033, 1036-1037, 1051 CIC), das Fehlen negativ formulierter (cc. 1041-1042 CIC) sowie die jeweilige Ausprägung und das Zusammenspiel derselben, das die geltende Rahmenordnung der DBK für die Priesterausbildung in Nr. 67 anspricht: „Wichtig für die Beurteilung ist nicht nur, ob bestimmte Eigenschaften vorhanden sind, sondern auch, welchen Stellenwert sie im Verbund aller Merkmale haben; entscheidend ist das Gesamtbild der Persönlichkeit“ (Sekretariat der DBK, Rahmenordnung für die Priesterausbildung v. 12.3.2003, Bonn 2003 [DDB 73], approbiert durch Dekret der Kongregation für das Katholische Bildungswesen v. 5.6.2003, in Rechtskraft seit 1.1.2004, folgend: DBK, RO/2003).
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gern im kirchlichen Dienst zu schlimmen Beurteilungsfehlern an verantwortlicher Stelle gekommen ist. Im Folgenden sollen einige Aspekte zur Reife von Priesteramtskandidaten5 und deren Feststellung untersucht werden. Erwin Möde hat sich am Studienort Eichstätt 6 nicht nur in seiner Tätigkeit an den beiden Lehrstühlen für „Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie“ sowie für „Christliche Spiritualität und Homiletik“ von Amtswegen mit den einschlägigen Fragen befasst, sondern immer wieder auch im Kontext des Forschungsfeldes „Persönlichkeitsentwicklung in Interrelation mit den ‚Zeichen der Zeit‘“ die dortigen Diskussionen mit Beiträgen aus seiner breiten Forschungstätigkeit wie auch seinen Erfahrungen in der Therapeutischen Praxis bereichert. Ihm sei dieser Beitrag zum 65. Geburtstag gewidmet. Ad multos annos!
2. Psychologie im Dienst der Eignungsfeststellung für das Priesteramt Die Frage nach der Echtheit der Berufung stellt sich für die Verantwortlichen, den Regens und insbesondere den Bischof als denjenigen, der für die Zulassung zur Weihe zuständig ist, als Frage nach der Tauglichkeit eines Bewerbers für den pastoralen Dienst. Es geht um die „aptitudo ad ministerium exercendum“, also die objektiv-kanonische „Eignung7 für die Ausübung des Dienstes“, die beim Priester nach c. 1031 § 1 CIC expressis verbis auch eine „hinreichende Reife“ erfordert. Der kirchliche Gesetzgeber muss dazu vorab festlegen, was in seinen Augen eine reife Persönlichkeit ausmacht, d. h. über welche Eigenschaften ein Weihebewerber konkret verfügen muss, damit er für den priesterlichen Dienst als geeignet gelten kann und wie die Überprüfung dieser Reife zu erfolgen hat. Am 8. Dezember 2016 hat die Römische Kongregation für den Klerus eine neue Ausbildungsordnung für Priesteramtskandidaten herausgegeben, in der bei 5
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Obgleich dieselbe Frage bei der Diakonenweihe auch an Bewerber dieser Weihestufe zu stellen ist (C Cult, De Ordinatione [wie Anm. 1] 105, Nr. 198), beschränken sich die folgenden Ausführungen auf Priesteramtskandidaten. Ein Grund dafür ist die neue Ausbildungsordnung der Römischen Kongregation für den Klerus, die zum genannten Thema kritisch befragt werden soll. Vgl. Congregatio pro Clericis (folgend: C Cler), Il dono della vocazione presbiterale. Ratio Fundamentalis Institutionis Sacerdotalis v. 8.12.2016: http://www.osservatoreromano.va/vaticanresources/files/46a99b e28dbb874be9aeeeffcf3aacb8.pdf [Zuletzt aufgerufen am 21. Februar 2019]; dt. in: Sekretariat der DBK (Hg.), Das Geschenk der Berufung zum Priestertum, Bonn 2017 (VApSt 209), und: http://www.clerus.va/content/dam/clerus /Ratio%20Fundamentalis/Das%20Geschenk%20der%20 Berufung%20zum%20Priestertum.pdf [Zuletzt aufgerufen am 21. Februar 2019] (folgend: C Cler, RFIS/2016). Durch die beiden Priesterseminare studieren an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt deutschlandweit derzeit wohl die meisten diözesanen Priesteramtskandidaten. Diese tritt zur subjektiven Komponente der „rechten Absicht“ sprich Berufsmotivation (c. 1029 CIC) hinzu und ist nach lehramtlicher Bekräftigung (vgl. z. B. Pius XI., Enzyklika Ad catholici sacerdotii v. 20.12.1935: AAS 28 [1936], 5-53, 40) notwendiges, aber auch hinreichendes Kennzeichen der inneren Berufung durch Gott.
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der angestrebten Persönlichkeitsentwicklung erstmals das Lemma „Beziehungsfähigkeit“ thematisiert sowie die Reife ganzheitlich gesehen wird, d. h. „physische, psycho-affektive und soziale“ Komponenten dort verortet werden. 8 Ausdrücklich hält die Ordnung die Psychologie in zweierlei Hinsicht für nützlich und wertvoll: „in Bezug auf die Beurteilung der Persönlichkeit durch ein Urteil über die psychische Gesundheit des Kandidaten und in Bezug auf die therapeutische Begleitung, um eventuelle Problematiken zu erhellen und beim Wachstum der menschlichen Reife zu helfen.“9 Die Kongregation für das Katholische Bildungswesen hatte zur Anwendung der Psychologie als Wissenschaft in der Priesterausbildung im Jahre 2008 eigens Leitlinien10 erlassen, die Hinzuziehung von Psychologen in der Priesterausbildung war aber spätestens seit Beginn des II. Vatikanischen Konzils relevant.11 Angesichts der verantwortungsvollen Aufgabe sind diese Fachleute sorgsam auszuwählen. Sie müssen nicht nur über die notwendige Fachkompetenz 12 verfügen. Es soll auch „darauf geachtet werden, dass die Psychologen über ihre solide menschliche und geistliche Reife hinaus von einem Menschenbild geleitet sind, das offen die christliche Vorstellung der menschlichen Person, der Sexualität, der Berufung zum Priester und zum Zölibat teilt, so dass ihre Tätigkeit das Geheimnis des Menschen in seinem persönlichen Dialog mit Gott entsprechend der Vorstellung der Kirche respektiert“13. Als Auswahlkriterium expressis verbis genannt ist also das christliche Menschenbild. Bekanntlich gibt es in der modernen Psychologie aber durchaus Schulen, deren Menschenbild mit dem christlichen kaum bis gar nicht kompatibel erscheint. Psychologische Erkenntnisse sind also, wenn sie rezipiert werden, dann kritisch14 zu rezipieren. Folgend werden deshalb zunächst unterschiedliche psychologische Strömungen des 20. Jahrhunderts in gebotener Kürze15 und bewusst plakativ auf ihre zentralen Aussagen zur Anthropologie unter8
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Vgl. C Cler, RFIS/2016 (wie Anm. 5), Nr. 63. Die römische Ausbildungsordnung ersetzt die Vorgängerinnen der Sacra Congregatio pro Institutione Catholica v. 19.3.1985 (folgend: SC InstCath, RFIS/1985: Ochoa, Leges VI, Sp. 9069-9109) und v. 6.1.1970 (folgend: SC InstCath, RFIS/1970: AAS 62 [1970], 321-384; dt.: NKD 25, Trier 1974, 68-263). C Cler, RFIS/2016 (wie Anm. 5), Nr. 147. Vgl. Sacra Congregatio pro Institutione Catholica, Leitlinien für die Anwendung der Psychologie bei der Aufnahme und Ausbildung von Priesterkandidaten v. 29.6.2008 (folgend: C InstCath, Leitlinien): Comm 40 (2008), 322-335; dt.: OR (dt.) v. 14.11.2008, 12-14; http://www.vatican.va/ro man_curia/congregations/ccatheduc/documents/rc_con_ccatheduc_doc_20080628_orientamenti_ge .html [Zuletzt aufgerufen am 8. Januar 2019]. Indiz dafür ist die Ablehnung einer allgemeinen psychoanalytischen Untersuchung von Priesteramtskandidaten durch das Monitum der Sacra Congregatio Officii Cum comperto v. 15.7.1961, Nr. 4: AAS 53 (1961), 571. So schon SC InstCath, RFIS/1985 (wie Anm. 8), Nr. 39. C InstCath, Leitlinien (wie Anm. 10), Nr. 6: OR (dt.) 14.11.2008, 13. So schon Vaticanum II, Dekret Optatam totius v. 28.10.1965: AAS 58 (1966), 713-727, Nrn. 3 und 11 (folgend: VatII OT); SC InstCath, RFIS/1985 (wie Anm. 8), Nr. 13. Zu den Ausführungen unter Punkt 3. vgl. besonders Berkel, Karl, Eignungsdiagnostik. Grundlagen beratender Begleitung: Stenger, Hermann (Hg.), Eignung für die Berufe der Kirche. Klärung – Beratung – Begleitung, Freiburg / Basel / Wien 1988, 135-194; Klösges, Johannes, Ehenichtigkeitsverfahren bei psychisch bedingten Konsensmängeln. Der Sachverständigenbeweis, Paderborn 2015 (KStKR 21), 95-135.
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sucht, um danach begründeter die Frage beantworten zu können: Auf welcher Basis kann der Dialog zwischen Regens und Psychologe in der Frage der Feststellung einer „hinreichenden Reife“ von Priesteramtskandidaten gelingen? Welche Instrumente und diagnostischen Methoden sind ggf. dazu geeignet, welche Rahmenbedingungen einzuhalten?
3. Anthropologische Problemanzeigen in psychologischen Strömungen 3.1 Psychoanalytisches Persönlichkeitsmodell Der von Sigmund Freud entwickelte und u. a. von Alfred Adler, Carl G. Jung und Erik H. Erikson durchaus unterschiedlich fortgeführte Ansatz geht von der grundlegenden Hypothese der psychischen Determiniertheit und der Annahme aus, dass die das menschliche Verhalten bestimmenden psychischen Prozesse meist unbewusst ablaufen. Dabei sind im Wesentlichen der Aggressions- und der Sexualtrieb am Werk. Die Instanz des sog. ES als Quelle der Triebe strebt dem Lustprinzip folgend nach Triebbefriedigung, während das ICH dem Realitätsprinzip folgt und Ziele auf dieser Ebene sucht, aber nicht als Herr über das ES agiert. Das ÜBERICH ist die moralische Instanz des Menschen, es kontrolliert die oft unbewussten Impulse des ES und steuert ethische Ziele an. Mit diesem Modell lässt sich die „Funktionsfähigkeit“ einer Person sowie ihre „Blockierungen“ durch Traumata und Entwicklungsstörungen gut eruieren, weniger geeignet erscheint es für die Diagnose spezieller Kompetenzen. Problematisch an diesem Ansatz ist die pessimistische, weil deterministische Sicht des ICH und damit des Menschen, er bleibt Gefangener zwischen ES und ÜBER-ICH. Das ICH kann letztendlich unter Vorgaben des ÜBER-ICH nur Kompromisse eingehen, um so die Urtriebe in Schach zu halten. Gelingt dies nicht, macht sich die pathologische Seite derselben bemerkbar. Der Mensch lebt in der ständigen Spannung zwischen seiner Angst vor dem Versagen und der Schuld danach, die Freiheit als gestaltbare Antriebsfeder seines Lebens hat im Freud’schen System keinen Platz.
3.2 Behavioristische Perspektive Alle Vertreter dieser Richtung – Aushängeschild ist Burrhus F. Skinner – gehen von der Grundannahme aus, dass menschliches Verhalten stets Reaktion auf einen kausalen Umweltreiz ist und die komplexe Struktur der menschlichen Persönlichkeit durch die wissenschaftliche Erforschung der operativen Konditionierung von
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Reiz und Reaktion selbst in seinen Variablen objektiv erklärt werden kann. Der Mensch ist nach dieser Sicht einzig Produkt der Interaktionen mit seiner Umwelt; er baut in seiner Reaktion auf einen neutralen Reiz Spannungen zwischen sich und der Reizquelle ab, wobei er in seinem Verhalten dem Muster von Belohnung oder Bestrafung folgt. Diese Position verneint die Existenz eines freien Willens und damit auch eine verantwortete Gewissensentscheidung. Der Mensch wird zum „nackten Affen“ 16, der durch wissenschaftliche Analyse erfasst werden kann. Seine Würde gründet allein im bestaunenden Anerkennen seines Verhaltens, Gott ist lediglich eine archetypische Fiktion des Metaphysischen. Als Ausgangsbasis für die Reifebeurteilung von Priesteramtskandidaten kann dieser Ansatz nicht dienen.
3.3 Humanistische Persönlichkeitstheorien Zu den bedeutendsten Vertretern dieser Richtung gehören Carl Rogers, Abraham Maslow und Gordon W. Allport. Sie lehnten das pessimistische Menschenbild Freuds ebenso ab wie den lerntheoretischen Ansatz der Behavioristen. Von der Einzigartigkeit eines jeden Individuums überzeugt, postulierte Rogers dessen Entfaltung in subjektivistischer Wahrnehmung und Interpretation der Wirklichkeit. Das sog. SELBST nimmt zwar durch subjektive Wahrnehmung nach dem eigenen individuellen Muster – auch unter Einschluss des Unbewussten – sich selbst und die Erfahrungen mit anderen Personen in seiner Umwelt auf, kann deren Erleben und Verhalten jedoch nur aus der Sichtweise des anderen, quasi „durch deren Brille“ verstehen. Zentrale Dimensionen der Persönlichkeit werden dabei durch einen Katalog von Eigenschaften erfasst und gestaltet. Die Verwirklichung einer Person auf Zukunft hin wird vom IDEAL-SELBST gesteuert, der Wunschvorstellung der eigenen Existenz. In der humanistischen Perspektive Rogers wird zwar die Freud’sche Negation der Freiheit überwunden, das Pendel schlägt jedoch zu weit in das andere Extrem aus, der Überbewertung der menschlichen Fähigkeiten in einem egozentrischen Kult des SELBST. Ist es aber schon neurotisch, wenn die eigene Selbstverwirklichung mehr oder weniger gelingt? Jedes Individuum muss dabei ja von seinen Möglichkeiten ausgehen und kann zukünftig nur das mit Leben füllen, was in seinen natürlichen Anlagen grundgelegt ist. Die humanistische Anthropologie Rogers ist um Aspekte der echten Selbsttranszendenz des Menschen, der ethischen Verantwortlichkeit für sein Tun und der christlichen Soteriologie ergänzungsbedürftig.
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Skinner, Burrhus F., Jenseits von Freiheit und Würde, Reinbek b. Hamburg 1973, 200.
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3.4 Existenzanalyse Die Wurzeln dieser Richtung liegen in den philosophischen Konzeptionen Søren A. Kierkegaards und Martin Heideggers; als Gründer gilt der Wiener Psychiater Viktor E. Frankl. Von daher verwundert es nicht, dass der homo patiens am Ausgangspunkt aller Überlegungen steht: Der Mensch soll in der Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Welt zu einem in Freiheit und Verantwortung gestalteten Leben geführt werden. Es geht neben der Tatsache des Daseins, des GeworfenSeins v. a. um den Sinn der eigenen Existenz, die auf den drei Bereichen Leib, Seele und Geist aufruht. Die menschliche Existenz befindet sich „im Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Krankheit auf der körperlichen Ebene, Lust und Unlust auf der psychischen Ebene und Erfüllung/Leere, bzw. Glaube und Verzweiflung auf der geistigen Ebene.“17 Frankl geht es darum, „das Wertgesichtsfeld des Patienten zu erweitern, um dann ihn selbst entscheiden zu lassen, wofür: Für die Erfüllung welchen konkreten Sinnes und für die Verwirklichung welcher persönlichen Werte – und wovor: Ob überhaupt vor etwas und nicht vielmehr vor jemandem – er sein Dasein als Verantwortlichkeit auslegt.“18 Nach Frankl hat der Mensch hinsichtlich seiner konkreten Lebensumstände keine Wahl; er kann nur interpretierend und dadurch sinngebend konkreten Situationen und Umständen duldsam sich ergeben.19 Obwohl dieser Ansatz eine metaphysische Dimension in die Sichtweise des Menschen integriert, ist zu attestieren, dass er in der Frage der Zuständigkeit die Grenzen zwischen Psychotherapie und Religion, von Logotherapie als Therapieform und Seelsorge mitunter zu sehr verwischt. 20 Auch erscheint die Freiheit des Menschen als eher knapp und negativ gefärbt: Besteht sie wirklich nur in der Verantwortung für das eigene Dasein in der Welt, wenn dieses mit allen Grenzen und seiner Schicksalsverwobenheit letztlich nach Frankl doch nur einfach hinzunehmen ist?
4. Reife und Reifefeststellung in der Theorie der „selbst-transzendenten Konsistenz“ nach Luigi M. Rulla, Joyce Ridick und Franco Imoda Es bedarf keiner intensiven näheren Begründung, warum in der Frage der Reifefeststellung von Priesteramtskandidaten die Zugrundelegung christlicher Anthropologie eine conditio sine qua non darstellt. Seit der Gründung des Istituto di Psicologia an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom im Jahre 1971 mühten sich 17 18 19 20
Klösges (wie Anm. 15), 125. Frankl, Viktor E., Das Menschenbild der Seelenheilkunde, Stuttgart 1959, 76. Besonders deutlich in den Ausführungen ebd. 72 zum Sinn einer Krankheit. Ebd., 60-66, exemplarisch vorgeführt.
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die beiden Jesuiten Luigi M. Rulla (1922-2002) und Franco Imoda (*1937) zusammen mit der ebenfalls dort lehrenden Sr. Joyce M. Ridick S.S.C. (*1941) um einen Weg, zum Verständnis der Berufungsfrage wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Psychologie mit der christlichen Anthropologie in einen Dialog zu bringen.21 Als wissenschaftstheoretische Grundlage diente dabei die Transzendentale Methode22 Bernhard J.F. Lonergans, die Rulla/Ridick/Imoda in einer integrativen Zusammenschau von Psychologie und Theologie, nachdem zuvor jede der beiden Wissenschaften nach eigener Methode ihre Erkenntnisse für sich gewonnen hat, zu einer „psycho-sozialen Anthropologie der christlichen Berufung“23 führte. Ausgangspunkt des anthropologischen Ansatzes Rullas 24 ist der Anruf Gottes an jeden Menschen, der dort auf die dialektische Grundspannung zweier inhärenter anthropologischer Wirklichkeiten trifft. Die erste besteht in der Freiheit und immanenten Fähigkeit des Menschen zur teleologischen Selbst-Transzendenz („ideal self“), d. h. des Über-sich-Hinauswachsens in den Vollzügen der vier Bewusstseinsebenen nach Lonergan. Dieses Ideal-Selbst strebt nach Unendlichem, ist letztlich theozentrisch. Die andere Wirklichkeit liegt in den Widerständen der menschlichen Natur, in den Umständen und Grenzen der konkreten Person, die oft im Unbewussten ihren Ursprung haben und den Menschen durch bewusst intendiertes Festhalten des ihm Bekannten an seiner Selbst-Transzendenz hindern („actual self“), konkret den Ruf Gottes aufzunehmen und zu beantworten. Rulla will die Dynamik der bewussten wie insbesondere unbewussten psychosozialen Kräfte im Menschen erhellen, die auf seine Freiheit in der Entscheidung zwischen „ideal self“ und „actual self“ Einfluss nehmen. Als mögliche Blockaden der „effektiven Freiheit“25, d. h. eine Alternative zum status quo zu wählen und auch zu realisieren, kommen nach Rulla die Motivationsebene in Betracht, aber ebenso der Einfluss von Gruppen und Institutionen aus dem sozialen Umfeld, auf den die Person 21
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Rulla, Luigi M. / Ridick, Joyce / Imoda, Franco, Anthropology of the Christian Vocation, Bd. II: Existential Confirmation, Rome 1989. Zu diesem Ansatz vgl. Vennekens, Nicole, Macht und Reife. Eine Studie über den Umgang mit Macht im kirchlichen Leben und die dafür erforderliche Reife – in humanwissenschaftlicher und kirchenrechtlicher Sicht, Münster 2008, 149-176; Gerber, Michael, Zur Liebe berufen. Pastoraltheologische Kriterien für die Formung geistlicher Berufe in Auseinandersetzung mit Luigi M. Rulla und Josef Kentenich, Würzburg 2008, 21-137. Lonergan zielt eine Erweiterung des eigenen Bewusstseins durch Objektivierung an, d. h. durch eine intentionale Anwendung von Vollzügen, die nach ihm auf vier Ebenen bewusst ablaufen: 1. „Erfahrung des eigenen Erfahrens, Verstehens, Urteilens und Entscheidens;“ 2. „Verständnis der Einheit und der Beziehungen des eigenen erfahrenen Erfahrens, Verstehens, Urteilens und Entscheidens;“ 3. „Bejahung der Realität des eigenen erfahrenen und verstandenen Erfahrens, Verstehens, Urteilens und Entscheidens;“ 4. „die Entscheidung, in Übereinstimmung mit den Normen zu handeln, die den natürlichen Beziehungen des eigenen erfahrenen verstandenen und bejahten Erfahrens, Verstehens, Urteilens und Entscheidens innewohnen“ (Lonergan, Bernhard J.F., Methode in der Theologie, Leipzig 1991, 27). Vennekens (wie Anm. 21), 159. Folgend wird zur vereinfachten Darstellung dieser Theorie nur der erste Autor Luigi M. Rulla genannt. Rulla, Luigi M., Antropologia della vocazione cristiani, Bd. I: Basi interdisciplinari, Piemme 1985, 136-141. Davon unterscheidet Rulla die „wesentliche Freiheit“, d. h. die Einsichtsfähigkeit einer Person in die Notwendigkeit einer Entscheidung samt seiner Willensfähigkeit dazu.
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mit Anpassung oder Identifikation reagiert. Folgend soll das Augenmerk nur auf die intrapsychischen Kräfte zur Internalisierung von Werten gelegt werden. Hinsichtlich der Motivation dazu differenziert Rulla drei Dimensionen. Auf einer ersten Ebene zur Verwirklichung des Ideal-Selbst liegen die sog. übernatürlichen Werte, d. h. die in der christlichen Tradition verankerten ethisch-religiösen Werte26, deren Bedeutung die konkrete Person für sich internalisiert hat und für oder gegen die sie sich nun frei und bewusst und damit verantwortet entscheidet. Die Übereinstimmung zwischen „ideal self“ und „actual self“ bezeichnet die Theologie als Tugend, das Gegenteil als Sünde. Auf einer dritten Ebene geht die Motivation zur Realisierung des idealen Selbst von den sog. natürlichen Werten 27 aus, denen aber starke psychodynamische Kräfte des realen Selbst widerstreiten, auf der also mangelnde Freiheit und Faktoren von Krankheitswert wie Psychosen oder Persönlichkeitsstörungen zu verorten sind, die allesamt unbewusst die Fähigkeit der Person zur Selbsttranszendenz beeinflussen und eine entscheidende „Desorganisation des Selbst“28 verursachen. Korrespondierende Begriffe sind hier Normalität und Pathologie; letztere verhindert 29 die Ausbildung eines stabilen und konsistenten Selbstideals oder setzt der Entfaltung einer reifen Persönlichkeitsstruktur des Menschen in seiner Ganzheitlichkeit wenigstens deutliche Grenzen. Dazwischen lassen sich in der zweiten Dimension Handlungen beobachten, die motivational von bewussten wie unbewussten Strukturen getragen sind. Sog. „kombinierte Werte“ wie Einstellungen, Emotionen oder Bedürfnisse üben ihren Einfluss auf das manifeste Selbst aus – worüber sich die Person durchaus bewusst sein kann –, aber ebenso unbewusst auch auf das latente Selbst. Was bedeutet das für die „hinreichende Reife“? Je weniger innere Konflikte zwischen „ideal-self“ und „actual self“ bei der Realisierung von Werten, Bedürfnissen und Einstellungen in den genannten drei Dimensionen vorliegen, desto stimmiger und konsistenter ist nach Rulla die Motivation zur Selbsttranszendenz, desto reifer ist auch die Persönlichkeit. Dabei unterscheidet er zwischen existentieller und struktureller Reife als den zwei Aspekten der persönlichen Reife. Die erstgenannte umfasst in vier Kategorien die Fähigkeit einer Person, die Spannungen auszubalancieren, die sich im konkreten Leben in den persönlichen Beziehungen, in Ausbildung und Beruf, bezüglich der ethisch-religiösen Werte etc. ergeben und lässt sich im Index of Developmental Maturity ablesen. Strukturelle Reife fragt nach dem Reifegrad angesichts der wesentlichen Ideale und Werte des Priesteramtes, die Rulla anhand von 35 Variablen in einem Testverfahren eruiert. So kann er bestimmen, „inwieweit eine Person in der Erfüllung ihrer Bedürfnisse oder in ihren 26
Rulla nennt konkret fünf solcher objektiver Werte: Verbundenheit mit Gott, Nachfolge Christi in konkreter Nächstenliebe, Armut, Keuschheit, Gehorsam. 27 Darunter fallen soziale, wirtschaftliche und künstlerische Werte. 28 Rulla, Antropologia (wie Anm. 25), 182. 29 Persönlichkeitsstörungen wie mangelnder Realitätsbezug bei Psychosen, fehlende Empathie bei stark antisozialen Personen, eingeschränkte Beziehungsfähigkeit bei Narzissmus, substantiell eingeschränkte Willensfähigkeit etc. fallen hierunter.
