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German Pages 571 [583] Year 2012
Springer-Lehrbuch
For further volumes: http://www.springer.com/series/1183
Gisela Grupe • Kerrin Christiansen Inge Schröder • Ursula Wittwer-Backofen
Anthropologie Einführendes Lehrbuch 2. Auflage
Prof. Dr. Gisela Grupe Dept. Biologie I Biodiversitätsforschung/Anthropologie LMU München Martinsried Deutschland Prof. Dr. Kerrin Christiansen Zoologisches Institut und Museum Universität Hamburg Hamburg Deutschland
Dr. Inge Schröder Wissenschaftszentrum Kiel Kiel Deutschland Prof. Dr. Ursula Wittwer-Backofen Medizinische Fakultät Anthropologie Universität Freiburg Freiburg Deutschland
ISSN 0937-7433 ISBN 978-3-642-25152-8 ISBN 978-3-642-25153-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-642-25153-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograie; detaillierte bibliograische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005, 2012 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXdesign, Heidelberg Titelbild: Elke Werner, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer Spektrum ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer-spektrum.de
Vorwort
Anlass zu der Verfassung dieses einführenden Lehrbuches war nicht allein das beharrliche Drängen des Springer-Verlages. Eine nicht nur außerhalb, sondern gelegentlich auch innerhalb der Wissenschaften anzutreffende Unsicherheit über die Inhalte dieses ohne Frage breit gefächerten Faches gab den Anstoß dazu, sich auf die unabdingbaren Inhalte einer Grundausbildung in der Anthropologie zu besinnen, ungeachtet weiterführender spezieller Ausrichtungen oder der gegebenen Berührungspunkte mit anderen Disziplinen. Aufgrund dieser fachlichen Breite wiederum haben wir uns für ein Mehrautoren-Buch entschlossen und uns bemüht, die unabweisbaren fachlichen Grundkenntnisse in angemessener Form zu präsentieren. Ein jeweils größerer Raum wurde dabei jedoch jenen Abschnitten dieses Buches gewidmet, welche zusätzliche Kenntnisse aus nicht an allen biologischen Fakultäten vertretenen Gebieten benötigen, wie z. B. der Demograie, oder solchen, welche grundlegende Kenntnisse aus primär nicht-biologischen Fächern benötigen, wie z. B. der Mineralogie und Geologie im Falle des Kapitels zur Prähistorischen Anthropologie. Auch zeigt uns die Akzeptanz des Lehrbuches, welche eine Neuaulage bereits wenige Jahre nach dem Erscheinen erforderlich macht, dass unser Konzept im Grundsatz bestätigt wurde, und sich dieses Buch sowohl als studienbegleitende Literatur als auch als Einführung für Interessierte aus anderen Disziplinen durchaus eignet. Deshalb ist die Gliederung in dieser Neuaulage unverändert geblieben; die Kapitel sind jeweils aktualisiert und zum Teil auch inhaltlich deutlich ausgeweitet worden. Hier zeigt sich vor allem der Wissensfortschritt auf dem Gebiet der Humangenetik. Wir Verfasserinnen können auf eine außerordentlich fruchtbare Teamarbeit zurückblicken. Ohne vielfältige Hilfestellung wäre jedoch die Realisierung dieses Buchprojektes mit seiner ersten und nunmehr vorliegenden zweiten Aulage nicht möglich gewesen. An erster Stelle sei dem Springer-Verlag in Heidelberg für die Betreuung gedankt, insbesondere Frau Iris Lasch-Petersmann, Frau Stefanie Wolf und Frau Elke Werner. Frau Wolf hat die gesamte Betreuung der zweiten Aulage übernommen. Für die Anfertigung bzw. Verfügbarmachung von Originalabbildungen, welche wir in die zweite Aulage übernommen haben, danken wir Herrn Michael Schulz, Institut für Paläoanatomie und Geschichte der Tiermedizin der LMU München, Frau Carolin Bleese, seinerzeit Department Biologie II der LMU München, Frau Manuela Schellenberger, seinerzeit GeoBio-Center der LMU München, dem Tierbildarchiv Toni Angermayer in Holzkirchen, Prof. Dr. Thomas Meier, Institut für V
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Vorwort
Ur- und Frühgeschichte und Vorderasiatische Archäologie der Universität Heidelberg, sowie aus den damaligen Arbeitsgruppen der Autorinnen Dipl.-Biol. Karola Dittmann, Dr. Stefanie Doppler, Dr. Nadja Strott, und Dr. Mike Schweissing. Einige Kapitel wurden zunächst im Entwurf in Lehrveranstaltungen an der Universität Freiburg im WS02/03 und im SS 03 mit großem Engagement unter den Studierenden erarbeitet. Auch für diese zweite Aulage durften wir auf vielfache Hilfe zurückgreifen. Besonders danken möchten wir Frau Dipl.-Biol. Andrea Grigat für das Korrekturlesen und unentbehrliche redaktionelle Mithilfe. Frau Luise Reimers hat wertvolle Hilfe bei der Aktualisierung des Kapitels zur Fortplanzungsbiologie geleistet. Herr M.A. Stefan Schlager hat dankenswerterweise einen Textbeitrag zur Geometrischen Morphometrie beigesteuert, und Frau Dipl.-Demograin Ines Wlosnewski hat aktuelle demograische Daten eruiert und in Graiken und Tabellen umgesetzt. Unser herzlicher Dank gilt allen Kollegen des Institutes für Rechtsmedizin der Universität Freiburg und der Abteilung Personenidentiizierung des Bundeskriminalamtes Wiesbaden für zahlreiche befruchtende Diskussionen und Hinweise. im Oktober 2011
Prof. Dr. Gisela Grupe Prof. Dr. Kerrin Christiansen Dr. Inge Schröder Prof. Dr. Ursula Wittwer-Backofen
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 E volution des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2.1 Stellung des Menschen in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2.1.1 Die Ordnung Primates. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2.1.2 Sonderstellung des Menschen in der Natur?. . . . . . . . . . . . . 12 2.2 Stammesgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.2.1 Die Wurzeln der Homininae und Ponginae . . . . . . . . . . . . . 23 2.2.2 Die Vielfalt der Hominini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.2.3 Die Schwierigkeit, Ordnung in die Vielfalt zu bringen . . . . 26 2.2.4 Die frühesten Homininen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2.5 Die beginnende Radiation der Hominini im Pliozän: Australopithecus, Paranthropus und Kenyanthropus . . . . . . 33 2.2.6 Die Gattung Homo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.7 Hominisationsszenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.2.8 Die Evolution ausgewählter arttypischer Merkmale. . . . . . . 63 2.3 Prähistorische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.3.1 Aufgaben und Ziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.3.2 Aufbau und Entwicklung des menschlichen Skelettes, Erhaltungsgrad archäologischer Skelettfunde. . . . . . . . . . . . 80 2.3.3 Diagnose biologischer Basisdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2.3.4 Paläodemograie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2.3.5 Archäometrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3 B evölkerungsbiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Populationsgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Aufgaben und theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Veränderung von Genfrequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Evolutionäre Aspekte der Populationsgenetik . . . . . . . . . . . 3.1.4 Medizinische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Humanökologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Homosapiens – eine polytypische Spezies . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Anpassung an physikalische Umweltparameter . . . . . . . . . . 3.2.3 Anpassung an biologische Umweltparameter. . . . . . . . . . . .
163 163 163 169 180 191 199 200 203 217
VII
Inhalt
VIII
3.2.4 Eingriffe von Menschen in die naturräumliche Umwelt. . . . 3.2.5 Die Entwicklung der Weltbevölkerung. . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Epidemiologie und PublicHealth. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Demograie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Aufgaben und Ziele, Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Konzepte demograischer Messungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Demograische Maßzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Die demograische Alterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Biologische und soziale Determinanten der Sterblichkeit . . . 3.3.6 Der demograische Wandel in Deutschland im europäischen Vergleich. Die kinderlose Gesellschaft – Fertilität im demograisch-biologischen Kontext . . . . . . . . . 3.3.7 Bevölkerungsprognosen, Bevölkerungskontrolle und Bevölkerungspolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 L ebenszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Wachstum, Reifung, Altern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Menschlicher Lebenszyklus und postnatales Wachstums. . . 4.1.2 Steuerung des postnatalen Wachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Evolution des menschlichen Wachstumsund Reifemusters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Altern und Seneszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Ursachen des Alterns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Fortplanzungsbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Geschlechtsdetermination und sexuelle Differenzierung . . . 4.2.2 Sexuelle Reifung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Sexualhormone und Sexualverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Evolutionsbiologische Aspekte der Fertilität . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Keimzellentwicklung, Befruchtung und Implantation: Die ersten Phasen menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6 Störfaktoren der Fertilität bei Frauen und Männern . . . . . . . 4.2.7 Menopause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.8 Vitalität und Reproduktionsfähigkeit des älteren Mannes. . . 5 A ngewandte Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Industrieanthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Deinition und Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Die Variabilität von industrieanthropologisch relevanten Körpermaßen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Stichproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 User Experience Research . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Forensische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Identiikation unbekannter Toter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Morphologische Identitätsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Altersbestimmung bei Lebenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223 225 237 248 248 254 259 273 283 289 301 307 307 308 316 320 323 338 351 355 363 370 377 389 402 413 414 419 419 419 420 425 427 440 442 446 456 471
Inhalt
6 V erhaltensbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Grundlagen des Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Die Entwicklung der Verhaltensbiologie . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Die theoretischen Grundlagen der modernen Verhaltensbiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Verhalten des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Eltern-Kind-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Kinderethologie – die Ontogenese menschlichen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
477 477 477 481 485 485 488
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551
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Einleitung
Die Anthropologie gehört heute zu den kleinen akademischen Fächern, zeichnet sich aber durch eine sehr große fachliche Breite aus (vgl. die laufend aktualisierte Homepage der „Potsdamer Arbeitsstelle Kleine Fächer“ www.kleinefaecher.de). Das Fach ist daher vor allem für Studierende mehrheitlich schwierig zu strukturieren. Die Lehre vom Menschen (Anthropologie, aus dem Griechischen anthropos: Mensch und logos: Lehre) schließt die Betrachtung unserer nächsten Verwandten im Tierreich, die nicht-menschlichen Primaten, selbstverständlich mit ein. Dies ist notwendig zum Verständnis der biologischen Stellung der Spezies Homosapiens in der Natur, vor allem aber zum Verständnis der stammesgeschichtlichen Genese scheinbar mensch-spezifischer Eigenschaften, wie z. B. die Fähigkeit zur Schaffung von Kulturen. Da Menschen Kulturwesen sind, welche in ihren Lebensäußerungen nicht allein aus der Biologie heraus verstanden werden können, empfindet sich die Anthropologie auch zu Recht als echtes Brückenfach, welches zwischen Natur- und Kulturwissenschaften vermittelt. Zahlreiche primär kulturelle Randbedingungen zeigen unmittelbare Auswirkungen auf wiederum basisbiologische Aspekte des Lebens (etwa das generative Verhalten oder auf die Verbreitung von Allelfrequenzen wie z. B. der Laktasepersistenz nach der Entwicklung von Haustierzucht und Milchwirtschaft), so dass beide Aspekte des „Menschseins“ auf das Engste verzahnt sind. Als genuin biologisches Ausbildungsfach verliert die Anthropologie daher niemals ihre kulturwissenschaftlichen Bezüge. Hierdurch erklärt sich auch ihre Eigenständigkeit als Fachrichtung in der Biologie, da eine Behandlung von Menschen im Rahmen einer „Humanzoologie“ dem Untersuchungsgegenstand nicht gerecht werden kann. Die Anthropologie zählt zu den organismischen biologischen Fächern und arbeitet bewusst nicht nur auf der Individualebene, sondern betrachtet explizit die menschlichen Populationen und deren Wechselwirkungen mit der belebten und unbelebten Umwelt. Als kleines akademisches Fach mit einer geringen Personaldecke und der notwendigen persönlichen Spezialisierung auf einzelne fachliche Aspekte an den bundesdeutschen Forschungs- und Ausbildungsinstitutionen ist eine umfassende akademische Lehre regional nur begrenzt realisierbar. In der Folge werden an einzelnen Standorten vertretene Teilgebiete vor allem außerhalb der Fachwelt als stellvertreG. Grupe et al., Anthropologie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-25153-5_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Einleitung
tend für das Fach an sich angesehen. Dadurch ist die Bandbreite des Faches vielfach nicht bekannt. Andererseits trifft man auch auf die Tendenz, alles unter dem Begriff der Anthropologie zu subsumieren, was nur irgendwie mit Menschen zu tun hat. Dadurch kommt es zu einer Aufweichung des Fachprofils und einer nicht zu übersehenden Beliebigkeit in der Handhabung der Fachbezeichnung. Innerhalb der „Gesellschaft für Anthropologie e. V.“ (Informationen unter www.gfanet.de) wurde daher ein Curriculum speziell für die Grundausbildung entwickelt (vgl. Anthropologischer Anzeiger 63/2, 347–350, 2005). Diese Besinnung auf unerlässliche fachliche Inhalte und eine Abgrenzung gegenüber Nachbardisziplinen und anderen „Anthropologien“ im Grundstudium war der letztendliche Anstoß für die Realisierung des vorliegenden Lehrbuches. Eine bundesweite Erhebung bezüglich anthropologischer Forschung und Lehre durch die „Gesellschaft für Anthropologie e. V.“ aus dem Jahre 2002 hatte noch zum Ergebnis, dass sich die unterschiedliche Namengebung des Faches an den einzelnen akademischen Standorten (Anthropologie bzw. Humanbiologie) in keiner Weise auf die fachlichen Inhalte auswirkt, beide Begriffe wurden offenkundig jahrzehntelang synonym verwendet. Heute sind die fachlichen Inhalte der „Humanbiologie“ in der Bundesrepublik Deutschland zwischenzeitlich im Wesentlichen auf den naturwissenschaftlichen Aspekt beschränkt und dienen als Grundlage für die medizinische Ausbildung und Lehrerausbildung. Die Strukturierung neuer Studiengänge anlässlich der Bologna-Reform weist die Humanbiologie an den betreffenden Hochschulstandorten eindeutig als biomedizinische Wissenschaft aus. Nach wie vor wird die Bezeichnung „Humanbiologie“ von den Lehramtsstudiengängen favorisiert, beschränkt sich jedoch dort wiederum keinesfalls auf Bau und Funktion des menschlichen Körpers. Wir haben für den Titel dieses Lehrbuches den Begriff der „Anthropologie“ gewählt, in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit von Kollegen, welche im Jahre 1992 nach der Zusammenführung der ehemaligen Fachgesellschaften der alten und neuen Bundesländer für den bestehenden gemeinsamen Dachverband die Namengebung „Gesellschaft für Anthropologie e. V.“ favorisiert hatten, und in bewusster Abgrenzung zu zahlreichen „Anthropologien“, welche sich jedoch lediglich auf Teilaspekte des Menschseins beziehen (etwa theologischer, historischer oder philosophischer Natur). Hiermit tragen wir der Identität des Faches mit seinem spezifischen Curriculum Rechnung. Wir haben uns bemüht, ein einführendes Lehrbuch vorzulegen, welches gleichermaßen für die Grundausbildung in der Biologie von Bachelor-, Master-, Lehramt- und Magisterstudierenden geeignet ist. Das Buch wendet sich ebenso an Magisterstudiengänge, welche die biologische Anthropologie als Nebenfach oder Teilaspekte anderer „Anthropologien“ beinhalten. Gewisse allgemeinbiologische Grundlagen sind jedoch für die Lektüre dieses Lehrbuches unerlässlich, etwa in Bezug auf Bau und Funktion des menschlichen Körpers oder die formale Genetik, welche Inhalte eigener Lehrbücher sind. Das vorliegende Lehrbuch stellt eine zweite überarbeitete und aktualisierte Auflage nach der Ersterscheinung 2005 dar.
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Evolution des Menschen
2.1 2.1.1
Stellung des Menschen in der Natur Die Ordnung Primates
Erstmals seit der Antike stellte der Schwede Carl Linnaeus (1707–1778, seit seiner Erhebung in den Adelsstand im Jahre 1762 Carl von Linné) den Menschen als Angehörigen der Ordnung Primates („Herrentiere“) wieder in das Tierreich und gab ihm den Namen Homosapiens („der wissende Mensch“). Mit dieser Klassifikation wurden die Menschen zwar eines maßgeblichen Teiles ihrer von der Bibel verliehenen, über die Natur hinausragenden Sonderstellung beraubt, die grundsätzliche Akzeptanz der Schöpfungsgeschichte durch Linnaeus (Munk 2000) zeigt sich aber klar in der Namengebung, welche dem Menschen allein Vernunftbegabung zugesteht und die Ordnung der „Herrentiere“ gleichsam als Krone der Schöpfung ausweist. Während die Klassifikation von Carl von Linné noch ausschließlich auf Ähnlichkeiten beruhte, besteht seit Darwins Einbeziehung des Menschen in den Prozess der natürlichen Evolution (Darwin 1871) kein Zweifel mehr an der nahen Verwandtschaft von Menschen und nicht-menschlichen Primaten. 7 Es dürfte allgemein bekannt sein, dass der gemeine Schimpanse ( Pan troglodytes) der nächste Verwandte des Menschen im Tierreich ist – dass seinerseits der Mensch, nicht aber der Gorilla auch wiederum der nächste Verwandte des Schimpansen ist (s. unten), stösst noch immer auf gelegentliches Erstaunen.
Zurzeit sind mehrere hundert Primatenarten bekannt (Fleagle 1999; Geissmann 2003; Campbell et al. 2010), Groves (2001) schlägt sogar mehr als 350 Spezies vor. Die Klassifikation aufgrund morphologischer Merkmale unterschätzt ganz offenbar die erhebliche genetische Diversität der Primaten, welche sich erst aufgrund umfassender molekularbiologischer Studien gezeigt hat (Zischler 2007). Die Ordnung der Primaten (Ordo: Primates) umfasst eine systematische Kategorie der Klasse der Säugetiere, Unterklasse Plazentatiere (Classis: Mammalia, Subclassis: Eutheria), im Stamm der Chordatiere, Unterstamm Wirbeltiere (Phylum: Chordata, SubphyG. Grupe et al., Anthropologie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-25153-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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Evolution des Menschen
lum: Vertebrata). Andere Ordnungen in dieser Systematik sind z. B. die Insektenfresser (Insectivora), die fleischfressenden Raubtiere (Carnivora), oder die Wale (Cetacea). Eine Übersicht über die weitere systematische Gliederung der Ordnung Primates gibt Tab. 2.1. Die Ordnung gliedert sich zunächst in die beiden Unterordnungen der Feuchtnasenaffen (Strepsirrhini) und Trockennasenaffen (Haplorrhini), wobei insbesondere die Strepsirrhini eine Reihe von für Primaten ursprüngliche (plesiomorphe) Merkmale aufweisen. Hierzu zählen ein feuchter Nasenspiegel (als Zeichen für die wichtige Rolle des Geruchssinnes bei der Orientierung), ein knöcherner Ring um die Augenhöhle, oder auch die Nachtaktivität. Alle Strepsirrhini tragen am zweiten Strahl des Fußes eine Putzkralle an Stelle eines platten Nagels. Gelegentlich findet sich noch immer die Einteilung in Halbaffen (Prosimii) und echte Affen (Simii), wobei die Halbaffen sowohl die Lemuriformes, die Loriformes und die Tarsiiformes umfassen. Aus heutiger Sicht muss diese Unterteilung jedoch zurückgewiesen werden, da es sich bei den „Halbaffen“ um keine monophyletische Gruppe handelt (Tarsier bilden eine Schwestergruppe zu den echten Affen, alle Haplorrhini gehören einer monophyletischen Gruppe an; s. Box 2.1) (Zischler 2007). Box 2.1: Phylogenetische Systematik
Anders als andere Schulen der biologischen Systematik setzt die phylogenetische Systematik Merkmalsbefunde nicht direkt zur Definition biologischer Einheiten ein. Stattdessen geht sie davon aus, dass sich ein natürliches phylogenetisches System mit allen seinen Einheiten allein aus historischen Beziehungen der Abstammung ergibt (Wiesemüller et al. 2003). Der phylogenetischen Systematik zufolge sind nur abgeleitete (apomorphe) Merkmale für die Rekonstruktion stammesgeschichtlicher Beziehungen signifikant, sofern diese in einer Stammart und den daraus abgeleiteten Tochterarten auftreten. Die Klassifikation der Organismen erfolgt streng nach monophyletischen Gruppen (synonym „clades“, bestehend aus einer Stammart und allen ihren Folgearten). Diese können damit jeweils objektiv durch die Benennung der jeweils zugrunde liegenden Stammart voneinander abgegrenzt werden. Damit ergeben sich z. T. gravierende Unterschiede zur eher traditionellen evolutionären Klassifikation, welche neben der strikt auf Deszendenz beruhenden Aufspaltungsfolge (Kladogenese) auch die Entstehung von evolutiv entstandenen Merkmalsänderungen berücksichtigt, welche ein neues „Evolutionsniveau“ beschreiben sollen. Das angewendete Klassifikationsprinzip hat unter anderem erhebliche Folgen in Bezug auf die Stellung von Homosapiens innerhalb der Ordnung der Primaten (s. unten). In diesem Lehrbuch folgen wir den Prinzipien der phylogenetischen Klassifikation. Systematische Einheiten von Organismen (Arten, monophyletische Gruppen) werden als Taxa (Singular Taxon) bezeichnet. Die Ordnung der Primaten ist sehr heterogen und lässt sich besser durch ein Merkmalsmuster als durch einzelne, deinierte Merkmale beschreiben. Einige Primatenmerkmale sind durchaus plesiomorphe Säugetiermerkmale, wie z. B. das
2.1
Stellung des Menschen in der Natur
5
Tab. 2.1 Die Ordnung Primates. (Storch et al. 2007) Ordnung Unterordnung Zwischenord- Überfamilie nung Primates Strepsirrhini Lorisiformes Lorisoiodea (Loris) (Herren- (Feuchtnasen- (Loriartige) affen) tiere)
Familie
Unterfamilie
Galagidae (Galagos)
Loridae (Loris) Daubentoniidae (Fingertiere) Cheirogaleidae (Maus- und Katzenmakis) Indriidae (Indris) Lemuridae (Lemuren) Lepilemuridae (Wieselmakis) Tarsiiformes Tarsioidea Tarsiidae (Koboldmakis) (Koboldmakis) (Koboldmakis) Chiromyiformes Lemuriformes Lemuroidea (Lemuren) (Lemurenartige)
Haplorrhini (Trockennasenaffen)
Platyrrhini (Breitnasenaffen)
Catarrhini (Schmalnasenaffen)
Ceboidea Cebidae (Kapu- Cebinae (Kapu(Neuweltaffen) zinerartige) zineraffen)
Cercopithecoidea (Hundsaffen)
Hominoidea (Menschenaffen und Menschen)
Callitrichidae (Krallenaffen) Aotidae (Nachtaffen) Atelidae (Greifschwanzaffen) Pitheciidae (Sakiaffen) Callicebidae (Springaffen) Cercopithecidae (Hundsaffen)
Callitrichinae (Krallenaffen) Aotinae (Nachtaffen) Atelinae (Klammeraffen) Pitheciinae (Sakiaffen) Callicebinae (Springaffen) Cercopithecinae (Backentaschenaffen) Colobinae (Stummelaffen)
Hylobatidae (Gibbons) Hominidae (große Menschenaffen und Menschen)
Ponginae (Orang Utans) Homininae (Gorillas, Schimpansen und Menschen)
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Evolution des Menschen
Abb. 2.1 Vergleich des Skelettes von einem Standfuß ( links: Homo) und einem Greiffuß mit abduzierbarer Großzehe ( oben: Gorilla). (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz)
Vorhandensein von Schlüsselbeinen, oder das Bewahren einer fünfstrahligen Extremität (fünf Finger bzw. Zehen, Reduktion kommt vor). Primatentypische Merkmale (Ausnahmen kommen jeweils bei der einen oder anderen Art vor!) sind u. a. • Greifhand und Greiffuß mit opponierbarer Großzehe und Daumen (Ausnahme z. B. Standfuß bei Homosapiens) (Abb. 2.1) • Plattnägel auf Fingern und Zehen (Ausnahme z. B. Krallenäffchen) • Hautleistensysteme auf Hand- und Fußflächen, Zehen und Fingern • Betonung des Gesichtssinnes zu Ungunsten des Geruchssinnes (bei tagaktiven Formen) • knöcherner Ring um die Augenhöhlen (Strepsirrhini) bzw. trichterförmig geschlossene knöcherne Augenhöhle (Haplorrhini) • im Verhältnis zum Körpergewicht vergrößertes Gehirn mit Sulcus calcarinus1 und Sylvischer Furche2 • Blinddarm vorhanden • primär arboricole Lebensweise (in den Bäumen lebend) • bei Männchen freihängender Penis und Hoden in einem Hodensack • bei Weibchen epitheliochoriale3 (Strepsirrhini) bzw. hämochoriale4 (Haplorrhini) Plazenta Sulcus calcarinus = Hirnareal aus drei (Ausnahme: Krallenäffchen) Furchen auf der Innenseite des Großhirn-Hinterlappens. 2 Sylvische Furche, syn. Sulcus lateralis = Furche auf der Außenseite des Großhirnes, welche den Vorderlappen vom Seitenlappen trennt. 3 Epitheliochoriale Plazenta = kaum in das mütterliche Uterusgewebe eingenistete Plazenta, fetaler und mütterlicher Kreislauf bleiben getrennt. 4 Hämochoriale Plazenta = tief in das mütterliche Uterusgewebe eingenistete Plazenta, die äußere Membran des Embryos wird direkt von mütterlichem Blut umspült. 1
2.1
Stellung des Menschen in der Natur
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• verlängerte Tragzeit und kleine Wurfgrößen mit relativ unentwickelten Jungen • verlängerte Wachstumsphase und relativ späte Geschlechtsreife (zusammenfassende Darstellung bei Henke und Rothe 1994, 1998; sowie Martin 1990). Die Primaten bilden eine außerordentlich faszinierende Organismengruppe im Tierreich, über die eine Fülle von Spezialliteratur vorliegt (z. B. Martin 1990; Rowe 1996; Byrne 1997; Fleagle 1999; Ankel-Simons 2000; Geissmann 2003; Campbell et al. 2010). An dieser Stelle seien daher die wichtigsten Gruppen kurz charakterisiert und besondere Aufmerksamkeit den Hominoidea gewidmet, zu denen die Menschen zählen. Die Lemuriformes sind in ihrer Verbreitung auf Madagaskar beschränkt, wo sie sich aufgrund weitgehend fehlender Beutegreifer und fehlender Konkurrenz mit anderen Primaten zu einer beachtlichen Vielfalt entwickeln konnten. Zu den Lemuren zählen z. B. die kleinsten heute lebenden Primaten überhaupt, die Mausmakis (Gattung Microcebus, Familie Cheirogaleidae), welche lediglich 30–60 g wiegen. Bei den Lemuriformes bilden die Frontzähne des Unterkiefers einen Zahnkamm, der zur Fellpflege eingesetzt wird. Die beiden Unterkieferhälften sind nicht miteinander verwachsen. Eine Reihe besonderer Merkmale weist das Fingertier Daubentoniamadagascariensis (Zwischenordnung Chiromyiformes, einzige Art der Familie Daubentoniidae) auf, wie z. B. eine dem Nagergebiss konvergente Bezahnung, und den besonders verlängerten und dünnen mittleren Strahl der Hand, den Daubentonia als Sonde zur Erbeutung im Holz lebender Insekten und deren Larven benutzt. Die Lorisiformes bilden die Schwestergruppe ( = Angehörige eines Taxons, die unmittelbare Nachkommen derselben Stammart sind; Wiesemüller et al. 2003) zu den Lemuriformes. Nachtaktivität und Insektivorie zählen zu den ursprünglichen Merkmalen der Strepsirrhini. Auch Loris besitzen den charakteristischen Zahnkamm und den noch paarigen Unterkiefer. Sie unterscheiden sich von den Lemuriformes u. a. durch die Blutversorgung des Gehirnes. Einzigartig unter den rezenten Primaten ist die langsame arborikole Fortbewegungsweise der Loridae, bei denen der erste Strahl von Hand und Fuß verstärkt ist, der zweite jedoch reduziert. Hände und Füße können somit einen „greifzangenartigen“ festen Griff ausüben, weshalb die Loridae auch als „Greifzangenkletterer“ bezeichnet werden (Geissmann 2003). Die Tarsiiformes zählen zu den Haplorrhini, d. h. der Geruchssinn spielt im Vergleich zum Gesichtssinn bereits eine untergeordnetere Rolle. Sie teilen mit den Strepsirrhini einige ursprüngliche Merkmale wie z. B. den paarigen Unterkiefer. Gemeinsame abgeleitete Merkmale wie die fast vollständig geschlossene knöcherne Augenhöhle, eine Stelle schärfsten Sehens im Auge (Fovea centralis) und das Fehlen einer lichtreflektierenden Schicht hinter der Netzhaut (Tapetum lucidum) teilen die Tarsier jedoch mit den anderen Haplorrhini. Aufgrund des Fehlens eines Tapetum lucidum wird angenommen, dass die Nachtaktivität der Tarsiiformes eine sekundäre Adaptation ist. Ein einzigartiges Merkmal der Tarsiiformes unter den Primaten ist ihre Fähigkeit, ihren Kopf – ähnlich wie es Eulen tun – um fast 180° in beide Richtungen drehen zu können. Die Haplorrhini (mit Ausnahme der Tarsiiformes) oder echten Affen besitzen abgeleitete Merkmale wie die bereits genannte Verknöcherung der beiden Unter-
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kieferhälften, nach vorn gerichtete Augen in einer geschlossenen knöchernen Höhle und die Fähigkeit zum Farbensehen (selbst bei nachtaktiven Tieren wie den Aotinae), das Fehlen einer Putzkralle, den Besitz eines einfachen Uterus bei den Weibchen und der Reduktion der Zitzen auf jeweils ein Paar. Die beiden letztgenannten Merkmale stehen im funktionellen Zusammenhang mit der geringen Wurfgröße, d. h. die Geburt jeweils nur eines Jungen ist die Regel. Die Platyrrhini (Breitnasenaffen) sind regional auf Zentral- und Südamerika beschränkt (Neuweltaffen) und unterscheiden sich von den Catarrhini (Schmalnasenaffen, Altweltaffen) der alten Welt in einigen wesentlichen Merkmalen. Namengebend ist die breite Nase mit seitwärts divergierenden Nasenöffnungen bei den Platyrrhini im Gegensatz zur schmalen, mit nach vorn gerichteten Öffnungen versehenen Nase der Catarrhini. Platyrrhini besitzen z. B. noch drei Prämolaren gegenüber zwei bei den Catarrhini. Eine heute nur bei den Platyrrhini vorkommende Spezialisierung ist die Ausbildung des Schwanzes als „fünfte Extremität“ (Greifschwanz der Atelidae, „Greifschwanzaffen“), welcher auf seiner Innenseite statt der normalen Behaarung Hautleistensysteme analog jener auf den Hand- und Fußflächen aufweist und somit zu einem sensiblen Tast- und Greiforgan geworden ist. Die Catarrhini werden in die Hundsaffen (Cercopithecoidea) und die Menschenaffen (Hominoidea) eingeteilt, wobei die Cercopithecoidea die ökologischen Nischen für tagaktive Organismen in der Alten Welt besetzen konnten (vgl. Nachtaktivität der Strepsirrhini). Die Cercopithecoidea werden weiterhin in die zwei Unterfamilien der Cercopithecinae (Backentaschenaffen) und Colobinae (Stummelaffen) unterteilt; beide sind durch ein hoch diverses Gattungs- und Artenspektrum gekennzeichnet. Die Colobinae ernähren sich überwiegend von Blättern und Samen und unterscheiden sich von den überwiegend früchtefressenden Cercopithecinae durch die Morphologie ihrer Schneide- und Backenzähne und den Besitz eines mehrkammerigen Magens. Neben anderen Schädelmerkmalen sind die Colobinae durch einen kurzen bis sogar fehlenden Daumen und einen langen bis sehr langen Schwanz gekennzeichnet. Cercopithecinae besitzen die namengebenden Backentaschen, einen gut ausgebildeten Daumen (Ausnahme: Husarenaffe Erythrocebus patas) und z. T. recht kurze Schwänze (z. B. bei der Gattung Mandrillus). Bezüglich der Überfamilie der Hominoidea (Menschenaffen und Menschen) fand sich bis vor einigen Jahren noch immer eine unterschiedliche weitere Einteilung in Familien und Unterfamilien, was auf den jeweils zugrundegelegten Klassifizierungskonzepten beruht (vgl. Box 2.1). Lange Zeit folgte man den Prinzipien der evolutionären Klassifikation, und so umfasste die Überfamilie der Hominoidea die drei Familien der Hylobatidae (Gibbons), Pongidae (große Menschenaffen: Orang-Utan, Gorilla, Schimpansen) und Hominidae (einzige Gattung: Homo, einzige Art: Homosapiens). In dieser Systematik wurde den Menschen ein evolutives Niveau zugestanden, welches ihnen eine separate Familie zuweist (vgl. Kap. 2.1.2). Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass eine Familie der Pongidae, welche alle großen Menschenaffen umfasst, aufgrund der bestehenden Verwandtschaftsverhältnisse und Abspaltungsdaten der jeweiligen Linien keinesfalls eine monophyletische Gruppe darstellt.
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Tab. 2.2 Phylogenetische Systematik der Hominoidea Überfamilie Familie Unterfamilie Gattung Hominoidea Hylobatidae Hylobates
Symphalangus Bunopithecus Nomascus
Hominidae
Ponginae
Pongo
Homininae
Gorilla
Pan
Homo
Spezies H.agilis (Schwarzhandgibbon) H.lar (Weißhandgibbon) H.muelleri (Grauer Gibbon) H.klossii (Kloss-Gibbon) H.moloch (Silbergibbon) H.pileatus (Kappengibbon) S.syndactylus (Siamang) B.hoolock (Hulock) N.gabriellae (Gelbwangen-Schopfgibbon) N.leucogenys (Weißwangen-Schopfgibbon) N.concolor (Westlicher Schwarzer Schopfgibbon) N.nasutus (Östlicher Schwarzer Schopfgibbon) P.pygmaeuspygmaeus (Borneo-Orang-Utan) P.p.abelii (Sumatra-Orang-Utan) G.gorillagorilla (Westlicher Flachlandgorilla) G.g.graueri (Östlicher Flachlandgorilla) G.g.beringei (Berggorilla) P.troglodytes (gemeiner Schimpanse), P.t.schweinfurthii (östlicher), P.t.troglodytes (zentraler), P.t.verus (westlicher) P.paniscus (Bonobo) H.sapiens (anatomisch moderner Mensch)
7 Nach den Prinzipien der phylogenetischen Systematik bleibt die Familie der Hylobatidae unangetastet (die heute lebenden Gibbons sind in der Tat die Vertreter der ältesten Menschenaffen überhaupt), während die Familie der Hominidae alle grossen Menschenaffen einschliesslich des Menschen umfasst.
Die frühe Abspaltung der zum heutigen Orang-Utan führenden Linie von den afrikanischen Menschenaffen gibt vielmehr berechtigten Anlass, die Hominidae in zwei Unterfamilien zu unterteilen, jene der Ponginae (Gattung Pongo) und der Homininae (Gattungen Gorilla, Pan, sowie Homo) (Tab. 2.2). Aufgrund molekularbiologischer Daten dürfte sich die zur Gattung Pongo führende Linie vor etwa 16 Mio. Jahren von jener der afrikanischen Menschenaffen abgespalten haben, die Linien von Gorillas und Schimpansen vor 7 bis 9 Mio. Jahren, und die Linien von
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Abb. 2.2 Junger Weißhandgibbon, hangelnd. (Foto und Bildrechte: Tierbildarchiv Angermeyer)
Menschen und Schimpansen vor etwa 6 Mio. Jahren. Die Aufspaltung der Gattung Pan in Pantroglodytes und Panpaniscus dürfte sich kaum früher als vor etwa 1,5 bis 2 Mio. Jahren ereignet haben (Wegmann und Excofier 2010). In Abhängigkeit von der Kalibrierung der jeweils zugrunde gelegten „molekularen Uhr“ und dem Aufinden von neuen Fossilien, welche geeignet sein können, die zahlreichen Lücken in der Fossildokumentation der Primaten- und Hominidenevolution zu schließen, werden gegebenenfalls andere Aufspaltungszeiten angegeben. Diese ändern jedoch nichts an der verwandtschaftlichen Nähe der einzelnen Taxa und deren Zusammenfassung in monophyletische Gruppen (Abb. 2.2, 2.3, 2.4 und 2.5). Die große genetische Nähe des Menschen insbesondere zu den afrikanischen Menschenaffen ist unstreitig – dennoch zeichnen sich Menschen durch Merkmale und Lebensäußerungen aus, die in dieser Form nirgendwo sonst im Tierreich angetroffen werden und suggerieren, dass Menschen sich sehr stark von ihren biologischen Wurzeln emanzipiert haben. An dieser Stelle soll nochmals an die Namengebung durch Linné erinnert werden („der wissende Mensch“ innerhalb der Ordnung der „Herrentiere“), und hat nicht schon Johann Gottfried Herder den Menschen als „ersten Freigelassenen der Schöpfung“ bezeichnet? So verwundert es nicht, dass vor allem in manchen Schulbüchern noch immer ganze Kapitel der „Sonderstellung des Menschen in der Natur“ gewidmet sind (z. B. Bayrhuber und Kull 2005). Zweifellos gehören zum „Humanen“ mehr als Biologie und genetische Abstände, und die Eigenständigkeit der biologischen Anthropologie als akademisches Fach ist ebenfalls eindeutiges Zeichen dafür, dass Menschen in vielen Aspekten nicht allein vom biologischen Standpunkt aus im Sinne einer „Humanzoologie“ definierbar und erklärbar sind. Im Folgenden sollen einige Aspekte, welche zur Postulierung der „Sonderstellung“ des Menschen Anlass geben, näher betrachtet werden.
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Abb. 2.3 Portrait eines alten Orang-Utan-Männchens. (Foto und Bildrechte: Tierbildarchiv Angermeyer)
Abb. 2.4 Weiblicher Flachland-Gorilla mit Jungtier. (Foto und Bildrechte: Tierbildarchiv Angermeyer)
7 Es kann gezeigt werden, dass alle unsere „Besonderheiten“ tief im Tierreich verwurzelt und in hohem Masse bei unseren nächsten Verwandten bereits angelegt, wenn nicht sogar ausgeprägt sind.
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Abb. 2.5 Schimpanse beim Sondieren nach Insekten. (Foto und Bildrechte: Tierbildarchiv Angermeyer)
2.1.2
Sonderstellung des Menschen in der Natur?
Der aufrechte Gang, die Bipedie, gehört zu den Spezifika des Menschen unter allen Primaten. Bei den Hominoidea finden sich mehrere Spezialisierungen in Bezug auf die Lokomotion, wie das Schwinghangeln der Gibbons, oder der Knöchelgang bei Gorilla und Schimpanse. Menschen sind die einzigen rezenten Primaten, welche obligatorisch biped sind und damit die vordere Extremität vollständig von der Aufgabe der Fortbewegung befreit haben. Viele Primaten sind jedoch fakultativ biped, d. h. sie können sich kurze Strecken auf den Hinterextremitäten allein fortbewegen. Da außer dem Menschen auch andere Primaten sekundär zu einer zumindest vorwiegend terrestrischen Lebensweise übergegangen sind ohne biped zu werden (Mandrills, Dscheladas), ist der aufrechte Gang nicht zwangsläufig durch die Aufgabe der arborikolen Lebensweise impliziert. Auch experimentelle Studien an Primaten weisen darauf hin, dass es für die menschliche Bipedie keinen terrestrischen Vorläufer gegeben haben dürfte, sondern dass diese sich aus einer arborealen Lokomotionsform heraus entwickelt hat (Schmitt 2003; Thorpe et al. 2007). Zweifellos ist die Bipedie eine energetisch aufwändige Fortbewegungsweise, da der Körper entgegen der Schwerkraft aufgerichtet werden muss und während des Gehens und Laufens jeweils nur eine Extremität das gesamte Körpergewicht zu tragen hat (Standbein). Zahlreiche mehr oder weniger überzeugende Gründe sind für die Selektionsvorteile, welche diese spezialisierte Fortbewegungsweise mit sich gebracht haben könnte, vorgeschlagen worden. Tatsache ist, dass Menschen sehr ausdauernd gehen können und dabei leicht Strecken von mehr als 30 km am Tag bewältigen. In Bezug auf die zurückgelegten Wegstrecken sollen Menschen alle anderen Primaten übertreffen können (Preuschoft und Witte 1993). Tatsächlich ist der Energieaufwand von Schimpansen bei ihrer typischen Lokomotionsweise, gemessen in mL O2 pro kg Körpergewicht pro zurückgelegtem Meter, höher als angesichts ihrer Körpermasse zu erwarten wäre. Im Vergleich hierzu ist das menschliche zweibeinige Gehen in Relation zur menschlichen Körpermasse um rund 75 % weniger energieaufwändig. Hieraus kann gefolgert werden, dass bereits die Bipedie früher
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Abb. 2.6 Montiertes Skelett eines Knöchelgängers (a: Schimpanse) im Vergleich zu dem des bipeden Menschen (b). Bezüglich der anatomischen Merkmale vgl. Text
noch menschenaffenähnlicher Homininen energiesparender war als ein quadrupeder Knöchelgang (Sockol et al. 2007). Vergleicht man das Skelett, also den passiven Bewegungsapparat, von Menschen mit jenem der nächsten Verwandten (Schimpansen), fallen folgende anatomische Merkmale auf, welche für die obligatorische Bipedie erforderlich sind (Abb. 2.6): Entwicklung eines Standfußes mit Fußgewölbe und Verlust der Opponierbarkeit der Großzehe; verlängerte Hinterextremität; doppelt S-förmig gebogene Wirbelsäule; verkürztes und verbreitertes, nach dorsal5 gebogenes und schüsselförmiges Becken; physiologische X-Beinstellung der Oberschenkel; zentrale Lage des Hinterhauptloches6 des Schädels, so dass dieser vertikal auf der Wirbelsäule getragen wird. Dorsal = zum Rücken weisend. Hinterhauptloch (Foramen magnum) = Durchtrittsstelle des verlängerten Markes in die Schädelkapsel. 5 6
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Abb. 2.7 Vergleich der Glutealmuskulatur von Schimpanse ( links) und Mensch ( rechts). Durch die veränderte Beckenkonfiguration beim Menschen (vgl. Abb. 2.6) sind der mittlere und kleine Gluteusmuskel nunmehr seitlich an der menschlichen Hüfte positioniert und erfüllen nicht mehr die Funktion eines Hüftstreckers (vgl. Text). (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz)
Die Umstrukturierung der Hüftregion und die einseitige Verlagerung des Körpergewichtes auf das jeweilige Standbein beim Gehen und Laufen bedurften wiederum der Umfunktionierung der Hüftmuskulatur, um eine Aufrichtung des Rumpfes durch dauerhafte Streckung der Hüfte und die Balance zu gewährleisten. Besonders betroffen ist die Glutealmuskulatur, das Ensemble der drei Muskeln Musculusgluteusmaximus, M.g.medius und M.g.minimus, welche beim Schimpansen auf der Dorsalseite der Hüfte verlaufen und sämtlich die Funktion der Hüftstreckung haben (Abb. 2.7). Bei Menschen übt nur noch einer dieser drei Muskeln, der M.g.maximus, die Funktion des Hüftstreckers aus, und entwickelte zur Effizienzsteigerung einen mächtigen Muskelbauch bei gleichzeitig relativ kurzen Muskelfasern. Das prominente und muskulöse Gesäß des Menschen, einzigartig unter den Primaten, beruht auf dieser Muskelverstärkung. Der mittlere und kleine Glutealmuskel haben beim Menschen einen Funktionswandel dahingehend erfahren, dass sie durch ihre seitliche Lage an der Hüfte in der Standbeinphase die Hüfte gegen ein seitliches Einknicken stabilisieren, und in der Spielbeinphase das jeweilige Bein abspreizen können (Benninghoff und Goerttler 1978). Der Balance förderlich ist ferner die generelle Proportionierung des menschlichen Körpers, mit einem hohen und schlanken Rumpf von geringer Tiefe
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(Preuschoft und Witte 1993). Die Umgestaltung des knöchernen Beckens bedingt u. a. den komplizierten Geburtsvorgang beim Menschen, welcher eine zweifache Rotation des Kindes bei der Passage der Geburtswege erfordert (Walrath 2003). Das hochentwickelte Gehirn, die enormen assoziativen Leistungen des Menschen und seine dadurch bedingte Fähigkeit zur Zukunftsplanung werden speziell als Merkmalskomplex herangezogen, welcher dem Menschen seine von der Tierwelt emanzipierte Stellung in der Natur verleihen soll. Mit der Hirnentwicklung unmittelbar verknüpft sind ebenfalls scheinbar spezifisch menschliche Leistungen wie Sprache und Schrift, die Genese von Kulturen und Industrien, und auch Lebenslaufparameter wie eine verlängerte Kindheit und Jugend (s. unten). Es ist zu unterscheiden zwischen der Zerebralisation, der generellen Zunahme des Hirnvolumens und zunehmender Intensivierung der Verschaltung der Hirnzentren, und der Encephalisation, der progressiven Entwicklung der Großhirnrinde (Storch et al. 2007). Das Hirngewicht des rezenten Menschen liegt im Durchschnitt zwischen 1250 und 1350 g und macht etwa 2 % des Körpergewichtes aus; das Gehirn ist aber ein energetisch sehr aufwändiges Organ, welches allein rund ein Fünftel des Grundumsatzes beansprucht. Die Oberflächenvergrößerung wurde insbesondere durch die Ausbildung von gewundenen, rundlichen, durch Furchen (Sulci) voneinander getrennten Wülsten (Gyri) erreicht und resultiert in einer Oberfläche von 2200 bis 2500 cm2. Bemerkenswert ist vor allem das Produkt der Encephalisation: Die Großhirnrinde des Menschen ist um 30 % größer als bei allen anderen Primaten und übertrifft mit einem Volumen von 550–660 ccm das Gesamtgehirnvolumen eines Schimpansen (Martin 1990), welches knapp 1 % von dessen Körpergewicht ausmacht. Im generellen Aufbau unterscheidet sich das menschliche Gehirn nicht von jenen anderer Säugetiere, wohl aber in Bezug auf seine funktionelle Organisation. In der Großhirnrinde existieren sogenannte primäre, sekundäre und assoziative Felder, wobei letztgenannte die Informationen der primären und sekundären Felder (Registrierung und Bündelung sensorischer und motorischer Eingänge) verarbeiten und verknüpfen. Die assoziativen Felder (assoziativer Cortex) sind daher am ehesten mit intellektuellen Leistungen verknüpft. Nach Storch et al. (2007) hat die menschliche Großhirnrinde bis zu 90 % assoziative Funktion. 7 Die Hirnentwicklung des Menschen ist jedoch keine evolutive Neuheit per se, sondern entspricht allgemeinen Trends bei den Primaten, welche ihrerseits allgemeine Trends in der Entwicklung der Säugetiere fortführen.
Generell gilt, dass große Tiere schwerere Gehirne haben als kleine. Für die Beurteilung einer progressiven Gehirnentwicklung kommt es also darauf an, ob das Gehirn einer Spezies relativ zum Körpergewicht größer ist als, entsprechend des jeweiligen für die Wirbeltierspezies spezifischen Faktors, erwartet. Bei Wirbeltieren besteht eine Relation zwischen Hirngewicht und Körpergewicht in der Weise, dass das Gehirngewicht im Verhältnis von über die Wirbeltierklassen durchschnittlich 0,7:1 zum Körpergewicht zunimmt, was zunächst impliziert, dass kleinere Tiere generell relativ schwere Gehirne haben. Auch variiert dieses Durchschnittsverhältnis bei den verschiedenen Wirbeltierklassen: während es bei Reptilien bei 0,54:1
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liegt, steigt es bei den Säugetieren auf 0,76:1, d. h. die Hirnvergrößerung ist bereits ein Säugetiermerkmal innerhalb der Wirbeltiere. Innerhalb der Säugetiere wiederum haben Primaten größere Gehirne als andere Säuger gleichen Körpergewichtes. Innerhalb der nicht-menschlichen Primaten hat sich die absolute Gehirngröße als guter Prädiktor für die generellen kognitiven Fähigkeiten erwiesen (Deaner et al. 2007). Allerdings stößt die Quantifizierung kognitiver Fähigkeiten von Tieren auf erhebliche Probleme. Der Vergleich des Verhaltensrepertoires von freilebenden und in Gefangenschaft gehaltenen Primaten kann ausgesprochen irreführend sein, ebenso ist bei in Gefangenschaft gehaltenen Primaten der individuelle Erfahrungsschatz aus vorhergegangenen Testsituationen ausschlaggebend. Eine bislang immer noch nicht abschließend geklärte Frage bezieht sich darauf, ob die Variabilität kognitiver Fähigkeiten über verschiedene Taxa auf unterschiedliche Rationalitätsbereiche, gewissermaßen verschiedene „Wissensgebiete“ zurückzuführen ist, oder ob die Unterschiede genereller Natur sind („g“ für „generelle Intelligenz“). Die erstgenannte Hypothese dürfte die wahrscheinlichere sein. So konnten z. B. Amici et al. (2010) nach verschiedenen Aufgabenstellungen keine generellen Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten zwischen Menschenaffen und anderen nicht-menschlichen Primaten feststellen, wohl aber Unterschiede in Relation zur speziesspezifischen Sozioökologie, insbesondere im Hinblick auf fission-fusion-Systeme (s. u.). Der oben angeführte Gewichtsvergleich zwischen der menschlichen Großhirnrinde und dem Gesamtgehirngewicht eines Schimpansen zeigt, dass Menschen in diesem Aspekt einem allgemeinen Entwicklungstrend folgen. Dies gilt auch für die Encephalisation: Primaten haben gegenüber anderen Säugetieren einen vergrößerten assoziativen Cortex, und bei allen Primaten einschließlich des Menschen betrifft diese Vergrößerung insbesondere den Stirnlappen (Roth 1998). Bestimmte Lebenslaufparameter wie der geringe Entwicklungsgrad der Neugeborenen und insbesondere die lange Kindheits- und Jugendphase werden als spezifisch menschlich angesprochen. Nach herrschender Vorstellung ermöglicht die lange Wachstums- und Reifezeit es den menschlichen Nachkommen, kulturelles Verhalten zu erlernen und die erforderliche soziale Kompetenz für eine Lebensgemeinschaft zu erwerben, welche durch orale Tradition und kulturelle Werte und Normen gesteuert ist (Leigh 1996; Schröder 2000; Bogin und Smith 2000, s. auch Kap. 4.1). 7 Es kann jedoch gezeigt werden, dass auch diese menschlichen Lebenslaufparameter wiederum die konsequente Fortführung von Trends darstellen, welche in der Evolution der Primaten wirksam waren.
Jede Spezies muss für die ihr verfügbare Lebensspanne bestmöglich geeignete Zeiträume für Wachstum, Reifung, Reproduktion und Elterninvestment in die Jungen festlegen, ferner die verfügbaren Ressourcen in Reproduktion, Jungenaufzucht und Erhalt des eigenen Lebens in einer Weise aufteilen, mit der ein optimaler Reproduktionserfolg gewährleistet ist (Fleagle 1999). Die spezies-spezifischen Parameter der Ontogenese werden im Rahmen des „Life-History-Konzeptes“ (Stearns 1992)
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untersucht, mit einem Schwerpunkt auf der Aufwendung von Zeit und Energie für die Reproduktion (Box 2.2). Box 2.2: Das Life-History-Konzept
Life-History-Analysen • identifizieren zunächst die bedeutsamen ontogenetischen Variablen, die Life-History-Merkmale wie Größe bei der Geburt, Wachstumsverlauf und -geschwindigkeit, Alter und Größe bei Fortpflanzungsfähigkeit, Anzahl, Größe und Geschlechterverhältnis der Nachkommen, alters- und größenspezifisches reproduktives Investment, alters- und größenspezifische Mortalität, Lebensdauer und • konzentrieren sich anschließend auf deren Konsequenzen für Population, Art oder Stammlinie. Life-History-Konzepte haben nicht zum Ziel, die Ontogenese einer Organismengruppe zu untersuchen, sondern den Untersuchungsgegenstand im ontogenetischen Kontext zu prüfen. (Henke und Rothe 1998; Voland 2007). Im Vergleich zu anderen gleichgroßen Säugetieren zeichnen sich Primaten durch längere Schwangerschaften, geringere Wurfgrößen, ein höheres Geburtsgewicht, langsamere postnatale Wachstumsraten, ein höheres Alter bei der ersten Reproduktion und Langlebigkeit aus (Charnov und Berrigan 1993), wodurch die Lebenslaufparameter der Primaten zu den am langsamsten ablaufenden innerhalb der Säugetiere zählen (Übersicht bei Zimmermann und Radespiel 2007). Innerhalb der Ordnung der Primaten ist wiederum eine hohe Variabilität zu erkennen, z. B. ein Trend zu immer höherer Lebenserwartung bei gleichzeitig steigendem Elterninvestment in die Jungen, welches wiederum erreicht wird durch eine Verlängerung der Schwangerschaft, eine Reduktion der Wurfgröße, höhere Intergeburtenabstände, und eine verlängerte Abhängigkeit der Jungen. Die Eltern können sich somit um jedes einzelne Junge länger und intensiver kümmern. Folge der verlängerten Abhängigkeit ist wiederum ein späteres Eintreten in die Geschlechtsreife und damit ein später Zeitpunkt für die erste eigene Reproduktion (Voland und Winkler 1990). Bei allen Hominoidea ist die Geburt von jeweils nur einem Jungen die Regel. Während bei Gibbons die Schwangerschaft 210 Tage dauert, währt sie beim Schimpansen 238, beim Menschen 266 Tage. Die kindliche Abhängigkeit beträgt beim Gibbon 2 Jahre, bei Schimpansen 3 und bei Menschen 6 Jahre, gefolgt von einer Jugendzeit, welche beim Gibbon etwa 6, bei Schimpansen 7 und bei Menschen bis zu 14 Jahre dauern kann (Fleagle 1999; Geissmann 2003). Die energetischen Kosten des Hirnwachstums stehen offenbar in Beziehung zu den Lebenslaufparametern, welche bei Primaten mit großen Gehirnen langsamer ablaufen als bei jenen mit kleinen Gehirnen, und zwar unabhängig von der Körpergröße. Weitere einlussnehmende Faktoren sind die altersspeziische Mortalitätsrate (kürzere Reifezeit und frühere Reproduktion bei Spezies, welche ein hohes Mortalitätsrisiko im Erwachsenenalter haben), sowie sozioökologische Parameter (Predationsrisiko insbesondere für die Jungtiere, Gruppengröße, Elterninvestment bzw. Beteiligung von anderen Gruppenmitgliedern an der Jungenaufzucht; Zimmermann und Radespiel 2007).
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Wenngleich die Lebenslaufparameter des Menschen sich somit generell in die allgemeinen diesbezüglichen Trends der Primaten einordnen lassen, sind als Spezifika das zwar hohe Geburtsgewicht, aber der geringe Reifegrad der Neugeborenen hervorzuheben, die verlängerte Kindheit, das typisch menschliche Wachstums- und Reifungsmuster, sowie die im Vergleich zu den großen Menschenaffen kürzeren Intergeburtenabstände und größere Langlebigkeit, welche durch eine außergewöhnlich lange postreduktive Lebensphase gekennzeichnet ist (vgl. Kap. 4.1). Der geringe Reifegrad menschlicher Neugeborener im Vergleich zu anderen Primaten erklärt sich zwanglos aus dem großen Gehirn und der speziellen Form des an die Bipedie angepassten menschlichen Beckens, da ein höherer Entwicklungsgrad des Neugeborenen zu einem unmittelbaren Geburtshindernis führen würde. Kurz vor der Geburt verlangsamen die Feten ihr Wachstum in Anpassung an die mütterliche Beckenkonfiguration. Die Geburt von kleinen und wenig entwickelten (= altrizialen) Jungen ist charakteristisch für andere Säugetierordnungen, etwa die Carnivora, nicht aber für Primates, so dass beim Menschen sekundäre Altrizialität vorliegt (Schröder 2000). Ein gutes, wenn auch nicht völlig unwidersprochenes und letztendlich hoch komplexes Erklärungsmodell für die lange postreproduktive Lebensphase von Menschen, insbesondere messbar an der weiblichen Menopause, ist die „Großmutter-Hypothese“, welche besagt, dass Großeltern als Traditionsvermittler, Helfer im Haushalt und bei der Kinderaufzucht die Gesamtfitness erhöhen können (vgl. Kap. 4.2.7). Die menschliche Lebenserwartung, welche im Vergleich zu Schimpansen und Gorillas annähernd das Doppelte beträgt, wird im Zusammenhang mit ernährungsbedingten Selektionsdrücken während der Hominidenevolution gesehen, da sich das Nahrungsspektrum aufgrund der hohen energetischen Ansprüche des Gehirns in Richtung omnivoren Verhaltens mit einem regelmäßigen Konsum von tierischem Protein und Fett veränderte („expensive tissue hypothesis“ von Aiello und Wheeler (1995), vgl. Kap. 4.1.3) (Kaplan et al. 2003; Finch und Standford 2004). Primaten sind primär soziale Lebewesen, und ein Zusammenhang zwischen komplexem Sozial- und Kommunikationsverhalten und der progressiven Hirnentwicklung wird postuliert. Während die meisten Altweltaffen um eine Gruppe miteinander verwandter Weibchen organisiert sind (Fleagle 1999), haben sich bei den Hominoidea stark voneinander verschiedene Sozialsysteme herausgebildet. Gibbons galten lange Zeit als streng monogame Spezies, bei denen die Kleinfamilie aus dem Elternpaar und den noch nicht erwachsenen Nachkommen besteht. Dies ist zwar die Regel, jedoch konnte durch Sommer und Reichard (2000) nachgewiesen werden, dass Partnerwechsel häufig vorkommen und Gruppenbildung aus einem erwachsenen Weibchen und zwei erwachsenen, nichtverwandten Männchen nicht selten ist. Orang-Utans leben zumeist solitär, mit Ausnahme von Mutter/Kind-Dyaden, der temporären Bindung an den Sozialpartner zur Paarung, oder dem Aufsuchen von Fruchtbäumen zur Fruchtreife. Die Streifgebiete eines erwachsenen Männchens sind erheblich größer als jene der Weibchen, und das Männchen paart sich mit allen Weibchen im Überlappungsgebiet. Orang-Utans haben somit ein polygynes Sozialsystem, welches aufgrund seiner spezifischen Ausprägung auch als „explodedharem“ bezeichnet wird. Eine haremsartige Struktur findet sich bei Gorillas, bei denen
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die Gruppen in der Regel aus einem adulten Männchen („Silberrücken-Mann“), mehreren nicht miteinander verwandten Weibchen und deren Nachkommen, sowie einem oder mehrerer junger Männchen bestehen. Die starke Konkurrenz der Männchen um die jeweilige Führungsposition und die Monopolisierung der Weibchen durch ein Männchen dürfte ursächlich für den extremen Sexualdimorphismus dieser Spezies sein, bei welcher die Männchen mehr als doppelt so schwer wie die Weibchen werden können. Schimpansen wiederum leben in Sozietäten, welche alle Alters- und Geschlechtsgruppen umfassen und durch ein promiskes Paarungssystem gekennzeichnet sind. Die Gruppengröße ist flexibel, größere Gemeinschaften können gebildet werden und wieder in Untergruppen zerfallen („fission-fusionsociety“, Fleagle 1999). Echte Promiskuität als dauerhaftes Sozial- und Paarungssystem kommt in menschlichen Gesellschaften dagegen nicht vor (Schröder 1992), obgleich aufgrund der kulturellen Vielfalt diverse Systeme in menschlichen Gesellschaften existieren, sei es die Monogamie, die Polygynie oder sogar die Polyandrie. Weltweit dürfte Polygynie am häufigsten sein, wobei ein Individuum entweder zur selben Zeit (simultane Polygynie) oder nacheinander (serielle Polygynie) mehrere Sexualpartner hat (Betzig 1986). Strikte Monogamie ist häufig gesetzlich vorgeschrieben, wird aber nicht notwendigerweise auch praktiziert. Charakteristisch für menschliche Sozietäten sind die dauerhaften, engen persönlichen Beziehungen sowohl zu Verwandten als auch zu Nichtverwandten, und die Einordnung der jeweiligen Kernfamilie in eine übergeordnete Gemeinschaft (Schröder 2000). Der Gebrauch von Werkzeugen (= körperfremden Gegenständen) zur Verbesserung des Erreichens eines Zieles ist bei Wirbeltieren gut bekannt, etwa der Gebrauch von Steinen als Amboss (Seeotter, Europäische Singdrossel) oder als Hammer (Schmutzgeier), oder von Kaktusstacheln als Sonde und Spieß (Galapagosfink). Die Herstellung von Werkzeugen (= Bearbeitung körperfremder Gegenstände) galt lange als exklusive kognitive Fähigkeit von Hominiden und war namengebend für „Homohabilis“ („der geschickte Mensch“, vgl. Kap. 2.2). Werkzeugherstellung und -gebrauch, zusammengefasst als Werkzeugverhalten, bedarf einer bewussten Planung und Zielvorstellung. Studien von großen Menschenaffen in Freiheit und in Gefangenschaft haben bewiesen, dass es sich auch hier um keine exklusiv menschliche Fähigkeit handelt, wenngleich Menschen zweifellos die elaboriertesten Werkzeuge und sogar Maschinen herzustellen vermögen. Orang-Utans, Gorillas und Schimpansen lösen im Experiment Aufgaben, bei denen sie sich eines Hilfsmittels bedienen müssen, etwa eines Stockes zum Heranholen anderweitig nicht erreichbaren Futters. Das regelmäßig beobachtbare Zusammenfügen mehrerer kurzer Stöcke zu einer längeren „Angel“ erfüllt bereits das Kriterium der Werkzeugherstellung. Schimpansen zertrümmern Steine und benutzen die Splitter als Messer oder Stichel (Lethmate 1990). Insbesondere Schimpansen zeigen auch in freier Wildbahn vielfaches Werkzeugverhalten, so dass man ihnen den Besitz einer materiellen Kultur (Fleagle 1999), zumindest aber eine Kulturfähigkeit (Vogel 1983), nicht absprechen kann. Blätter werden als Schwamm benutzt, Zweige als Sonden oder Grabstöcke, Äste und Steine als Hammer zum Öffnen hartschaliger Nüsse, oder als Wurfgeschoss zur Verteidigung. Schimpansen reparieren
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ihre Werkzeuge auch, in dem sie z. B. Zweige, welche dem Angeln von Termiten dienen, mit den Zähnen richten und verbogene Enden abbeißen, bis die Angel wieder funktionsfähig ist. Boesch und Boesch (1990) haben als erste die Nussschmieden der westafrikanischen Schimpansenpopulationen beschrieben: Baumwurzeln oder Steine dienen als Amboss, Steine als Hammer zum Öffnen der Nüsse. Der Hammerstein wird entsprechend der Härte der Nussschalen ausgewählt und gezielt an den Ort des Nussvorkommens transportiert. Besonders geeignete Exemplare werden über längere Zeit herumgetragen oder an einem gesonderten Platz bis zur weiteren Verwendung niedergelegt. Dass Schimpansen planvolles und einsichtiges Werkzeugverhalten in freier Wildbahn zeigen, steht somit außer Frage, wodurch die Kluft zwischen Menschen und Menschenaffen wiederum erheblich geringer wird (Boesch und Tomasello 1998). Zwei Aspekte sind besonders zu betonen, um die Kulturfähigkeit von Schimpansen zu untermauern: Die Weitergabe der Fähigkeiten durch soziales Lernen, und die erheblichen Unterschiede in der Häufigkeit und Art des Werkzeugverhaltens zwischen verschiedenen Schimpansenpopulationen (Whiten et al. 1999). 7 Da Werkzeugverhalten und dessen Erwerb durch Lernprozesse auch bei anderen Primaten außerhalb der Hominoidea vorkommt (z. B. manche Makaken, Kapuzineraffen), ist auch die menschliche materielle Kultur als echtes Primatenerbe anzusprechen.
Es bleibt die Vokalsprache, zugleich eine Symbolsprache, welche die menschliche Kommunikation allen bekannten Formen tierischer Kommunikation überlegen erscheinen lässt. Entscheidend ist dabei zum Einen die Symbolhaftigkeit, d. h. das gesprochene Wort als Symbol für einen Gegenstand oder eine Handlung, welches verstanden wird, ohne dass der benannte Gegenstand präsent ist oder die benannte Handlung gerade ausgeführt wird. Zum Anderen bedarf es einer Grammatik, welche erst die Möglichkeiten eröffnet, nahezu beliebige Kombinationen von Wörtern und Silben zu bilden, welche bei Einhaltung bestimmter Regeln (Syntax) der Sprache ihren Bedeutungsinhalt verleihen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass eine Symbolsprache in diesem Sinne nicht notwendigerweise auch eine Vokalsprache sein muss – Gebärdensprachen erfüllen ebenfalls die genannten Kriterien. Zahlreiche Hirnareale sind für die Entwicklung einer Symbolsprache miteinander verknüpft. Die wesentlichen Areale befinden sich beim Menschen in unmittelbarer Nähe der Sylvischen Furche, und zwar in der linken Hirnhemisphäre: das Brocasche Zentrum, verantwortlich für die motorische Sprachfähigkeit, und das Wernickesche Zentrum, welches für das Sprachverständnis, d. h. die Umsetzung des Gehörten in dessen Bedeutung, zuständig ist. Die ausgeprägte Lateralisation der Sprachzentren (die rechte Hemisphäre ist sehr selten für die Sprache dominant, lediglich 2 % der Menschen haben keine Sprachdominanz einer Hirnhemisphäre, Storch et al. 2007) gilt ebenso für die Laut- als auch die Gebärdensprache (Hickok et al. 1996). Eine Schlüsselrolle kommt dem Planum temporale zu, einer Region innerhalb des Wernickeschen Zentrums und primär eine Komponente des auditorischen assoziativen Kortex, welche aber ebenso wesentlich für die Produktion und
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Stellung des Menschen in der Natur
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das Verständnis von Vokal- und Gebärdensprache ist. Lange Zeit galt diese Lateralisation als spezifisch menschlich, bis Gannon et al. (1998) nachweisen konnten, dass das linke Planum temporale in 94 % der von ihnen untersuchten Schimpansengehirnen ebenfalls signifikant vergrößert war. Die Evolution der menschlichen Sprache dürfte daher auf einem anatomischen Substrat basieren, welches bereits charakteristisch für den gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse war. Gleiches gilt für die Asymmetrie und Lateralisation des Brocaschen Zentrums, insbesondere der dort lokalisierten Brodmann-Region 44 (Cantalupo und Hopkins 2001). Eine Beteiligung an der Sprachentwicklung wird zu Recht auch den so genannten Spiegelneuronen zugeschrieben, welche beim Menschen mit dem Brocaschen Zentrum assoziiert sind, und welche sowohl bei Affen als auch Menschen vorhanden sind – tatsächlich wurden sie zuerst bei Affen entdeckt (Rizzolatti und Sinigaglia 2008). Spiegelneurone werden unbewusst aktiv, wenn Handlungen oder auch Emotionen eines Gegenübers lediglich beobachtet werden, sie „spiegeln“ dessen Handlungen/Emotionen im Betrachter (z. B. „ansteckendes“ Gähnen). Bei Menschen reicht es aus, sich bestimmte Dinge lediglich vorzustellen, um eine neuronale Antwort auszulösen. Dass diese spezialisierten Nervenzellen auch eine wesentliche Rolle während des Lernens durch Beobachten spielen, liegt auf der Hand (z. B. Mukamel et al. 2010). Das Vorhandensein von Spiegelneuronen bei nicht-menschlichen Primaten lässt bereits darauf schließen, dass diese Tiere sowohl empathie- als auch symbolfähig sind. Schimpansen erlernen Symbolsprachen wie z. B. die Taubstummensprache oder mittels Bedienung von Computertastaturen, so dass eine Kommunikation zwischen Menschen und Schimpansen möglich wird. Erlernte Symbolsprachen werden auch von den Tieren untereinander benutzt. Es konnte zweifelsfrei gezeigt werden, dass Schimpansen keinesfalls lediglich im „Hier und Jetzt“ leben, sondern ebenso Erinnerung an Vergangenes wie Erwartungen an die Zukunft haben, und dass sie Gefühle wie Trauer und Freude zum Ausdruck bringen (Fouts 1997). Der Bonobo „Kanzi“ verfügt über ein großes aktives und ein noch größeres passives Verständnis von 500 Wörtern, wobei das Gehörte auch über Kopfhörer verstanden wird. Er versteht spontan für ihn neue Sätze mit komplexer Syntax, wie z. B. eingeschobene Sätze oder Pronomina, und ist in bezug auf seine Sprechkompetenz einem 2½ jährigen Kind äquivalent (Savage-Rumbaugh et al. 1998). Und auch Gorillas können Erstaunliches leisten: Das Gorillaweibchen „Koko“ kommuniziert in Gebärdensprache und versteht auch das gesprochene Wort. Sie kann einfache Bedienungen am Computer ausführen und einige gedruckte Wörter sogar lesen, sie beweist im Spiel eine hohe Vorstellungskraft (Patterson und Gordon 2001). Bislang sind jedoch noch keine Menschenaffen, auch nach intensivem Training, in Bezug auf ihre Sprachkompetenz über die Stufe eines menschlichen Kleinkindes hinausgekommen und bleiben deutlich hinter den durchschnittlichen Leistungen eines erwachsenen Menschen zurück, welcher über einen aktiven Wortschatz von etwa 10.000 Wörtern und einen rund zehnmal größeren passiven Wortschatz verfügt. 7 Dennoch kann heute keinesfalls mehr davon ausgegangen werden, dass die menschliche Sprache in der Natur etwas Einzigartiges darstellt.
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Evolution des Menschen
Einzigartig sind vielmehr die kombinatorischen Effekte aus der Weiterentwicklung der neuronalen Sprachzentren, der Vergrößerung präfrontaler Hirnareale, und die Umgestaltung des Kehlkopfes, welcher die menschliche Vokalsprache ermöglicht. Was Menschen von ihren nächsten Verwandten unterscheidet, sind die Möglichkeiten einer enorm verbesserten Handlungs- und Zukunftsplanung (Roth 1998). Zusammenfassung Kap. 2.1: Stellung des Menschen in der Natur
• Menschen gehören zu der Ordnung Primates und sind gemeinsam mit Schimpansen und Gorillas Angehörige der Unterfamilie Homininae. • Die habituelle Bipedie des Menschen ist eine spezielle Art der Fortbewegungsweise, welche einzigartig unter den Säugetieren ist. • Andere scheinbar exklusiv menschliche Merkmale sind jedoch trotz einiger Spezifika eindeutig in der Fortführung von Evolutionstrends innerhalb der Primaten aufzufassen, darunter die Hirnentwicklung, die verlängerte Kindheit und Jugend, die materielle Kultur und die Entwicklung von Sprache. Aus biologischer Sicht ist eine echte „Sonderstellung von Menschen in der Natur“ daher unbegründet.
2.2
Stammesgeschichte
Die Rekonstruktion der menschlichen Stammesgeschichte ist ein Forschungsfeld, in dem Ergebnisse und Erkenntnisse aus vielen Teildisziplinen der Natur- und Kulturwissenschaften integriert werden. Die bis heute wichtigste Säule ist die Paläoanthropologie, die sich mit der Analyse der Fossilfunde befasst. Aus einer ursprünglich deskriptiven Fossilkunde hervorgegangen, nehmen in der heutigen Paläoanthropologie funktionsmorphologische Analysen einen breiten Raum ein, um die taxonomische Einordnung, die phylogenetischen Beziehungen und die gestaltlichen Umwandlungen zu klären. Somit hat sich die Paläoanthropologie von einer „subjektiven, narrativen Disziplin“ in ein „theoriegeleitet und deduktiv forschendes“ Wissenschaftsfeld gewandelt (Henke 2003). Doch auch Forschungsergebnisse aus der Molekularbiologie, der Evolutionsökologie und der Ethologie sind unverzichtbar, um den Prozess der Menschwerdung zu entschlüsseln (s. Box 2.3). In dem vorliegenden Kapitel wird – zu Gunsten eines breiten Überblicks – auf viele Einzelheiten verzichtet, die umfassend in anderen Lehrbüchern dargestellt sind. Besonders zu empfehlen ist das dreibändige „Handbook of Paleoanthropology“ (Henke und Tattersall 2007). Box 2.3: Proteine, DNA und Evolution des Menschen
Nicht nur die an den Fossilien erkennbaren anatomisch-morphologischen Merkmale haben sich im Laufe der Evolution verändert, sondern auch die den physiologischen und genetischen Prozessen zu Grunde liegenden molekularen Strukturen. Leider unterliegen die großen und informationsträchtigen Biomoleküle wie Proteine und DNA nach dem Tod eines Organismus einer erheblichen Degra-
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Stammesgeschichte
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dation. Aufgrund großer technischer Fortschritte in der Paläogenetik sind aber dennoch bahnbrechende Erfolge zu verzeichnen, wie z. B. die Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms (s. Kap. 2.3.5). Unabhängig von noch kontrovers diskutierten Aspekten der Paläogenetik (s. dort) haben aber molekularbiologische Untersuchungen einen erheblichen Beitrag zu unserem Verständnis vom Ablauf der menschlichen Stammesgeschichte geleistet. Da kaum Biomoleküle ausgestorbener Spezies für entsprechende Analysen zur Verfügung stehen, werden – je nach Fragestellung – verschiedene Primatenspezies miteinander verglichen oder unterschiedliche Populationen des rezenten Menschen, so dass Rückschlüsse auf den Ursprung des modernen Homosapiens möglich sind. Die ersten molekularbiologischen Untersuchungen in den 1960er Jahren waren immunchemische Vergleiche der Serumalbumine verschiedener Hominoidea (Sarich und Wilson 1967). Sie legten nahe, dass die Trennung der zu den Hominini und der zu den rezenten afrikanischen Menschenaffen führenden Linien nicht – wie damals vermutet – 15 bis 20 oder sogar 30 Mio. Jahre zurückliegt, sondern eher 5 Mio. Jahre. In der Folgezeit erweiterte sich das methodische Arsenal der molekularbiologischen Evolutionsforscher ganz erheblich. Zunächst konnten weitere Proteine vergleichend immunologisch analysiert werden (z. B. Hämoglobin, Cytochrom C), später kamen Aminosäuresequenzanalysen von Proteinen hinzu und schließlich wurde auch die DNA direkt untersucht, wobei zwei Verfahren unterschieden werden können: die DNA-DNA-Hybridisierung und die DNA-Sequenzierung (Friday 1992). Die so gewonnenen Daten werden auch als Molekulare Uhr zur paläogenetischen Datierung herangezogen. Dieses Konzept beruht auf der Annahme, dass durch Punktmutationen hervorgerufene Änderungen auf der Ebene der Moleküle auch über lange Zeiträume hinweg gleichmäßig stattfinden, so dass man den Zeitpunkt bestimmen kann, zu dem sich bestimmte Stammlinien getrennt haben (Wilson und Cann 1992). Doch die molekulare Datierung wird auch kritisch betrachtet, weil unterschiedliche molekulare Systeme unterschiedlich schnell mutieren und weil die Mutationsraten doch nicht gleichmäßig in der Zeit stattfinden. Henke und Rothe (1998) meinen daher zu Recht, dass Referenzdaten aus anderen Forschungsdisziplinen gewissermaßen als Taktgeber benötigt werden, um die Molekulare Uhr zu eichen. Davon unabhängig aber bieten vergleichende molekularbiologische Analysen ein wertvolles Instrument, um verwandtschaftliche Nähe oder auch verwandtschaftliche Distanz zu untersuchen.
2.2.1
Die Wurzeln der Homininae und Ponginae
Das Miozän (s. Tab. 2.3) wird aufgrund der Radiation7 der Hominoidea auch als deren „goldenes Zeitalter“ bezeichnet. Die vielfältigen Primatenformen besitzen oft schon Attribute der Menschenaffen, wie z. B. die Schwanzlosigkeit, verlängerte Radiation = evolutive Auffächerung einer Art durch Adaptationen in mehrere Arten unterschiedlicher Spezialisierungen, damit Besetzung unterschiedlicher ökologischer Nischen. 7
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Evolution des Menschen
Tab. 2.3 Kurzübersicht zur Evolution der Primaten Epoche Zeitrahmen Evolutionsereignisse Holozän 10.000–heute Genetische Adaptationen innerhalb der Spezies Homo sapiens(s. Kap. 2.3.5 und 3.1) Pleistozän 1,64 Mio–10.000 Entstehung des modernen Homosapiens, Aussterben mehrerer Hominini-Arten Pliozän 5,2–1,64 Mio Radiation der Hominini ( Ardipithecus,Australopithecus, Paranthropus,Homo) Miozän 23,3–5,2 Mio Radiation der Hominoidea (z. B. Proconsul,Sivapithecus, Ouranopithecus,Dryopithecus) Oligozän 35,4–23,3 Mio Erste höhere Affen (z. B. Aegyptopithecus), Trennung von Cercopithecoidea und Hominoidea Eozän 56,5–35,4 Mio Trennung von Alt- und Neuweltaffen Paläozän 65–56,5 Mio 1. Radiation der Primaten aus Vorfahren, die zu den Insektenfressern gehörten
Lebenslaufparameter, und einen Grad der Encephalisation, der etwa jenem der Hylobatiden entspricht (Begun 2007). Diese frühen Hominoidea wurden sowohl in Europa, Asien, als auch Afrika gefunden. Bis heute wird kontrovers diskutiert, welche fossilen Primaten in die Vorfahrenlinie der rezenten Ponginae und Homininae gehören (zur Nomenklatur s. Box 2.4 sowie Kap. 2.1). Es wird vermutet, dass sich klimabedingt die westeurasischen Hominoidea nach Afrika zurückzogen und dort zu den Vorfahren der afrikanischen Menschenaffen und der frühen Homininen evolvierten, wohingehend aus einer östliche Gruppe in Südostasien die Vorfahren der Ponginen wurden (Begun 2007). Die frühmiozänen Hominoidea stammen aus Afrika, die bekannteste und bereits in den 1930er Jahren entdeckte Gattung Proconsul ist mit 19 bis 20 Mio. Jahren auch die älteste. Lange Zeit wurde Proconsul als letzter gemeinsamer Vorfahr der heutigen Menschenaffen und der Hominini diskutiert. Allerdings lebten die archaischen Proconsuliden zu früh, um nach unserem heutigen Kenntnisstand als letzte Vorfahren in Frage zu kommen, sie stellen eher das wahrscheinliche Bindeglied zu den rezenten großen afrikanischen Menschenaffen und Menschen dar (Koufos 2007). Wie Proconsul stammte auch Afropithecus aus Kenya, der vor 17 bis 18 Mio. Jahren bereits etwa so groß wie ein moderner Schimpanse war. Aus dem mittleren Miozän seien an dieser Stelle Kenyapithecus (ca 14 Mio. Jahre), Ouranopithecus, Sivapithecus und Griphopithecus genannt. Vertreter aller dieser Gattungen haben gemeinsame abgeleitete Merkmale des Gebisses, die jenen der rezenten Menschenaffen ähneln. Funde von Griphopithecus stammen aus Europa (Slovakei, Österreich, Deutschland, Türkei), ebenso wie die deutlich jüngeren Funde von Ouranopithecus (Griechenland, 9,3 bis 8,7 Mio. Jahre). Aufgrund sehr spezieller morphologischer Merkmale und der Fundorte in Indien und Pakistan gilt Sivapithecus (12,5 bis 8,5 Mio. Jahre) heute als wahrscheinlichster Vorfahre der heutigen Orang-Utans (Koufos 2007). Dryopithecus, aus West- und Zentraleuropa stammend, war namengebend für das gemeinsame Zahnkronenmuster der ersten
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Stammesgeschichte
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Dauermolaren des Unterkiefers bei Hominoidea und Hominini, das DryopithecusMuster8. Die frühmiozänen Hominoidea lebten auf Bäumen und bewegten sich quadruped (auf allen vier Extremitäten) fort. Die Zahnmorphologie miozäner Menschenaffen zeigt, dass sie zumindest mit Blick auf ihre Ernährung ökologisch unterschiedlich eingenischt waren: Proconsul und Dryopithecus gelten als eher generalisierte Früchtefresser, andere spätere Arten wie Ouranopithecus oder Afropithecus waren auf den Verzehr harter Nahrung spezialisiert und Kenyapithecus und Oreopithecus haben sich vermutlich folivor (Blätter essend) ernährt. Ab dem mittleren Miozän dominieren eurasiatische Funde verschiedener Hominoidea den Fossilreport (s. oben). Die Besiedlung außerafrikanischer Regionen soll in mehreren Wellen erfolgt sein, vermutlich ermöglichten bewaldete Korridore zwischen Afrika und Eurasien die Ausbreitung. Bei diesen Menschenaffen (z. B. Oreopithecus, Sivapithecus, Dryopithecus) sind nun auch Veränderungen des postkranialen Skeletts nachweisbar; die Knochen des Rumpfes und der Extremitäten lassen auf eine überwiegend suspensorische Fortbewegung schließen: Die Menschenaffen bewegten sich nicht mehr auf den Ästen, sondern überwiegend im Geäst hängend fort. Oreopithecus ist, verglichen mit den oben beschriebenen Gattungen, jüngeren Datums (7,0 bis 6,0 Mio. Jahre), wurde in Italien gefunden und weist in seinem postkranialen Skelett Ähnlichkeiten zu den heutigen Gibbons auf. Vielleicht ist Oreopithecus der älteste bis heute bekannte ursprüngliche Menschenaffe (Koufos 2007). Es ist heute nicht entscheidbar, welche der zahlreichen Arten in die direkte Vorfahrenlinie der Menschen und Menschenaffen gestellt werden kann. Besondere Probleme bereitet die Bewertung, ob es sich bei bestimmten Merkmalen um ursprüngliche oder abgeleitete Merkmale handelt oder ob diese mehrfach unabhängig voneinander entstanden sind. Außerdem liegen bislang aus dem kritischen Zeitraum der Aufspaltung von Hominini und Panini vor ca. acht bis fünf Millionen Jahren kaum Funde vor, die es gestatten, zweifelsfreie Bezüge zu vorausgegangen miozänen Hominoidea herzustellen. Die zu Beginn unseres Jahrhunderts entdeckten Fossilien Sahelanthropustchadensis und Orrorintugenensis stellen wahrscheinlich Bindeglieder zwischen den miozänen Hominoidea und den plio/pleistozänen Homininen dar (Koufos 2007; s. Kap. 2.2.4). Box 2.4: Hominid oder hominin?
Lange Zeit ging man davon aus, die Überfamilie der Hominoidea in drei Familien zu untergliedern, die Hylobatidae (Kleine Menschenaffen), Pongidae (Große Menschenaffen) und Hominidae (Menschenartigen). Nach neueren Erkenntnissen der Phylogenetischen Systematik (s. auch Kap. 2.1) werden Gorillas, Schimpansen und Menschen gemeinsam in die Unterfamilie der Homininae gestellt, die asiatischen Orang-Utans hingegen in die Unterfamilie der Ponginae. Dryopithecus-Muster = syn. Y-5-Muster, der erste bleibende Molar des Unterkiefers hat fünf Höcker, welche von einer Y-förmigen Furche voneinander getrennt sind. 8
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Evolution des Menschen
Alle aufrecht gehenden Mitglieder der Homininae – fossile Formen ebenso wie der moderne Homo sapiens – werden zu den Hominini zusammengefasst, die Nachbargruppen werden als Panini und Gorillini bezeichnet. Wenn in diesem Kapitel von hominin oder Homininen die Rede ist, ist der Begriff daher weitgehend deckungsgleich mit den in der älteren Literatur gebräuchlichen Begriffen hominid und Hominiden. Wichtige Kriterien für die Einordnung eines homininen Fossilfunds sind beispielsweise Größe der Zähne, Lage des Foramen magnum ( = Hinterhauptsloch) und Schädelmorphologie, am postkranialen Skelett alle Merkmale, die Hinweise auf die Lokomotion liefern, wie z. B. Morphologie des Beckens, Form und Proportionen der großen Arm- und Beinknochen oder Form der Hand- und Fußknochen. Diagnostische „Leitmerkmale“ für Hominini sind nach Pawłowski (2007) die Bipedie sowie die größere Zahnschmelzdicke. Sehr fragmentarische oder liegezeitbedingt deformierte Fossilfunde gestatten manchmal keine eindeutige Beurteilung der Kriterien, so dass eine Zuordnung zu den Hominini nicht immer zweifelsfrei möglich ist. Besonders zurückhaltend oder sogar kontrovers werden vor allem jene neuen Funde diskutiert, deren Datierung sie in eine große zeitliche Nähe zum vermuteten letzten gemeinsamen Vorfahren von Panini und Hominini stellt.
2.2.2
Die Vielfalt der Hominini
Zahlreiche bedeutende Fossilfunde der letzten dreißig Jahre haben die Erforschung der Evolution des Menschen und anderer Homininen zu einer dynamischen Wissenschaft werden lassen, in der mit jedem neuen Fund neue Fragen gestellt werden. 7 Je nach taxomischer Zuordnung der homininen Fossilien werden heute bis zu sieben Gattungen mit insgesamt mehr als zwanzig Arten unterschieden.
Eine Zusammenstellung der wichtigsten Funde, welche gewissermaßen Meilensteine in der menschlichen Phylogenie darstellen, ist der Tab. 2.4 zu entnehmen. Einen Überblick über die bis heute identifizierten Akteure auf der vorgeschichtlichen Bühne gibt Abb. 2.8. Die Gültigkeit und Bedeutung mehrerer dort aufgeführter Taxa ist allerdings strittig. Dies gilt besonders für die neuesten Funde, die ihrer Datierung nach dem letzten gemeinsamen Vorfahren der Hominini und Panini sehr nahe kommen.
2.2.3
Die Schwierigkeit, Ordnung in die Vielfalt zu bringen
Allein die Funde, die seit 1990 publiziert wurden (s. Tab. 2.4), zeigen den enormen Forschungszuwachs, den die Gruppe der Hominini zu verzeichnen hat. Hinzu kommen laufend neue Erkenntnisse durch anatomische und funktionsmorphologische Vergleiche der verschiedenen Fossilien und neue methodische Ansätze, um die
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Stammesgeschichte
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Tab. 2.4 Wichtige Homininenfunde in chronologischer Reihenfolge Herkunft Datierung (Jahre) Entdeckt Spezies Westafrika 7–6 Mio 2001 Sahelanthropus tchadensis Ostafrika 6,2–5,8 Mio 2001 Orrorintugenensis 5,8–5,2 Mio 1997 Ardipithecuskadabba Ostafrika Ardipithecusramidus Australopithecus anamensis Australopithecus afarensis Kenyanthropus platyops Australopithecus bahrelghazali Australopithecus africanus Paranthropus aethiopicus Homo/Australopithecushabilis Paranthropusboisei Australopithecusgarhi Australopithecus sediba Homoerectus
Senut et al. (2001) Haile-Selassie et al. (2004) White et al. (1994) Leakey et al. (1995)
Ostafrika Ostafrika
ca 4,4 Mio 4,2–3,9 Mio
1994 1995
Ostafrika
3,9–2,9 Mio
1974
Ostafrika
ca 3,5 Mio
1999
Johanson und Taieb (1976) Leakey et al. (2001)
Westafrika
3,5–3,0 Mio
1993
Brunet et al. (1996)
Südafrika
3,3–2,1 Mio
1924
Dart (1925)
Ostafrika
2,7–2,3 Mio
1967
Afrika
2,4–1,4 Mio
1960
Arambourg und Coppens (1968) Leakey et al. (1964)
Ostafrika Ostafrika Südafrika
2,3–1,2 Mio ca 2,2 Mio 2,0–1,8 Mio
1959 1990 2008
Leakey (1959) Asfaw et al. (1999) Berger et al. (2010)
1891
Dubois (1894)
1986
Alexeev (1986)
2,0–1,5 Mio 1,8 Mio 1,2 Mio–800.000
1938 1991 1994
Europa, Asien 700.000–200.000 Europa, Asien 200.000–28.000
1908 1829
Broom (1938) Gabunia et al. (2000) Bermudez de Castro et al. (1997) Schoetensack (1908) King (1864)
Ostafrika Asien
1997 2003
White et al. (2003) Brown et al. (2004)
Afrika, Asien, 1,9 Mio–70.000 Europa Ostafrika 1,9–1,8 Mio
Homo/ Australopithecus rudolfensis Paranthropusrobustus Südafrika Europa Homogeorgicus Europa Homoantecessor Homoheidelbergensis Homo neanderthalensis Homosapiensidaltu Homofloresiensis
Erstveröffentlichung Brunet et al. (2002)
160.000 95.000–12.000
Vielfalt zu strukturieren. Einige Vertreter haben mehrfach den Namen gewechselt, wie z. B. Paranthropusboisei, der früher als Australopithecusboisei und davor als Zinjanthropusboisei bekannt war. Eine weitere sehr kontrovers diskutierte Spezies ist Homohabilis. Früher wurde das Taxon von vielen als nicht valide angesehen und die Fossilien entweder den Australopithecinen oder dem Homoerectus zugerechnet. Heute ist die Existenz der Art Homohabilis zwar vielfach akzeptiert, doch
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2
Evolution des Menschen
Abb. 2.8 Übersicht über die bisher bekannten Hominini-Arten und ihre zeitliche Einordnung. Unsichere Datierungen sind durch Querbalken angedeutet. Zur Validität einzelner Taxa und zu alternativen Klassifikationsmöglichkeiten s. Text
aufgrund der morphologischen Variabilität werden einzelne Funde ausgegliedert und anderen Arten zugeordnet, dies gilt z. B. für KNM-ER9 1470, der nunmehr von vielen Anthropologen in die Art Homorudolfensis gestellt wird. Wood (2002) 9 Für Eingeweihte liefert oft schon die Fundbezeichnung wichtige Informationen. In diesem Fall setzt sie sich zusammen aus dem Kürzel KNM für Kenya National Museum, der Abkürzung ER für East Rudolph und einer laufenden Nummer. Das Namensbestandteil KNM weist also auf das Herkunftsland Kenia hin; das Kürzel ER enthält nicht nur Hinweise auf die Region (Ostufer des Rudolfsees), sondern auch auf den Zeitpunkt der Entdeckung, denn der frühere Rudolfsee wurde 1975 in Turkanasee umbenannt. Bei den heutigen Funden aus der Region enthält die Katalognummer die Fundortkürzel ET (East Turkana) oder WT (West Turkana). Analog dazu können auch die anderen Funde meist schnell anhand der Katalognummer geografisch eingeordnet werden, die Funde aus der Olduvai-Schlucht in Tansania beginnen stets mit dem Kürzel OH für Olduvai Hominide und die Funde aus der Afar-Region in Äthiopien tragen die Kurzbezeichnung AL für Afar Locality.
2.2
Stammesgeschichte
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nimmt zwar ebenfalls eine Differenzierung in zwei Spezies vor, bleibt jedoch bei der Ansicht, dass es sich nicht um Angehörige der Gattung Homo handelt, sondern um Australopithecusrudolfensis undAustralopithecushabilis. Ein wieder anderes Klassifikationsschema stellt diesen Fund aufgrund morphologischer Übereinstimmungen mit dem 1999 entdeckten Kenyanthropusplatyops inzwischen als Kenyanthropusrudolfensis in eine andere Gattung (Lieberman 2001). White et al. (2003) wiederum klassifiziert Kenyanthropus als Australopithecus afarensis (s. unten). Je nach Bewertung wird also der Fund 1470 als Homohabilis, Homorudolfensis, Kenyanthropus rudolfensis oder Australopithecus rudolfensis bezeichnet. Diese für Nichtfachleute verwirrende Vielfalt spiegelt ein Kernproblem bei der Artdifferenzierung der Hominini wider: die Einschätzung von Unterschieden als „interspezifisch“ oder „intraspezifisch“, also die Entscheidung, ob die individuellen Merkmalsausprägungen einzelner Funde noch in die Variationsbreite einer Spezies fällt oder so stark von anderen ähnlichen Funden abweicht, dass sie einer anderen Spezies angehören. Bei der taxonomischen Zuordnung kommt erschwerend hinzu, dass der Artbegriff in der Biologie eine erhebliche Wandlung erfahren hat (s. Box 2.5). Der jetzigen heterogenen Fundsituation und der immer noch kontrovers diskutierten verwandtschaftlichen Beziehungen der zahlreichen Hominini entsprechend hat auch die Anzahl möglicher Stammbäume drastisch zugenommen, so dass einige Anthropologen meinen, es sei unmöglich, in dem „Wald“ den richtigen Stammbaum zu identifizieren. Aus diesem Grund wird auch in dem vorliegenden Kapitel darauf verzichtet, einen Stammbaum darzustellen; dennoch werden mögliche verwandtschaftliche Beziehungen zwischen verschiedenen Arten vorgestellt. Box 2.5: Was ist eine Art?
Es ist in der biologischen Systematik erforderlich, Lebewesen nach dem Grad ihrer Verwandtschaft in Gruppen zu klassifizieren; die zentrale Einheit ist dabei die Art. Allerdings hat sich der Artbegriff bzw. seine Definition im Laufe der Zeit verändert. Das Artkonzept bei Linné, der die biologische Systematik im 18. Jahrhundert begründete, war typologisch, er fasste Organismen aufgrund morphologischer Ähnlichkeiten zu Arten zusammen. Dieses heute nicht mehr gebräuchliche Konzept bezeichnet man als Morphospezies. Als „prädarwinischer“ Naturforscher ging Linné noch davon aus, dass Arten statisch sind, sich also mit der Zeit nicht verändern. Die Akzeptanz der Evolutionstheorie hatte daher geradezu zwangsläufig die Konsequenz, dass sich die Definition der Art veränderte. Eine heute weit verbreitete Begriffsbestimmung der Art beruht auf dem Konzept der Fortpflanzungsgemeinschaft. Zu einer Art gehören danach Lebewesen, die sich miteinander fortpflanzen. Die fortgesetzte Zeugung fruchtbarer Nachkommen ist nur innerhalb einer Art möglich, nicht über Artgrenzen hinweg (z. B. Mayr 1975). Elterntiere, welche verschiedenen Arten angehören, können zwar manchmal Nachkommen zeugen (z. B. Pferd und Esel, Dromedar und Trampeltier), jedoch geschieht dies in der Regel nicht in freier Natur; vor allem aber sind diese Nachkommen eingeschränkt fruchtbar oder sogar steril
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Evolution des Menschen
(manchmal betrifft die Sterilität nur ein Geschlecht der Hybriden). Damit entfällt das entscheidende Kriterium der fortgesetzten Fruchtbarkeit. Im Gegensatz zu der Behauptung vieler Gegner der Evolutionstheorie ist Artbildung daher sehr wohl beobachtbar, selbst bei großen Säugetieren. Bei diesem Konzept der Biospezies spielen morphologische Ähnlichkeiten keine zentrale Rolle. Auch diese Artdefinition hat jedoch Defizite, so trifft sie z. B. nicht auf Organismen zu, die sich nur uniparental fortpflanzen. Außerdem ist das Kriterium der fruchtbaren Kreuzung in jenen Fällen nicht prüfbar, in denen Populationen räumlich oder zeitlich getrennt existieren. Letztes ist besonders problematisch für die Definition fossiler Arten. Der phylogenetischen Systematik (s. Kap. 2.1) liegt das Konzept der evolutionären Art zu Grunde: danach sind Arten „Vorfahren-Nachfahren-Linien von tatsächlich oder potentiell sich kreuzenden Populationen, die aus biologischen Gründen vollständig reproduktiv von anderen solchen Linien isoliert sind. Arten entstehen durch die Aufspaltung ihrer Stammart infolge ausgebildeter Reproduktionsbarrieren und erlöschen ebenso durch ihre eigene Aufspaltung oder durch nachkommenloses Aussterben“ (Wiesemüller et al. 2003). Für die Paläoanthropologie ist noch ein weiterer Artbegriff von Bedeutung: die Chronospezies, welche eine zeitliche Trennung der postulierten Arten beinhaltet. Bei der Abgrenzung von fossilen Spezies ist zu berücksichtigen, dass Arten sich im Laufe der Zeit verändern können, und durch die zeitlichen Lücken im fossilen Befund ist es oft problematisch, die Zusammengehörigkeit früher und später Vertreter einer Art korrekt zu erkennen. Daher werden von vielen Paläontologen und Paläoanthropologen Fossilien in unterschiedliche Arten gestellt, wenn sie sich deutlich voneinander unterscheiden und zeitlich voneinander getrennt sind. Diese willkürliche subjektive Unterteilung aufgrund anatomischmorphologischer Kriterien führt zur Klassifikation von Chronospezies. Das zugrunde liegende Konzept ist wieder typologisch wie bei der Morphospezies und steht im Widerspruch zum evolutionären Artkonzept, das für die Differenzierung von Arten ein Aufspaltungsereignis erfordert.
2.2.4
Die frühesten Homininen
In den vergangenen Jahren sind drei von ihren Entdeckern als hominin klassifizierte fossile Arten gefunden worden, die aufgrund ihrer Datierung der vermuteten Aufspaltung zwischen der zu den Hominini und den Panini führenden Linien sehr nahe kommen. Sie haben daher möglicherweise große Ähnlichkeiten mit dem letzten gemeinsamen Vorfahren. Als wichtigste diagnostische Merkmale werden der Erwerb der Bipedie (s. unten) sowie Veränderungen des Gebisses angesehen. Während die miozänen Menschenaffen einen dünnen Zahnschmelz hatten, der nahe legt, dass sie sich hauptsächlich von reifen Früchten ernährten, weisen frühe Hominini einen dicken Zahnschmelz auf und haben damit vermehrt eine harte und abrasive Nahrung konsumiert. Weitere typisch menschliche Merkmale wie z. B. die altsteinzeitliche Technologie, traten erst im späten Pliozän auf, nachdem sich die stammesgeschichtlichen Linien zum Menschen und den Menschenaffen getrennt hatten. Da es kaum
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Fossilfunde gibt, die zwischen 8 und 5 Mio. Jahre alt sind, kann der letzte gemeinsame Vorfahre von Schimpanse und Mensch nur hypothetisch durch den Vergleich von Fossilien der frühesten Homininen mit modernen Menschenaffen rekonstruiert werden (Pawłowski 2007). Aufgrund ihrer Datierung kommt daher nachstehend aufgeführten Taxa besondere Bedeutung zu. Sahelanthropus tchadensis (Holotypus10 TM 266–01-0606–1) ist eine aufgrund von Fossilfunden aus dem Tschad im Jahr 2002 neu beschriebene Art (Brunet et al. 2002). Es handelt sich um den ältesten bisher bekannten Vertreter der Homininen, denn er wird aufgrund der Begleitfauna auf ein Alter von 6 bis 7 Mio. Jahre geschätzt! Der Fund umfasst ein nahezu vollständiges Cranium sowie Fragmente des Unterkiefers und weist ein einzigartiges Mosaik ursprünglicher und abgeleiteter Merkmale auf. Aufgrund verschiedener Zahn- und Schädelmerkmale, die bei keiner lebenden oder ausgestorbenen Gattung der Hominoidea zu beobachten sind, haben die Erstbeschreiber das Fossil in eine neue Gattung gestellt. Einige Merkmale des Sahelanthropus sind eher menschenaffenähnlich (kleines Gehirn, Schädelform), andere Merkmale sind eher für die späteren Homininen typisch (z. B. kleine Eckzähne, Position des Hinterhauptsloches, welche nahe legt, dass der Schädel bereits aufrecht auf dem Körper wie bei der Bipedie balanciert wurde). Es wird deswegen vermutet, dass das Fossil dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen sehr nahe steht. Der Sahelanthropustchadensis nimmt also in zweierlei Hinsicht eine besondere Stellung ein. Zum einen handelt es sich um einen Fund, der im Tschad gemacht wurde, also weit abseits der bekannten Fundorte im Ostafrikanischen Grabenbruch. Zum anderen ist er aufgrund der Datierung der früheste bekannte Vertreter der Homininen-Linie. Ein weiterer neuer Homininenfund ist Orrorin tugenensis (Holotypus BAR 1000’00) aus dem Baringo-Distrikt im Nordwesten Kenias. Sein Alter wird auf etwa sechs Millionen Jahre geschätzt. Die Entdecker (Senut et al. 2001) sind der Ansicht, dass es sich bei Orrorin um einen Vorfahren der Gattung Homo handelt, der aufgrund seiner Oberschenkelmorphologie durch fakultative Bipedie gekennzeichnet gewesen sei, also sowohl an eine bipede Lokomotion am Boden als auch an das Klettern auf Bäumen angepasst gewesen sei. Der Fossilienfund umfasst allerdings nur einige Zähne, sowie Fragmente von Arm- und Beinknochen, so dass die Deutung des Fundes, seine Beziehungen zu anderen Hominini und insbesondere auch seine Zugehörigkeit zu den Hominini, noch umstritten ist (Aiello und Collard 2001). Ardipithecus ramidus (Holotypus ARA-VP-6/1) ist eine Spezies, die ihren Namen von White et al. im Jahre 1994 erhielt. Zunächst war der Fossilfund der Gattung Australopithecus zugeordnet worden, doch die Unterschiede zu den übrigen Australopithecinen sind so groß, dass die Funde einer neuen Gattung zugewiesen wurden. Ursprünglich wurde dieser Fossilfund aus Aramis in Äthiopien, der überwiegend aus Schädelfragmenten besteht, auf ca. 4,4 Mio. Jahre datiert. Die Fundstücke weisen ein Mosaik aus paninen und homininen Merkmalen auf. Ein MilchHolotypus = dasjenige Expemplar eines Taxons, anhand dessen die Art erstmals beschrieben wurde.
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zahn zeigt eine sehr viel größere Ähnlichkeit mit einem Schimpansenmilchzahn als mit irgendeinem anderen homininen Fund. Zur Zeit der Erstbeschreibung handelte es sich um den ältesten homininen Fund, der in eine wichtige Fundlücke fiel. Daher stammt auch die Namengebung, denn „ramid“ heißt in der Afarsprache „Wurzel“ und soll auf die Stellung dieses neuen Taxons an der Wurzel der Menschwerdung hinweisen. Weitere Funde von Ardipithecus, vor allem das „Ardi“ genannte weibliche Teilskelett (ARA-VP-6/500; White et al. 2009a) zeigten, dass die Wissenschaftler mit diesem Namen wohl einen Treffer gelandet hatten. Weibchen dieser Art dürften ca. 120 cm groß gewesen sein und um die 50 kg gewogen haben. Die begleitenden Faunenelemente weisen darauf hin, dass „Ardi“ in einer bewaldeten Umwelt gelebt hat, was frühe Theorien zur Entstehung der Bipedie in offenen Savannenlandschaften in Frage stellt (White et al. 2009b; s. Kap. 2.2.8). Heute liegen von dieser Spezies 145 Zähne von mindestens 21 Individuen vor, neben „Ardi“ gibt es Schädelreste eines weiteren Individuums (ARA-VP-1/500), und die große Bedeutung des Taxons für die Rekonstruktion der menschlichen Phylogenie steht außer Zweifel. Ardipithecus ramidus hatte noch ein kleines Hirnschädelvolumen von 300 bis 350 ccm, eine vorstehende Schnauze wie Sahelanthropus, aber ein weniger menschenaffenähnliches Gesicht (Suwa et al. 2009a). Die postkranialen Skelettelemente belegen, dass Ardipithecus sowohl biped als auch arboreal lebte, aber weder suspensorisch noch als Knöchelgänger. Die Beckenknochen weisen ein Merkmalsmosaik auf, welches größere Abweichungen vom Schimpansen als vom späteren Australopithecusafarensis (s. unten) nahelegt. Das Fußskelett entspricht jedoch noch weitgehend einem Greiffuß, was bedeutet, dass im Zuge des Erwerbes der Bipedie zunächst die Umstrukturierung der Beckenregion erfolgte, dann jene des Fußes (s. Kap. 2.2.8; Lovejoy et al. 2009). Zahnmorphologie und Isotopenanalyse der Zähne sprechen für eine vielseitige, omnivore Ernährung (Lovejoy 2009). Neben der Bipedie weist Ardipithecus als weiteres hominines Merkmal eine Reduktion der Eckzahnkrone auf, ganz im Gegensatz zu den beeindruckenden, sich selbst schärfenden Eckzähnen der Menschenaffen. Die Eckzähne von Weibchen und Männchen der Spezies Ardipithecus ramidus sind nahezu gleich groß, dass heißt, die Eckzähne der Männchen wurden gewissermaßen „feminisiert“. Dieser Befund ist zum Einen geeignet, die Einstufung von Sahelanthropustchadensis mit ähnlicher Eckzahnmorphologie als hominin zu bestätigen und die Existenz einer eigenen phylogenetischen Linie, unabhängig von jener der Menschenaffen, zu bekräftigen. Zum Anderen sind aber weitreichende Rückschlüsse auf die Sozialstruktur von Ardipithecus möglich: Reduzierte Eckzähne stehen nicht mehr im Kontext einer Waffe (Reißzahn) oder auch nur einer Drohgebärde, d. h. in den Ardipithecus-Gruppen dürfte auch bereits die Kompetition der Männchen über die Weibchen reduziert gewesen sein (s. Kap. 2.2.8). Die dramatische Reduktion der männlichen Eckzähne zwischen 6 und 4,4 Mio. Jahren vor heute geschah lange vor der Vergrößerung des Hirnvolumens und der Werkzeugherstellung – somit spricht der geringe Sexualdimorphismus von Ardipithecus in dieser Hinsicht für stammesgeschichtlich sehr frühe Ansätze für die später typisch humane Reproduktions- und Sozialstruktur (Suwa et al. 2009b; Lovejoy 2009). Zwischen 1997 und 2001 wurden etliche Fossilfragmente geborgen, die auf ein Alter von 5,8 bis 5,2 Mio. Jahre datiert werden und
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Abb. 2.9 Drei „berühmte“ Australopithecinen: Das „Kind von Taung“, A.africanus „Mrs. Ples“ (STs 5), und P.boisei (KNM-ER 406). ( vonlinksnachrechts)
zunächst vorläufig einer neuen Unterart Ardipithecusramiduskaddaba zugeordnet wurden (Haile-Selassie 2001). Ein Zehenknochen lässt auf Bipedie schließen. Nach dem Auffinden weiterer Zähne im Jahre 2002 konnte der vorläufige Status einer Unterart revidiert und eine neue Art definiert werden, so dass mit Ardipithecus kadabba (Holotypus ALA-VP-2/10) eine weitere frühe Homininenspezies zu den bereits bekannten Taxa hinzugefügt werden konnte (Haile-Selassie et al. 2004).
2.2.5
Die beginnende Radiation der Hominini im Pliozän: Australopithecus, Paranthropus und Kenyanthropus
Während die Paläoanthropologie jahrzehntelang nach denjenigen fossilen Hominini suchte, mit deren Hilfe man den evolutionären Werdegang der Gattung Homo und speziell der Art Homosapiens nachzeichnen wollte, stellte sich durch immer neue Funde heraus, dass die Australopithecinen und Paranthropinen, von denen die meisten als direkte Vorfahren der Gattung Homo ausscheiden, eine erhebliche Formenvielfalt aufweisen, deren Entstehung unter dem Begriff Australopithecinenradiation beschrieben wird (Abb. 2.9). Einige der jüngeren Australopithecinenarten haben zeitgleich mit Vertretern der Gattung Homo gelebt und können somit nicht als direkte Vorfahren der zum Homosapiens führenden Linie betrachtet werden. Der Begriff der Australopithecinenradiation entstand zu einer Zeit, als die meisten Anthropologen auch die heute zum Genus Paranthropus zusammengefassten Arten noch als Australopithecinen bezeichneten. Am auffälligsten zeigt sich die unterschiedliche ökologische Einnischung, die zu dieser Radiation geführt hat, an der unterschiedlichen Zahn- und Schädelmorphologie. Die robusten Paranthropinen werden als Arten interpretiert, die zahlreiche Anpassungen aufweisen, die mit ihrer Ernährung im Zusammenhang stehen. Große Mahlzähne und knöcherne Schädelstrukturen, die auf eine gewaltige Kaumuskulatur hinweisen, lassen vermuten, dass sie in Bezug auf ihre pflanzliche Ernährung spezialisiert waren und entweder an den Verzehr größerer Mengen energiearmer Nahrung oder auch an die Verwertung besonders harter oder zäher Nahrung (z. B. Körner, Nüsse) angepasst waren (Walker 1981; Lucas et al. 1985). Gemeinsam ist allen diesen Taxa, dass sie bei hoher morphologischer Variabilität vor allem der Schädel und Bezahnung doch eine Reihe gemeinsamer Merkmale hatten, wie z. B. die Bipedie, menschenaffengroße Gehirne von einer Kapazität zwischen 375 und 550 ccm, kleine Eckzähne und große Backenzähne mit dickem
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Zahnschmelz. Sie lebten in Afrika über den langen Zeitraum zwischen etwa 4,2 und 1,4 Mio. Jahren vor heute (Kimbel 2007). Zu den Australopithecinen zählen heute mindestens sechs Arten: Australopithecusanamensis, A.afarensis, A.africanus, A.bahrelghazali, A.garhi und A. sediba. Australopithecus anamensis (Holotypus KNM-KP 29281) wurde 1995 von Leakey et al. benannt; dieser neuen Art liegen verschiedene, unter anderem bereits 1988 in Allia Bay und 1994 in Kanapoi gefundene Fossilien zu Grunde. Australopithecus anamensis ist der bislang älteste Australopithecine; er wird auf 4,2 bis 3,9 Mio. Jahre datiert und zeigt eine Mischung vergleichsweise ursprünglicher Schädelmerkmale und fortgeschrittener Merkmale am postkranialen Skelett: Zähne und Kiefer ähneln eher denen älterer fossiler Menschenaffen, doch ein Schienbeinfragment lässt auf Bipedie schließen, und der Teil eines Oberarmknochens sieht sehr menschlich aus. Wahrscheinlich entwickelte sich Australopithecusanamensis durch Anagenese11 zum Australopithecusafarensis (Kimbel 2007). Australopithecus afarensis (Holotypus LH-4) gehört zu den am besten bekannten frühen Homininen, da von dieser Spezies Fossilien von mehr als dreihundert Individuen aufgefunden wurden. Die Art war offenbar evolutiv sehr erfolgreich, denn sie existierte für gut 900.000 Jahre – von etwa 3,9 bis 3,0 Mio. Jahren vor heute – in Ostafrika. Die Spezies ist gekennzeichnet durch eine menschenaffenähnliche Gesichtsmorphologie mit niedriger Stirn, flacher Nase, fliehendem Kinn und einem vorspringenden Kiefer mit großen Vorbacken- und Backenzähnen. Das Hirnschädelvolumen überschreitet 500 ccm in der Regel nicht. Die Eckzähne sind viel kleiner als bei Menschenaffen, doch größer und spitzer als bei Menschen. Die Form des Zahnbogens ist noch nicht parabolisch wie bei späteren Hominini, sondern weist parallele Backenzahnreihen wie bei Menschenaffen auf. Das postkraniale Skelett zeigt, dass bei diesen Homininen bereits die wesentlichen Anpassungen an den aufrechten Gang vollzogen waren. Bei einer Existenz dieser Spezies für knapp eine Million Jahre verwundert es nicht, dass die Morphologie insgesamt recht variabel ist. Möglicherweise gingen aus A.afarensis einige spätere Australopithecinen und die Paranthropinen hervor. Der Geschlechtsdimorphismus bei A.afarensis ist hoch: Während die Männchen rund 150 cm groß und etwas über 40 kg schwer wurden, waren die Weibchen mit lediglich etwa 105 cm und knapp 30 kg deutlich kleiner und leichter. A.afarensis hat mit den berühmten, gut 3,5 Mio. Jahre alten konservierten Fußabdrücken von Laetoli ein einzigartiges Verhaltensfossil hinterlassen – die gesamte Spur, von wenigstens zwei Individuen verursacht, ist knapp 30 m lang. Wenngleich der bipede Fortbewegungsmodus dieser frühen Homininen noch nicht jenem der Angehörigen der Gattung Homo entsprochen haben dürfte (s. Kap. 2.2.8), haben sich diese frühen Australopithecinen doch bereits eindeutig auf der Hinterextremität fortbewegt (Schmid 2004): Der große Zwischenraum zwischen der I. und II. Zehe ist zwar eher menschenaffenähnlich, doch die Großzehe ist adduziert und auch der Fersenabdruck ist ein Indiz für Bipedie. Abdrücke der Vorderextremität, die z. B. 11 Anagenese = Veränderung von Merkmalen einer Art im Lauf von Generationen, ohne dass es dabei zu einer neuen Artaufspaltung (Kladogenese) kommt.