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Einstellungen in Übereinstimmung mit sich selbst lebt oder nicht und inwieweit die so festgestellte […] Unstimmigkeit und die daraus resultierende Spannung eine Internalisierung der angestrebten Werte und Ideale verhindert.“ 30 Wird diese Dialektik bzw. Inkonsistenz nicht bearbeitet, liegt darin ein massives Hindernis zur Selbsttranszendierung, zur menschlichen Reife und zur pastoralen Wirksamkeit. Die im CIC verlangte „hinreichende Reife“ ist nach den Erkenntnissen Rullas gesichert nur in der ersten Dimension seines Strukturmodells gegeben. Ein Mangel an Reife zeigt sich in der Regel als defiziente Ausprägung der zweiten Dimension, liegt dort konkret in einer Beschränkung der inneren Freiheit durch Ambiguitäten in der Motivation. Diese führen „zur Wahl dessen, was augenscheinlich als das erstrebenswerte Gut erscheint, nicht aber zur Wahl des tatsächlich Guten, das wiederum durch die Wahl des vermeintlich Guten maskiert wird.“31 Bei der Entscheidung zum Priesteramt in der Katholischen Kirche muss damit gerechnet werden, dass ihr nicht nur objektive Kriterien der ersten Dimension als Motivation zugrunde liegen, sondern auch bewusste und insbesondere unbewusste Motive der zweiten Ebene ins Spiel kommen, also eine inkonsistente motivationale Gemengelage gegeben ist. 60-80% der in ein Priesterseminar Eintretenden befinden sich nach Rulla in dieser Situation. Ihre inneren (und vielleicht auch nach außen bemerkbaren) Spannungen verhindern aber eine gelingende Internalisierung von Werten, was dazu führt, dass die mangelnde Reife auch im Laufe der Jahre nur schwer bis gar nicht abgebaut werden kann und ein krisenhafter Dauerzustand bleibt. Kommen gar noch ungeklärte pathologische Elemente der dritten Dimension dazu, ist die Gefahr des späteren beruflichen Scheiterns groß. Luigi M. Rulla gelingt es, mit seinem vielschichtigen anthropologischpsychologischen Ansatz, der in Deutschland bisher kaum rezipiert 32 wurde, die psychische Reife eines Priesteramtskandidaten durch den Grad seiner äußeren Anpassung, Identifikation oder Internalisierung in Abhängigkeit von der inneren Entscheidungsfreiheit und der Motivation nicht nur theoretisch zu bestimmen, sondern auch empirisch zu erfassen. Reife ist bei Rulla nach der Fähigkeit zur „Selbsttranszendenz in der Liebe“ 33 zu bemessen, d. h. nach der Fähigkeit, das Leben verbindlich nach übernatürlichen Werten auszurichten und die Beziehungen zu anderen Individuen und Gruppen wie zu sich selbst liebevoll zu gestalten. Rullas Überlegungen leisten nicht nur einen konstruktiven Beitrag zu einer fundierten christlichen Anthropologie34, sie sind auch im Kirchenrecht zur Füllung des Be30 31 32
Vennekens (wie Anm. 21), 171f. Klösges (wie Anm. 15), 133. Philipp Müller als ehemaliger Regens des Freiburger Priesterseminars verweist auf gute Erfahrungen mit Priestern, die am sog. „Rulla-Institut“ der Gregoriana in Rom die eigene Biographie aufgearbeitet haben; vgl. https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2019/2019038b-FVV-Lingen-Studientag-Vortrag-Prof.-Mueller.pdf [Zuletzt aufgerufen am 14. März 2019]. 33 Vennekens (wie Anm. 21), 165. 34 Eine Standortbestimmung hierin ist nach den Leitlinien der Kongregation für das Katholische Bildungswesen von 2008 (wie Anm. 10) angesagt, noch bevor ein Psychologe zur Reifebeurteilung von Priesteramtskandidaten herangezogen wird. Nur so lassen sich unnötige Konflikte vermeiden,
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griffs der „hinreichenden Reife“ relevant und können einen wichtigen Beitrag zur Suche nach validen Aufnahmekriterien ins Priesterseminar leisten. Das Ergebnis seiner empirischen Studien zur Entwicklung der Reife eines Menschen stellt eine ernst zu nehmende Anfrage an dortige Ausbildungskonzepte dar.
5. „Hinreichende Reife“ – ein offener Rechtsbegriff Damit steht die Frage im Raum: Was versteht man unter dem Begriff „hinreichende Reife“ eines Priesteramtskandidaten? Wann ist sie als ausreichend vorhanden anzusehen? Hier sei zuvorderst darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber keine Reife im umfassenden Sinn als Eignungskriterium zur Priesterweihe im Auge hat, sondern nach c. 1031 § 1 CIC eine „maturitas sufficiens“, die das Gesetzbuch bei Personen präsumiert, die das kanonische Weihealter erreicht haben. Dies ist nach der genannten Norm bei Priestern das vollendete 25. Lebensjahr. 35 Da in diesem Alter die körperliche Entwicklung des Menschen normalerweise abgeschlossen ist, dürfte hier eine andere Art von Reife im Blickpunkt sein. Eine erste inhaltliche Annäherung ist über das Adjektiv „sufficiens“ möglich. Wozu muss dieses Maß an Reife beim Priesteramtskandidaten genügen? Analog zur Eheschließung wird man allgemein festhalten dürfen: Die verlangte Reife muss ihn dazu befähigen, einerseits eine verantwortete Entscheidung für den Empfang der Weihe zu treffen und andererseits das übernommene Weiheamt in angemessener Weise ausüben zu können.36 Die „hinreichende Reife“ inhaltlich zu fassen, erweist sich als schwierig. C. 244 CIC, der keinen Vorläufer im CIC/1917 hat, und das Rundschreiben Entre las genauer gesagt die Akquise von teuren, aber doch wegen ihrer mehr oder weniger ausgeprägten Inkompatibilität mit der christlichen Anthropologie wenig aussagekräftigen bis völlig wertlosen psychologischen Gutachten. 35 Doch muss stets im Einzelfall geprüft werden, ob der Kandidat über die geforderte „hinreichende Reife“ für den zu übernehmenden Dienst tatsächlich verfügt. 36 Das schriftliche Zeugnis des Rektors des Priesterseminars vor dem Skrutinium zur Erteilung der Weihe verlangt in c. 1051, 1° CIC die Bestätigung der „Eignung für die Ausübung des Dienstes“. Beim Sakrament der Ehe spricht man beim Fehlen der Voraussetzung dazu von Eheschließungsund Eheführungsunfähigkeit (c. 1095,2° und 3° CIC). Die Feststellung einer Weiheungültigkeit infolge fehlender Verantwortlichkeit z. B. durch massive Einschränkung der inneren Freiheit oder infolge einer Unfähigkeit zur Ausübung des Priesteramtes in einem Weihenichtigkeitsverfahren findet so gut wie nicht statt, Betroffene wie Bischöfe wählen stattdessen sachunlogisch den angeblich einfacheren Weg der sog. Laisierung im Verwaltungsverfahren. Althaus kommentiert (MKCIC 1031/3, 2 [Stand: 40. Lfg., Februar 2006]): „Die angesprochene Reife umfasst nicht nur die Fähigkeit, aufgrund der intellektuellen, spirituellen und psychischen Entwicklung eine verantwortliche Entscheidung über den künftigen Lebensweg als Kleriker im Dienste der Kirche zu fällen, sondern auch charakterliche Festigkeit zur Ausübung des Dienstes, zur Begegnung mit Menschen gerade in außergewöhnlichen Situationen und zum Handeln in Stellvertretung Christi, des Hauptes.“ Nach der Abänderung des c. 1008 CIC und der Hinzufügung von c. 1009 § 3 CIC durch das MP Omnium in mentem v. 26.10.2009, in Rechtskraft seit 8.4.2010 (AAS 102 [2010], 8-10) kann freilich das Handeln „in persona Christi“ für den Diakon nicht mehr ausgesagt werden.
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más delicadas der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung 37 von 1997 benennen die „menschliche Reife“ als wichtiges Element der Priesterausbildung. Althaus nennt diese im Münsterischen Kommentar zu c. 244 CIC sogar als erstes (!) Ausbildungsziel und setzt sie mit einem „tugendhaften Leben“38 gleich. Nach der römischen Ausbildungsordnung von 2016 verlangt die pastorale Sorge für die Gläubigen vom Priester u. a. eine „innere Reife“39. Und die geltende Rahmenordnung der Deutschen Bischofskonferenz von 2003 verlangt neben der „menschlichen Reife“ auch eine „geistliche Reife“ 40 als Eignungsvoraussetzung zur Übernahme des Priesteramtes. Die differierenden Adjektive – die Liste ließe sich noch verlängern – des heute beinahe inflationär gebrauchten Begriffs „Reife“ besagen wenig über ihren Inhalt. Besieht man die Umschreibungsversuche näher, ist darin kein einheitliches Konzept zu erkennen. Nach dem Konzilsdekret Optatam totius z. B. zeigt sich die Reife besonders in einer inneren Beständigkeit („stabilitas animi“) und in der Fähigkeit zu abgewogenen Entscheidungen und Urteilen über Personen und Ereignisse. 41 Immer mehr rückten jedoch in den letzten 50 Jahren relationale und emotionale Kriterien in den Vordergrund, insbesondere die Beziehungs- und Bindungsfähigkeit.42 Andererseits musste man zur Kenntnis nehmen, dass gerade im affektiven Bereich das biologische Alter wenig aussagekräftig erscheint und es heute in der westlichen Hemisphäre nicht selten zu deutlichen Reifeverzögerungen kommt. Bei einem 25-jährigen Weihekandidaten können also noch erhebliche Mängel in seiner „affektiven Reife“ 43
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C Cult, Rundschreiben Entre las más delicadas (wie Anm. 3), Annex V. Althaus, Rüdiger, MKCIC 244/3, 3 (Stand: 55. Lfg., Mai 2018). C Cler, RFIS/2016 (wie Anm. 5), Nr. 41. DBK, RO/2003 (wie Anm. 4), Nr. 5. Zuvor hatte die DBK in der Vollversammlung vom 13.16.2.1978 eine erste „Rahmenordnung für die Priesterausbildung“ beschlossen (approbiert am 9.3.1978 durch SC InstCath, in Rechtskraft seit 1.5.1978: DDB 15, folgend: DBK, RO/1978), die nach der Neufassung der SC InstCath, RFIS/1985 (wie Anm. 8) am 23.2.1988 moderat angepasst wurde (approbiert am 28.5.1988, in Rechtskraft seit 1.12.1988: DDB 42, folgend: DBK, RO/1988). Auf der Basis der Neufassung der C Cler, RFIS/2016 (wie Anm. 5) wird gerade die nationale Rahmenordnung Deutschlands von 2003 revidiert. 41 Vaticanum II, Dekret Optatam totius v. 28.10.1965 (AAS 58 [1966], 713-727), Nr. 11; ähnlich Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Pastores dabo vobis über die Priesterbildung im Kontext der Gegenwart v. 25.3.1992 (AAS 84 [1992], 657-804; dt.: Sekretariat der DBK, VApSt 105), Nr. 43. 42 Vgl. Geisinger, Robert, Canon 1031 § 1 and presbyteral maturity: PerRCan 89 (2000), 317-351; ders., Presbyteral maturity and matrimonial maturity: ebd., 353-377, 362-364. 43 Treffend entfaltet in SC InstCath, Leitgedanken für die Erziehung zum priesterlichen Zölibat v. 11.04.1974, Nr. 20 (folgend: SC InstCath, Leitgedanken): Ochoa, Leges VI (1987), Nr. 4651, Sp. 7563-7599; dt.: NKD 50, Trier 1976: „Die Rolle des Gefühlslebens wird in der Tat als grundlegendes Element im Aufbau der Persönlichkeit betrachtet, weil es in besonderer Weise zu ihrer Integration beiträgt durch die Entfaltung der affektiven und sexuellen Beziehung zum Mitmenschen, durch die verantwortliche Übernahme einer Arbeit oder eines Berufes, durch die Pflege freundschaftlicher, sozialer Beziehungen. Gerade weil das emotionale Leben einen Grundpfeiler der Person bildet, muss die affektive Reife als unerlässliche Bedingung für das Optimum an Persönlichkeitsbestätigung gelten.“
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vorliegen. 44 Der Begriff „Reife“ ist bis heute schillernd, er kann „alles und nichts“45 besagen. Im Hinblick auf c. 1031 § 1 CIC und in Anlehnung an die Überlegungen Rullas wird man hinsichtlich der kanonisch verlangten „hinreichenden Reife“ eines Priesteramtskandidaten – analog der Eheschließungsfähigkeit zweier Nupturienten – von folgenden Voraussetzungen ausgehen müssen: 1. Reife dient nicht der Selbstverwirklichung, sondern bezieht explizit die Selbsttranszendenz mit ein. Darin ist die interpersonale Dimension ebenso angesprochen wie die theozentrische. 2. Die Kategorien Konsistenz bzw. Inkonsistenz decken dabei die Erscheinungsformen, Grade und inneren Mechanismen von Reife bzw. Unreife auf. 3. Die Motivation für die Entscheidung zum Priesteramt – in c. 1029 CIC als „recta intentio“ bezeichnet – ist wie die zur Ehe komplex, aber ein wichtiges Indiz für den Reifegrad einer Person. Unstimmigkeiten hierin beinhalten ein enormes Konfliktpotential für die spätere Realisierung des „Adsum“. 4. Die Reife muss Maß nehmen an der späteren beruflichen Tätigkeit, d. h. die Person befähigen, wirklichkeits- und botschaftsbezogen zu handeln. Dabei geht es um eine personal-ganzheitliche Kompetenz zur Interaktion. 5. Verantwortet kann die Entscheidung zum Empfang der Weihe nur sein, wenn sie äußerlich46 wie innerlich völlig frei erfolgt. Allgemein ist jemand als reif zu beurteilen, „der zeigt, dass er sein Verhalten nach der freien Entscheidung seines persönlichen Gewissens bestimmt“47. Diese Voraussetzungen sind in valide Eignungsindikatoren 48 und ggf. in diagnostische Verfahren zu transformieren. Freilich zeigt sich die Begrifflichkeit auch hier als sehr dehnbar49, was im Auge zu behalten ist. Ein definitives und abgeschlossenes Bild der Reife einer Person lässt sich selbst mit der Theorie und Diagnostik Rullas nicht gewinnen, denn der Mensch ist stets „Persönlichkeit unterwegs“ 50 . Rulla ermöglicht aber ein genaueres Verstehen und Erfassen des Entwicklungspo44 45
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Nach Zulehner, Paul, Priester im Modernisierungsstress: StdZ 219 (2001), 443-455, sind ein Großteil der Priester sog. „Nachreifer“ (452). Bitterli, Marius, Wer darf zum Priester geweiht werden? Eine Untersuchung der kanonischen Normen zur Eignungsprüfung des Weihekandidaten, Essen 2010 (BzMK 58), 138. Nach Priesternachwuchs: KuL 25.3.2007, Nr. 12, 7 stellt fehlende Reife einen der häufigsten Abweisungsgründe bei Aufnahmegesuchen ins Alumnat dar. Ein die Willensfreiheit ausschaltender äußerer Zwang macht die Weihe nach c. 125 § 1 CIC ungültig. SC InstCath, Leitgedanken (wie Anm. 43), Nr. 18. Zur dynamischen Entwicklung der „menschlichen Reife“ vgl. u. a. VatII OT, Nr. 11; SC InstCath, RFIS/1985 (wie Anm. 8), Nrn. 39, 46, 48 und 51; C Cler, RFIS/2016 (wie Anm. 5), Nrn. 93-100. Beispielsweise sind Termini wie „guter Ruf“, „Lebenswandel“, „psychische Eigenschaften“ (c. 1029 CIC), „menschliche Anlagen“ (c. 241 § 1 CIC), „Temperament“, „Identität“ etc. selbst schon Zusammenfassungen, die elementarisiert werden müssten. Priesterbildung ist im Sinne einer „formatio permanens“ als ganzheitlicher Prozess zu verstehen, bei dem die affektive Reife die unverzichtbare Basis einer christozentrischen Spiritualität darstellt.
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tentials einer Person51, auch eines Priesteramtskandidaten. Denn keineswegs liegt die Beurteilung seiner Berufung zum Priestertum „ausschließlich außerhalb des Kompetenzbereiches der Psychologie“52, was schon daran abzulesen ist, dass die Leitlinien der Bildungskongregation53 in begründeten Ausnahmefällen die Konsultation eines Psychologen vor dem Seminareintritt oder während der Ausbildung für hilfreich erachten.
6. Prüfpflicht des Bischofs contra Persönlichkeitsrecht des Kandidaten? Bevor der Bischof eine Weihe erteilt, muss („debet“) er gemäß c. 1052 § 1 CIC nach vorschriftsmäßiger Durchführung des Skrutiniums feststellen, dass „die Eignung des Kandidaten aufgrund positiver Argumente erwiesen ist.“ Es reicht also keinesfalls aus, dass ihm bislang nichts Negatives bezüglich der Tauglichkeit und der geforderten „hinreichenden Reife“ des Kandidaten bekannt geworden ist. Die römische Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung hat in einem Rundbrief 1997 verdeutlicht, dass eine Zulassung zur Weihe nicht erfolgen kann, wenn auch nur „ein leiser Zweifel bezüglich der Eignung besteht“ 54 , der freilich auf gründlich zu analysierenden „objektiven Fakten“55 beruhen müsste. Der Bischof darf sich also nicht auf seine Überzeugung oder gar nur Intuition verlassen, sondern soll nach dem Zirkularschreiben neben der Leitung des Priesterseminars auch eine aus Priestern bestehende Kommission 56 anhören, deren Votum ihn zwar nicht bindet, das aber doch so großes Gewicht hat, dass der Bischof vom erhaltenen Rat nur „auf der Basis schwerwiegender Gründe“ 57 abweichen darf. Eine der Personen, die dem Bischof vor dem Skrutinium über die Eignung und Reife des Priesteramtskandidaten ein schriftliches Zeugnis vorlegen muss, ist nach c. 1051,1° CIC der Rektor des Seminars. Er wird zur Gewinnung des Persönlichkeitsbildes eines Bewerbers eigene Beobachtungen anstellen, wiederholt Gesprä51 52 53 54
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Vgl. Rulla, Luigi M., Psicologia e formazione sacerdotale. Premesse per un dialogo: Seminarium 18 (1978), 438-459. Weinberger, Walter, Voraussetzungen für die Zulassung zum Priestertum. Entwicklungen und gegenwärtige Rechtslage in der Römisch-Katholischen Kirche, Berlin 2011 (KStuT 56), 429. Vgl. C InstCath, Leitlinien (wie Anm. 10), Nr. 8. C Cult, Litterae circulares „Die Skrutinien über die Eignung der Kandidaten“ v. 10.11.1997 (Prot. N. 589/97), Nr. 2: Comm 30 (1998), 50-59, engl. Fassung: Woestman, William H., The Sacrament of Orders and the Clerical State, Ottawa 1999, 345-352. Ebd. In DBK, RO/2003 (wie Anm. 4) wird neben der Seminarleitung eine „Aufnahmekommission“ genannt (63). C Cult, Litterae circulares (wie Anm. 54), Nr. 3, der c. 127 § 2,2° CIC aufgreift, aber den im CIC „überwiegenden Grund“ („ratio praevalens“) an dieser Stelle in den Plural „schwerwiegender Gründe“ und in der Anlage III in einen „schwerwiegenden und gut begründeten Grund“ (Nr. 7) abändert.
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che führen, eine psychologische Expertise freilich kann ihm wie auch dem Bewerber „bei der Eignungsklärung eine Hilfe sein“58. In der Codex-Reformkommission wurde im Hinblick auf das Faktum der zunehmenden psychischen Erkrankungen bei Priestern die Einholung eines Gutachtens über die physische und psychische Gesundheit der Kandidaten ausgiebig diskutiert, die Entscheidung darüber sollte demnach dem Regens überlassen bleiben. 59 Im Gesetzbuch beließ man es bei der Nennung der physischen und psychischen Gesundheit als Erfordernis zum Weiheempfang. Die geltende Rahmenordnung der DBK von 2003 zitiert zur Interpretation von c. 1051,1° CIC das schon erwähnte Rundschreiben der Gottesdienstkongregation von 1997 über die Skrutinien zur Eignungsprüfung der Kandidaten 60, nach dem die Einholung eines psychologischen Zeugnisses „nur dann erforderlich wird, wenn es einen Grund dazu gibt“61. „Si casus ferat“, diese Bedingung zur Einschaltung eines Psychologen hatte auch die Ratio fundamentalis von 1985 genannt62 und mit dieser Wendung das „generatim“ der Ratio fundamentalis von 1970 präzisiert. 2008 machte die römische Bildungskongregation deutlich, „dass die Kirche das Recht hat, auch unter Hinzuziehung von Medizin und Psychologie die Eignung der zukünftigen Priester zu prüfen“; doch soll die Hinzuziehung eines Psychologen nur „in Zweifelsfällen“ 63 erfolgen. Nur im Einzelfall also wird die Aufnahme eines Bewerbers ins Seminar64 „erst nach einer psychologischen Begutachtung der Persönlichkeit des Kandidaten“65 möglich sein. Im Rundschreiben desselben Dikasteriums Entre las más delicadas aus dem Jahre 1997 steht dazu passend, dass es zur Erstellung eines psychologischen Gutachtens eines gerechten Grundes bedarf 66 . 2004 stellte sich die Kongregation für die Bischöfe der Frage und schrieb in Anlehnung an die RFIS/1985: „In einigen schwierigen Fällen wird es bei der Auswahl der Kandidaten für die Aufnahme in das Priesterseminar angeraten sein, die Jugendlichen psychologischen Tests zu unterziehen, aber nur, si casus ferat (vgl. RFIS 1985, 39), weil der Rückgriff auf solche Mittel nicht verallgemeinert werden darf und man dabei mit großer Umsicht vorgehen muss, damit nicht das Persönlichkeitsrecht verletzt wird und die persönliche Intimsphäre gewahrt bleibt (vgl. can. 220).“ 67 2016 vernebelte die jetzt zuständige Kleruskongregation allerdings 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67
DBK, RO/2003 (wie Anm. 4), Nr. 67. Vgl. Comm 30 (1998) 249. Zur geschichtlichen Entwicklung der Frage vgl. Althaus, Rüdiger, MKCIC 1051/2, 1a und 1051/4, 1b (Stand: 40. Lfg., Februar 2006). Vgl. C Cult, Litterae circulares (wie Anm. 54). DBK, RO/2003 (wie Anm. 4), Nr. 67; Anlage I zu C Cult, Litterae circulares (wie Anm. 54), Nr. 8. SC InstCath, RFIS/1985 (wie Anm. 8), Nr. 39: „Pariter a peritis medicis et aliis, qui scientiam psychologicam callent, examinanda est, si casus ferat, eorum valetudo physica et psychica …“. C InstCath, Leitlinien (wie Anm. 10), Nr. 11. Diese vereinfachende Redeweise meint folgend die Aufnahme ins Propädeutikum, ins Theologenkonvikt oder in die Anfangsstufe des Priesterseminars. C InstCath, Leitlinien (wie Anm. 10), Nr. 11. Vgl. C InstCath, Rundschreiben Entre las más delicadas (wie Anm. 3), Annex 1, 8. Congregatio pro episcopis, Direktorium für den Hirtendienst der Bischöfe v. 22.2.2004, Città del Vaticano 2004, Nr. 88; dt.: Sekretariat der DBK, VApSt 173, Bonn 2006, 126f (folgend: C Ep, Direktorium).