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Stammesgeschichte
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bei einem Knöchelgang zwingend vorhanden gewesen sein müssten, fehlen vollständig. Das bekannteste A.afarensis-Fossil hat die Fundnummer AL 288-1, stammt aus dem Jahre 1974 und hat den Spitznamen „Lucy“ erhalten. Rund 40 % des Skelettes sind überliefert und ermöglichten umfangreiche funktionsmorphologische Analysen. Außerdem wurden in der Afar-Region, nach der die Spezies ihren Namen erhielt, Fossilien von weiteren 13 Individuen gefunden, die unter dem Namen „First Family“ bekannt wurden – obwohl es sich bei diesem Fund gewiss nicht um eine Gruppe Verwandter handelt. Bedeutende neue Funde von A.afarensis betreffen u. anderem ein sehr gut erhaltenes Kind (Spitzname „Selam“ = „Lucy’s baby“) (Alemseged et al. 2006), sowie ein männliches Teilskelett (Spitzname „Kadanuumuu“ = „Big man“) (Haile-Selassie et al. 2010), beide aus Äthiopien. „Big man“ soll andere Proportionen aufweisen als die berühme „Lucy“, was auf eine einzigartige Form des Sexualdimorphismus unter den Homininen hinweisen würde. Da allerdings Schädelteile des männlichen Fundes fehlen, kann diese Vermutung bislang nicht bestätigt werden. Australopithecus africanus ist eine Homininen-Art, die bereits 1925 – nach der Entdeckung des berühmten „Kind von Taung“ (Holotypus dieser Art) in Transvaal – von Raymond Dart benannt wurde. Das Taxon ist durch etliche Fossilfunde, die auch postkraniale Knochen einschließen, dokumentiert, und die Datierungen lassen vermuten, dass diese Spezies vor etwa 3,3 bis 2,1 Mio. Jahren lebte. Australopithecus africanus ist eine grazile Spezies, deren Schädel- und Zahnmerkmale weiter menschenähnlich evolviert sind als beim A.afarensis, der Zahnbogen beispielsweise ist bereits parabolisch, und die Eckzähne sind vergleichsweise stärker reduziert. Das Hirnschädelvolumen wird mit 420 bis 500 ccm angegeben und das postkraniale Skelett lässt wie bei A.afarensis erkennen, dass die Fähigkeit zur Bipedie ausgebildet war, obwohl gleichzeitig noch Anpassungen an eine fakultativ suspensorische Lokomotion zu erkennen sind. Der Geschlechtsdimorphismus war nicht ganz so stark ausgeprägt: die Männchen wurden etwa 140 cm groß und 40 kg schwer, die Weibchen erreichten eine Größe um 115 cm bei einem Gewicht um 30 kg. Abrasionsspuren auf den Zahnkronen zeigten, dass A.africanus eine variantenreiche Nahrung aus Früchten, aber auch festeren und abrasiven Pflanzenteilen zu sich nahm (Scott et al. 2005). Lange Zeit wurde vermutet, dass A.africanus das Bindeglied zwischen A.afarensis und den ersten Vertretern der Gattung Homo war. Inzwischen wird diese Annahme jedoch infrage gestellt und die verwandtschaftlichen Beziehungen zu anderen Hominini sehr kontrovers diskutiert. Einige kraniale Merkmale lassen vermuten, dass Australopithecusafricanus die Stammart des Paranthropusrobustus ist, wenngleich dessen spezielle Anpassungen des Kauapparates an eine besonders hartfaserige grobe Kost noch nicht ausgebildet sind. Von der 1999 aufgrund von Fossilfunden aus Äthiopien benannten Spezies Australopithecus garhi (Holotypus BOU-VP 12/130, Asfaw et al. 1999) liegen nur wenige Schädelfragmente vor. Die Spezies wird auf 2,5 Mio. Jahre datiert und unterscheidet sich von anderen Australopithecinen durch eine besondere Kombination von Merkmalen: Die Morphologie wirkt ursprünglich, und die Zähne erscheinen bemerkenswert groß. Bei den postkranialen Elementen fällt auf, dass das Verhält-
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nis von Oberarm und Oberschenkel eher menschenähnlich und das Verhältnis von Oberarm zu Unterarm eher menschenaffenähnlich ist. Die Erstbeschreiber halten die Spezies für eine mögliche Stammart der ersten Vertreter der Gattung Homo. Aufgrund mit den Fossilfunden assoziierter, sehr einfacher und alter Steinwerkzeuge wird diskutiert, ob A.garhi bereits deren Hersteller gewesen sein könnte. Australopithecus bahrelghazali (Holotypus KT 12/H1) ist eine Spezies, die auf ein Alter von etwa 3,5 bis 3 Mio. Jahre datiert wird (Brunet et al. 1995, 1996). Bemerkenswert an diesem Fund ist der Fundort, denn A.bahrelghazali war der erste Homininenfund aus dem Tschad, stammt also aus einem Gebiet, das etwa 2500 km westlich des Ostafrikanischen Grabenbruchs liegt, in dem sich die meisten bedeutenden Fundstätten homininer Fossilien befinden. Im Hinblick auf Sahelanthropus tchadensis (s. oben), der ebenfalls aus dieser Gegend stammt, sind Überlegungen darüber berechtigt, ob die geographische Verbreitung der frühen Homininen und ihrer Vorläufer in Afrika nicht doch viel größer war, als lange angenommen. A. bahrelghazali umfasst leider nur einen Unterkiefer und einen Zahn aus dem Oberkiefer. Die Abgrenzung von A.afarensis beruht auf einigen Aspekten der Kieferund Zahnmorphologie (z. B. dreiwurzelige Prämolaren), so dass weitere Funde erforderlich sind, bevor endgültig feststeht, dass es sich nicht nur um eine regionale Variante des A.afarensis handelt. Unlängst wurde den Australopithecinen eine weitere Art hinzugefügt, Australopithecus sediba (Holotypus MH1), die in Malapa in Südafrika gefunden wurden. Die Reste der zwei Individuen werden zwischen 1,8 und 2 Mio. Jahre vor heute datiert. A.sediba kombiniert Merkmale von A.africanus und frühen Angehörigen der Gattung Homo: Die Körperproportionen mit langen Armen und die geringe Schädelkapazität (420 ccm) sind archaische Merkmale, während funktionelle Umgestaltungen in der Beckenregion eine größere Nähe zum „perfekten“ aufrechten Gang der Gattung Homo aufweisen. Die Autoren (Berger et al. 2010) vermuten, dass A.sediba ein direkter Nachfahre von A.africanus sein könne. Da diese neue Art mehr abgeleitete Merkmale aufweist als andere Australopithecinen, könnte A. sediba auch einer Spezies nahe stehen, welche die Vorfahrenart für die ersten Angehörigen der Gattung Homo war. Da leider bislang nicht bekannt ist, über welche Zeitspanne A.sediba existierte, wird diese Frage so rasch nicht zu beantworten sein. Die aufgefundenen Teile des postkranialen Skelettes sind aber auf jeden Fall aufschlussreich bezüglich der Frage nach der Entstehung der Bipedie: offenbar erfolgte die Umgestaltung des Beckens vor der Veränderung der Körperproportionen (längere Beine als Arme in „perfekt“ bipeden Homininen) (s. Kap. 2.2.8). Die robusten und mehrheitlich jüngeren Formen der Australopithecinen wurden einer eigenen Gattung Paranthropus zugeordnet, welche zwischen circa 2,8 und 2,3 Mio. Jahren vor heute proliferierte (Kimbel 2007). Paranthropus aethiopicus lebte vor 2,7 bis 2,3 Mio. Jahren. Von dieser Spezies ist vor allem der so genannte Schwarze Schädel12 (KNM-WT 17000) bekannt, der 1985 am Turkana-See in Kenia gefunden wurde. Dieser Schädelfund validierte den Holotypus von P.aethio12 Der Schädel trägt diesen Trivialnamen, da er während seiner langen Liegezeit durch manganreiche Mineralien eine teilweise bläulich-schwarze Färbung erhalten hat.
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picus (Omo 18–1967-18), der bereits in den 1960iger Jahren von französischen Paläoanthropologen vorgeschlagen worden war (Arambourg und Coppens 1968). Er weist ein erstaunliches Mosaik ursprünglicher und abgeleiteter robuster Merkmale auf, die er mit den späteren robusten Paranthropinen teilt. Durch die Hirnschädelkapazität von nur knapp 420 ccm sowie die ausgeprägte alveolare Prognathie ( = vorstehende Schnauze, bedingt durch mehr waagerechte als senkrechte Position der Zahnfächer im Kiefer) weist er eher Bezüge zum Australopithecusafarensis auf, doch einige Merkmale wie die ausgeprägte Crista sagittalis ( = Scheitelkamm), das konkave Mittelgesicht und die großen Zähne zeigen große Ähnlichkeit mit P.robustus und P.boisei. Es fehlen bislang postkraniale Skelettelemente im Fundmaterial, so dass über die Fortbewegung nur spekuliert werden kann; er besaß vermutlich die Fähigkeit, sich biped fortzubewegen, doch ob er noch über eine gute Kletterfähigkeit verfügte, ist unklar. Möglicherweise stellt er das Bindeglied zwischen Australopithecusafarensis und den robusten Paranthropinen dar. Paranthropus robustus (Holotypus TM 1517) ist eine hominine Spezies aus Südafrika, die vor etwa 2 bis 1,5 Mio. Jahren lebte und bereits in den 1930er Jahren entdeckt wurde. Das spärlich vorhandene postkraniale Skelettmaterial unterscheidet sich nicht wesentlich von dem eines A.africanus, doch der Schädel zeigt etliche kraniodentale Spezialisierungen. Er ist sehr quer betont, mit ausladenden Jochbögen, einem konkaven Mittelgesicht und einer extrem flachen Stirn. Die Prämolaren sind sehr massiv, und die gesamte Kaufläche der Vorbacken- und Backenzähne ist deutlicher größer als beiA.africanus. Die meisten Schädel dieser Spezies haben eine Crista sagittalis, einen knöcherner Scheitelkamm, an der die stark ausgeprägte Kaumuskulatur ansetzte. Die Betonung des „Robusten“ bei dieser Spezies bezieht sich ausdrücklich auf den Schädel und die Bezahnung, nicht auf die allgemeine Körpergröße. Die Männchen wurden lediglich etwa 120 cm groß und 54 kg schwer, die Weibchen wogen etwa 40 kg bei einer Körperhöhe von circa 100 cm – es lag also wiederum ein markanter Sexualdimorphismus vor. Die speziellen Anpassungen des Paranthropusrobustus werden allgemein auf seine Ernährung zurückgeführt; vermutlich ernährte er sich von grober faserreicher Kost, die zur mechanischen Zerkleinerung lange und stark gekaut werden musste (Scott et al. 2005). Allerdings waren diese Homininen keine reinen Vegetarier, sie waren eher Gemischtköstler, die auch Insekten und sogar Fleisch nicht verschmähten (Sponheimer et al. 2006). Das Gehirnvolumen betrug durchschnittlich 530 ccm, liegt also über dem größten beim A.africanus gemessenen Wert. Allerdings ist dieser Unterschied auch auf allometrische Effekte (s. Kap. 4.1) zurückzuführen. Einige Paranthropusfunde aus Südafrika werden manchmal gesondert unter der Artbezeichnung Paranthropus crassidens aufgeführt; auf diese Differenzierung wurde hier jedoch verzichtet. Paranthropus boisei (Holotypus OH 5) ist eine robuste Spezies aus Ostafrika. Sie lebte vor 2,3 bis 1,2 Mio. Jahren und ähnelt dem P.robustus, der zeitgleich im südafrikanischen Raum lebte. Der erste P.boisei wurde 1959 von Louis und Mary Leakey in der Olduvaischlucht entdeckt und erhielt aufgrund seiner megadonten Bezahnung den Spitznamen „Nussknackermensch“. Tatsächlich erreichen die Backenzähne dieser Spezies einen Durchmesser von bis zu 2 cm, und die Kaufläche der Prämolaren und Molaren ist mit 800 cm² deutlich größer als beim südafrika-
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nischen Vetter. Generell sind die speziellen Merkmale der Paranthropinen beim P. boisei „hyperrobust“ ausgebildet. Die Jochbeine beispielsweise sind noch stärker ausladend, und die Crista sagittalis ist auch bei weiblichen Schädelfunden ausgebildet. Ein augenfälliges Unterscheidungsmerkmal zum P.robustus sind auch die Überaugenwülste, die beim P.boisei nach lateral abfallen. Aufgrund der Abrasionsspuren auf den Zähnen hat sich P.boisei allerdings nicht ausschließlich von sehr harter Nahrung ernährt, sondern dürfte ein deutlich breiteres Nahrungsspektrum gehabt haben als z. B. P.robustus (Ungar et al. 2008). In Bezug auf ihre Körpergröße waren diese Homininen recht schwer: Ein Männchen wog bei 137 cm Körperhöhe knapp 50 kg, ein Weibchen bei 124 cm Körperhöhe 34 kg. Im Jahre 1975 wurden in Koobi Fora (Kenia) das Fossil eines P.boisei (Inv. Nr. KNM-ER 406) und eines Homoergaster (Inv. Nr. KNM-ER 3733) in derselben stratigraphischen Schicht gefunden – ein Beweis dafür, dass beide Homininenspezies zeitgleich in der selben Region gelebt hatten. Nach Kimbel (2007) gab die Evolution von P. boisei den Auftakt zu einer weiteren Speziation, welche zu dem südafrikanischen Klade der Paranthropinen, repräsentiert durch P.robustus, führte. Kenyanthropus platyops ist ein anderer fossiler Neuling in der wachsenden Familie der Homininen (Leakey et al. 2001; Lieberman 2001). Der Schädel KNMWT 40000 (Holotypus) wurde 1999 zusammen mit etlichen weiteren Schädel- und Zahnfragmenten, die noch nicht zugeordnet sind, am Turkanasee in Kenia gefunden. Er wird auf ein Alter von etwa 3,5 Mio. Jahren datiert. Die Backenzähne mit starkem Zahnschmelz, das Gehirnschädelvolumen und die kleine Ohröffnung zeigen Ähnlichkeiten mit den Australopithecinen, doch der Gesichtsschädel weist Merkmale auf, die eine große Ähnlichkeit mit Homorudolfensis, besonders dem Schädel KNM-ER 1470, erkennen lassen. Besonders auffällig ist das flache Gesicht. Insgesamt zeigt der Fossilfund ein Mosaik von Merkmalen, das in dieser Kombination bei keiner anderen bisher identifizierten homininen Spezies beobachtet wurde. Daher haben Leakey et al. (2001) vorgeschlagen, diesen homininen Fund in eine neue Gattung zu stellen: Kenyanthropusplatyops („flachgesichtiger Mensch aus Kenia“). Da dieser Fossilfund bislang lediglich durch einen einzigen Schädel belegt ist, der zudem noch stark postmortal verdrückt ist, bleibt die Zuweisung zu einer neuen Spezies noch umstritten. Nach White et al. (2003) könnte es sich bei Kenyanthropus ebenso gut um eine Varietät von Autralopithecusafarensis handeln.
2.2.6
Die Gattung Homo
Je nach Bewertung von Merkmalen und entsprechender Klassifikation wird die Gattung Homo heute in etliche Arten unterschieden. Kaum eine von ihnen ist unumstritten. Im folgenden sollen neun Spezies differenziert werden: Homohabilis, Homo rudolfensis, Homo georgicus, Homo ergaster, Homo erectus, Homo antecessor, Homoheidelbergensis, Homoneanderthalensis und Homosapiens. Es ist inzwischen durchaus strittig, ob eine so weit gehende Differenzierung wirklich erforderlich ist. So ist Henke (2003) der Ansicht, dass Paläanthropologen ernsthaft daran denken sollten, die Anzahl der Spezies zu reduzieren, und er stellt infrage,
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ob H.ergaster, H.erectus, H.antecessor, H.heidelbergensis und H.neanderthalensis wirklich Vertreter jeweils eigener Arten sind. Über die relativ neuen Funde unter ihnen, Homogeorgicus und Homoantecessor, ist ohnehin noch nicht so viel bekannt, dass sie bereits als etablierte Spezies angesehen werden können. Dies gilt vor allem auch wegen der neu zu überdenkenden Beziehungen zwischen den verschiedenen Homo-Arten. Aber auch alt bekannte Arten bereiten Probleme: So sind Wood und Collard (1999) der Ansicht, dass weder H.habilis noch H.rudolfensis die Kriterien erfüllen, um der Gattung Homo zugeordnet zu werden, insbesondere wenn nicht nur morphologische Merkmale, sondern auch Lebenslaufparameter (s. Kap. 2.2.8) in Betracht gezogen werden. Allgemein gilt – nicht nur für die Stammesgeschichtsforschung – dass die Definition einer Gattung oft schwieriger ist als die einer Art (Collard und Wood 2007). Auch die Differenzierung in Homo (resp. Australopithecus)rudolfensis und Homo (resp.Australopithecus)habilis wird nicht von allen Anthropologen akzeptiert. Das Gleiche gilt für die Trennung von Homo ergaster und Homoerectus, und manche Autoren sind immer noch unschlüssig, ob der Neandertaler in eine eigene Art gestellt werden sollte, oder ob er als Unterart Homosapiensneanderthalensis aufzufassen ist. Dass hier dennoch die stark aufgegliederte Differenzierung in neun Arten für die Darstellung gewählt wurde, soll den Leserinnen und Lesern die Vergleichbarkeit mit der übrigen Fachliteratur erleichtern. Für die Zukunft steht zu hoffen, dass es den Paläoanthropologen gelingt, eine tragfähige und konsensfähige Revision der Klassifikation zu erarbeiten. Es gilt als relativ gut gesichert, dass aus den Australopithecinen vor rund 2,5 Mio. Jahren sowohl die zu den Paranthropinen als auch die zu den frühen Vertretern der Gattung Homo führenden Linien hervorgingen. Von den umstrittenen Spezies Homohabilis und Homorudolfensis existieren zurzeit gut 200 fossile Fragmente von 40 Individuen aus Ost- und Südafrika. Zu den wichtigen Kriterien, auf welche sich die Verfechter der Einordnung dieser Funde in die Gattung Homo beziehen, gilt eine Hirnschädelkapazität von mehr als 600 ccm, die Werkzeugherstellung und die Sprechfähigkeit (Schrenk et al. 2007). Gerade die beiden letztgenannten Kriterien sind allerdings nur schwer zu belegen. Die ersten Funde des Homo habilis (Holotypus OH7), der vor ca. 2,4 bis 1,4 Mio. Jahren lebte, stammen aus der Olduvai-Schlucht, wo sie Anfang der 1960er Jahre entdeckt wurden (Leakey et al. 1964). Die Fossilien unterscheiden sich in zahlreichen kraniodentalen Merkmalen sowohl von Paranthropusboisei, der kurz vorher dort gefunden wurde, als auch vom Australopithecusafricanus und schließlich auch von den damals bereits bekannten asiatischen Fossilien des Homoerectus. Das erste geschätzte Hirnschädelvolumen eines Homohabilis lag bei etwa 670 ccm, so dass man vermutete, dieser neue hominine Fund sei auch der Urheber der in Olduvai so zahlreich gefundenen Geröllgeräte (s. Box 2.6). Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, nannte man das neue Familienmitglied der Hominini Homohabilis, der „geschickte Mensch“ (der englische Spitzname lautet handyman, was soviel bedeutet wie Bastler oder Heimwerker). Obwohl weitere Fossilien von anderen ostafrikanischen Fundstätten hinzukamen, blieb die Validität dieser Art lange Zeit umstritten, und Homo habilis wurde erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre akzeptiert. Einen wesentlichen Beitrag dazu lieferte ein Schädelfund aus Nordkenia mit der
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Abb. 2.10 Fund KNM-ER 1470. (vgl. Text)
Inventarnummer KNM-ER 1470 (Abb. 2.10) und es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieser Fund heute das Typusexemplar des Homorudolfensis ist. Anfang der 1970er Jahre wurden nämlich am Turkana-See kurz hintereinander zwei weitere Schädelfunde gemacht, die der Art Homo habilis zugeordnet wurden: der große KNM-ER 1470 mit einem Hirnschädelvolumen von 775 ccm und KNM-ER 1813 mit einem Volumen von nur 510 ccm. Diese beiden Funde zeigen bezüglich ihrer Schädelmaße Unterschiede, die so groß sind, dass der Sexualdimorphismus von Gorillas übertroffen wird. Damit stehen diese beiden Schädel exemplarisch für die Tatsache, dass die intraspezifische Variabiliät bei den ursprünglich dieser Spezies zugeordneten Funden bemerkenswert groß ist, wobei besonders das Fundmaterial aus Koobi Fora am Turkana-See sehr heterogen ist. 1986 machte dann Alexeev den Vorschlag, den Fund 1470 und einige andere „große“ habiline Fossilfunde der neuen Art Homorudolfensis zuzuordnen.13 Die Kontroverse um die Spezies Homo habilis und Homo rudolfensis und ihre Beziehungen zueinander und zu anderen früheren und späteren Homininen dauert noch immer an. Die Spezies Homo rudolfensis wird vor allem durch das oben genannte Fundmaterial vom Turkana-See repräsentiert, dessen absolutes und relatives Hirnvolumen bereits dem Homo ergaster nahe kommt. Es gehört jedoch auch ein Unterkiefer zu dieser Spezies, der in Malawi gefunden wurde. Diese Mandibula mit der Katalognummer UR 501 wird auf 2,5 bis 2,1 Mio. Jahre geschätzt (Schrenk et al. 1993) und ist damit deutlich älter als das kenianische Typusexemplar. Vom Homo rudolfensis liegt nur wenig postkraniales Skelettmaterial vor, so dass nur indirekt geschlossen werden kann, dass die Fortbewegung dieser Spezies derjenigen des Homohabilis ähnlich war. Tatsächlich weisen beide „Homo-Kandidaten“ ein Mosaik aus archaischen und avancierteren Merkmalen auf: Während das postkraniale Skelett des Homohabilis dem eines Australopithecus ähnlicher ist als jenen der späteren, gesicherten Ange13 Um zu verdeutlichen, welcher Klassifikation man folgt, ergänzt man den Artnamen häufig durch den Zusatz sensu stricto bzw. sensu lato. Spricht man vom Homo habilis sensu stricto, so meint man den H.habilis im engeren Sinne, also abgegrenzt vom Homorudolfensis; mit der Bezeichnung Homohabilissensulato tut man hingegen kund, dass man die Trennung nicht akzeptiert, sondern im weiteren Sinne das von anderen als H.rudolfensis klassifizierte Fundmaterial einschließt. Auch bei der nicht von allen akzeptierten Trennung in Homoergaster und Homoerectus ist diese Feindifferenzierung häufig zu finden.
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hörigen der Gattung Homo, weist er bereits reduzierte Zahnwurzeln auf. Bei Homo rudolfensis verhält es sich genau umgekehrt. Hirnschädelausgüsse der letztgenannten Art zeigen eine kortikale Asymmetrie, welche auf eine Sprachlateralisation hindeuten könnte (s. Kap. 2.1) (Schrenk et al. 2007). Ob Homorudolfensis allerdings wirklich schon sprechen konnte, muss dahingestellt bleiben. Unklar ist auch, ob Homohabilis wirklich der Hersteller der noch sehr einfachen Steinwerkzeuge war, welche in der ersten Euphorie sogar namengebend für diese Spezies gewesen waren (s. oben). Die ältesten Steinwerkzeuge mit einfachen Abschlägen ( choppertools) stammen aus Ostafrika und sind rund 2,5 Mio. Jahre alt (Kimbel et al. 1996). Ein Blick auf Tab. 2.4 zeigt aber, dass Homo habilis zu dieser Zeit nicht der einzige Hominine in der fraglichen Region war. Aufsehenerregende Funde eines recht späten Homo habilis (ca. 1,4 Mio. Jahre alt, KNM-ER 42703) und eines frühen Homoerectus (ca. 1,6 Mio. Jahre alt, KNM-ER 42700) aus derselben Gegend in Nordkenia (Spoor et al. 2007) belegen, dass beide Arten für lange Zeit in Ostafrika koexistierten, und dass Homohabilis keinesfalls die Stammart von Homoerectus gewesen sein kann. Box 2.6: Steinwerkzeuge und Feuerbenutzung
Die ältesten bekannten Steinwerkzeuge sind etwa zweieinhalb Millionen Jahre alt. Es handelt sich um einfach zugerichtete Geräte der Oldowan-Industrie, die den ersten Vertretern der Gattung Homo zugeschrieben werden. Ob auch Australopithecinen einfache Steinwerkzeuge hergestellt haben, ist strittig. Die wichtigsten Fundstätten von Geröllgeräten der Oldowan-Industrie sind Olduvai in Tansania, von dem sich der Name ableitet, sowie Omo und Hadar in Äthiopien. Wie bereits in Kap. 2.1 ausgeführt wurde, sind Werkzeugbenutzung und -herstellung keineswegs ausschließlich hominine Merkmale, sondern auch bei anderen hochentwickelten Wirbeltieren, besonders bei den Primaten häufig beobachtet worden. Daher ist davon auszugehen, dass auch die Homininen, die vor der Entstehung der Gattung Homo existierten, zu einer vielfältigen Werkzeugbenutzung fähig waren. Im Gegensatz zu Steinwerkzeugen sind Werkzeuge aus organischem Material jedoch vergänglich und daher im archäologischen Befund nicht nachweisbar. Vor kurzem wurden Zerlegungsspuren auf fossilen Tierknochen aus Äthiopien nachgewiesen, welche rund 3,4 Mio. Jahren alt sind, weshalb nur Australopithecusafarensis als Verursacher in Frage kommt. Dies ist allerdings lediglich ein Beleg für Werkzeuggebrauch, nicht notwendigerweise auch für Werkzeugherstellung (auch natürliche scharfkantige Steine kommen in Betracht) (McPherron et al. 2010). Welche Bedeutung die Herstellung von Steinwerkzeugen für die Hominisation hatte, wird kontrovers diskutiert. Während Toth (1985) oder Leakey (1994) der Ansicht sind, dass Menschenaffen nicht über alle erforderlichen kognitiven Fähigkeiten verfügen, um lithische Geräte herzustellen, meinen Wynn und McGrew (1989), dass die ersten Steinwerkzeughersteller keine größeren mentalen Fähigkeiten benötigten als rezente Menschenaffen aufweisen.
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Ein deutlicher technologischer Fortschritt in der Werkzeugherstellung ist erst mit dem Auftreten der Acheuléen-Industrie (benannt nach dem französischen Fundort Saint-Acheul) vor etwa 1,4 Mio. Jahren festzustellen. Innerhalb der Formenvielfalt kennzeichnen zweiseitig bearbeitete große Faustkeile diese Stufe der lithischen Artefakte. Die ältesten Funde stammen aus Äthiopien und werden Homoergaster zugeschrieben, die jüngsten Geräte stammen von europäischen Fundorten. Innerhalb der Acheuléen-Industrie lassen sich eine einfachere ältere Stufe und eine jüngere Stufe unterscheiden, die viel feinere Bearbeitungsspuren zeigt. Der letzte Nachweis von Acheuléen-Werkzeugen datiert auf etwa 200.000 Jahre; das Spätacheuléen wird Homosapiens zugeordnet. Geräte dieser Kultur sind zur Fleischbearbeitung und -zerlegung und zur Holzbearbeitung geeignet. Die dominierende Steinwerkzeug-Industrie des Mittelpaläolithikums (vor 130.000 bis 10.000 Jahren) ist das Moustérien (benannt nach dem französischen Fundort Le Moustier). Das vielgestaltige Geräteinventar (z. B. Bohrer, Schaber, Stichel, Kratzer) ist wesentlich graziler als die Werkzeuge des Acheuléen und weist ausgefeilte Herstellungstechniken auf. Zeitliche Überlappungen gibt es sowohl mit der älteren Acheuléen-Industrie als auch mit dem jüngeren Aurignacien. Die Moustérien-Geräte wurden lange Zeit ausschließlich den Neandertalern zugeschrieben, doch im Nahen Osten kommt auch Homosapiens als Hersteller in Frage (Henke und Rothe 1998). (Zu den jungpaläolithischen Kulturen vgl. Kap. 2.3.1.) Die frühen Steinwerkzeuge sind vermutlich zweckmäßige Geräte für die Erschließung von Nahrung gewesen; hierfür sprechen auch die an fossilen Säugetierknochen entdeckten Schnittmarken, die z. B. in der Olduvai-Schlucht mit Homohabilis assoziiert wurden. Für den Nahrungserwerb jedoch, speziell für die Jagd auf Großsäuger, waren einfache Steinwerkzeuge ungeeignet. Effiziente Fernwaffen sind erst relativ spät im archäologischen Befund nachweisbar. Ein besonderer Fund sind die Reste von Holzspeeren, die in der Nähe von Helmstedt entdeckt wurden und auf ca. 400.000 Jahre datiert werden (Thieme 1997). Andere wirkungsvolle Distanzwaffen, wie etwa Pfeil und Bogen, sind erst aus dem Jungpaläolithikum nachgewiesen (Stodiek und Paulsen 1996). Der früheste Nachweis von Feuergebrauch ist umstritten. Bei der Verwendung von Feuer durch Menschen ist zu unterscheiden zwischen der kurzfristigen Benutzung von natürlichem Feuer, der Unterhaltung von Feuer und dem Entfachen von Feuer. Vor allem bei frühen Hinweisen auf Feuer im Kontext mit menschlichen Aktivitäten ist diese Differenzierung meist nicht zweifelsfrei möglich. Eine auf 1,4 Mio. Jahre datierte Fundstelle bei Chesowanja in Kenia zeigt im Zusammenhang mit Lavawerkzeugen und Tierknochen Hinweise auf mögliche Feuerbenutzung, doch es ist keineswegs auszuschließen, dass es sich um Spuren einer natürlichen Feuerentfachung, z. B. durch einen Blitzschlag, handelt. Der überzeugendste Beweis für Feuergebrauch stammt aus China, wo Homoerectus in den Höhlen von Zhoukoudian dicke Ascheschichten und Holzkohle hinterließ, die auf kontrollierte Feuerstellen über längere Zeiträume hindeuten. Feuer vermindert auf jeden Fall das Predationsrisiko. Ein weiterer wichtiger Vorteil des Feuergebrauchs ist im Erhitzen von Nahrung zu sehen, weil
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Abb. 2.11 Homoerectus KNM-ER 3733
möglicherweise enthaltene Giftstoffe und Parasiten unschädlich gemacht werden können. Bislang wurde der Beherrschung des Feuers eine zentrale Rolle bei der Besiedlung Eurasiens zugeschrieben, da der Licht- und Wärmespender Feuer als wichtige Voraussetzung für die Besiedlung gemäßigter Klimazonen gilt. Nur mit Hilfe von Feuer hätten die Winter mit Temperaturen unter dem Gefrierpunkt überstanden werden können. Nach neuen Untersuchungen aber wurde – von wenigen möglichen Ausnahmen abgesehen – die Beherrschung des Feuers erst spät, vor rund 300.000 bis 400.000 Jahren, zum integralen Bestandteil des homininen technologischen Repertoires. Somit war Feuer keine notwendige Voraussetzung für die dauerhafte Besiedlung höherer Breitengrade. Erst zur Zeit der Neandertaler und früher moderner Menschen spielte das Feuer eine unverzichtbare Rolle im täglichen Leben, nicht nur für Schutz, Licht und Wärme, sondern auch für die Produktion neuer Materialien, z. B. von Adhäsivstoffen zur Herstellung von Werkzeugen (Roebroeks und Villa 2011). Mit der Beherrschung des Feuers haben die Homininen auf jeden Fall einen wesentlichen Schritt in der Emanzipation von den naturräumlichen Beschränkungen ihres Habitats vollzogen. Etliche Fossilfunde, die größtenteils vom Turkanasee stammen, belegen aufgrund ihrer Merkmalskombinationen zweifelsfrei die Anwesenheit von Vertretern der Gattung Homo in Afrika seit 1,9 Mio. Jahren. Diese afrikanischen Funde des Homo erectus sind die ältesten Homininen, deren Körperproportionen mit langen Beinen und kürzeren Armen für „perfekte“ Bipedie sprechen. Am Schädel von Homoerectus fällt der sehr prominente und massive Torus supraorbitalis ( = Überaugenwulst) auf (Abb. 2.11), das Neurokranium ist dickwandig, und die Hirnschädelkapazität liegt zwischen 850 und 1250 ccm; der Unterkiefer ist robust mit einem liehenden Kinn. Das postkraniale Skelett ist allgemein recht robust (eine übersichtliche und detaillierte Beschreibung der einzelnen Merkmale von Homo erectus und Homo ergaster geben Henke und Rothe 1998). Homo erectus war in der Evolution erstaunlich erfolgreich: Er koexistierte in Ostafrika sowohl mit Paranthropusboisei, als auch Homo/Australopithecushabilis und rudolfensis, und vor 70.000 Jahren in Indonesien mit Homoloresiensis – das ist die längste bekannte Erfolgsgeschichte eines Homininen. Nach heutigem Kenntnisstand ist Homoerectus die erste Spezies, die den afrikanischen Heimatkontinent der Homininen verlassen hat. Die ersten
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Funde dieses „aufgerichteten Menschen“ wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf Java (Holotypus: Trinil 2, „Javamensch“) gemacht. Seitdem sind auch dort im Laufe von Jahrzehnten fossile Überreste zahlreicher Individuen geborgen worden. Zu den bedeutenden Fundorten gehören Trinil, Modjokerto und Ngandong. Die Fundstätte, in der die meisten Homoerectus-Funde gemacht wurden, liegt in der Nähe von Peking. In den Höhlen von Zhoukoudian wurden in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zahlreiche Kalvarien, Unterkiefer, Zähne und postkraniale Skelettteile entdeckt und geborgen. Leider ist das gesamte Material während des Zweiten Weltkriegs verschollen und heute nur noch durch Abgüsse repräsentiert. Die „klassischen H.erectus-Formen“ werden auf ein Alter zwischen ca. 1 Mio. und 350.000 Jahren datiert. Von besonderer Bedeutung ist der auf etwa 1,6 Mio. Jahre datierte Fund KNMWT 15000, bei dem es sich um ein bemerkenswert vollständiges Skelett handelt. Der Fossilfund stammt vermutlich von einem Jungen, der auf ca. 12 Jahre geschätzt wird (Turkana Boy, Junge von Nariokotome). Das postkraniale Skelett zeigt erstaunlich „moderne“ Körperproportionen, und die Körperhöhenschätzung hat ergeben, dass das noch nicht erwachsene Individuum bereits 1,50 m groß war. Das Schädelvolumen wurde mit 880 ccm berechnet, die Zahnmorphologie weist auf große Ähnlichkeiten mit Homoerectus-Funden aus China hin. Zunächst wurde dieser Fund – wie auch einige andere ähnliche Funde aus Afrika – dem Homoerectus zugeordnet. Doch zahlreiche Unterschiede zwischen diesen afrikanischen Funden und den asiatischen Homoerectus-Fossilien haben dazu geführt, dass sich in den letzten Jahren mehr und mehr die Ansicht durchgesetzt hat, die afrikanischen Funde als Homo ergaster (der arbeitende Mensch, Holotypus KNM-ER 992) zu klassifizieren und von dem asiatischen Homoerectus abzugrenzen; dennoch ist die Trennung zwischen den beiden Spezies H.ergaster und H.erectus nicht generell akzeptiert, weil das Fundmaterial von Homo ergaster und Homo erectus auch als eine einzige polytypische Spezies aufgefasst werden kann. Ein neuer Schädelfund aus Bouri in Äthiopien, der auf eine Million Jahre datiert wurde, wird von seinen Entdeckern als Homoerectus klassifiziert. Seine Merkmale lassen nach ihrer Meinung eine morphologische Kontinuität zwischen H. ergaster und H. erectus erkennen (Asfaw et al. 2002), so dass eine Trennung in zwei Arten nicht gerechtfertigt sei. Aufsehen erregende Funde stammen aus Georgien. Insgesamt drei gut erhaltene Schädel und ein Unterkiefer wurden im Kaukasus geborgen, die auf ein Alter von etwa 1,8 Mio. Jahre datiert werden (Gabunia et al. 2000; Vekua et al. 2002). Für die Fossilien, die aufgrund ihrer morphologischen Merkmale zunächst als zwischen Homo habilis und Homo erectus sensu lato bzw. Homo ergaster stehend eingeordnet wurden, ist inzwischen der Artname Homo georgicus (Holotypus D2600) vorgeschlagen worden (Gabunia et al. 2002). Das Fundmaterial ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zum einen ist es eine große Überraschung, dass vergleichsweise ursprüngliche Vertreter der Gattung Homo bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt den afrikanischen Kontinent verlassen haben, und zum anderen zeigen die drei Schädel im Vergleich miteinander eine erhebliche Variationsbreite. Sie unterscheiden sich in einigen morphologischen Aspekten und vor allem in der Größe. Das Hirnschädelvolumen beispielsweise reicht von 600 ccm (Fund D2700)
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bis zu 780 ccm (D2280). Damit ist D2700 der kleinste hominine Schädel, der jemals außerhalb des afrikanischen Kontinents gefunden wurde – mit Ausnahme des Homo floresiensis (s. unten). Morphologische Ähnlichkeiten sowohl mit Homohabilis als auch mit Homoergaster sind unübersehbar. Bisher ging man davon aus, dass erst Homoergaster oder Homoerectus mit längeren Beinen und einem höher evolvierten Gehirn wie beispielsweise der KNM-WT 15000 (s. unten) in der Lage waren, den weiten Weg nach Europa zu bewältigen. Diese Ansicht muss angesichts des vergleichsweise kleinen Homogeorgicus in Eurasien nun definitiv revidiert, und die evolutionsökologischen Szenarien müssen neu formuliert werden. Wie das Skelett des „Turkana Boy“ zeigt, war Homo erectus der erste wirklich „große“ Hominine; allerdings ist die Variabilität dieser Art nicht nur über die Kontinente hinweg, sondern auch im Verlaufe der Zeit, sehr hoch. Während die erwachsenen Vertreter des „klassischen“ Homoerectus in Afrika eine Körperhöhe von 175 cm durchaus überschreiten konnten, waren sie in Georgien und China mit knapp 150 cm deutlich kleiner. Aus allometrischen Gründen variiert damit auch die Hirnschädelkapazität, doch auch deren Wandel während der langen Existenz des Homoerectus ist überdeutlich: von rund 800 ccm bei den frühen, zu rund 1200 ccm bei den späten Formen (Schwartz 2004; Antón et al. 2007). In den Jahren 1994 bis 1996 wurden in der spanischen Höhle Gran Dolina Fossilfunde entdeckt, die von Bermudez de Castro et al. (1997) als Vertreter einer neuen Spezies angesehen werden. Die Fossilien umfassen Überreste von mindestens sechs Individuen, die auf 780.000 Jahre datiert werden. Darunter befinden sich Teile des Gesichtsschädels eines etwa 10 bis 11-jährigen Individuums, das vor allem im Bereich des Mittelgesichtes einige moderne Merkmale aufweist. Andere Merkmale hingegen wirken recht ursprünglich. Die kranialen und dentalen Merkmale, die sich vom späteren Homoheidelbergensis unterscheiden, haben die Entdecker veranlasst, die Fossilien einer neuen Art Homo antecessor (Holotypus ATD6-5, ATD6-13) zuzuordnen. Da die Fossilien auch Merkmale aufweisen, die Beziehungen zum Homo ergaster erkennen lassen, vermuten Bermudez de Castro et al. (1997), dass diese neue Art direkt vom Homoergaster abstammt. Ihrer Ansicht nach entstand Homo antecessor in Afrika und breitete sich vor etwa einer Million Jahre nach Europa aus. Hier bildete er die Stammart des späteren Homoheidelbergensis, den Bermudez de Castro et al. als den Vorfahren des Neandertalers ansehen, während sich in Afrika der Homosapiens aus dem Homoantecessor entwickelte habe. Nach dieser sehr kontrovers diskutierten Ansicht (s. auch Rightmire 2007), kommen sowohl Homoerectus als auch Homoheidelbergensis nicht mehr als direkte Vorfahren des Homo sapiens in Frage. Kritiker wenden unter anderem ein, dass die Merkmale, die vor allem auf der Beschreibung des nicht-erwachsenen Individuums beruhen, kindlich-jugendliche Ausprägungen darstellen, die bei einem erwachsenen Vertreter möglicherweise nicht in dieser Form vorhanden sind. Gemeinsam mit dem Fund von Ceprano, Italien (Manzi et al. 2001), zählen die Funde von Gran Dolina zu den ältesten bekannten Europäern. Es wird aufgrund eines Unterkieferfundes von Atapuerca (Spanien) davon ausgegangen, dass Südeuropa bereits vor mehr als einer Million Jahre von Homininen besiedelt wurde (Carbonell et al. 2008).
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Seit Beginn der 1990er Jahre setzte sich zunehmend die Ansicht durch, dass die mittelpleistozänen homininen Funde in Europa nicht als Unterarten des Homoerectus aufzufassen sind, sondern eine eigene Art bilden, den Homo heidelbergensis (Holotypus: Unterkiefer von Mauer). Nach dieser Auffassung gibt es keine homininen Funde aus Europa, die zweifelsfrei dem Homoerectus zugeordnet werden. Daraus folgt, dass letztgenannte Spezies vermutlich über den Nahen Osten nach Asien wanderte, ohne den europäischen Kontinent zu besiedeln. Homo heidelbergensis beherrschte das Feuer, baute bereits einfache Behausungen, und war ein erfolgreicher Großwildjäger. Alle drei Eigenschaften gestatteten es ihm, auch die kälteren Klimazonen zu besiedeln. Generell ist es nicht einfach, die europäischen Skelettfunde aus der Zeit zwischen 500.000 und 200.000 Jahren morphologisch vom späten Homoerectus abzugrenzen, da die Übergänge fließend erscheinen. Exemplare des Homo heidelbergensis sind weniger robust als jene des Homo erectus, aber robuster als der moderne Homosapiens. Oft haben sie noch kräftige Überaugenwülste, eine fliehende Stirn und kein prominentes Kinn. Namengebend für Homo heidelbergensis war der Fund eines etwa 500.000 Jahre alten Unterkiefers in dem Dorf Mauer nahe Heidelberg aus dem Jahre 1907. Andere bedeutende Funde, die dieser Art zugerechnet werden, sind Fossilien aus Arago in Frankreich, Petralona in Griechenland, Vértesszöllös in Ungarn, Bilzingsleben in Thüringen, Atapuerca in Spanien oder Boxgrove in England. Vor allem die jüngeren dieser Fossilien werden von einigen Anthropologen alternativ auch als archaischerHomosapiens klassifiziert, doch die Einteilung in archaische und moderne Typen innerhalb einer Spezies ist taxonomisch problematisch. Auch einige mittelpleistozäne Fossilfunde aus Afrika werden heute dem Homoheidelbergensis zugerechnet (gelegentlich als Homorhodesiensis bezeichnet), dies gilt z. B. für einen etwa 600.000 Jahre alten Teilschädel aus Bodo in Äthiopien. Es wird vermutet, dass sich der Homoheidelbergensis aus dem Homoergaster entwickelt hat. Viele Paläoanthropologen halten diese Art für die gemeinsame Stammart des Homosapiens in Afrika und des Homo neanderthalensis in Europa (Rightmire 2007); besonders die jüngeren Vertreter des Homoheidelbergensis zeigen gewisse Ähnlichkeiten zum späteren Homoneanderthalensis. Eine andere Ansicht ist oben im Zusammenhang mit Homoantecessor beschrieben worden. Vor etwa 200.000 bis 28.000 Jahren lebte in ganz Europa der Homo neanderthalensis14 (Holotypus: Neanderthal 1, Fund aus der Feldhofer Grotte). Die frühesten Fossilfunde dieser Menschenart sind morphologisch nicht immer scharf von dem Homo heidelbergensis, der vermuteten Stammart, abzugrenzen. Tatsächlich dürften die Neandertaler eine mehrere hunderttausend Jahre lange eigene Geschichte gehabt haben. Sowohl Dean et al. (1998) als auch Hublin (1998) unterscheiden vier Entwicklungsstadien: 1. Frühe Prä-Neandertaler mit ersten charakteristischen Alternativ dazu werden die Neandertaler oft auch als Homosapiensneanderthalensis bezeichnet, doch die deutliche Abgrenzung gegenüber dem modernen Homosapiens spricht für die Klassifikation als eigene Art. Wie bereits erwähnt (s. Box 2.5) liegt dieser Einteilung nicht das Konzept der Biospezies zugrunde (s. auch potentieller Genfluss zwischen Homosapiens und Homoneanderthalensis, Kap. 2.3.5). 14
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Abb. 2.12 Klassischer Neandertaler von La-Chapelle-aux-Saints
Merkmalen des Gesichtes (z. B. die Funde aus Petralona, Arago, Mauer); 2. PräNeandertaler mit weiteren kranialen Merkmalen (z. B. Steinheim, Swanscombe); 3. frühe Neandertaler (Krapina, Saccopastore); und 4. klassische Neandertaler (Neandertal, La Chapelle-aux-Saints, Amud). Das vermutete Verbreitungsgebiet der Neandertaler erstreckt sich von Spanien bis Usbekistan und von Norddeutschland bis Israel. Bis zum Nachweis des modernen Homosapiens vor etwa 40.000 Jahren waren Neandertaler die einzigen menschlichen Bewohner Europas. Die zahlreichen Fossilfunde gestatten es, das unverwechselbare äußere Erscheinungsbild der klassischen Neandertaler detailliert zu rekonstruieren. Ihr mittleres Hirnschädelvolumen liegt mit knapp 1600 ccm im oberen Variationsbereich desjenigen des modernen Menschen. Dies hängt jedoch auch mit der allgemeinen Schädelform zusammen, denn das optimale Oberflächen/Volumen-Verhältnis wird erst mit der angenäherten „Kugelform“ des modernen menschlichen Schädels erzielt. Neandertaler hatten langgezogene, abgeflachte und damit ellipsoide Schädel mit einem prominenten Mittelgesicht und einer charakteristischen knotenartigen Wölbung des Hinterhaupts (Abb. 2.12). Es wird diskutiert, ob das nach vorne ausgezogene Gesicht eine biologische Anpassung daran ist, dass die Neandertaler ihre großen Frontzähne offensichtlich regelmäßig als „Werkzeuge“ einsetzten. Diese Menschen waren etwas kleiner als moderne Menschen, aber sehr viel robuster und kompakter; vor allem die Knochen waren dickwandiger und schwerer. Im Mittel wurden die Männer 165 cm groß und wogen etwa 65 kg, die Frauen wogen etwa 55 kg bei einer Körperhöhe von 155 cm. Die Muskelansatzstellen zeigen, dass Neandertaler sehr stark und kräftig waren. Die gedrungene Körpergestalt kann als Anpassung an das eiszeitliche Klima interpretiert werden, weil die damit verbundene Verkleinerung der Körperoberfläche wärmeregulatorische Vorteile bietet. Isolierend wirkt auch eine große Muskelmasse (s. Kap. 3.2.2). Auch das „Spitzgesicht“ des klassischen Neandertalers mit den angeblich übergroßen, „hyperpneumatisierten“ Kiefer- und Stirnhöhlen ist traditionell als klimatische Adaptation an niedrige Jahresmitteltemperaturen interpretiert worden. Zum Einen ist zu bedenken, dass Neandertaler nicht durchgängig in eiszeitlichen Klimaten lebten, da sich während ihrer langen Existenz Kalt- und
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Warmzeiten abwechselten. Rae et al. (2011) konnten unlängst zeigen, dass in einigen Wirbeltieren, einschließlich von Primaten, zumindest die Kieferhöhlen in kalten Klimaten eher reduziert als vergrößert werden. Normiert man die Schädelmaße von Homoneanderthalensis auf jene des Homosapiens, zeigt sich, dass die angenommene Hyperpneumatisierung nichts anderes als ein Skalierungsartefakt ist. Das charakteristische Gesicht der klassischen Neandertaler beruht wahrscheinlich auf biomechanischen Anforderungen (kräftige Kaumuskulatur, ellipsoide Schädelform, Benutzung der Frontzähne als Werkzeug) und/oder auf genetischer Drift. Neandertaler haben offensichtlich ein nicht immer ungefährliches Leben geführt, denn viele Skelette zeigen Knochenbrüche und andere traumatische Veränderungen. Da Homosapiens und Homoneanderthalensis zumindest eine Zeitlang koexistierten, und da Neandertaler ihre eigene Stammesgeschichte haben (s. oben), ist es ausgeschlossen, dass der Neandertaler ein direkter Vorfahr des modernen Menschen ist. Nach heutigem Kenntnisstand haben Neandertaler nur einen geringen Beitrag zum Genom des modernen Menschen beigetragen (s. Kap. 2.3.5). Schon aus theoretischen Gründen spricht nichts dagegen, dass Genfluss zwischen Homo neanderthalensis und Homosapiens möglich gewesen sein muss. Dafür sprechen auch einige Fossilfunde, welche ein Merkmalsmuster aufweisen, das eine Hybridisierung nahelegt, wie z. B. das etwa vierjährige Kind vom Abrigo do Lagar Velho in Portugal (Duarte et al. 1999). Die Frage, warum die Neandertaler ausstarben, ist bis heute nicht endgültig beantwortet. Möglicherweise waren die modernen Menschen durch eine effizientere Technologie in der Umweltnutzung überlegen, wodurch sie Überlebensvorteile hatten. Da sich das Verschwinden der Neandertaler über einen Zeitraum von etwa 10.000 Jahren erstreckte, reichten möglicherweise schon eine etwas höhere Geburtenrate und eine geringfügig niedrigere Sterberate des modernen Homo sapiens, um die verwandte Menschenart rein demografisch „auszukonkurrieren“. Das Verschwinden der Neandertaler von der Bühne der Evolution hat zwar mehrere Tausend Jahre gedauert, jedoch ist dieser Zeitraum in evolutionären Zeiträumen sehr kurz und nicht fassbar. Es besteht jedenfalls kein Bedarf nach irgendwie gearteten gewalttätigen Szenarien, denen zufolge Homosapiens die Neandertaler „ausgerottet“ hätte. Seit ihrer Entdeckung sind Neandertaler oft systematisch als einfältig und minderbegabt diskreditiert worden (Henke und Rothe 1998), obwohl die archäologischen Befunde belegen, dass sie unter teilweise widrigen Umweltbedingungen über fast 200.000 Jahre erfolgreich in Europa siedelten. Ob die Neandertaler über die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation verfügten, ist strittig. Durch den Fund eines Zungenbeins bei einem Neandertaler-Skelett aus Kebara in Israel, das mit dem eines modernen Menschen identisch ist, wird geschlossen, dass diese Menschen über alle anatomischen Voraussetzungen für eine verbale Verständigung verfügten. Ein weiteres indirektes Indiz für Sprachfähigkeit liefern Befunde zur intentionellen Bestattung, welche überhaupt erstmals für Neandertaler nachweisbar ist, weil die Bestattung von Toten den Austausch von Gedanken voraussetzt – ebenso wie die Vorstellung einer transzendenten Welt. Ebenfalls kontrovers diskutiert wird die Frage, inwieweit Neandertaler über kulturelle Ausdrucksformen wie Kunst oder Schmuck verfügten. „Flöten“ oder flötenähnliche Artefakte sind von mehreren
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paläolithischen Fundorten bekannt und können möglicherweise auch Neandertalern zugeordnet werden (Turk et al. 1997). In der fortgeschrittenen lithischen Technologie der Neandertaler finden sich feine Steinwerkzeuge, darunter auch Ahlen. Man kann davon ausgehen, dass Neandertaler Kleidung hergestellt haben. Das fossile Fundgut lässt keinen Zweifel daran, dass Neandertaler erfolgreiche Großwildjäger waren. Außerhalb der Wissenschaft werden sie daher, auch im Hinblick auf ihre muskulöse Statur, oftmals als überwiegend karnivor dargestellt. Der Nachweis pflanzlicher Mikroreste (Leguminosen, wilde Gerste) im Zahnstein von Neandertalern aus dem Irak und Belgien belegt, dass auch Neandertaler Gemischtköstler waren (Henry et al. 2011), was allerdings aufgrund allgemeinphysiologischer Überlegungen nicht verwundern kann. Bemerkenswerter war an diesem Befund, dass die Nahrung offenbar gekocht worden war. Großes Aufsehen erregte 2003 der Fund eines partialen Skelettes (ohne Armknochen) in der Höhle Liang Bua auf der Insel Flores in Indonesien (Brown et al. 2004). Das weibliche Individuum war lediglich etwa 100 cm groß, hatte eine sehr kleine Hirnschädelkapazität von 380 bis 410 ccm, und wies insgesamt ein einzigartiges Mosaik ursprünglicher und abgeleiteter morphologischer Merkmale auf. So entsprachen die Extremitätenproportionen und das Hirnschädelvolumen etwa jenen der Gattung Australopithecus. Auf der anderen Seite war der Fund mit einfachen lithischen Werkzeugen assoziiert und außerordentlich jung: zwischen 95.000 bis 74.000 und 12.000 Jahren! Dieser Fund LB1 wurde zum Holotypus einer neuen Spezies Homo floresiensis (Spitzname: „Hobbit“), und die Erstbeschreiber kamen zu dem Schluss, dass es sich um das Endprodukt einer langen Isolation einer Population entweder von Homoerectus oder von frühen Homosapiens auf der Insel handelt (Brown et al. 2004). Unter den Wirbeltieren gilt die so genannte „Insel-Regel“, der zufolge aufgrund der Isolation große Tiere kleiner werden, kleine Tiere aber dazu tendieren, größer zu werden. Ein Fall solcher „Verzwergung“ ist für Menschen und Hominine im Allgemeinen allerdings bislang nicht bekannt. Auch für Primaten war diese Regel noch nicht getestet worden, und so gab der Fund des „Hobbit“ Anlass zu untersuchen, ob die Insel-Regel auch für Primaten Gültigkeit hat. Bromham und Cardillo kamen 2007 zu dem Schluss, dass dies in der Tat der Fall ist, und dass große Spezies sogar einer proportional höheren Größenreduktion unterliegen. Bei weiteren Grabungen in Liang Bua im Jahre 2004 wurden die Reste von weiteren fünf bis sechs ebenfalls sehr kleinen Individuen, einschließlich der Armknochen von LB1, gefunden. Somit war klar, dass LB1 kein aberrantes Individuum war, sondern eine ganze Population kleinwüchsiger Hominine auf Flores gelebt hatte. Auch revidierten die Forscher ihre Einschätzung der Funde dahingehend, dass Homofloresiensis weder einer Homoerectus- noch einer Homo-sapiens-Genealogie entstammen könne, die spezielle Morphologie spreche eher für eine insitu-Evolution (Morwood et al. 2005). Dennoch rissen die Spekulationen um den Kleinwuchs und das morphologische Mosaik von Homofloresiensis nicht ab. Die Vorschläge rankten sich überwiegend um mögliche pathologische Syndrome, welche mit einer isolationsbedingten Engzucht zusammenhängen könnten, wie z. B. Mikrocephalie, Laron-Syndrom (Kleinwuchs aufgrund eines Gendefektes im WachstumshormonRezeptor; Hershkovitz et al. 2007) oder eine Kombination aus einer Modifikation
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der Wachstumshormon-IGF-Achse (s. Kap. 4.1.2) und einer Mutation der MCPH, einer mit Mikrocephalie assoziierten Genfamilie (Richards 2006). Keine dieser Hypothesen konnte verifiziert werden (Argue et al. 2006; Falk et al. 2007, 2009). Detaillierte morphologische Untersuchungen von Handgelenk (Tocheri et al. 2007) und Fußskelett (Jungers et al. 2009) des Homofloresiensis zeigten in aller Deutlichkeit, dass es sich bei der Morphologie dieses Homininen um nichts Pathologisches handelt, sondern dass das einzigartige Merkmalskombinat tatsächlich artspezifisch ist. Der „Hobbit“ muss von einem homininen Vorfahren abstammen, dessen Verbreitung in Asien bislang noch undokumentiert ist, und dessen Linie sich vor der Entstehung von Homo neanderthalensis, Homo sapiens und deren unmittelbaren Vorläufern abgespalten hat. Von Bedeutung in diesem Zusammenhang ist, dass es auf der Insel Flores offenbar eine lithische Technologie gab, welche von etwa 840.000 bis 12.000 Jahren Kontinuität hatte. Die sehr alten Steinwerkzeuge, deren Hersteller bislang unbekannt sind, wurden etwa 50 km vom Auffindungsort des Homofloresiensis entdeckt und haben große Ähnlichkeit mit jenen des „Hobbit“ (Brumm et al. 2006). Noch ältere Steinwerkzeuge belegen die Anwesenheit von Homininen auf Flores vor einer Millionen Jahre (Brumm et al. 2010) – dies war die Zeit des Homoerectus. Auch wenn zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nichts über die Vorfahren der „Hobbits“ bekannt ist, so zeigt doch die Existenz des Homo floresiensis zum Einen, dass eine lithische Technologie trotz eines kleinen Hirnschädelvolumens entwickelt werden konnte, und belegt zum Anderen die extreme Adaptationsfähigkeit der Hominini. Ein weiteres äußerst umstrittenes Kapitel der Paläoanthropologie ist die Frage, wo und wann der moderne Mensch, Homo sapiens, entstanden ist. Zwei einander diametral entgegengesetzte Hypothesen, welche im Laufe der Zeit ständig verfeinert wurden, kennzeichnen die wissenschaftliche Diskussion um den Ursprung des Homosapiens: es sind im Wesentlichen die Out-of-Africa-Hypothese und die Multiregionale Hypothese. Für beide Annahmen existieren in der Literatur verschiedene Synonyme. Die Hypothese vom multiregionalen Ursprung des modernen Menschen wird häufig auch als Kandelaber-Modell bezeichnet. Die Out-of-Africa-Hypothese wird auch als Arche-Noah-Modell oder replacement-Hypothese bezeichnet. In den Arbeiten, die aufgrund von Untersuchungen der mitochondrialen DNA moderner Bevölkerungen einen monogenetischen Ursprung des modernen Menschen postulieren, also inhaltlich die anhand anatomisch-morphologischer Merkmale formulierte Out-of-Africa-Hypothese stützen, wird diese Vorstellung oft Eva-Theorie oder Lucky-Mother-Hypothese genannt. Der Out-of-Africa-Hypothese (z. B. Stringer 1995) zufolge ist der moderne Mensch in Afrika entstanden und hat von dort aus andere Regionen der Alten Welt besiedelt und bereits in diesen Gebieten ansässige ältere hominine Populationen abgelöst (Abb. 2.13). Die heutige morphologische Vielfalt und die verschiedenen geographischen Populationen wären demnach das Ergebnis einer jungen Differenzierung innerhalb einer polytypischen Spezies. In seiner strikten Form ( AfricanReplacement-Model) entstand Homosapiens vor 150.000 bis 200.000 Jahren in Afrika durch Kladogenese als neue Spezies. Es kam zum „OutofAfrica“, und Homo sapiens ersetzte alle bereits vorhandenen archaischen Populationen auf den anderen
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Stammesgeschichte
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Australier
Asiatische Bevölkerung
Europäische Bevölkerung
Afrikanische Bevölkerung
Mungo
Liujiang
Cro-Magnon
Afalou
Ngandong
Dali
Neandertal
Omo/Kibish
Sambungmachan
Zhoukoudian
Petralona
Kabwe
Homo ergaster
Abb. 2.13 Das strikte Out-of-Africa-Modell geht davon aus, dass bereits ansässige Altbevölkerungen von jüngeren, evolvierteren Menschentypen abgelöst wurden, die aus Afrika kommend in Siedlungsgebiete in Eurasien und Australien vordrangen. Genfluss zwischen älteren und jüngeren Funden in verschiedenen Regionen der Welt wird nach aktueller Ansicht aber nicht prinzipiell ausgeschlossen (s. Text). Da die Klassifikation einzelner Funde in Abhängigkeit vom bevorzugten Abstammungsmodell variiert, sind keine Bezeichnungen von Arten oder Unterarten genannt, sondern die Fundorte von Schlüsselfossilien
Kontinenten. Da gemäß diesem Modell H.sapiens als neue Spezies entstanden ist, kann es perdefinitionem nicht zu einem Genfluss gekommen sein, und die archaischen Populationen starben aus (Relethford 2007). Nach der Hypothese vom Multiregionalen Ursprung (z. B. Thorne und Wolpoff 1995) hingegen sind die heutigen Menschen allmählich aus den jeweiligen regionalen Vorgängerpopulationen hervorgegangen. Nach dieser Hypothese weist eine Merkmalskontinuität darauf hin, dass sich die heutigen Bevölkerungen Asiens und Europas direkt aus älteren endemischen Menschenformen der jeweiligen Region entwickelt haben. Die morphologischen Unterschiede zwischen den verschie-
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Evolution des Menschen
Australier
Asiatische Bevölkerung
Europäische Bevölkerung
Afrikanische Bevölkerung
Mungo
Liujiang
Cro-Magnon
Afalou
Ngandong
Dali
Neandertal
Omo/Kibish
Sambungmachan
Zhoukoudian
Petralona
Kabwe
Homo ergaster
Abb. 2.14 Das Kandelabermodell geht von Merkmalskontinuität zwischen älteren und jüngeren Funden in verschiedenen Regionen der Welt aus. Da die Klassifikation einzelner Funde in Abhängigkeit vom bevorzugten Abstammungsmodell variiert, sind keine Bezeichnungen von Arten oder Unterarten genannt, sondern die Fundorte von Schlüsselfossilien
denen rezenten menschlichen Bevölkerungen wären also recht alten Ursprungs (vgl. Abb. 2.14). Nach diesem Regional-Coalescence-Model erfolgte die Transition vom archaischen zum modernen Homo sapiens durch Anagenese innerhalb derselben phylogenetischen Linie. Es gab einen fließenden Übergang zwischen den Sapiens-Formen, die zeitlichen Veränderungen traten in verschiedenen Regionen auf und beruhten auf Genfluss. Somit kann kein einzelner Ort oder ein spezifisches Datum für die Entstehung des Homosapiens benannt werden (Relethford 2007). Salomonische und durchaus realistische Vorstellungen verbinden beide Modelle. Das „Primary-Africa-Origin-Model“ nimmt die Transition zum Homosapiens zwischen 150.000 und 200.000 Jahren in Afrika an, mit einer Auswanderungswelle
2.2
Stammesgeschichte
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(„outofAfrica“) vor circa 100.000 Jahren und anschließender Hybridisierung mit archaischen Populationen auf den außerafrikanischen Kontinenten (Relethford 2007). Im Prinzip ähnliche Szenarien entwerfen das „Afro-European-Hybridization-Model“ (Bräuer 1992), das „Assimilation Model“ (Smith et al. 1989), das „Mostly-Out-of-Africa-Model“ (Relethford 2001), und das „Diffusion-WaveModel“ (Eswaran 2002). Da der älteste Fossilfund eines Homosapiens ( H.s.idaltu, s. unten) aus Afrika stammt, geht es in der andauernden Diskussion eigentlich nur noch um die Frage, ob es zur Hybridisierung mit archaischen Formen kam oder nicht. Aus theoretischen Überlegungen dürfte Genfluss wahrscheinlich gewesen sein, allerdings bleibt die Frage nach dessen Häufigkeit. Man darf sich die Situation außerhalb Afrikas auch nicht allzu vereinfacht darstellen. Zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen geografischen Regionen ist sowohl eine Durchmischung als auch ein Ersetzen bereits vorhandener Populationen möglich gewesen. Auch müssen auf den außerafrikanischen Kontinenten nicht notwendigerweise alle afrikanischen und außerafrikanischen Populationen gleichermaßen zum Genpool des modernen Homosapiens beitragen haben. Zu den typischen Merkmalen des Homosapiens gehören ein kurzer, hoher Schädel mit einer steilen Stirn, nur schwach ausgeprägte Überaugenbögen, ein prominentes Kinn und ein relativ graziles postkraniales Skelett. Auch beim modernen Homosapiens sind im diachronen Vergleich morphologische Veränderungen nachweisbar, die einen evolutionärern Trend darstellen: Osteologisch ist eine zunehmende Grazilisierung des kranialen und postkranialen Skelettes zu beobachten, und die Molaren zeigen eine allgemeine Tendenz, kleiner zu werden. Die ältesten unzweifelhaft modernen Vertreter des Homosapiens werden heute durch afrikanische Funde repräsentiert. Hier sind z. B. die Funde Omo I und Omo II aus Äthiopien zu nennen, die zunächst auf ein Alter von ca. 130.000 Jahren, unlängst aber sogar auf 195.000 Jahre datiert wurden (McDougall et al. 2005). Im Jahre 2003 veröffentlichten White et al. die Analyse neuer Fossilfunde aus Herto in Äthiopien, die auf 160.000 Jahre datiert werden. Die drei gefundenen Schädel zeigen Merkmale, die sie nach Ansicht der Entdecker an die Schwelle zum modernen Menschen stellen. Der annähernd komplette Schädel mit der Nummer BOUVP-16/1 hat eine geschätzte Hirnschädelkapazität von 1450 ccm und liegt damit im oberen Variationsbereich jener des modernen Menschen. Da die Schädel aber nicht in allen Merkmalen in die Variationsbreite des Homosapiens fallen, haben die Entdecker sie in eine neue Unterart gestellt: Homo sapiens idaltu. Selbst wenn es nicht einhellig akzeptiert wird, diese Funde als neue Unterart zu klassifizieren (Stringer 2003), stützen die Herto-Fossilien zum einen durch ihre Datierung und zum anderen durch ihre Morphologie, die ältere afrikanische Funde mit dem modernen Homosapiens verbindet, die Out-of-Africa-Hypothese. Zum „anatomischen Modernisierungsprozess“ des Homosapiens im afrikanischen Fundgut sei auf die Zusammenstellung von Bräuer (2007) verwiesen. Die ältesten unstrittigen Homo sapiens-Funde außerhalb Afrikas stammen aus Israel. Die zu mindestens 11 Individuen gehörenden Skelettreste aus der QafzehHöhle bei Genezareth werden auf ca. 90.000–100.000 Jahre datiert. Auch aus der Skhul-Höhle bei Haifa liegen Fossilfunde von mehreren Individuen vor, die auf
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2
Evolution des Menschen
etwa 90.000 Jahre datiert werden. Für die Qafzeh-Funde wird vermutet, dass es sich um Bestattungen handelt. In dieser Region ist der Homosapiens vor dem Homoneanderthalensis nachgewiesen; beide Arten haben über mehrere zehntausend Jahre zeitgleich in derselben Region gelebt. Unlängst wurden in der Qesem-Höhle nahe Tel Aviv 8 hominine Zähne entdeckt, welche stratigraphisch auf ein Alter zwischen 400.000 und 200.000 Jahren vor heute datiert wurden (Hershkovitz et al. 2011). Sie sind somit deutlich älter als die Mehrzahl der homininen Fossilfunde aus Südwestasien. Zwar ist nicht vollständig gesichert, ob alle Zähne zu Individuen derselben Population gehören, aber deren Morphologie stellt sie in die Nähe der Funde aus Skhul und Qafzeh. Damit wären sie ein Beleg für eine lokale Population des archaischen Homosapiens in der Region. Alternativ könnte überlegt werden, ob sie zu einer regionalen Population innerhalb des Verbreitungsgebietes derjenigen Homininen gehören, welche zu Homoneanderthalensis evolvierten. Da die Funde von Skhul und Qafzeh älter als die bisherigen Funde von Neandertalern, aber jünger als die neuen Zahnfunde sind, und zudem als Homosapiens klassifiziert wurden, ist die erste Interpretation zum gegenwärtigen Zeitpunkt die wahrscheinlichere. In Europa sind anatomisch moderne Menschen erstmals vor ca. 40.000 Jahren im Fundmaterial nachweisbar und legen eine Ausbreitung des Homosapiens von Südwesten aus nahe. Zu den bekanntesten Skelettfunden gehören die Skelettreste aus Cro-Magnon in Frankreich, die Namen gebend waren für den ersten modernen Menschentyp und seine Kultur in Europa. Vergleichende Untersuchungen der europäischen Funde haben ergeben, dass diese Menschen ein sehr heterogenes Erscheinungsbild aufweisen (Henke 1992). Die Analyse konservierter mitochondrialer DNA aus 28.000 Jahre alten Cro-Magnon-Funden aus der Paglicci-Höhle in Italien führte zu Sequenzen, welche bis heute in Europa häufig, jedoch deutlich verschieden von den nahezu zeitgleichen Neandertalern sind. Die Autoren (Caramelli et al. 2008) schließen daher auf eine genealogische Kontinuität von archaischen Cro-Magnon-Menschen bis zu modernen Europäern, was im Einklang mit dem geringen genetischen Beitrag von Neandertalern zum Genom des heutigen Homo sapiens steht (s. Kap. 2.3.5). Bei vielen asiatischen Funden, die in den kritischen Zeitraum der Entstehung des Homosapiens datieren, gestatten die anatomisch-morphologischen Merkmale keine endgültige Entscheidung, ob es sich um späte Vertreter des Homoerectus oder um archaische Sapiens-Formen handelt. Dies gilt beispielsweise für einen vermutlich etwa 200.000 Jahre alten Schädelfund aus Dali in Nordchina. Die Kontinente Australien und Amerika sind erst vom modernen Homo sapiens bevölkert worden. Australien wurde vermutlich von Südostasien aus zu einer Zeit besiedelt, als Australien, Tasmanien und Neuguinea eine gemeinsame Landmasse bildeten. Die zwischen diesem Kontinent und dem heutigen Indonesien liegenden Inseln boten die Möglichkeit, den fünften Kontinent durch so genanntes „Island-hopping“ auf dem Seeweg zu besiedeln. Vermutlich erreichten die ersten Menschen Australien vor etwa 50.000 bis 60.000 Jahren. Mitochondriale und Ychromosomale DNA von australischen Aborigines konnten sämtlich den GründerHaplotypen M und N (mtDNA) bzw. C und F (Y-Chromosom) zugeordnet werden,
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Stammesgeschichte
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welche mit dem Exodus des Homosapiens aus Afrika vor 70.000 bis 50.000 Jahren assoziiert sind. Aus genetischer Sicht gibt es daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Hinweis auf die Präsenz archaischer maternaler oder paternaler Linien in Australien, geschweige denn eine gelegentlich postulierte Kontinuität, die bis zum südostasiatischen Homoerectus zurückreichen soll (Hudjashov et al. 2007). Insgesamt liegen leider auch nicht viele aufschlussreiche Fossilfunde aus Australien vor, obgleich diese eine zeitliche Tiefe von bis zu 40.000 Jahren haben. Zu den bekanntesten Funden auf diesem Kontinent zählen die Fossilien von Kow Swamp (13.000 bis 9000 Jahre alt) und die zahlreichen fossilen Fußabdrücke vom Willandra Lake (23.000 bis 19.000 Jahre alt; Webb 2007). Der amerikanische Kontinent wurde vermutlich über die Bering-Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska besiedelt, die während der Eiszeit, als große Wassermassen in den Gletschern gebunden waren, trocken lag. Eine Besiedlung auf diesem Wege war ungefähr vor 26.000 bis 11.000 Jahren möglich. Skelettfunde, die Aufschluss über die frühen Einwanderer aus Asien liefern könnten, fehlen leider weitgehend. Den ersten sicheren archäologischen Nachweis menschlicher Besiedlung stellt die Clovis-Kultur dar, die auf etwa 11.000 Jahre datiert wird. Obwohl vielfach vermutet wird, dass Amerika schon vor 20.000 oder sogar 30.000 Jahren von den ersten Menschen besiedelt wurde, sind sicher datierte archäologische Funde spärlich. Hinweise gibt es von einer Fundstätte bei Meadowcroft in Pennsylvania, wo ein Artefakt auf knapp 20.000 Jahre datiert wurde. Möglicherweise ältere Hinweise auf menschliche Besiedlung stammen aus Monte Verde in Chile und der Pendejo-Höhle in New Mexico, doch die wenigen Funde sind in ihrer Datierung und Interpretation umstritten. Lediglich für Monte Verde konnte durch eine Direktdatierung der Besiedlungsschichten die Präsenz von Menschen auf nunmehr 14.220 bis 13.980 Jahre vor heute zurückverfolgt werden (Dillehay et al. 2008), in Oregon soll menschliche mtDNA aus 12.300 Jahre alten Koprolithen (fossilisierten Fäkalien) isoliert worden sein (Gilbert et al. 2008). Insbesondere die frühe Datierung der südamerikanischen Funde spricht für eine Besiedlung Amerikas deutlich vor Entstehung der Clovis-Kultur, wenn man nicht eine unwahrscheinlich rasche Bevölkerung des gesamten Kontinentes annehmen will. Wer in der Paläonthropologie auf dem Laufenden bleiben möchte und sich über neue Funde informieren möchte, findet im Internet gute, wissenschaftlich einwandfreie Seiten. Drei Adressen sollen hier exemplarisch genannt sein: http://www.talkorigins.org http://www.becominghuman.org http://www.mnh.si.edu/anthro/humanorigins Es ist jedoch anzumerken, dass es für umfassende Informationen immer noch erforderlich ist, die Originalarbeiten zu lesen.
TIPP
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2.2.7
Evolution des Menschen
Hominisationsszenarien
Das anthropologische Erkenntnisinteresse beschränkt sich nicht allein darauf, fossile Hominini-Arten zu entdecken, ihre morphologischen Merkmale zu analysieren und zu beschreiben und anschließend die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen ihnen und zum modernen Homosapiens zu rekonstruieren. Von besonderem Interesse ist die Frage nach dem Ursprung spezifisch menschlicher Eigenschaften (s. auch Kap. 2.1) wie z. B. die Komplexität sozialer Strukturen, das Ausmaß der Kulturfähigkeit, die symbolbegriffliche Lautsprache, der Grad der Erkenntnisfähigkeit oder die Vergegenwärtigung künftiger Bedürfnislagen, also ein Zeitverständnis (Bischof 1985; Markl 1986; Casimir 1994; Lethmate 1994; Vollmer 1994). Auch wenn aus biologischer Sicht Wissenschaft, Philosophie, Religion, Kunst und Moral eher ein Nebenprodukt der Evolution des Menschen sind (Vollmer 1994), 7 muss die Anthropologie Antworten auf die Frage suchen, welche Wechselwirkungen zwischen plio- und pleistozäner Umwelt und den Vorfahren des Homo sapiens für eine Gehirnentwicklung verantwortlich waren, die in einem Intellekt resultierte, der den rezenten Homo sapiens zu solchen Leistungen befähigt.
Einen Überblick über die wichtigsten bisherigen Modelle zur Rekonstruktion des Menschwerdungsprozesses sowie Aspekte der Kritik gibt Tab. 2.5. Sie zeigt, dass viele Annahmen im Laufe der Zeit revidiert werden mussten, weil sie sich durch neuere widersprechende Erkenntnisse als Fehlinterpretationen erwiesen haben. Außerdem wird deutlich, dass Kritik auf unterschiedlichen Ebenen ansetzt, was im Folgenden anhand einiger Beispiele näher erläutert wird. Generell zeigen die in Tab. 2.5 zusammengestellten Modelle ein deutliches Übergewicht von Hypothesen, bei denen die Benutzung von Werkzeugen direkt oder indirekt als Schlüsselanpassung auf dem Wege zur Menschwerdung angesehen wird. Der instrumentellen Intelligenz wird häufig eine so große Bedeutung beigemessen, dass das Fehlen des Nachweises lithischer Artefakte durch die hypothetische Benutzung anderer Werkzeuge (z. B. osteodontokeratische Kultur, gekennzeichnet durch Werkzeuge aus organischen Materialien wie Knochen, Zähne und Horn) oder Sammelwerkzeuge organischen Ursprungs (wie etwa Grabstöcke, die keine fossilen Spuren hinterlassen) kompensiert wurde. Selbst die zunehmende Bedeutung von Ernährungsstrategien wird in keinem der Szenarien losgelöst von der Werkzeugverwendung betrachtet. Lediglich das von Lovejoy (1981) entwickelte Paarbindungsmodell bildet hier eine Ausnahme, die Benutzung oder Herstellung von Werkzeugen nimmt keine zentrale Funktion mehr ein. Entgegen der Wertschätzung, die der Werkzeugverwendung in den meisten Szenarien beigemessen wird, haben die vielfältigen ethologischen Daten zum primären und sekundären Werkzeuggebrauch im Tierreich diese erheblich relativiert (s. auch Kap. 2.1). Beobachtungen, dass z. B. wildlebende Schimpansen nicht nur vielfältige Werkzeuge benutzen, sondern diese auch zurichten (z. B. Termitenangeln, Blattschwämmchen), und dass Menschenaffen in Gefangenschaft auch sekundären Werkzeuggebrauch erlernen können, machen eine Revision der Bedeutung
Tab. 2.5 Die wichtigsten Szenarien zur Menschwerdung in der Reihenfolge ihrer Entstehung. Neben den zentralen Aussagen und den ausgewählten Pro- und Contraargumenten sind auch außerwissenschaftliche Aspekte erwähnt, die sich aus der Objekt-Subjekt-Identität in der Anthropologie ergeben. (Verändert nach Schröder 2000) Hypothese Gegenargumente Nachhaltige Außerwissenschaftliche Einflüsse Erklärungselemente Generelle Bedeutung der ins- Überbewertung technologischer Nachweis des zeitlich getrennten AufDerMensch – derWerkzeughersteller a trumentellen Intelligenz auch Errungenschaften, die vermutlich im tretens der verknüpften Elemente; die Autokatalyse-Modell mit positiven Zusammenhang mit der industriellen Bipedie z. B. entstand lange bevor Stein- unabhängig vom Nachweis Feed-Back-Mechanismen zwischen Revolution in England in der Mitte lithokultureller Aktivität werkzeuge nachgewiesen sind. vier Hauptkomponenten: Reduktion des 19. Jahrhunderts steht Ethologische Befunde zur Werkzeugder Eckzähne, Bipedie, Fähigkeit zur herstellung im Tierreich (speziell bei Werkzeugherstellung mit den von der Lokomotionsfunktion befreiten Händen, Schimpansen) Gehirnvergrößerung DerMensch(Mann) – derJäger b Der Hintergrund einer patriarchalen Bedeutung von Keine stichhaltigen archäologischen Gesellschaft führte zu einer ÜberbeErnährungsstrategien Weiterentwicklung des Werkzeugherstel- Fakten wertung männlicher und einer UnterWidersprüche zu neueren verhaltensöko- Bedeutung von Kooperation lermodells: Jagd als innovative Ernähbewertung weiblicher Funktionen. und Kommunikation rungsstrategie, die gleichzeitig eine Basis logischen Befunden für vorausschauende Planung, Kooperation, und Arbeitsteilung darstellte. Keine Die Vorstellung, dass dem Menschen DerMensch – derKilleraffec Fehlinterpretation der Funde (die eine stammesgeschichtlich verankerte Homininen sind vermutlich durch andere Variante des Jagdmodells: Aus HäuTendenz zum Töten und zur GrauBeutegreifer zu Tode gekommen) fungen von zertrümmerten Tier- und samkeit innewohnt, war beeinflusst Australopithecus-Schädeln wurde gefol- Osteodontokeratische Kultur ist archäovon der geistigen Auseinandersetgert, dass unsere Vorfahren blutrünstige logisch nicht nachweisbar zung mit den Schrecken und GräuelJäger gewesen seien; da Steinwerkzeuge taten des 2. Weltkriegs. fehlten, wurde eine osteodontokeratische Kultur angenommen.
2.2 Stammesgeschichte 57
Gegenargumente
Nachhaltige Erklärungselemente Bedeutung pflanzlicher Selektionsvorteil der Nahrungsteilung DieFrau–dieSammlerind Nahrung bleibt unklar Das Sammeln von Nahrung mit Hilfe Bedeutung von Nahrungskonkurrenz wird nicht von Werkzeugen durch Frauen wird Ernährungsstrategien thematisiert als die entscheidende VerhaltensanpasÜberbetonung von Nahrung pflanzlichen Korrektur des männlichen sung in der Evolution des Menschen Bias Ursprungs angesehen: eine Grundlage für soziale Verhaltensweisen (Nahrungsteilung). Die Widersprüche zum verhaltensökoWerkzeuge seien organischen Ursprungs logischen Konzept der optimalen Nahrungsnutzung und daher im archäologischen Befund nicht erhalten Nahrungsteilungs-Modell e Gleichzeitige BerücksichDas Modell ist eine Verhaltenstigung pflanzlicher und beschreibung, keine Analyse der Es beschreibt die Nahrungsteilung tierischer Nahrung bei den Selektionsvorteile innerhalb einer arbeitsteiligen GesellNahrungsstrategien schaft (Männer jagen, Frauen sammeln). Das Modell ist eine Projektion von Lebensformen heutiger Wildbeutergesell- Einbeziehung von Aspekten Es entsteht Kooperation als Fundament der sozialen Organisation schaften auf archaische Bevölkerungen menschlicher Kulturfähigkeit. Aasfresser-Modellf Alternative Erklärung für den Aasfressen als Ernährungsgrundlage Zweck von Steinwerkzeugen: ist risikoreich, auch wegen des stark Alternativ zur Jagdhypothese geht das Verarbeitung von Nahrung Modell davon aus, dass die Beschaffung schwankenden Nahrungsangebots statt Erwerb Aasfressen kann gesundheitsschädlich proteinreicher Nahrung durch die NutErweiterung des Spektrums sein zung von aufgefundenen Tierkadavern möglicher Nahrungsstrategien zur ökologischen Nische der Homininen wurde. Die effiziente Zerlegung erfolgte mittels Steinwerkzeugen.
Hypothese
Tab. 2.5 (Fortsetzung)
Das Modell richtet sich auch gegen die in der Jagdhypothese enthaltene unausgesprochene Annahme, das Sammeln und Verzehren von Aas (Kleptoparasitismus) sei den Vorfahren des Menschen „unwürdig“.
Die soziokulturellen Ursachen der ausgeprägten geschlechtstypischen Arbeitsteilung werden möglicherweise unterbewertet.
Die Emanzipationsbewegung der Frauen in den 1970er Jahren führte nach der lange vorherrschenden Überbetonung männlicher Perspektiven zu einem Ausschlag in die andere Richtung: Die männlichen Vorfahren wurden in unbedeutende Rollen gedrängt.
Außerwissenschaftliche Einflüsse
58 2 Evolution des Menschen
Nachhaltige Erklärungselemente Anwendung von evolutionsWidersprüche zum soziobiologischen und verhaltensökologischen Konzept von Paarungsmustern Gruppenharmonie kann als Wirkung von Überlegungen Integration von PaaGruppenselektion missdeutet werden rungsstrategien in Hominisationsmodelle
Gegenargumente
Außerwissenschaftliche Einflüsse
Das Modell überbewertet die monoPaarbindungs-Modell g game Kernfamilie, eine typische Nicht litho-kulturelle Aktivität oder Erscheinung westlicher IndustrienaErnährungsstrategien seien Schlüsseltionen. Die soziokulturellen Ursachen anpassungen gewesen, sondern eine patriarchaler Strukturen werden innovative Paarungsstrategie. Die Famiignoriert. liarisierung des Vaters durch die Entstehung der Monogamie sei zur Steigerung des Reproduktionserfolgs erforderlich gewesen. Die Bipedie wird als Anpassung an Nahrungs- und Kindertransport angesehen. Gesteigerte Gruppenharmonie und Arbeitsteilung seien die Folge. a Im Ursprung geht das Modell bereits auf Darwin (1874) zurück, Es beherrschte bis in die 1950er Jahre hinein die Vorstellungen von der Menschwerdung. Zu den bedeutenden späteren Vertretern des Erlärungsmodells gehört Oakley (1963) b Das Modell ist vor allem in den 1960er Jahren von zahlreichen Wissenschaftlern favorisiert worden. Den Höhepunkt seiner Wertschätzung erreichte es 1965 durch eine Tagung in Washington mit dem Titel „Man the hunter“, auf die eine Publikation gleichen Titels folgte (Lee und DeVore 1968) c Das Modell geht auf Interpretationen der südafrikanischen Makapansgat-Funde zurück. Es gewann zusätzliche Bedeutung durch populärwissenschaftliche Veröffentlichungen durch Ardrey (1961a, b) d Das Modell geht auf die Anthropologinnen Tanner und Zihlman (Zihlman und Tanner 1978; Zihlman 1985) zurück. Der wichtige Aspekt des Sammelns von Nahrung ist in abgewandelter Form in spätere Vorstellungen eingeflossen e Das Nahrungsteilungsmodell (Isaac 1978) beruht auf der Rekonstruktion und Interpretation zweier Fundorte, die Ansammlungen von Knochen und Zähnen verschiedener Tierarten in Kombination mit lithischen Artefakten aufweisen f Das Aasfressermodell beruht auf alternativen Interpretationen der Knochen- und Artefaktansammlungen verschiedener Fundstätten (Binford 1981; Shipman 1985); später wurden auch verhaltensbiologische Untersuchungen an Karnivoren integriert (Blumenshine und Cavallo 1992) g Das Paarbindungsmodell stammt von Lovejoy (1981)
Hypothese
Tab. 2.5 (Fortsetzung)
2.2 Stammesgeschichte 59
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2
Evolution des Menschen
von Werkzeugbenutzung erforderlich. Wenngleich die Herstellung lithischer Geräte nach der derzeitigen Befundsituation nur der Gattung Homo zugeordnet werden kann, muss dennoch die vielseitige Werkzeugbenutzung vor allem der Schimpansen in die Betrachtungen einbezogen werden. Diese Primaten verwenden nicht nur eine Vielzahl von Werkzeugen im Zusammenhang mit Techniken der Nahrungsgewinnung sowie zur Körperpflege, sondern zeigen darüber hinaus auch von Population zu Population unterschiedliches Werkzeugverhalten, so dass man von „Kulturtraditionen“ bei Schimpansen sprechen kann. Während früher die Werkzeugbenutzung herangezogen wurde, um die Tier-Mensch-Dichotomie zu untermauern, haben diese und andere neuere Erkenntnisse aus der Primatologie dazu geführt, dass statt der dichotomen Denkweise die enge Verwandtschaft zwischen Menschen und den übrigen Primaten, speziell den Menschenaffen, betont wird (Schröder 2000). Zahlreiche Verhaltensbeobachtungen sowohl in Gefangenschaft (z. B. Whiten et al. 2005) als auch in freier Wildbahn (z. B. Biro et al. 2003) haben zwischenzeitlich gezeigt, dass die Kriterien zur kulturellen Innovation und auch zur Transmission dieser Innovationen innerhalb der Gruppe bei Menschenaffen (Schimpansen, aber auch Orang-Utans) erfüllt sind. Im evolutiven Kontext impliziert dies, dass die Entwicklung hoher kognitiver Leistungen als Nebenprodukt der Selektion auf soziales Lernen aufgefasst werden kann, und dass der entsprechende Selektionsdruck in sozial lebenden Tieren höher ist als in solitär lebenden Spezies (van Schaik und Pradhan 2003). Diese Beobachtungen zum Werkzeuggebrauch gelten heute eher als weiterer Beweis für die große verwandtschaftliche Nähe zwischen Menschen und Menschenaffen; aus dem Nachweis des vielfältigen Umgangs mit Werkzeug bei unseren nächsten Verwandten kann auf eine wichtige Prädisposition für den Prozess der Menschwerdung geschlossen werden. Die Tendenz, der Werkzeugbenutzung eine große Bedeutung für die Menschwerdung beizumessen, gründet sich jedoch nicht allein auf die möglichen kausalen Beziehungen zur Evolution spezifisch menschlicher Eigenschaften, sondern hat auch einen eher pragmatischen Aspekt: Abgesehen von den homininen Fossilfunden selbst, die uns zusätzlich zu anatomischen Informationen indirekt auch Hinweise auf Verhalten geben können (z. B. über funktionsmorphologische Analysen), sind lithische Artefakte im Regelfall die einzigen konkreten und direkten Hinweise auf das Verhalten ausgestorbener Hominini. Dass außerwissenschaftliche Strömungen die Vorstellungen von der Menschwerdung beeinflusst haben, ist bereits von zahlreichen Autoren thematisiert worden (Vogel 1977; Leakey 1981; Shipman 1985; Lewin 1988a; Johanson und Shreeve 1990; Lethmate 1990; Henke und Rothe 1994, 1998) und bildet eine weitere Ebene der Kritik an Hominisationsmodellen. Diese außerwissenschaftlichen Einflüsse haben unsere Vorstellungen von der Entstehung des Menschen in vielfältiger Weise mit geprägt; sie hängen eng mit der Objekt-Subjekt-Identität zusammen: Ausgehend von subjektiv als besonders menschlich angesehenen Eigenschaften oder Fähigkeiten, wird in der Vergangenheit nach Anhaltspunkten für die Entstehung genau dieser Merkmale gefahndet. Dieses „posthoc-Denken“ (Johanson und Shreeve 1990) steht dem Verständnis für die Prozesse der menschlichen Vergangenheit entgegen, weil es nicht weiterführt, vom Ergebnis her rückwärts zu denken.
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Stammesgeschichte
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Tooby und DeVore (1987) kritisieren nicht nur, dass Eigenschaften moderner Jäger und Sammler – wie etwa Sprache, Nahrungsteilung oder Paarbindungsverhalten – auf einen gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffen und Menschen zurück projiziert werden, sondern dass viele Forscher darüber hinaus die menschliche Evolution als einen langen Korridor betrachten, den ein recht intelligenter, Werkzeug benutzender Schimpanse auf der einen Seite betritt, während ihn auf der anderen Seite der bereits erwähnte moderne Jäger und Sammler verlässt15. Die Rekonstruktion von Verhalten ist ein wichtiger Bestandteil von Szenarien zur Menschwerdung: Ernährungsstrategien wie Sammeln, Jagen oder Aasfressen sowie Aspekte des Gemeinschaftslebens wie Nahrungsteilung, Kooperation und Kommunikation basieren auf individuellen Verhaltensweisen, aber die Gegenargumente zu den Hominisationsmodellen (s. Tab. 2.5) zeigen, dass viele Schwächen und Irrtümer in den Modellen auf Fehlinterpretationen im Bereich des Verhaltens beruhen. Das hypothetische Verhalten des letzten gemeinsamen Vorfahren von Hominini und Panini sowie das Verhalten ausgestorbener Hominini wird typischerweise über den Vergleich mit lebenden nicht-menschlichen Primaten rekonstruiert. Spezifisch menschliche Merkmale werden in das Verhaltensszenario inkorporiert, indem die möglichen ökologischen Bedingungen und die sich daraus ergebenden möglichen Adaptationsvorteile über logisch-plausible Annahmen hergeleitet werden (Potts 1987). Im Allgemeinen werden dabei die Verhaltensmuster einer bestimmten Primatenspezies zugrunde gelegt, die dann als Referenzmodell16 fungiert. Besonders häufig sind Paviane und Schimpansen als Referenzmodell für die Interpretation des Ursprungs menschlichen Verhaltens herangezogen worden (Wrangham 1987). Paviane können aufgrund verhaltensökologischer Gemeinsamkeiten (z. B. terrestrische Lebensweise bei arborealer Lebensweise der Vorfahren) als analoges Referenzmodell betrachtet werden, Schimpansen sind hingegen wegen ihrer großen verwandtschaftlichen Nähe zum Menschen eher als homologes Referenzmodell anzusehen (Kinzey 1987). Obwohl solche Referenzmodelle häufig plausibel sind und zum weiteren Nachdenken anregen, betonte schon Wrangham (1987), dass sie durch die initiale Vermutung limitiert sind, die soziale Organisation unserer Vorfahren sei derjenigen irgendeiner lebenden Spezies ähnlich gewesen. Die plio-pleistozänen Homininen haben aber möglicherweise über Verhaltensanpassungen verfügt, die weder beim heutigen Menschen noch bei den übrigen rezenten Primaten zu finden sind (Potts 1987). Die auf Verhaltensähnlichkeiten und -übereinstimmungen basierenden Diese Ansicht wird gut durch das folgende Zitat von Tanner und Zihlman (1976, S. 587–588) illustriert: „Livingchimpanzeesrepresentthekindofpopulationfromwhichweevolved.Contemporarygathering-huntingpeoplesprovidedataonevolvedpatterns.Wecanthenlookatthetwo endsofthecontinuumandtrytofillinthemissingparts.“ 16 Bei einem Referenzmodell wird ein reales Phänomen als Modell für ein anderes reales Phänomen benutzt, das sich einer direkten Erforschung entzieht. Ein Beispiel aus einem anderen Forschungsgebiet ist der pharmakologische oder toxikologische Tierversuch als Modell für eine Medikamentenwirkung beim Menschen, die aus ethischen Gründen nicht direkt untersucht wird (Tooby und DeVore 1987). 15
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Evolution des Menschen
Referenzmodelle beziehen sich oft auf eine sehr frühe, eher menschenaffenähnliche Evolutionsphase der Hominini, für die nur geringe Unterschiede zwischen Homininen und der jeweiligen Referenzspezies angenommen werden. Damit bleiben viele kritische, die Evolution der Homininen kennzeichnende Transformationen unberücksichtigt. Tooby und DeVore (1987) meinen, dass der Forschungsansatz des Referenzmodells dazu führt, dass die zentrale Frage, warum wir Menschen sind und nicht Schimpansen, Bonobos oder Gorillas etc., letztlich unbeantwortet bleibt. Bei Referenzmodellen werden die Ähnlichkeiten zu Lasten der Unterschiede in den Vordergrund gestellt, weil sie keine klare Vorgehensweise bieten, wie Unterschiede zu behandeln sind. Dadurch werden Verhaltensdiskontinuitäten vernachlässigt. Vor allem ist die Annahme, dass Schimpansen seit der Aufspaltung der paninen und homininen Linie keine wesentlichen evolutiven Veränderungen erfahren haben, höchst problematisch. Schimpansen als „lebende Fossilien“ zu betrachten, bei denen die Merkmalskomplexe des letzten gemeinsamen Vorfahren im Wesentlichen konserviert sind, offenbart eine anthropozentrische Perspektive. Tatsächlich ist die Gattung Pan die einzige unter den Menschenaffen, die in zwei sich in vielen Merkmalen deutlich unterscheidenden Spezies vertreten ist: Pan troglodytes und Pan paniscus, deren Trennung vor etwa 2,5 Mio. Jahren stattgefunden hat (s. Kap. 2.1). Darüber hinaus weisen Schimpansen eine Reihe von Merkmalen auf, die als Autapomorphien17 innerhalb der Hominidae aufzufassen sind, z. B. die soziale Struktur der Sammlungs-Trennungs-Gesellschaft ( fusion-fission-society), die enormen anogenitalen Schwellungen östrischer Weibchen oder Penis- und Hodengröße der Männchen. Tooby und DeVore (1987) haben vorgeschlagen, Referenzmodelle durch Konzeptmodelle zu ersetzen. Konzeptmodelle sind keine realen Phänomene, sondern werden deduktiv durch strategische Modellierung auf der Grundlage der modernen Evolutionstheorie und Verhaltensökologie erstellt. Auf diese Weise entsteht gewissermaßen ein Raster, in das vor- und frühmenschliche Verhaltensadaptationen und -innovationen eingeordnet werden können. In einer nicht abschließenden Liste nennen Tooby und DeVore allein 21 homininentypische Merkmale, die in einem Konzeptmodell berücksichtigt werden sollten. Weiterhin schlagen sie einen ebenfalls offenen Katalog von 25 evolutionstheoretisch und verhaltensökologisch relevanten Grundsätzen als vorläufige Richtlinien für die strategische Modellierung von Konzeptmodellen vor. Abschließend ist festzuhalten, dass trotz umfangreicher Kenntnisse und vielfältigster Forschungsansätze ein allgemein akzeptiertes, schlüssiges Hominisationsmodell bis heute fehlt. Die Fossilfunde von Ardipithecusramidus sind aber geeignet, die Eigenständigkeit der phylogenetischen Linien der Hominini und Paninini auch in verhaltensbiologischer Sicht aufzuzeigen, und die weitere Verwendung von Referenzmodellen mit gebotener kritischer Zurückhaltung zu betrachten.
Als Autapomorphie bezeichnet man eine evolutionäre Neuerwerbung, die auf eine Stammlinie begrenzt ist. Entgegen dem ursprünglichen Wortsinn ( morphe, gr. = Gestalt) sind alle Merkmale gemeint, nicht nur morphologische Kennzeichen. 17
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Stammesgeschichte
2.2.8
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Die Evolution ausgewählter arttypischer Merkmale
Die aktuell diskutierten Hypothesen zur Hominisation lassen eine Reihe von spezifischen Kennzeichen des Menschen erkennen, die als besonders bedeutsam für den Prozess der Menschwerdung gelten. Die meisten der Eigenschaften, die wir als einzigartige Kennzeichen des Homosapiens ansehen, hängen unmittelbar mit der Entwicklung des menschlichen Gehirns zusammen (s. auch Kap. 2.1), doch Fossilfunde gestatten nur in begrenztem Umfang Rückschlüsse auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns. Der Grad der zerebralen Organisation wird durch die Messung von Hirnschädelkapazitäten nur bedingt reflektiert, und es müssen allometrische Effekte der Körpergröße auf das Schädelvolumen berücksichtigt werden. Dennoch darf man annehmen, dass die enorme Zunahme der Hirnschädelkapazität, welche die Evolution der Homo-Linie kennzeichnet, die Steigerung der intellektuellen Leistungsfähigkeit widerspiegelt. Gleichzeitig ist die Hirnschädelkapazität ein wichtiges Kriterium zur Abgrenzung der Gattung Homo von den übrigen Homininen. Die Frage nach den Gründen dieser außergewöhnlichen Gehirnentwicklung ist das vermutlich wichtigste bislang ungelöste Problem der Hominisationsforschung. Nach der derzeitigen Befundsituation sind Schädelvolumina, die deutlich über den für Australopithecinen und Paranthropinen ermittelten Werten liegen, erst seit etwa 2 Mio. Jahren nachgewiesen. Für die Annahme, dass Homininen mit relativ großen Gehirnen schon früher entstanden sind, fehlt bislang jeglicher direkte Beweis. Als mögliche Ursachen für die zunehmende Zerebralisation werden verschiedene Wechselwirkungen zwischen pleistozäner Umwelt und den in ihr lebenden Hominini diskutiert. Als wichtige Faktoren gelten lithokulturelle Aktivitäten, Änderungen der Ernährung und Veränderungen in der sozialen Umwelt. 7 Die außergewöhnliche Gehirnentwicklung ist vermutlich eher das Ergebnis eines multikausalen Geschehens, als dass eine spezifische Einzelbedingung als Ursache identifiziert werden könnte.
Aus der Fülle von Eigenschaften und Merkmalen, deren evolutiver Hintergrund von besonderem Interesse ist, werden im Folgenden einige besonders wichtige herausgegriffen und dargestellt: Bipedie, Werkzeuggebrauch, Ernährung, Wachstum und soziale Organisation.
2.2.8.1 Bipedie Der aufrechte Gang ist ein exklusives Kennzeichen der Homininen (s. auch Kap. 2.1). Die mit dieser neuen Fortbewegungsweise verbundenen anatomischen Veränderungen sind an postkranialen Skelettteilen vieler fossilen Homininenspezies nachweisbar. Darüber hinaus liegt zur bipeden Lokomotion früher Homininen ein Verhaltensfossil vor: die Fußabdrücke von Laetoli in Tansania, die auf gut 3,5 Mio. Jahre datiert sind und Australopithecusafarensis zugeschrieben werden. Wenngleich die grundsätzliche Fähigkeit zur Bipedie beim Australopithecus afarensis und späteren Homininen nicht zu bezweifeln ist, hat die frühe Fortbewegung auf den Hinterextremitäten sicher noch nicht der „perfekten“ Bipedie ent-
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Evolution des Menschen
sprochen, die seit der Entstehung von Homoerectus gegeben war. Bereits Susman und Stern (1983) wiesen darauf hin, dass die Australopithecinen noch über eine Reihe ursprünglicher anatomischer Merkmale verfügten, die sie zu einer effizienten arborikolen Lebensweise befähigten. Damit zeigt der skelettäre Lokomotionsapparat der Australopithecinen ein Mosaik plesio- und apomorpher (ursprünglicher und abgeleiteter) Merkmale, aufgrund dessen sie möglicherweise ein ganz eigenes Fortbewegungsmuster aufwiesen, das sich sowohl von der habituellen Bipedie des modernen Menschen als auch von der Fortbewegungsweise rezenter nicht-menschlicher Primaten unterschied (Henke und Rothe 1994). Vergleichende Untersuchungen an den Bogengängen des Innenohrs, die eine entscheidende Funktion für den Gleichgewichtssinn und somit für das Lokomotionsmuster haben, konnten zeigen, dass es signifikante Unterschiede in der Architektur des Kanalsystems zwischen verschiedenen Hominoideaspezies gibt (Spoor et al. 1994): Die Konfiguration der Bogengänge im Innenohr bei fossilen Vertretern der Gattung Homo entspricht derjenigen des modernen Menschen, bei den Australopithecinen hingegen sind die Krümmungsverhältnisse und die Weiten- und Höhenmaße eher menschenaffenähnlich. Dies ist ein Indiz dafür, dass sie – anders als die späteren Vertreter der Gattung Homo – noch nicht vollständig an die bipede Lokomotion angepasst waren. Über die adaptiven Vorteile der Bipedie gibt es zahlreiche unterschiedliche Hypothesen (s. z. B. Coppens und Senut 1991; Henke und Rothe 1998). Die Liste reicht von der Befreiung der Hände von der Fortbewegungsfunktion (z. B. Lovejoy 1981) über die Vergrößerung des Blickfeldes (z. B. Day 1986), die ökonomische Bewältigung langer Wege im Zusammenhang mit der Nahrungsbeschaffung (Shipman 1986) bis zu einer günstigeren Thermoregulation (Wheeler 1993). Es muss aber bei all diesen Hypothesen darauf geachtet werden, dass das Ergebnis aus der Bipedie (z. B. die Befreiung der oberen Extremität) nicht als deren Ursache angenommen wird. Da der aufrechte Gang eine Gruppe von Primaten kennzeichnet, die den Übergang von einer arborikolen zu einer (bei einigen fossilen Spezies vielleicht noch nicht ausschließlich) terrestrischen Lebensweise vollzogen hat, ist es plausibel zu vermuten, dass die neue Fortbewegungsart mit dem Bodenleben zusammenhängt. Der Übergang zur terrestrischen Lebensweise kann unterschiedlich erklärt werden; klimaökologische Veränderungen werden ebenso diskutiert wie eine allgemeine Körpergrößensteigerung, die einer arborikolen Lebensweise entgegensteht (Henke und Rothe 1994). Da inzwischen gesichert ist, dass die frühen Homininen nicht unbedingt in einer offenen Savannenlandschaft, sondern auch in gemischten und bewaldeten Habitaten gelebt haben, ist die langsame Entwicklung dieser heute für Primaten exklusiven Fortbewegungsweise und die Existenz von Taxa, welche eine diesbezügliche Kombination aus menschlichen und menschenaffenähnlichen Merkmalen aufwiesen, plausibel. In Weiterführung der Hypothese von Hunt (1994), der die Aufrichtung des Körpers mit einer terrestrischen Fresshaltung interpretiert, wenn Früchte von Bäumen geerntet werden, weist Pawłowski (2007) auf Beobachtungen bei nicht-menschlichen Primaten hin, welche zwar für lediglich etwa 5 % ihres Lokomotionsverhaltens fakultativ biped sind, mehrheitlich aber diese fakultative Bipedie während des Nahrungserwerbes zeigen. Die morpho-
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Stammesgeschichte
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logischen Umstrukturierungen während des Erwerbes der obligaten Bipedie habe vermutlich daher zunächst die Hinterextremität betroffen (maximale Streckung des Körpers), welcher die entsprechenden anatomischen Umstrukturierungen weiterer Körperpartien folgten. Schon früh in der menschlichen Stammesgeschichte ist eine Veränderung der Beckenkonfiguration eingetreten (s. oben Ardipithecus ramidus). Harcourt-Smith (2007) bezweifelt dagegen, dass der Selektionsdruck in dieser Hypothese des Nahrungserwerbes stark genug gewesen sei. Die Hypothese der Thermoregulation (Wheeler 1991, 1993) sei zwar auch nicht von der Hand zu weisen, aber es stellt sich dann die Frage, warum nicht auch andere Primatenspezies zur Bipedie übergegangen sind. Es ist wahrscheinlich, dass mehrere Selektionsdrücke gemeinsam gewirkt haben, z. B. eine Kombination aus einer effizienteren Thermoregulation mit der Fähigkeit zum energiesparenden Gehen über lange Strecken (s. Sokol et al. 2007). Die Hominiden sind keinesfalls die einzigen Primaten, die im Laufe ihrer Evolution zum Bodenleben übergingen: von etwa 40 ausgestorbenen und lebenden Primatenarten ist bekannt, dass sie durch eine terrestrische Lebensweise gekennzeichnet sind (Napier und Napier 1967). Der Übergang zum Bodenleben erfordert neue Adaptationen. Dazu gehören Strategien zum Schutz vor Beutegreifern, die Erschließung neuer Ressourcen in veränderten Konkurrenzsituationen sowie eine effiziente Form der Fortbewegung. Die terrestrisch lebenden Primaten weisen unterschiedliche Anpassungen der Lokomotion am Boden auf, so dass die homininen-typische Bipedie nur eine Lösung unter vielen darstellt. Es wird häufig die Meinung vertreten, dass die Bipedie eine Schlüsselanpassung in der Hominisation darstellt (z. B. Sinclair et al. 1986; Lethmate 1990). Betrachtet man die Radiation der Homininen, die zu mehreren, teilweise zeitgleich existierenden, aber klar unterscheidbaren Spezies führte, hat diese Annahme einen hohen Erklärungswert, denn trotz vermuteter unterschiedlicher ökologischer Einnischung ist allen Homininen die bipede Lokomotion gemeinsam. Sie muss adaptive Vorteile gehabt haben, auch wenn diese nicht endgültig geklärt sind. Blickt man allerdings auf die Entstehung der Gattung Homo, so ist die Menschwerdung im engeren Sinne nur erklärbar, wenn man von der Existenz zusätzlicher Schlüsselanpassungen ausgeht. Sicher ist jedoch: zuerst kam die Bipedie, dann die Werkzeugherstellung.
2.2.8.2 Werkzeugherstellung Wie bereits im Zusammenhang mit Tab. 2.5 diskutiert, haben Werkzeuge und Werkzeugherstellung oft eine wichtige Rolle in den Erklärungsmodellen zur Menschwerdung gespielt. Zugerichtete Steinwerkzeuge sind offenbar spezifisch für die Homininen, vermutlich sogar nur für die Gattung Homo. Die frühesten Steinwerkzeuge der Olduwan-Industrie (s. auch Box 2.6), die etwa 2,5 Mio. Jahre alt sind, waren einfach und opportunistisch (Leakey 1994). Ein deutlich erkennbarer technologischer Fortschritt in der Werkzeugherstellung ist erst ungefähr 1 Mio. Jahre später mit der so genannten Acheuléen-Technologie zu verzeichnen. Die Bedeutung von Steinwerkzeugen für die Menschwerdung ist strittig: Während Wynn und McGrew (1989) zu dem Ergebnis kommen, dass die frühesten
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Steinwerkzeughersteller keine größeren intellektuellen Fähigkeiten aufweisen mussten als rezente Menschenaffen, meinen Toth (1985) und Leakey (1994), dass Menschenaffen nicht grundsätzlich über alle kognitiven Voraussetzungen verfügen, um Pebble-tools herzustellen. Bisher liegen über die Gehirnkapazität von fossilen Vertretern der Gattung Homo zur Zeit des ersten Nachweises von lithischen Artefakten noch keine Daten vor; die Schätzungen zum Gehirnvolumen der Arten Homo/Australopithecus rudolfensis und Homo/Australopithecus habilis beziehen sich auf Funde, die auf 1,8 bis 1,9 Mio. Jahre datiert werden, also mindestens eine halbe Million Jahre jünger sind als die ersten Geröllgeräte. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage nach der Bedeutung von Steinwerkzeugen für die Evolution der Gattung Homo zum jetzigen Zeitpunkt nicht endgültig klären. Davon unabhängig ist jedoch festzuhalten, dass in früheren Hominisationsszenarien die Bedeutung der Werkzeugbenutzung oft überschätzt worden ist. Dies gilt insbesondere für die Vorstellungen über Werkzeugbenutzung bei der Jagd. Die meisten frühen Steinwerkzeuge sind zwar dazu geeignet, tote Tiere zu zerlegen und zu zerteilen, doch sie sind keine effizienten Jagdwerkzeuge. Das von Darwin (1874) vorgeschlagene Autokatalyse-Modell mit der Reduktion der waffenähnlichen Eckzähne und der Werkzeugbenutzung (s. Tab. 2.5) ist offenbar lange Zeit unkritisch weitergeführt worden, wobei auch Darwins häufig missverstandene Metapher vom „Kampf“ ums Dasein dazu beigetragen haben mag, dass Werkzeug und Waffen fast immer synonym verwendet wurden und der Einsatz dieser Waffen überproportional in die früheren Vorstellungen von der Menschwerdung eingeflossen ist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die instrumentelle Intelligenz des Menschen durch Verhaltensbeobachtungen an rezenten Primaten viel von ihrer ursprünglich vermuteten Exklusivität verloren hat, dass aber dennoch lithokulturelle Aktivitäten als kritisches Element (Henke und Rothe 1994) im evolutionären Szenarium der Menschwerdung betrachtet werden können.
2.2.8.3 Ernährung Die Ernährung der frühen Homininen spielt häufig eine wichtige Rolle in den Erklärungsmodellen zur Hominisation, da Fossilfunde und archäologische Fundstücke direkt oder indirekt Rückschlüsse auf die Ernährung gestatten. Die vergleichende Analyse kraniodentaler Merkmale gibt Hinweise auf die Art und Zusammensetzung der Nahrung, lithische Artefakte deuten auf die Verwendung von Werkzeug bei der Erschließung bestimmter Nahrungsquellen hin. Schließlich sind Schnittspuren an fundbegleitenden fossilen Säugerknochen ein wichtiges Indiz für die Verwertung tierischer Nahrungsquellen. Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand weisen die Befunde an fossilen Homininen darauf hin, dass nicht nur die frühen Vertreter der Gattung Homo, sondern bereits einige Australopithecinen sich omnivor ernährten (s. oben). Ergänzende Annahmen darüber, ob diese Homininen die tierischen Nahrungsbestandteile durch jagdliche Aktivitäten selbst erbeuteten, oder ob sie die Kadaver verendeter oder von Karnivoren getöteter Tiere nutzten, lassen sich anhand der oben dargelegten Befunde nicht machen. Auch die Gehirnentwicklung steht in einem wichtigen direkten Zusammenhang zur Ernährung: Das Gehirn ist ein metabolisch aufwendiges Organ. Beim modernen
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Menschen benötigt es 20 % der Energiezufuhr, obwohl es nur 2 % des Körpergewichts ausmacht (s. auch Kap. 2.1). Daher wird vermutet, dass der Verzehr von Fleisch, das eine konzentrierte, energetisch hochwertige, protein- und fetthaltige Nahrungsquelle darstellt, eine wichtige Voraussetzung für die einsetzende Zerebralisation war (Martin 1983). Andererseits kann man annehmen, dass die adaptiven Vorteile eines größeren Gehirns so groß waren, dass sie die hohen metabolischen Kosten aufwogen (s. Kap. 4.1.3, „expensivetissuehypothesis“). Eine interessante Annahme zur Bedeutung der Ernährung für die Hominisation stammt von Casimir (1994). Er führt aus, dass nur Tiere, die sich omnivor bzw. herbivor-polyphag18 ernähren, die Fähigkeit zur Traditionsbildung haben, die wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Evolution der Kulturfähigkeit ist. Während mono- oder oligophage Arten alle Nährstoffe und Energie aus jenen Nahrungssorten beziehen, an die sie adaptiert sind, müssen sich omnivore oder polyphage Spezies – wie z. B. die rezenten Hominidae – eine ausgewogene Diät aus den verschiedensten, sich ergänzenden Energie- und Nährstofflieferanten zusammenstellen. Eine unzureichende Nahrungszusammensetzung führt schnell zu Mangelernährung und stellt ein vitales Risiko dar. Speziell bei pflanzlicher Nahrung kommt hinzu, dass auch zwischen verschiedenen Teilen der Nahrungspflanzen differenziert werden muss, wenn beispielsweise die Blätter einer Pflanze nahrhaft, ihre Früchte hingegen giftig sind. Diese Probleme, die ein omnivores oder herbivor-polyphages Verhalten mit sich bringt, bedingen, dass einerseits viele Informationen tradiert werden müssen, und andererseits auch die Fähigkeit zum Diskriminationslernen ausgeprägt sein muss. Darüber hinaus bietet diese Ernährung zahlreiche Optionen für die Entwicklung von Techniken zur Nahrungsgewinnung, einschließlich eines vielfältigen Gebrauchs von Werkzeugen. Untersuchungen zum Zahnabrieb und stabiler Isotope im Zahnschmelz (s. Kap. 2.3.5) belegen, dass auch Australopithecinen und Paranthropinen bereits über eine vielseitige Ernährung und somit über eine wichtige Prädisposition für die Kulturrevolution verfügten.
2.2.8.4 Wachstum Innerhalb der Plazentalia gibt es zum einen Ordnungen, deren Jungtiere klein und wenig entwickelt (altrizial) zur Welt kommen (etwa Carnivora oder Insectivora), zum anderen gibt es Ordnungen, deren Jungtiere relativ groß und gut entwickelt geboren werden. Zu der letzten Gruppe gehören beispielsweise Huftiere, Elefanten, Wale und Primaten (Martin 1992a). Innerhalb der Primaten nimmt der Mensch hinsichtlich des Reifestadiums des Nachwuchses bei der Geburt eine Sonderstellung ein: Menschliche Säuglinge sind im Vergleich zu Menschenaffenbabys hilfloser und unreifer, sie weisen eine sekundäre Altrizialität auf (s. auch Kap. 2.1). Die Ursache für dieses Phänomen liegt in einer Kombination von zwei humanspezi-
Im Gegensatz zur omnivoren Ernährung, bei der Nahrung pflanzlichen und tierischen Ursprungs verzehrt wird, bezeichnet man mit dem Begriff herbivor-polyphag eine Ernährung, die ein breites Spektrum von Nahrungsstoffen pflanzlichen Ursprungs nutzt. 18
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fischen Merkmalen: dem großen Gehirn und dem an den aufrechten Gang angepassten Becken. Die Öffnung des Geburtskanals konnte mit der evolutiven Gehirnvergrößerung nur begrenzt Schritt halten, sie setzt der Gehirngröße der Neugeborenen eine natürliche Grenze. Im Gegensatz zu den übrigen Primaten ist der Geburtsvorgang beim Menschen für Mutter und Kind überaus anstrengend und mit einem vitalen Risiko verbunden; er ist so außergewöhnlich belastend, dass die Gebärende in allen Kulturen geburtshilflich unterstützt wird (Meißner 1993). Die durchschnittliche Gehirngröße eines menschlichen Neugeborenen beträgt mit etwa 385 ccm nur etwas mehr als 25 % der Gehirngröße eines Erwachsenen (1350 ccm). Bei Menschenaffen hingegen hat das Gehirn eines Neonatus bereits ca. 50 % der Größe eines ausgewachsenen Gehirns, das im Mittel ca. 400 ccm erreicht (Leakey 1994). Da die Gehirnschädelkapazität früher Homininen kaum größer war als die rezenter Menschenaffen, wird das Größenverhältnis vom Neugeborenengehirn zum Erwachsenengehirn vermutlich menschenaffenähnlich gewesen sein. Extrapoliert man diese Relation, so muss im Laufe der Gehirnevolution ein kritischer Punkt erreicht gewesen sein, als die Schädelkapazität eines Erwachsenen etwa 770 ccm betrug. Dieser Wert beträgt das Doppelte der Gehirngröße eines heutigen menschlichen Neugeborenen. Eine weitere Steigerung der Gehirngröße während des pränatalen Wachstumsabschnitts war danach nicht mehr möglich. Diese Verhältnisse lagen z. B. beim Homo/Australopithecusrudolfensis (KNM–ER 1470) vor, für den eine Hirnschädelkapazität von 775 ccm ermittelt wurde (Leakey 1994). Einen weiteren Hinweis auf die Veränderungen des Wachstumsmusters im Laufe der Hominisation liefert das postkraniale Skelett des Fundes KNM-WT 15000. Messungen am rekonstruierten Becken lassen darauf schließen, dass der Geburtskanal beim Homoergaster zwar enger war als beim rezenten Homo sapiens, jedoch eine ungefähre Gehirngröße von 275 ccm beim Neonatus gestattete (Walker und Leakey 1993; Leakey 1994). Daraus folgt, dass sich die Gehirngröße beim Homo ergaster im Verlauf der Individualentwicklung verdreifachen musste: ein deutlicher Unterschied zur Relation bei Menschenaffen. Ein menschliches Neugeborenes holt seinen „Rückstand“ in der Gehirnentwicklung allerdings enorm schnell auf: Bereits mit 5 Jahren hat ein Kind 90 % und mit 10 Jahren 95 % des erwachsenen Gehirngewichts erreicht (Tanner 1992). Jolicoeur et al. (1988) geben sogar an, dass das Gehirnwachstum bereits mit 6,0 Jahren bei Jungen bzw. 6,4 Jahren bei Mädchen beendet sein kann. Demgegenüber zeigt das allgemeine körperliche Wachstum (s. auch Kap. 4.1) einen völlig anderen Verlauf, der vor allem durch den zweiten Wachstumsschub auffällt (Tanner 1992). Abgesehen davon, dass das körperliche Wachstum des menschlichen Kindes langsamer verläuft und länger dauert als bei allen rezenten Menschenaffen, ist möglicherweise auch dieser pubertäre Wachstumsschub, während dessen eine Körperhöhenzunahme von bis zu 10 cm jährlich erreicht wird, ein weiteres Unterscheidungskriterium. Während Bogin (1988, 1993) meint, dass es sich bei dem pubertären Wachstumsschub in der menschlichen Individualentwicklung um ein autapomorphes Merkmal handelt, das den Menschen ebenso charakterisiert wie die Bipedie oder das große Gehirn, meinen Tanner et al. (1990), Leigh und Shea (1995) und Leigh (1996), dass
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Tab. 2.6 Geschätzte Reifeparameter fossiler Homininen (nach Hemmer 2007). H.floresiensis ist aufgrund seiner spezifischen Merkmalsmuster (s. oben) nicht berücksichtigt Spezies Durchbruch 1. Dau- Geschlechtsreife 1. Reproduktion Lebensdauer ermolar (Jahre) ♀ (Jahre) ♀ (Jahre) (Jahre) 3 8 10 45 A.afarensis 4 12 15 57 H.ergaster 5 14,5 18 65 Archaischer H. sapiens (Europa) 16 19,5 69 H.neanderthalensis 6
auch bei anderen Primatenspezies solche Wachstumsschübe existieren. Unabhängig von dieser noch nicht endgültig geklärten Frage ist zumindest das späte Auftreten des Wachstumsschubs beim Menschen als ein besonderes Merkmal des Menschen zu betrachten. Leigh (1996) kommt zu dem Ergebnis, dass trotz der unterschiedlichen Angaben darüber, wann genau das Wachstum des Gehirns beendet ist, zumindest festzustellen ist, dass zwischen der Beendigung des Gehirnwachstums und dem späten Beginn des Wachstumsschubs eine erhebliche zeitliche Lücke besteht. Diese zusätzliche Phase in der Individualentwicklung des Menschen bedarf einer evolutionären Erklärung. Eine viel diskutierte Hypothese (Tanner 1978; Bogin 1988; Leakey 1994; Leigh 1996) besagt, dass dieser zusätzliche Abschnitt in der Individualentwicklung erforderlich ist, um im weiteren Sinne kulturelles und soziales Verhalten zu erlernen und zu trainieren, das beim Menschen eine offenkundig größere Bedeutung hat als bei den übrigen Primaten (s. Kap. 4.1.3). Unter Berücksichtigung der Relationen von Lebenslaufparametern mit dem Körpergewicht, dem Hirngewicht und der relativen Hirngröße bei rezenten Primaten hat Hemmer (2007) wesentliche Reifemerkmale früher Homininen geschätzt (Tab. 2.6). Diese bestätigen das jeweils fundamental Neue in den Gattungen Australopithecusund Homo.