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die bisherige gesamtkirchliche Rechtslage. Sie erinnert aus den Leitlinien der C InstCath von 2008 zunächst das dort unterstrichene Recht der Kirche, die Eignung eines Priesteramtskandidaten medizinisch und psychologisch zu überprüfen. Dann jedoch gibt die Kleruskongregation in der aktuellen RFIS/2016 als Rahmen zur partikularrechtlichen Ausgestaltung nach der offiziellen Übersetzung vor: „Auf jeden Fall ist eine psychologische Beurteilung sowohl bei der Aufnahme in das Seminar als auch danach, falls das den Ausbildern nützlich erscheint, angemessen.“68 Damit verschärft die Kleruskongregation die Rahmenbedingungen gegenüber der RFIS/1985, die von der Bildungskongregation erlassen worden war. Man darf gespannt sein, was die neue Rahmenordnung der DBK daraus machen wird. Wie sind die aufgelisteten gesamtkirchlichen Aussagen unterschiedlicher römischer Behörden und die partikularrechtliche Position der DBK unter Berücksichtigung lebenspraktischer Gesichtspunkte zu harmonisieren? Unabhängig vom Kompetenzengerangel bzw. -geschiebe in Rom trifft m. E. die Bischofskongregation mit ihrer oben zitierten differenzierten Aussage im Direktorium für den Hirtendienst der Kirche von 2004 den Nagel auf den Kopf. Eine psychologische Abklärung ist sicher dann nicht nur „angemessen“, sondern „erforderlich …, wenn es einen Grund dazu gibt“, wenn ein „schwieriger Fall“ zur Beurteilung vorliegt, der die psychologische Kompetenz des Regens übersteigt – sei es anlässlich der Aufnahme ins Priesterseminar oder der abschließenden Beurteilung vor dem Weiheskrutinium. Dies erscheint gegeben z. B. bei erkennbaren psychischen Problemen in der Biographie des Kandidaten oder bei psychischen Erkrankungen in dessen Familiengeschichte, bei sehr auffälligen Verhaltensweisen etc. Dann liegt ein Grund für die Hinzuziehung eines Psychologen oder eines Psychiaters vor. Dessen Einbindung ist also von Fall zu Fall zu entscheiden, sie darf nicht „generatim“ / „im Allgemeinen“ erfolgen. Dieses Adverb wurde in der RFIS/1985 bewusst ersetzt durch „si casus ferat“. Die Entscheidung, ob ein Gutachter eingeschaltet werden soll oder nicht, trifft der Regens nach seinem Ermessen. Obwohl die geltende Rahmenordnung der DBK von 2003 nur im Einzelfall die Entscheidung vorsieht, dass eine psychologische bzw. psychiatrische Expertise einzuholen ist69 – sie sagt das zwar im Hinblick auf die wichtige Eignungsfeststellung vor dem Skrutinium zur Diakonenweihe; wenn aber bei diesem Schritt einzelfallbezogen vorzugehen ist, warum dann nicht auch beim Eintritt ins Seminar –, ignorieren viele deutsche Diözesen diese partikularrechtliche Bestimmung und verlangen beim Eintritt ins Priesterseminar generell 70 von allen Bewerbern die 68
C Cler, RFIS/2016 (wie Anm. 5), Nr. 193. Die Stelle lautet im italienischen Original: „In ogni caso, sarà comunque conveniente che si realizzi una valutazione psicologica, sia al momento dell’ammissione in Seminario, che nel tempo successivo, quando ciò sembri utile ai formatori.“ Wortgetreu übersetzt: „In jedem Fall wird es deshalb angemessen sein, dass eine psychologische Bewertung durchgeführt wird, sei es zum Zeitpunkt der Aufnahme ins Seminar, sei es in der folgenden Zeit, wenn es den Ausbildern nützlich erscheint.“ 69 Vgl. DBK, RO/2003, Nr. 67. 70 Z. B. Münster oder Rottenburg-Stuttgart. Sie verlangen dies bereits in den Bewerbungsunterlagen für die Aufnahme ins Priesterseminar. Eichstätt erbittet dieses nur „im Zweifelsfall“, so die mündli-
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Vorlage einer psychologischen Beurteilung. Dieser Vorgang stellt nicht nur einen Verstoß gegen die noch geltende Ratio nationalis von 2003 und damit in gleicher Weise gegen c. 242 § 2 CIC dar, er ist darüber hinaus auch sachlich nicht gerechtfertigt. Denn Priesteramtskandidaten sind psychisch nicht auffälliger als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen. „Sie sind so ‚normal‘ wie ledige Männer es in diesem Alter sind. Sie verdienen es nicht, mit einem pathologischen Klischee betrachtet zu werden, noch bedarf es in Aus- und Fortbildung ihnen gegenüber eines – wie auch immer gearteten – therapeutischen Stils, als hätte man es mit Patienten zu tun“ 71 . Die pauschale Einbeziehung eines psychologischen Sachverständigen anlässlich der Aufnahme eines Bewerbers ins Priesterseminar, wie sie der Münsterische Kommentar in seiner 2018 aktualisierten Kommentierung vertritt72, ist rechtlich nicht gedeckt; nur in Zweifelsfällen legt diese sich zur Gewinnung einer soliden Beurteilungsbasis nahe, erscheint angeraten oder mitunter sogar unumgänglich. Würden nämlich Interessenten ins Seminar „aufgenommen, die nicht geeignet oder nicht zur Übernahme und Erfüllung des ministerium sacrum willens sind, könnte das Priesterseminar seinen originären Zweck nicht erfüllen und die anderen Alumnen könnten ggf. in ihrer Entwicklung oder in ihrer Entscheidung beeinträchtigt werden.“73 Und was meint die Aussage, dass die Einholung eins psychologischen Gutachtens „für die Ausbilder nützlich“ erscheinen muss? Hier wird auf der Rechtsebene der Fokus von der Erlaubtheit weg auf den Nutzen der Maßnahme gelenkt. Deshalb finden die Bedingungen für das erlaubte Einholen eines psychologischen Zeugnisses in der RFIS/2016 auch keine Erwähnung mehr, dass der Rückgriff auf dieses Mittel nämlich „nicht verallgemeinert werden darf und man dabei mit großer Umsicht vorgehen muss, damit nicht das Persönlichkeitsrecht verletzt wird und die persönliche Intimsphäre gewahrt bleibt (vgl. can. 220).“ 74 Nur der Aspekt der Nützlichkeit für die Ausbilder ist noch im Blick, nicht mehr das bei der Durchführung der psychologischen Begutachtung zu beachtende Fundamentalrecht des Kandidaten auf die Wahrung seiner „intimitas propria“. Zunächst zum Aspekt der Nützlichkeit: Gewiss kann das psychologische Zeugnis beim Eintritt ins Priester-
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che Auskunft von Regens Michael Wohner (10.1.2019). Die RO der US-amerikanischen Bischofskonferenz schreibt – im Widerspruch zur gesamtkirchlichen Grundordnung, nach Bitterli (Wer darf [wie Anm. 45], 124) aber offensichtlich mit Genehmigung des Hl. Stuhls – für jeden Bewerber ein psychodiagnostisches Untersuchungsverfahren mit verschiedenen psychologischen Tests und Interviews vor. Baumgartner, Isidor, Hoffnungsträger und Exoten. Priesteramtskandidaten heute: Klasvogt, Peter (Hg.), Leidenschaft für Gott und sein Volk. Priester für das 21. Jahrhundert, Paderborn 2003, 107127, hier 112. Man schickt auch einen heiratswilligen Mann vor der Eheschließung nicht zum Psychologen, um aufzudecken, welche Ressourcen er zum Gelingen der geplanten Ehe mitbringt bzw. welche Defizite in seiner Persönlichkeitsstruktur für ein eventuelles Scheitern derselben. Vgl. Althaus, Rüdiger, MKCIC 241/6, 5 (Stand: 55. Lfg., Mai 2018). Ebd., 241/4, 3. C Ep, Direktorium (wie Anm. 67), Nr. 88.
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seminar75, wenn es gut gemacht ist, verlässlich Auskunft über das Persönlichkeitsprofil eines Kandidaten geben. Es gilt aber zu bedenken, dass ein solches nicht schon zu diesem Zeitpunkt vorliegen muss und kann; man wird vielmehr die Chance zur personalen Reifung im mehrjährigen Ausbildungsprozess nicht gering ansetzen dürfen, wozu u. a. eine psychologische Intervention oder eine freiwillige Begleitung ihren Beitrag leisten können, sofern sie notwendig sind. Das Persönlichkeitsbild eines Alumnen, das die Seminarleitung durch eigene Anschauung im Laufe der Jahre gewinnt, wird sich in einem natürlichen Klärungsprozess von selbst ausdifferenzieren. Der Gewissheitsgrad des Regens 76 hinsichtlich der Eignung eines Kandidaten beim Eintritt ins Seminar entspricht auch nicht dem des von ihm vor der admissio bzw. vor der Erteilung der Diakonenweihe geforderten Zeugnisses77, das Verb „aestimare“ in c. 241 § 1 CIC meint ein Urteilen im Sinne von „begründend hoffen“. Der Beurteilung des Regens vor dem ersten Weiheskrutinium kommt allerdings eine besondere Bedeutung zu, weil gemäß c. 1030 CIC nach Empfang der Diakonenweihe einem Priesteramtskandidaten der Zugang zum Presbyterat nur noch aus einem „kanonischen Grund“ – was auch immer das genau sein mag – verwehrt werden kann. Sie ist äußerst gewissenhaft durchzuführen. Aber auch dann gilt: Da eine psychologische Begutachtung stets einen Eingriff in die Intimsphäre einer Person darstellt, ist sie bisher laut DBK, RO/2003 mit Recht nur in bestimmten Situationen erlaubt. Die in Rede stehende Formulierung „quando ciò sembri utile ai formatori“ ist daher nicht geeignet, den Rechtsgehalt des „si casus ferat“ zu transportieren; sie sollte nicht in nationale Ordnungen transformiert werden. Auf dem Hintergrund der gegenwärtigen massiven Verunsicherung v. a. durch den Macht- und Missbrauchsskandal in der Kirche erscheint sie zwar politisch verständlich, jedoch zur Absicherung der erforderlichen Reife eines angehenden Priesters keinesfalls ausreichend. „Das Volk und die Verantwortlichen wurden befragt“, antwortet der Regens dem Bischof im Weiheritus. Könnte das Anhörungsrecht nicht in ein „Mitbestimmungsrecht“ 78 z. B. des Pfarrgemeinderates erweitert werden, aus der der Kandidat kommt? Wenn in einem „Zweifelsfall“ dem Regens eine psychologische Untersuchung erforderlich erscheint und von ihm ins Auge gefasst wird, muss er zuvor unbedingt 75
Zur Eintrittsprüfung vgl. insb. Bitterli, Marius, Das Priesterseminar. Bildungseinrichtung im Wandel?, Essen 2006 (BzMK 44), 60-69. C InstCath, Leitlinien (wie Anm. 10), Nr. 4 verlangt von jedem Seminarerzieher angemessene psychologische Kenntnisse, um „möglichst befähigt zu sein, die wirklichen Motivationen des Kandidaten zu erkennen, sowie zwischen gewissen Hindernissen für eine Integration von menschlicher und christlicher Reife und eventuellen Psychopathologien zu unterscheiden.“ Sie warnt jedoch auch vor dem semi-professionellen „Gebrauch spezieller psychologischer oder psychotherapeutischer Techniken seitens der Seminarerzieher“ (ebd., Nr. 5). 77 Vgl. dazu May, Georg, Gewährung und Versagung der Zulassung zur Weihe: Egler, Anna / Rees, Wilhelm (Hg.), Schriften zum Kirchenrecht. Ausgewählte Aufsätze von Georg May, Berlin 2003 (KStuT 47), 527-541. 78 So schon Zulehner, Paul M. / Lobinger, Fritz, Um der Menschen und der Gemeinde willen. Plädoyer zur Entlastung von Priestern. Weitere Folgerungen aus der Studie PRIESTER 2000©, Ostfildern 2002, 146. 76
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die freie und schriftliche Zustimmung des Betroffenen einholen – andernfalls wäre zweifelsohne dessen Persönlichkeitsschutz tangiert, näherhin nach c. 220 CIC sein guter Ruf rechtswidrig geschädigt und seine Intimsphäre verletzt. 79 Dazu muss der Bewerber über den Zweck der Begutachtung und insbesondere das genaue Vorgehen bei dieser informiert sein sowie genügend Zeit zur Entscheidungsfindung 80 haben. An der vorausgehenden schriftlichen und freien Zustimmung des Kandidaten hält auch die RFIS/2016 fest81, was die Frage nach der Zuordnung von Prüfpflicht der Verantwortlichen und Grundrechtsschutz des Betroffenen aufwirft. Das Recht und die Pflicht der Verantwortlichen, „für die notwendigen Kenntnisse zu einem klugen und sicheren Urteil hinsichtlich der Eignung des Kandidaten zu sorgen“82, darf weder das unumstößliche Grund- und Menschenrecht eines Kandidaten auf Schutz seines guten Rufes noch das auf Wahrung seiner Intimsphäre beschädigen. Dies bedeutet: Regens oder Bischof können die Befolgung einer psychologischen Untersuchung nicht erzwingen, selbst wenn sie dringend erforderlich erscheint; sie können nur um Zustimmung werben. Ist die Einwilligung des Betroffenen nicht zu erreichen oder wird sie wieder zurückgezogen, muss eine Entscheidung über dessen Reife und Eignung auf der Basis der vorhandenen Informationen83 getroffen werden. Dabei ist – wie bereits ausgeführt – zwischen Aufnahme ins Seminar und Zulassung zur Weihe zu unterscheiden. Bei einem unproblematischen Kandidaten wird auch ohne Gutachten ein positives Votum des Regens ergehen können. Bestehen jedoch hinsichtlich der Reife und Eignung eines Kandidaten begründete Zweifel und dieser verweigert den Gang zum Psychologen oder Psychiater, wird der Vorschlag des Seminarleiters zur Weihezulassung nur negativ lauten können, weil die Eignung eben nicht positiv aufgewiesen werden konnte. Die anschließende Entscheidung des Bischofs dürfte nach c. 1052 § 3 CIC in der Regel eine Ablehnung sein, es sei denn, der Bischof könnte die Zweifel an der Eignung des Kandidaten für den Empfang der Weihe anderweitig überwinden. Die Ablehnung erfolgt in diesem Fall nicht infolge der Weigerung, den Sachverständigen aufzusuchen, also wegen Ungehorsam, sondern aufgrund der Tatsache, dass 79
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Vgl. Woestman, William H., Canons 220 and 1029. Psychic Qualities Required for Ordination and Psychological Testing. Roman Replies and CLSA Advisory Opinions, ed. by Pedone, Stephen F. / Donlon, James I., Washington DC 2002, 79-81. Vgl. Weinberger (wie Anm. 52), 438. Vgl. C Cler, RFIS/2016 (wie Anm. 5), Nr. 194. Die römische Ratio fundamentalis räumt ebd. dem Kandidaten zum Schutz seiner Intimsphäre weiterhin die „freie Wahl zwischen verschiedenen Psychologen“ ein, die sie auf zweierlei Weise gewährleistet sieht: durch Auswahl einer Person aus einer Liste „der durch die Seminarerzieher vorgeschlagenen Psychologen“ oder durch das Angehen eines selbst vorgeschlagenen Sachverständigen, der von den Seminarerziehern akzeptiert wurde. Eichstätt wählt in einem „Zweifelsfall“ den ersten Weg und bietet drei Namen/Institutionen zur Auswahl an. Zum Inhalt des c. 220 CIC gehört, dass der Kandidat einen Psychologen seiner Wahl in einem „informierten und freien Konsens“ bestimmen kann. C InstCath, Leitlinien (wie Anm. 10), Nr. 12. Ebd.: „Gesetzt den Fall, dass der Kandidat den seitens der Seminarerzieher gemachten Vorschlag ablehnt, sich einer psychologischen Beratung zu unterziehen, sollten diese in keiner Weise versuchen, den Kandidaten zu zwingen, sondern klug den Entscheidungsprozess mit den entsprechenden Konsequenzen […] weiterführen.“
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beim Bischof Zweifel an der Eignung des Kandidaten bestehen, die nicht behoben werden konnten. Diese hinter c. 1052 § 3 CIC stehende Logik spricht ebenfalls für eine differenzierte Einschaltung eines Sachverständigen im Sinne der bisherigen Rechtspraxis „si casus ferat“, ganz abgesehen davon, dass das zutreffende Ergebnis einer Befragung und Intervention wesentlich vom Vertrauen des Kandidaten in die Psychologie bzw. Psychiatrie, in die angegangene Person und ebenso von seiner freien Mitwirkung daran abhängt, ohne die ein seriöser Experte seine Arbeit erst gar nicht aufnehmen wird. Doch welcher Psychologe kommt – wenn schon – für eine Begutachtung in Betracht? Das Konzilsdekret Optatam totius spricht von der Rezeption „gesunder Psychologie“84, die im Hinblick auf unsere Fragestellung allgemein gesehen wohl erwartet werden darf, wenn das der Expertise zugrunde liegende Menschenbild mit den zentralen Aussagen der christlichen Anthropologie in Einklang steht. Dies schränkt die Wahlfreiheit des Priesteramtskandidaten nicht unerheblich ein. Zudem muss die Untersuchung nach c. 1051,1° CIC „rite peracta“, also auf rechte Weise / vorschriftsmäßig durchgeführt sein. 85 Nach der geltenden Ratio fundamentalis ist es „Aufgabe der Bischofskonferenzen, in den nationalen Rationes Normen zu erlassen, die die Modalitäten für die Einholung psychologischer Gutachten festlegen.“86 Die Vorgehensweise des Sachverständigen muss jedenfalls im Vorab der Untersuchung feststehen und für den Probanden transparent sein. Für die Psychologen könnten nationale Richtlinien hilfreich sein, in denen die Bischöfe Haltungen und Persönlichkeitsmerkmale benennen und beschreiben, die bei einer Berufung ins Priesteramt zu erwarten sind. Unter das „rite peracta“ fällt auch die Frage, ob beim psychodiagnostischen Screening alle Untersuchungsmethoden erlaubt sind. Können z. B. unstrukturierte Testverfahren zur Anwendung kommen, wie dies anscheinend in den USA in Kombination mit strukturierten Tests geschieht? 87 Man wird einem Persönlichkeitstest auf der Basis eines nach den oben genannten Kriterien erstellten Fragebogens mit aussagekräftigen und eindeutigen Items keine rechtlichen oder ethischen Bedenken entgegenhalten können. Kommt jedoch zu viel Projektion ins Spiel, indem der Proband seine Assoziationen zu mehrdeutigem Material äußern muss und der Diagnostiker daraus Rückschlüsse auf bestimmte Persönlichkeitsaspekte zieht, gerät im Blick auf objektive und nachvollziehbare Ergebnisse der Boden ins Wanken.88 Invasive Testreihen89 sind nicht nur aus ethischen Gründen abzulehnen, 84 85 86 87 88
VatII OT 3 und 11 (wie Anm. 8); SC InstCath, RFIS/1985 (wie Anm. 8), Nr. 13. Die Übersetzung der DBK („aufgrund einer gehörigen Untersuchung“) ist unklar. C Cler, RFIS/2016 (wie Anm. 5), Nr. 196. So Bitterli, Wer darf (wie Anm. 45), 132. Vgl. bereits SecrStat, Brief v. 6.8.1976 (Prot. N. 311.157) mit „Nota indicativa“ bez. „L’uso e l’abuso di metodi psicologici proiettivi e di altro tipo“, abgedr. in: Ingels, Gregory, Protecting the Right to Privacy when Examining Issues Affecting the Life and Ministry of Clerics and Religious: StCan 34 (2000), 442f. 89 Darunter versteht man Techniken, die kaum bis gar nicht kontrollierbare Antworten auf Stimuli ermöglichen.
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Andreas Weiß
sondern als Verstoß gegen die Menschenwürde auch aus rechtlichen, selbst wenn der Kandidat ihnen zugestimmt haben sollte.
7. Schluss Wahrnehmung von Ausbildungsverantwortung zur rechten Zeit ist gewiss ein anspruchsvoller Dienst, der nicht immer Zustimmung finden wird, sondern auch mit Unverständnis rechnen muss. Ideologie hat darin nichts verloren. „Andererseits dürfen aber auch die Kenntnisse empirischer Wissenschaften nicht einfach gegen einen sehr einseitigen Spiritualitätsbegriff ausgespielt werden, um eine ‚Verhinderung von Berufungen‘ anzuprangern, wie dies gelegentlich versucht wird“ 90. Der psychologische Test kann und darf nicht conditio sine qua non der Aufnahme ins Priesterseminar sein, wie oben aufgezeigt wurde. Die deutschen Bischöfe werden unter Berücksichtigung aller einschlägigen Verlautbarungen abwägen müssen, wie sie die Ratio fundamentalis von 2016 in ihrer Rahmenordnung konkretisieren wollen.
90
Lederhilger, Severin, Ausbildungsverantwortung und Aufsichtsmaßnahmen. Zu den kanonischen Eignungsnormen bei Priesteramtskandidaten: Geringer, Karl-Theodor / Schmitz, Heribert (Hg.), Communio in ecclesia mysterio. FS für Winfried Aymans zum 65. Geburtstag, St. Ottilien 2001, 285-304, hier 303 mit Verweis auf May (wie Anm. 77).
Einfühlung und Empathie: praktische Konsequenzen von Übersetzung und Rück-Übersetzung
Eckhard Frick SJ „There’s a lot of talk in this country about the federal deficit. But I think we should talk more about our empathy deficit – the ability to put ourselves in someone else’s shoes; to see the world through those who are different from us – the child who’s hungry, the laid-off (lend-off) steelworker, the immigrant woman cleaning your dorm room.”1 „Empathy is a spotlight focusing on certain people in the here and now. This makes us care more about them, but it leaves us insensitive to the long-term consequences of our acts and blind as well to the suffering of those we do not or cannot empathize with. Empathy is biased, pushing us in the direction of parochialism and racism. It is shortsighted, motivating actions that might make things better in the short term but lead to tragic results in the future. It is innumerate, favoring the one over the many. It can spark violence; our empathy for those close to us is a powerful force for war and atrocity toward others. It is corrosive in personal relationships; it exhausts the spirit and can diminish the force of kindness and love.” 2 Wie beide Beispiele zeigen, ist Empathie ein deskriptiver Begriff und ein normativ hoch aufgeladener – ein ausgesprochen meliorativer Begriff. Dies gilt nicht nur für den US-amerikanischen Sprachraum, sondern auch für den deutschen. Empathie klingt zudem neu, wie viele aus dem Englischen ins Deutsche übernommene Begriffe. Kaum jemand will „un-empathisch“ sein und das Empathie-Defizit, von dem Obama spricht, drückt ins Positive gewendet, einen Hunger nach Empathie aus. Einfühlung hingegen ist ein Begriff, der im 19. Jahrhundert in der deutschen Sprache entsteht, und dessen Verwendung inzwischen eher rückläufig ist. Gleichzeitig mit dem Stärker-Werden von „Empathie“ wird „Einfühlung“ gewissermaßen altmodisch im Deutschen. Das gilt für das Substantiv. Das Verbum „(sich) einfühlen“ hingegen bleibt uneingeschränkt attraktiv, weil wir im Deutschen keine wortgetreue Übersetzung von to empathize haben. Es gibt sympathisieren, aber nicht empathisieren. Ein Blick in die Worthäufigkeits-
1 2
Barack Obama am 19. Juni 2006, in: http://obamaspeeches.com/079-Northwestern-UniversityCommencement-Address-Obama-Speech.htm [Zuletzt aufgerufen am 16. April 2019]. Bloom, Paul, Against Empathy: the Case for Rational Compassion, New York 2016, 9.
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Eckhard Frick SJ
Statistik3 zeigt, dass das Verbum einfühlen unverändert aktuell ist. Mit Hilfe des digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache machen wir außerdem die folgenden Funde, die für die Genese des Verständnisses bedeutsam sind: 1. „So wird auch keiner die Natur begreifen, der kein Naturorgan, kein innres naturerzeugendes und absonderndes Werkzeug hat, der nicht, wie von selbst, überall die Natur an allem erkennt und unterscheidet und mit angeborner Zeugungslust, in inniger mannigfaltiger Verwandtschaft mit allen Körpern, durch das Medium der Empfindung, sich mit allen Naturwesen vermischt, sich gleichsam in sie hineinfühlt.“4 2. „Während das Antike allen romanischen Völkern näher liegt, dem deutschen Geiste aber zunächst ganz fremdartig gegenübertrat, hat sich dieser in seinen Styl nur um so tiefer eingefühlt und eingelebt, als er endlich berufen wurde, das moderne Ideal in der Dichtkunst herzustellen usw.“5 In der Vorgeschichte unseres Begriffs der Einfühlung steht demnach die Begegnung mit dem Fremden in der Natur und in der Ästhetik, wie es bei Vater und Sohn Vischer ausgedrückt wird: „Es ist also ein unbewußtes Versetzen der eigenen Leibform und hiermit auch der Seele in die Objektsform. Hieraus ergab sich mir der Begriff, den ich Einfühlung nenne.“6 Das fremde Andere der Einfühlung ist nicht nur der andere Mensch, das andere geistige Wesen, sondern auch das Kunstwerk und die Natur. In der Begegnung mit diesen Fremdheitsbereichen bildet sich in der deutschen Sprache ab dem 18. und dann im 19. Jahrhundert das Wort „hineinfühlen“. Ein wichtiger Zeuge dafür ist Johann Gottfried Herder: „Selbstgefühl soll nur die Conditio sine qua non, der Klumpe bleiben, der uns auf der Stelle festhält, nicht Zweck, sondern Mittel. Aber notwendiges Mittel“, schreibt Herder, „denn es ist und bleibt wahr, daß wir unseren Nächsten nur wie uns selbst lieben.“7 Nach dieser biblischen Anspielung folgt der entscheidende Satz: „Sind wir uns untreu, wie werden wir anderen treu seyn? Im Grade der Tiefe unseres Selbstgefühls liegt auch der Grad des Mitgefühls mit anderen: denn nur uns selbst können wir in andre gleichsam hinein fühlen.“ Herder verwendet noch nicht das Substantiv „Einfühlung“, sondern bereits das Verbum „hineinfühlen“, und zwar im Rahmen eines frühen Panpsychismus, der die menschliche Seele im metaphorischen Gegenüber zur Natur sieht: „In allem, was wir todte Natur nennen, kennen wir keinen innern Zustand. Wir sprechen täglich das Wort Schwere, Stoß, Fall, Bewegung, Ruhe, Kraft sogar 3 4 5 6 7
Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache DWDS, https://www.dwds.de/wb/einfühlen [Zuletzt abgerufen am 11. März 2019]. Vgl. Novalis (Hardenberg, Friedrich von), Die Lehrlinge zu Sais, 1798. Vgl. Vischer, Friedrich Theodor von, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1, Reutlingen 1851. Vischer, Robert, Drei Schriften zum ästhetischen Formproblem, Halle 1927, 4. Hier und im Folgenden: Herder, Johann Gottfried von, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume, Riga 1778, 49.
Einfühlung und Empathie
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Kraft der Trägheit aus und wer weiß, was es, inwendig der Sache selbst, bedeute? Je mehr wir indes das große Schauspiel würkender Kräfte in der Natur sinnend ansehn, desto weniger können wir umhin, überall Aehnlichkeit mit uns zu fühlen, alles mit unserer Empfindung zu beleben. Wir sprechen von Würksamkeit und Ruhe, von eigner oder empfangener, von bleibender oder sich fortpflanzender, todter oder lebendiger Kraft völlig aus unsrer Seele.“ 8 Unsere Sprache bildet sich aus leibnahen Sprachbildern. 9 Auch unsere mentale Sprache besteht aus vielen leiblichen Metaphern. Wir sagen z. B.: Wir strengen uns an, etwas zu erreichen oder wir stemmen ein Problem, wir arbeiten etwas durch usw. An Herders frühem Panpsychismus und am ästhetischen Einfühlungskonzept lässt sich zeigen, dass auch das geistige (Ein-)Fühlen von der Begegnung mit dem Nicht-Geistigen abgelesen ist. Dieser Befund ist auch für das Verstehen der frühen Übersetzungsgeschichte von „Einfühlung“ von Bedeutung. Es sind zunächst verschiedene Begriffe, mit denen „Einfühlung“ ins Englische übersetzt wird10: „Empathy is then a physical quantity, a physiological brain-function, and is defined as the relation of the whole energy at any change of the central organ to the intensity“;11 Aesthetic sympathy; semblance;12 „Not only do I see gravity and modesty and pride and courtesy and stateliness, but I feel or act them in the mind’s muscles. This is, I suppose, a simple case of empathy, if we may coin that term as a rendering of Einfühlung; there is nothing curious or idiosyncratic about it; but it is a fact that must be mentioned“;13 „We attribute to extended things a unity which we know only as the unity of an ‚enduring‘ subject; we attribute to changes among these extended things what we know only when we act and suffer ourselves“. 14 Bei Hinman ist „Empathy“ ein neuro-physiologischer Begriff. Baldwin übersetzt Einfühlung mit „aesthetic sympathy“ ins Englische und dann noch mit „sem8 9 10
11 12 13 14
Ebd., 5. Vgl. Lakoff, George / Johnson, Mark, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 1980 / 2008. Lanzoni, Susan, Empathy’s translations: Three Paths from Einfühlung into Anglo-American Psychology, in: Lux, Vanessa / Weigel, Sigrid (Hg.), Empathy: Epistemic problems and culturalhistorical perspectives of a cross-disciplinary concept. London 2017, 287-315. Vgl. Hinman, E. L., Ueber psychophysische Energie und ihre Factoren, in: Laßwitz, Kurd, Philosophical Review 4, 1895, 672f. Vgl. Baldwin, James M., Dictionary of Philosophy and Psychology (vol. 2), New York 1901. Vgl. Titchener, Edward B., Lectures on the experimental psychology of the thought-processes, 1909. Vgl. Ward, James, Psychological Principles, Cambridge 1919.