2.2.8.5 Soziale Organisation Obwohl Aspekte der sozialen Struktur und Organisation in mehreren Hominisationsmodellen (s. Tab. 2.5) eine zentrale Rolle spielen, wird die soziale Organisation selbst häufig nicht als Ergebnis eines Evolutionsprozesses betrachtet. Im Mittelpunkt des Jagdmodells beispielsweise stehen gemeinschaftlich jagende, miteinander kooperierende und kommunizierende Männer als vorgegebenes Element der sozialen Organisationsform früher Homininen, ohne dass erklärt wird, wo diese Männerbünde ihren Ursprung haben. Dabei stellt die Bildung von männlichen Allianzen innerhalb einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe im Spektrum der sozialen Organisationsformen der Primaten eine seltene Ausnahme dar. Auch das Nahrungsteilungsmodell stellt einen kooperierenden Sozialverband in den Mittelpunkt, ohne die evolutionsbiologischen Wurzeln dieser Form des Soziallebens zu thematisieren. Das Paarbindungsmodell schließlich ist das einzige der in Tab. 2.5 dargestellten Szenarien, das versucht, Aspekte des Reproduktions- und Paarungsverhaltens in eine evolutionsökologische Betrachtung zu integrieren. Das Modell ist zwar heftig umstritten und wird von zahlreichen Wissenschaftlern (Hill 1982; Tooby und
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DeVore 1987; Lethmate 1990; Henke und Rothe 1994; Leakey 1994) als fehlerhaft betrachtet, weil es mit wichtigen Bausteinen eines verhaltensökologischen Konzepts nicht kompatibel ist, doch es stellt einen wichtigen Fortschritt innerhalb der Modelle dar. Erstmals wurden grundlegende biologische und nicht kulturelle Aspekte in den Vordergrund gestellt. Der durch die Fossilfunde bekannte Sexualdimorphismus der Homininen spricht allerdings gegen ein Monogamie-Modell, denn bei den übrigen Primaten ist Monogamie stets damit verbunden, dass männliche und weibliche Individuen annähernd gleich groß sind. Außerdem liefert das Paarbindungsmodell keine Erklärung dafür, warum und wann sich die nahrungsteilenden, kooperierenden, monogamen Kernfamilien zu jenen übergeordneten Gemeinschaften zusammengeschlossen haben, welche die soziale Organisation moderner Menschen kennzeichnet (Schröder 2000). Tooby und DeVore (1987) bemängeln ferner, dass Lovejoy Paarungsmuster wie unabhängige Determinanten behandelt, statt sie wie Variablen zu behandeln, die von anderen ökologischen Faktoren abhängen. Ein Hominisationsmodell muss also berücksichtigen, dass auch die soziale Organisation des Menschen ein einzigartiges, speziestypisches Merkmal ist. Bei unseren nächsten Verwandten finden wir: • territoriale monogame Paare mit ihrem subadulten Nachwuchs ( Hylobatidae), • solitäre Lebensweise mit polygamem Paarungsmuster ( Pongopygmaeus), • aus meist einem voll erwachsenen Männchen und mehreren Weibchen sowie dem subadulten Nachwuchs bestehende Familiengruppen mit polygyn-monandrischem Paarungsmuster ( Gorillagorilla), • Sammlungs-/Trennungsgesellschaften aus vielen Weibchen und vielen miteinander verwandten Männchen mit einem promisken Paarungsmuster (Pantroglodytes). Keines dieser Muster ist geeignet, um die soziale Struktur und Organisation des Menschen zu beschreiben (Schröder 1992, 1995, 2000). Ardipithecus ramidus (s. o.) zeigt jedoch, dass auch das menschentypische Reproduktionsverhalten und die menschliche Sozialstruktur früh in der Homininenentwicklung angelegt waren und unabhängig von der Evolution der Menschenaffen verliefen. Der Mensch lebt in (serieller) Monogamie oder mäßiger fakultativer Polygamie und bildet auf dieser Basis reproduktive Einheiten (Familien), die in übergeordnete soziale Gemeinschaften integriert sind, die durch ein außergewöhnliches Maß sozialer Kontakte und Interaktionen gekennzeichnet sind. Diese sozialen Kennzeichen der verschiedenen Hominidae-Arten sind das Ergebnis von evolutionären Prozessen, bei denen die Individualinteressen (Schutz vor Beutegreifern, optimale Ernährung und Reproduktion) unter verschiedenen ökologischen Rahmenbedingungen zu unterschiedlich strukturierten sozialen Gruppen geführt haben. Die Evolution sozialer Lebensformen ist häufig – nicht nur mit Blick auf die Hominisation – mit einem effizienteren Nahrungserwerb in Verbindung gebracht worden. Leakey (1994) beispielsweise, der von der Annahme ausgeht, dass der Prozess der Menschwerdung durch eine immer stärker werdende Kooperation zwischen Männern gekennzeichnet ist, nennt als mögliche Ursache für diese offenbar evolutionsbiologisch vorteilhafte Veränderung des Sozialverhaltens die Ernährung mit Fleisch als eiweißreicher, energetisch hochwertiger Nahrung. Möglicherweise jedoch ist die Bedeutung sozialer Strategien des Nahrungserwerbs für die Evolu-
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tion von Sozialstrukturen bisher überschätzt worden. Für die kooperativ jagenden Löwen haben Packer (1986) und Packer und Rutton (1988) beispielsweise anhand von Modellberechnungen und alternativen Szenarien gezeigt, dass bei diesen Großkatzen die kooperative Jagd ein eher unwahrscheinlicher Motor der Evolution der Sozialität ist. Dennoch wird immer noch häufig das Argument angeführt, soziale Strategien hätten im Laufe der Menschwerdung zu einem effizienteren Nahrungserwerb geführt. Unabhängig von der Frage, ob die Evolution neuer sozialer Verhaltensweisen tatsächlich auf Anforderungen im Bereich des Nahrungserwerbs zurückgeführt werden kann, ist jedoch festzuhalten, dass die „übertriebene Sozialität“ (Lewin 1987) des Menschen nur unter ökologischen Bedingungen entstehen konnte, bei denen das Nahrungsangebot hinreichend große Gruppen auf Dauer zuließ, denn die Verfügbarkeit und Beschaffenheit von Nahrung (ihre zeitliche und räumliche Verteilung, ihr relativer Energiegehalt etc.) bestimmen ganz maßgeblich die Gruppengröße (Schröder 2000). Aspekte der sozialen Organisation in ein Hominisationsmodell zu integrieren ist jedoch nicht allein deshalb erforderlich, weil das soziale Organisationsmuster des Menschen ungewöhnlich ist, sondern weil darüber hinaus die sapiensspezifische Gehirnentwicklung ursächlich mit der Evolution der Sozialität des Menschen in Verbindung gebracht werden kann. Überlegungen dieser Art basieren auf der Annahme, dass die Intelligenz der Primaten ganz allgemein eine soziale Funktion hat (Humphrey 1976). Viele Anthropologen (z. B. Lovejoy 1981; Alexander 1989; Johanson und Shreeve 1990; Leakey 1994) sind der Ansicht, dass entscheidende Abschnitte in der Hominisation mit Veränderungen der sozialen Organisation eng zusammenhängen. Holloway (1975), der sich besonders mit Messungen der Hirnschädelkapazität von Homininen befasst hat, ist zu der Überzeugung gelangt, dass Verhaltensanpassungen, die der sozialen Kontrolle dienen, einen wesentlich bedeutsameren Einfluss auf die Zerebralisation hatten als beispielsweise die durch lithische Geräte indizierten instrumentellen Fähigkeiten. 7 Zusammenfassend ist festhalten, dass die Homininen aufgrund von Prädispositionen seit Beginn ihrer Evolution höchst soziale Wesen sind, so dass jeder Versuch, die Evolution des Menschen zu verstehen, unvollständig bleibt, wenn nicht soziale Aspekte berücksichtigt werden.
Zusammenfassung Kap. 2.2: Stammesgeschichte
• Die Rekonstruktion der menschlichen Stammesgeschichte ist ein Forschungsfeld, in dem Erkenntnisse aus vielen Teildisziplinen der Natur- und Kulturwissenschaften integriert werden. Die wichtigste Säule ist die Paläoanthropologie, welche sich mit der Analyse von Fossilfunden befasst. • Je nach taxonomischer Zuordnung der homininen Fossilien werden heute bis zu sieben Gattungen mit mehr als zwanzig Arten unterschieden. • In Bezug auf den Hominisationsprozess muss die Anthropologie Antworten auf die Frage suchen, welche Wechselwirkungen zwischen den Vorfahren des
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Abb. 2.15 Knochenartefakte: a knöcherner Angelhaken aus Schleswig-Holstein, mesolithisch, Originallänge 8,5 cm; b Harpune aus Rentiergeweih, Schleswig-Holstein, frühneolithisch, erhaltene Länge 26,5 cm. (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz (nach Probst 1991))
Menschen und seiner Umwelt für die Entwicklung spezifischer Merkmale des Homosapiens verantwortlich waren. • Wesentliche Merkmale, welche als adaptive Antworten auf verschiedene Selektionsdrücke aufgefasst werden müssen, betreffen die obligatorische Bipedie, den hochentwickelten Werkzeuggebrauch, die Ernährung, das Wachstumsmuster und vor allem auch die soziale Organisation des modernen Menschen.
2.3 2.3.1
Prähistorische Anthropologie Aufgaben und Ziele
Mit dem Auftreten des anatomisch modernen Menschen ( Homosapiens) am Übergang des Mittel- zum Jungpaläolithikum vor ca. 40.000 Jahren entfaltet sich die jungpaläolithische Kultur, welche nicht nur deutlich differenzierter erscheint als jene der vorangegangenen Wildbeuterkulturen (Henke und Rothe 1998), sondern auch eine zunehmende Beschleunigung in Bezug auf ihre weitere Diversifikation erfährt. Dies kann z. B. anhand der klassischen epipaläolithischen Sequenz Südwestfrankreichs gezeigt werden: Auf das Aurignacien (40.000–28.000 BP19) folgte das Gravettien (28.000–21.000 BP), das Solutréen (21.000–16.500 BP) und schließlich das Magdalénien (16.500–11.000 BP). Regional sind diese Kulturstufen wiederum in Subkulturen mit spezifischen Charakteristika untergliedert (Hoffmann 1999; Klein 1999). Kennzeichnend für diese jungpaläolithischen Kulturen sind • die zunehmende Komplexität der Steinwerkzeuge sowie die Bearbeitung auch von Knochen, Elfenbein und Geweih zur Werkzeugherstellung (Abb. 2.15a, b). • Harpunen und Angelhaken belegen die Erweiterung des Nahrungsspektrums auf aquatische Ressourcen. 19 BP = beforepresent (1950). calBP: 14C-Daten, welche auf altersbekanntes Material (i. d. R. dendrochronologische Daten) kalibriert wurden. calBC-Daten bezeichnen diejenige Zeitspanne, in welche das datierte Material mit 95 % Wahrscheinlichkeit fällt.
2.3
Prähistorische Anthropologie
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Abb. 2.16 Venusfigurine, „Venus von Willendorf“ aus dem Gravettien, ergraben 1908 in Niederösterreich, Originalhöhe 10,3 cm. (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz (nach Probst 1991))
• Durch die Entwicklung von Fernwaffen wie Pfeil und Bogen und Speerschleudern (ab ca. 20.000 BP) konnten auch potentiell gefährliche Tiere aus einer größeren Distanz erlegt werden. Es ist wahrscheinlich, dass im ausgehenden Jungpaläolithikum (12.000–10.000 BP) bereits diejenige Technologie erreicht worden war, über welche noch historische Wildbeuterpopulationen verfügten. • Erstmals wurden auch die klimatisch widrigen Regionen Osteuropas und Nordasiens besiedelt, wozu es einer verbesserten Konstruktion von Unterkünften und adäquater Kleidung bedurfte. • Aus dem Gravettien sind mobile Kunstobjekte z. B. in Form von Venus- oder Tierfigurinen bekannt (Abb. 2.16), welche die Funktion eines Fertilitäts- oder Totemsymbols oder auch der Verkörperung einer Gottheit gehabt haben könnten. Weltberühmt sind die Höhlenmalereien Südwesteuropas, welche bis zu 32.000 Jahre alt sind (Lorblanchet 2000). Auch bei diesen zum Teil sehr naturalistischen Darstellungen wird davon ausgegangen, dass diese Kunstobjekte mehrheitlich nicht um der Kunst willen hergestellt wurden, sondern religiös-zeremoniell motiviert waren. Nach einer Theorie von Eibl (2004) kann die Entstehung von Kunst,
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2
Evolution des Menschen
Abb. 2.17 Skelettfunde aus einer komplexen Bestattungssituation vom Petersberg, Flintsbach am Inn/Oberbayern. Aufgrund einer begrenzten Raumsituation wurden die Grabgruben zum Teil in den anstehenden Felsen eingetieft. Im Vordergrund das Skelett eines Kindes, welches das Skelett eines zuvor bestatteten erwachsenen Individuums stört (mehrheitlich fehlt die linke Körperseite des Erwachsenen). Die zeitliche Abfolge von Bestattungen ist somit aus dem Kontext rekonstruierbar. Im Hintergrund jenseits des Maßstabes verworfene Skelettelemente eines ebenfalls durch Nachbestattung gestörten weiteren erwachsenen Individuums. (© und Bildrechte: Thomas Meier, München)
welche um ihrer selbst willen gefertigt wurde, im Kontext von Stressbewältigung gesehen werden: Auch bei insgesamt günstigen Lebensumständen bleibt einem sozialen Primaten und somit auch dem Menschen immer ein gewisser sozialer Stress. Kreative Betätigung schütte Endorphine aus, weshalb auch die Entstehung von Kunst im weiteren Sinne als adaptiv erklärt werden kann. • Nicht zuletzt bedarf die Bestattungskultur der besonderen Erwähnung, welche wiederum deutlich fortgeschrittener erscheint als noch im Moustérien (vgl. Kap. 2.2): Mehrfachbestattungen kommen ebenso vor wie Bestattungen mit Grabbeigaben aus Holz, Muscheln oder auch Steinartefakten (Klein 1999). Die zunehmende Zahl archäologischer Fundstätten legt nahe, dass die Menschen im ausgehenden Paläolithikum auch bereits zahlreicher gewesen sind als ihre Vorgänger. Offensichtlich haben die genannten Innovationen ein stärkeres Wachstum der Populationen erlaubt, welche ihre geografische Verbreitung nicht nur auf die bereits genannten kalten Regionen Osteuropas und Nordasiens ausgeweitet hatten: Spätestens vor 50.000 Jahren wurde Australien besiedelt, was trotz des gesunkenen Meeresspiegels als Folge des eiszeitlichen Klimas seegängige Boote oder Flöße erforderte, da noch immer eine Strecke von 80 bis 100 km über das offene Meer bewältigt werden musste. Nur wenig später erreichten die Menschen über die Beringstraße auch den amerikanischen Kontinent. Mit Ausnahme der Antarktis, der entlegenen pazifischen Inseln und erstaunlicherweise auch einiger Mittelmeerinseln hatte somit der anatomisch moderne Mensch zum Ende der letzten Vereisung praktisch den gesamten Globus besiedelt (Roberts 1998). Körperliche Relikte des anatomisch modernen Menschen stellen das Substrat der prähistorischen Anthropologie dar. Mehrheitlich handelt es sich hierbei um die mineralisierten Hartgewebe (Knochen, Zähne) aus Körperbestattungen (Abb. 2.17), Leichenverbrennung (vgl. Box 2.9) oder anderweitiger Manipulation eines Leichnams, welche im Zuge archäologischer Ausgrabungen aufgedeckt
2.3
Prähistorische Anthropologie
75
werden. Zahlenmäßig weitaus geringer ist die Überlieferung konservierter Weichgewebe bei Mumien (nach intendierter oder natürlicher Mumifikation) und bei Moorleichen. Im weiteren Sinne sind auch Überreste von Fäkalien in Form von historischen Latrinenverfüllungen oder konservierter, einzeln abgesetzter Fäkalreste (Koprolithen) zu diesen körperlichen Relikten von Menschen vergangener Epochen zu zählen. 7 Während sich die Paläoanthropologie (s. Kap. 2.2) Fragen nach der Evolution des anatomisch modernen Menschen widmet, bestehen die Ziele der prähistorischen Anthropologie in der Erschließung der Determinanten menschlicher Bevölkerungsentwicklung in Zeit und Raum sowie einer Vielfalt von Aspekten der Alltagsgeschichtsforschung, soweit sich diese in ihren Ursachen und Folgen biologisch greifen lässt. Die moderne prähistorische Anthropologie versteht sich als Bevölkerungsbiologie von Menschen früherer Zeiten,
da letztlich die Population die kritische Einheit für eine hinreichende Charakterisierung von Lebensweise, Verhaltensmustern, Krankheitserleben, sozialer Interaktion und Umweltbeziehungen darstellt, welche unabweisbar im Kontext des jeweiligen Kulturkreises zu sehen sind. Über ein rein historisch-akademisches Interesse hinaus ist, insbesondere vor dem Hintergrund des erforderlichen ethischen Umganges mit diesem Forschungssubstrat (s. unten), der Gegenwartsbezug prähistorisch-anthropologischer Forschung von hohem Stellenwert. Da Knochen und Zähne sowohl in Bezug auf ihre Struktur als auch in Bezug auf ihren molekularen Aufbau ausgesprochen sensibel auf die Umwelt reagieren, stellen menschliche Skelettfunde eine einzigartige Informationsquelle bezüglich genetischer und physiologischer Anpassung unserer Vorfahren gegenüber den Herausforderungen der natürlichen und soziokulturellen Umwelt dar. 7 Im Gegensatz zu vielen Artefakten im archäologischen Fundgut, zu vielen schriftlichen Überlieferungen und auch mündlichen Traditionen sind körperliche Relikte von Menschen eben keine kulturabhängigen, symbolischen Konstrukte. Archäologische Funde von Knochen und Zähnen sind zwar einerseits tote Gewebe, sie stellen aber Gewebebanken dar, welche als empirische Geschichtsquelle die tatsächlichen physischen Interaktionen von Menschen mit ihrer Umwelt retrospektiv erklären können und damit eine Schlüsselrolle im Verständnisprozess dessen spielen, was tatsächlich während der biologischen und kulturellen Evolution unserer Spezies geschehen ist. Das Arbeitsgebiet der prähistorischen Anthropologie setzt zeitlich in der Regel im Jungpaläolithikum ein, spätestens im Mesolithikum (vgl. Box 2.7), und endet in der Neuzeit.
Nicht nur sind also die Übergänge von der Paläoanthropologie zur prähistorischen Anthropologie fließend, auch der Übergang der Zuständigkeit für menschliche Skelettfunde von der prähistorischen Anthropologie zur Rechtsmedizin ist lediglich praktikabel geregelt. Bei Auffinden menschlicher Skelettreste außerhalb eines
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Evolution des Menschen
archäologischen Kontextes stellt sich zunächst immer die Frage, ob diese Funde historischen Datums sind oder ob es sich um das Opfer eines Verbrechens handeln könne. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine Verjährungsfrist für Mord, jedoch ist die Wahrscheinlichkeit, nach 50 Jahren (entsprechend zwei Generationen) noch einen Täter ermitteln zu können, denkbar gering. So gilt als Faustregel, dass alle Skelettfunde, welche eine Liegezeit von mehr als 50 Jahren haben, in den Zuständigkeitsbereich der Anthropologie fallen. Ausnahmen sind jederzeit möglich, wie z. B. die Strafverfolgung von Personen zeigt, welche sich während des NS-Regimes des Mordes schuldig gemacht haben. Box 2.7: Zeitleiste* für die Kulturstufen in der Geschichte des anatomisch modernen Menschen in Europa
Steinzeit:
Jungpaläolithikum: Mesolithikum:
Neolithikum:
Kupferzeit:
Bezeichnet den längsten Abschnitt der Geschichte des Homosapiens, welche durch den Gebrauch von Steinwerkzeugen charakterisiert ist. Sie wird unterteilt in das Paläolithikum (Altsteinzeit), das Mesolithikum (mittlere Steinzeit) und das Neolithikum (Jungsteinzeit). 38.000–8000 v. Chr. Diese Zeitspanne umfasst mehrere Kulturstufen und ist maßgeblich von der Kultur des anatomisch modernen Menschen geprägt (vgl. Text). 8000–4000 v. Chr. Der Begriff Mesolithikum ist im Wesentlichen auf Europa beschränkt und kennzeichnet den regional zeitlich variablen Übergang von der aneignenden zur produzierenden Lebensweise (vom Jäger/ Sammler/Fischer zum Ackerbauern und Viehzüchter). 8000–2200 v. Chr. Zeitstufe der Entwicklung sesshafter, Ackerbau und Viehzucht treibender Bevölkerungen („Neolithische Revolution“). Der Ursprung der neuen Lebensweise in Europa liegt im „Fruchtbaren Halbmond“ des Zweistromlandes und südlichen Anatolien. Europäische Kulturstufen des Neolithikums sind die älteste bäuerliche Kultur der Linienbandkeramik (5500–4500 v. Chr.), gefolgt von der Stichbandkeramik (4900–4500 v. Chr.), der Ertebølle-Ellerbeck-Kultur (5000–4300 v. Chr.), der Rössener Kultur (4600–4300 v. Chr.), der MichelsbergerKultur (4300–3500 v. Chr.), der Trichterbecher-Kultur (4300–2700 v. Chr.), der Kugelamphoren-Kultur (3100–2700 v. Chr.), der Schnurkeramik (2800–2400 v. Chr.), und schließlich der endneolithischen Glockenbecherkultur (2500–2200 v. Chr.; siehe Kupferzeit). Charakteristisch für das europäische Neolithikum sind Bestattungen in Seitenlage mit angewinkelten Beinen (Hockbestattung, Schläferstellung). bezeichnet das späte Neolithikum zwischen 3500 und 2200 v. Chr.
2.3
Prähistorische Anthropologie
Bronzezeit:
Eisenzeit:
Römerzeit:
Frühmittelalter:
Mittelalter:
Neuzeit:
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2200–800 v. Chr. Bronze, eine Legierung aus Kupfer und Zinn, wurde zum Werkstoff für zahlreiche Werkzeuge, Waffen, Geräte und auch Schmuckstücke. Anthropologisch-kulturgeschichtlich kann die Bronzezeit weiter unterteilt werden in die früheBronzezeit (2300–1600 v. Chr., „Hockergräberkultur“ aufgrund der Bestattung der Toten in Seitenlage mit angewinkelten Extremitäten), die mittlereBronzezeit (1600– 1250 v. Chr.; „Hügelgräberkultur“ aufgrund der Beisetzung von Leichnamen ohne oder nach Leichenverbrennung unter Grabhügeln), und die späte Bronzezeit (1250–800 v. Chr.; „Urnenfelderkultur“ aufgrund der Leichenverbrennung als vorherrschende bis ausschließliche Bestattungsform). 800–15 v. Chr. Im metallverarbeitenden Handwerk wird der Rohstoff Bronze durch Eisen ersetzt, welches aus Erzen gewonnen wird und im Gegensatz zur Bronze geschmiedet statt gegossen wird. Es wird unterschieden zwischen der älterenEisenzeit (800–400 v. Chr., „Hallstattzeit“, benannt nach einem Gräberfeld bei Hallstatt, Nähe Salzburg) und der jüngeren Eisenzeit (400–15 v. Chr.; „Latènezeit“, benannt nach dem Ort La Tène am Neuenburger See). 15 v. Chr.–400 n. Chr. Große Teile Europas gerieten unter römischen Einfluss und gehörten z. T. zum ImperiumRomanum. Leichenverbrennung ist die häufige Bestattungssitte, welche gegen Ende der Römerzeit wieder von Körperbestattungen abgelöst wird. 400–800 n. Chr.; bezeichnet im Wesentlichen die Zeitspanne von der Spätantike bis zum Ende der Regierungszeit Karls des Großen. In seinen früheren Phasen ist das Frühmittelalter im Wesentlichen identisch mit der Völkerwanderungszeit. Charakteristisch für das frühe Mittelalter ist die Bestattung in Reihengräberfeldern. 800–1500 n. Chr. Im Verlaufe des Mittelalters kam es zur Gründung erster Städte, d. h. die bislang fast ausschließlich ländliche Bevölkerung wandelte sich zur urbanen Gesellschaft mit Ausprägung überregionaler Handelsbeziehungen. Zeitspanne vom 16. Jahrhundert an bis heute. Nach der Renaissance kam es zur Industrialisierung durch Einführung neuer Technologien in Handwerk und Gewerbe.
* Die Zeitangaben sind Richtwerte, welche regional variieren können. Gelegentlich wird von der prähistorischen Anthropologie eine historische Anthropologie unterschieden, welche sich auf die Erforschung menschlicher Populationen jüngerer Zeithorizonte konzentriert. Ergebnisse biologisch-anthropologischer Forschung stehen aufgrund der Speziität ihres Substrates niemals isoliert, sondern una-
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2
Evolution des Menschen
bweisbar stets im interdisziplinären Kontext mit den Kulturwissenschaften. Während für die Ur- und Frühgeschichte in der Regel Skelettfunde und Relikte der damaligen Sachkultur ergraben werden und sich die Diskussion daher im Wesentlichen auf die Fachrichtungen Anthropologie und Archäologie beschränkt, stehen für jüngere Zeiträume zunehmend auch literarische und ikonograische Quellen zur Verfügung. Eine Unterscheidung zwischen prähistorischer und historischer Anthropologie ist daher inhaltlich erst auf der Interpretationsebene der Befunde relevant (und dort auch unerlässlich), sie betrifft nicht die Arbeitsweise des Anthropologen auf der Ebene der Befunderhebung. Menschen können ohne ihre Kultur nicht verstanden werden. Somit ist das Fach Anthropologie von sich aus interdisziplinär ausgerichtet. Moderne anthropologische Sammlungen sind überwiegend Sammlungen von Skelettfunden, da die sachgerechte Konservierung und Unterbringung von Mumien und Moorleichen spezieller Voraussetzungen bedarf. Die Geschichte der Rekrutierung osteologischen20 Materiales für naturkundliche und später naturwissenschaftliche Sammlungen geht Hand in Hand mit der Veränderung inhaltlicher Schwerpunkte dieses Teilgebietes der Anthropologie. Das Studium der menschlichen Anatomie führte gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu der Annahme, dass die beobachtete Variabilität eine Schlüsselstellung in der Diskussion um die Ursprünge und die Bedeutung biologischer und kultureller Unterschiede des Menschen einnehmen könne. Nicht zuletzt unter starkem Einfluss der Phrenologie21 wurden daher im 19. Jahrhundert osteologische Sammlungen zusammengetragen, welche überwiegend bis ausschließlich aus Schädeln bestanden. Zu den bekanntesten deutschen Sammlungen gehören die Blumenbach-Sammlung in Göttingen, die Rudolf-Virchow-Sammlung in Berlin und die Alexander-Ecker-Sammlung in Freiburg. Die anthropologische Forschung des 19. Jahrhunderts war typologisch ausgerichtet und hatte die Klassifizierung der Menschen in Kategorien aufgrund ihrer Schädelmorphologie zum Ziel. Diese typologische und kraniometrisch22 orientierte Vorgehensweise hatte letztlich Kontinuität bis in das 20. Jahrhundert und blieb zunächst auch relativ unbeeinflusst von Darwins Evolutionstheorie. Es steht außer Zweifel, dass in dieser Zeit zahlloses menschliches Skelettmaterial in einer Art und Weise zusammengetragen wurde, welche mit den heutigen selbstverständlichen ethischen Grundsätzen in keiner Weise kompatibel ist. Dies gilt insbesondere für außereuropäische Funde. Der Wunsch nach deren Repatriierung ist daher mehr als verständlich und zum Teil auch seit Jahren in Gesetzeswerken verankert (am bekanntesten ist wohl das „NativeAmerican GravesProtectionandRepatriationAct“ NAGPRA, welches im Jahre 1990 vom US-amerikanischen Kongress verabschiedet wurde). Die Umsetzung ist jedoch häufig deshalb schwierig, weil der Nachweis einer direkten Nachkommenschaft heute lebender Personen nur noch schwer zu führen ist. Fraglos bedarf der Umgang mit archäologischen menschlichen Skelettfunden hoher ethischer Prinzipien, welche für jeden konkreten Fall einer sachlichen und sensiblen Diskussion bedürfen (Walker Osteologie = die Lehre von den Knochen. Phrenologie = von dem Wiener Arzt Franz Joseph Gall (1758–1828) begründete Pseudo-Wissenschaft, der zufolge aus der Form des Schädels auf geistige und seelische Veranlagungen zu schließen sei. 22 Kraniometrie = Vermessung des Schädels. 20 21
2.3
Prähistorische Anthropologie
79
2004; Buikstra 2006). In der Bundesrepublik Deutschland wurde die „Konvention von La Valetta“ ( European Convention on the Protection of the Archaeological Heritage,CouncilofEurope,EuropeanTreatySeriesNo.143) im Jahre 2002 zum Bundesgesetz. Menschliche Skelettfunde zählen hiernach zu den „beweglichen Bodendenkmälern“ und sind entsprechend schützenswert (Grupe et al. 2004). Ein weiterer Schwerpunkt anthropologischer Sammlungstätigkeit entsprang dem klinisch-anatomischen Interesse an pathologischen Veränderungen des Skelettes. Somit setzt sich das osteologische Material, welches zu Beginn des 20. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende herum zusammengetragen wurde, vornehmlich aus Schädeln und pathologisch veränderten Skelettelementen zusammen (Walker 2000). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde damit begonnen, individuelle Skelette mit bekannten biologischen Basisdaten wie Sterbealter und Geschlecht im Kontext mit solchen genetischen oder umweltbedingten Faktoren zu sehen, welche einen Einfluss auf die Gesundheit und die morphologische Variabilität haben. Der typologische Ansatz wurde durch Studien zur Variabilität und deren Ursachen abgelöst, wobei noch immer die Metrik und die statistische Verarbeitung metrischer Daten methodisch ganz im Vordergrund standen. In Bezug auf die Fragestellungen vollzog sich jedoch jetzt der Wandel von der Fallstudie zum Populationskonzept (s. Box 2.8). Box 2.8: Typologie- versus Populationskonzept
Das Typologiekonzept (syn. Essentialismus) beruht auf der Annahme, dass die beobachtbare Variabilität der belebten Welt (hier: der Menschen) letztlich aus einer endlichen Zahl von Typen besteht, welche unveränderlich und voneinander scharf zu trennen sind. Dieses prä-Darwinsche Konzept führte u. a. zur Einteilung von Menschen in „Rassen“ (s. Kap. 3.2). Im Populationskonzept sind die individuellen Mitglieder einer Population voneinander verschieden, so dass die Charakterisierung einer Bevölkerung auf statistischen Mittelwerten und deren Streuung beruht, welche somit eine Abstraktion darstellen. Populationen sind im Gegensatz zu Typen nicht statisch, sondern über die Zeit variabel. „Populationsdenken und Populationen sind keine Gesetze, sondern Konzepte. Es ist einer der fundamentalsten Unterschiede zwischen der Biologie und den so genannten exakten Naturwissenschaften, dass Theorien in der Biologie auf Konzepten beruhen, während sie in den physikalischen Wissenschaften auf Naturgesetzen fußen.“ (Mayr 2002). Moderne anthropologische Sammlungen konservieren und betreuen die noch vorhandenen Sammlungsbestände des 19. Jahrhunderts, beherbergen darüber hinaus aber überwiegend die Skelettfunde von archäologischen Ausgrabungen, welche gut dokumentiert und in den Kontext des jeweiligen Zeithorizontes eingebettet sind. Ungeachtet der tatsächlichen Anzahl ergrabener Skelette pro Fundort liegen somit Bevölkerungen oder zumindest deren Ausschnitte aus den verschiedenen Zeitstufen, ökologischen und soziokulturellen Umfeldern vor, welche, erleichtert durch technologische, methodische und vor allem auch theoretische Fortschritte, wiederum eine
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2
Evolution des Menschen
7 Trendwende in der prähistorischen Anthropologie begünstigt haben. Es wurde der Schritt von der Deskription zur Verhaltensebene vollzogen. Die Entschlüsselung von Aktivitätsmustern, von physiologischem Stress, Ernährung, Fortpflanzung und genetischen Beziehungen liefert einen massgeblichen Beitrag zur Alltagsgeschichtsforschung. Sie ist damit geeignet, Problemlösungen von Menschen auf der Populationsebene gegenüber den zahlreichen Herausforderungen und Einschränkungen, welche durch die naturräumliche und soziale Umwelt im Alltagsleben auftreten, zu erforschen
(Walker 2000). Es ist insbesondere dem Einsatz neuer Technologien zu verdanken, dass Skelettfunde heute bis hin zur molekularen und submolekularen Ebene untersucht werden können, um die relevante Information zur individuellen und kollektiven Lebensgeschichte, welche in Form dieser biologischen Merkmale im Gewebe niedergelegt wurden, zu erschließen. Selbstverständlich wird sich der in der prähistorischen Anthropologie tätige Wissenschaftler nicht auf den rein osteologischen Aspekt seiner Untersuchungen beschränken, sondern die Funde im Zusammenhang mit den für die in Frage kommende Epoche zusammengetragenen kulturwissenschaftlichen Befunden in Beziehung setzen. Nicht zuletzt muss erwähnt werden, dass moderne anthropologische Sammlungen in zunehmendem Maße von Wissenschaftlern aus der Medizin einschließlich der Zahnmedizin nachgefragt werden. Da archäologische Skelettfunde eines bestimmten Gräberfeldes im Gegensatz zu modernem Sektionsmaterial Populationen repräsentieren, welche zumeist sehr viel homogener sowohl in genetischer Hinsicht als auch in Bezug auf ihr Umwelterleben waren, dienen sie als Forschungssubstrat für zahlreiche anatomische, physiologische und kieferorthopädische Fragestellungen (Larsen 1997). In diesem Aspekt liegt ein weiterer wichtiger Gegenwartsbezug prähistorisch-anthropologischen Untersuchungsgutes.
2.3.2
Aufbau und Entwicklung des menschlichen Skelettes, Erhaltungsgrad archäologischer Skelettfunde
Knochen und Zähne bestehen – in abnehmender quantitativer Reihenfolge – aus Mineral, Kollagen, Wasser, nicht-kollagenen Proteinen, Fetten, vaskulären Elementen, und Zellen (Boskey 1999). Typisch für ein solches biomineralisiertes Gewebe ist die Formierung einer organischen Matrix, welche gleichermaßen als Nukleationsort dient und formgebend für die Einlagerung des Minerales ist. Das fertige Komposit-Material vereinigt dann die Eigenschaften seiner wesentlichen Baustoffe: das feste Material schützt die organische Matrix davor, unter physikalischer Belastung nachzugeweben und verformt zu werden, wohingegen die organische Matrix als elastisches Element das Mineral vor der Rissbildung bewahrt (Ehrlich et al. 2008). • Die mineralische Komponente des menschlichen Skelettes einschließlich der Zähne besteht im Wesentlichen aus einem dem geologischen Hydroxylapatit [Ca10(PO4)6(OH)2] analogen Calcium-Phosphat und wird aufgrund seiner von dieser idealen Kristallkonfiguration abweichenden Struktur besser als Bioapatit bezeichnet. Diese mineralische Komponente dient der Druckfestigkeit des Gewebes.
2.3
Prähistorische Anthropologie
81
Gegenüber dem idealen Hydroxylapatit hat das Knochenmineral vor allem Defizienzen in Bezug auf Calcium und Hydroxylionen (Pasteris et al. 2004), und ist ferner durch zahlreiche Substitutionen, hauptsächlich durch Carbonate, gekennzeichnet. Unter diesen überwiegen die Typ-B-Carbonate, welche für die Phosphationen substituieren, gegenüber den Typ-A-Carbonaten, welche OH-Gruppen ersetzen (Boskey 1999; Peroos et al. 2006). Art und Menge dieser Substitutionen haben einen Einfluss auf die Löslichkeit des Knochenminerales. Während des Erwachsenenalters nimmt die Carbonatfraktion zu, die Phosphatfraktion hingegen ab, jedoch bleibt die Summe aus Carbonat- und Phosphationen im Knochenmineral stets konstant. Die reale Mineralfraktion des menschlichen Skelettes entspricht somit im Wesentlichen der Zusammensetzung Ca8.3(PO4)4.3(CO3)x(HPO4)y(OH)0.3, mit x + y = 1,7 (const.). Die Mineralkristalle besitzen eine hexagonale Symmetrie und eine durchschnittliche Größe von 5 × 5 × 40 nm (Martin et al. 1998). • Etwa 90 % der organischen Grundsubstanz des Knochens (Osteoid) besteht aus Kollagen I, einem tripelhelikalen, linksgewundenen Molekül mit zwei identischen α1(I)- und einer α2(I)-Kette (von der Mark 1999). Kollagen kommt in allen Bindegeweben vor, welche Dehnungskräften ausgesetzt sind, und dient im Knochen somit dessen Elastizität. Als Strukturprotein handelt es sich um ein konservatives Molekül, wobei das Divergieren der Ketten in α1(I) und α2(I) vermutlich bereits zum Zeitpunkt der Separation von Invertebraten und Vertebraten einsetzte. Alle drei Ketten besitzen eine zentrale Region von 1014 Aminosäuren, bestehend aus 338 Tripeptiden vom Typ Glycin-X-Y. Rund ein Drittel der Glycin-benachbarten Aminosäuren sind Prolin (am C-terminalen Ende), und Hydroxyprolin (am N-terminalen Ende). Das häufige Vorkommen hydroxylierten Prolins dient der Stabilisierung der Tripelhelix und ist typisch für Kollagen I, ebenso die Tatsache, dass ein Drittel aller Positionen mit der kleinsten Aminosäure (Glycin) besetzt wird, wodurch eine besonders enge Windung der Helices gewährleistet ist. Einzigartig für Knochenkollagen ist die Vernetzung einzelner Moleküle durch Pyridinolin-Querverbindungen (Manolagas 2000). Das eigentliche Kollagenmolekül hat eine Länge von ca. 300 nm und einen Durchmesser von 1,25 nm. Im Interstitium lagern sich die Tripelhelices, begünstigt durch die physikalischen Gewebsspannungen, in linear-paralleler Weise zu Fibrillen zusammen, welche mehrere Millimeter Länge und bis zu 500 nm Dicke erreichen können. Bei der Mineralisierung des Knochens orientieren sich die Apatit-Kristalle parallel der Fibrillenachse und stabilisieren damit die Periodizität der organischen Matrix (Lowenstam und Weiner 1989). Bei der Fibrillenbildung lagern sich die noch unreifen Kollagemoleküle (s. unten) „auf Lücke“ aneinander. Diese „hole regions“ sind wahrscheinlich die Nukleationsorte für die Mineralisation. Das Kollagengerüst des Knochens besteht jedoch nicht ausschließlich aus Kollagen I, sondern aus Heterofibrillen unter Einschluss von wenigen Prozent Kollagen V. Eingebettet in die mineralische Grundsubstanz und nicht-kollagene Proteine sind diese Heterofibrillen für die einzigartigen biomechanischen Eigenschaften des Knochens (Elastizität, Torsionsresistenz) verantwortlich (von der Mark 1999). • Etwa 10 % der Knochenproteine sind nicht-kollagene Proteine ( noncollagenous proteins, NCP), zu unterteilen in mineralgebundene und nicht-mineralgebundene Proteine. Letztere sind im Wesentlichen Serumproteine, die mineral-
2
82 Tab. 2.7 Prozentuale Zusammensetzung der mineralisierten Hartgewebe in Bezug auf die mineralische Komponente und Proteine. (Hillson und Antoine 2003)
Knochen Zahnschmelz Dentin Wurzelzement
Mineral 70 > 96 72 70
Evolution des Menschen
Kollagen 21 – 18 21
NCP 1 0,5 2 1
gebundenen NCPs wurden erst in jüngerer Zeit zunehmend identifiziert, und ihre Funktion ist noch nicht in allen Fällen aufgeklärt. Aufgrund ihrer Eigenschaften werden die mineralgebundenen NCPs in die drei Gruppen der sauren, z. T. phosphorylierten Glycoproteine, der Proteoglycane und gla( = γ-Carboxyglutamat)Proteine unterteilt. Während die gla-Proteine wahrscheinlich auf Vertebraten beschränkt sind, spricht die weite Verbreitung der ersten beiden Gruppen im Tierreich für die Vermutung einer basalen Funktion während der Mineralisierung von Geweben (Lowenstam und Weiner 1989). Das saure Glycoprotein Osteonectin bindet z. B. wie Osteocalcin an Calciumionen, Fibronectin hingegen bindet an Zellen und Kollagen. Dekorin spielt eine Rolle bei der Genese der Kollagenfibrillen; andere NCPs wie Sialoprotein oder Thrombospondin wirken als Anheftungsfaktoren, welche mit Integrinen23 interagieren (Manolagas 2000). Somit spielen zahlreiche NCPs eine wichtige Vermittlerrolle bei der strukturellen Organisation von Kollagen und Apatit (Lian und Stein 1999). Im reifen Skelettelement sind die Kollagenfibrillen vollständig von dem Apatit ummantelt, welcher aufgrund seiner geringen Löslichkeit letztlich dafür verantwortlich ist, dass auch organische Komponenten des Skelettes archäologisch relevante Zeitspannen im Erdreich überdauern und in Bezug auf ihren jeweiligen Informationsgehalt hin untersucht werden können (z. B. werden 14C-Datierungen in der Regel am Knochenkollagen vorgenommen; s. Kap. 2.3.5). Die prozentualen Anteile organischer und anorganischer Grundsubstanz sind in den vier wesentlichen Qualitäten mineralisierter Hartgewebe (Knochen, Zahnschmelz, Dentin, Wurzelzement) in deren reifem Zustand deutlich voneinander verschieden (Tab. 2.7). Typisch für Zahnschmelz ist z. B., dass die organische Matrix bei der Schmelzreifung zurückgedrängt und durch Mineral ersetzt wird, mit dem Ergebnis, dass reifer Zahnschmelz das am höchsten mineralisierte und damit auch härteste und dauerhafteste Gewebe des menschlichen Körpers ist.
2.3.2.1 Aufbau und Entwicklung von Knochen Knochengewebe ist mesenchymalen Ursprunges. Für seinen Aufbau, Erhalt, Abbau und seine Anpassung an aktuelle biomechanische Gegebenheiten sind vier Zelltypen verantwortlich: • Osteoblasten sind knochenbildende Zellen, welche überwiegend aus dem Stroma des Knochenmarkes entstehen. Sie haben eine Lebensdauer von etwa 3 Monaten (Manolagas 2000). Die Vorläufer der Osteoblasten sind zumeist pluripotente Stammzellen, aus denen z. B. auch Muskelzellen und Fettzellen hervorgehen 23
Integrine = Adhäsonsrezeptoren, Glykoproteine der Zellmembran.
2.3
Prähistorische Anthropologie
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Abb. 2.18 a Schema der mikrostrukturellen Organisation eines kompakten Knochens. (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz); b Histologischer Querschnitt der Oberschenkelkompakta einer frühmittelalterlichen Bestattung. Die Osteone und auch die Osteozytenspalten sind aufgrund des guten Konservierungsgrades sehr gut differenzierbar. Aufnahme im Differentialinterferenzkontrast. (Foto und Bildrechte: S. Doppler)
können. Unter bestimmten Bedingungen können Stromazellen von osteblastischen zu adipozytischen Zellen konvertieren, wobei der knochenspeziische Transkriptionsfaktor Cbfa1 für die Beibehaltung des Osteoblasten-Phänotyps unerlässlich ist (Manolagas 2000; Chen et al. 2010). Aber auch Perizyten, d. h. Mesenchymzellen, welche mit dem Endothel von Blutgefäßen assoziiert sind, können sich zu Osteoblasten differenzieren. Eine ganz wesentliche Rolle bei der Osteoblastenbildung spielen die „bone morphogenetic proteins“ (BMPs), welche die Transkription jener Gene stimulieren, welche für Cbfa1 kodieren. Cbfa1 aktiviert dann seinerseits Osteoblast-speziische Gene, welche z. B. für Kollagen I und eine Reihe nicht-kollagener Proteine kodieren (Manolagas 2000). Die eminent wichtige Rolle von Cbfa1 zeigt sich in transgenen Mäusen, denen dieser Transkriptionsfaktor fehlt: Diese Tiere bilden lediglich ein Knorpelskelett aus, welches aufgrund der verhinderten Differenzierung von Osteoblasten niemals verknöchert. Da die Differenzierung von knochenabbauenden Zellen (Osteoclasten, s. unten) an die Präsenz von Osteoblasten gebunden ist, wird dieser Zelltyp in Cbfa1-deizienten Mäusen gar nicht erst gebildet (Ducy et al. 2000). Die charakteristische Zellleistung der Osteoblasten ist die Produktion von Osteoid, der organischen Knochenmatrix, mit einer Syntheserate von circa 1 µm/Tag (Martin et al. 1998; Ducy et al. 2000). Sie synthetisieren Tropo-Kollagen, eine Vorstufe des Kollagen I, welches nach Hydroxylierung der Aminosäureketten in das Interstitium abgegeben wird, wo seine Reifung zum Kollagen und die Fibrillenbildung erfolgt. Durch Produktion von alkalischer Phosphatase, welche auf der externen Oberfläche der Plasmamembran verankert ist, wird der geeignete pH-Wert für die nachfolgende Mineralisation eingestellt (Manolagas 2000). Die Synthese zahlreicher NCPs ist ebenfalls eine Leistung der Osteoblasten, ebenso wie die Produktion von Matrixvesikeln zur Akkumulation von Calcium und Phosphat und deren gezielte Abgabe an den Ort der Mineralisation (Lowenstam und Weiner 1989).
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Evolution des Menschen
• Osteoblasten hüllen sich durch die Osteoidbildung und deren nachfolgende Mineralisierung somit selbst ein, was zu deren morphologischer Differenzierung in Osteozyten, die Zellen des reifen Knochens, führt. Sie liegen in Hohlräumen (Lakunen) der mineralisierten Matrix und kommunizieren miteinander über lange Zellprozesse, welche in Tunneln (Canaliculi) verlaufen (Abb. 2.18a, b). Pro mm3 Knochen können bis zu 15.000 Lakunen gezählt werden, die aufgrund ihrer geringen Größe aber lediglich etwa 1 % des Knochenvolumens ausmachen. Das Netzwerk der Canaliculi bildet dabei die enorme Oberfläche von rund 1200 m2 beim erwachsenen Mann (Martin et al. 1998). Osteozyten halten den Knochenstoffwechsel aufrecht und stehen im Dienst der Reizleitung für mechanische Reize, vermutlich über Änderungen der Strömungssituationen in den Canaliculi (s. unten). • Etwa 90 % der Osteoblasten werden jedoch nicht durch das Knochenmineral eingeschlossen wie die späteren Osteozyten, sondern verbleiben als bone lining cells (BLC) auf der Oberfläche neu synthetisierten Knochens liegen. Sie kommunizieren mit den Osteozyten und vermutlich auch mit den knochenabbauenden Osteoclasten (s. unten). Ruhender, nicht im Umbau befindlicher Knochen ist von einer 1–2 µm dicken Schicht unmineralisierter Kollagenmatrix bedeckt, an welche die Osteoclasten nicht andocken können. Es wird vermutet, dass die BLCs Kollagenase sezernieren, um diese Schicht zu entfernen und damit den Knochenumbau zu initiieren (Manolagas 2000). Die boneliningcells stellen somit eine Reservepopulation von Zellen dar, welche im Falle raschen Bedarfes die Sezernierung von Osteoid wieder aufnehmen können. • Im Gegensatz zu den vorgenannten Zelltypen entstammen die Osteoclasten, knochenresorbierende Zellen, einer Makrophagen-Monozyten-Zelllinie des hämatopoietischen Anteiles des Knochenmarkes (Martin et al. 1998; Lian und Stein 1999; Teitelbaum 2000; Suda et al. 2001). Eine große Gruppe von Cytokinen24, welche in die Hämatopoiese involviert sind, stimulieren daher auch die Differenzierung von Osteoclasten, insbesondere Interleukin-6 (Manolagas 2000). Die in-vitro-Kultur von Osteoclasten war jahrelang fehlgeschlagen, bis man merkte, dass die Präsenz von Osteoblastenzellen für die Differenzierung der Osteoclasten unerlässlich ist. Wahrscheinlich ist die beginnende Differenzierung von Osteoblasten sogar erst die Voraussetzung für die Genese der Osteoclasten (Abe et al. 2000). So ist es nicht verwunderlich, dass zahlreiche Faktoren wie einige Interleukine und BMPs, aber auch Hormone, welche für die CalciumHomöostase verantwortlich sind (Parathormon, Vitamin D3), sowohl auf Osteoblasten als auch auf Osteoclasten wirken. Diese mehrkernigen Riesenzellen entstehen durch Fusion von mononukleären Vorläuferzellen, haben eine Lebensdauer von etwa 2 Wochen (Manolagas 2000) und produzieren das Enzym Carboanhydrase, welches die unmittelbare Umgebung eines Osteoclasten bis auf einen pH von 4,5 ansäuern kann. Beim Knochenabbau wird zunächst das Mineral, dann die organische Grundsubstanz entfernt, und zwar mit einer Rate von mehreren 10 bis zu 100 µm pro Tag. Da ein Osteoclast somit pro Tag potentiell ebenso viel Knochenmasse abbauen kann wie 100 Osteoblasten synthetisiert haCytokine = kurzlebige Polypeptide, welche die Funktion von Immunzellen durch Beeinflussung von RNA-, DNA- und Proteinsynthese beeinflussen.
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ben, repräsentieren sie einen recht aggressiven Zelltypus, dessen Evolution plausibel auf die Notwendigkeit zurückzuführen sein dürfte, dass bei Bedarf Mengen- und Spurenelemente des Knochenminerales (Calcium, Magnesium, Zink u. a.) rasch für den Organismus verfügbar gemacht werden müssen. Im Alter ist das Verhältnis von Knochenanbau zu -abbau noch stärker zugunsten der Osteoclastenaktivität verschoben und kann somit rasch zu klinisch relevanter Osteoporose führen (Teitelbaum 2000). Sobald ein Osteoclast sich an die zu resorbierende Knochenoberfläche angeheftet hat, bildet die Zelle an der Kontaktzone sowohl eine gefaltete Membran aus („ruffled membrane“), als auch eine sogenannte „sealingzone“, eine ringförmige, filamentreiche Struktur, welche die Membran umgibt. Auf diese Weise bildet der Osteoclast eine abgeschlossene extrazelluläre Mikroumwelt zwischen sich und der Resorptionsfläche aus. Die Ansäuerung geschieht durch Sezernierung von HCl, wobei durch Protonentransport der intrazelluläre pH gleich bleibt (Teitelbaum 2000). Das angesäuerte Milieu hydrolysiert zunächst das Knochenmineral, woraufhin die organischen Knochenbestandteile im Wesentlichen durch eine lysosomale Protease, das Kathepsin K, degradiert werden (Downey und Siegel 2006). Die Degradationsprodukte werden dann von den Osteoclasten durch Endocytose abtransportiert. Moleküle, welche in die Erkennung einer Knochenoberfläche durch Osteoclasten involviert sind, werden heute intensiv im Rahmen der Osteoporoseprävention erforscht (Teitelaum 2000). Als stoffwechselintensives Gewebe mit der Fähigkeit, sich im Zusammenspiel von Knochenaufbau und -abbau wechselnden mechanischen Gegebenheiten flexibel anzupassen, unterliegt auch reifer Knochen einem steten Umbau ( boneremodeling, s. unten), wodurch pro Jahr etwa 4–5 % des kompakten, und bis zu 25 % des spongiösen Knochengewebes (s. unten) ausgetauscht und erneuert werden (Delling und Vogel 1992; Martin et al. 1998). Zu welchem Anteil die lebenslange Umbauaktivität jedoch deterministisch bzw. stochastisch initiiert wird, ist noch nicht geklärt. Der programmierte Zelltod (Apoptose) von Osteoblasten und Osteoclasten, welcher zu einem Überwiegen des Auf- bzw. Abbaues führt, hat sich in jüngerer Zeit als klinisch hoch relevant herausgestellt. Während Östrogene die Apoptose der Osteoclasten stimulieren (und gleichzeitig die Apoptose von Osteoblasten und Osteozyten hemmen, Khosla 2010) und somit eine wichtige Rolle bei der Genese der postmenopausalen Osteoporose spielen, wird die Apoptose von Osteoblasten durch einen Überschuss von Glucocorticoiden motiviert und führt zur glucocorticoidinduzierten Osteoporose (Dempster 1999). Mesenchymzellen sind zur Bildung sogenannter Matrixvesikel (s. oben) fähig, rundlicher oder ovoider Strukturen von 0,1–0,2 µm Durchmesser, umgeben von einer Doppelmembran. Die Entdeckung dieser Matrixvesikel hat den Prozeß der de novo-Mineralisierung von Bindegeweben maßgeblich aufgeklärt, da gezeigt werden konnte, dass sie in der Lage sind, Calcium- und Phosphationen in einem solchen Maße zu kondensieren, dass sie als Calciumphosphat präzipitieren. Die Mineralisierung beginnt somit innerhalb dieser Vesikel, nachdem sie von den Mutterzellen in das Interstitium abgegeben wurden. Kristallwachstum führt zur Zerstörung der Vesikel, und diese freigewordenen Kristalle dienen ihrerseits als Nukleationsort für die weitere Proliferation von Mineral (epitaktische Nukleation). In Abhängigkeit von der Bindegewebsqualität, in welcher die Mineralisierung beginnt, werden unterschieden:
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• desmale Ossifikation (Verknöcherung membranösen Bindegewebes, „Deckknochen“) • peri- und enchondrale Ossifikation (Verknöcherung von Knorpelstrukturen, „Ersatzknochen“) (Scheuer und Black 2000). Obgleich man dem reifen Knochen seine Genese nicht mehr ansieht, reicht die Diskussion um die Kausalität dieser zwei Ossifikationswege bis zurück in das 19. Jahrhundert. Im menschlichen Skelett entstehen die platten Knochen des Schädeldaches, die flachen Gesichtsknochen, der Unterkiefer und die Schlüsselbeine auf desmalem Wege (vgl. Abb. 2.19). Es wurde daher vorgeschlagen, dass die rascher – da ohne Bildung einer knorpeligen Vorstufe – verlaufende desmale Ossifikation solche Skelettelemente betreffe, welche bereits vom Embryo dringend zum Schutz wichtiger Organe benötigt werden, etwa die Knochen der Schädelkapsel. Mehrheitlich werden jedoch Knochen, welche auf desmalem Wege mineralisieren, als Relikte des Exoskelettes der frühesten Wirbeltiere angesehen. Der Theorie der kausalen Histogenese (Kummer 1963) folgend, ist die desmale Ossifikation letztlich die biomechanische Antwort auf Zugspannungen in elastischen Membranen, die enchondrale Ossifikation dagegen Antwort auf Druck- und Biegebelastungen, denen ein knorpeliges Skelettelement nicht hinreichend standhalten kann. Aufgrund erst in den letzten Jahren nachgewiesener Unterschiede in der Matrix von enchondralem und desmalem Knochen (Scott und Hightower 1991) ist diese – bislang noch nicht abgeschlossene – Diskussion wieder aufgegriffen worden, da ein massives klinisches Interesse z. B. im Bereich der plastischen, rekonstruktiven Chirurgie besteht (Scheuer und Black 2000). Zweifellos ist die desmale Ossifikation der ursprünglichere Mineralisierungsweg, und auch derjenige, welcher im menschlichen Skelett als erster beschritten wird (im späteren Schlüsselbein werden bereits in der 6. Embryonalwoche Vorläuferzellen von Osteoblasten nachgewiesen; Scheuer und Black 2000). Der Ersatz eines knorpelig präformierten Skelettelementes durch Knochengewebe folgt stets derselben Sequenz: Die Knorpelzellen (Chondrozyten) proliferieren und reifen, um später zu hypertrophieren und abzusterben, woraufhin eine Vaskularisierung des Gewebes erfolgt und Osteoblasten mit der Sezernierung nachfolgend mineralisierenden Osteoides beginnen. Im Falle der langen Röhrenknochen beginnt die Ossifikation durch Tätigkeit von Osteoblasten, welche die Kapillaren des die Knorpelstruktur umgebenden arteriellen Gefäßnetzes umschließen, so dass zunächst eine perichondrale Knochenmanschette gebildet wird (Abb. 2.20). Es wird diskutiert, dass diese Knochenmanschette die für die Ernährung des nicht-vaskularisierten Knorpels erforderliche Diffusion behindert und damit einen Eigenbeitrag zur Hypertrophie der Knorpelzellen liefert (Scheuer und Black 2000). Diese perichondrale Ossifikation ist somit der eigentlichen enchondralen Ossifikation vorgeschaltet und dürfte auch in evolutiver Hinsicht der ältere Ossifikationsweg sein. Die Präzipitation der perichondralen Knochenmanschette beginnt etwa zum selben Zeitraum, in dem der Embryo erste Muskelkontraktionen durchführt. Zwar scheint der Beginn der perichondralen Ossifikation selbst weniger von mechanischen Stimuli abhängig zu sein, sie wird aber von diesen offenbar gefördert. Zunehmende Muskelkontraktion induziert Biegemomente in der Schaftregion
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Abb. 2.19 Menschliches Skelett mit anatomischer Bezeichnung der wesentlichen Elemente. (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz)
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Abb. 2.20 Bildung der perichondralen Knochenmanschette. (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz)
der präformierten Knochen und steht entsprechend im Zusammenhang mit der echten enchondralen Ossifikation (Carter und Beaupré 2001). Diese beginnt im Kern der Knorpelanlage, nachdem Blutgefäße durch die periphere Knochenmanschette hindurch sprossen und somit eine Invasion des Knorpelkernes mit Osteoblasten erlauben. In der Regel bleibt eines dieser periostalen Gefäße erhalten und wird zur dominanten Arterie für die Blutversorgung des Knochens (Scheuer und Black 2000). Ihre Eintrittsstelle in das Knocheninnere ist makroskopisch in Form eines Nutritionalkanales (Foramen nutritium) sichtbar, der mehrere Millimeter Durchmesser aufweisen kann. Unabhängig vom Ossifikationsweg wird zunächst ein ursprünglicher Geflechtknochen gebildet – eine wenig organisierte Gewebsqualität mit großen physiologischen Hohlräumen für das Blutgefäßsystem, welche typisch für alle embryonalen Knochen ist. Im Zuge der Knochenreifung werden konzentrische Lamellen um die vorhandenen Blutgefäße herum präzipitiert, bis ein primäres Osteon entstanden ist – die charakteristische mikrostrukturelle Einheit des Knochens, mit dem leicht azentrisch gelegenen Havers-Kanal, welcher Blutgefäße und Nerven enthält (Abb. 2.18a, b). Weiterer Umbau führt zu reifem Lamellenknochen, einer wohlgeordneten Gewebequalität, welche aus longitudinal orientierten, zylindrischen sekundären Havers-Systemen besteht, welche mehrere Millimeter lang werden können und aus konzentrischen Lamellenschichten bestehen, in denen die Orientierung der Kollagenfibrillen von Schicht zu Schicht alterniert (Abb. 2.18a, b). Diese
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Abb. 2.21 Aufbau und Verteilung von Kompakta und Spongiosa in einem langen Röhrenknochen (hier: Unterschenkel). Diaphyse: Schaft; Epiphyse: Gelenkende; Epiphysenfuge: während des Wachstums knorpelige Region, in welcher das Längenwachstum erfolgt (vgl. Text); Metaphyse: Übergangsbereich zwischen Epiund Diaphyse. (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz)
Anordnung verleiht dem Knochen sein anisotropes25 Verhalten. Im Gegensatz zu primären Osteonen sind sekundäre Osteone von einer Zementlinie (nicht zu verwechseln mit Zahnwurzelzement, s. unten) umgeben, welche im Falle von Strukturermüdung verhindert, dass Fissuren oder andere Mikrotraumata von einem Osteon auf das benachbarte weitergeleitet werden. Reife menschliche Osteone bestehen aus fünf bis zwanzig konzentrischen Schichten von 4–10 µm Dicke. Die Havers-Kanäle haben einen typischen Durchmesser von 50 µm und sind untereinander durch Volkmann-Kanäle verbunden, perforierende Gefäße, welche nicht einzelnen Osteonen zugeordnet sind (Abb. 2.18; Rohen und Lütjen-Drecoll 2000; Martin et al. 1998). An solchen Regionen des Skelettes, welche mechanischen Belastungen aus sich häufig ändernden Richtungen ausgesetzt sind, bildet sich ein bis zu mehrere Millimeter dicker kompakter Knochen (Kompakta) aus, wie z. B. an den Schäften (Diaphysen) langer Röhrenknochen (Abb. 2.21). Kompakter Knochen weist in der Regel eine hohe Biegebelastbarkeit auf (Rohen und Lütjen-Drecoll 2001). Kleine, kuboide Knochen (z. B. Hand- und Fußwurzelknochen) oder platte Knochen (Rippen) besitzen nur eine dünne kompakte äußere Schicht (Kortikalis). Um das Gleiten der Skelettelemente im Gelenkspalt zu ermöglichen, sind die Gelenkenden der Knochen mit einer Knorpelschicht bedeckt, welche jedoch weniger druckresistent ist als das knöcherne Gewebe. In der Folge sind die Gelenkenden verdickt, um die Anisotropie = Eigenschaft von Kristallen, nach verschiedenen Raumrichtungen unterschiedliche physikalische Eigenschaften zu zeigen.
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für die Druckaufnahme notwendige größere Fläche bereitzustellen, und der unterhalb der Kortikalis befindliche Knochen ist typisch in schwammartig strukturierte Bälkchen ausgemagert (Spongiosa). Die Bündel der Spongiosabälkchen (Trabekel) verlaufen nicht regellos, sondern sind entlang der Hauptspannungsrichtungen (Trajektorien) orientiert, in welchen Druck- und Zugkräfte auf das Skelettelement wirken (trajektorieller Knochenbau; Rohen und Lütjen-Drecoll 2001). Die Spongiosatrabekel sind abgeplattete Strukturen von ca. 200 µm Dicke und bilden ein hochporöses Netzwerk mit einer Porosität von 75–95 % (gegenüber der Porosität der Kortikalis von lediglich 5–10 %; Martin et al. 1998). Durch die Ausbildung solcher Netzwerke kann im Skelett erhebliche Masse eingespart werden, ohne die Stützfunktion zu beeinträchtigen. Masse und Struktur von Knochen werden durch ein komplexes Zusammenspiel von mechanischen Faktoren (da das Skelett als Stützorgan physikalischen Kräften standhalten muss) und zahlreichen endokrinen Prozessen (da das Skelett eine wesentliche Funktion als Speicherorgan im Mineralhaushalt hat) bestimmt. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts war postuliert worden, dass der Knochen während seiner Genese funktionell durch diejenigen mechanischen Kräfte gestaltet wird, welche auf dieses Gewebe einwirken (Wolff’sches Gesetz, Wolff 1892). Die Theorie der kausalen Histogenese hat die Bildung von Knochengewebe als Antwort auf physikalische Druck- und Zugspannungen erklärt (s. oben). Frost (1987) postulierte weiterführend, dass Knochenmasse und -struktur durch lokale Reaktionen der Knochenzellen auf mechanische Belastung im Sinne eines Feedback-Mechanismus reagieren und bezeichnete dieses als „mechanostat“. Analog der Muskelmasse nimmt bei hoher physikalischer Beanspruchung die Knochenmasse zu (Aktivitätshypertrophie), bei zu geringer Belastung dagegen ab (Inaktivitätsatrophie). Hormone wie z. B. Östrogen (und andere, s. Abb. 3.7) regulieren die Knochenmasse in anderen Kontexten, wobei gezeigt werden konnte, dass der Östrogenrezeptor die zelluläre Antwort auf mechanische Belastung erheblich modifizieren kann (Lanyon et al. 2007). Ein sinkender Östrogenspiegel ist somit nicht nur deshalb für die postmenopausale Osteoporose verantwortlich, weil Östrogen den programmierten Zelltod der Osteoclasten stimuliert (s. oben), sondern weil immer weniger Knochenzellen auf den biomechanischen Stimulus reagieren können. Erst ein vertieftes Verständnis dieses komplexen, vielfach miteinander verwobenen Zusammenspieles wird daher zu einem soliden therapeutischen Erfolg bei der Osteoporosebehandlung und anderen, das Skelett betreffende Krankheitskomplexen führen (Lanyon et al. 2009). Knochen zählt zwar zu den zellarmen Geweben (s. Abb. 2.18), ist aber keineswegs inert und unterliegt einer stetigen, wenn auch langsamen und mehrjährigen Erneuerungsrate („bone remodeling“). Dieser Knochenumbau ist im histologischen Bild erkennbar und wird zur Sterbealtersbestimmung erwachsener Skelette genutzt (s. Kap. 2.3.3). Der Umbau beginnt stets mit einem Abbau vorhandenen Knochengewebes durch Osteoclasten, gefolgt von einer Neubildung durch Osteoblasten. Beide Zelltypen bilden eine temporäre funktionelle Einheit, die „basic multicellular unit“ (BMU), welche sowohl vaskularisiert als auch innerviert ist (Parfitt 1994). Im kompakten Knochen entsteht durch die Osteoclastenaktivität zunächst ein konischer Tunnel, welcher dann von außen nach innen mit neuen Knochenlamellen
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gefüllt wird, bis nur der Havers-Kanal als Hohlraum übrig bleibt. Bei den Knochentrabekeln der Spongiosa bewegt sich die BMU auf deren Oberfläche, die Osteoclasten hinterlassen einen Graben, welcher mit neu gebildetem Knochengewebe gefüllt wird. Im gesunden Erwachsenen werden pro Jahr 3 bis 4 Mio. BMUs gebildet, von denen zu jedem Zeitpunkt etwa 1 Mio. aktiv ist. Die Lebensdauer einer BMU ist mit 6 bis 9 Monaten deutlich länger als diejenige ihrer Zellen (s. oben), welche deshalb während der Aktivitätsphase der BMU ständig nachgeliefert werden müssen. Neue Osteoblasten wandern dabei erst ein, wenn die Resorption durch die Osteoclasten bereits begonnen hat ( coupling) (Manolagas 2000). Wie bereits beschrieben, wirken die reifen Knochenzellen, die Osteozyten, als Mechanosensoren. Bei mechanischer Belastung verändern sich nicht nur die Strömungsverhältnisse in den Canaliculi, sondern auch die hydrostatischen Drücke, welche sich in den Osteozytenlakunen und den Canaliculi aufbauen. Sich zyklisch verändernde hydrostatische Drücke, wie sie unter physiologischen Bedingungen (z. B. bei der Lokomotion) vorkommen, dürften einen wichtigen Stimulus für das remodeling eines Knoches darstellen. In jüngster Zeit konnte zumindest in vitro gezeigt werden, dass diese mechanischen Kräfte auch für die Differenzierung der Osteoprogenitorzellen erforderlich sind: Unter mechanischer Belastung wird Cbfa1 exprimiert, und die Differenzierung der Mesenchymzellen erfolgt in Richtung Osteoblast (Chen et al. 2010). Hiermit wird nicht nur die Theorie der kausalen Histogenese (s. oben) molekularbiologisch gestützt. Da mechanische Deformation von osteoblastischen Zellen sowohl die Expression als auch die DNA-Bindungsaktivität von Cbfa1 erhöht, konnte ein wichtiges molekulares Bindeglied zwischen dem Wirken physikalischer Kräfte und der Osteoblastendifferenzierung aufgeklärt werden (Ziros et al. 2002).
2.3.2.2 Aufbau und Entwicklung der Zähne Menschliche Zähne bestehen aus drei verschiedenen Hartgewebsqualitäten: • dem Zahnbein (Dentin), • dem Zahnschmelz (Enamelum), • und dem Wurzelzement (Abb. 2.22). Sowohl Zahnkrone als auch -wurzel sind zum größten Teil aus Dentin aufgebaut, welches im Bereich der Krone von einer Schmelzkappe überzogen ist, im Bereich der Wurzel von Zement. Diejenige Region, in welcher Schmelz und Zement aneinanderstoßen, wird als Zahnhals bezeichnet. Die Zahnwurzel umschließt die Pulpahöhle, welche Blutgefäße und Nerven enthält und im Übrigen von lockerem Bindegewebe gefüllt ist. Das Wurzelzement ist Teil des Zahnhalteapparates, welcher ferner aus dem knöchernen Zahnfach des Kiefers (Alveole), der Wurzelhaut (Desmodont) und dem Zahnfleisch (Gingiva) besteht. Die Bindegewebsfasern der Wurzelhaut verbinden das Wurzelzement mit der Alveole, so dass jeder Zahn elastisch in seinem Zahnfach verankert ist. Als Resultat werden die beim Kauen oder anderweitigem Zahngebrauch aufgebauten erheblichen Drücke in Form einer Zugbelastung auf den Kieferknochen übertragen. Zugspannungen sind dem Knochenerhalt förderlich, während hohe Druckbelastungen zu einem unerwünschten Knochenabbau (Druckatrophie) führen können.
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Abb. 2.22 Aufbau des menschlichen Zahnes und Zahnhalteapparates. (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz)
Sehr früh in der Embryonalentwicklung, bereits in der sechsten Woche nach der Befruchtung, beginnt die Entwicklung der ersten Zahnanlagen, welche in ein Leisten-, Knospen-, Kappen- und Glockenstadium unterteilt wird. Im Leistenstadium kommt es zu einer Verdickung des Mundhöhlenepithels, welches je Kieferhälfte eine bogenförmige Leiste bildet, die sich wiederum in je eine Vestibular- und eine Zahnleiste teilt (vestibuläre und dentale Lamina). Aus Letzterer sprossen etwa in der zehnten Woche pro Kieferhälfte je zehn Zahnknospen, aus denen die weitere Entwicklung der Milchzähne ihren Ausgang nimmt. Die entsprechenden Schmelzorgane für die Dauerzähne werden von der sechzehnten Woche an nach und nach entwickelt (Hillson 1996; Radlanski 1997) (Abb. 2.23). Durch Wachstum vornehmlich an den Rändern erhält die Zahnknospe eine konkave Form (Kappe), aus dessen innerem Epithel die zahnschmelzproduzierenden Zellen (Ameloblasten) hervorgehen werden. Durch weitere Ausprägung der Konkavität wird das Glockenstadium erreicht, in dessen Hohlraum Mesenchymzellen eingeschlossen werden, welche die Zahnpapille bilden. Deren äußere Zellen differenzieren sich zu Dentin bildenden Zellen (Odontoblasten), die in diesem frühen Stadium dem Schmelzepithel unmittelbar gegenüberliegen. Somit wird die Schmelz/ Dentingrenze sehr früh festgelegt. Im letzten Entwicklungsstadium bildet sich die Pulpa durch Einsprossen von Nerven und Blutgefäßen in die Papille. Die Mesenchymzellen außerhalb der Zahnanlage verdichten sich geflechtartig zum Zahnsäckchen (Follikel), aus welchem später das Zahnzement hervorgehen wird. Die Einheit aus Follikel, Schmelzorgan und Papille wird als Zahnkeim bezeichnet (Radlanski 1997; Schroeder 1997; Scheuer und Black 2000; Rohen und Lütjen-Drecoll 2000). • Die ektodermalen Ameloblasten sezernieren zunächst eine Schmelzmatrix. Apatitkristalle werden in die Matrix hinein abgegeben, wo sie später zu ihrer vollen Größe auswachsen werden. Charakteristisch für Ameloblasten ist der TomesFortsatz, eine zelluläre Ausstülpung, welche nach dem Rückzug der Ameloblas-
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Abb. 2.23 Schemazeichnung einer Zahnanlage (vgl. Text). (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz)
ten aus dem reifenden Zahnschmelz ein System von hexagonalen Lücken in der Matrix hinterlassen. Hierdurch erhält der Zahnschmelz seinen im Wesentlichen prismatischen Aufbau. Während der Schmelzreifung erfolgt eine Metamorphose der Ameloblasten, welche jetzt beginnen, die organische Matrix wieder abzubauen. Im Gegensatz zur Knochenbildung wird diese daher fast vollständig durch Mineral ersetzt, und einmal gebildeter Zahnschmelz ist als nunmehr zellfreies Gewebe zu keinem weiteren Umbau und somit auch keiner Reparatur mehr fähig. Die Schmelzkappe kann bei den Dauermolaren eine Dicke von 2 mm erreichen, während sie bei Milchzähnen in der Regel eine Dicke von 1 mm nicht überschreitet (Hillson 1996). Die organische Matrix unreifen Zahnschmelzes unterscheidet sich signifikant von jener anderer mineralisierter Hartgewebe, da sie zu etwa 90 % aus Amelogenin besteht, einem schmelzspezifischen Protein mit einem Molekulargewicht bis 20 kDa. Etwa ein Viertel aller Aminosäuren des Amelogenins wird allein durch Prolin gestellt, wobei die für das Kollagen typische hydroxylierte Form vollständig fehlt. Im Zuge der Schmelzreifung wird Amelogenin spezifisch zu Peptiden gespalten und aus der Matrix entfernt. Im reifen Zahnschmelz finden sich mehrheitlich nur noch Proteine und Peptide mit einem Molekulargewicht bis 5 kDa, deren Aminosäurezusammensetzung nicht-amelogeninen Schmelzproteinen ähnlicher ist als dem Amelogenin (Hillson 1996).
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Als appositionell gebildetes Gewebe weist Zahnschmelz eine zumeist bereits lichtmikroskopisch erkennbare Periodizität auf. Die mikrostrukturelle Hauptkomponente besteht aus Kristallbündeln, welche ca. 4 µm im Durchmesser aufweisen und als Schmelzprismen bezeichnet werden. Quer zu diesen Prismen verlaufen die sogenannten Querstreifen ( prismcrossstriations), welche eine 24stündige Periodizität aufweisen, d. h. der Abstand von einem Querstreifen zum anderen markiert die Schmelzpräzipitation eines Tages. Diagonal zu diesen Querstreifen wiederum verlaufen die bereits im 19. Jahrhundert von dem schwedischen Anatomen Anders Adolph Retzius beschriebenen „bräunlichen Parallelstriche“ (Hillson 1996), welche später nach ihm als „Retzius-Streifen“ benannt wurden. Diese Retzius-Streifen trennen aufeinanderfolgende Schichten präzipitierten Zahnschmelzes und sind nahe der Schmelzoberfläche typischerweise 30 bis 40 µm voneinander entfernt. Zählt man die Querstreifen der Schmelzprismen zwischen diesen Retzius-Streifen, so ist diese Anzahl in jedem Individuum konstant und variiert zwischen 7 und 10, im Mittel sind es 9 (Hillson und Antoine 2003). Somit repräsentiert der Zahnschmelz zwischen zwei Retzius-Streifen einen Präzipitationszeitraum von etwas mehr als einer Woche. Dort, wo die Retzius-Streifen die Schmelzoberfläche erreichen, sind sie zumeist schon mit unbewaffnetem Auge als kleine, die Zahnkrone umlaufende, grabenartige Vertiefungen (Perikymatien) erkennbar. In Stresssituationen, welche zu einem vorübergehenden Aussetzen der Schmelzbildung führen, entstehen sehr ausgeprägte Perikymatien, welche den Stresszeitpunkt als bleibende transversale Schmelzhypoplasien (Abb. 2.32) markieren. In Zähnen, deren Schmelzbildung bereits in utero beginnt, ist der Geburtszeitpunkt zumeist durch einen besonders prominenten Retzius-Streifen markiert, welcher als Neonatallinie bezeichnet wird (Hillson und Antoine 2003). • Das Dentin ist ein Produkt der Odontoblasten – zylindrischer Zellen mit je einem langen Fortsatz, welcher nach Mineralisierung des Dentins in langen Tubuli lokalisiert ist. Auch die Odontoblasten sezernieren zunächst eine organische Matrix (Prädentin), welche sukzessive mineralisiert. Ausdifferenzierte Odontoblasten verlieren ihre Teilungsfähigkeit, sind aber über die ganze Lebensdauer eines Zahnes hinweg vital (Hillson 1996). Im Gegensatz zum Zahnschmelz wird zeitlebens sekundäres Dentin gebildet, welches die Pulpahöhle auskleidet. • Die aus dem Follikel stammenden Zementoblasten befinden sich in der Wurzelhaut und beginnen mit der Präzipitation des Präzementes bereits auf dem Prädentin. Während das Wurzelzement mehrheitlich zellfreies Gewebe ist, finden sich insbesondere in der Nähe der Wurzelspitze ausdifferenzierte Zementozyten, die analog den Osteozyten in Lakunen liegen. Im fertigen Zahn ist die gesamte Wurzelfläche mit Zement bedeckt, wobei die Zementschicht des Erwachsenen in der Regel 100–200 µm dick ist, in der Nähe der Wurzelspitze jedoch bis 600 µm Dicke erreichen kann (Hillson 1996). Aufgrund seiner wesentlichen Rolle in der Verankerung des Zahnes im Zahnfach wird Zahnzement Zeit des Lebens gebildet. Aufgrund der Dynamik jener physikalischen Kräfte, welche durch den Kauapparat erzeugt werden, befinden sich die Kollagenfasern der Wurzelhaut in ständigem Umbau, mit der Folge, dass die Zementbildung der sich ständig
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ändernden und erneuernden Anheftung der Fasern an der Zahnwurzel gerecht werden muss. Zahnzement ist in seiner Zusammensetzung dem Knochen am ähnlichsten, kann aber in Bezug auf die Präsenz von Zellen und die Herkunft des Kollagengerüstes variieren. Extrinsische Kollagenfasern entstammen der Wurzelhaut und sind mit einem Querschnitt von 6–12 µm deutlich dicker als intrinsische, von den Zementoblasten selbst produzierte Fasern, welche in der Regel eine Querschnittsdicke von 2 µm nicht überschreiten (Hillson 1996). In Bezug auf Aufbau und Funktion unterscheidet man folgende fünf Zementtypen: • azelluläres, afibrilläres Zement (lokalisiert an der Schmelz/Zement-Grenze und auf dem Schmelz), • azelluläres Fremdfaserzement (bedeckt die Wurzel vom Zahnhals bis zur Wurzelmitte), • zelluläres Eigenfaserzement (auf apikalen26 und interradikulären27 Wurzelflächen, in Resorptionslakunen und Frakturspalten), • azelluläres Eigenfaserzement und • zelluläres Gemischtfaserzement (jeweils auf apikalen und interradikulären Wurzelflächen) (Schroeder 1992). Das azelluläre Fremdfaserzement wird aufgrund seines strikt appositionellen Wachstums zur Sterbealtersdiagnose erwachsener Individuen herangezogen (vgl. Kap. 2.3.3). Das menschliche Gebiss ist heterodont, d. h. es besteht aus verschiedenen Zahntypen unterschiedlicher Funktion. Ferner gibt es einen einmaligen Zahnwechsel: den Milchzähnen (Dentes decidui) folgen die Dauerzähne (Dentes permanentes). Das aus zwanzig Zähnen bestehende Milchgebiss weist je Kieferhälfte zwei Schneidezähne (Incisivi), einen Eckzahn (Caninus) und zwei Backenzähne (Molares) auf, das aus zweiunddreißig Zähnen bestehende Dauergebiss zusätzlich je zwei Vorbackenzähne (Prämolares), und einen dritten Dauermolaren, den „Weisheitszahn“ (Abb. 2.24). Zähne sind für die Diagnostik sehr wichtige Skelettelemente, da sie eine enorm hohe Merkmalsdichte auf kleinem Raum aufweisen. Bezüglich der Morphologie der einzelnen Zahntypen, ihrer Funktion und anatomischer Varianten besteht eine Fülle spezieller Literatur, auf die an diesem Ort verwiesen werden soll (Hillson 1996; Herrmann et al. 1990; Alt 1997; Alt und Türp 1997). Die zahnspezifischen Durchbruchszeiten werden zur Altersbestimmung nicht erwachsener Individuen herangezogen (s. Kap. 2.3.3). Für archäologische Skelettfunde kann nur das alveoläre Durchbruchsalter herangezogen werden, welches zeitlich vor dem klinischen Durchbruchsalter durch die Gingiva liegt. Während die Durchbruchszeiten der Zähne zwar im Wesentlichen genetisch gesteuert sind, aber z. T. beträchtlichen Schwankungen aufgrund von Umwelteinflüssen – welche sich generell auf die Reife auswirken wie z. B. Fehlernährung – und damit soziokulturellen Parametern unterliegen, scheint der zeitliche Ablauf der Mineralisierung
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Apikal = die Spitze (Apex, hier: Wurzelspitze) betreffend. Radikulär = die Wurzel (Radix) betreffend.
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Abb. 2.24 Heterodontes menschliches Milch- und Dauergebiss. Bezeichnung der Dauerzähne in Großbuchstaben, der Milchzähne in Kleinbuchstaben. I: Incisivus, C: Caninus, P: Prämolar, M: Molar. (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz)
der einzelnen Zahnstrukturen deutlich umweltstabiler zu sein (Scheuer und Black 2000).
2.3.2.3 Erhaltungsgrad archäologischer Skelettfunde Materie zirkuliert im Ökosystem. Nach dem Individualtod wird daher der Körper in der Regel vollständig abgebaut, allerdings ist das Skelettsystem aufgrund seiner Dichte und Zusammensetzung erst sehr spät von diesen Dekompositionsprozessen betroffen (Gill-King 1997). Der Zustand eines Skelettes bei seiner Bergung ist demnach abhängig von den Umgebungsbedingungen, denen es Hunderte, Tausende oder mehr Jahre ausgesetzt war. In günstigen Situationen kommt es zur sukzessiven Substitution der Skelettkomponenten durch Mineralien des Liegemilieus (z. B. Silikate), und der Knochen bleibt unter Wahrung seiner äußeren Form, oft auch unter Wahrung seines mikrostrukturellen Aufbaues, in versteinerter Form erhalten (Fossilisation). Das andere Extrem ist mit dem vollständigen Vergehen des Skelettes gegeben, an dessen ursprünglichem Ort bestenfalls eine Bodenverfärbung (Leichenschatten) oder messbare Akkumulation von Calcium und Phosphat, den mineralischen Matrixkomponenten, verbleibt. Unter Taphonomie versteht man ein ursprünglich aus der Paläontologie stammendes Forschungsfeld, welches heute gleichermaßen in der Prähistorischen Anthropologie und auch der Rechtsmedizin verbreitet ist, und welches sich all jener Prozesse widmet, welche vom Tod eines Organismus bis zum Auffinden seiner körperlichen Relikte wirken. Bereits in der Zeit zwischen dem Individualtod und der Bestattung eines Leichnams können zahlreiche Parameter Einfluss nehmen, welche den Erhaltungsgrad des später ergrabenen Skelettfundes bedingen, wie z. B. Hitzeeinwirkung bei der Leichenverbrennung (s. Box 2.9), oder auch Tierverbiss und Wettereinwirkung, je nachdem, wie viel Zeit bis zur Bestattung vergeht. Alle diese Prozesse werden unter dem Oberbegriff der Biostratonomie zusammengefasst. Nach der Bestattung wirken zahlreiche diagenetische Prozesse, welche zur
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Prähistorische Anthropologie
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Abb. 2.25 Histologisches Querschnittspräparat eines bodengelagerten menschlichen Knochens (frühmittelalterlich). Die Kompakta ist vollständig mit Bohrkanälen durchsetzt, Osteone sind lediglich noch anhand der Havers-Kanäle kenntlich, welche mehrheitlich mit exogener Substanz infiltriert sind. (Foto und Bildrechte: S. Doppler)
Dekomposition des Körpers führen – letztendlich in dessen Auflösung in seine molekularen und mineralischen Bestandteile, welche dann wieder in die allgemeinen Stoffkreisläufe eingehen. Je nach den Bedingungen des Liegemilieus kann es aber auch zu einem Stoppen dieser Diagenese kommen, und es entstehen Mumien, Moorleichen oder auch Fossilien (Grupe 2007). Für die Dekomposition des Skelettes sind physikalische, chemische und biologische Mechanismen verantwortlich (Herrmann et al. 1990). Physikalische Kräfte, z. B. hervorgerufen durch den Druck des auf die Knochen lastenden Erdreiches, aber auch Frostsprengung oder mechanische Bewegung, führen zu einer Fragmentierung. Die weniger dichten, spongiösen Teile des Skelettes sind daher häufig schlechter erhalten als die kompaktknöchernen Areale. Unter den chemischen Parametern hat der pH-Wert des Bodens eine herausragende Bedeutung, da unter sauren Bedingungen eine Hydrolyse des Apatits beschleunigt verläuft. Die Verfügbarkeit von Wasser und Sauerstoff ist für viele chemische Prozesse ebenfalls relevant, steuert aber ganz wesentlich den biologischen Abbau des Skelettes. Aufgrund seiner Porosität bietet der Knochen eine große innere Oberfläche, welche saprophagen Mikroorganismen eine ideale Angriffsfläche bietet (Grupe 2001). Empirisch und auch experimentell konnte nachgewiesen werden, dass insbesondere bodenbewohnende Bakterien wie Bacillussubtilis (Child 1995a, b) das Skelett invadieren (Abb. 2.25). Das Wachstum von Bodenbakterien wird durch initiale Dekompositionsprozesse wie z. B. die Freisetzung von Wasserstoff und organischen Säuren im Zuge der Degradation von Biomolekülen erleichtert, da hierdurch eine Ansäuerung des jeweiligen Mikromilieus erreicht wird (Gill-King 1997). Durch Produktion saurer Metabolite sind viele Mikroorganismen in der Lage, den Apatit zu hydrolysieren (Grupe et al. 1993) und später auch das somit demaskierte Kollagen zu spalten. Bakterienkollagenasen sind sehr viel aggressiver als die Gewebskollagenasen der Säugetiere, da die Bakterien selbst über kein Kollagen verfügen (vgl. z. B. Achromobacter iophagus, ein Bakterium, welches Kollagen I in sehr
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spezifischer Weise spalten kann; Vrany et al. 1988). So produzieren Bakterien der Gattung Streptomyces eine Kollagenase, welche jener von Clostridiumhistolyticum sehr ähnlich ist, also eines Bakteriums, welches eine herausragende Rolle in der Kollagendegradation unmittelbar nach dem Individualtod spielt (Child 1995a). Die Tatsache, dass Streptomyces auch in der Zersetzung von Steinen und Bauwerken beteiligt ist, belegt die unglaubliche Flexibilität bestimmter Mikroorganismen, bedingt durch die Vielfalt der von ihnen produzierten Enzyme (Urzi und Krumbein 1994). Pilze zählen mehrheitlich zu den Sekundärbesiedlern des im Zustand der Dekomposition befindlichen Skelettes. Selbst bei Abwesenheit von mikrobieller Aktivität kann der Verlust von Kollagen durch saure Hydrolyse in Abhängigkeit vom pH-Wert des Bodens eintreten. Das Einwandern von Mineralien in die durch Diagenese bedingten Porositäten des Knochens spielt dann eine Schlüsselrolle bei einer etwaigen Fossilisierung (Collins et al. 2002). Je nach Lagerung eines Leichnams und später des Skelettes sind die Dekompositionsprozesse daher beschleunigt oder verzögert. Oberflächennahe Leichen werden häufig bereits primär durch Tierverbiss (Nagetiere, Füchse, Marder) zerstört. Je tiefer ein Leichnam bestattet wurde, desto langsamer verläuft dessen Dekomposition, im Erdreich in der Regel etwa achtmal langsamer als an der Oberfläche (Rodriguez 1997). Neben dem pH-Wert, der Verfügbarkeit von H2O und O2, ist auch die Temperatur ein wesentlicher Faktor, welcher mikrobielles Wachstum fördert oder inhibiert. Die mittlere Grabtemperatur in den gemäßigten Breiten beträgt etwa 10 °C. Konservierende Liegebedingungen sind generell kalt, trocken und eher basisch, zehrende Liegemilieus sauer, warm und feucht. 7 Somit ist ersichtlich, dass der Überlieferungsgrad archäologischer Skelettfunde viel weniger von der Liegezeit abhängt, als von den Liegebedingungen (Herrmann et al. 1990).
Der Überlieferungsgrad bestimmt wiederum die Fülle und Sicherheit der Diagnosen, welche an einem bestimmten Skelettfund noch erhoben werden können, und zwar sowohl auf makroskopischer, mikroskopischer und molekularer Ebene. Box 2.9: Leichenbrand
Eine besondere, für bestimmte Zeitstufen häufige bis regional exklusive Bestattungsform (vgl. Box 2.7) ist die Leichenverbrennung. Vor der Bestattung wurde der Leichnam hohen Temperaturen ausgesetzt (auch mit einem prähistorischen Scheiterhaufen konnte eine Temperatur von um die 1000 °C erreicht werden), wodurch die Weichgewebe im Idealfalle vollständig verbrennen. Auch die Hartgewebe werden signifikant verändert, wobei eine Hochtemperaturmodifikation des Apatits die entscheidende Rolle spielt (Herrmann et al. 1990; McKinley und Bond 2001). Zahlreiche Studien haben sich der temperaturabhängigen Veränderungen des Knochens in Bezug auf seine strukturelle Organisation (Makro- und Mikromorphologie, molekulare und kristalline Struktur) gewidmet (Schmidt und Symes
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Prähistorische Anthropologie
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2008; Ubelaker 2009). Da die Verbrennungsbedingungen hinsichtlich einiger entscheidender Parameter (z. B. Temperatur, Sauerstoffzufuhr) variieren können, seien hier nur die wesentlichen Veränderungen skizziert: Zwischen 150 und 300 °C entweicht Kristallwasser, die organische Matrix degradiert. Oberhalb von 600 °C wird sämtlicher organischer Kohlenstoff ausgetrieben. Durch die Oxidation dieses Kohlenstoffes ändert der Knochen zwischen 300 und 600 °C seine Farbe von braun über schwarz zu grau. Ab 800 °C ist der organische Kohlenstoff vollständig entfernt, und der Knochen erscheint kreidig weiß. Etwa ab derselben Temperatur kommt es zur Hochtemperaturmodifikation des Knochenminerales im Sinne einer physikalischen Festkörperreaktion vom Apatit zu TriCalciumphosphat mit begleitender Fusion der Kristalleinheiten. Allerdings haben experimentelle Studien diese lange Zeit als gegeben angesehene Transformation zu TriCalciumphosphat nicht generell bestätigen können (Rochers und Daniels 2002; Hiller et al. 2003; Harbeck et al. 2011). Je nach Mineraldichte wird der Knochen nunmehr merklich schrumpfen, und zwar bis zu 10 % in jede Raumrichtung. Kugelige Skelettelemente wie z. B. der Oberschenkelkopf sind daher nach der Verbrennung um rund ein Drittel kleiner. Da auch innerhalb eines Skelettelementes die Mineraldichten regional je nach physikalischer Belastung schwanken, kommt es zu keiner einheitlichen, sondern differentiellen Schrumpfung der Knochen, welche sich in der Folge verbiegen und zerbrechen. Die mineraldichte Zahnkrone wird von der weniger mineraldichten Zahnwurzel abgesprengt und zerscherbt in der Regel vollständig. Die Volumenverminderung des Knochens ist wiederum temperaturabhängig und dürfte in Bereichen zwischen 500 und 600 °C damit zusammenhängen, dass die Mineralkristalle nach Degradation und Austreiben der organischen Matrix zunehmend in Oberflächenkontakt zueinander treten, was strukturelle Veränderungen mit dem Resultat der Erniedrigung des Volumens der Elementarzellen zur Folge hat. Durch die Festkörperreaktion bei höheren Temperaturen nimmt dieses Zellvolumen weiter ab, vermutlich durch das Verbrennen und Austreten von Carbonationen, und zwar zunächst des adsorbierten, dann des struktuellen Carbonates im Apatit. Dieser Vorgang zeigt sich in einer deutlichen Zunahme der Kristallinität des erhitzten Knochens (Harbeck et al. 2011). Aufgrund des Verlustes organischer Substanz ist vollständig verbrannter Knochen unelastisch, aufgrund seiner hohen Mineraldichte aber sehr hart. Von einer Temperatur von 1630 °C an beginnt der Knochen zu schmelzen. Abgekühlte, erhärtete Knochenschmelze wird als Clincer bezeichnet (Herrmann et al. 1990). Diese Schmelztemperatur wird jedoch bei prähistorischen Leichenbränden in der Regel nicht erreicht. Ob eine solche vollständige Verbrennung des Skelettes erreicht wird, hängt von der Verbrennungspraxis (verwendete Holzart, Belüftung des Scheiterhaufens, Brenndauer) ab. Unvollständig verbrannte Skelette weisen z. B. noch Reste primären Kohlenstoffes im Knocheninneren auf, und erscheinen rußig-grau anstatt kreidig-weiß. Während der Begriff „Leichenbrand“ im engeren Sinne die Gesamtheit aller nicht brennbaren Teile des menschlichen Körpers umfasst, wird er praxisnah im weiteren Sinne für die Beschreibung aller nach einem Verbrennungsvorgang noch vorhandenen Teile des menschlichen Körpers benutzt
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Abb. 2.26 Menschlicher Leichenbrand
(Abb. 2.26). Es ist wesentlich darauf hinzuweisen, dass nach Leichenverbrennung mitnichten nur noch Asche übrigbleibt, sondern eben die zerscherbten Reste des verbrannten Skelettes einschließlich der Zahnwurzeln. Trotz in der Regel hohen Fragmentierungsgrades verbleiben nach der Leichenverbrennung durchaus noch Stücke von mehreren Zentimetern Größe und daher erheblichen anthropologischen Aussagewertes. Die Art der Bestattung (vollständiges oder unvollständiges Auflesen des Leichenbrandes, Beisetzung in einer Urne oder als Brandschüttung direkt im Erdreich), in wesentlicher Weise aber auch die Art der Bergung und Präparation dieser spröden Fragmente, haben einen entscheidenden Einfluss auf den letztendlichen Fragmentierungsgrad der Stücke, welche dem Anthropologen für die Diagnostik vorliegen.
2.3.3
Diagnose biologischer Basisdaten
7 Zu den biologischen Basisdaten gehören alle jene Daten, welche am Skelettfund (oder Leichenbrand, anderweitige Überlieferungsform) erhoben werden können und geeignet sind, das jeweilige Individuum zu charakterisieren. Hierzu gehören das Sterbealter, das Geschlecht, metrische Merkmale wie Körperhöhe und Proportionen, kleinräumige Varianten in Aufbau und Struktur des Skelettes, Aktivitätsmuster und gegebenenfalls Symptome von Erkrankungen oder Anzeichen für die Todesursache.
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Prähistorische Anthropologie
Tab. 2.8 Definition anthropologischer Altersklassen. Die Gruppen Adultas und Maturitas werden häufig weiterhin gedrittelt in ein jeweils junges, mittleres und spätes Stadium
Altersgruppe Infans I (frühe Kindheit) Infans II (späte Kindheit) Juvenis (Jugendalter) Adultas (Erwachsenenalter) Maturitas (Reifealter) Senilis (Greisenalter)
101 Jahre 0–6 7–12 13–20 20–40 40–60 60–ω
Da zu diesem Thema ausführliche Spezialliteratur einschließlich der erforderlichen Diagnoseschlüssel existiert (z. B. Brothwell 1981; Bass 1987; Herrmann et al. 1990; White und Folkens 1991; Scheuer und Black 2000), sollen an dieser Stelle lediglich die grundlegenden Gesichtspunkte erwähnt werden.
2.3.3.1 Bestimmung des Sterbealters Das Sterbealter ist makroskopisch bis zur Vollendung der Skelettreife relativ zuverlässig bestimmbar. Jedoch ist auch der Prozess der ontogenetischen Reife bis zu einem gewissen Grade umweltplastisch, so dass Altersangaben immer nur innerhalb gewisser Grenzen möglich sind. Ferner ist zu bedenken, dass die Mehrzahl jener Individuen, welche vor dem Erreichen des Erwachsenenalters verstorben sind, krank oder z. B. auch fehlernährt gewesen sein dürfte, so dass eine Verzögerung der Reife stets in Betracht zu ziehen ist. Traditionell werden die Individuen anthropologisch sechs großen Altersklassen zugeordnet (vgl. Herrmann et al. 1990; Tab. 2.8). Für Kinder bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres wird die Sterbealtersbestimmung am zuverlässigsten anhand des Zahnwechsels vorgenommen, wobei am mazerierten Skelettmaterial naturgemäß der alveoläre Zahndurchbruch festgestellt wird. Umweltstabiler als die Durchbruchszeiten sind die Mineralisationsstadien noch unvollständig ausgebildeter Zähne (vgl. hierzu Smith 1991; AlQahtani et al. 2010). Als Faustregel kann jedoch gelten, dass im Alter von 2,5 bis 3 Jahren ein vollständiges Milchgebiss angelegt ist, dass der erste Dauermolar im Alter von 6 Jahren erscheint („Schulzahn“), der zweite Dauermolar mit zwölf Jahren. Gerade bei sehr kleinen Kindern, deren Knochen sehr zart und noch nicht ausgereift sind, bleiben nach längerer Liegezeit im Erdreich lediglich die Zähne oder sogar nur noch die Zahnkronen erhalten. Auf diese ist im Zuge der archäologischen Ausgrabung daher besonders zu achten. Zuzüglich zu dem Zahnstatus können auch einige Reifemerkmale des Skelettes gut zur Sterbealtersschätzung herangezogen werden (Scheuer und Black 2000). Für Jugendliche ist die Skelettreife ein guter Marker für das Sterbealter. Aufgrund seiner Mineralisierung kann knöchernes Gewebe nicht mehr durch interstitielles Wachstum proliferieren. Um das Längenwachstum zu gewährleisten, verbleiben bis zum Abschluss der Skelettreife knorpelige Wachstumsfugen, die Epiphysenfugen, erhalten. Sie separieren in langen Röhrenknochen die Gelenkenden (Epiphysen) vom Schaft (Diaphyse). Die Epiphysen platter Knochen werden auch als Apophysen bezeichnet (Abb. 2.21). Für den knöchernen Verschluss der Epiphysenfugen und damit den Wachstumsabschluss eines Skelettelementes ist u. a. eine
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Abb. 2.27 Histologische Querschnittspräparate menschlicher Kompakta unterschiedlichen Individualalters, frühmittelalterliche Bestattungen. Das jungerwachsene Individuum (weiblich, Zahnzementalter 21 Jahre) weist gut voneinander absetzbare Osteone zwischen Resten ehemaliger Generallamellen auf (a), während das deutlich ältere Individuum (männlich, Zahnzementalter 58 Jahre) durch dicht gepackte Osteone und deren Fragmente sowie deutlich erweiterte Havers-Kanäle gekennzeichnet ist (b). (Fotos und Bildrechte: S. Doppler)
Reihe von zellulären Wachstumsfaktoren, aber auch der individuelle Hormonstatus, verantwortlich. Im Falle der langen Extremitätenknochen setzt der Epiphysenverschluss z. B. gegen Ende der Pubertät und des puberalen Wachstumsschubes ein (Ulijaszek et al. 1998). Nach vollständiger Reifung des Skelettes, also mit etwa 30 Jahren, kann das Sterbealter Erwachsener nur noch anhand der Alterung des Skelettes geschätzt werden. Jedoch ist diese Alterungsrate nicht konstant, sondern sehr stark umweltplastisch und von den individuellen Lebensbedingungen abhängig. Die makroskopische Methode mit der größten Verbreitung ist die Komplexe Methode (Acsadi und Nemeskeri 1970), welche vier Kriterien berücksichtigt: den sukzessiven Verschluss der Schädelnähte, die altersbedingte Veränderung des Reliefs der Schambeinsymphyse, und den Verlust der Spongiosa des proximalen28 Oberarm- und Oberschenkelbereiches mit zunehmender Ausdehnung der Markhöhle und Abbau der Trabekel. Diese makromorphologische Sterbealtersbestimmung lässt jedoch nach neueren Erkenntnissen nur eine Beurteilung eines Individuums im relativ groben Rahmen zu (Wittwer-Backofen et al. 2008). Auch der mikrostrukturelle Aufbau der Kompakta unterliegt altersabhängigen Veränderungen. Im jungen Erwachsenenalter nimmt die Anzahl der Osteone zu Lasten der Generallamellen zu, während mit zunehmendem Alter der ständige Knochenumbau dazu führt, dass die Osteone dichter gepackt werden, einander überlagern und zahlreiche Fragmente alter Osteone persistieren. Durch den quantitativen, altersbedingten Mineralverlust entstehen Resorptionshöhlen, auch die Havers-Kanäle werden erweitert (Abb. 2.27a, b). Eine Altersschätzung anhand histomorphometrischer Auswertung der Kompaktaorganisation, wie z. B. der Relation intak28
Proximal = die dem Rumpf nähere Lokalisation an einer Extremität.
2.3
Prähistorische Anthropologie
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Abb. 2.28 Histologisches Präparat der Zuwachsringe im Zahnzement (Strott und Grupe 2003). Deutlich transparenter erscheint die untermineralisierte Durchtrittslinie ( Pfeil). Z-Zahnzement, D-Dentin
ter Osteone zu Osteonfragmenten, erlaubt eine Sterbealtersbestimmung mit einem Fehler von ± sechs bis sieben Jahren (Stout 1992). Letztlich können somit die Individuen wiederum nur in Alterskategorien eingeteilt werden, welche mehr als zehn Jahre umfassen. Zwischenzeitlich sind mehrfach Regressionen zur histomorphometrischen Altersschätzung anhand verschiedener Skelettelemente an der erwachsenen Knochenkompakta aufgestellt worden (z. B. Ahlqvist und Damsten 1969; Thompson 1979; Uytterschaut 1985; Ericksen 1991; Maat et al. 2006; Doppler 2008). Eine Bestimmung des kalendarischen Sterbealters Erwachsener ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand ausschließlich anhand der jährlichen Zuwachsringe im Zahnzement möglich (Wittwer-Backofen und Buba 2002). Das im oberen Drittel der Zahnwurzel befindliche zellfreie Fremdfaserzement wächst strikt appositionell und unterliegt nach seiner Bildung keinem weiteren Umbau. Nach Durchtritt des Zahnes in die Mundhöhle (klinischer Zahndurchbruch) reagiert das Zahnzement auf die physikalische Beanspruchung des Kauvorganges mit der Anlagerung in der Regel jährlich eines Zuwachsringes (Abb. 2.28). Jeder Zuwachsring entspricht einer Doppelbande aus je einem helleren (schwach mineralisierten) und einem dunklen (stark mineralisierten) Ring, wobei saisonale Rhythmen für diese differentielle Mineralisation verantwortlich sein dürften (Grue und Jensen 1976; Lieberman 1993, 1994; Morris 1972). Für die Sterbealtersbestimmung muss im histologischen Querschnitt durch die Zahnwurzel die in der Regel deutlich untermineralisierte Durchtrittslinie aufgesucht werden (Abb. 2.28), welche sich im Zuge der raschen Durch-
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trittsbewegungen des Zahnes bildet. Anschließend werden die jährlichen Zuwachsringe gezählt und das mittlere Durchbruchsalter des Zahnes addiert. Sofern eine ungestörte Zementogenese vorliegt, was bei intakter Wurzelhaut bis zum Sterbezeitpunkt gegeben ist, kann mit Hilfe dieser Methode das chronologische Sterbealter des untersuchten Individuums angegeben werden, wobei der Bestimmungsfehler der individuellen Variation im Durchtritt des untersuchten Zahnes entspricht. Prämolaren weisen ausgesprochen geringe Schwankungen von lediglich ± 1,55 Jahren des individuellen klinischen Durchbruchszeitraumes auf (Schumacher et al. 1990). Eine Altersbestimmung anhand des Zahnzementes ist daher unter optimalen Bedingungen mit einer Genauigkeit von etwa ± 2,5 Jahren möglich (Wittwer-Backofen et al. 2004). Liegen Erkrankungen der Zähne und insbesondere des Zahnhalteapparates vor, ist jedoch mit einer Unterzahl von Zuwachsringen zu rechnen (Kagerer und Grupe 2001a). Zu einem geringen Prozentsatz lässt sich das Phänomen des „doublings“ beobachten, bei dem ein Individuum statt in der Regel eines Doppelringes pro Jahr derer zwei anlegt. In solchen Fällen würde also das Sterbealter stark überschätzt, so dass ein Abgleich des Zahnzementalters mit dem morphologischen Alterungsgrad des Skelettes geboten ist. Ein weiterer Vorteil dieser Sterbealtersdiagnose am Zahnzement liegt darin, dass die Zementschicht nach Leichenverbrennung in der Regel auf der Zahnwurzel verbleibt und daher dieses Verfahren auch bei Leichenbränden mit gutem Erfolg angewendet werden kann (Großkopf 1989). Es scheint sich allerdings auch herauszustellen, dass die Anzahl der gebildeten Zuwachsringe an einer Zahnwurzel nicht überall gleich ist, sondern entsprechend der funktionellen Belastung des Zahnes während des Kauzyklus variiert (Lippitsch und Grupe 2007). Somit ist die Anfertigung und Auswertung möglichst vieler histologischer Dünnschnitte pro Zahnwurzel erforderlich, um eine stabile Anzahl von Zuwachsringen zu ermitteln. Die Methode ist dadurch zeitintensiv, lohnt aber in der Regel den Aufwand.
2.3.3.2 Geschlechtsbestimmung Im erwachsenen Skelett liegt ein populationstypischer Geschlechtsdimorphismus vor, welcher mehr oder weniger deutlich ausgeprägt ist. Die Geschlechtsbestimmung am Skelett erfolgt zweckmäßigerweise zunächst am Becken, da sich hier ein funktionell bedingter Geschlechtsdimorphismus zeigt. Im weiblichen Geschlecht sind Strecken und Winkel dieses Skelettelementes weiter und offener, um den Geburtsvorgang zu ermöglichen. Allein anhand des Beckens ist eine Geschlechtsbestimmung mit einer Zuverlässigkeit von bis zu 96 % möglich (Cox 2001). Aufgrund des höheren Muskelquerschnittes im männlichen Geschlecht sind die übrigen geschlechtsdifferenten Merkmale des Skelettes im Wesentlichen Robustizitätsmerkmale. Die Elemente des männlichen Skelettes sind in der Regel größer als jene des weiblichen Geschlechtes, Muskelmarken auf der Knochenoberfläche sind prominenter. Recht deutlich sind die geschlechtsdifferenten Merkmale am Schädel ausgebildet, einschließlich der metrischen Merkmale der Zähne. Zweifellos erfolgt eine Geschlechtsdiagnose mit umso höherer Sicherheit, je vollständiger das Skelett überliefert ist. Es empfiehlt sich aber in jedem Falle, zunächst die Gesamtvariabialität der Robustizitätsmerkmale der ergrabenen Population zu erfassen (Herrmann et al. 1990; Cox 2001).
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Bei stark fragmentiertem Untersuchungsgut kann eine Geschlechtsbestimmung anhand von metrischen Merkmalen, welche diskriminanzanalytisch ausgewertet werden, erfolgen. Hierzu werden mehrere Maße des Skelettes erhoben, gewichtet, linear kombiniert (Diskriminanzfunktion) und der Trennwert für die beiden Geschlechter mathematisch ermittelt. In der Regel müssen diese Diskriminanzfunktionen jedoch für jede Population eigens erstellt werden. Die Fehlklassifikationen liegen deutlich höher bei 20 % und mehr (Herrmann et al. 1990). Bei nicht erwachsenen Individuen ist die morphologische Geschlechtsbestimmung stark erschwert, obgleich bereits im fetalen Skelett der spätere Geschlechtsdimorphismus für den erfahrenen Osteologen erkennbar ist (Fazekas und Kosa 1978). Bei Applikation geeigneter Diskriminanzfunktionen kann jedoch auch für das Kleinkind auf morphometrischem Wege eine korrekte Geschlechtszuweisung für mehr als 70 % der untersuchten Individuen erreicht werden (Schutkowski 1990), was jedoch immer noch einer Fehlklassifikation von 30 % entspricht. Eine junge Methode der Geschlechtsbestimmung über den Winkel des Meatus acusticus externus hat sich auch bei kindlichen Skeletten der Altersstufen Infans I und II bewährt und hat eine Bestimmungssicherheit von ca. 85 % (Graw et al. 2009).
2.3.3.3 Osteometrie Allgemein dient die metrische Erfassung von Form- und Größenmerkmalen des Skelettes (Osteometrie) der quantitativen Beschreibung des Individuums und der Population. Morphologische Unterschiede zwischen Populationen können nach multivariat-statistischer Verarbeitung einer Vielzahl von Maßen durch statistische Abstandsmaße quantifiziert werden, wobei jedoch im Einzelfall nicht immer auch eine fundierte biologische Begründung für die beobachteten Unterschiede geliefert werden kann und der Befund daher auf der Ebene der Deskription verbleibt. Ein gut dokumentiertes Beispiel ist der Grazilisationsprozess, die Robustizitätsabnahme vom archaischen zum anatomisch modernen Menschen im Pleistozän, welche bis in das Holozän hinein Kontinuität hat (vgl. Kap. 2.2). Menschen des Neolithikums sind insgesamt schlanker und weniger robust als noch im oberen Paläolithikum, auch ein Wandel der Schädelform ist evident. Die möglichen Ursachen für diesen Formwandel sind vielfältig und können in genetischen Unterschieden (s. Kap. 3.1) ebenso begründet sein wie in einigen umweltbezogenen Aspekten (Klimawandel, produzierende Lebensweise mit verändertem Arbeits- und Ernährungsspektrum). Die Körperhöhe, welche ein Individuum zu Lebzeiten erreicht hatte, wird in der Regel aus den Längen der Ober- und/oder Unterschenkelknochen mittels linearer Regression ermittelt, wobei die zur Verfügung stehenden Formeln die altersund geschlechtsspezifischen Proportionen berücksichtigen (Zusammenstellung bei Herrmann et al. 1990). Eine Längsschnittbetrachtung der Körperhöhen von Kindern und Jugendlichen eines Skelettkollektives ergibt Hinweise auf den Wachstumsverlauf und damit wiederum auf die allgemeinen Lebensbedingungen (Ernährungssituation, Erkrankungshäufigkeiten; Hoppa und Fitzgerald 1999). Körperproportionen sind auch klimaabhängig, wie etwa die Relation der Extremitätenlänge zum Körperstamm (s. Kap. 3.2). So weist z. B. die spezielle Proportionierung der Neandertaler auf deren Adaptation an eiszeitliche Klimaverhält-
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Abb. 2.29 Foramen mentale accessorium (doppelt angelegter Nutritialkanal im Unterkiefer, Pfeil). (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz)
nisse hin (vgl. hierzu Henke und Rothe 1998). Nicht zuletzt können individuell abweichende Form- und Größenmerkmale einzelner Skelettelemente pathologische Ursache haben (s. unten).