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Eckhard Frick SJ
blance“. „Semblance“ meint dann Übereinstimmung Ähnlichkeit, Identität und eben „aesthetic sympathy“. Ward und Titchener geben ungefähr gleichzeitig Einfühlung mit „empathy“ wieder. Auffällig sind physikalistische, panpsychistische Metaphern für das Mentale: „the mind’s muscles“. Empathie bewegt meine mentalen Muskeln. Ich wende Kraft auf, um mich einzufühlen. Ward, ein früher Vertreter des Panpsychismus, schreibt an den Ethnologen und Religionsanthropologen Frazer in einem Brief die folgenden Zeilen: „My dear Frazer, Perhaps one of the most telling facts in favour of your interpretation of personification is what German psychologists nowadays call Einfühlung – a term I have purposed [!] to translate by empathy”. In der Reproduktion des Typoskripts 15 fällt auf, dass Ward „sympathy“ durchstreicht und stattdessen das Wort „empathy“ wählt. Wenn wir von Empathie und Einfühlung reden, gehen wir nur von einem Sprecher aus. Im Deutschen können wir das Wort „Einfühler“ nicht bilden, aber das Englische bietet den Begriff „empathizer“ und den Begriff „empathee“ für den oder die „Eingefühlte“. Dieses Paar, „empathizer“ und „empathee“, brauchen wir jedoch, weil es ja stets um eine Dyade geht. Es geht bei der Einfühlung immer um eine „Zweifühlung“, wie Jakob Moreno formulierte – der Schöpfer des klassischen Psychodramas.16 Es können zwar mehrere Personen beteiligt sein, aber es ist eine Interaktion, ein Beziehungs-Paar, innerhalb dessen sich die Einfühlung abspielt. Insofern dürfen wir uns nicht auf eine isolierte Person kaprizieren, die irgendeine besonders empathische Fähigkeit hat oder dergleichen. A ist immer nur in Bezug auf B empathisch, möglicherweise aber auch auf viele B‘s. Demnach kann Empathie nie als die Eigenschaft eines solipsistischen Ichs angesehen werden. Dieser Gedanke führt uns zu Edith Stein. Edith Stein setzt sich in ihrer Dissertation auseinander mit dem Unterschied zwischen „einfühlen“ und „einsfühlen“. Max Scheler gebraucht den Begriff „Einsfühlen“ um die in der Einfühlung hergestellte Identität zwischen dem „empathizer“ und der „empathee“ auszudrücken. Gegen die Vorstellung einer „Einsfühlung“ will Stein den kartesischen Hiatus zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Empathizer und Empathee aufrechterhalten, also die grundsätzliche Verschiedenheit in der Einfühlung. Wir brauchen für die Einfühlung, auch wenn wir ganz beim Andern sind, mindestens genauso viel die Distanz wie die Nähe, mindestens genauso die Unterschiedenheit wie die Ähnlichkeit. Und auch bei der Simulationstheorie über die sie – ohne dass sie den Begriff schon kennt – Wichtiges sagt, braucht es die Unterschiedenheit in der Empathie.
15 16
Lanzoni, Susan, Empathy: A history, New Heaven 2018. Vgl. Frick, Eckhard, „Zweifühlung“ (Jakob Levy Moreno). Szenisches Verstehen des Symptoms in der psychodramatischen Begegnung, in: Schmoll, Dirk / Kuhlmann, Andreas (Hg.) Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen, Freiburg / München 2005, 87112.
Einfühlung und Empathie
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In ihrer Dissertation beschreibt Stein die Einfühlung als einen Akt sui generis: „Wir haben also in allen betrachteten Fällen der Vergegenwärtigung von Erlebnissen drei Vollzugsstufen bzw. Vollzugsmodalitäten, da man im konkreten Falle nicht immer alle Stufen durchläuft, sondern sich häufig mit einer der niederen begnügt: 1. Das Auftauchen des Erlebnisses, 2. die erfüllende Explikation, 3. die zusammenfassende Vergegenständlichung des explizierten Erlebnisses. Auf der ersten und dritten Stufe stellt die Vergegenwärtigung die nichtoriginäre Parallele zur Wahrnehmung, auf der zweiten Stufe zum Vollzug des Erlebnisses dar. Das Subjekt des eingefühlten Erlebnisses aber - und das ist das fundamental Neue gegenüber der Erinnerung, Erwartung, Phantasie eigener Erlebnisse - ist nicht dasselbe, das die Einfühlung vollzieht, sondern ein anderes, beide sind getrennt, nicht wie dort durch ein Bewußtsein der Selbigkeit, eine Erlebniskontinuität verbunden. Und indem ich in jener Freude des andern lebe, fühle ich keine originäre Freude, sie entquillt nicht lebendig meinem Ich, sie trägt auch nicht den Charakter des Einst-Lebendiggewesenseins wie die erinnerte Freude, noch viel weniger aber ist sie bloß phantasierte ohne wirkliches Leben, sondern jenes andere Subjekt hat Originarität, obwohl ich diese Originarität nicht erlebe, seine ihm entquellende Freude ist originäre Freude, obwohl ich sie nicht als originäre erlebe. In meinem nicht-originären Erleben fühle ich mich gleichsam geleitet von einem originären, das nicht von mir erlebt und doch da ist, sich in meinem nicht-originären bekundet. So haben wir in der Einfühlung eine Art erfahrender Akte sui generis.”17 Stein hebt die Einfühlung von seelischen Akten ab, die originärer Art sind. Schon in dieser Formulierung wird deutlich, dass bei der Einfühlung die Differenz den Vorrang vor der Identität hat. Die Vergegenwärtigung des Fremdpsychischen geschieht auf drei Vollzugsstufen bzw. Vollzugsmodalitäten, wobei man im konkreten Falle nicht immer alle Stufen durchläuft, sondern sich häufig mit einer der niederen begnügt: 1. Das Auftauchen des Erlebnisses, 2. die erfüllende Explikation, 3. die zusammenfassende Vergegenständlichung des explizierten Erlebnisses. Ist dieser dreistufige Vorgang selbst ein mentales Ereignis? Ein Teil der Phänomenologen, z. B. Hermann Schmitz, geht so weit, den Begriff Einfühlung durch Einleibung zu ersetzen, um mentalistische Sprachformen zu vermeiden. Denn es geht um eine direkte Begegnung zwischen zwei Menschen, eine Ausdruckseinheit (Max Scheler), innerhalb derer gar nicht zu unterscheiden ist zwischen dem, was seelisch und was leiblich ist, weil mir der andere Mensch als ganzer entgegentritt. Bei der fiktionalen Einfühlung, wenn ich ein Buch lese, mich in eine Romanfigur einfühle, entfällt die Einleibung im Sinne der spürbaren Präsenz eines anderen Menschen. Im Falle der fiktionalen Einfühlung steige ich gewissermaßen sofort in 17
Stein, Edith, Zum Problem der Einfühlung, Halle 1917, 10, unter: http://nasepblog.files.wordpress. com/2012/08/stein-edith-zur-problem-der-einfuehlung-1917.pdf [Zuletzt aufgerufen am 15. April 2019; Hervorhebung im Dokument].
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Eckhard Frick SJ
Steins zweite Stufe ein, nämlich in die erfüllende Explikation, in der es um Vergegenwärtigung geht und schließlich in die dritte, die zusammenfassende Vergegenständlichung. Auf der ersten und dritten Stufe – so lesen wir weiter – stellt die Vergegenwärtigung die nicht-originäre Parallele zur Wahrnehmung, auf der zweiten Stufe zum Vollzug des Erlebnisses dar. „Nicht-originär“ soll heißen: Was ich repräsentiere, vergegenständliche, stammt nicht von mir. Es sind Inhalte eines Anderen: Ich habe nicht selber den Schmerz, ich habe nicht selber die Freude, ich habe nicht selber den Ärger, und doch ist all dies in mir vergegenständlicht. Für den Unterschied zwischen Originarität und Nicht-Originarität ist das Folgende sehr wichtig: „Und indem ich in jener Freude des andern lebe, fühle ich keine originäre Freude, sie entquillt nicht lebendig meinem Ich, sie trägt auch nicht den Charakter des Einst-Lebendiggewesenseins wie die erinnerte Freude.“18 Stein macht uns auf die sinnliche Ebene aufmerksam, die zur Einfühlung gehört. Auch wenn diese bei der fiktionalen Einfühlung „übersprungen“ wird, wie wir sahen, funktioniert auch dieser Typ nicht grundsätzlich anders als die AlltagsEinfühlung. Ich setze dieselbe Originarität bei der Romanfigur voraus wie bei einer realen Person, die ich jetzt nicht spüre, in die ich mich jedoch schon in der Vorbereitung auf eine Begegnung einfühle. Zwischenleiblichkeit, sagt Merleau-Ponty, ist abgeleitet von der am eigenen Leib erfahrenen „Kompräsenz“: „Wenn mir das Dasein eines Anderen dadurch evident ist, daß ich ihm die Hand drücke, so deshalb, weil sie sich an die Stelle der linken Hand setzt, weil mein Leib sich dem des Anderen durch jene ‚Art der Reflexion‘ einverleibt, deren Sitz er paradoxerweise ist. Meine beiden Hände sind ‚kompräsent‘ oder ‚koexistent‘, weil sie die Hände eines einzigen Leibes sind: Der Andere erscheint durch eine Ausdehnung dieser ‚Kompräsenz‘, er und ich sind wie die Organe einer einzigen Zwischenleiblichkeit.“19 A als Empathizer nimmt auf der ersten Stufe B, Empathee, als fremdes Erlebnis wahr, und zwar nicht-originär, worauf die erfüllende Explikation (zweite Stufe), und die zusammenfassende Vergegenständlichung des explizierten Erlebnisses (dritte Stufe) folgen. All dies geht dem Fühlen und Verstehen voraus und leitet einen iterativen Prozess ein, einen empathischen Zirkel. In helfenden und therapeutischen Beziehungen kommt es darauf an, dass Empathizer und Empathee wechselseitig ihre Ein-/Zweifühlung spüren, also wechselseitig beide Rollen einnehmen. Ebenso hängt in der Entwicklung der sozialen Kognition viel davon ab, dass wir, dass die erwachsenen Bezugspersonen und damit Empathizer das Baby als mentales Wesen behandeln. Dadurch mentalisieren wir das Baby, und das Baby merkt dadurch: aha, die anderen sind keine Roboter, oder: „Mama denkt, dass ich denke, also denke ich, also bin ich“. 18 19
Ebd. Merleau-Ponty, Maurice, Zeichen (Signes, dt.) (Philosophische Bibliothek 590), Hamburg 1960 / 2007, 246.
Einfühlung und Empathie
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To empathize with somebody, könnte man im Englischen sagen. Im Deutschen gibt es das Verbum „empathisieren“ nicht, wir bleiben beim ursprünglichen „einfühlen“. Kehren wir nun zu den Eingangszitaten zurück, zur Frage des EmpathyDefizits (Hypo-Empathie), aber auch zur möglichen Gefahr der Hyper-Empathie, die wegen unseres meliorativen Sprachgebrauchs kaum reflektiert wird. Heinz Kohut ist ohne Zweifel der Psychoanalytiker, der im 20. Jahrhundert am stärksten Empathie und damit zusammenhängende Konzepte durchdacht hat. In der deutschen Übersetzung haben nun die Übersetzer, u. a. Lotte Köhler, „empathy“ nicht mit „Empathie“ übersetzt, sondern mit „Einfühlung“. Sie schreiben dazu: „Die Wahl der richtigen deutschen Übersetzung für ‚empathy‘ war nicht leicht. Zwar hat sich ‚Empathie‘ als Terminus technicus in deutschen psychoanalytischen Arbeiten eingebürgert. Der Übersetzer hat sich nach vielen Überlegungen und Diskussionen entschieden, überwiegend das anschauliche Wort ‚Einfühlung‘ zu verwenden, und zwar, weil ihn Freuds Gedanke überzeugt hat: ‚Sie werden es wahrscheinlich beanstanden, daß wir zur Bezeichnung unserer beiden seelischen Instanzen oder Provinzen einfache Fürwörter gewählt haben, anstatt wohllautende griechische Namen für sie einzuführen. Allein wir lieben es in der Psychoanalyse, im Kontakt mit der populären Denkweise zu bleiben und ziehen es vor, deren Begriffe wissenschaftlich brauchbar zu machen, anstatt sie zu verwerfen. Es ist kein Verdienst daran, wir müssen so vorgehen, weil unsere Lehren von unseren Patienten verstanden werden sollen, die oft sehr intelligent sind, aber nicht immer gelehrt‘.“20 Kohut beschreibt zwei Extreme:
20
1.
Einmal die unangebrachte Verwendung der Einfühlung in Bereichen außerhalb des Gebietes komplexer psychischer Zustände, gewissermaßen eine Konsequenz aus einem falschverstandenem Panpsychismus, nämlich prä-rationale, animistische Wahrnehmungen der Außenwelt, die überall Geister sehen oder überall Bezüge auf mich und, gewissermaßen eine Über-Empathie, eine Über-Einfühlung in die Umwelt, die sich nicht mehr von der Fremdheit der Natur und auch anderen Menschen abgrenzen kann.
2.
Zum anderen die Hypo-Empathie, die Unfähigkeit, die Einfühlung im psychischen Bereich zu verwenden. So gibt es innerhalb des AutismusSpektrums Personen, denen es sehr schwer fällt, Gedanken zu lesen, wie wir sagen, und die eine eher mechanistische und leblose Auffassung der psychischen Realität auch anderen Menschen haben. Hypo-Empathizer müssen z. B. auf andere Menschen politische oder psychologische Gesetze anwenden, weil sie nicht unmittelbar in der Lage sind, zu dekodieren, was
Kohut, Heinz, Einfühlung (Empathie), in: Rass, Eva / Köhler, Lotte (Hg.), Gesammelte Werke 4: Narzissmus. Gießen 1971 / 2016, 338-346, hier 338.
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Eckhard Frick SJ der andere Mensch will. Vielleicht ergreifen sie auch einen Psycho-Beruf, um damit anderen Menschen näher zu sein.
Angesichts beider Extreme lehrt uns Kohut: Einfühlung ist ein Instrument, das wir brauchen, um andere Menschen wahrzunehmen, ein Instrument „sui generis“. Aber weder bewirkt dieses Instrument aus sich heraus Veränderungen noch macht es uns zu besseren Menschen. Vielmehr ist das Instrument der Einfühlung ethisch indifferent, für das beste Verstehen in Ethik und Psychotherapie genauso offen wie für die Perversion des Folterers, Geiselnehmers und Misshandlers. Die frühe Begriffsgeschichte von „Einfühlung“ sowie die Geschichte der Übersetzung ins Englische als „empathy“ kann uns durchaus helfen, sowohl den EmpathieBegriff als auch den etwas altmodischer klingenden Einfühlungsbegriff neu zu bedenken: Es gibt verblasste Aspekte der Empathie, die aber weiterhin mitschwingen, insbesondere der Panpsychismus. Unser Verhältnis zur belebten und zur unbelebten Natur ist ein Hiatus, den wir durch „Einfühlung“ zu überbrücken versuchen, auch wenn uns diese Redeweise heute nicht mehr so geläufig ist wie dies bei Herder sowie bei Vater und Sohn Vischer der Fall war. Die Geschichte der Übersetzung ins Englische macht jedoch klar, dass „Einfühlung“ zunächst den Hiatus zur fremden Natur überbrückte und erst sekundär den Hiatus zur Fremdheit des Mitmenschen. Gleichzeitig mit der Rückentlehnung von „empathy“ ins Deutsche hat die normative Aufladung zugenommen, was zur Folge hat, dass niemand „hypoempathisch“ oder gar „un-empathisch“ sein möchte. Nur wenn wir nüchtern die Empathie als einen deskriptiven Begriff wiedergewinnen, können wir das durchaus mögliche Risiko der Hyper-Empathie in den Blick bekommen. Donald Winnicott gab sich, allen Überhöhungen zum Trotz, mit dem Ideal der „normally devoted mother“21 zufrieden. Vielleicht sollten wir auch in Medizin, Psychotherapie und Seelsorge, in allen helfenden Berufen die Ansprüche an Empathie herunterschrauben – in nüchterner Selbst-Einfühlung.
21
Vgl. Winnicott, Donald W., The ordinary devoted mother and her baby, London 1949.
„In der Welt habt ihr Angst“ (Joh 16,33)
Pastoralpsychologische Überlegungen zur Angstbewältigung
Thomas Schnelzer Angst ist eine anthropologische Grundtatsache und insofern jedem Menschen aus eigenem Erleben bekannt. In zahlreichen seiner Äußerungen ist das menschliche Dasein von Angst gezeichnet. Dem Wort Jesu, mit dem wir den vorliegenden Beitrag überschrieben haben, dürfte kaum jemand widersprechen. Den Einzelnen kann die Angst hemmen und lähmen. Dementsprechend wird Angst als Bedrängnis im Sinne von Bedrückung und Einengung erlebt und den erhebenden und befreienden Gefühlen wie Freude und Hoffnung gegenübergestellt. Andererseits zeigt sich aber auch, dass die Angst „eine gesteigerte Aufmerksamkeit und motorische Anspannung mit sich bringt, also gerade das Gegenteil einer Lähmung oder Hemmung.“1 Grundsätzlich gilt: „Nur wer sich ihr stellt und lernt, Angst zu meistern, entwickelt sich weiter; wer einer Auseinandersetzung mit ihr ausweicht, wird gehemmt und stagniert in seiner Entwicklung“. 2 Aus psychologischer Sicht steht außer Frage, dass Angst ein zentrales Phänomen darstellt: Sie gilt als die zentrale Emotion sowohl im Bereich der Normalpsychologie als auch im Bereich der Psychopathologie. Das bedeutet: Sowohl seelisch gesunde als auch seelisch kranke Menschen sind immer wieder mit Angst konfrontiert und müssen einen Weg des angemessenen Umgangs mit ihr finden. Leider ist das Thema Angst in letzter Zeit zu einer ganz besonderen Aktualität gelangt angesichts der Bedrohung durch terroristische Anschläge. Es ist aber, so der Psychoanalytiker F. Riemann, „eine unserer Illusionen zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können […] sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit 3“. Hier deutet sich bereits an, dass Angst und Todesangst in einer wichtigen Beziehung zueinander stehen. Wir werden darauf zurückkommen (vgl. insbesondere 4.).
1
2 3
Fischer, Peter, Furcht und Phobie, Angst und Depression. Zur begrifflichen Strukturierung eines Phänomenbereichs, in: Fischer, Peter / Krohne, Heinz Walter, Angst und Furcht, Göttingen 2017, 7-48, hier 7. Krohne, Heinz Walter, Angst, Furcht und Stress, in: Fischer / Krohne (wie Anm. 1), 49-92, hier 49. Riemann, Fritz, Grundformen der Angst (1961), München 321999, 19.
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Thomas Schnelzer
Auf dem Hintergrund des Gesagten möchte ich im Folgenden grundlegende Aspekte der Angst verdeutlichen und Hinweise für einen angemessenen Umgang mit ihr geben. Zunächst soll geklärt werden, was Angst überhaupt ist (vgl. 1.) Dann möchte ich normale und krankhafte Ängste voneinander abgrenzen, um deutlich zu machen, dass Angst keineswegs immer Ausdruck eines seelischen Leidens ist, sondern eine wichtige Schutzfunktion hat (vgl. 2). Anschließend soll ein Überblick über die wichtigsten Formen der Angststörungen, ihre Symptome, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten gegeben werden (vgl. 3.). Am Ende möchte ich noch auf eine ganz besondere Form der Angst – die Angst vor dem Tod – zu sprechen kommen (vgl. 4.). Dabei wird es in besonderer Weise um deren Beziehung zu Theologie und Glaube gehen, d. h. es wird zu fragen sein, ob es sich bei der Angst vor dem Tod um eine Angst handelt, die – wie andere Ängste auch – allein psychologischpsychotherapeutisch angegangen werden kann oder ob es zu deren Bewältigung einer religiösen Perspektive bedarf. Unter methodischen Aspekten bedeutet dies, dass im vorliegenden Beitrag die Perspektive der Pastoralpsychologie substantiell eingebracht wird. Diese verdankt sich der „Einsicht in die Notwendigkeit einer anthropologisch gewendeten Theologie“4, die den Dialog mit der Psychologie als der wichtigsten Humanwissenschaft unausweichlich macht. Das bedeutet: Die Theologie, vornehmlich die Pastoraltheologie musste einerseits erkennen, dass sie weder theoretisch noch praktisch ohne psychologische und psychotherapeutische Konzepte auskommt, wenn sie dem Menschen gerecht werden möchte. Andererseits hat sich der (Pastoral)Theologie „die Idee einer theologischen Lektüre psychologischer Erkenntnisse“ 5 erschlossen. Letzteres bedeutet: Gegen den unkritischen Import psychologischer Konzepte hat der Pastoralpsychologie als theologischer Wissenschaft stets klar zu sein, dass, insofern nötig, theologische Ergänzungen oder gar Korrekturen anzubringen sind, die der Unableitbarkeit des im Glauben Erschlossenen geschuldet sind. Sie hat insofern eine Dimension einzubringen, die der Psychologie per definitionem unzugänglich ist. Wir werden sehen, dass dieser genuin theologische Aspekt in dem vorliegenden Beitrag, wenn es um die Bewältigung der Angst vor dem Tod geht (vgl. 4.), von erheblicher Bedeutung ist.
4 5
Schnelzer, Thomas, Psychologie und Theologie, in: LThK Bd. 8, 1999, Sp. 726f, hier 726. Baumgartner, Isidor, Pastoralpsychologie, Düsseldorf 1990, 53.
Pastoralpsychologische Überlegungen zur Angstbewältigung
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1. Was ist Angst? 1.1 Definition von Angst Psychologisch gesehen könnte man Angst verstehen als „ein unangenehmes Gefühl, das uns angesichts einer Gefahr überfällt oder in Erwartung einer bedrohlichen Situation in uns aufsteigt“6 – verbunden mit einem ebenfalls als unangenehm erlebten körperlichen Erregungszustand.
1.2 Ebenen der Angst Über eine solche Begriffsbestimmung hinaus ist es aufschlussreich, verschiedene Ebenen der Angst zu unterscheiden. Dadurch wird deutlich, dass die Erfahrung von Angst den ganzen Menschen erfasst: Sein subjektives Erleben, sein Verhalten sowie seinen Körper. Im Einzelnen lassen sich drei Ebenen der Angst unterscheiden.7 a) Ebene des subjektiven Erlebens (Denken und Fühlen)
Sorgen und Befürchtungen Gedanken an Gefahr, Bedrohung und Hilflosigkeit Gedanken zur Vermeidung oder Kontrolle der befürchteten Situation („Was kann ich tun angesichts der bedrohlichen Situation?“)
b) Ebene des beobachtbaren Verhaltens
Vermeidungsverhalten, Flucht, Unterwerfung Erstarrung Kampf, Sich-Wehren
c) Ebene der körperlichen Begleiterscheinungen
6 7
Puls- und Atembeschleunigung, Herzjagen Schweißausbrüche, Zittern Diffuse Bauchschmerzen, Magendruck, Übelkeit
Fischer (wie Anm. 1), 7. Lukesch, Helmut, Einführung in die Pädagogische Psychologie, Regensburg 42006, 223f.
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Thomas Schnelzer
1.3 Angst und Furcht Zuweilen wird versucht, Angst und Furcht voneinander zu unterscheiden. Zwar seien beide Emotionen, die sich auf eine Gefahr oder Bedrohung beziehen. Es bestehe aber ein gravierender Unterschied.8
Furcht bezieht sich auf Situationen, in denen die Gefahr klar und eindeutig auszumachen (z. B. Giftschlange) und zu bewältigen ist. Angst bezieht sich dagegen auf Situationen, in denen die Gefahren komplex und unbestimmt sind, so dass eine angemessene Reaktion kaum möglich ist („diffuse“ Ängste).
Diese Unterscheidung ist in jedem Fall im klinischen Bereich wichtig, wenn es darum geht, diffuse Angststörungen von phobischen Angststörungen zu unterscheiden (vgl. 3.1 und 3.2). Dennoch lässt sich gegen eine prinzipielle Unterscheidung von Angst und Furcht Folgendes einwenden. 9
Es besteht häufig ein kontinuierlicher Übergang zwischen konkreten und diffusen Ängsten. Ein nicht real gegebener angstauslösender Reiz muss nicht zwangsläufig unbestimmt sein. Konkrete Ängste können ein Versuch sein, diffuse Ängste zu bewältigen, weil sich konkrete Gefahrensituationen leichter vermeiden lassen (vgl. 3.3).
All diese Aspekte lassen sich an der Angst (oder Furcht?) vor Terroranschlägen verdeutlichen:
Die Angst, in einer Menschenansammlung in die Luft gesprengt zu werden: Ist diese wirklich diffus, wie man uns verschiedentlich glauben machen will? Auch wenn in einer bestimmten Situation – z. B. einer Menschenansammlung – ein Gefahrenreiz nicht konkret wahrnehmbar ist: Das reale Ausmaß der Bedrohung ist unbekannt (Wie viele potentielle Täter sind im Land?). Die Meidung von Massenveranstaltungen (Fußballspiel, Open-Airs) kann als Versuch gelten, eine unklare Bedrohungslage durch konkretes Verhalten zu bewältigen. Das Gefühl absoluter Sicherheit entsteht dadurch freilich nicht.
Insgesamt gibt es also gute Gründe dafür, Angst und Furcht weitgehend synonym zu gebrauchen, also nicht streng auseinander zu halten.
8 9
Vgl. etwa Becker, Eni, Angst, München 2011, 9-13. Vgl. Schnelzer, Thomas, Tod, Angst und Religion. Zur Begründung einer therapeutischen Theologie, Hamburg 2012, 27-30; zur Diskussion vgl. Krohne (wie Anm. 2), 58-63.