2.3.3.4 Morphologische Varianten Als diskontinuierlich variierende Merkmale (synonym: Diskreta, epigenetische Merkmale) werden in der Regel kleinräumige Varianten des Skelettes bezeichnet, welche metrisch nicht erfasst werden können. Zu diesen gehören z. B. die Persistenz der Stirnnaht ( Suturametopica) als Zeichen allgemein verzögerten Schädelnahtverschlusses, da die beiden Hälften des zunächst paarig angelegten Stirnbeines mit Vollendung des dritten Lebensjahres vollständig miteinander verwachsen sein sollten, oder das Vorhandensein akzessorischer Nutritialkanäle ( Foramen mentaleaccessorium, Abb. 2.29). Da die Mehrzahl dieser diskontinuierlich variierenden Merkmale familien- oder auch populationstypisch gehäuft auftreten, ist eine genetische Grundlage hoch wahrscheinlich (Hauser und De Stefano 1989), zurzeit aber nur in den wenigsten Fällen (insbesondere für einige Merkmale der Zähne und des Gebisses; Alt 1997) nachgewiesen. Einige nicht-metrische Merkmale basieren jedoch auch auf Verhaltensmustern und sind damit nicht genetisch bedingt, wie z. B. die Ausprägung einer zusätzlichen Gelenkfläche am Knöchelgelenk des Unterschenkels durch gewohnheitsmäßiges Hocken (Hockfacette) oder die Extension der Gelenkfläche des Oberschenkelkopfes auf den Oberschenkelhals als Folge regelmäßigen Reitens zu Pferd (Larsen 1997). 2.3.3.5 Paläopathologie Besondere Aufmerksamkeit wird den pathologischen Veränderungen am Skelett gewidmet, da diese nicht nur Auskunft über individuelle Schicksale erteilen, sondern insbesondere Rückschlüsse auf die Krankheitsbelastung der Bevölkerung erlauben. Welchen Erkrankungen war eine Bevölkerung zu welcher Zeit und in welcher geo-
2.3
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grafischen Region überhaupt ausgesetzt, welche Altersgruppen oder Geschlechter waren besonders betroffen, und welches waren die medizinischen Möglichkeiten zur Linderung oder Heilung? Erkrankungen können sowohl umweltinduziert sein durch einfaches Vorkommen des Krankheitserregers am Standort (z. B. Malaria), wobei ein Teil der Infektionskrankheiten auch anthropogenen Ursprunges ist und sowohl im Zuge der Haustierhaltung und -züchtung als auch durch Kulturfolger vom Tier auf den Menschen übertragen wurde (Zoonosen), wie z. B. die Pest. Größenzunahme und Verdichtung einer Bevölkerung ergibt einen Selektionsvorteil für solche Infektionen, welche durch Tröpfchenübertragung auf kurzem Wege von Mensch zu Mensch übertragen werden (z. B. Grippe), schlechte hygienische Bedingungen fördern Schmutzinfektionen. Der Wandel von Krankheitsspektren in Zeit und Raum ist daher von hohem medizinhistorischen und epidemiologischen Interesse. Die Paläopathologie widmet sich explizit den genannten Fragestellungen, hat aber mit substratspezifischen Problemen zu kämpfen. Jede Krankheitsdiagnose muss posthum gestellt werden, ohne die Möglichkeit einer Anamnese oder Katamnese, und in der Regel liegt lediglich noch Knochen als einzige verfügbare Gewebequalität vor. Jedes geborgene Skelettelement ist daher gründlich auf Abweichungen bezüglich seiner Form, Größe und Struktur zu untersuchen und im Einzelfall zu prüfen, ob eine gefundene Abweichung Resultat eines intravitalen Prozesses ist, oder lediglich eine Pseudopathologie aufgrund von Dekompositionsvorgängen vorliegt. In manchen Fällen ist der äußere Aspekt eines Skelettelementes unauffällig, so dass nur eine radiologische oder histologische Inspektion Hinweise auf ein pathologisches Geschehen liefern kann. Auch für den Bereich der Paläopathologie liegt eine Fülle von Spezialliteratur, auch in enzyklopädischer Form vor (z. B. Schultz 1988; Aufderheide und Rodriguez-Martin 1998; Cohen und Crane-Kramer 2007), so dass an dieser Stelle daher lediglich auf einige häufig auftretende und sicher zu diagnostizierende Krankheitskomplexe anhand ausgewählter Beispiele eingegangen werden soll: • Degenerative Erkrankungen der Gelenke und Frakturen sind primäre Erkrankungen des Skelettes und daher in der Regel zweifelsfrei zu diagnostizieren. Ein Frakturgeschehen ist Folge zu hoher physikalischer Belastungen des Knochens, und in vielen Fällen lässt die Lokalisation der Fraktur eindeutige Rückschlüsse auf die Ursache der Verletzung zu. Ein Bruch im handgelenknahen Bereich der Unterarmknochen ist häuig Folge eines Sturzes nach vorn, wenn die Person den Sturz mit vorgestreckten Armen abfangen will. Frakturen des Fersenbeines oder auch der Wirbelsäule sind charakteristisch für Stürze aus großer Höhe. Verletzungen des Schädels können in Bezug auf ihre Ätiologie nach der „Hutkrempenregel“ beurteilt werden: Liegt die Fraktur oberhalb der gedachten Krempenlinie eines Hutträgers, war die Ursache ein Schlag oder Hieb auf den Kopf (wobei die Form des Traumas oft charakteristisch für die verwendete Waffe ist). Liegt die Fraktur jedoch unterhalb dieser Krempenlinie, ist das Trauma wiederum eher Folge eines Sturzes (Herrmann et al. 1990). Von diesen Verletzungen infolge direkter Gewalt- oder Krafteinwirkung zu unterscheiden sind pathologische Frakturen, welche aufgrund einer Ermüdung des Knochens durch Mineralverlust entstehen und somit Folge einer vorherigen Primärer-
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krankung sind, wie z. B. Oberschenkelhalsbrüche infolge von Osteoporose, oder Rippenbrüche infolge von Rippenmetastasen eines Lungenkarzinoms. Degenerative Erkrankungen der Gelenke sind Folge des Zugrundegehens des Gelenkknorpels aufgrund unphysiologisch hoher Belastung, etwa durch harte Arbeit oder auch aufgrund von Fehlstellungen der Gelenke. Sie manifestieren sich am Skelett zunächst in der Ausprägung von Knochenanbau in Form von Osteophyten, welche in schweren Fällen mehrere Millimeter lang werden können. Sie gehen vom Periost aus und sind zunächst als Reaktion des Körpers zu verstehen, die Auflagefläche des Gelenkes zu vergrößern, um den hohen physikalischen Drücken begegnen zu können. In Spätstadien kann es zur knöchernen Überbrückung des Gelenkspaltes kommen, wodurch das betroffene Gelenk dysfunktional wird. Sukzessive kommt es auch zu einer Formveränderung des betroffenen Gelenkes und kompaktknöcherner Verstärkung der Kortikalis. Bei vollständiger Erosion des Gelenkknorpels gleitet Knochen auf Knochen, kenntlich an der wie poliert erscheinenden Gelenkfläche (Eburnisation). Die Schwere der Ausprägung einer degenerativen Gelenkerkrankung korreliert nicht immer mit der individuellen Beeinträchtigung durch Schmerzen. Eine gewisse Gelenkalterung während des Lebens ist ohnehin die Norm, so dass die Grenzen zwischen normalem „Verschleiß“ und beginnender echter Pathologie oft nur schwer zu ziehen sind. Die Verteilung degenerativer Erkrankungen auf die einzelnen Gelenke des Körpers und die Abschnitte der Wirbelsäule ist von besonderem Interesse für die Rekonstruktion täglicher Aktivitätsmuster der Individuen und lässt u. a. die Rekonstruktion arbeitsteiliger Lebensweise zwischen den Geschlechtern zu (Larsen 1997). • Infektionserkrankungen sind nur dann morphologisch am Skelett zu diagnostizieren, wenn der Knochen primärer Infektionsherd ist (z. B. im Falle einer Knochenmarksvereiterung), oder wenn das Skelett sekundär befallen wird. Im letztgenannten, häuigeren Falle bedarf es eines längeren bis chronischen Krankheitsverlaufes, um eine Infektion am Knochen diagnostizieren zu können. Infektionen mit hochpathogenen Erregern, wie z. B. der Pest, haben in präantibiotischen Zeiten den Individualtod in so kurzer Zeit herbeigeführt, dass diese schwere Erkrankung keinerlei Spuren am Skelett hinterlässt und nur noch molekularbiologisch durch Detektion von Relikten des Krankheitserregers selbst diagnostizierbar ist (s. Kap. 2.3.5). Bei epidemieartig auftretenden Infektionen kann das abweichende Mortalitätsproil der Individuen aufschlussreich sein, ohne dass jedoch eine Diagnose der Krankheit möglich ist. Klassische Beispiele für chronisch verlaufende Infektionskrankheiten mit charakteristischen Symptomen am Skelett sind Lepra, Syphilis und Tuberkulose (Box 2.10). Es ist jedoch nicht ohne Weiteres möglich, aus der Anzahl von Skeletten, welche eindeutige Symptome einer Infektionserkrankung haben, auf den Prozentsatz Erkrankter in der Lebendbevölkerung zu schließen, da die altersspeziische Mortalitätsrate einer jeden Erkrankung einbezogen werden muss. Wenn z. B. im Falle der Tuberkuloseinfektion im Jugendalter eine lediglich zehnprozentige Mortalität besteht, wird durch die Anzahl jugendlicher Skelette mit Tuberkulosesymptomen in
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einer Skelettserie die tatsächliche Krankheitsbelastung der Lebendbevölkerung deutlich unterschätzt (Waldron 1994). Box 2.10: Zur Epidemiologie von Lepra und Tuberkulose
Die Lepra, hervorgerufen durch Tröpfchenübertragung von Mycobacterium leprae, ist eine chronische Erkrankung, welche Haut, Nasenschleimhaut, periphere Nerven und Knochen befällt. Die lepromatöse Lepra beginnt mit einer chronischen Rhinitis, welche zunächst unspezifisch verläuft. Durch langsame Zerstörung der Nasenschleimhaut, des Nasenseptums, des Nasenbodens und des knöchernen Gaumens mit Verlust der Frontzähne entwickelt sich die charakteristische Facies leprosa. Die tuberkuloide Lepra ist dagegen essentiell eine Erkrankung der peripheren Nerven, deren Zerstörung Taubheit in den betroffenen Körperteilen hervorruft. Es kommt zur Atrophie von Muskeln und Knochen sowie zur Resorption der Finger und Zehen. Im christlichen Europa wurde die Lepra als Gottesstrafe angesehen. Per Gesetz wurde der Kontakt zwischen Leprösen und Gesunden minimiert, die Leprakranken in Leprosorien untergebracht. Die Tuberkulose ist eine primäre Infektion der Lunge durch Inhalation von Mycobacteriumtuberculosis, welche sekundär das Skelett befällt und dort charakteristische Zerstörungen der Wirbelsäule verursacht. Es besteht eine Kreuzreaktivität zwischen Mycobacteriumtuberculosis und Mycobacterium leprae, und bereits 1924 fiel auf, dass Tuberkuloseimpfungen eine protektive Wirkung in Bezug auf Lepra hatten. Während die Lepra mit ihrer mehrjährigen Inkubationszeit einen Selektionsvorteil in dünn besiedelten Gebieten hat, konnte sich die Tuberkulose im Verlauf zunehmender Bevölkerungsdichte immer mehr durchsetzen. Da eine Primärinfektion mit Tuberkulose einen gewissen Infektionsschutz gegenüber Lepra darstellt (werden tuberkulin-positive Individuen später mit Lepra infiziert, kommt es vermehrt zur viel weniger infektiösen tuberkuloiden Lepra), konnte die Tuberkulose im Verlauf des europäischen Mittelalters die Lepra zunehmend verdrängen. Die verbreitete Praxis der städtischen Milchviehhaltung war darüber hinaus der Verbreitung von Mycobacteriumbovis, des Erregers der Rindertuberkulose, förderlich. • Alimentäre Erkrankungen wie Vitamin- oder Spurenelementmangel, ihrerseits wiederum häuig Folge allgemeiner Fehlernährung, sind ebenfalls nur dann zu diagnostizieren, wenn der Skelettstoffwechsel betroffen ist. Dies ist z. B. bei Vitamin-C-Mangel der Fall, da Vitamin C unverzichtbarer Kofaktor bei der Hydroxylierung der Aminosäure Prolin und damit für die Stabilität des Knochenmatrixkollagens erforderlich ist (Box 2.11). Das bei Vitamin-C-Mangel gebildete Defektkollagen ist weniger elastisch, so dass es aufgrund einer resultierenden „Gewebsbrüchigkeit“ zu Blutungen kommt (z. B. Zahnleischbluten), auch unter die Knochenhaut. Als Reaktion neugebildete, stark poröse Knochenaulagerungen inden sich daher bevorzugt in Gelenknähe, also an Orten hoher mechanischer Belastung (Abb. 2.30).
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Abb. 2.30 Porotische Hyperostose auf einem kindlichen Unterkiefer als Folge von Vitamin-C-Mangel, typischerweise in Gelenknähe lokalisiert
Box 2.11: Pathophysiologie des Vitamin-C-Mangels in Bezug auf die Kollagenbildung
Das für die Hydroxylierung der Aminosäure Prolin notwendige Enzym Prolyl-Hydroxylase ist an die Präsenz von molekularem Sauerstoff, Eisen und Ascorbinsäure (Vitamin C) gebunden. Es enthält in seinem aktiven Zentrum ein Fe2 + -Atom, dessen Oxidationsstufe für die Enzymaktivität wesentlich ist. Um das Eisen in seiner zweiwertigen Form zu erhalten, wird Ascorbinsäure als Kofaktor benötigt, welche als Reduktionsmittel wirkt und anfallendes Fe3 + durch Elektronenabgabe sofort wieder in den aktiven, zweiwertigen Zustand überführt. Sowohl bei Eisen- als auch Vitamin C-Mangel kann daher keine regelhafte Hydroxylierung des Prolins stattfinden, was zu einer mangelnden Stabilität der Kollagen I-Tripelhelix führt. Mit einem Körperpool von etwa 2000 mg Vitamin C und einem täglichen Bedarf von 60–70 mg manifestieren sich Vitamin-C-Mangelsymptome bereits nach einem bis drei Monaten einer Vitamin-C-freien Ernährung. Aufgrund der Sauerstoff- und Temperatursensitivität des Vitamins C ist ein Vitaminverlust von bis zu 50 % bereits nach nur zwei Tagen der Lagerung von Nahrungsmitteln möglich. Mangelzustände werden daher rasch erreicht. Vitamin-D-Mangel im Kindesalter führt zu den klassischen Symptomen der Rachitis – Verbiegungen der Skelettelemente durch unzureichende Mineralisierung. Neben der Ausbildung flächiger, poröser Knochenauflagerungen ist auch die Auswirkung auf die mikrostrukturelle Organisation des Knochens charakteristisch: Vitamin-D-Mangel führt zu einem niedrigen Serum-Calciumspiegel, welcher wiederum die Ausschüttung von Parathormon induziert. Dieses aktiviert die Osteoclasten,
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Prähistorische Anthropologie
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welche durch Knochenabbau den Serum-Calciumspiegel wieder anheben, aber charakteristische Resorptionslakunen im Knochen hinterlassen (vgl. Kap. 3.2). Alimentäre Erkrankungen wie Vitamin-C- und Vitamin-D-Mangel, oder auch Eisenmangelanämien, finden sich in der Regel gehäuft an Skelettfunden von Kleinkindern. Gemeinsam mit einer archäometrischen Rekonstruktion der Ernährungsweise (s. Kap. 2.3.5) konnte mehrfach gezeigt werden, dass überwiegend solche Kinder betroffen waren, welche gerade abgestillt wurden (Dittmann und Grupe 2000). Die Koinzidenz des Sterbegipfels im Kleinkindalter mit einer Akkumulation von Fehlernährungssymptomen an den Skeletten und dem Abstillzeitpunkt ist keineswegs zufällig. Während die Kinder noch gestillt werden, sind sie durch die Muttermilch sowohl in Bezug auf die Nährstoffe als auch in Bezug auf die passive Immunisierung gegenüber einer Vielfalt von Infektionen geschützt. Bekanntlich stellt der Entwöhnungszeitpunkt für Kleinkinder einen besonders risikobehafteten Lebensabschnitt dar, da sie in dieser Zeit besonders anfällig für Affektionen des Verdauungstraktes sind ( weanlingdiarrhea). Die anthropologische Diagnose kindlicher Skelettfunde gibt somit detaillierten Aufschluss über das Wohlergehen des nachwachsenden Teiles einer Population (Lewis 2007) – wesentlicher Parameter für deren weitere demografische Entwicklung. • Aufgrund der günstigen Überlieferungsaussichten von Zähnen (Dichte und Härte des Zahnschmelzes, Protektion des Dentins durch den Alveolarknochen) gehören die Erkrankungen der Zähne und des Zahnhalteapparates zu den am häuigsten diagnostizierten pathologischen Affektionen von Skelettfunden. Den Bevölkerungen der Steinzeit praktisch noch unbekannt, zählt die Karies heute mit mehr als 95 % Erkrankter in den westlichen Industrienationen zu den häuigsten „Zivilisationskrankheiten“. Der Zahnschmelz ist dem Mundhöhlenmilieu und damit auch gegebenenfalls saurem pH-Wert unmittelbar ausgesetzt. In Abhängigkeit von der Nahrungszusammensetzung und -verarbeitung und der Mundhygiene vergären Mikroorganismen in der Mundhöhle Kohlenhydrate zu Säuren, welche nach und nach zu einer bakteriell induzierten chemischen Demineralisierung des Zahnschmelzes führen. Der Beginn des Mineralverlustes (Initialkaries) äußert sich lediglich in Form einer Verfärbung der Zahnkrone (Schmelzleck). Der fortschreitende Mineralverlust betrifft zunächst nur die Schmelzschicht (Caries supericialis), setzt sich bis zum Dentin fort (Caries media) und zerstört schließlich die nervöse Versorgung des Zahnes (Caries profunda, Abb. 2.31). Da sich Zahnschmelz nicht regenerieren kann, führt Karies ohne therapeutische Behandlung letztlich zum Zahnverlust. Im Rahmen epidemiologischer Fragestellungen wird üblicherweise unterschieden zwischen der Kariesfrequenz (Anteil an Karies erkrankter Individuen einer Skelettserie) und der Kariesintensität (Anzahl erkrankter Zähne bezogen auf alle Zähne des Skelettkollektives) (Herrmann et al. 1990). Erkrankungen des Zahnhalteapparates werden als Parodontopathie bezeichnet und können massive Zerstörungen auch des Alveolarknochens mit anschließendem Zahnverlust hervorrufen. Die entzündliche Form (Parodontitis) wird mehrheitlich wie die Karies durch Bakterien (z. B. Streptokokken) hervorgerufen. Die nichtent-
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Abb. 2.31 Stadien fortschreitender Karieserkrankung. Vonlinksnachrechts: Caries superficialis, C. media, C. profunda, vollständig zerstörte Zahnkrone. (Zeichnung und Bildrechte: M. Schulz)
zündliche Degeneration des Zahnhalteapparates (Parodontose) ist dagegen Folge hoher physikalischer Belastungen des Gebisses (etwa Gebrauch von Zähnen als körpereigenes Werkzeug) oder auch von Parafunktionen wie z. B. dem Bruxismus (stressbedingtes Zähneknirschen). Das Ableiten von physischem oder psychischem Stress über die Zahnreihen kann auch bei nichtindustrialisierten Bevölkerungen häufig sein (Kaidonis et al. 1993). Dem mazerierten Kiefer ist es oft nicht mehr mit Sicherheit anzusehen, ob eine Parodontopathie entzündlichen oder nichtentzündlichen Ursprunges ist. Gegebenenfalls sind über spezielle Abriebmuster auf den Zahnkronen Aufschlüsse auf den Gebrauch von Zähnen als Werkzeug zu gewinnen. Bei Vorliegen von Parodontopathien ist bei der Sterbealtersbestimmung Erwachsener mit Hilfe der Zahnzementchronologie Vorsicht geboten, da das Desmodontium dysfunktional geworden sein kann. Nicht zuletzt können Erkrankungen des Zahnhalteapparates auch Folge anderer Grunderkrankungen, z. B. von Diabetes oder diverser Stoffwechselstörungen, sein. Transversale Schmelzhypoplasien (Abb. 2.32) entstehen als Folge von physiologischen Stresssituationen während der Zahnschmelzgenese und beruhen auf Fehlbildungen des Zahnschmelzes, welche nach Überwindung der Situation (z. B. Infektionserkrankung, Nahrungsmangel) als transversale Einkerbung der Zahnkrone persistieren. Da diese Wachstumshemmung der Zahnkrone unmittelbare Antwort auf eine anderweitige massive Belastung des noch jungen Organismus ist, kann anhand der Mineralisationszeiten für den Zahnschmelz der einzelnen Zahntypen durch Messung von der Schmelz/Zement-Grenze auf die Hypoplasie das Individualalter der Genese dieser Fehlbildung festgestellt werden (z. B. Goodman et al. 1980). Somit lassen sich wiederum solche Lebensalter erkennen, in denen die heranwachsenden Individuen besonderen Risiken ausgesetzt waren, wie z. B. das Abstillalter.
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Abb. 2.32 Transversale Schmelzhypoplasien
2.3.4
Paläodemografie
7 Proximates Ziel der Paläodemografie ist es, zum Verständnis der Lebensbedingungen prähistorischer Bevölkerungen beizutragen. Auf der ultimaten Ebene wird mit der Paläodemografie der Blick auf die adaptiven Strategien in der jüngeren menschlichen Evolutionsgeschichte gerichtet, deren Erfolg sich direkt in Sterblichkeit und Fertilität, zwei Kernbereichen der Demografie, niederschlägt. Ihre Erkenntnisse gewinnt sie mittels Rekonstruktion demografischer Parameter früherer Bevölkerungen auf der Grundlage von Skelettfunden. Voraussetzungen dafür sind valide Daten zum Sterbealter und Geschlecht der einzelnen Individuen und Kenntnisse über die Zusammensetzung der Skelettpopulation. Die Paläodemografie versucht, Informationen über Verteilungen, Entwicklung und Dichte früherer Bevölkerungen, von denen keine schriftlichen Quellen existieren, zu erlangen (Acsadi und Nemeskeri 1970; Bocquet-Appel und Masset 1985; Buikstra und Konigsberg 1985; Buikstra und Beck 2006; Bocquet-Appel 2008).
Damit aggregiert sie auf der Individualebene am Skelett erfasste Daten auf einer Bevölkerungsebene (zur Definition des Begriffs der Bevölkerung s. Kap. 3.3.1). Die Ausgangsdaten der Paläodemografie sind die an Skeletten erhobenen anthropo-
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Skelettfunde Individuelle Sterbealtersbestimmung
Individuelle Geschlechtsbestimmung
(morphologisch, histologisch)
(morphologisch, molekulargenetisch)
Bestattungssitten
Sonderbestattungen Individuenzahl Archäologische Gräberanalyse Alterszusammensetzung
Taphonomie Geschlechtszusammensetzung
Paläopathologie
Regionale Besiedlungsmuster
BEVÖLKERUNGSREKONSTRUKTION Sterbeverhältnisse Bevölkerungszusammensetzung Bevölkerungsdynamik Fertilitätsverhältnisse
Archäologische Siedlungsbefunde
Migrationsanalyse
Migrationsanalyse
(Stabile Isotope)
(Stabile Isotope)
Abb. 2.33 Für die paläodemographische Rekonstruktion der Skelettserie eines Gräberfeldes zu berücksichtigende Faktoren am Beispiel des Gräberfeldes Demircihüyük (vgl. Text). Die anthropologischen Analysen sind gerahmt. Das Zusammenspiel anthropologischer und archäologischer Daten ist von der jeweiligen Befundsituation abhängig und muss bei jeder paläodemographischen Rekonstruktion erneut konstruiert werden
logischen Merkmale. Ihre Aufgabe besteht dann darin, Kenntnisse über die demografischen Strukturen von Bevölkerungen und deren Dynamik zu gewinnen, die mit anderen Quellen nicht oder nur in Kombination mit den anthropologischen Daten erlangt werden können. Dies geschieht prinzipiell dadurch, dass die Gesamtzahl der untersuchten Individuen betrachtet wird und dabei grundsätzlich neue Erkenntnisse gewonnen werden können, die bei der Untersuchung auf der Individualebene allein nicht aufgezeigt werden können (Abb. 2.33). 7 Der Paläodemografie liegt eine biodemografische Ausgangsannahme zugrunde, nach der Bevölkerungen auf die Beschaffenheit ihres kulturellen und ökologischen Umfeldes mit demografisch messbaren Veränderungen reagieren.
Dies impliziert die Annahme, dass sich das Prinzip einer biologischen Antwort des Menschen auf Umweltbedingungen während der betrachteten Zeitspanne der letzten
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etwa 12.000 Jahre seit der Sesshaftwerdung des Menschen nicht geändert hat. Dieses Prinzip der Uniformität gilt als eine essentielle Annahme in der paläodemografischen Forschung (Howell 1976). Gerade biologische Lebenslaufprozesse wie Kindheitsentwicklung, fertile Altersspanne oder Alterung bedingen die demografische Struktur und Dynamik einer Bevölkerung. Damit spielt das Life-History-Konzept (vgl. Box 2.2) auch hier eine bedeutsame Rolle, wenn dieses auch bislang kaum explizit Beachtung in der Paläodemografie findet (Rocsandic und Armstrong 2011). Ähnliche Bedingungen, denen Bevölkerungen in der Vergangenheit ausgesetzt waren, führten, ebenso wie heute und in Zukunft, zu vergleichbaren Reaktionsmustern. Dies betrifft nicht nur die Zeitachse, sondern ebenso die lebensräumliche Vergleichbarkeit. Änderungen der Fertilität beispielsweise bewirken in einer Industriebevölkerung eine Veränderung der Alterszusammensetzung, die in ihrem Verlauf, nicht aber in ihrem Ausmaß, entsprechenden Prozessen in prähistorischen bäuerlichen Bevölkerungen vergleichbar ist. Einer dieser Aspekte betrifft die Sterblichkeitsverhältnisse einer Bevölkerung. Ist die Sterbealtersbestimmung eines Individuums vorgenommen worden (vgl. Kap. 2.3.3), so ermöglicht dieses Ergebnis zunächst einmal eine Aussage zu der Anzahl der Jahre, die diese Person in der zu betrachtenden Bevölkerung gelebt hat. Eine paläopathologische Analyse erschließt darüber hinaus mögliche Erkrankungen, die gesundheitliche Risiken darstellten, von dieser Person aber überlebt wurden. In seltenen Einzelfällen kann zu einer derartigen Morbiditätsanalyse zudem die Todesursache (Mortalitätsanalyse) und damit der ursächliche Faktor für die Begrenzung der Lebenslänge ermittelt werden (vgl. Kap. 2.3.3). Eine sorgfältige Analyse der vorhandenen Individualdaten stellt die erste und damit die Ausgangsebene der Paläodemografie dar. Es kann jedoch noch keine Antwort auf die Frage gegeben werden, ob diese Person ein im Verhältnis zu anderen Populationsmitgliedern unterschiedlich langes bzw. durch abweichende gesundheitliche Belastungen betroffenes Leben geführt hat. Dies setzt voraus, dass ein epidemiologisches Risikomodell der betreffenden Bevölkerung bekannt ist. Ein solches Modell unter Berücksichtigung der gegebenen Bedingungen zu erstellen, ist die zweite Ebene bzw. Aufgabenstruktur der Paläodemografie. Ist dies mit adäquaten Methoden erreicht, lässt sich das ermittelte Sterblichkeitsmuster beispielsweise hinsichtlich seiner alters- und geschlechtsspezifischen Sterberaten interpretieren. Dies kann als die dritte und komplexeste Ebene der Paläodemografie angesehen werden. Bei einer ökotoporientierten Betrachtung lassen sich damit Rückschlüsse auf belastende oder gesundheitsfördernde Umweltbedingungen (insbesondere Arbeits- und Ernährungsverhältnisse) ziehen. Eine geeignete Datengrundlage ermöglicht die Analyse der Bevölkerungsdynamik, das heißt ihrer Veränderungen in Zeit und Raum. Für die betrachtete Bevölkerung soll damit ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis prähistorischer Lebensmuster geleistet werden. Das für den Idealfall skizzierte Analysekonzept stellt jedoch ein theoretisches Konstrukt dar, welches in der praktischen paläodemografischen Analyse jedoch durch zahlreiche Problemfelder gekennzeichnet ist. Wenn sich auch die Paläodemografie an das Methodenrepertoire und die Fragestellungen der Demografie anlehnt, so differenziert sie sich doch von ihr in ganz entscheidenden Aspekten. Während die Demografie eine Bevölke-
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rung mit regionalen, politischen und/oder zeitlichen Grenzen betrachtet, fokussiert sie auf eine mit den Möglichkeiten der heutigen Bevölkerungsstatistik relativ klar zu umreißende Gruppe an Menschen. Ihr Forschungsgegenstand ist damit definiert. Allein hierin setzt sich die Paläodemografie von der Demografie ab. Ein verbindendes Kriterium charakterisiert die vorliegenden Skelettserien zumeist: Sie entstammen einem Gräberfeld, einem Siedlungsareal, einem durch den Ausgräber oder Bearbeiter definierten Raum. Welche Anteile demografisch definierter heutiger Bevölkerungen mit diesen Serien vorliegen, lässt sich allenfalls schätzen. Für die Paläodemografie gilt jedoch ein „takewhatyoucanget“. Neben den verfügbaren Überresten der Menschen selber sind Informationen jeglicher Art aus den archäologischen Wissenschaften, den Umweltwissenschaften und dergleichen wertvoll, um notwendige Randbedingungen für eine Bevölkerungsrekonstruktion, die direkte oder indirekte Hinweise liefern können, abzustecken.
2.3.4.1 Der zeitliche Forschungsrahmen Der zeitliche Forschungsrahmen, in dem sich die paläodemografische Forschung bewegt, wird einerseits durch die Verfügbarkeit der menschlichen Überreste und andererseits durch das Forschungskonzept eingegrenzt. Für eine Rekonstruktion demografischer Prozesse bedarf es einer Skelettserie, die einem Bevölkerungsanspruch (s. unten) gerecht wird. Die frühesten Bestattungskomplexe des anatomisch modernen Menschen im ausgehenden Paläolithikum umfassen lediglich einzelne bis wenige Individuen und erlauben auf dieser Grundlage noch keine Kalkulation von Gruppendaten. Indirekte Verfahren, wie beispielsweise die Analyse der Bedeutung von Symbolen und Idolen für die Gruppenidentität mesolithischer Jäger-Sammler-Gesellschaften, lassen zwar Rückschlüsse auf Gruppenmobilität und -zusammensetzung zu (Constandse-Westermann et al. 1984), sind jedoch aufgrund ihres Modellcharakters von Grundannahmen abhängig, die sich nur schwerlich belegen lassen. Paläodemografische Studien, die auf linguistischen, kulturellen, anthropologischen und archäologischen Daten aufbauten, verknüpfte Luigi Cavalli-Sforza mit genetischen Daten wie der Verteilung der Blutgruppen. Als einer der ersten Wissenschaftler entwarf er einen Zusammenhang zwischen der populationsgenetischen Zusammensetzung einer Bevölkerung mit ihren stammesgeschichtlichen Wurzeln und frühgeschichtlichen Wanderungsbewegungen. Daraus resultierten „genetische Landkarten“, welche überwiegend großräumige Verteilungs- und Ausbreitungsmuster von Genen über die Kontinente aufzeigten (Cavalli-Sforza 2000, 2004, vgl. Kap. 3.1). In den letzten Jahren hat die Paläopopulationsgenetik mit neuen methodischen Zugängen zunehmend Beiträge zur Paläodemografie geliefert und neue Aspekte, insbesondere um die Prozesse der Sesshaftwerdung in der Menschheitsgeschichte, in die Diskussion eingebracht (s. Box 2.12 sowie Kap. 2.3.5). Box 2.12: Die neolithische demografische Transition (NDT) (nach Bocquet-Appel und Bar-Yosef 2008)
Der Übergang von der aneignenden Lebensweise der mesolithischen JägerSammler/innen-Gruppen zur sesshaften und produzierenden Lebensweise des Neolithikums vollzieht sich zunächst im Fruchtbaren Halbmond des Vorderen
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Orients, später in Südost- und Zentraleuropa und in den anderen Weltregionen. Der Vergleich von Bevölkerungen, die sich in diesem Transitionsprozess befinden, deckt ein universelles Muster demografischer Prozesse auf, das als neolithische demografische Transition (NDT) bezeichnet wird. Es ist durch folgende Beobachtungen gekennzeichnet: 1. Die frühen sesshaften Gruppen zeigen einen abrupten und steilen Anstieg der Geburtenrate im Vergleich zu ihren Jäger-Sammler-Vorgängern, die aufgrund der mobilen Lebensweise hohe Geburtenintervalle hatten, aus der eine insgesamt geringere Kinderzahl resultierte. Der Anstieg der Geburtenrate ist in den Skelettpopulationen durch die Anzahl gestorbener Säuglinge und Kleinkinder zu erschließen, die bei natürlichen Populationen eine Bandbreite zeigt, die auch für neolithische Gesellschaften angenommen werden kann. Die Ursache für die Transition zu hohen Geburtenraten kann in biodemografischen Zusammenhängen gesehen werden: Die biologische Energiebilanz verändert sich mit der sesshaften Lebensweise. Die Nahrung wird kohlenhydratreicher und der zu Wanderungen und Kindertransport benötigte Energieaufwand entfällt (relativemetabolicloadmodel). Die Limitierung, dass nur jeweils ein Säugling oder Kleinkind bei den Wanderungen von der Mutter getragen werden kann, entfällt, und die Stilldauer der Säuglinge kann durch die neue Möglichkeit, Milch- und Getreidenahrung zu füttern, verkürzt werden. 2. Die Sterblichkeit steigt an. Indirekt lässt sich dies durch die ansteigenden Fertilitätsraten erschließen. Wäre diese durch gleich bleibende Mortalität begleitet, würde dies ein explosionsartiges Bevölkerungswachstum bedeutet haben. Dies zeichnet sich jedoch in einem derartigen Ausmaß weder in den archäologischen noch in den anthropologischen Daten des Neolithikums ab. Verschiedene Simulationen reinen vielmehr von einem Modell der NDT aus, in dem nach einem anfänglichen Fertilitätsanstieg Geburten- und Sterberaten simultan ansteigen und sich auf gleicher Höhe einpendeln. Der Anstieg der Sterblichkeit wird durch paläopathologische Befunde unterstützt, die gleichzeitig auf die Ursachen hinweisen. Es zeichnet sich ein Bild von Erkrankungen aufgrund ungünstiger hygienischer Verhältnisse ab, die zunehmende Bevölkerungsdichte in den Siedlungen fördert die Verbreitung von Parasiten und neuen Infektionskrankheiten, die durch engen Kontakt mit Hausvieh (Zoonosen) aufkommen. Mit der Neolithisierung steigen auch Mangelerkrankungen an, die auf qualitativ unzureichende Nahrungszusammensetzung zurückzuführen sind ( lessbalancedfoodmodel). 3. Die Bevölkerungszahlen steigen stetig, jedoch kontrolliert, an. Hierzu liefern die archäologischen Erkenntnisse der zunehmenden Siedlungsgrößen und die Entstehung von verdichtenden Tochtersiedlungen wie auch die neu entstandenen und sich vergrößernden Bestattungsplätze zahlreiche Hinweise. Dieses Phänomen ist mit der besonders schnellen zentraleuropäischen Verbreitung der neolithischen Lebensweise gut zu beobachten. Es lässt sich am ehesten mit einer auf autochthone Bevölkerung treffenden Kulturdrift erklären. Dies wird auch durch paläopathologische Befunde unterstützt. Die aktuellen Ergebnisse der Paläogenetik zeigen ein eher anderes Bild (vgl. Kap. 2.3.5), er-
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öffnen aber durch die unterschiedlichen Zugänge zu zahlreichen offenen Fragen der Neolithisierung die neue Betrachtung eines alten Problems. Vergleicht man die aktuellen paläodemografischen Modellannahmen der NDT mit dem demografischen Übergang, wie er sich in den letzten Jahrhunderten in den Industrieländern vollzogen hat, so stellt sich ein nahezu spiegelbildliches Muster dar, in dem die Abnahme der Mortalität der Abnahme der Fertilität folgt und sich auch hier ein Equilibrium einpendelt (vgl. Kap. 3.3.4). Ein Vergleich der Zeiträume, in denen sich die beiden Prozesse abspielen, erlaubt es, Fragen zu der Dynamik der NDT aufzugreifen. Einen guten interdisziplinären Überblick über die aktuelle paläodemografische Forschung zu dem weltweiten Phänomen der NDT liefert der Sammelband von Bocquet-Appel und Bar-Yosef (2008). Seit langem bereits sind mit Hilfe der genetischen Variationsbreite pleistozäne Bevölkerungszahlen geschätzt worden, indem die „effektive Populationsgröße“ mittels des Genpools und dessen zeitlicher und räumlicher Verbreitung auf der Basis des Wright-Fischer-Modells (vgl. Kap. 3.1) geschätzt wurde. Während die Schätzungen der weltweiten Individuenzahl auf der Basis der genetischen Daten, zunächst über Proteinpolymorphismen, für das Mittelpleistozän bei etwa 10.000 Menschen liegen (genetische wie auch archäologische Daten vermitteln eine massive Bevölkerungsexpansion im späten Pleistozän), zeigen die Kalkulationen auf der Basis der Bevölkerungsdichte als Effekt der Verfügbarkeit von Ressourcen ein ganz anderes Bild. Sie gehen von einer Population von etwa 350.000 Menschen aus (Hawks 2008). Hierin zeigt sich, wie divers die Betrachtungen ausfallen können – der Blickwinkel eines Demografen auf eine Bevölkerung ist ein völlig anderer als derjenige eines Evolutionsbiologen. Historiker oder Ökonomen beispielsweise zeichnen ein wiederum anderes Bild auf. Ihnen allen ist jedoch gemeinsam, dass die Bevölkerungsgröße ein direktes Maß für den Erfolg der Population darstellt, als Effekt einer biologischen Anpassungsgüte, einer Gesellschaftsform, eines Wirtschaftssystems (Bocquet-Appel 2008). Aufgabe der Anthropologie ist es, durch Bündelung der Erkenntnisse aus den Disziplinen in ein Gesamtkonzept einen Informationsgewinn zu erzielen, der über die Erkenntnisse in den jeweiligen einzelnen Fächern hinausgeht. Die eigentliche paläodemografische Forschung setzt erst für die prähistorischen Zeiten ein, in denen eine soziale Gruppe die intentionale Bestattung ihrer Mitglieder an tradierten Plätzen praktizierte. Die ältesten Fundkomplexe, bei denen dies möglich ist, treten im Natufium, der mesolithischen Kulturstufe im Küstenstreifen des östlichen Mittelmeeres, mit saisonalen Camps wie Ain Mallaha auf, die in das 12.–9. vorchristliche Jahrtausend datieren. Sie dokumentieren den Übergang von der aneignenden zur produzierenden Lebensweise des Neolithikums im 8.–5. Jahrtausend v. Chr., wie dies in den frühen Fundorten des präkeramischen Abu Hureyra oder Nahal Oren bereits vollzogen ist (Mellart 1975; Molleson 1994). Bestattungen werden dort zunächst in den Wohnbereichen angelegt, später, bei komplexer werdenden Siedlungsstrukturen, in separierte Bestattungsareale aus den Siedlungen ausgelagert. Mit der Sesshaftwerdung im Zuge der neolithischen Lebensweise werden die Verstorbenen in der Regel in nahe gelegenen Gräberfeldern bestattet
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und sind damit prinzipiell für die paläodemografische Forschung zugänglich. In der nahöstlichen Region des „Fruchtbaren Halbmondes“ finden sich auch hier die ältesten großen Fundkomplexe wie beispielsweise Çatal Hüyük in der heutigen Türkei, eine bereits im Neolithikum dicht besiedelte städtische Bevölkerungsagglomeration mit bis zu zehntausend Einwohnern (Shane und Küçük 1998). Gelegentlich werden auch nicht-intentionale Bestattungen für die paläodemografische Untersuchung zugänglich, wie bei dem neolithischen Fundkomplex von Talheim, bei dem die Einwohner einer Siedlung als simultane Opfer eines Überfalls gemeinsam verscharrt wurden (Wahl und König 1987; Price et al. 2006), oder den Einwohnern von Pompeji und Herculaneum, die im Jahr 79 Opfer eines Vulkanausbruchs des Vesuvs wurden (Mastrolorenzo et al. 2001). Solche Fundkomplexe sind hervorragend geeignet, Momentaufnahmen einer Bevölkerung zu dokumentieren, die anhand von sukzessiven Bestattungen in Gräberfeldern methodisch nur bedingt zugänglich sind. In Ausnahmefällen liegen durch epigrafische Aufzeichnungen, wie etwa anhand von römischen oder byzantinischen Grabmälern, exakte Geburts- und Sterbedaten einzelner Personen oder selektierter Bevölkerungsgruppen vor. Die paläodemografische Betrachtung früherer Bevölkerungen endet mit dem Auftreten demografisch verwertbarer Bevölkerungsaufzeichnungen, welche die paläodemografischen Möglichkeiten an Präzision und damit Aussagekraft übertreffen. Dies waren zunächst Geburts-, Heirats- und Sterbedaten aus Kirchenregistern, Hospitälern, Klöstern, Ortssippenbüchern, etc., die teilweise bis in das 16. Jh. zurückführen. Dieser als Historische Demografie bezeichnete Forschungszweig wird gleichermaßen von Geschichtswissenschaftlern, Demografen und Anthropologen aus verschiedenen Blickwinkeln in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt. Trotz der Problematik defekter Daten, mit denen auch die Historische Demografie konfrontiert ist, gelingen regionale Bevölkerungsrekonstruktionen, gekoppelt mit zum Teil sehr detaillierten Sozialstrukturanalysen (z. B. Imhof 1986, 1995). Besonders zu erwähnen sind generelle evolutionsbiologische Erkenntnisse, die über eine reine regionale Bevölkerungszusammensetzung hinaus mit Methoden der Historischen Demografie gewonnen werden können und Aussagen über die geschlechtsspezifische Lebenserwartung oder differentielle Fertilität erlauben (Luy 2002a, 2009; Voland 1998, 2007; Voland und Engel 2000). Mit der flächendeckenden Einführung der amtlichen Statistik wird auch der historisch-demografische Forschungsansatz zur reinen Bevölkerungsrekonstruktion obsolet, die nun verfügbaren Daten sind ungleich präziser und umfassender. Die moderne Demografie entwickelt für die Erfassung der Bevölkerungsprozesse ein umfangreiches und auf die Datenlage zugeschnittenes Methodenrepertoire (vgl. Kap. 3.2).
2.3.4.2 Entwicklung der Paläodemografie Eingeleitet wurde die paläodemografische Forschung durch den Paradigmenwechsel der typologischen Betrachtung in der frühen Anthropologie zu einem populationsgenetischen Forschungskonzept in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts (vgl. Kap. 2.3.1, 3.1). Dadurch, dass nun die biologische Variabilität einer Gruppe zur Interpretationsgrundlage wurde, stand der Weg offen für das paläodemografi-
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sche Konzept in seiner interdisziplinären Definition. Allgemein wird die Begründung der paläodemografischen Forschung mit den Arbeiten Lawrence Angel’s verbunden, der mit Berechnungen der Lebenserwartungen im alten Griechenland das Konzept der Sterbetafelberechnung in die Paläodemografie integrierte (Angel 1947, 1953, 1969). Er führte damit die von Braidwood und Howe (1960) in die Archäologie eingebrachte ökosystemorientierte Betrachtung prähistorischer Bevölkerungen parallel in die anthropologische Forschung ein. Methodische Grundlagen wurden der jungen Wissenschaft durch das gemeinsame Werk eines Demografen und eines Anthropologen (Acsadi und Nemeskeri 1970) bereitgestellt (s. Koenigsberg und Frankenberg 2002; vgl. Hoppa 2002 für einen ausführlichen Überblick über die Geschichte der Paläodemografie). Die kritischen Anmerkungen der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts betrafen insbesondere die Problematik der makromorphologischen Sterbealtersbestimmungen (Bocquet-Appel und Masset 1982), die zunächst unüberwindbar schien (vgl. Kap. 2.3.2). Die Autoren zeigten anschaulich, dass die jeweils erzielte Altersverteilung einer untersuchten Skelettserie diejenige der Referenzstichprobe widerspiegelt, an der die angewandte Methode entwickelt wurde. Die Unzulänglichkeiten der Zusammensetzung von Referenzpopulationen, oft altersselektierte Pathologiestichproben, werden für diese Störeffekte verantwortlich gemacht. Eine Regression zur Mitte hin – jüngere Erwachsene werden zu alt und senile Individuen zu jung geschätzt – war dabei eine der wichtigsten Erkenntnisse, die den kritischen Blick auf die Paläodemografie geschärft haben. Im Zuge dieser Diskussion erwies sich, dass diese stichhaltigen Argumente nicht entkräftet werden konnten (VanGerven und Armelagos 1983; Buikstra und Konigsberg 1985; Bocquet-Appel und Masset 1985). Eine nahezu vollständige Unterbrechung der paläodemografischen Forschung für ein Jahrzehnt war die Folge. Parallel dazu wirkte weiterhin die Kritik seitens der Demografen, dass Paläodemografen über zu wenig Kenntnisse der formalen Demografie verfügten sowie die von ihnen betrachteten Skelettserien zu klein und damit nicht repräsentativ für eine reale Bevölkerung seien (Petersen 1975). Wenn auch diese Kritik aus demografischer Sicht durchaus berechtigt war, so änderte dies nichts an der zugrunde liegenden Materialzusammensetzung und -beschaffenheit, sondern trug zu einer weiteren Lähmung des Forschungsgebietes bei. Erst seit Mitte der neunziger Jahre scheint ein Durchbruch dahingehend gelungen zu sein, dass hinsichtlich des limitierenden Faktors, der Materialbeschaffenheit, neue realistische Arbeitsziele entwickelt werden. Der adäquate Umgang mit den im demografischen Sinn defekten Daten sowie das Bemühen um verbesserte Methoden der Datengewinnung an den vorhandenen Skelettserien stehen seitdem im Vordergrund der paläodemografischen Forschung. Die aktuelle Forschungssituation hat damit wieder eine Arbeitsgrundlage gewonnen, welche sich insbesondere in der interdisziplinären Annäherung an die Paläodemografie (Milner et al. 2000; Hoppa 2002; Chamberlain 2006; Bocquet-Appel 2008) mit zahlreichen Aktivitäten dokumentiert. Der international renommierte französische Paläodemograf Jean-Pierre Bocquet-Appel, der 1982 ein „FarewelltoPaleodemography“ proklamierte (Bocquet-Appel und Masset 1982), zeigt inzwischen diesen Paradigmenwandel auf: „It istobehopedthatfollowingtheIUSSPmeetings (25. World Population Congress
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Prähistorische Anthropologie
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2005, Tours; Anm. d. Aut.), othervolumeswillbepublishedonpaleodemography, reportingonprogressinanactivefieldofresearchaswellasontheemergenceof aconsensusonmethodologiesandproblematic,becauseitseemsthatthetimehas cometotacklethereconstructionoftheDemografichistoryofourglobalvillage.“ (Bocquet-Appel 2008)
2.3.4.3 Was sagt eine vorliegende Skelettserie über die zugrunde liegende Bevölkerung aus? Die prähistorische Anthropologie erfasst mit ihren aus dem archäologischen Kontext vorliegenden Skelettserien nur einen Teilausschnitt aus der Bevölkerung eines definierten Raumes und einer definierten Zeitspanne. Diese Skelettkollektive unterliegen Selektionskriterien, die in unterschiedlichem Maße wirken können. Nicht jeder Person, die in einer betrachteten prähistorischen Gesellschaft gelebt hat, kommt die gleiche Wahrscheinlichkeit zu, für eine paläodemografische Untersuchung zur Verfügung zu stehen. Aber wie können wir den Selektionsprozess verstehen, der dazu führt, dass nur ein Ausschnitt einer prähistorischen Bevölkerung zur paläodemografischen Untersuchung vorliegt? In Anlehnung an Milner et al. (2000) wird im Folgenden am Beispiel einer prähistorischen Siedlungsgemeinschaft gezeigt, wie komplex die auf eine Bevölkerung wirkenden Auswahlfaktoren sein können. Sie zeigen einerseits, dass es nicht gelingen kann, die Selektionskriterien pauschal für alle Skelettserien anzunehmen, noch, dass es generell möglich ist, Standardmethoden zur Schätzung fehlender Bevölkerungsanteile anzuwenden (Box 2.13). Box 2.13: Die fünf Stadien der paläodemografischen Selektion
1. Übergangsstadium Leben – Tod: Nahezu jede Bevölkerung stellt ein offenes dynamisches System dar, in das neue Mitglieder verschiedenen Geschlechts und unterschiedlichen Alters zu verschiedenen Zeiten aufgenommen werden, die nicht lebenslang zur Bevölkerung zu zählen sind. Analog gilt dies auch für abwandernde Personen, die nach ihrem Tod in der Regel nicht in ihrem Herkunftsort, sondern in ihrem letzten Wohnort bestattet werden. Sie stehen in dem betrachteten Siedlungsgräberfeld dann nicht zur Verfügung, obwohl sie eine gewisse Anzahl von Jahren zur Bevölkerung zählten. Das Ausmaß der dadurch entstehenden Verzerrungen ist abhängig von der Höhe des Migrationsaufkommens und des Migrationssaldos (vgl. Kap. 3.3). Quantitativ ist diese Fehlerquelle praktisch nicht zu ermitteln, wenn auch die Archäometrie mit der Analyse stabiler Isotope wertvolle Hinweise auf die Wanderungstätigkeit früherer Bevölkerungen liefern kann (vgl. Kap. 2.3.5). 2. Übergangsstadium Tod – Bestattung: Die kulturellen Traditionen der betrachteten Bevölkerung tragen maßgeblich dazu bei, welche ihrer gestorbenen Mitglieder in dem gemeinsamen Kontext eines Gräberfeldes bestattet werden. Diejenigen Mitglieder einer Bevölkerung, denen aus unterschiedlichen Gründen eine andere Behandlung nach dem Tod zuteil wurde, liegen ebenfalls häufig nicht in dem Skelettkollektiv vor. Wie ausgeprägt dieses Phänomen ist, zeigt sich insbesondere bei Fällen, in denen diese Sonderbestattungen
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aufgefunden wurden. Beispielsweise diente die Bestattung ungetaufter Kinder, meist Säuglinge, unterhalb der Dachtraufen christlicher Kirchen durch das vom Kirchendach herablaufende und damit geweihte Regenwasser in verschiedenen Regionen Mitteleuropas als nachträgliche Segnung. Neben diesen Traufbestattungen (Ulrich-Bochsler 1997, 2002; Wittwer-Backofen 1998) finden sich Kindergräber in Gruben bronzezeitlicher Wohnhäuser oder in eigenen Gräbergruppen an Siedlungsmauern, etc. Neben den zahlreichen Dokumentationen von Sonderbestattungen aus historischem Kontext (Wahl 1994) liefert die ethnografische und frühneuzeitliche Beschäftigung mit dem Tod (Herrmann 2003; Illi 1992; Descœudres et al. 1995; Ariès 1997) einen Eindruck der Bandbreite von Bestattungssitten, mit denen auch in historischen Bevölkerungen gerechnet werden muss. Aber nicht nur der Bestattungsplatz spielt als Selektionskriterium der Überdauerung eine Rolle, sondern auch die Bestattungsweise. Die unterschiedlichen intentionellen Behandlungen des Leichnams (Mumifizierung, Leichenverbrennung, Sarg-, Topfbestattungen, etc.) führen zu unterschiedlicher Repräsentanz in der Gesamtserie (vgl. Kap. 2.3.1). Dadurch wird deutlich, welcher Art die Verzerrungen der Geschlechts- und Alterszusammensetzung sein können, wenn derartig sonderbestattete Tote aus dem Komplex der regulär im Gräberfeld und somit zur Untersuchung vorliegenden Bestatteten ausfallen. Für das am häufigsten beobachtete Phänomen der unterrepräsentierten jüngsten Altersklassen hat sich der Begriff des Kinderdefizites etabliert. 3. Übergangsstadium Bestattung – Ausgrabung: Die umgebungsbedingten Dekompositionsprozesse des Leichnams an seinem Bestattungsplatz (s. Kap. 2.3.2) sind ein in hohem Maße ausschlaggebendes Selektionskriterium für die Zusammensetzung der Skelettkollektive. Für das schon genannte Kinderdefizit werden in der prähistorischen Anthropologie bereits seit langem die Lagerungsbedingungen im Boden verantwortlich gemacht: Die feinen und weniger dicht mineralisierten Knochen von Säuglingen und Kleinkindern sind durch ein aggressives Umgebungsmilieu stärker gefährdet als die widerstandsfähigeren Knochen Erwachsener und reagieren abhängig von der Knochenbeschaffenheit, die aufgrund von Pathologien variieren kann, wiederum unterschiedlich (Bello et al. 2006; Bennike et al. 2005). Oberflächennahe Grabanlagen kleiner Kindergräber, die peripheren Grablegen von Frauen oder Angehörigen bestimmter sozialer Gruppen können beispielsweise durch Bodenerosionsprozesse, bodenchemische Prozesse oder Bodenorganismen derart reduziert werden, dass eine Verzerrung der Gruppenzusammensetzung resultiert. Eine möglichst umfassende taphonomische Analyse, wie sie in archäometrischen Verfahren angewandt wird (vgl. Kap. 2.3.5), kann zumindest einen qualitativen Eindruck der abgelaufenen Prozesse vermitteln. 4. Übergangsstadium Ausgrabung – anthropologische Analyse: Dem Selektionsprozess durch die Veränderung des Knochengewebes durch das Liegemilieu im Boden schließt sich derjenige durch den Ausgrabungsprozess an.
2.3
Prähistorische Anthropologie
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Unterschiedliche Grabungstechniken und Qualifikationen der Ausgräber tragen dazu bei, dass Individuen bei gleich stark reduziertem Erhaltungszustand in einem bestimmten Gräberfeld erfasst werden, in einem anderen jedoch nicht. So kann beispielsweise die Dokumentation eines Kinderskelettes von der Bergung der allein überdauernden Zahnkronen abhängen (die bei ungeübter Vorgehensweise übersehen werden können) oder Bodenverfärbungen durch Leichenschatten bei vollkommenem Abbau der Knochen (vgl. Kap. 2.3.2) fehlinterpretiert werden. Durch Optimierung von Grabungstechniken (Kunter 1990) sowie die intensive und aktive Beteiligung der Anthropologie bei der Planung und Durchführung der Ausgrabungen von Gräberfeldern hat sich dieses Problem jedoch in den letzten Jahren reduzieren können. 5. Übergangsstadium anthropologische Analyse – paläodemografische Interpretation: Ist ein Individuum durch Skelettüberreste repräsentiert und liegt damit zur anthropologischen Untersuchung vor, sind nicht alle daraus zu extrahierenden biologischen Informationen gleichwertig. Vielmehr sind diese direkt von dem Erhaltungszustand abhängig. Ist daher der allgemeine Erhaltungszustand einer Skelettserie vergleichsweise günstig, lassen sich die anthropologischen Informationen sowohl häufiger als auch mit höherer Präzision ermitteln als bei einer ungleich stärker von der Diagenese betroffenen Vergleichsserie. Paläodemografisch ermittelte Schätzwerte wie Sterbewahrscheinlichkeiten lassen sich dann nur bedingt vergleichen. Über die Variabilität der Datenqualität hinaus ist die methodenbedingte Fehlbestimmung noch kritischer zu betrachten. So birgt beispielsweise die Verschiebung eines Sterbemaximums durch systematisch zu niedrige Altersbestimmungen bei stark fragmentiertem Skelettmaterial Erwachsener eine Gefahr der Fehlinterpretation. Fazit: Da die paläodemografische Forschung eine Rekonstruktionsabfolge darstellt, an deren Ende als Ziel Erkenntnisse über die zugrunde liegende Lebendbevölkerung stehen, ist sie gefordert, die jeweils unterschiedlichen Bedingungen, der jede einzelne Skelettserie ausgesetzt ist, möglichst exakt zu rekonstruieren. Nur mit ausreichender Kenntnis der postmortal abgelaufenen taphonomischen Prozesse ist der vorliegende Bevölkerungsausschnitt sinnvoll zu interpretieren. Der Einfluss der hier beschriebenen Stadien wird aus dem Resultat, dem vorliegenden Skelettmaterial und seinem Erhaltungszustand, retrospektiv erschlossen.
2.3.4.4 „Defekte Daten“ – Möglichkeiten zur Bestimmung des Fehlbestandes Bei der Beurteilung einer prähistorischen Skelettserie ist die Abschätzung des durch Selektion verursachten Fehlbestandes ein wesentlicher Aspekt. Bevor daher paläodemografische Parameter ermittelt werden können, die eine Bevölkerungsaussage erlauben, muss zunächst die Zusammensetzung der Skelettserie auf ihre Plausibilität hin geprüft werden. Dies erfolgt üblicherweise, indem die Altersverteilung der Gestorbenen überprüft wird. Welche Rahmenbedingungen sind aber für eine prähistorische Bevölkerung anzunehmen? Wie niedrig kann unter günstigen Lebensbedingungen die Kindersterblichkeit in einer nicht modern-medizinisch betreuten
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Bevölkerung liegen? Oder wie stark kann sie unter ungünstigen Hygiene- und Ernährungsverhältnissen ansteigen? Von der angenommenen Spannweite dieser und weiterer Werte ist die Beurteilung eines Fehlbestandes in einer unbekannten Skelettserie abhängig. Unter Berücksichtigung der Uniformitätsregel (s. oben) muss demnach mit geeigneter Methodik versucht werden, die demografischen Charakteristika einer Bevölkerung zu bewahren. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Kenntnis der Variabilität menschlicher Bevölkerungsstrukturen. Diese Kenntnis erlaubt das Abstecken von Grenzwerten, im Rahmen derer sich die demografischen Daten jeder Bevölkerung bewegen. Solche Rahmenbedingungen der Paläodemografie können nur aus Analogieschlüssen der gut untersuchbaren Prozesse in heutigen Bevölkerungen vorgegeben werden, deren demografische Daten erfasst sind und die als Modellbevölkerungen fungieren. In der demografischen Forschung, die mit ähnlichen Problemen „defekter Daten“ in Entwicklungsländern umzugehen hat, ist eine Reihe von Modellsterbetafeln entwickelt worden, mit Hilfe derer eine Plausibilitätsschätzung der Alterszusammensetzung erfolgen kann (Brass 1975; United Nations 1983; Coale und Demeny 1983; Ledermann 1969). Versuche, diese für die Schätzungen der präindustriellen paläodemografischen Populationen anzuwenden, scheiterten jedoch aus dem folgenden Grund: Da heutige Bevölkerungen, insbesondere diejenigen der Industriestaaten, im Laufe des letzten Jahrhunderts eine als „demografische Revolution“ bezeichnete (vgl. Kap. 3.3) und in der Geschichte der Demografie nie da gewesene Entwicklung durchgemacht haben, sind sie als Modellbevölkerungen für die von diesem Phänomen nicht betroffenen historischen Bevölkerungen nur bedingt einsetzbar (Bocquet-Appel 1977). Die Bandbreite paläodemografischer Daten wird daher durch eine Auswahl rezenter Jäger-Sammler-Bevölkerungen, kleiner Isolatbevölkerungen, Populationen aus Entwicklungsländern, Bevölkerungen aus Lebensräumen mit Extrembedingungen und bekannten historischen Bevölkerungsstrukturen definiert, die diesen modernen Trend noch nicht zeigen. Diese allerdings erlauben lediglich die grobe Einschätzung allgemeiner Kriterien wie die Lebenserwartung bei Geburt oder die Sterblichkeitsrate von unter 5jährigen. Erstmalig von Weiss (1973) sind speziell für die Bedürfnisse der Paläodemografie Modellsterbetafeln entwickelt worden, deren aktuellste Weiterentwicklung dieses Dilemma berücksichtigt, indem sie a) eine ausreichend große chronologische und räumliche Bandbreite einschließen, b) gut definierte und verlässliche anthropologische Indikatoren als Eingangsparameter verwenden, und c) Bevölkerungswachstum in Betracht ziehen. Sie lassen die Bestimmung der altersspezifischen Lebenserwartung und Sterbewahrscheinlichkeit sowie der Anzahl der Gestorbenen und der Überlebenden mit den jeweiligen Konfidenzintervallen zu und bieten hierzu die dynamische Modellierung nach archäologischen Vorgaben an (Séguy et al. 2008). Wenn auch die frühen Modellsterbetafeln heute in der Paläodemografie obsolet geworden ist, so sind doch aus diesen ersten Annäherungen eine Reihe von Testformeln entwickelt worden, die spezifisch auf die Repräsentanzschätzung von Säug-
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Tab. 2.9 Modelle zur Repräsentanzschätzung der Skelettpopulation Demircihüyük und ihre Testformeln Demografischer Parameter Berechnung Sollwert Wert Demircihüyük 1. quant.Verhältnis der 5–9jäh>2 2,1 d5−9 d10−14 rigen zu den 10–14jährigen (Masset 1973) 2. quant.Verhältnis der 5–14jäh- d5−14 > 0,1 0,18 d20−x rigen zu den Erwachsenen (Bocquet und Masset 1977) 3. quant.Verhältnis der Säug1,3–4 0,09a d 0). Dieses Ungleichgewicht ändert sich aber bei einer stabilen Bevölkerung nicht. Kann daher für eine prähistorische Skelettserie die Reproduktionsrate, die Anzahl überlebender geborener Mädchen pro Frau, verlässlich geschätzt werden, lässt sich unter Verwendung der Funktionen einer Modellsterbetafel (z. B. Coale und Demeny 1983; Modelle West oder Séguy et al. 2008) eine Geburtenrate bestimmen, aus der wiederum ein Wert für die Lebenserwartung bei Geburt ermittelt werden kann (McCaa 2002). Als statistische Anforderungen an eine paläodemografische Bevölkerungsrekonstruktion müssen daher in diesem Fall gefordert werden: Die beobachteten Sterbefälle innerhalb der definierten Altersklassen müssen einer definierten Zeitperiode zugeordnet werden können, und die Anzahl der von allen Bevölkerungsmitgliedern gelebten Jahre in den Altersklassen muss bekannt sein. Dies sind jedoch in der Regel nicht erfüllbare Bedingungen. Ein befriedigender Ausweg aus diesem paläodemografischen Dilemma ist bisher nicht in Sicht. Vorschläge zur Modellierung von Wachstumsraten und damit Annäherungen an die geforderte Datenlage liegen beispielsweise von Milner et al. (2000) vor. Mit der Skelettpopulation des Libben Site aus den Eastern Woodlands der USA wurde eine der ersten Modellierungen der Bevölkerungsdynamik mit neueren Methoden vorgestellt. Die Bevölkerung lebte in einer dauerhaften Siedlung über eine Zeitspanne von etwa 10 Generationen vom 8. bis 11. Jh. am Flussufer der sumpfigen Woodlands vom Fischfang und der Fallenjagd auf Wasservögel und Kleinwild. Im Nahrungsspektrum war neben Fisch insbesondere die Bisamratte sehr beliebt, wie sich durch Auswertungen von Abfallgruben zeigte. Rund 1300 Bestattungen
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wurden in der Siedlung vorgenommen, ein separater Friedhof wurde nicht angelegt. Meindl et al. (2008) konnten mittels Vergleichsbevölkerungen, die keine Kontrazeptiva anwenden, Fertilitätsmodelle für Libben schätzen, wobei auch der für prähistorische Bevölkerungen viel diskutierte und in ethnografischen Vergleichen vielfach nachgewiesene Infantizid berücksichtigt wurde. Das Modell zeigt für die Geburtenrate TFR (vgl. Kap. 3.3.3) zwischen 5,5 und 7 Kinder pro Frau auf, dazu einen angenommenen Infantizid, der 6–9 % aller Geburten, insbesondere Mädchen, betrifft. Die Nettoreproduktionsrate (Anzahl Töchter pro Frau), je nach Modell zwischen 1,15 und 1,98 kalkuliert, lässt bei einer Lebenserwartung von 23 bis 31 Jahren ein moderates, stabiles Bevölkerungswachstum annehmen. Die daraus resultierende Bevölkerungsstruktur ist durch einen hohen Anteil von 45–51 % an unter 15jährigen gekennzeichnet, und das Durchschnittsalter liegt mit 18–20 Jahren nur geringfügig höher. Ein Novum in der Paläodemografie ist die weitere Lebenserwartung im Alter von 15 Jahren welche für die Frauen im Vergleich zu den Männern um 2–4 Jahre höher ausfällt – ein Effekt hochaltriger Frauen. Männer sind in dem betreffenden Alter von über 60 Jahren kaum noch vertreten (Meindl et al. 2008). Derartige hier formulierte Modellvorstellungen können, sofern sie konsequent für Bevölkerungen in unterschiedlichem Lebensumfeld appliziert werden, für die Anthropologie eine wertvolle Basis für das Verständnis mikroevolutiver Prozesse liefern. Mit den hier aufgezeigten Beispielen lässt sich anschaulich zeigen, dass die anthropologischen und archäologischen Daten, die Hinweise auf die prähistorische Bevölkerung liefern, als das Resultat bevölkerungsstruktureller Vorgänge in der Vergangenheit angesehen werden können, die einer Fülle von zwischenzeitlich abgelaufenen Selektionskriterien ausgesetzt waren. Die Anthropologie benötigt daher Modelle, um mit den vorliegenden Daten eine demografische Aussage treffen zu können. Derartige Modelle stellen jedoch immer Annahmen von Bevölkerungsprozessen dar, die sich aus der Beobachtung nachvollziehbarer Abläufe in modernen Bevölkerungen speisen. Ihre Applikation auf prähistorische Bevölkerungen wird somit immer eine Interpretation sein, die mit einem entsprechenden Unsicherheitsfaktor behaftet ist. Auf diese aufmerksam zu machen, jedoch auch die Modelle zu präzisieren und adäquat anzuwenden, wird auch weiterhin eine Herausforderung der Paläodemografie bleiben.