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2. Zur Abgrenzung von normaler und pathologischer Angst Die Abgrenzung von normaler und pathologischer Angst stellt eine „grundlegende Notwendigkeit“ 10 dar. Häufig wird so getan, als sei Angst prinzipiell krankhaft oder zumindest negativ, z. B. ein Ausdruck von Feigheit. Häufig ist zu hören oder zu lesen, Angst sei ein „schlechter Ratgeber“ oder: „Wir lassen uns keine Angst machen“. Diese Auffassung verkennt, dass Angst zu unserer natürlichen psychischen Ausstattung gehört und die lebenswichtige Aufgabe hat, vor Gefahren zu warnen. Zugleich markiert sie wichtige Entwicklungsschritte, die nicht etwa die Leugnung der Angst erfordern, wohl aber die Bereitschaft, diese zu überwinden im Sinne einer zu lösenden Entwicklungsaufgabe. Diese „normalen“ Aspekte der Angst möchte ich im Folgenden erläutern (vgl. 2.1), bevor ich auf die Kriterien für pathologische Angst (vgl. 2.2) eingehe.
2.1 „Normale“ Angst a) Angst als Gefahrensignal Es steht außer Frage, dass Angst zum biologisch verankerten Verhaltensrepertoire des Menschen gehört. Sie hat eine wichtige Schutzfunktion im Sinne eines Gefahrensignals. Bei einer wahrgenommenen Bedrohung werden Vermeidungs- und Fluchtreaktionen aktiviert bzw. Verhaltensweisen, die Unterwerfung signalisieren. Je nach Einschätzung der Situation kommt es aber auch zu Verhaltensweisen, die darauf abzielen, durch Kampf Angriffe abzuwehren bzw. selbst anzugreifen. 11 Es handelt sich bei dieser Angst um Realangst; sie signalisiert einen Konflikt zwischen dem bedrohten Ich (= die psychische Instanz, die die Beziehung des Individuums zur Umwelt regelt) und einer bedrohlichen Realität. Nicht zuletzt die Tiefenpsychologie hat mit Recht herausgestellt, dass Angst eine biologisch-genetische Basis hat, d. h., dass der Mensch mit der angeborenen Fähigkeit ausgestattet ist, mit Angst zu reagieren, und dass diese Fähigkeit über „einen entscheidenden Wert für das Überleben des Einzelnen“12 verfügt. Angst ist also der Ausdruck des biologisch begründeten Drangs nach Selbsterhaltung. Daraus ergibt sich wiederum, dass die Kehrseite dieses Drangs nach Selbsterhaltung die Angst vor dem Tod ist; gegen diese Angst richtet sich der Wunsch nach Selbsterhaltung. Laut dem Psychoanalytiker G. Zillboorg ist diese Angst nichts anderes als der affektive Aspekt dieses Wunsches.13 Das bedeutet: Die To10
Benecke, Cord, Klinische Psychologie und Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch, Stuttgart 2014, 296. 11 Vgl. ebd., 57. 12 Brenner, Charles, Grundzüge der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1989, 73. 13 Vgl. Zillboorg, Gregory, Fear of death, in: Psychoanalytic Quarterly 12 (1943), 465-475, hier 467.
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desangst ist die emotionale Kraft, die zur Selbsterhaltung motiviert. Sie ist überlebenswichtig und hat von daher viel mit Realitätsbezug zu tun: „Damit eine Kreatur überlebt, muss sie Flucht- und Abwehrtriebe entwickeln […]. Sie muss das wirkliche Verhältnis ihrer Kräfte gegenüber einer Welt voller Gefahren einschätzen können. Realität und Furcht sind ein naturbedingtes Gespann“.14 Diese Zusammenhänge sind durch die Evolution grundgelegt, d. h. unter den frühen Menschen hatten „diejenigen, die ihre eigene Situation innerhalb der Natur am nüchternsten betrachteten auch die meiste Angst […]. Deshalb vermittelten sie ihren Nachkommen eben jenen Wirklichkeitssinn, der ihnen später eine hohe Überlebensquote sicherte.“15 Auf diesem Hintergrund ist dem verbreiteten Spruch „Angst ist ein schlechter Ratgeber“ nach dem Psychotherapeuten J. Wijnberg aus psychologischer Sicht Folgendes entgegenzuhalten: „Was für einen Rat gibt die Angst? Grundsätzlich sagt sie: Pass auf, sieh dich vor, geh weg, lass das oder geh zum Angriff über. Starke Angstgefühle veranlassen den Menschen, entweder zu flüchten oder zu kämpfen. Dieser Impuls hat seine Wurzeln in der biologischen Disposition des Menschen: Im Fall der Bedrohung muss er sich schützen.“16 Eine solche Angst ist keineswegs pathologisch, sondern Ausdruck von Realitätsbezug: „Angst ist nicht nur real, weil sie wirklich erlebt wird, sondern auch, weil sie von Realitätssinn zeugt. Irrational denken viel eher die Menschen, die keine Angst kennen und sich selbst in die Tasche lügen.“ 17 Insofern muss die Unfähigkeit, Angst zu erleben, als pathologisch angesehen werden. Das bedeutet: Wie Tiere haben auch Menschen einen automatisch funktionierenden Überlebensmechanismus, der sinnvoll ist, so dass Angst nicht grundsätzlich bekämpft oder krampfhaft überwunden werden sollte. b) Angst als Entwicklungsaufgabe Normale Angst verfügt über einen Doppelaspekt: Wie gesagt, ist Angst stets ein Signal, das vor Gefahren warnt; gleichzeitig enthält sie „einen Aufforderungscharakter, nämlich den Impuls, sie zu überwinden“18 im Sinne einer Entwicklungsaufgabe. Entwicklungsaufgaben im Sinne von R. J. Havighurst (1948) sind solche 14 15 16 17 18
Becker, Ernest, Dynamik des Todes. Die Überwindung der Todesfurcht, Freiburg i. Br. 1976, 41. Ebd. Wijnberg, Jeffrey, Couch ade!, München 2005, 109. Ebd. Riemann (wie Anm. 3), 21.
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Anforderungen, die sich dem Individuum im Laufe der Lebensjahre stellen und die in spezifischer Weise bewältigt werden müssen. Dabei sind vor allem größere Entwicklungsübergänge von besonderer Bedeutung, so beim Eintritt in den Kindergarten, beim Übergang in die Schule bzw. später in weiterführende Schulen, in die Pubertät, ins Berufsleben oder beim Eingehen einer Partnerschaft. Dabei sind diese Entwicklungsaufgaben normativ, d. h.: Ihre Bewältigung kann nicht verweigert werden, ohne dass die Reifung und damit das seelische Wohlbefinden darunter leiden. Darüber hinaus gilt, dass die Entwicklungsaufgaben mit Angst einhergehen, da sie in bisher Unbekanntes führen. F. Riemann formuliert diesen Gedanken in seinen berühmten „Grundformen der Angst“ wie folgt: „Angst tritt immer dort auf, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere oder äußere Situationen, die wir noch nicht und in denen wir uns noch nicht erlebt haben. Alles Neue, Unbekannte, Erstmals-zu-Tuende oder Zu-Erlebende enthält, neben dem Reiz des Neuen, der Lust am Abenteuer und der Freude am Risiko, auch Angst. Da unser Leben immer wieder in Neues, Unvertrautes und noch nicht Erfahrenes führt, begleitet uns Angst immerwährend. Sie kommt am ehesten ins Bewusstsein an besonders wichtigen Stellen unserer Entwicklung, da, wo alte, vertraute Bahnen verlassen werden müssen, wo neue Aufgaben zu bewältigen oder Wandlungen fällig sind. Entwicklung, Erwachsen-Werden und Reifen haben also offenbar viel zu tun mit Angstüberwindung, und jedes Alter hat seine ihm entsprechenden Reifungsschritte mit den dazugehörenden Ängsten, die gemeistert werden müssen, wenn der Schritt gelingen soll. Es gibt demnach völlig normale, alters- und entwicklungsgemäße Ängste, die der gesunde Mensch durchsteht und überwächst, deren Bewältigung für seine Fortentwicklung wichtig ist.“ 19 Als konkrete Beispiele führt Riemann an: „Denken wir etwa an die ersten selbständigen Laufschritte des Kindes, bei denen es erstmals die haltende Hand der Mutter loslassen und die Angst vor dem Alleingehen, vor dem Alleingelassenwerden im freien Raum überwinden muss. Oder denken wir an die großen Zäsuren in unserem Leben. Nehmen wir den Schulanfang, wo das Kind aus dem Schoß der Familie in eine neue und zunächst fremde Gemeinschaft hineinwachsen und sich in ihr behaupten soll. Nehmen wir die Pubertät und die ersten Begegnungen mit dem anderen Geschlecht unter dem Drang erotischer Sehnsucht und sexuellen Begehrens; oder denken wir an den Berufsbeginn, an die Gründung einer eigenen Familie, an die Mutterschaft und schließlich an das Altern und die Begegnung mit dem Tod
19
Ebd., 22.
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– immer ist an einen Anfang oder vor ein erstmals zu Erfahrendes auch eine Angst gesetzt.“20 Daraus geht hervor, dass das Zurückweichen vor der Angst keine Option sein kann, wenn es um eine angemessene seelische Entwicklung geht. Nur „das Annehmen und das Meistern der Angst“ – so Riemann – „bedeutet einen Entwicklungsschritt, lässt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr lässt uns dagegen stagnieren; es hemmt unsere Weiterentwicklung und lässt uns dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht überwinden.“ 21 Dies gilt nicht zuletzt in Bezug auf den Tod.
2.2 Pathologische Angst Angst kann jedoch auch krankhaft entgleisen. So sinnvoll sie als Gefahrensignal ist, so groß ist ihre potentielle Nähe zu psychischen Störungen, denn „Angst gehört zu den Grundvorgängen seelischen Krankseins überhaupt. Die meisten psychischen Störungen sind von Angst begleitet.“ 22 Pathologische Angst ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:23
Die Angstreaktionen werden von den betroffenen Personen ungewöhnlich intensiv und häufig erlebt. Die Angstreaktionen treten überdauernd, d. h. über einen längeren Zeitraum, auf. Die Angstreaktionen kommen in unangemessenen, d. h. „objektiv ungefährlichen“ Situationen vor: Es gibt keine sachlichen Grund dafür, sich gefährdet oder bedroht zu fühlen. Es kommt zu einer Erwartungsangst, der „Angst vor der Angst“. Die betroffene Person ist nicht dazu in der Lage, die Angst zu kontrollieren und zu bewältigen, sie ist ihr hilflos ausgeliefert; es kommt deshalb zu Rückzugs- und Vermeidungsverhalten mit entsprechenden Beeinträchtigungen zentraler Lebensbereiche (soziale Beziehungen, Beruf, Freizeit). Aus dieser Beeinträchtigung resultiert ein erheblicher Leidensdruck für die betreffende Person.
Sind derartige Kriterien erfüllt, sollte die Frage der Behandlung einer wahrscheinlich vorliegenden Angststörung geklärt werden.
20 21 22 23
Ebd. Ebd., 21. Tölle, Rainer / Windgassen, Klaus, Psychiatrie, Heidelberg 162011, 82. Vgl. Benecke (wie Anm. 10), 296.
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3. Formen von Angststörungen Was die einzelnen Angststörungen anbelangt, betrifft eine wichtige Unterscheidung die Frage, ob ein äußerer Auslösereiz für das Erleben von Angst gegeben ist oder nicht. Dementsprechend unterscheidet man diffuse von phobischen Angststörungen.24 Unter dem Begriff diffuse Angststörungen werden Angstsyndrome, d. h. typische Muster von Angstsymptomen, zusammengefasst, die durch „ungebundene“, d. h. nicht konkrete „diffuse“ Ängste gekennzeichnet sind, d. h.: Ein äußerer Auslösereiz ist nicht erkennbar bzw. wird von den Betroffenen nicht wahrgenommen. Sie umfassen die Panikstörung und die generalisierte Angststörung (vgl. 3.1-3.2). Der Begriff Phobie (griech. phobos) bedeutet Angst und Schrecken, aber auch Flucht. Er bezeichnet „gebundene“ Ängste, bei denen die angstauslösenden Reize bzw. Bedingungen gemieden werden können. Dementsprechend sind phobische Angststörungen Angsterkrankungen, bei denen die Ängste gebunden sind – im Gegensatz zu diffusen Angststörungen. Zu den phobischen Angststörungen gehören: die Situationsphobien, soziale Phobien und isolierte Phobien (vgl. 3.3). Im Folgenden sollen diese Störungsbilder im Einzelnen dargestellt werden sowie Hinweise zu ihren Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten gegeben werden.25 Dabei wird das inzwischen im Bereich der klinischen Psychologie allgemein anerkannte bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit bzw. Störung/Krankheit zugrunde gelegt. Es besagt, dass drei Faktoren – biologisch-organische, psychische und (psycho)soziale – bei der Verursachung und dem Verlauf psychischer Störungen mehr oder weniger von Bedeutung sind, und zwar für sich genommen, aber auch, insofern sie in Wechselwirkung zueinander stehen. Daher werden sowohl bei den Erklärungsansätzen als auch bei der Therapie der Angststörungen sowohl biologische als auch psychologisch-psychotherapeutische Perspektiven berücksichtigt. Dabei ist die Beschränkung der psychotherapeutischen Ansätze auf tiefenpsychologische und kognitive bzw. verhaltenstherapeutische Verfahren dem Umstand geschuldet, dass diese aufgrund ihrer nachgewiesenen Wirksamkeit Eingang in das System der kassenärztlichen Versorgung gefunden haben.
24
Vgl. Ermann, Michael, Psychotherapie und Psychosomatik. Ein Lehrbuch auf psychoanalytischer Grundlage, Stuttgart 62016, 241-248. 25 Vgl. Benecke (wie Anm. 10), 296-319; Ermann (wie Anm. 24), 237-255; Köhler, Thomas, Psychische Störungen. Symptomatologie, Erklärungsansätze, Therapie, Stuttgart 32017, 159-172; Stemmer-Lück, Magdalena, Verstehen und Behandeln von psychischen Störungen. Psychodynamische Konzepte in der psychosozialen Praxis, Stuttgart 2009, 136-157; Hoffmann, Sven O. u. a., Neurotische Störungen und psychosomatische Medizin, Stuttgart 82009, 90-141.
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3.1 Panikstörungen (Angstattacken) a) Symptomatik
Wiederkehrende schwere Angstanfälle: Es kommt zu intensiven Gefühlen der Bedrohung und Beklemmung bis hin zu Vernichtungs- und Todesängsten, die einige Minuten, aber auch bis zu einer Stunde dauern können. Entfremdungsgefühle: Die Wirklichkeit und der eigene Körper werden als fremd erlebt (Derealisation bzw. Depersonalisation). Typischer Beginn sind Herzklopfen, Brustschmerzen, Erstickungsgefühle und Schwindel. Der Betreffende flüchtet aus der Situation, in der die Attacke auftritt, etwa aus einer Menschenmenge, und vermeidet in Zukunft entsprechende Situationen. Im anfallfreien Intervall herrschen Angst vor dem Alleinsein und die „Angst vor der Angst“ vor. Körperliche Begleitsymptome sind: Atemnot, Hyperventilation, Herzrasen und -stolpern, Zittern und Schwitzen.
b) Erklärungsansätze (1) Biologische Modelle Es besteht eine genetisch bedingte Bereitschaft, die zur Überaktivität bestimmter Hirnregionen führt. Als Beleg dafür gilt: Klinisch unauffällige Verwandte von Betroffenen entwickelten überdurchschnittlich häufig Angstattacken, wenn sie Luft mit erhöhter CO2-Konzentration einatmeten (unter experimentellen Bedingungen).26 (2) Tiefenpsychologische Modelle Angstauslöser bestehen nicht in konkret greifbaren äußeren psychosozialen Situationen, sondern im Erleben einer diffusen Gefährdung, etwa wenn innere oder äußere Vorgänge das Sicherheitsgefühl oder den inneren Halt in Frage stellen. Insofern sind die Angstanfälle nur bei oberflächlicher Betrachtung unmotiviert. 27 Typische Auslösesituationen für Panikstörungen sind tatsächliche, drohende oder auch imaginierte Verluste von Menschen, die den Kranken als Angstschutz dienen. „Häufig besteht eine Disposition durch nicht verarbeitete Trennungserfahrungen und traumatischen Objektverlust“. 28 Auf diesem Hintergrund können (auf der Basis eines Autonomie- und Abhängigkeitskonflikts) sogar aggressive oder auch nur 26 27 28
Vgl. Köhler (wie Anm. 25), 171. Vgl. Ermann (wie Anm. 24), 241f. Ebd., 242.
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autonome Strebungen, die sich von einer schützenden Person unabhängig machen wollen, zu Angstattacken führen, weil diese Strebungen zum Verlust dieser Person führen können. Durch die Symptome wird dann gewährleistet, dass der Betreffende in die schützenden Arme dieser Person zurückkehren kann.29 (3) Lerntheoretische Modelle Diese Modelle beziehen neben biologischen auch psychologische, näherhin kognitive Faktoren mit ein. Dabei geht das kognitive Modell der Angst (nach A. T. Beck) davon aus, dass Angst dadurch entsteht, dass Reize auf unangemessene Weise als gefährlich wahrgenommen und bewertet werden bzw. der Realitätsgehalt der Ängste nicht angemessen überprüft wird. Im Einzelnen besagt dieses auch „psychophysiologisch“ genannte Modell Folgendes: Kleine körperliche Veränderungen (z. B. eine leichte Erhöhung der Herzfrequenz) werden als bedrohlich interpretiert, etwa als Vorbote eines Herzinfarkts; die so ausgelöste Angst führt zu weiteren Veränderungen. Ein wichtiger Mechanismus scheint die Hyperventilation zu sein, d. h. die übermäßige Ausatmung von CO2, die u. a. zu einem veränderten Calciumpegel führt; dadurch kommt es wiederum zu Schwindel, Missempfindungen und Muskelverkrampfungen, die die körperlichen Symptome sowie die Angstsymptome verstärken (= positive Rückkoppelung: Selbstverstärkung der körperlichen und psychischen Angstsymptomatik).30 c) Therapie (1) Medikamentöse Therapie Gegen einen akuten Panikanfall werden Benzodiazepine gegeben, die angstlösend und beruhigend wirken, jedoch abhängig machen. Zur Langzeitbehandlung eignen sich verschiedene Antidepressiva. (2) Tiefenpsychologische Therapie Tiefenpsychologische Therapie beruht darauf, dass der Patient Einsicht in die unbewusst-konflikthaften Hintergründe seiner Symptomatik gewinnt, um den betreffenden Konflikt bewusst und damit besser lösen zu können. Sie ist „bei allen Arten der Angsterkrankungen indiziert, wenn eine Bereitschaft zur Klärung von individuellen Konflikten besteht. Das Ziel ist, die Bedeutung von angstauslösenden Situationen und ihre Verankerung in der Persönlichkeit zu verstehen und eine emotionale Veränderung herbeizuführen.“31 Allerdings wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass tiefenpsychologische Behandlungsformen allein bei Angststörun29 30 31
Vgl. Hoffmann (wie Anm. 25), 101. Vgl. Köhler (wie Anm. 25), 170. Ermann (wie Anm. 24), 254.
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gen nicht ausreichend sind. „Sie müssen durch verhaltenstherapeutische und/oder kognitive Techniken ergänzt werden.“32 (3) Kognitive Verhaltenstherapie Von besonderer Bedeutung bei der Behandlung von Panikstörungen ist die Verhaltenstherapie unter Einbeziehung kognitiver Verfahren. Das Prinzip der verhaltenstherapeutischen Angstbehandlung beruht auf der Einsicht, dass Vermeidungsverhalten die Angst aufrechterhält. Deshalb geschieht eine Konfrontation mit der angstauslösenden Situation, aus der der Betreffende nicht ohne weiteres fliehen kann (Exposition mit Reaktionsverhinderung). Dadurch macht der Betreffende die Erfahrung: Die ängstigende Situation ist auszuhalten, ohne dass die befürchteten Folgen eintreten (kognitive Neubewertung); zugleich nimmt die Angst nach und nach ab (Habituation). Dabei werden angstbewältigende Strategien eingesetzt, z. B. Entspannungsverfahren (z. B. Progressive Muskelentspannung) und bestimmte Atemtechniken, da Entspannung ängstigende Gedanken und damit Angst vermindert. Der Grundgedanke der kognitiven Psychotherapie besteht darin, dass Angst durch falsche, dysfunktionale (= nicht hilfreiche) Weisen des Denkens und Bewertens entsteht; diese müssen herausgearbeitet und verändert werden (z. B. Katastrophisieren). Zugleich wird der Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen deutlich gemacht. Was die Behandlung von Panikstörungen anbelangt, erhält der Patient zunächst Informationen über die Entstehung von Angstanfällen. Er lernt so zu verstehen, dass diese dadurch entstehen, dass harmlose körperliche Symptome als gefährlich fehlgedeutet werden, so dass Angst aufkommt, sich die körperlichen Symptome dadurch noch einmal verstärken, die Angst deshalb weiter zunimmt usw. Es werden zum einen Bewältigungsstrategien vermittelt. Hinzu kommt die Konfrontation mit der auslösenden Situation und mit den körperlichen Symptomen, die über Hyperventilation provoziert werden.33
3.2 Die generalisierte Angststörung a) Symptomatik Leitsymptome der generalisierten Angststörung sind vielfältige, nicht an bestimmte Objekte oder Situationen gebundene („frei flottierende“) Ängste, z. B. dem Betreffenden oder seinen Angehörigen könnte etwas (nicht näher Bestimmtes) zustoßen, so dass Todesangst sowie Verlustangst bestehen können. 34 32 33 34
Stemmer-Lück (wie Anm. 25), 151. Vgl. Köhler (wie Anm. 25), 172. Vgl. Ermann (wie Anm. 24), 243.
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b) Erklärungsansätze (1) Biologische Modelle Wie bei der Panikstörung wird die genetisch bedingte Bereitschaft bestimmter Hirnregionen, verstärkt mit Angst zu reagieren angenommen. (2) Tiefenpsychologische Modelle Diese sind identisch mit den Erklärungsversuchen der Panikstörung, da die generalisierte Angststörung häufig nichts anderes ist als eine „Generalisierung von Panikstörungen.“35 (3) Lerntheoretische Modelle Diese Generalisierung der Panikstörungen lässt sich lerntheoretisch erklären: Die Angstanfälle werden mit bestimmten Umgebungsmerkmalen verbunden, die dann – im Sinne einer Konditionierung – wiederum Angstanfälle auslösen können. D. h.: In ähnlichen Situationen wird die Angst reproduziert. Daraus wiederum entsteht ein erhöhtes generelles Angstniveau mit gesteigerter Aufmerksamkeit für unbedeutende, gleichwohl als bedrohlich interpretierte Sachverhalte.36
3.3 Phobien a) Symptomatik Leitsymptom der Phobien ist die Angst vor im Allgemeinen ungefährlichen Situationen und Objekten, die ein entsprechendes Vermeidungsverhalten hervorruft. Dabei ist wichtig, dass die Betroffenen sowohl die Angst als auch das Vermeidungsverhalten als grundlos erkennen. (1) Situationsphobien Die Agoraphobie (agora [griech.] Marktplatz) oder Platzangst ist die häufigste Phobie; bis zu zwei Drittel aller Phobien beziehen sich auf den Aufenthalt auf Straßen, Plätzen oder überhaupt in der Öffentlichkeit, speziell in Versammlungen. Sie tritt auf, wenn das Haus allein verlassen werden soll, aber auch beim Warten in Schlangen, in Läden, in der U-Bahn u.v.a. Die Angst bezieht sich darauf, in Ohnmacht zu fallen, und ist meistens von starken vegetativen Symptomen (Herzrasen, Schwitzen) begleitet.
35 36
Ebd., 244. Köhler (wie Anm. 25), 171.
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Klaustrophobie (claustrum [lat.] Gefängnis) meint Ängste in geschlossenen Räumen, Fahrstühlen sowie in Menschenansammlungen. (2) Soziale Phobien Soziale Phobien betreffen die Angst vor dem Zusammensein mit Menschen. In Gegenwart anderer treten Ängste auf, häufig aber auch nur Angstkorrelate wie z. B. Erröten (Erythrophobie), Zittern oder Herzrasen, manchmal auch begrenzt auf bestimmte Tätigkeiten oder Absichten. Diese Ängste sind für die Betroffenen unverständlich, bisweilen aber auch mit der Befürchtung verbunden, kritisch beobachtet zu werden.37 Typische Situationen, in denen soziale Ängste auftreten, sind: Sich in Gegenwart anderer äußern; in der Öffentlichkeit eine Rede halten; bei einem bestimmten Anlass öffentlich in Erscheinung treten; Personen des anderen Geschlechts ansprechen; Essen und Trinken mit anderen (das Glas oder die Tasse heben ohne zu zittern); Teilnahme an Partys, Feiern, Treffen, Verabredungen, Geschäftsessen; Autoritätspersonen gegenübertreten; bei Benachteiligung um sein Recht kämpfen; berechtigte Kritik äußern.38 (3) Spezifische Phobien (Monophobien) Diese beziehen sich auf sehr eingegrenzte Situationen. Die Möglichkeiten für eine phobische Bindung der Angst sind unüberschaubar; Beispiele sind die Tierphobien (Schlangen, Spinnen, Mäuse), Ängste vor Höhen, Donner, Dunkelheit sowie die Zahnarztphobie. b) Erklärungsansätze (1) Biologische Modelle Wie bei den diffusen Angststörungen wir eine „gewisse angeborene Angstbereitschaft“39 angenommen. (2) Tiefenpsychologische Modelle Phobien werden durch den Abwehrmechanismus der Verschiebung erklärt. Das bedeutet: Eine frei schwebende, gegenstandslose Angst wird an ein konkretes Objekt oder Ereignis geheftet, vor dem der Betreffende dann Furcht empfindet. Diese Situationen bzw. Objekte haben den Vorteil, dass sie z. T. ohne ernsthafte Beeinträchtigungen gemieden werden können. 40 Das bedeutet: Das ursprüngliche Angst37 38 39 40
Vgl. Ermann (wie Anm. 24), 247. Vgl. Benecke (wie Anm. 10), 300. Köhler (wie Anm. 25), 162. Vgl. Schnelzer, Tod, Angst und Religion (wie Anm. 9), 29; 252.
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objekt wird gegen ein anderes vertauscht. Jenes wird nicht mehr erkannt, wenn z. B. die Angst, dem abwesenden Ehemann untreu zu werden auf „Einbrecher“ verschoben wird, gegen die man ja Verschiedenes unternehmen kann. Ein klassisches Beispiel ist die Pferdephobie von S. Freuds „kleinem Hans“, bei dem die Angst vor dem Vater durch die Angst vor Pferden ersetzt wurde. Wir werden sehen, dass der psychische Mechanismus der Verschiebung bei der Angst vor dem Tod eine besondere Rolle spielt (vgl. 4.3). (3) Lerntheoretische Modelle Hier liegen drei wichtige Ansätze vor:41 Das Zwei-Faktoren-Modell von N. E. Miller und O. H. Mowrer besagt: Ein ursprünglich neutraler Reiz bzw. eine ursprünglich neutrale Situation tritt mehrfach kombiniert mit einem unangenehmen Reiz bzw. einer unangenehmen Situation auf. Dadurch ist der ursprünglich neutrale Reiz bzw. die ursprünglich neutrale Situation allein in der Lage, Angst auszulösen (klassisches Konditionieren). Diese Reize bzw. Situationen werden fortan gemieden. Es kommt zu einer Reduktion von Angst, die dieses Vermeidungsverhalten aufrecht erhält (operantes Konditionieren). Bei traumatischen Phobien genügt ein einziges eindrucksvolles Erlebnis, z. B. bei einem Autounfall, dass damit verbundene Reize oder Situationen Angst auslösen können. Man spricht in diesem Fall von traumatischer Konditionierung. Beim Lernen am Modell (A. Bandura) werden Ängste von Vorbildern mit entsprechenden Ängsten übernommen. Das Konzept der Preparedness (M. E. P. Seligman) versucht zu erklären, warum bestimmte Reize oder Situationen bevorzugt Gegenstand von Phobien sind, obwohl sie weder häufig sind noch negative bzw. traumatische Erfahrungen damit wahrscheinlich sind: So werden Spinnen, Schlangen und Höhen häufig gefürchtet, Messer, Steckdosen und Autos hingegen viel seltener. Dabei dürften wir mehr negative Erfahrungen mit Autos als mit Spinnen haben. Deshalb geht man davon aus, dass bestimmte Angstobjekte biologisch „vorbereitet“ (= prepared) sind, insofern sie in der Stammesgeschichte für das Überleben eine wichtige Rolle gespielt haben. c) Therapie (1) Medikamentöse Therapie Benzodiazepine wirken akut angstlösend und beruhigend, machen jedoch abhängig und stören Wachheit und Konzentration; Betarezeptorenblocker mindern vegetative Angstsymptome (z. B. senken die Pulsfrequenz) und durchbrechen den Teufels-
41
Vgl. Becker (wie Anm. 8), 67-70; dort finden sich auch die Angaben zur Originalliteratur.
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kreis aus Symptom-Wahrnehmung und Angstentstehung; Bestimmte Antidepressiva (z. B. Citalopram) wirken auch gegen phobische Angststörungen. (2) Tiefenpsychologische Therapie Sie versucht den Prozess der Symptomentstehung zu verstehen bzw. den Prozess der Verschiebung der Angst rückgängig zu machen. Zugleich werden die unbewussten Konflikte, die bisher nicht gelöst werden konnten, bewusst gemacht, um diese einer Lösung näherzubringen; z. B. geht es im o. g. Beispiel darum, den Hintergrund der Einbrecherangst zu verstehen. Dabei „wird eine aktive Technik bevorzugt, in welcher der Patient veranlasst wird, sich der Angstsituation zu stellen.“42 (3) Kognitive Verhaltenstherapie Wie bei den Panikstörungen ist die Verhaltenstherapie unter Einbeziehung kognitiver Verfahren von besonderer Bedeutung (Konfrontation mit der angstauslösenden Situation, Entspannungsverfahren, kognitive Elemente; vgl. 3.1). Dabei kommen zwei Wirkmechanismen zum Tragen (vgl. 3.1), die Eni Becker wie folgt beschreibt: „Zum einen die natürliche Habituation: Wenn der Patient mit dem gefürchteten Stimulus konfrontiert wird, zeigt er zunächst eine sehr starke physiologische Angstreaktion. Diese klingt jedoch (gegeben der Stimulus und der Kontext verändern sich nicht) natürlicherweise langsam ab, die körperliche Erregung lässt nach. Der zweite Mechanismus ist die kognitive Neubewertung des Stimulus. Der Patient kann die – für ihn neue – Erfahrung machen, dass der Stimulus und vor allem die auftretende Angst ihm nicht schaden, sondern vorübergehen. Gerade dieser zweite Wirkmechanismus scheint besonders wichtig zu sein. Somit ist ein ganz zentraler Punkt der Konfrontationsbehandlung, dass die Kognitionen, die Überzeugungen des Patienten, verändert werden. Die neuen Erfahrungen zwingen den Patienten, die Situation und seine Reaktion neu zu bewerten.“43 Generell gilt bei Phobien eine Verbindung von verschiedenen Psychotherapieansätzen als besonders hilfreich. Eine Kombination von aktiven angstkonfrontierenden in Verbindung mit einsichtsfördernden tiefenpsychologischen Techniken „verspricht einen größeren Therapieerfolg als die alleinige Anwendung nur einer der beiden Techniken.“44
42 43 44
Ermann (wie Anm. 24), 254. Becker (wie Anm. 8), 87. Stemmer-Lück (wie Anm. 25), 142.
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4. Zur Angst vor dem Tod 4.1 Zum Zusammenhang von Angst und Todesangst Unser Blick auf die Angststörungen, insbesondere auf diejenigen diffuser Art (Panikstörung und generalisierte Angststörung; vgl. 3.1 bzw. 3.2) hat bereits gezeigt, dass pathologische Angst in einer engen Beziehung zur Todesangst steht, denn, so der Psychiater F. Strian, „die Ängste der Angstkrankheiten beziehen ihre Lebensbedrohlichkeit aus einer realistisch erlebten Todesangst.“ 45 Der Zusammenhang von Angst und Todesangst gilt für Strian jedoch auch in der Normalpsychologie; denn jede schwere Angst beinhaltet eine Bedrohung des Lebens und ist damit letztlich eine Angst vor dem Tod46 (vgl. auch 2.1). In diese Richtung gehen auch die Auffassungen des Psychiaters und Psychoanalytikers I. D. Yalom, der ebenfalls sowohl die Angst im normalpsychologischen Sinn als auch die psychopathologische Angst nur auf dem Hintergrund der Angst vor dem Tod für verstehbar hält: „Ich stelle die Behauptung auf, dass die Furcht vor dem Tod die primäre Quelle der Angst ist“ 47 und – damit geht er über Strian hinaus – als solche mit dem Menschsein an sich gegeben ist, d. h. philosophisch ausgedrückt eine anthropologische Grundbefindlichkeit des Menschen repräsentiert. Insofern deutet er psychopathologische Ängste lediglich als ungünstige Verarbeitungsformen normalpsychologischer (Todes)angst: Die Todesangst „spielt eine wesentliche Rolle in unserer Erfahrung, sie verfolgt uns wie nichts anderes; sie rumort ständig unter der Oberfläche, sie ist eine dunkle […] Präsenz am Rande des Bewusstseins […]. Um mit diesen Ängsten umgehen zu können, errichten wir Abwehrmechanismen gegen die Bewusstheit des Todes, […] die auf Verleugnung gründen […] und die, wenn sie nicht gut angepasst sind, zu klinischen Symptomen führen. Mit anderen Worten, Psychopathologie ist das Ergebnis ineffektiver Modi der Transzendenz des Todes“48 Das bedeutet: Niemand ist frei von Todesangst. Und diese Angst ist an sich keineswegs pathologisch. Insofern kann es nur darum gehen, um es in Anschluss an Yalom zu sagen, mit dieser Angst effektiv oder ineffektiv umzugehen. Dies lässt sich auch mittels einer existentiellen Fortführung der Bindungstheorie von J. Bowlby zeigen. 49 Dessen zentrale Konzeption einer primären Bindung (attachment, bonding) beschreibt eine angeborene Neigung des Menschen, starke Gefühlsbande zu wichtigen Personen seiner unmittelbaren Umgebung auszubilden. Trennung und 45 46 47 48 49
Strian, Friedrich, Angst und Angstkrankheiten, München 1995, 103. Vgl. ebd. Yalom, Irvin D., Existentielle Psychotherapie, Bergisch-Gladbach, 52010, 60. Ebd., 43. Bowlby, John, Verlust, Trauer und Depression, Frankfurt a. M. 1994; München 2006.
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Verlust solcher Bezugspersonen bewirken dementsprechend massive affektive Irritationen; das Kind spürt, dass dies einen Anschlag auf seine existentiellen Bedürfnisse bedeutet, der seine Lebensgrundlage bedroht; sich selbst überlassen, bricht seine Welt zusammen. „Damit spielen Trennungserlebnisse oder allein die Befürchtung solcher Erlebnisse für die Entstehung menschlicher Ängste eine entscheidende Rolle.“ 50 Die Frage, ob hinter dieser Angst bereits die unbewusste Angst vor dem Tod lauert, lässt sich getrost bejahen. In letzter Analyse bezieht die uns allen geläufige Trennungsangst ihren quälenden Ernst aus der Angst vor einem endgültigen Abschiednehmen-Müssen: Entweder weil geliebte Menschen uns für immer verlassen müssen oder wir selbst geliebte Menschen für immer verlassen müssen. In diesem Sinn stellt auch der Psychoanalytiker S. Mentzos heraus, dass die existentielle Angst vor dem Tod deutlich von krankhaften und damit zu behandelnden Ängsten unterschieden werden muss. Was jene Angst anbelangt, kann es nicht darum gehen, den Betreffenden zur Einsicht zu führen, dass er unnötigen Ängsten aufsitzt, wie dies bei den Angststörungen der Fall ist. Sie lässt sich nicht „dadurch, dass sie für irreal erklärt wird, überwinden, sondern allein durch Akzeptieren.“51 Insofern ist die Bewältigung dieser Angst, die sich aus der Grenzsituation des Daseins ergibt „keine Domäne der Psychotherapie. Letztere beschäftigt sich nur mit pathologischen Angstformen“. 52 Es geht damit bei der Bewältigung der Angst vor dem Tod nicht um Krankheitsbewältigung, sondern um „Vergänglichkeitsbewältigung“. Bevor ich darauf eingehe, wie dies möglich sein könnte (vgl. 4.3-4.4), möchte ich über das bisher Gesagte hinaus genauer klären, was mit Angst vor dem Tod im Einzelnen gemeint sein soll.
4.2 Dimensionen der Todesangst Wenn man Menschen fragt, was sie eigentlich beim Gedanken an den Tod fürchten, erhält man unterschiedliche Antworten. Für den einen ist es nicht der Tod an sich, sondern das möglicherweise schmerzhafte Sterben, das ihn ängstigt; andere erfüllt die Trennung von geliebten Menschen, der einsame „Alleingang“ in den Tod, das Ende der Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, mit tiefem Grauen. Wieder andere beunruhigt die Sorge um die Hinterbliebenen oder ihre physische Zerstörung. Die psychologische Forschung hat der intuitiven Einsicht, dass die Angst vor dem Tod ein komplexes Phänomen ist, dadurch Rechnung getragen, dass sie verschiedene Ebenen oder Dimensionen der Todesangst unterschieden hat. Vor einiger Zeit ist R. Ochsmann (1993)53 mit einem sehr anschaulichen Konzept hervor50 51 52 53
Hoffmann (wie Anm. 25), 101. Mentzos, Stavros, Neurotische Konfliktverarbeitung, Frankfurt a. M. 1996, 37. Ebd. Ochsmann, Randolph, Angst vor Tod und Sterben, Göttingen u. a. 1993.
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getreten, das sechs Dimensionen der Todesangst unterscheidet. Diesen sind jeweils acht Fragen zugeordnet, deren Antwort darüber Aufschluss geben kann, inwieweit bei einer Person diese Dimension der Todesangst gegeben ist. Wichtig ist, dass drei dieser Dimensionen konkrete Ängste, drei eher abstrakte Ängste widerspiegeln. a) Konkrete Dimensionen (1) Angst vor der Begegnung mit dem Tod Diese Dimension betrifft die Abneigung, sich mit todbezogenen Situationen zu konfrontieren. Beispielfragen:
Ich habe Angst, eine Leichenhalle zu betreten Einen Sterbenden zu betreuen, fiele mir schwer
(2) Angst vor körperlicher Zerstörung Gemeint ist die Sorge um das, was nach dem Tod mit dem eigenen Körper geschieht. Beispielfragen:
Ich will nicht, dass meine Leiche seziert/meine Organe gespendet werden Der Gedanke, nach meinem Tod verbrannt zu werden, erschreckt mich
(3) Angst vor dem Prozess des Sterbens Im Mittelpunkt steht die Angst, dass der Sterbeprozess qualvoll sein könnte. Beispielfragen:
Ich fürchte mich sehr vor einem qualvollen Tod Es wäre schrecklich, käme mein Tod nur langsam
b) Abstrakte Dimensionen (4) Angst vor dem Totsein Diese Angst ist geprägt davon, Ziele nicht mehr erreichen, Pflichten nicht mehr erfüllen sowie Erfahrungen nicht mehr machen zu können, insbesondere von geliebten Menschen für immer getrennt zu werden. Beispielfragen:
Ich habe Angst davor zu sterben, ohne meine Lebensziele erreicht zu haben Es beunruhigt mich, dass ich bei meinem Tod geliebte Menschen zurücklassen muss
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(5) Angst vor der Endlichkeit des Lebens Diese Angst ist Ausdruck dessen, dass es dem Betreffenden schwer fällt, die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren. Beispielfragen:
Der Gedanke, dass ich einmal sterben muss, macht mir Angst Ich möchte unsterblich sein
(6) Angst vor nachtodlichem Geschehen Diese Angst betrifft das zentrale Problem, dass wir nicht wissen, was nach dem Tod kommt. Beispielfragen:
Die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, quält mich sehr Ich habe Angst davor, meinem Schöpfer zu begegnen
Wichtig ist der besondere Charakter der abstrakten Todesangstdimensionen 4-6. Zum einen stellen sie die Hauptquellen der Todesangst dar: Die Ungewissheit dahingehend, ob der Tod das Ende der Existenz bedeutet oder nicht. M. a. W: Sie geben die Todesangst in ihrer ursprünglichen Form als Angst vor dem Nichtsein im Sinne des Ausgelöschtwerdens wieder. Zum anderen stehen die abstrakten Dimensionen in einem engen Zusammenhang mit Religion und Religiosität: Es geht bei diesen Ängsten um die Frage, ob Sinn und Hoffnung über den Tod hinaus möglich sind. Religion und Glaube haben dies bekanntlich stets bejaht und insofern seit jeher eine positive Antwort auf diese Ängste gegeben. Es ist sogar eine zentrale Funktion von Religion, dies zu tun. Daher wage ich an dieser Stelle die Hypothese, dass es Ausdruck von Religiosität ist, wenn ein Mensch diese Fragen und Ängste nicht verdrängt und verharmlost, sondern zulässt. Er ist dann gleichsam offen für die Antwort auf das Problem der Endlichkeit, die Religion und Glaube zu geben beanspruchen und er muss diese Ängste deshalb auch nicht verdrängen. Damit deutet sich an, dass Todesangst und Religiosität in einem denkbar engen Zusammenhang stehen. Im Folgenden möchte ich diesem Zusammenhang genauer nachgehen.
4.3 Todesangst und Religiosität a) Grundsätzliche Überlegungen Es besteht kein Zweifel, dass die Todesthematik seit jeher ein wesentlicher Bestandteil der Religionen ist. L. Feuerbach meint sogar: „Wenn der Tod nicht wäre, gäbe es keine Religion.“54 Aus psychologischer Sicht trifft dies in jedem Fall zu:
54
Feuerbach, Ludwig, Das Wesen der Religion, Leipzig 1845 = Sämtliche Werke VI, Stuttgart, 2 1960-1964, 41.
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„Die Bedrohung durch die Gewissheit des eigenen Todes einerseits und die Möglichkeiten der Überwindung dieser individuellen Todesbedrohung andererseits – dies sind existentielle Fragen, auf die die meisten Religionen Antwort zu geben versuchen. Die Verheißung eines Lebens nach dem Tod […] stellt eine solche Antwort dar.“55 Auf der anderen Seite hat sich die Beziehung zwischen Todesangst und Religiosität immer auch als zwiespältig erwiesen: Der Überzeugung, dass Religion die große Befreierin von der Todesangst ist, steht die Auffassung gegenüber, dass die Religion dem Menschen Todesangst einjagt, die er ansonsten gar nicht hätte, etwa in Form der Angst vor einem nachtodlichen Gericht. In dieser Sicht müsste der von religiösen Bindungen freie Mensch weniger Todesangst haben als der religiöse Mensch und seine Endlichkeit infolgedessen besser bewältigen können. b) Psychologische Befunde Auf diesem Hintergrund sind einschlägige wissenschaftliche Untersuchungen von großem Interesse. Die Ergebnisse dieser Studien – i. d. Regel Fragebogenuntersuchungen – zusammenfassend, lässt sich sagen, dass entscheidend ist, von welchen Glaubensinhalten die jeweilige religiöse Einstellung geprägt ist bzw. ob überhaupt eine religiöse Einstellung vorliegt:56 Wenn Religiosität mit geringer Todesangst einherging, hatte dies damit zu tun, dass die positiven Verheißungen des christlichen Glaubens im Vordergrund standen, z. B. die göttliche Gnade und der Beginn eines neuen Lebens ohne Leid und Tod. Religion wurde damit zu einem Mittel zur Bewältigung von Angst und Unsicherheit; verstärkt trat nur dann Todesangst auf, wenn bei der betreffenden Person negative Glaubensinhalte wie (Jüngstes) Gericht, Hölle und Verdammnis dominierten. Insgesamt zeigten religiöse Versuchspersonen weniger Angst vor dem Tod als nicht-religiöse. Der Psychologe J. Wittkowski fasst die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen dahingehend zusammen, dass Religiosität eine bevorzugte Weise der Bewältigung von Todesangst darstellt. Wenn man die geringen Todesangstwerte von Menschen mit positiver bzw. echter, verinnerlichter Religiosität betrachtet, lässt sich sagen: Ungeachtet der Wahrheitsfrage kann Religiosität als „eine intrapsychische Strategie zur Bewältigung von Frustrationen und Angst verstanden werden.“57 Für den Fall der Dominanz negativer Glaubensinhalte, die verstärkt Todesangst erzeugen können, lässt sich zunächst aus psychologischer Sicht sagen, dass diese möglicherweise Ausdruck einer depressiv verdunkelten Religiosität sind, bei der
55 56 57
Wittkowski, Joachim, Psychologie des Todes, Darmstadt 1990, 11. Vgl. Schnelzer, Tod, Angst und Religion (wie Anm. 9), 205-213. Wittkowski (wie Anm. 55), 94.
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Schuldgefühle und Versündigungsideen vorherrschen. 58 Aus theologischer Sicht gilt allemal, dass Heil und Unheil keine gleichrangingen Möglichkeiten des Menschen sind. Vielmehr steht der universale Heilswille Gottes im Vordergrund: Gott „will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). M. a. W.: Wer an ein Leben nach dem Tod glaubt, tut dies – psychologisch gesehen – aufgrund von dessen positiven Verheißungen und er tut dies – theologisch gesehen – mit Recht. Viele weitere derartige Befunde führten inzwischen dazu, dass Religion und Glaube in der Psychologie als wichtige Ressource zur Krisenbewältigung angesehen werden. Insbesondere die Richtung der „Positiven Psychologie“ hat – wie ich an anderer Stelle herausgearbeitet habe – deutlich gemacht, dass der gläubige Mensch in scheinbar ausweglosen Situationen Trost und Hoffnung erfährt, so dass das psychotherapeutische Potential des Glaubens bewusst genutzt werden sollte. 59 c) Tod, Angst und Religion: Eine eigene empirische Untersuchung 2012 habe ich eine Fragebogenuntersuchung veröffentlicht, bei der ich die Dimensionen der Todesangst nach R. Ochsmann zugrunde gelegt habe (vgl. 4.2)60. Dieses Konzept unterscheidet wesentlich zwischen konkreten und abstrakten Formen der Todesangst und ist über letztere dazu in der Lage, indirekt die Religiosität zu erfassen (vgl. 4.2). Als Stichprobe dienten Bestatterinnen und Bestatter, da die Frage wichtig war, wie sich die ständige Konfrontation mit todbezogenen Reizen auf das Niveau der Todesangst auswirkt. Die Ergebnisse waren Folgende:61
Es ergaben sich geringe Todesangstwerte in der Dimension 1 (= Angst vor der Begegnung mit dem Tod). Als auffallend niedrig erwies sich das Todesangstniveau in den religiös bedeutsamen abstrakten Dimensionen 5 (= Angst vor der Endlichkeit des Leben) und 6 (= Angst vor nachtodlichem Geschehen). Erhebliche Todesangst zeigte sich in den konkreten Dimensionen 2 (= Angst vor körperlicher Zerstörung) und 3 (= Angst vor dem Prozess des Sterbens).
Die Ergebnisse lassen sich – unter der Voraussetzung, dass Todesangst eine anthropologische Konstante ist – wie folgt deuten:
58
Vgl. Schnelzer, Thomas, Licht in der Finsternis. Depressive Menschen trösten, in: Scheuchenpflug, Peter (Hrsg.), Tröstende Seelsorge, Würzburg 2006, 141-167, hier 164ff. 59 Schnelzer, Thomas, „Tod, wo ist dein Stachel?“ (1 Kor. 15,55). Zum psychotherapeutischen Potential der christlichen Todesdeutung, in: Möde, Erwin (Hrsg.), Christliche Spiritualität und Psychotherapie. Bleibende und neue Wege der Konvergenz, Regensburg 2013, 114-134, hier 130ff. 60 Schnelzer, Tod, Angst und Religion (wie Anm. 9). 61 Vgl. ebd., 379-382; Religiosität wurde auch explizit mit einem gesonderten Fragebogenverfahren erfasst; vgl. ebd., 227-233.
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Durch die ständige Konfrontation mit todbezogenen Reizen kommt es zur Angstreduktion in der Dimension 1; dies entspricht verhaltenstherapeutischen Vorhersagen. Die Todesangst in ihrer abstrakten Urform – als Angst vor dem Nichtmehr-da-Sein – wird nicht zugelassen (daher niedrige Werte in den Dimensionen 5 und 6). Vielmehr wird diese verschoben auf die konkreten Dimensionen 2 und 3.
Dies kommt jedoch einer im psychodynamischen Sinn verstandenen Abwehr der Todesangst in ihrer Urform als Angst vor der Endlichkeit gleich, nicht etwa einer Bewältigung, weil das Problem der Endlichkeit auf diese Weise nicht gelöst wird. Vielmehr handelt es sich um den Mechanismus der Entstehung einer Phobie (vgl. 3.3). Letztlich zeigte sich:
Eine Bewältigung der Todesangst ist bevorzugt mittels einer religiösen Einstellung möglich, die den Glauben an ein Leben nach dem Tod beinhaltet. Der entsprechende Glaube verhilft zur Akzeptanz der Todesangst, da er dieser Angst die Überwindung der Endlichkeit entgegenzusetzen vermag. D. h.: Diese Angst muss nicht verdrängt oder auf sonstige pathogene Weise abgewehrt werden (vgl. 4.1), etwa in Form der Verschiebung auf Konkretes, sondern sie kann zugelassen werden, weil sie im Glauben an die Auferstehung eine Bewältigung erfährt. Der Christ vermag das Problem des Todes – gegen alle gesellschaftlichen und individuellen Verdrängungstendenzen – im Bewusstsein zu halten und sich ihm zu stellen, weil er im Glauben eine Lösung finden kann. Unlösbare Probleme dagegen fallen zwangsläufig der Verdrängung und Verleugnung anheim. Wir werden dies im Folgenden, wenn wir auf den theologischen Ertrag unserer Ausführungen zu sprechen kommen, noch im Einzelnen sehen (vgl. 4.4). An dieser Stelle lässt sich jedoch bereits sagen: Dem Glauben an die Auferstehung wohnt ein therapeutisches Potential inne, das gegen die Angst vor dem Tod wirksam werden kann.
4.4 Theologischer Ertrag Auf dem Hintergrund der fundamentalen Einsicht, dass dem Glauben ein therapeutisches Potential innewohnt, das die Angst, die im Letzten Angst vor dem Tod ist, zu bewältigen vermag, kommen wir noch einmal auf die eingangs zitierte Bibelstelle zurück: „In der Welt habt ihr Angst“ heißt es in Joh 16,33, aber die Stelle
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geht noch weiter: „Aber fürchtet euch nicht: Ich habe die Welt besiegt.“ Der – ganze – Vers kann nun wie folgt verstanden werden: 62
Im Glauben wird die Angst vor dem Tod nicht ausgelöscht, denn die Welt besteht weiter und erfüllt den Menschen nach wie vor mit dieser Angst. Sie soll auch gar nicht als unberechtigt verharmlost werden, obwohl dies häufig geschieht („Der Tod gehört zum Leben“!?), sondern zugelassen und durchlebt werden. Zugleich wird im Glauben zugesagt, dass das Zulassen der Angst vor dem Tod gerade dadurch möglich wird, weil diese Angst durch Tod und Auferstehung Jesu Christi eine Lösung gefunden hat. Sie ist zwar nicht aus der Welt geschafft, aber es lässt sich nun sagen: „Wenn aber Angst letztendlich Angst vor dem absoluten Nichts ist, dann ist mit Jesu Auferstehung auch ihre alles durchsäuernde Macht dahin“, 63 denn – wie an dieser Stelle ergänzt werden kann – durch das österliche Heilswerk Jesu Christi stellt der Tod eben keine endgültige „Trennung der Liebenden“ (I. A. Caruso) 64 mehr dar: Es besteht die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod, die ein Wiedersehen geliebter Menschen sowie die bleibende reale Verbundenheit mit diesen in Aussicht stellt.65 Das bedeutet: Weder verlasse ich im Tod meine Lieben für immer, noch werde ich von meinen Lieben durch deren Tod für immer verlassen.
Dem christlichen Glauben war dieser theologische und zugleich die (Todes)angst bewältigende „psychologische“ Gedanke immer schon erschlossen. Deshalb war es ihm von seiner Wesensstruktur her auch seit jeher möglich, sich der Angst vor dem Tod zu stellen und diese ernst zu nehmen, ohne sie durch rationalisierende Abwehr zu verharmlosen. M. a. W.: Weil man immer schon über eine Lösung des Problems der Todesangst verfügte, war man stets dazu in die Lage versetzt, diese Angst zuzulassen; leugnet man diese Lösung, zwingt man sich dazu, diese Angst zu bagatellisieren. Dies lässt sich exemplarisch zeigen an der Auffassung von I. D. Yalom, den wir in 4.1 noch zustimmend zitiert hatten, insofern er mit Recht den anthropologischen Charakter der Todesangst herausstellt. Der Glaube an ein nachtodliches Leben scheint für ihn dagegen keine Option zu sein. Der Glaube des Menschen „sowohl an seine Unverletzbarkeit als auch an die Existenz eines persönlichen letzten Retters“ 66 entspreche – so Yalom – lediglich einer „anthropozentrischen Illusion“67, wenngleich er zunächst wahrnimmt, dass der Mensch der Unausweich-
62 63 64
Vgl., ebd. 340. Beinert, Wolfgang, Heilender Glaube, Mainz 1990, 124. Caruso, Igor A., Die Trennung der Liebenden. Eine Phänomenologie des Todes (1960), Frankfurt a. M. 1983. 65 Vgl. Schnelzer, Thomas, Trauernde trösten. Mit einem Essay von E. Möde, Regensburg 2005, 68104: „Trauer und Trauerbewältigung im Licht des christlichen Glaubens“. 66 Yalom, Existentielle Psychotherapie (wie Anm. 47), 119. 67 Ebd.
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lichkeit des Todes „mit tödlicher Panik“68 entgegensieht, so dass sich ein existentieller Kernkonflikt ergibt. Dieser besteht aus der „Spannung zwischen der Bewusstheit von der Unausweichlichkeit des Todes und dem Wunsch weiterzuexistieren“, 69 da der Mensch seine Existenz andernfalls als sinnlos erleben würde. M. a. W.: Es besteht laut Yalom das Dilemma des Menschen als eines mittels einer Perspektive über den Tod hinaus sinnsuchenden Wesens, das allerdings, wie Yalom glaubt, bei Licht betrachtet, „in ein Universum hineingeworfen ist, das keinen Sinn hat.“ 70 Dadurch bleibt Yalom aber, wie sich zeigen lässt, nur der Ausweg, die Angst vor dem Tod in rationalistischer Weise zu bagatellisieren. Er tut dies, indem er allen Ernstes versucht, im Anschluss an Epikurs „Argument“ der „Symmetrie“ das Problem des Todes zu lösen, indem er dessen Problemcharakter einfach negiert, weil er ihn aufgrund seiner atheistischen Prämissen negieren muss. A. Noyon und T. Heidenreich 71 fassen Yaloms entsprechende Argumentation in zustimmender Weise wie folgt zusammen: „Unser Leben findet sich sozusagen ‚eingeklemmt‘ zwischen zwei Ewigkeiten der Nicht-Existenz. Vor unserer Geburt waren wir eine Ewigkeit lang nicht, und nach unserem Tod folgt eine weitere Ewigkeit des Nicht-Seins. Die Ewigkeit vor unserer Geburt beunruhigt uns gar nicht, während jene nach unserem Tod uns tragisch erscheint. Dafür gibt es keinen Grund, denn letztlich sind beide äquivalent.“72 Dass eine derartige atheistische weltanschauliche Belehrung nicht hilfreich ist, da sie der existentiellen Erfahrung des Menschen zutiefst fremd ist, räumen Yalom und im Anschluss daran Noyon und Heidenreich selbst ein, wenn letztere auf eine Patientin Yaloms verweisen, bei der solche „rationalen Erwägungen zu Tod und Sterben […] wirkungslos abgeprallt“ 73 und „ohne jeden positiven Widerhall“ 74 geblieben sind („Ich weiß, dass Sie sich bemühen, aber diese Gedanken werden es nicht knacken: Sie kratzen nicht mal an dem, was da ist – diese quälende Schwere in meiner Brust“). Die christliche Theologie dagegen vermag die tiefe Qual der Todesangst, die, wie gezeigt, wesentlich Trennungsangst und damit zugleich Vernichtungsangst ist, auch und gerade im psychologischen Sinn (!) wahrzunehmen, da sie den Glauben an die „Existenz eines persönlichen letzten Retters“ – um es mit Yalom zu formulieren, nicht als „anthropozentrische Illusion“ abtun muss, sondern vielmehr exis68 69 70 71
Ebd., 21. Ebd. Ebd., 22. Noyon, Alexander / Heidenreich, Thomas, Existentielle Perspektiven in Psychotherapie und Beratung, Weinheim 2012, 139 im Anschluss an Yalom, Irvin D., In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet, München 2008, 84. 72 Noyon / Heidenreich (wie Anm. 71), 139. 73 Ebd., 141. 74 Ebd., 140 im Anschluss an Yalom, Sonne (wie Anm. 71), 128.
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tentiell annehmen und verinnerlichen kann. In diesem Sinn schreibt J. Ratzinger/Benedikt XVI. in seiner „Einführung in das Christentum“ im Rahmen seiner Auslegung des Glaubensartikels vom „descensus ad inferos:“75 „Es gibt eine Macht, in deren Verlassenheit keine Stimme hinabreicht; es gibt eine Tür, durch die wir nur einsam schreiten können: Das Tor des Todes. Alle Furcht der Welt ist im Letzten die Furcht dieser Einsamkeit […] Der Tod ist die Einsamkeit schlechthin. Jene Einsamkeit aber, in der die Liebe nicht mehr vordringen kann, ist die Hölle.“76 Damit besagt, so Ratzinger weiter, der Glaubensartikel vom Abstieg in die Hölle, „dass Christus das Tor unserer letzten Einsamkeit durchschritten hat, dass er in seiner Person eingetreten ist in diesen Abgrund unseres Verlassenseins. Wo uns keine Stimme mehr erreichen kann, da ist Er. Damit ist die Hölle überwunden, oder genauer: der Tod, der vordem die Hölle war, ist es nicht mehr. Beides ist nicht mehr das Gleiche, weil mitten im Tod Leben ist, weil die Liebe mitten in ihm wohnt“.77 In dieselbe Richtung geht das II. Vaticanum in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“, wenn es im 18. Kapitel, das überschrieben ist mit „Das Geheimnis des Todes“, heißt, dass der Mensch mit Recht von der „Furcht vor immerwährendem Verlöschen“ erfüllt ist, und, da er den „Keim der Ewigkeit“ in sich trägt, „die völlige Zerstörung und den endgültigen Untergang seiner Person mit Entsetzen ablehnt.“78 Christus hat jedoch den Menschen durch seinen Tod vom Tod befreit und „in seiner Auferstehung zum Leben“79 den Sieg über den Tod errungen. Insofern ist der Glaube die angemessene Antwort auf das Problem des Todes und die Angst vor ihm: „Jedem also, der ernsthaft nachdenkt, bietet daher der Glaube, mit stichhaltiger Begründung vorgelegt, eine Antwort auf seine Angst vor der Zukunft an; und zugleich zeigt er die Möglichkeit, mit den geliebten Brüdern, die schon gestorben sind, in Christus Gemeinschaft zu haben in der Hoffnung, dass sie das wahre Leben bei Gott erlangt haben“.80
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Winklhofer, Alois, Ich glaube. Die Botschaft des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, Regensburg 1968, spricht hier mit Recht von einer „Auferstehung vor der Auferstehung“ (49), weil Christus die durch den „descensus“ geschehene Ausdehnung seines Erlösungswerks auf die Toten „als dem Geist nach Erweckter“ (49; vgl. 1 Petr 3,18) vollzogen hat. Ratzinger, Joseph/Benedikt XVI., Einführung in das Christentum (1968), völlig unveränderte, mit einer neuen Einführung versehene Neuausgabe, Augsburg 2000, 283. Ebd. Rahner, Karl / Vorgrimler, Herbert, Kleines Konzilskompendium, Freiburg i. Br. 282000, 463. Ebd. Ebd., 464.
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Solche Sichtweisen, die unsere pastoralpsychologischen Analysen nicht zuletzt auf dem Hintergrund einer eigenen Untersuchung (vgl. 4.3), „mit stichhaltiger Begründung“ (um es mit dem II. Vaticanum zu sagen), bestätigen konnten, werden freilich nicht immer geteilt. So bezweifelt der Pastoraltheologe H.-G. Schöttler81 in einem Sammelband, der sich mit „Seelsorge in der Begegnung mit Trauernden“ beschäftigt, in bewusster Frontstellung gegen J. Ratzinger/Benedikt XVI., damit aber der Sache nach auch gegen die Perspektive des Vaticanums II, dass das österliche Heilswerk Christi eine über das Alte Testament hinausgehende, endgültige Lösung des Todesproblems sein kann. Vielmehr tut er einen solchen Glauben als eine „christologische Denkfigur“82 ab, von der fraglich sei, ob sie wirklich eine Hilfe sein könne. Zwar lasse sich feststellen: „Angesichts von Leiden, Sterben, Tod und Trauer ‚flüchten‘ Christen gerne, allzu gerne, weil es so einfach ist und so naheliegt, in die Christologie“ 83 . Demgegenüber sei jedoch die in „Widerstand und Ergebung“ geäußerte Auffassung D. Bonhoeffers, dass der Auferstehungsglaube nicht die „Lösung“ des Todesproblems sei, „von grundlegender hermeneutischer Bedeutung“84. Da die christliche Botschaft bei tragischen Todesfällen „nicht tief dringt und eher ratlos und beschämt macht“85, lege er, was die Bewältigung der genannten existentiellen Grenzsituationen anbelangt, den Fokus auf alttestamentliche Texte, da das Alte Testament dem Neuen Testament, wie Schöttler glaubt, überlegen sei, da jenes im Gegensatz zu diesem eine „Klage- und Anklagespiritualität […] kennt“ 86. Insofern sei „der Kanon es Alten Testaments […] nicht nur quantitativ umfangreicher als das Neue Testament, sondern auch und gerade qualitativ tiefer reichend“.87 Solchen Auffassungen gegenüber haben wir zeigen können – nicht zuletzt im Anschluss an eine eigene Untersuchung –, dass es nicht nur ein theologisches Erfordernis ist, den Glauben an die Auferstehung in sämtlichen kirchlichen Handlungsfeldern (Verkündigung, Liturgie, Diakonie, Gemeindebildung) zur Sprache zu bringen; vielmehr bedeuten unsere Befunde eine psychologische Rechtfertigung dessen, dass dies seit jeher geschieht: Die Thematisierung des Auferstehungsglaubens bringt notwendigerweise das Problem des Todes zur Sprache, schafft so die Voraussetzung für das Bewusstwerden der Todesangst und vermag zugleich durch 81
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Schöttler, Heinz-Günther, „Wenn guten Menschen Böses widerfährt“. In prekären Lebenssituationen von der Treue Gottes sprechen?, in: Burkhardt, Jürgen et al., Jedes Sterben ist ein Riss. Seelsorge in der Begegnung mit Trauernden, Ostfildern 2016, 162-176. Ebd., 163. Ebd., 162; Rahner, Karl, Gebete des Lebens, Freiburg i. Br. 71987, 150 sah es keineswegs als „einfach“ an, im Leid bei Christus (nicht bei der „Christologie“) Zuflucht zu suchen, wenn er betete: „Endlich bitte ich dich um das Schwerste und Härteste [Hervorhebung T. S.]: um die Gnade, in allem Leid meines Lebens das Kreuz deines Sohnes zu erkennen, in ihm deinen heiligen unerforschlichen Willen anzubeten, deinem Sohne auf seinem Kreuzweg nachzufolgen, solange es dir gefallen mag.“ Schöttler (wie Anm. 81), 163. Ebd., 164. Ebd. Ebd., 164f, Hervorhebung im Original.
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die Auferstehungshoffnung ein Angstbewältigungspotential einzubringen, das der Verdrängung, Rationalisierung und Bagatellisierung der ins Bewusstsein gehobenen Todesangst entgegenwirkt. Kirchliches Handeln wird dadurch zur praktischen Umsetzung einer gleichsam (psycho)therapeutischen Theologie. 88
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Vgl. Schnelzer, Tod, Angst und Religion (wie Anm. 9), 361-365; die Auffassung, das Neue Testament kenne keine Spiritualität der Klage, ist im Übrigen unhaltbar: vgl. Mk 15,34; Mt 26,38f.42; Joh 11,33-36; Offb 21,4; vgl. Schnelzer, Trauernde trösten (wie Anm. 65), 70f.
Gedanken zu einer Anthropologie der Hoffnung, Wege zum Glücken des Menschseins
Elmar Kuhn Hat die Rede von Hoffnung im 21. Jahrhundert überhaupt noch einen Sitz im Leben? Sind nicht vielmehr Hoffnungslosigkeit und Angst vor der Zukunft die Kennzeichen unseres Planeten und seiner Bewohner am Beginn des 21. Jahrhunderts? Und wenn von Hoffnung die Rede ist, dann doch allzu oft im Sinne der Fokussierung auf banale, billige Hoffnungen wie Geld, Gewinn, Macht, Ansehen? Und reduziert sich außerdem nicht für vieles und für viele die Hoffnung auf schnödes Haben statt nachhaltigem Sein?
1. Zur Erinnerung Flüchtlinge strömen aus Hoffnungslosigkeit in ihrer Heimat, aus Angst vor Ermordung und Hunger an unsere europäischen Grenzen. Migration, so wichtig diese für eine sich befruchten lassende Kultur der Entwicklung ist, reduziert sich immer mehr zu einem Ansturm von Kolonnen der Hoffnungslosen, sodass der etwas eigenartige Präsident Trump eine Mauer zu Mexiko bauen will und Spanien einen sechs Meter hohen Stacheldrahtzaun zu Marokko (finanziert fast zur Gänze von der EU). Sind solche Maßnahmen nicht zuallererst das Zeichen einer Angst, die auch uns im Würgegriff hat? Die Angst, etwas von unserem Wohlstand abgeben zu müssen? Die Angst, sich jenseits der Grenzen der Wohlstandsstaaten engagieren zu müssen? Die Angst, mit gerechtere, weltweiten Wirtschafts- und Zollregeln die eigenen satten Gewinne kürzen zu müssen? In Europa löst sich die EU langsam auf, Griechenlands Euro-Drama, Frankreichs Gelbwesten, Polens Selbstzerstörung, Rumäniens Korruption, die sich selbst legitimieren will, Deutschlands Pegida und AfD – es gibt so viele Anzeichen der Angst und Hoffnungslosigkeit. Und die Antwort darauf ist allzu of wieder der Ruf nach dem starken Mann. Die Religionen? Die katholische Kirche versinkt mitsamt ihrer moralischen Glaubwürdigkeit im Strom jahrzehntelanger Schamlosigkeit1 in den Abgrund des 1
Vgl. dazu Sander, Hans-Joachim, Wenn moralischer Anspruch schamlos wird. Von der Unverschämtheit im sexuellen Missbrauch und in der kirchlichen Schuldkultur, in: Stimmen der Zeit 144 (2019), Heft 2, 83-92.
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geistlichen, körperlichen und sexuellen Missbrauchs, der Jahrzehnte hindurch institutionalisiert und gedeckt wurde. Die sunnitischen Muslime sehen sich verraten durch die – völlig Koran-impliziten, wenngleich schamlos verbogenen – Islaminterpretation des Islamischen Staats, die Nicht-Sunniten sowie allen kontrovers denkenden Sunniten die Existenzberechtigung abspricht. Die schiitischen Muslime suchen verzweifelt nach ihrem Selbstverständnis zwischen der einerseits straffen Führung durch Ayatollahs und Revolutionsbrigaden – und anderseits der Stimmung eines Freiheit suchenden Volkes, das sich gerade darin treu zur schiitischen Fassung des Islam sieht. Braucht es noch Hinweise auf die gespannte und sichtlich unlösbare Spannungslage in Israel, wo zwei Seiten (und Christen zwischen allen Fronten) um ihr Lebensrecht und die Überlebenschancen kämpfen? Syriens Zerstückelung zwischen den Großmächten und einem hasardierenden türkischen Präsidenten ist ebenso Angst-gesteuert wie der Zerfall des Irak entlang seiner konfessionellen Bruchlinien, diesmal zwischen Schiiten und Sunniten. Drusen, Christen und Jesiden sind dabei immer die Verlierer. Hoffnung ist sprachlosem Entsetzen gewichen. Die indischen Hindu-Nationalisten versuchen das Rad der Pluralität und Demokratie zurückzudrehen und Muslimen wie Christen das Leben zur Hölle zu machen. Den Frauen am besten gleich mit. Die kommunistisch verbrämten Konfuzianer Chinas dulden keinen Widerspruch und sehen in nicht willfährigen Katholiken, Freikirchlern und ebenso eigenständig denkenden und Kritik übenden Muslimen die Staatsfeinde Nummer eins. Diese Bestandsaufnahme am Beginn des 21. Jahrhunderts könnte beliebig fortgesetzt werden. Wir stolpern in ein orientierungsloses, angstbesetztes und hoffnungsfreies globales Weltsystem hinein. Kann es da eine Anthropologie der Hoffnung überhaupt noch geben? Die Antwort ist eine vielschichtige und vielgesichtige. Keine Sorge, dieses kurze Essay soll kein Buch werden. Jedoch sollen einige Schichten angesprochen werden, die in unser alltägliches Leben hineinreichen – Schichten, die von den Sichtweisen von Handlungsgruppen konzipiert sind, die unser eigenes Handeln und unser Menschsein mitbestimmen, manchmal seine Entfaltung sogar zu verhindern wissen. An drei Punkten wird exemplarisch aufgezeigt, was unser Mensch-Sein und unsere Mensch-Werdung (im Sinne eines bewussten, verantworteten und gelingenden Selbstentwurfs) mitbestimmt und wer überhaupt einen Hoffnungshorizont zu entwerfen vermag. Zunächst fragen wir uns jedoch, was die Kriterien für ein hoffnungserfülltes, glückendes Miteinander sein können?
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2. Die soziale Perichorese Mit dem Systemansatz der sozialen Perichorese gibt W. Korff darauf eine überzeugende Antwort. Die zentrale Frage ist die Mensch-Werdung und Reifung zum selbstverantworteten Ich. Nur dann, wenn wir als Menschen gelingen, sich die soziale Perichorese umfassend entfalten und der Gemeinschaft wie dem Einzelnen den notwendigen Raum zum Handeln eröffnen kann, vermag die Gesellschaft zum Glücken des Menschen beizutragen, bis hin in zu einem tragfähigen Sinnhorizont unserer Existenz. Diese soziale Perichorese, nach dem griechischen Begriff der „perichoresis“, einem einander (Individuen wie Personengruppen) wechselseitig Raum gebend und durchdringend sich etablierenden Gemeinwesen, ist der Schlüssel zu Verständnis der gesellschaftlichen Interaktion. Meinem Lehrer und, wie Erwin Möde, Mitglied der Klasse VII „Weltreligionen“ der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Wilhem Korff2, bin ich bis heute dankbar, dass er diesen Begriff in die Theologie eingeführt und sozialethisch damit ein Handwerkszeug geschaffen hat, das unverzichtbar ist, will man die globale Wirtschaft, die religiösen Gemeinschaften, die kulturellen Gruppierungen und den Wert des Einzelnen in ihrer Interaktion zueinander treffend beschreiben und begreifen. Korff unterscheidet drei im Menschen verankerte Antriebskomponenten voneinander: 1. Der sachhaft-funktional agierende Umgang miteinander, der auf die eigene Bedürfniserfüllung gerichtet ist. 2. Der Konkurrenz-Trieb, fußend auf dem Aggressionsimpuls, der zum Verhaltensantrieb wird, der auf Sicherung der Individualität und eigenem Überleben aufbaut. 3. Der Fürsorge-Trieb, der evolutionsgeschichtlich aus dem Brutpflegeimpuls erwächst und unser soziales und altruistisches Handeln ermöglicht. Sachhaft gebrauchend, konkurrierend, fürsorgend. Das sind die unsere soziale Interaktion beeinflussenden Antriebe. Werden diese miteinander angesprochen, so ergänzen sie sich und führen zum Wachsen einer eigenständig agierenden Personwerdung. Für eine Anthropologie der Hoffnung sind diese Antriebskräfte unverzichtbar zu integrieren, soll der Mensch in seiner Grunddisposition ernst genommen werden. Es geht um das „Glücken“ des Menschen3. Der menschliche Hoffnungshorizont ist eine Grundvoraussetzung für das Glücken menschlichen Lebens. Wer nicht zu hoffen vermag, der wird im Hier und Jetzt immer mit der Vorläufigkeit von Glück konfrontiert und womöglich daran verzweifeln. Daher mag nachgesehen 2
3
Korff, Wilhelm, Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft, Mainz 1973, Freiburg i. Br. 21985; Korff, Wilhelm, Art. Soziale Perichorese, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 11, Freiburg i. Br. 32001, 237-240. Vgl. Korff, Wilhelm, Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, München 1985.
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werden, dass Anthropologie der Hoffnung und Glücken des Menschen in diesem speziellen Kontext synonym verwandt werden. Schließlich wird ja bereits seit Thomas von Aquin die Glückseligkeit (beatitudo) als das Ziel der (christlichen) Hoffnung betrachtet.4
3. Die Wirkmächte in unserer Welt Betrachten wir die drei zentralen wirkmächtigen Strukturen, die unsere globale Gesellschaft bestimmen: Politik und Wirtschaftssystem, Psychologie, Philosophie und Vernunft und als dritter Themenkreis die Religionen. Dass Politik und Wirtschaft unserer Welt mitbestimmen, steht außer Frage. Dass Religionen statt zu verschwinden (außer vielleicht in Teilen des säkularen Wohlstandseuropa) ein Revival feiern, war eine der großen Fehlinterpretationen der Philosophie seit der französischen Revolution. Der Biopsychologe Nigel Barber hat in seiner 2012 erschienenen Studie festgehalten, dass der Atheismus primär in den entwickelten Ländern am Wachsen ist. Nach seiner Studie wird die Religion als solche bis 2041 vollständig verschwinden.5 In der Wirklichkeit abseits revolutionärer Träumereien stellt das renommierte Washingtoner Pew Research Center jedoch 2015 fest, dass der Anteil der Menschen, die einer Religion angehören, steigt. Von geschätzten 9,3 Milliarden Menschen im Jahr 2050 sollen demnach nur 1,2 Milliarden keiner Religionsgemeinschaft angehören – was 13 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Zum Vergleich: Im Jahr 2010 waren es bei 6,9 Milliarden Menschen noch 1,1 Milliarden – also noch 16 Prozent. 6 Die Ex-US-Außenministerin Madeleine Albright hatte das schon immer gewusst: Religion kann und darf politisch nicht ignoriert werden.7 Was legitimiert es, bei der Psychologie, Philosophie und Vernunft, von einer zentralen Wirkmacht in unserer heutigen Welt zu sprechen? Nun, exemplarisch werde ich das an einem Autor aufzuzeigen suchen. Generell aber ist eine Welt ohne Vernunft nicht mehr vorstellbar. Philosophie und Psychologie sind ihre stärksten Verfechter. Selbst unsere gesamte legislative Gewalt, vom österreichischen Bezirksgericht über den pakistanischen Obersten Gerichtshof (der gerade 2019 in letzter Instanz die lächerlichen Blasphemievorwürfe gegen Asia Bibi zu4
5 6 7
Vgl. Dzikowski, Rudolf, Die Stellung der Hoffnung in den Schriften des Thomas von Aquin, Köln 2017, 228, zugänglich unter Publikationsserver https://kups.ub.uni-koeln.de/7761/ [Zuletzt aufgerufen am 19. Februar 2019]. Vgl. Barber, Nigel, Why Atheism Will Replace Religion. The Triumph of Earthly Pleasure Over Pie in the Sky, Kindle Edition, Birmingham 2012. Zitiert nach https://diepresse.com/home/zeitgeschichte/4764187/Religion-weltweit_Nichtglaeubigewerden-weniger [Zuletzt aufgerufen am 19. Februar 2019]. Zitiert nach Palaver, Wolfgang, Vortrag im Rahmen der Franz-Jägerstätter-Gedenkfeiern am 8. und 9. August 2006 in Braunau, Ostermiething und St. Radegund, in: https://www.uibk.ac.at/theol/lese raum/texte/658.html [Zuletzt aufgerufen am 19. Februar 2019].
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rückgewiesen hat, trotz massiver Kampagnen auf der Straße, die den Tod der Richter und Asia Bibis forderten) bis zu den Internationalen Gerichtshöfen leben von der Rückbindung aller Emotionen auf belegbare, vernünftige Sachverhalte. Also stellen wir uns drei Fragen: I.
Können die Politik und das Wirtschafts- und Finanzsystem etwas zum Glücken des Menschen beitragen?
II.
Kann die Vernunft, unterstützt von Philosophie und Psychologie, etwas zum Glücken des Menschen beitragen?
III.
Was können die Theologien, können die Religionen, trotz der moralischen Kompromittierung etwa der katholischen Kirche oder des sunnitischen Islam, zum Glücken des Menschen beitragen?
Ad I. Der Beitrag der Politik, der Finanz- und Wirtschaftswelt zum Glücken des Menschen Minister Ha Vinh Tho ist verantwortlich für das Bruttonationalglück in Bhutan. Während beinahe alle anderen Länder dieser Welt ihren Wohlstand an dem Bruttoinlandsprodukt messen, legt man in Bhutan besonders viel Wert auf eine ganz eigene Kennzahl: das Bruttonationalglück, das messen soll, wie glücklich die Bürger im Land wirklich sind. Der Minister sagt, „‚Glück ist eine Fähigkeit […], die man erlernen kann.‘ Dabei gehe es unter anderem darum, innere Eigenschaften wie Selbstreflexion und Achtsamkeit zu stärken. Genauso wichtig seien aber auch Sozialkompetenzen für ein liebevolles Miteinander.“ 8 Bhutan hält sich für das glücklichste Land der Welt. Denn schließlich gibt es ja auch ein eigenes Ministerium dafür. Art. 9, Abs. 2 der Verfassung des Landes sagt: „Der Staat bemüht sich, jene Bedingungen zu fördern, die das Streben nach Bruttoinlandsglück ermöglichen.“ Und ein klein wenig ist wohl auch die buddhistische Gelassenheit ein Element des Glücks in Bhutan. Als „gelernter Österreicher“ würde ich im Sinne Nestroys ja eher sagen: Es geht um Zufriedenheit. Die Geschichte kennt hingegen viele politische Anmaßungen, den Menschen das Glück zu bringen. Pol Pot wollte Kambodscha durch die Ausmerzung aller Akademiker und der Rückkehr zu einem reinen, sich selbst versorgenden Agrarstaat glücklich machen. Stalin setzte um, was Lenin schon versucht hatte: ein ganzes Land gleichzuschalten, Gegensätze auszumerzen, alle über einen Kamm zu scheren. Goebbels als Hitlers Paladin hat solche Erfüllung im arischen Ideal gesucht, unter Abschlachtung von und Völkermord an Millionen, die diesem Einheitsbild von Glück und Erfüllung nicht entsprachen. 8
Zitiert nach https://www.stern.de/neon/wilde-welt/gesellschaft/gluecksminister-dr--ha-vinh-tho--da rum-sind-so-viele-deutsche-ungluecklich-7894280.html [Zuletzt aufgerufen am 13. Februar 2019].
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Generell tendieren Parteipolitiker häufig dazu, ihren Weg als Leitlinie für alle anderen zu definieren. Für den sachhaft-funktionalen Umgang miteinander und auch für die Frage der Konkurrenz können Politik und damit verbunden Wirtschaft und Finanzwelt sicher viele Wege ebnen, Möglichkeiten schaffen und Menschen lenken. Was sie aber niemals können, ist – außer vielleicht in blinder ideologischer Verblendung und Gleichschaltung – den menschlichen Hoffnungs- und Sinnhorizont des Individuums auszufüllen. Für eine Anthropologie der Hoffnung gilt der generelle Vorbehalt, den Böckenförde als Defizit der Politik und des Sozialsystems formuliert hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“9 Dem Staat, der Politik und den Wirtschaftskräften zuzutrauen, dass sie einen Hoffnungshorizont für das Individuum zu schaffen vermögen, ist wohl ein wenig viel verlangt. Und die Gefahr dabei über das Individuum zu Gunsten der Gesamtheit hinwegzuschauen ist historisch gesehen viel zu virulent, als dass man dem Staat und der Politik eine Anthropologie der Hoffnung nachhaltig anvertrauen dürfte. Unbenommen ist aber, dass die Politik sehr wohl in der Lage ist, günstigere oder weniger günstige Umfelder für die individuelle Sinn- und Hoffnungssuche zu eröffnen. Hierbei muss sie auch in die Pflicht genommen werden, etwa im Bildungsbereich. Dies ist auch der Bereich, in dem Wirtschaft- und Finanzsystem von der Politik eingebunden werden müssen.
Ad II. Der Beitrag der Philosophie und Psychologie zum Glücken des Menschen Schon Freud ging es um das Auflösen von Ängsten und Konflikten im Menschen. Maslows Bedürfnispyramide ebenso wie der Einsatz von Psychopharmaka wollen nichts Anderes: Das Glücken des Menschen ermöglichen, Widerstände benennen und auslöschen, Hoffnung generieren. Daher ist der Psychotherapeut heute das, was der Begriff im Griechischen sagt, der Heiler und Pfleger der Seele. Damit 9
Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976, 60.
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übernimmt er im weltlichen Bereich die Aufgabe dessen, was früher nur dem Seelsorger im kirchlichen Dienst reserviert war. Ohne jetzt psychologiegeschichtlich ins Grundsätzliche abzugleiten, will ich nur einen Vertreter der modernen Psychologie benennen, der gerade zum Glücken des Menschen in konkreter staatlicher Verfasstheit einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Der Psychiater sowie ärztliche Direktor der Diakonie Kliniken Sachsen, Stefan Brunnhuber, denkt das Konzept Karl Poppers für die Moderne weiter und plädiert für eine Offene Gesellschaft als Voraussetzung des Narrativs der Freiheit. 10 Sein Grundthema ist die Forderung nach einer zukunftsfähigen Offenheit unserer Gesellschaften, auch und gerade „in Bezug auf spätere Generationen“ 11. Die Klimakrise ist für ihn ein Beleg dafür, wie wenig wir über unseren eigenen Existenzhorizont hinausdenken. Damit setzt er die dritte Antriebskomponente Korffs um, den Fürsorge-Trieb. Alleine darin zeigt sich, wie wichtig die Stimme der Vernunft und der Psychologie in unserer Zeit ist. Gerade die fürsorgliche Komponente wird, so scheint es, in Politik und Wirtschaft sträflich vernachlässigt. Eindringlich wendet er sich gegen die Tendenz, „aus Angst mehr an dem festzuhalten, was wir kennen, als dass wir den Mut haben, die Blickrichtung zugunsten dessen zu ändern, was wir gewinnen können“12. Stellvertretend für unsere gesamte gesellschaftliche Situation formuliert er mit Nachdruck: „Die Offene Gesellschaft ist nicht neutral, auch nicht gegenüber der Religion. Wieviel Religion eine Offene Gesellschaft verträgt, hängt davon ab, wie viel Offenheit eine Religion verträgt. Werte, Religion und kulturelle Praktiken sind nur so weit offen, wie sie tolerant sind“13. Diese wenigen Verweise sollen darlegen, wie entscheidend auch der rationale, psychologische und philosophische Beitrag zum Gelingen der Rahmenbedingungen unserer globalen Gesellschaften sind. Aber können sie auch einen Hoffnungshorizont eröffnen, der das ganze Leben des Menschen über seine Urängste von Tod und Vergehen hinaus trägt? Hier endet die Kompetenz der Vernunft, sie bleibt innerweltlich. Wohl auch deshalb hatte die Scholastik die Philosophie ja als Magd der Theologie beschrieben (Philosophia ancilla theologiae).14
10 11 12 13 14
Vgl. zu diesem Absatz Brunnhuber, Stefan, Die Offene Gesellschaft. Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnung im 21. Jahrhundert, München 2019. Ebd., 104. Ebd., 56. Ebd., 130. Dies wird meist Petrus Damianus zugeschrieben und trifft auch das Denken des Aquinaten. Zu der Urspungsgeschichte vgl. Seckler, Max, „Philosophia ancilla theologiae“. Über die Ursprünge und den Sinn einer anstößig gewordenen Formel, in: Theologische Quartalschrift 171 (1991), 161-187.
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Ad III. Die theologische Sicht, der Beitrag der Religionen zum Glücken des Menschen Auch wenn wir durch das erste (Politik und Wirtschaft) und das zweite Wirksystem (Vernunft, Psychologie und Philosophie) die soziale Perichorese umgesetzt konstatieren können, so bleibt doch das Ungenügen für den doch viel weiteren Denkhorizont des Menschen. Daher wagen wir einen Blick auf das dritte Struktursystem, die Religionen. Denn im Ungenügen der beiden ersten Wirkkreise zeigt sich die Unverzichtbarkeit der religiösen, ja des theologischen Zugangs zum Glücken des Menschen in der Welt, zu seiner originären Hoffnung. Dies genauer zu fassen haben auch päpstliche Verlautbarungen zum Thema gehabt, angefangen bei der Enzyklika Rerum Novarum Leos XIII., in der der Papst erstmals den Blick der Kirche zum Leid und zur Hoffnungslosigkeit der durch Wirtschaft und Politik ausgebeuteten ArbeiterInnen wendete. Nicht mehr der Schlachtruf „Rette Deine Seele“ stand im Zentrum, sondern das konkrete Leben in der Gesellschaft. Damit hat nach langen Jahrhunderten des Wegschauens die katholische Kirche wieder da angesetzt, wo auch die Paulusbriefe einsetzen: Bei der Frage, wie das Zusammenleben der Menschen gelingen, der Einzelne in seinem Leben zur Entfaltung kommen kann. Denn die unmittelbare Naherwartung der Wiederkunft Christi ist auch in der frühen Kirche der Einsicht gewichen, dass eine Vertröstung auf das Jenseits die Lebensverhältnisse, das Glücken des Menschen, nicht wirklich verbessern kann. Einem Dammbruch gleich ziehen sich danach in einer langen Linie die päpstlichen Lehrverkündigungen zum Verhältnis von Mensch und Schöpfung, Arbeit und Gesellschaft, Glaube und Leben. Selbst das Recht auf Widerstand gegen langanhaltende, strukturelle Ungerechtigkeiten wird etwa in Populorum Progressio anerkannt und führt zur umfassenden Ausbildung einer Theologie der Armen, der Theologien der Befreiung von Unrecht um des Menschen willen. Doch ein rein sozialer Gerechtigkeitskampf würde in den Grenzen dessen bleiben, was der erste und der zweite Wirkkreis, Politik und Vernunft, auch postulieren können, eben im Sinn der sozialen Perichorese.
4. Was kann Theologie, was können Religionen darüber hinaus anbieten? Wenn wir alle Belohungsverheißungen im Jenseits oder Wiedergeburtsvorstellungen, die auch zuerst den physischen Tod voraussetzen, weglassen, dann bewegen wir uns im innerweltlichen Bereich, ohne darin aufzugehen. Genau das meint eine Anthropologie der Hoffnung – über das Jetzt und konkrete Einzelschritte hinaus dem Leben eine Grundhoffnung durch Sinngebung zu eröffnen. Also eine Existenzmöglichkeit jenseits reiner Funktionalität. Eigentlich geht es um nichts anderes als den Glauben an das Unvorstellbare, das Künftige und Mögliche, nicht um das
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rein aus dem Hier und Jetzt Extrapolierbare. Das Unverfügbare ist das, was aus einer tieferen Sinngebung gedacht werden muss, um die kreativen Kräfte menschlichen Handelns freizusetzen. Im theologischen Sinn kann gerade der christliche Glaube hier wirkmächtig ansetzen. Denn WEIL Gott Mensch geworden ist, kann der Mensch die Vision seiner eigenen Menschlichkeit erahnen. Vielleicht sieht Freire deswegen das Christentum als die Religion der Zukunft an. 15 Die Fesseln der innerweltlichen Machtstrukturen (auch der Ohnmachtsstrukturen) fallen für den, der die Berufung zur Gotteskindschaft, ja zur Gottesebenbildlichkeit in sich wahrnimmt. Aus dieser unverfügbaren, weltlicher Einflussnahme entzogenen Glaubensgewissheit, kann Leben neu fundiert werden. Dies gilt, wollen wir Böckenförde folgen, auch für die Regeln menschlichen Zusammenseins. Auch die Verfasstheit der Gesellschaften muss, soll sie einen unveräußerlichen Hoffnungshorizont eröffnen, durch Voraussetzungen gehalten werden, die die Gesellschaft nicht selbst geben kann. Denn sonst wäre das Glücken des Menschen reiner menschlicher Willkür in Entscheidungen anderer Menschen unterworfen (in der Demokratie etwa durch Mehrheitsentscheide). Theologisch sprechen wir vom eschatologischen Vorbehalt, also von der Unverfügbarkeit des Zukünftigen im Hinblick auf das, was am Ende der Zeiten kommen mag. Das aber bedeutet für das Leben des Einzelnen, dass er aus dem Prinzip Hoffnung leben und sein Leben immer neu kreativ gestalten kann. Die Enttäuschungen, Hoffnungslosigkeiten und Verstrickungen in Strukturen des Bösen sind nicht das letzte Wort.
5. Spiritualität als USP der Religionen An diesem Punkt muss auch das Proprium der Religionen einsetzen, in heutiger Sprache ihr Alleinstellungsmerkmal (der USP, unique selling proposition): die Spiritualität. Diese als Proprium und Gabe in die Gesellschaft hinein zu entdecken ist die große Chance der Religionen im Miteinander. Zudem kann in der Hinwendung auf die gesellschaftliche Relevanz der Spiritualität als Sinngebungshorizont die eigentliche Aufgabe der Religionen in unserer Gesellschaft gesehen werden. 2016 hat die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste in ihrer Klasse Weltreligionen in einer interreligiösen Fachtagung in Lugano die Spiritualität als den entscheidenden Punkt dargelegt, der den Stillstand des interreligiösen Dialogs zu überwinden hilft.16 E. Möde hat diese Linie ebenso aufgezeigt und in die Kommunikation mit der Welt integriert. Sein Wort von der Spiritualität als Transzendenzakt, „der sich auf das Absolute bezieht und das Subjekt zum Subjekt des Abso-
15
Vgl. Dabisch, Joachim (Hrsg.), Zur Anthropologie der Hoffnung. Die Aktualität der Pädagogik Paulo Freires, Freire-Jahrbuch 7, Oldenburg 2005, 97ff. 16 Vgl. Krienke, Markus / Kuhn, Elmar (Hrsg.), Two indispensable topoi of interreligious dialogue. New „languages” far beyond the dead ends of dialogue, Editio Academiae 2, Wien 2017.
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luten werden lässt“17 zeigt die Richtung an, in der Religionen mit der Frage nach der Spiritualität genau das unseren Gesellschaften hinzuzufügen in der Lage sind, was Gesellschaften selbst nicht zu geben fähig sind: einen unveräußerlichen Transzendenzbezug als Sinngebungshorizont für menschliches Glücken. Wenn wir solch einen Hoffnungshorizont aus religiöser Wirkkraft beschreiben, dann ist das nur der erste Schritt. Denn wir müssen auch die Voraussetzungen schaffen, dass der Mensch diesen Gestaltungs- und Hoffnungsraum für sich nutzbar machen kann. Dazu braucht die Religion Grundlagen, die den Menschen auf die Hoffnung und sein Glücken hin auch auszurichten vermögen, der Mensch muss seine Chancen auch mit beiden Händen ergreifen können. Das ermöglicht die Bildung. Gelingt es, dem Menschen durch seine Ausbildung, Neugierde, Kreativität und Gestaltungswillen in sich zu entdecken und auszuformen, dann kann die religiöse Wirkkraft zur Entfaltung kommen. Daher werfen wir noch einen Blick auf die religiöse Pädagogik, mehr noch, auf die Pädagogik des Freimachens, der Kreativität und Hoffnung. Auch hier beschränke ich mich auf ein pädagogisches Grundkonzept, das als pars pro toto den Blick auf die Chancen pädagogischer Intervention richten soll.
6. Wie kann eine Anthropologie der Hoffnung in Gesellschaften zum Leben erweckt werden? Dies ist die Frage nach der Einübung in einen Hoffnungshorizont, also die Frage nach der Pädagogik der Hoffnung. Hierbei reflektieren wir auf das Werk des 1977 verstorbenen Paulo Freires, des Theatermachers, Philosophen der Hoffnung und tiefgläubigen Katholiken.18 Er verfolgt in seinem gesamten Lebenswerk die Prämisse, dass eine Anthropologie der Hoffnung einer komplementären Pädagogik der Hoffnung bedarf, damit sie praktisch greifen kann. Es obliegt also den Pädagogen, die menschliche Disposition für sein Glücken so zu gestalten, dass der Mensch diese Hoffnungshorizonte zu ergreifen vermag. Dazu bedarf es eines Paradigmenwechsels in der Gesellschaft von einer Anthropologie des Funktionierens, also der Nutzenargumentation aller menschlichen Vollzüge für eine Industriegesellschaft, hin zu einer Anthropologie des Seins, die dem Einzelnen in seiner Ganzheitlichkeit gerecht zu werden vermag. Andernfalls wird der Mensch seines Menschseins beraubt. Die solch eine Ganzheitlichkeit ermöglichende Pädagogik muss daher eine befreiende Pädagogik sein, eine Pädagogik, die Freiräume außerhalb reiner Nützlichkeitsfragen eröffnet. Also keine Pädagogik über den Menschen oder vom Menschen, sondern im Dialog MIT dem Menschen. Dialogbefähigung, Einübung in 17 18
Möde, Erwin (Hrsg.), Europa braucht Spiritualität, QD 263, Freiburg i. Br. 2014, 13. Vgl. zu diesem Kapitel: Freire, Paulo, Pädagogik der Autonomie. Notwendiges Wissen für die Bildungspraxis, Münster 2008; Dabisch (wie Anm. 15).
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Kreativität, Fördern der Neugierde und ein situativer Ansatz werden der menschlichen Entwicklung gerecht. Damit kann der Einzelne ausgerichtet werden auf die ganzheitliche Erfahrung und Erkenntnis seiner Person, seiner Träume, Fähigkeiten und Wünsche und schließlich auch auf seinen spirituellen Zugang zum Transzendenten, zur Begegnung mit dem Numinosum. Solch eine Pädagogik wird zum Baustein einer Hoffnungsgesellschaft, die durch eine Erkenntnis- und Kommunikationskultur Freiräume für die SelbstWerdung im Sinne Bubers schafft, für den das dialogische Prinzip erst die Ganzheitlichkeit des Menschen ermöglicht.19 Gelingt es den Religionen, gemeinsam und glaubwürdig eine Anthropologie der Hoffnung in spiritueller Perspektive zu verkünden und aus ihren religiösen Schriften darzustellen, dann werden Religionen in Zukunft wieder zum Antrieb unserer Gesellschaften und zu Garanten eines friedlichen Miteinanders in der globalen Welt werden. Solch ein ganzheitliches, sinngebendes und der Engführung durch Macht- und Finanzpolitiken widerstehendes Zeugnis ist längst überfällig. Es ist spät dafür, aber nicht zu spät. „Seht, aus der Nacht Verheißung blüht, die Hoffnung hebt sich wie ein Lied und jubelt: Halleluja.“20
19
Vgl. dazu Kuhn, Elmar, Holistic Healing from a theological point of view – Paradigm shift in our societies: Rediscovery of dignity, values, and internal wholeness as path toward the convalescence of humankind, Interreligious and medical symposion, Tokyo 2012, Download unter: http://ameu.eu/holistic-healing-from-a-theological-point-of-view/ [Zuletzt aufgerufen am 19. Februar 2019]. 20 GL 347.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Dr. Claudius BACHMANN, geb. 1987, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsstelle Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Prof. Dr. habil. Jürgen BÄRSCH, geb. 1959, Professor für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt. Prof. Dr. habil. Marco BENINI, geb. 1982, Gastprofessor für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie an der School of Theology and Religious Studies der Catholic University of America in Washington, DC. Dr. habil. Bogdan BIELA, geb. 1959, Wissenschaftlicher und didaktischer Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Schlesischen Universität in Katowice. Prof. Dr. habil. Christoph BÖTTIGHEIMER, geb. 1960, Ordinarius für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt. Prof. Dr. habil. Peter BRUNS, geb. 1961, Ordinarius für Kirchengeschichte und Patrologie an der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-FriedrichUniversität Bamberg sowie Direktor der Forschungsstelle Christlicher Orient an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Prof. Dr. habil. Ireneusz CELARY, geb. 1964, Professor am Lehrstuhl für Pastoraltheologie, Liturgie, Homiletik und Katechetik der Schlesischen Universität Katowice, im Studienjahr 2018/19 Forschungsaufenthalt an der KU EichstättIngolstadt. Prof. Dr. habil. René DAUSNER, geb. 1975, Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie am Institut für Katholische Theologie der Universität Hildesheim. Prof. Dr. Dr. Jean EHRET, geb. 1967, Professor für Dogmatik und Spiritualität sowie Direktor der Luxembourg School of Religion & Society (LSRS), Mitglied der Section des sciences morales et politiques des Institut grand-ducal, Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Prof. Dr. habil. Eckhard FRICK SJ, geb. 1955, Professor für Anthropologische Psychologie an der Hochschule für Philosophie München, Leiter der Forschungsstelle Spiritual Care am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dr. Eva-Maria GÄRTNER, M.A., geb. 1988, Studienreferendarin für das Lehramt an Gymnasien in Bayern. Prof. Dr. habil. Dr. h.c. Hanna-Barbara GERL-FALKOVITZ, geb. 1945, Vorstand des Europäischen Instituts für Philosophie und Religion (EUPHRat) an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz/Wienerwald. Prof. Dr. habil. Manfred GERWING, geb. 1954, Ordinarius für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt. Prof. Dr. habil. André HABISCH, geb. 1963, Professor für Christliche Sozialethik und Gesellschaftspolitik an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt. Prof. Dr. Dr. habil. Lic. rer. soc. Ulrich HEMEL, geb. 1956, Direktor des WeltethosInstituts Tübingen, Direktor des Instituts für Sozialstrategie Laichingen-JenaBerlin, Bundesvorsitzender des Bunds Katholischer Unternehmer (BKU). Prof. em. Dr. Dr. habil. Johannes HOFMANN, geb. 1950, bis 2016 Ordinarius für Alte Kirchengeschichte und Patrologie an der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt, Erzpriester, Kanonikus des Kollegialstiftes St. Johann zu Regensburg. Mag. theol. Klarissa HUMML, geb. 1992, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Christliche Spiritualität und Homiletik der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt sowie Repetitorin am Collegium Orientale Eichstätt. Dr. Sebastian KIEßIG, geb. 1986, Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Theologischen Fakultät der KU EichstättIngolstadt. Dipl.-Theol. Marco KÜHNLEIN, geb. 1982, Fakultätsmanager an der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt sowie Geschäftsführer des KU Zentrums Religion, Kirche, Gesellschaft im Wandel. Dr. Elmar KUHN, M.Theol., geb. 1961, h.t. Dekan der Klasse VII Weltreligionen der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Associate Professor of Religious Studies an der Johann Heinrich Pestalozzi University in Miami, Generalsekretär des Vereins „Christen in Not“, Wien. Regina MEYER, geb. 1984, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Moraltheologie der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt sowie an der Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik im Drittmittelprojekt des
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Katholischen Militärbischofsamt Berlin an der Universität der Bundeswehr München. Dipl.-Theol. Tammo E. MINTKEN, geb. 1981, Promovend am Lehrstuhl für Philosophie der Philosophisch-Pädagogischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt. Prof. em. Dr. Ludwig MÖDL, geb. 1938, Ordinarius für Pastoraltheologie an der Universität Luzern (1988-1992) und an der Ludwig-Maximilians-Universität München (1996-2003) sowie für Spiritualität und Homiletik an der KU Eichstätt (19921996). Prof. em. Dr. habil. Heinrich PETRI, geb. 1934, bis 2003 Ordinarius für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg. Dipl.-Theol. Dipl.-Inform. Robert RAPLJENOVIĆ, geb. 1979, Repetitor am Collegium Orientale Eichstätt. Dr. Dipl.-Ing. Michel REMERY, geb. 1973, Research Fellow an der School of Catholic Theology der Universität Tilburg. Dipl.-Theol. Daniela RIEL, geb. 1988, Persönliche Referentin des Generalvikars der Diözese Passau. Prof. Dr. habil. Georg RUBEL, geb. 1978, Professor für Biblische Wissenschaften an der Luxembourg School of Religion & Society (LSRS), Luxembourg. Laura Friederike SASSE-WERHAHN, geb. 1989, Promovendin an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt, Unternehmerin. Prof. Dr. Dr. Walter SCHMIDT, geb. 1941, Professor an der Familienwissenschaftlichen Fakultät der Kardinal Stefan Wyszynski Universität in Warschau, Vorlesungen zum Thema „Work-Life Balance“, Autor des Buches „Rushhour des Lebens“, www.rushhour-des-Lebens.de. PD Dr. habil. Dipl.-Psych. Thomas SCHNELZER, M.A., geb. 1965; approbierter psychologischer Psychotherapeut, ltd. Psychologe der psych. Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche der Caritas in Neumarkt/Opf., Privatdozent für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt. Sebastian SPEER, M.Sc., geb. 1990, Doktorand am Lehrstuhl Tourismus / Zentrum für Entrepreneurship der KU Eichstätt-Ingolstadt.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. habil. Lothar WEHR, geb. 1958, Ordinarius für Neutestamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt. Prof. Dr. Dr. habil. Andreas WEIß, geb. 1954, Professor für Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte an der Theologischen Fakultät der KU EichstättIngolstadt, Diakon und Diözesanrichter der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Dipl.-Theol. Michael WOHNER, geb. 1982, Regens des Bischöflichen Priesterseminars St. Willibald, Eichstätt. Prof. Dr. habil. Andreas WOLLBOLD, geb. 1960, Ordinarius für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. habil. Burkard M. ZAPFF, geb. 1960, Ordinarius für Alttestamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt.
Eichstätter Studien Im Auftrag von Professoren der Theologischen Fakultät der Universität Eichstätt herausgegeben von Konstantin Maier und Erwin Möde Band 69:
Reform und früher Humanismus in Eichstätt Bischof Johann von Eych (1445–1464) Herausgegeben von Jürgen Dendorfer 528 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-7917-2494-2
Band 70:
Johannes Eck (1486–1543) Scholastiker – Humanist – Kontroverstheologe Herausgegeben von Jürgen Bärsch / Konstantin Maier 168 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-7917-2538-3
Band 71:
Thomas Stübinger Theologie aufs Ganze Zum dreifachen Konstruktionspunkt des theologischen Denkens Joseph Ratzingers 304 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-7917-2625-0
Band 72:
Theologien in ihrer kulturellen Prägung Beiträge zum interreligiösen Dialog in Indien und Deutschland Herausgegeben von René Dausner/ Joachim Eck 272 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-7917-2626-7
Verlag Friedrich Pustet Unser komplettes Programm unter:
www.verlag-pustet.de
Tel. 0941 / 92022-0 Fax 0941 / 92022-330 [email protected]
Band 73:
Erwin Möde (Hg.) Spiritualität – Introvision – Heilung 236 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-7917-2667-0
Band 74:
Stephan E. Müller Bausteine zur theologischen Ethik Band 1: Menschenbild – Lebensschutz – Sexualität und Ehe nur als eBook erhältlich / eISBN 978-3-7917-7868-0
Band 75:
Stephan E. Müller Bausteine zur theologischen Ethik Band 2: Moralpsychologie 280 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-7917-2669-4
Band 76:
Historia magistra vitae Leben und Theologie der Kirche aus ihrer Geschichte verstehen. Festschrift für Johannes Hofmann zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Anselm Blumberg / Oleksandr Petrynko 576 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-7917-2764-6
Band 77:
Bernhard Sill Das gute Leben – Das Gute Leben Zur Ethik und Spiritualität 376 Seiten, 8 Farbseiten, kartoniert, ISBN 978-3-7917-2879-7
Band 78:
Erwin Möde (Hg.) Spiritualität Neue Ansätze im Licht der Philosophie und Theologie des Nikolaus von Kues 256 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-7917-2920-6
Band 79:
Erwin Möde Spiritualität und Hermeneutik Text und Sinn – Mystik und Transformation 208 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-7917-3013-4
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