2.3.5
Archäometrie
Archäometrie macht Spaß. Dies liegt an der besonderen Platzierung dieses Arbeitsfeldes zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Denn die Archäometrie umfasst das gesamte Gebiet des Einsatzes naturwissenschaftlicher Methoden in der kulturhistorischen Forschung, besonders in der Archäologie. Neueste Technologien und komplizierte Meßmethoden werden heute herangezogen, um Ergebnisse zu erzielen, die mit rein geisteswissenschaftlichen Methoden nicht oder nicht so eindeutig gewonnen werden können. (Mommsen 1986)
Treffender als es Mommsen (1986) im Vorwort zu seiner klassischen Einführung in die Archäometrie ausdrückt, kann man das Arbeitsfeld der Archäometrie, der
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naturwissenschaftlichen Untersuchung von Sachüberresten (Hauptmann und Pingel 2008) kaum beschreiben. 7 Der Einsatz naturwissenschaftlicher Methoden zur Klärung auch primär kulturwissenschaftlicher Fragen betrifft in besonderem Maße die prähistorische Anthropologie,
stellt sich doch nach der Erhebung des Individualbefundes und der Verknüpfung der Individualdaten zu Kollektivdaten, welche frühe menschliche Bevölkerungen charakterisieren, jetzt unweigerlich die Frage nach den Ursachen von Bevölkerungsentwicklungen in Raum und Zeit. Zahlreiche der bereits in Kap. 2.3.3 aufgeführten Aspekte der ökologischen Einnischung, der habitatspezifischen Subsistenzstrategie, der Krankheitsbelastung, genealogischer Zusammenhänge und Migrationsereignisse sind nur bedingt oder gar nicht auf der makro- und mikroskopischen Diagnoseebene erschließbar, jedoch können unter Einsatz geeigneter Methoden viele dieser Fragen mittels der Untersuchung der Skelettfunde auf der molekularen, submolekularen und kristallinen Ebene hinreichend beantwortet werden. Tatsächlich sind ganze Kapitel individueller und kollektiver Lebensgeschichte in der stofflichen Zusammensetzung des Skelettes niedergelegt, welche jedoch der Entschlüsselung bedürfen. Während das Arbeitsgebiet der Archäometrie traditionell in die Bereiche Prospektion, Materialanalyse und Datierung gegliedert wird (Mommsen 1986), soll an dieser Stelle aufgrund der Tatsache, dass das Untersuchungsgut im Wesentlichen bis ausschließlich aus Skelettfunden besteht, auf die verschiedenen Stoffklassen der mineralisierten Hartgewebe und deren spezifischen Informationsgehalt eingegangen werden. Strenggenommen gehören auch die radiologische Inspektion und die Untersuchung der Funde auf der mikro- und ultrastrukturellen Ebene mittels diverser licht- und elektronenoptischer Methoden zu dem Methodenkanon der Archäometrie. Sie sind jedoch häufig schon auf der Ebene der Individualdiagnose und Identifikation des Fundes unabweisbar (s. Kap. 2.3.3), so dass sie mehrheitlich bereits routinemäßig zur Anwendung kommen. Obgleich Skelettfunde auch direkt datiert werden (z. B. mittels 14C-Datierung), gehört die Datierung der Funde dagegen traditionell in das Arbeitsgebiet der Geochronologie und nicht in den Zuständigkeitsbereich der prähistorischen Anthropologie. Für sämtliche archäometrischen Applikationen an bodengelagerten Skelettfunden gilt, dass das jeweilige Zielmolekül (Kollagen, DNA) oder die Mineralfraktion (Carbonat, Apatit) auf seine Integrität geprüft werden muss. Da sich sämtliche Funde in einem mehr oder weniger fortgeschrittenen Dekompositionszustand befinden, ist stets mit einer Degradation der zu untersuchenden Stoffklasse zu rechnen bzw. mit zum Teil erheblichen Kontaminationen durch mikrobielle Biomasse (s. Kap. 2.3.2) oder andere allochthone Substanzen aus dem Liegemilieu. Die Validität archäometrischer Ergebnisse ist damit vor allen Dingen von der möglichst exakten Definition der aus den Funden extrahierbaren Stoffgruppe und einer erfolgreichen Dekontamination abhängig. Keinesfalls eignet sich das Untersuchungsgut der prähistorischen Anthropologie für Routineverfahren an frischem Material. Für die erforderlichen Qualitätskriterien, wie auch in Bezug auf die jeweiligen techni-
2.3
Prähistorische Anthropologie
139
schen Verfahren, existiert eine Fülle von Spezialliteratur, auf welche an dieser Stelle verwiesen werden muss. Im Folgenden soll daher lediglich auf die wesentlichen Stoffklassen und deren Informationspotential bezüglich der anstehenden Fragestellungen eingegangen werden. Es bedarf aber der Betonung, dass angesichts der Interdisziplinarität der prähistorischen Anthropologie sehr hohe Erwartungshaltungen bezüglich moderner Technologie bei den involvierten Kulturwissenschaftlern geweckt werden, die substratbedingt nicht immer auch befriedigt werden können. Dekompositionsbedingt sind Fehlergebnisse oder fragliche Ergebnisse nicht unbedingt selten – es gehört zu den wichtigen Aufgaben der Archäometrie, das native biologische Signal sorgfältig von einer Fülle potentieller falsch-positiver Signale zu trennen.
2.3.5.1
Paläoökosystemanalyse mittels stabiler Isotope leichter Elemente (H, C, N, O, S) Die Erschließung menschlicher Bevölkerungsentwicklung in Zeit und Raum bedarf insbesondere für frühe Zeiträume detaillierter Informationen über die naturräumlichen Bedingungen, unter denen die Bevölkerungen ihre jeweilige ökologische Nische erschließen konnten. In Abhängigkeit von paläoklimatischen Parametern wie z. B. der Jahresdurchschnittstemperatur oder Niederschlagsmenge, von paläoökologischen Parametern wie z. B. der Bewaldungsdichte sowie des Floren- und Faunenspektrums, entwickelten die Menschen ihre habitatspezifischen Subsistenzstrategien wie Jagen, Sammeln, Fischen und später auch die Domestikation bestimmter Tier- und Pflanzenarten. Bei dauerhafter Besiedlung einer Region und bei Erreichen einer bestimmten menschlichen Populationsdichte ergeben sich in der Folge anthropogene Beeinflussungen der naturräumlichen Standorte, welche langfristig in die Schaffung anthropogener Ökosysteme mündeten. In den Verhältnissen stabiler Isotope der leichten Elemente Wasserstoff (H), Kohlenstoff (C), Stickstoff (N), Sauerstoff (O) und Schwefel (S), welche im Kollagen bzw. Apatit von Skelettfunden auch nach langer Liegezeit konserviert sein können, spiegeln sich sämtliche oben angeführte paläoökologisch relevanten Parameter wider. 7 Archäologische Skelettfunde von Menschen und, wie zu zeigen ist, in diesem Falle unabweisbar auch Tieren, sind somit das geeignete Substrat, regionalspezifische Paläoökosysteme mit deren Vernetzungen zwischen Flora und Fauna (einschließlich des Menschen) und bei entsprechender zeitlicher Stratifizierung auch deren Wandel und die Ursächlichkeit dieses Wandels zu rekonstruieren.
Als Isotope werden Elemente gleicher Ordnungszahl mit einer unterschiedlichen Anzahl von Neutronen im Kern bezeichnet. (Der Name leitet sich von iso und topos ab, da alle Isotope eines Elementes den gleichen Platz im Periodensystem der Elemente einnehmen.) Die Mehrzahl der Isotope unterliegt radioaktivem Zerfall (z. B. 14C), die wenigsten natürlichen Isotope sind stabil mit einer unendlichen Lebensdauer. In der Ökologie dienen stabile Isotope als natürliche Marker, mittels derer der Transport und das Recyceln von Elementen im Ökosystem nachvollzogen werden kann. Die Isotope der Elemente C, N und S sind dabei überwiegend
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Tab. 2.13 Stabile Isotope leichter Elemente (Fry 2006). Sauerstoff und Schwefel haben mehr als zwei stabile Isotope. Angegeben sind lediglich diejenigen Isotope eines Elementes mit ihrer relativen Massedifferenz, welche in den jeweiligen δ-Wert (s. Text) eingehen Element Leichtes Häufigkeit Schweres Häufigkeit Relative Isotop Isotop Massedifferenz 1 Wasserstoff H 99,984 D 0,016 2 12 13 Kohlenstoff C 98,89 C 1,11 1,08 14 15 Stickstoff N 99,64 N 0,36 1,07 16 18 Sauerstoff O 99,76 O 0,2 1,13 32 34 Schwefel S 95,02 S 4,21 1,06
an organische Stoffe gebunden, während die Isotope der Elemente H und O im Wesentlichen den hydrologischen Zyklen unterliegen (Fry 2006). Während die chemischen Eigenschaften eines Elementes an dessen Elektronenhülle gebunden sind, zeigen die verschiedenen Isotope eines Elementes je nach Neutronenzahl ein unterschiedliches, masseabhängiges Verhalten, und leichte und schwere Isotope eines Elementes werden nicht gleichmäßig auf neue Molekülverbindungen übergehen (Isotopenfraktionierung, Hoefs 1997). Als Faustregel gilt (Fry 2006): In kinetischen Reaktionen reagieren Moleküle, welche leichte Isotope eines Elementes enthalten, schneller, und in Austauschreaktionen konzentrieren sich die schweren Isotope am Ort der stärksten Molekülbindungen. Viele Enzyme sind dazu in der Lage, zwischen schweren und leichten Molekülen zu differenzieren (z. B. während der CO2-Assimilation durch grüne Pflanzen). Die stabilen Isotope der genannten Elemente zirkulieren somit in der belebten Welt zu unterschiedlichen Raten, getrieben von physikalischen, chemischen und biologischen Prozessen. Während des Transportes eines Elementes durch die Biosphäre kommt es damit zu ständigen Isotopenfraktionierungen, gefolgt von Isotopenmischungen (z. B. bei der Aufnahme von Nahrung unterschiedlicher Isotopenkomposition). In der Folge bilden sich in einem Ökosystem Kompartimente, welche sich in Bezug auf ihre Isotopenverhältnisse voneinander differenzieren lassen. Sämtliche in diesem Kapitel beschriebenen Isotopensysteme sind allerdings auch klimasensitiv, so dass standortspezifisch unterschiedliche Basiswerte vorkommen. Den stabilen Isotopen der o.a. leichten Elemente ist gemeinsam, dass sie sich lediglich in Bezug auf ein oder zwei Masseeinheiten voneinander unterscheiden (Tab. 2.13), was jedoch im Hinblick auf das insgesamt geringe Atomgewicht eine relativ große Differenz bedeutet. Das Verhältnis von schwerem zu leichtem Isotop in einer Probe wird gemäß internationaler Konvention auf einen Standard bezogen und in der δ-Notation in ‰, ausgedrückt: δ = [RProbe/RStandard − 1] * 1000 [‰], mit R = Häufigkeit schweres Isotop S/Häufigkeit leichtes Isotop L, z. B. 13C/12C. Da das Isotopenverhältnis des Standards konstant ist, und da RProbe = S/L = S/(1 − S), ergibt sich eine lineare Beziehung zwischen δ und S. Der δ-Wert ist somit ein Maß für die Häufigkeit des schweren Isotopes S eines Elementes in der Probe (Fry 2006): Je positiver ein δWert, desto stärker ist die untersuchte Probe mit dem jeweils schwereren Isotop angereichert. Übliche biologische Reaktionen entsprechen unidirektionalen kineti-
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Prähistorische Anthropologie
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schen Reaktionen, welche, sobald zwei stabile Isotope eines Elementes involviert sind, zwei kinetische Reaktionskonstanten haben: Lk undSk. Das Verhältnis dieser beiden Reaktionskonstanten ist der Fraktionierungsfaktor α = Lk/Sk. Tritt kein Isotopeneffekt auf, gilt α = 1. Da aber Moleküle mit leichten Isotopen eines Elementes rascher reagieren als solche mit schweren Isotopen des Elementes, ist α in der Regel größer als 1; bei einem Unterschied von z. B. 1 % wäre α = 1,01. Für die Beurteilung des Ausmaßes der Unterschiede von δ-Werten ist es jedoch übersichtlicher und mehrheitlich auch üblich, die Fraktionierungsfaktoren als Δ in ‰ anzugeben: δProdukt = δUrsprung –Δ [‰]. Da Δ = (α − 1) * 1000 [‰], entspricht einem α von 1,01 ein Δ von 10 ‰ – mit anderen Worten, eine um 1 % schnellere Reaktionsrate führt zu einem Fraktionierungsfaktor von 10 ‰ (Fry 2006). δ13C- und δ15N-Werte des Knochenkollagens spiegeln die Herkunft pflanzlichen bzw. tierischen Proteins wider. Circa 20 % aller Kohlenstoffatome im Knochenkollagen finden sich in essentiellen Aminosäuren, welche direkt aus dem Nahrungsprotein stammen. Nicht-essentielle Aminosäuren werden vom Konsumenten, sofern sie nicht hinreichend aus der Nahrung bezogen werden, im Körper aus verschiedenen Kohlenstoffquellen synthetisiert. Für δ13C im Kollagen gilt daher, dass dieser Wert nur bei proteinreicher Ernährung direkt auf den Eiweißanteil der Nahrung bezogen ist, bei proteinarmer Ernährung enthält Kollagen auch Kohlenstoff aus Fetten und Kohlehydraten (Ambrose und Norr 1993). Dieser Umstand macht Rückschlüsse von der Kohlenstoffisotopie auf die Ernährungsweise gegebenenfalls recht kompliziert, so dass in der Zukunft die Analyse einzelner Aminosäuren, welche in ihrer Isotopensignatur von jener des Gesamtmoleküls abweichen, ein geeigneter Lösungsweg sein kann (Fogel und Tuross 2003; Howland et al. 2003). Der wesentliche Fraktionierungsfaktor für δ13C beruht auf der unterschiedlichen Diskriminierung gegen 13C von C3- und C4-Pflanzen aufgrund derer Photosynthesewege mit unterschiedlichen CO2-Akzeptoren. Vor dem massiven Eintrag von CO2 aus fossilen Energieträgern hatte atmosphärisches CO2 ein δ13C von ca. −7 ‰, welches bei der Assimilation von C3-Pflanzen einem Nettofraktionierungsfaktor von rund 20 ‰, bei C4-Pflanzen jedoch lediglich etwa 5 ‰ unterliegt (Fry 2006). δ13C-Werte von C3-Pflanzen betragen im Mittel somit −27 ‰, jedoch mit beträchtlicher Variation von −37 ‰ unter dichter Laubkrone („Baldachin-Effekt“ durch ständiges Recyclen von CO2, das nicht entweichen kann) bis −22 ‰ bei Wasserstress (Ambrose 1993). Diese Variabilität ist beträchtlich eingeschränkt für C4-Pflanzen, welche tropisch-aride Standorte bevorzugen und auch nicht unter geschlossener Laubkrone gedeihen, und schwankt bei diesen zumeist zwischen −13 und −10 ‰, wobei im Einzelfall auch Spannen von −19 bis −9 ‰ auftreten können (Koch 2007). Mit einem Fraktionierungsfaktor von rund +5 ‰ wird der δ13C-Wert der Nahrungspflanze in das Kollagen des Konsumenten verstoffwechselt mit der Folge, dass anhand δ13CKollagen bestimmt werden kann, ob ein Tier C3-Pflanzen (Laub, Büsche; z. B. Boviden, Cerviden) oder C4-Pflanzen (Gräser, z. B. Equiden) bevorzugt oder beide Pflanzengruppen konsumiert. Im letztgenannten Falle würde eine Mischisotopie aus den Isotopenverhältnissen der C3- und C4-Pflanzen resultieren. Für den menschlichen Konsumenten bedeutet dies, dass aus dem δ13C des Knochenkollagens abgelesen werden kann, welche Pflanzengruppe von der Beute eines Jägers
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2
Evolution des Menschen
oder Karnivoren bevorzugt wurde (Ambrose und Norr 1993), oder welche Pflanzenkategorie den Hauptbestandteil des vegetabilen Nahrungsspektrums ausmachte. So konnten z. B. Sponheimer und Lee-Thorp (2003) nachweisen, dass Australopithecinen (s. Kap. 2.2.5) ca. 20 % ihrer Kalorien aus C4-Pflanzen bezogen haben. Besonders niedrige δ13C-Werte sprechen für ein dicht bewaldetes Habitat, werden aber auch in Flüssen und Seen angetroffen aufgrund der hohen Fraktionierung durch Phytoplankton. Da δ13C-Werte der Pflanzen klimasensitiv sind und ferner eine Abreicherung um +1.5 ‰ während der letzten 150 Jahre beobachtet wurde (fossil fuel effect) (Leuenberger et al. 1992), sind für jede Klimaepoche und für jeden Standort die Eckdaten für das zu untersuchende Ökosystem durch die Analyse von Skelettfunden von Tieren bekannter Ernährungsweise (z. B. Boviden und Equiden, s. oben) zu ermitteln. δ15N des Knochenkollagens ist ausschließlich auf den Eiweißanteil der Nahrung bezogen und ist ein ausgezeichneter Indikator für die Trophiestufe, auf der sich das untersuchte Individuum befindet. Beim Transport von einer Stufe des Nahrungsnetzes zur nächsten kommt es zur schrittweisen Anreicherung des Kollagens um +3 bis +6 ‰, im Mittel 3 bis 4 ‰ in Bezug auf schweres N-Isotop. Für diesen Trophiestufeneffekt wird zum einen das Spalten von Peptidbindungen verantwortlich gemacht (da das schwere Isotop die stärkere Bindung bevorzugt); hauptsächlich dürfte aber die Exkretion von 14N-angereichertem Harnstoff und anderer stickstoffhaltiger metabolischer Endprodukte für die beobachteten Fraktionierungen verantwortlich sein (Sponheimer et al. 2003). δ15N lässt daher die Unterscheidung zwischen Herbivoren, Omnivoren, primären und sekundären Karnivoren zu (Schwarcz und Schoeninger 1991; Ambrose 1993). Laktierende Säugetiere produzieren diesen Trophiestufeneffekt innerhalb des weiblichen Organismus, so dass Milch und Milchprodukte durch besonders hohe δ15N-Werte gekennzeichnet sind. Für subadulte Säugetiere einschließlich des Menschen lässt sich daher die Stilldauer ermitteln (z. B. Fogel et al. 1989; Jenkins et al. 2001; Schurr und Powell 2005) (Abb. 2.37). Während der Schwangerschaft nimmt δ15N im mütterlichen Protein von der Konzeption bis zur Geburt ab, wobei die Abnahme mit dem Geburtsgewicht des Kindes und der Gewichtszunahme der Mutter korreliert (Fuller et al. 2004). Bei konservierten Haaren ließen sich auf diese Weise potentiell wichtige Daten bezüglich der Reproduktionsbiologie früher Population erlangen. In einer frühen und bis heute sehr eindrucksvollen Arbeit konnte durch Ambrose (1986) für menschliche Populationen Afrikas gezeigt werden, dass sich Ackerbauern von Viehzüchtern signifikant trennen lassen und bei den Viehzüchtern wiederum erkannt werden kann, ob Fleisch- oder Milchwirtschaft betrieben wurde. An ariden Standorten, in denen Tiere verbreitet sind, welche nicht obligatorisch trinken müssen (z. B. Kamele), ist aus δ15N darüber hinaus ersichtlich, ob bevorzugt das Fleisch solcher „Wassersparer“ konsumiert wurde. Aufgrund des erforderlichen Isotopengleichgewichtes innerhalb eines Organismus ist das Fleisch nicht obligatorisch trinkender Tiere in Bezug auf δ15N angereichert, da der Effekt des Wassersparens durch die Ausscheidung eines hochkonzentrierten Urins mit isotopisch leichtem Harnstoff erreicht wird (Ambrose 1993). Auch der Anteil von Süßwasserfischen in der Nahrung prähistorischer Populationen lässt sich über die Analyse
2.3
Prähistorische Anthropologie
143
Bestimmung des Entwöhnungsalters 13 12
delta 15N
11 10 9 8 7 0
1
2
3
4
5
6
7
Individualalter (Jahre)
Abb. 2.37 Bestimmung des Entwöhnungszeitraumes mittels δ15N, Kinderskelette aus dem frühmittelalterlichen Wenigumstadt, Bayern (Dittmann und Grupe 2000). Im Alter von etwa vier Jahren ist die Sterblichkeit der Kinder am höchsten, Krankheitssymptome am Skelett legen einen Zusammenhang mit der Entwöhnung nahe. Tatsächlich sind die δ15N-Werte der 3-4jährigen Kinder um rund 3 ‰ und somit um eine Trophiestufe niedriger als jene der Säuglinge, Folge der Umstellung von Muttermilch auf feste Nahrung
stabiler Kohlenstoff- und Stickstoffisotope nachweisen – eine recht wichtige Information bezüglich früher Subsistenzstrategien, da Fischknochen aufgrund ihrer Fragilität im archäozoologischen Ensemble häufig unterrepräsentiert sind (Abb. 2.38, 2.39; Turner et al. 2009). Letztlich sind marine Standorte sowohl in Bezug auf δ13C als auch auf δ15N signifikant von terrestrischen unterschieden, da im marinen Ökosystem die Basiswerte für beide δ-Werte beträchtlich positiver sind. Der Grund hierfür ist das Vorkommen von gelöstem Bicarbonat im Meerwasser, sowie das vermehrte Auftreten von Denitrifikationsprozessen mit hohem Fraktionierungsfaktor (Sealy 2001). Bei solchen Populationen, welche saisonal vom Binnenland zur Küste migrieren, resultiert daher eine charakteristische Mischisotopie. Die Analyse von δ13C aus dem strukturellen Carbonat der Mineralfraktion (vgl. Kap. 2.3.2) wurde schon vor längerer Zeit (z. B. Lee-Thorp et al. 1994) als Alternative für die Ernährungsrekonstruktion mittels δ13CKollagen durchgeführt für solche Knochenfunde, welche über zu wenig konserviertes Kollagen verfügten. Die Informationen aus δ13CCarbonat sind jedoch unterschiedlich von jenen aus δ13CKollagen: Während letzte primär die Eiweißkomponente der Nahrung widerspiegeln, stammt der Kohlenstoff der Carbonatfraktion aus allen Nahrungskomponenten und reflektiert daher auch die Herkunft der Energieträger wie Fette oder Kohlenhydrate
2
144
Evolution des Menschen
neolithisches Nahrungsnetz 11 Fischotter
KARNIVORE
Wels
FISCHE
10
Mensch Hecht Kranich
Döbel
Sumpfschildkröte
9 Saatkrähe Hermelin
Fuchs
Barbe delta 15N
Karpfen
Stockente Cyprinide
OMNIVORE
Rind
Spießente
8
Dachs
Hund
7
Ziege Braunbär
HERBIVORE Biber
Schaf
6
Wildschwein Hausschwein
Hase
Graugans
Reh
5
Rothirsch
Blässgans
Pferd
4 -28
-27
-26
-25
-24
-23 delta 13C
-22
-21
-20
-19
-18
Abb. 2.38 Nahrungsnetz aufgrund δ13C und δ15N aus Knochenkollagen, neolithische Feuchtbodensiedlung von Pestenacker, Bayern (um 3600 v. Chr.). Angegeben sind die speziesspezifischen Medianwerte (insgesamt 123 Knochenfunde von Mensch und Tier), sowie die Variabilität der Nahrungsgruppen einschließlich der Süßwasserfische. Der Mensch steht an der Spitze der Nahrungskette. Süßwasserfische dürften bestenfalls saisonal zur menschlichen Ernährung beigetragen haben
neolithisches Nahrungsnetz -6 -19
-17
-15
-13
-11 Kranich
-9
-7
Braunbär
Huchen Habicht
delta 18O
-8
Karpfen
Rothirsch Blässgans
Sumpfschildkröte
Stockente
Graugans
Biber Dachs Hase
Döbel Hecht
Rind
Hausschwein Wildschwein Hund Spießente Reh Waldkauz Pferd
1
Cyprinide -7
Schaf
KARNIVORE
-1
FISCHE
Fuchs
Wolf
Fischotter
-3
Saatkrähe
Ziege Mensch
-5
Wels
Barbe -9
-10
-11
-12
HERBIVORE -13
-14
delta 13C
Abb. 2.39 Nahrungsnetz aufgrund von δ13C und δ18O aus Knochenkarbonat, vgl. Abb. 2.38. Die Süßwasserfische sind aufgrund der Kohlenstoffisotopien klar von den terrestrischen Wirbeltieren getrennt und spielen nur eine marginale Rolle in der menschlichen Ernährung. Die Sauerstoffisotopien variieren entsprechend des speziesspezifischen Metabolismus, vgl. z. B. die erniedrigten Werte für kleine, nacht- bis dämmerungsaktive Säugetiere. (Dachs, Hase, Biber)
2.3
Prähistorische Anthropologie
145
(Ambrose und Norr 1993). Da Fette in Bezug auf 13C abgereichert sind (s. unten), ändern sich auch die Fraktionierungsfaktoren mit dem Ergebnis, dass der Unterschied zwischen δ13CCarbonat und δ13CKollagen in Herbivoren signifikant höher ist als in Karnivoren. Für große Herbivore beträgt der Fraktionierungsfaktor zwischen 12 und 14 ‰ (Passey et al. 2005). Die Situation kompliziert sich entsprechend, wenn die Nahrung eines Wirbeltieres aus beiden Komponenten gemischt ist, z. B. C3Protein und C4-Energie (Ambrose und Norr 1993). Über die diagenetische Stabilität des strukturellen Carbonates wurde eine jahrelange, heftige Diskussion geführt (s.unten, δ18O). Diese Problematik trifft weniger auf δ13C zu, welches sich bereits frühzeitig als weitgehend stabil erwiesen hat (Krueger 1991). δ18O wird aufgrund seiner Temperatursensitivität als Paläothermometer herangezogen und ist damit einer der wichtigsten Klimaindikatoren (Hoefs 1997). Für warmblütige Säugetiere mit konstanter Körperkerntemperatur besteht eine eindeutige Beziehung zwischen δ18OCarbonat und der Temperatur des Trinkwassers (Oberflächenwasser), welche auf dem Isotopengleichgewicht zwischen Sauerstoff-Input (Trinkwasser, feste Nahrung, Inhalation) und Sauerstoff-Output (Urin, Schweiß, Exhalation) beruht (Luz und Kolodny 1989; Kohn und Cerling 2002). Mehr als 50 % des Sauerstoff-Inputs stammt aus dem Trinkwasser und der Nahrungsfeuchte (Koch 2007). Im Prinzip ist δ18O im Apatit von Knochen und Zähnen damit eine Funktion des δ18O meteorischen Wassers, wobei allerdings speziesspezifische Besonderheiten (Körpertemperatur, Trinkgewohnheiten, Thermoregulation durch Schwitzen oder Hecheln) beachtet werden müssen (Kohn 1996; Koch 2007). Isotopenfraktionierungen treten sowohl bei der Kondensation als auch bei der Evaporation von Wasser auf, wobei 18O in der flüssigen Phase angereichert wird. In der Folge ist der Wasserdampf über den Meeren isotopisch leichter als das Wasser, aus dem er gebildet wurde, und Regenwasser ist isotopisch schwerer als der Wasserdampf, aus welchem es kondensierte. Durch sukzessives Abregnen wird δ18O des Regenwassers mit zunehmender Entfernung von der Küste mit 18O abgereichert („Kontinentaleffekt“). Durch wiederholte Evaporation und Präzipitation wird δ18O des Regenwassers auch mit steigender Entfernung vom Äquator erniedrigt („Breitengradeffekt“). Da es in der Regel durch adiabatische Abkühlung zur Präzipitation kommt, besteht darüber hinaus eine Relation zwischen der Lufttemperatur und δ18O des Regenwassers. Für Europa beträgt dieser Gradient 0,695 ‰ pro Grad Celsius (Rozanski et al. 1992). Schlussendlich führt das Abregnen in den Gebirgslagen zu einer linearen Beziehung zwischen dem δ18O des Regens und der Höhe über dem Meeresspiegel – alle Faktoren zusammen bedingen eine hohe ökologisch bedingte Variabilität von δ18O, welche sich im entsprechenden Isotopenverhältnis des Knochenapatits widerspiegelt. Grundsätzlich kann Sauerstoff aus archäologischen Skelettfunden aus der Phosphatfraktion und der Carbonatfraktion gewonnen werden. Der Arbeitsaufwand wird durch die Analyse von δ18OCarbonat erheblich gemindert, da – ebenso wie C und N aus Kollagen – C und O aus demselben Substrat online am Massenspektrometer gemessen werden können. Es ist jedoch zu beachten, dass das O-Isotopenverhältnis im Carbonat um mehrere ‰ von jenem im Phosphat abweichen kann, wobei diese Differenz höchstwahrscheinlich speziesspezifisch ist. Aufgrund der stärkeren P-O
146
2
Evolution des Menschen
Bindung war man lange Zeit davon ausgegangen, dass δ18O aus der strukturellen Carbonatfraktion so stark diageneseanfällig sei, dass stabile Sauerstoffisotope nur aus dem Phosphat des Bioapatits gemessen werden sollten, und dass darüber hinaus Zahnschmelz aufgrund seiner weitaus geringeren Porosität der Vorzug gegenüber Knochen gegeben werden sollte (Lee-Thorp 2002). Zahnschmelz ist in der Tat resistenter gegen Diagenese als Knochen, bildet aber im menschlichen Skelettfund lediglich frühere ontogenetische Stadien (Kindheit und Jugend) ab. Zwischenzeitlich konnte aber gezeigt werden, dass die postulierte diagenetische Beständigkeit der Phosphatgruppe nur dann gegeben zu sein scheint, wenn lediglich anorganischchemische Dekompositionsprozesse wirken. Sobald mikrobieller Abbau involviert ist, was überwiegend der Fall sein dürfte, erweist sich δ18O aus Phosphat sogar als unbeständiger als δ18O aus Carbonat (Zazzo et al. 2004). Nach Rey et al. (2009) residiert ein erheblicher Anteil der Phosphationen in labiler Weise auf der Oberfläche der Apatit-Nanokristalle, was diesen Befund erklären würde. Bei der Analyse stabiler Isotope leichter Elemente aus dem Bioapatit sollte in jedem Fall eine gründliche Charakterisierung der untersuchten mineralischen Konfiguration erfolgen. Neben seiner Funktion als Klimaindikator ist δ18O hervorragend geeignet, das Nahrungsverhalten verschiedener Wirbeltierspezies zu rekonstruieren, und somit auch die bevorzugte Beute von Karnivoren und menschlichen Jägern. Viele Tiere müssen regelmäßig Trinkwasser zu sich nehmen, andere nur sehr selten, und manche Spezies decken ihren Wasserbedarf ganz aus fester Nahrung. Letzte kommen vorwiegend in trockenen Regionen vor, in denen die pflanzliche Biomasse aufgrund der bevorzugten Transpiration von 16O generell mit 18O angereichert ist. Die Abundanz solcher Spezies lässt solide Rückschlüsse auf die Vegetation und damit auf das Paläoökosystem zu. Für die gemäßigten Breiten gilt aus demselben Grunde, dass laubfressende Herbivoren gegenüber grasfressenden höhere δ18O-Werte aufweisen. Süßgewässervertebraten sind wiederum von den terrestrischen deutlich verschieden (Abb. 2.39). Die Sauerstoffisotopie in Nahrung und Trinkwasser ist eine Funktion der Umweltparameter in Bezug auf Niederschlag und recycelter Wasservorkommen in Quellen, Flüssen und Seen (s. oben). Da δ18O des atmosphärischen Sauerstoffes weitestgehend konstant ist, variiert das Isotopenverhältnis der naturräumlichen Wasservorkommen entsprechend der physikalischen und biologischen Umweltparameter einschließlich der Niederschlagsverhältnisse. Somit dient δ18OCarbonat als Marker für die ökologisch definierte Herkunft von Individuen. Auf diese Weise konnten bereits Migrationsmuster diverser Tierspezies erkannt werden, insbesondere für Fischpopulationen (z. B. Hobson 1999). Das Sauerstoffisotopenverhältnis in Knochenfunden ist daher besonders dafür geeignet, komplexe aquatische Paläoökosysteme zu erschließen. In Einzelfällen konnte δ18O im Carbonat menschlicher Skelettfunde zur Identifikation von Einwanderern herangezogen werden, sofern die untersuchte Region ökologisch hinreichend zoniert war (z. B. White et al. 1998). Die Forschung bezüglich stabiler Wasserstoffisotope (δD) im archäologischen Skelettfund befindet sich noch ganz in ihren Anfängen. Da sich rund 25 % des nichtaustauschbaren Wasserstoffs in den essentiellen Aminosäuren des Knochenkollagens befinden, sollten diese H-Atome überwiegend aus der Nahrung stammen.
2.3
Prähistorische Anthropologie
147
Entsprechend konnten Birchall et al. (2005) für δD im Knochenkollagen moderner Wirbeltiere einen starken Trophiestufeneffekt feststellen. Das grundsätzliche Problem besteht darin, dass Kollagen viel labilen Wasserstoff enthält: theoretisch sind rund 21 % davon austauschbar. Die Fraktionierungsfaktoren sind bislang lediglich empirisch geschätzt und theoretisch kalkuliert worden, im archäologischen Material wurde ein Trophiestufeneffekt zwischen Herbivoren und Omnivoren von 30 bis 50 ‰ gemessen, von Omnivoren zum Topkonsumenten Mensch von weiteren 10 bis 20 ‰ (Reynard und Hedges 2008). Für die Variabilität von δD in der Umwelt gelten naturgemäß die gleichen Faktoren wie für δ18O (Koch 2007). Somit sind auch Interferenzen zwischen δD als Nahrungsindikator und als ökologischer Marker in Betracht zu ziehen. Schwefel findet sich im Knochen in den Aminosäuren Cystein und Methionin im Kollagen, sowie als Sulfat, welches für die Phosphatgruppe im Apatit substituieren kann (Koch 2007). δ34S wurde bislang mehrfach erfolgreich aus dem Knochenkollagen im Hinblick auf die Ernährungsrekonstruktion bestimmt (Richards et al. 2003; Craig et al. 2006; Privat et al. 2007). δ34S in der terrestrischen Umwelt ist eine Funktion des erodierenden Muttergesteins und atmosphärischer Präzipitation (Peterson und Fry 1987) und variiert zwischen −20 und +20 ‰. Das wichtigste Schwefelreservoir der Erde bilden jedoch die Ozeane, in denen dieses Element als gelöstes Sulfat vorliegt. Aufgrund der Durchmischung der Weltmeere hat dieses Reservoir ein recht konstantes δ34S von +20 ‰ (Richards et al. 2001). Durch den so genannten „sea-spray“-Effekt wird Schwefel marinen Ursprunges in küstennahen Regionen mit der Luftfeuchtigkeit in das Binnenland verfrachtet und die für terrestrische Pflanzen üblichen δ34S-Werte (−7 bis +8 ‰) deutlich erhöht (Privat et al. 2007). Während Pflanzen gelöstes Sulfat über ihr Wurzelwerk aufnehmen, gelangt der für den Stoffwechsel essentielle Schwefel durch die Nahrung in den Körper der tierischen Konsumenten. Zwar kommt es im Verlauf der Nahrungskette zu gewissen Isotopenfraktionierungen, welche aber angesichts der sehr hohen Variabilität von δ34S in den verschiedenen Sedimenten vernachlässigbar sind – δ34S im Knochenkollagen spiegelt die jeweilige Isotopensignatur des geologischen Substrates wider (Richards et al. 2001). δ34S ist daher eine sehr gute Isotopensignatur, um zwischen marinen und terrestrischen (einschließlich Süßgewässern) Ressourcen unterscheiden zu können (z. B. Craig et al. 2006; Privat et al. 2007; Nehlich und Richards 2009). Aufgrund der absolut geringen Schwefelmenge im Kollagen ist allerdings eine größere Probenmenge zur Analyse erforderlich im Vergleich zu δ13C oder δ15N aus Knochenkollagen.
2.3.5.2
Herkunftsbestimmung mittels stabiler Isotope schwerer Elemente im biologischen Apatit Ein individueller Residenzwechsel zwischen zwei geologisch definierten Regionen ist anhand der stabilen Isotope schwerer Elemente, vorzugsweise Strontium (Sr) und Blei (Pb), im biologischen Apatit möglich. Beide Elemente werden überwiegend oral aufgenommen und zählen nicht zu den essentiellen Spurenelementen, so dass nicht ausgeschiedenes Strontium und Blei an den Calcium-Gitterplätzen im Skelett quasi stillgelegt wird. Beide Elemente haben eine Massezahl größer als
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2
Evolution des Menschen
50, so dass Veränderungen der Masse bei den jeweiligen stabilen Isotopen von nur wenigen Einheiten im Vergleich zum Gesamtatomgewicht klein sind und es zu keinen messbaren Isotopenfraktionierungen kommt. Bei stabilen Isotopen schwerer Elemente entfällt daher die δ-Notation. Weit verbreitet ist die Provenienzanalyse von Individuen eines Gräberfeldes mit Hilfe stabiler Strontium-Isotope aus dem biologischen Apatit. Strontium ist wie Calcium ein Element der chemischen Hauptgruppe IIa, und kann aufgrund seiner Ladung und seines Ionenradius Calciumgitterplätze während der Apatitgenese ersetzen, so dass es fest in die mineralische Matrix der Hartgewebe inkorporiert wird. 99 % des Gesamtstrontiumgehaltes eines Wirbeltieres findet sich entsprechend in dessen Knochen und Zähnen. Aufgrund fehlender Isotopenfraktionierung haben sämtliche mineralisierten Hartgewebe eines standorttreuen Organismus dieselbe Isotopensignatur wie das jeweilige Habitat, dessen Signatur wiederum von jener des unterliegenden Gesteines bestimmt wird. Voraussetzung ist jedoch, dass die mobile (bioverfügbare) Phase dieselbe Strontium-Isotopensignatur aufweist wie die stationäre Phase. Strontium kommt in Form der vier stabilen Isotope 84Sr (0,56 %), 86 Sr (9,87 %), 87Sr (7,04 %) und 88Sr (82,53 %) vor, wobei die Isotope 84Sr, 86Sr und 88Sr im Verlauf erdgeschichtlicher Zeiträume konstante Verhältnisse annehmen. 87 Sr ist ein Zerfallsprodukt des radioaktiven 87Rb (t1/2 = 48,8 × 109 Jahre). Der 87SrGehalt eines Gesteines ist somit eine Funktion des Ausgangsgehaltes an Rb und seines Alters, so dass in der Geologie das 87Sr/86Sr-Verhältnis zur Charakterisierung und Datierung von Gesteinen herangezogen wird (Faure 1986). Im Verlauf erdgeschichtlicher Zeiträume hat sich das primordiale, von Meteoriten abgeleitete 87 Sr/86Sr-Verhältnis in den Gesteinen durch den ständigen Zerfall von 87Rb ständig erhöht. Heute hat Meerwasser ein relativ konstantes 87Sr/86Sr von 0,7092, während Gesteine typische Werte zwischen 0,703–0,706 (an Rb abgereicherte ozeanische Basalte) und 0,71–0,74 (mit Rb angereicherte kontinentale Gesteine) aufweisen. Die messtechnische Präzision des Isotopenverhältnisses ist außerordentlich hoch, so dass die auf den ersten Blick geringe Variabilität der Isotopenverhältnisse in der Realität hochsignifikant ist. Wenn die Strontiumisotopenverhältnisse in Knochen und Zähnen eines Skelettfundes von jener des umgebenden Sedimentes signifikant verschieden sind, muss es sich mit Sicherheit um ein primär ortsfremdes Individuum handeln, da eine Kontamination der Hartgewebe naturgemäß nur mit der lokalen Isotopensignatur des Liegemilieus möglich ist. Ferner muss der Residenzwechsel relativ kurz vor dem Tod des betrachteten Individuums stattgefunden haben, da sich während eines mehrjährigen Aufenthaltes an einem neuen Standort die Isotopenverhältnisse im Knochen aufgrund seiner lebenslangen Umbautätigkeit an die jeweils standorttypischen angleichen. Während der Liegezeit im Erdreich tendiert exogenes Sr sehr stark dazu, Knochen und Zähne zu kontaminieren. Die vielfach angetroffene Meinung, Zahnschmelz sei aufgrund seiner Struktur nahezu resistent gegenüber solchen Kontaminationen, ist in der Praxis vielfach widerlegt worden. Sowohl Knochen als auch Zahnschmelz bedürfen vor der Isotopenanalyse einer sorgfältig überwachten Säurebehandlung, um diese Kontaminationen quantitativ zu entfernen. Da die Löslichkeitsprodukte von Strontiumsalzen sehr viel niedriger sind als die von Calcium-
2.3
Prähistorische Anthropologie
149
römischer Kastellfriedhof Neuburg/Donau, Bayern 0.715 0.714
87Sr/86Sr-Verhältnis
0.713 0.712
Zahnschmelzisotopien typisch für Granitregionen
0.711 Sr-Isotopie p des Fundortes, , um 0,709 , 0.71 0.709 regionaltypische Isotopenverhältnisse im Zahnschmelz
0.708 0.707
regionaltypische Isotopenverhältnisse in kompaktem Knochen Zahnschmelzisotopie typisch für vulkanische Regionen
0.706 0
50
100
150
200
250
300
350
400
450
Strontium-Konzentration (ppm)
Abb. 2.40 Identifikation zugewanderter Individuen mittels Sr-Isotopie am Beispiel eines römischen Kastellfriedhofes (Schweissing und Grupe 2003). Die Mehrzahl der Sr-Isotopenverhältnisse im Zahnschmelz und kompakten Knochen der Individuen ist ortstreu (karbonathaltige Böden, 87 Sr/86Sr um 0,709). Eine nicht unerhebliche Anzahl der Söldner hat die frühe Kindheit jedoch in einer von Granitgestein dominierten Region verbracht (87Sr/86Sr > 0.71), ein Individuum stammt aus einer durch vulkanisches Gestein charakterisierten Gegend (87Sr/86Sr Subhaplogruppe H1 -> Varianten H1a etc.). Über 70 % der afrikanischen Bevölkerung gehören der Haupthaplogruppe L an, wobei sich durch jeweils eine Mutation aus dem L3-Cluster die Haupthaplogruppen M und N entwickelt haben. Sämtliche außerafrikanischen mtDNA-Linien können auf diese beiden großen Gruppen zurückgeführt werden (Quintana-Murci et al. 1999). Ein matrilinearer Stammbaum, basierend auf 624 kompletten mtDNA-Genomen von Individuen der subsaharischen L-Linie, führte zu dem Ergebnis, dass der mütterliche Ursprung der Khoi San (s. oben) sich vom übrigen menschlichen mtDNA-Pool vor 150.000 bis 90.000 Jahren abgespalten hatte (Behar et al. 2008). Bereits in den 1970er Jahren gab es keinen Zweifel mehr daran, dass viele klassische Marker – wie z. B. Blutgruppensysteme und Enzympolymorphismen – in Europa weder zufällig noch gleichförmig verteilt, sondern in Form von Gradienten vorliegen. Lange Zeit war man der Annahme, dass größere Bevölkerungsbewegungen im Zuge der Neolithischen Revolution mitverantwortlich für die beobachteten Allelverteilungen waren. Neuere Untersuchungen der mtDNA zeigten jedoch eine eher unerwartete Homogenität auf, so dass der Schluss nahe lag, dass die vorliegenden Frequenzvariationen mit einer sehr viel früheren Bevölkerungsexpansion in Richtung Europa zu begründen sind. Auf der Grundlage von 218 nicht rekombinierenden Polymorphismen des YChromosoms, analysiert aus 1062 Männern aus 21 rezenten Populationen, konnten Underhill et al. (2001) einen Stammbaum des Y-Chromosoms rekonstruieren, welcher sich weitestgehend mit paläoanthropologischen und archäologischen Befunden deckt. An der Basis stehen zwei afrikanische, durch Y-chromosomale Polymorphismen charakterisierte Gruppen, welche sich vor ca. 130.000 bis 70.000 Jahren über den afrikanischen Kontinent verbreitet hatten. Eine als M168 bezeichnete Mutation repräsentiert wiederum den letzten gemeinsamen Vorfahren aller außerafrikanischen menschlichen Y-Chromosomen, und dürfte zwischen 79.000 und 31.000 Jahren in einer ostafrikanischen Population entstanden sein. Die Verbreitung dieser M168-Mutation über das Horn von Afrika bis nach Indien und die Levante deckt sich mit den Befunden, welche Portin (2007) für die mtDNA zusammenfasst (s. oben). Diese Y-chromosomale Mutation dürfte auf den außerafrikanischen Kontinenten bereits vorhandene Y-chromosomale Stammbäume zum Teil ersetzt haben, was ein Hinweis darauf wäre, dass der Genfluss überwiegend von Männern das M168-Types in die autochthonen Populationen hinein erfolgt ist. Vor ca. 50.000 bis 45.000 Jahren hat eine M168-Population aus Afrika Südasien erreicht, wo eine weitere, als RPS4Y/M216 bezeichnete Mutation ihren Ursprung hat. Nachkommen dieser Linie haben dann über Südostasien die damalige Landmasse von Neuguinea und Australien besiedelt. Eine dritte große Gruppe der M168-Linie hat schließlich ca. 45.000 Jahre vor heute aus Afrika heraus Eurasien und dann die Levante besie-
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Bevölkerungsbiologie
delt, wobei sich mindestens sechs weitere Untergruppen herausbildeten. Mehrere demographische Prozesse führten dann zur Expansion der anzestralen eurasischen Gruppe, von denen eine (M173/M207-Mutation) um 30.000 Jahren vor heute Richtung Westen bis nach Europa verbreitet wurde und dort für die, als Aurignacien bekannte, lithische Technologie (s. Kap. 2.2.6) verantwortlich war. Andere Gruppen (M3-Mutation) verbreiteten sich über Sibirien bis nach Amerika. Die Mehrzahl der authochthonen Bevölkerungen Amerikas verfügt heute über diesen M3-Typ. Diese grundlegende Verbreitung der Y-chromosomalen Gruppen erfuhr dann eine Aufsplitterung durch die Abdrängung vieler menschlicher Populationen Europas in Refugialgebiete aufgrund des letzten Vereisungsmaximums vor ca. 18.000 bis 16.000 Jahren, dem eine erneute Bevölkerungsexpansion nach der anschließenden Klimaverbesserung folgte. Y-chromosomale STRs sind potentiell geeignet, eine feine Auflösung relativ rezenter demographischer Prozesse zu erlauben, wie z. B. bestehende Unterschiede in West- und Ost-Europa, welche wahrscheinlich auf die Expansionen des Fränkischen bzw. des Osmanischen Reiches zurückzuführen sind (Roewer et al. 2005). Im Bezug auf mtDNA-Sequenzen ist die Diversität im Mittleren Osten höher als in europäischen Populationen, was für ein höheres Alter spricht. Im Vergleich mit der von Anderson et al. (1981) publizierten Referenzsequenz konnten Sykes et al. (1996) und Richards et al. (1996) einen mitochondrialen Haplotypen identifizieren, welcher der ältesten bisher bekannten europäischen Linie zugeordnet wird, und vor ca. 50.000 Jahren entstanden sein dürfte. Charakteristische mtDNA-Sequenzen autochthoner nordafrikanischer Bevölkerungen legen eine Abspaltung von diesem ältesten europäischen Cluster im gleichen Zeitraum nahe (Macaulay et al. 1999). Sykes (1999) hat für die Genese des europäischen Genpools mindestens drei Einwanderungsereignisse postuliert, wobei die erste Einwanderung bereits im oberen Paläolithikum stattgefunden hat (vor ca. 50.000 Jahren), und die zweite vor 11.000– 14.000 Jahren. Richards et al. (1998) konnten in einer Folgestudie mit verbesserter Datengrundlage (966 Individuen) bestätigen, dass die wesentlichen Mutationen der mitochondrialen Kontrollregion europäischer Bevölkerungen paläolithischen Ursprungs und möglicherweise sogar älter als 50.000 Jahre sind. Das einzige ursprüngliche mitochondriale Haplogruppencluster, welches spezifisch für Europa ist (Cluster U5) könnte sogar auch das einzige sein, welches während der ersten Besiedlungswelle aus dem Nahen Osten nach Europa eingewandert ist. Heute ist es auf etwa 7 % der westeuropäischen mtDNA-Linien beschränkt. Weitere Cluster erreichten Europa zwischen 25.000 und 20.000 Jahren vor heute, jedoch waren die Populationen eher klein, und signifikante Bevölkerungsexpansionen von Süden nach Norden waren erst wieder vor ca. 15.000 Jahren nach dem Ende der letzten Vereisung zu verzeichnen. Eine jüngere Einwanderungswelle vor etwa 10.000 Jahren brachte dann den Haplogruppencluster J nach Europa, höchstwahrscheinlich mit der Einwanderung früher neolithischer Populationen aus dem Nahen Osten. Auch die Untersuchung von Y-chromosomalen Polymorphismen konnte unterstützen, dass ein erheblicher Anteil des europäischen Genpools tatsächlich paläolithischen Ursprungs ist (Lucotte und Loirat 1999).
3.1
Populationsgenetik
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Eine häufig gestellte Frage ist, in wieweit Neandertaler zum Genpool des Homo sapiens beigetragen haben könnten. Die vergleichende Analyse zahlreicher SNPs in Schimpansen, Neandertalerfunden und rezenten Menschen hatte zum Ergebnis, dass in den SNPs der Neandertaler ca. 30 % abgeleitete Allele vorhanden waren, was zunächst einen Genfluss zwischen Neandertaler und Homosapiens impliziert. Da die Unterschiede in den X-chromosalen SNPs höher waren als jene in den Autosomen, kann einzig gefolgert werden, dass der Genfluss hauptsächlich von Homo sapiens-Männern in die Neandertalerpopulation hinein erfolgt sein kann. Dies würde zugleich den geringen Beitrag der mtDNA im Genom des anatomisch modernen Menschen erklären (Portin 2007; s. Kap. 2.3.5). In ihrem 1994 publizierten Standardwerk haben Cavalli-Sforza, Menozzi und Piazza die genetischen Abstände für 26 europäische Bevölkerungen festgestellt und die Mehrzahl der europäischen Bevölkerungen in sieben Gruppen einteilen können: eine keltische Gruppe (Schotten und Iren) eine osteuropäische Gruppe (Russen, Ungarn, Polen), eine südwesteuropäische Gruppe (Spanier, Portugiesen und Italiener), eine tschechoslowakische Gruppe, eine nordwestskandinavische Gruppe (Norwegen und Schweden), eine französische und eine germanische Gruppe, wobei letzte in zwei Untergruppen unterteilt werden kann (Niederländer, Dänen und Engländer, sowie Österreicher, Schweizer, Deutsche und Belgier). Die festgestellten genetischen Affinitäten wurden mit verschiedenen Bevölkerungsexpansionen in Zusammenhang gebracht und stimmen außerordentlich gut mit der sprachlichen Gliederung Europas überein (zusammenfassende Darstellung bei Walter 1998). Es bedarf keiner besonderen Betonung, dass sprachliche Grenzen auch den Genfluss zwischen Angehörigen verschiedener Sprachfamilien limitieren. Als relativ eigenständige europäische Bevölkerungen konnten die Basken, die Saami und auch die Sarden identifiziert werden, ferner die Roma (Walter und Danker-Hopfe 1993). Im Einklang mit archäologischen und linguistischen Daten haben sich die Basken als eigenständige Population sehr früh, vor ca. 18.000 Jahren, vor Ort herausdifferenziert und dürften in relativer Isolation gelebt haben (Calafell und Bertranpetit 1994). Ortsnamen belegen, dass das Verbreitungsgebiet der Basken vormals sehr viel größer war als heute, und dass diese Population auf die Region des heutigen Baskenlandes zurückgedrängt worden ist. Die heute in Europa lebenden Roma sind im 14. Jahrhundert aus dem nordwestlichen Indien in ihr heutiges Verbreitungsgebiet gekommen und haben sich im Wesentlichen soziokulturell, damit in der Folge aber auch genetisch, von den übrigen europäischen Bevölkerungen isoliert. Die relative genetische Eigenständigkeit der Sarden und der Saami lässt sich aufgrund gewisser Isolation aufgrund des Inselstatus bzw. der Verbreitung an der Peripherie Europas erklären. Die Studien von Cavalli-Sforza et al. (1994) gelten heute als nicht unumstritten, haben aber den Grundstein für zahlreiche der o.a. genetischen Untersuchungen gelegt. Ebenfalls sehr gut untersucht ist die Variabilität von mitochondrialen DNA-Haplotypen in Amerika. Der Kontinent ist über die Beringstraße besiedelt worden, welche während der Eiszeiten aufgrund des in Gletschern gebundenen Wassers und damit gesunkenen Meeresspiegels eine trockene Landbrücke zwischen Nordostsibirien und Alaska darstellte. Archäologische Funde legten bereits eine Besiedelung
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Bevölkerungsbiologie
Tab. 3.3 Hauptsächliche amerikanische mtDNA-Haplotypen. (Nach Smith et al. 1999) mt Haplotyp Region V, HAE III, np Alu I, np Hinc II, np Dde I, np 9 bp-Deletion 663 5176 13,259 10,394 A − + + + − B + − + + − C − − + − + D − − − + + X − − + + −
der Neuen Welt in mehreren Einwanderungswellen nahe. Aufgrund ausgedehnter Untersuchungen der mtDNA autochthoner Bevölkerungen Amerikas konnten Torroni et al. (1993) und Smith et al. (1999) fünf Haplogruppen detektieren, welche entsprechend auf fünf Bevölkerungsexpansionen hinweisen (Tab. 3.3). Bereits seit längerem war bekannt, dass die Haplogruppe B, welche durch eine Deletion von neun Basenpaaren in der Region V der mtDNA gekennzeichnet ist, besonders häufig bei der autochthonen Bevölkerung im Südwesten der heutigen Vereinigten Staaten und ebenso häufig in Individuen asiatischer Herkunft ist, jedoch bei der Mehrzahl europäischer und afrikanischer Bevölkerungen nicht vorkommt. Die Haplogruppe A ist die insgesamt häufigste unter der autochthonen Bevölkerung Amerikas, allerdings ist sie gerade im Südwesten ausgesprochen selten bis fehlend. Da mit Ausnahme der Haplogruppe B alle anderen Haplotypen auch in einigen Populationen Nordostsibiriens vorkommen, haben Schurr et al. (1999) gefolgert, dass diese mitochondrialen Marker der autochthonen Bevölkerung Amerikas deren Ursprung aus Nordostsibirien belegen. Studien an Y-chromosomalen Markern legen dagegen nahe, dass der asiatische Ursprung der amerikanischen indianischen Bevölkerung zwar außer Zweifel steht, dass aber aufgrund des Bevölkerungsvergleiches mit sibirischen Populationen die ersten Einwanderer nach Amerika eher im südlichen Zentralsibirien angesiedelt gewesen sein dürften (Karafet et al. 1999; Santos et al. 1999; s. oben). Die Bevölkerungsgeschichte Amerikas ist nach wie vor Gegenstand intensiver Forschung, und so kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, dass einige unterschiedliche Interpretationen, welche auf entweder mtDNA oder Y-chromosomaler DNA beruhen, auf unterschiedliche Wanderungsraten der Geschlechter zurückzuführen wären. Auch genetische Drift und Gründereffekte müssen in Betracht gezogen werden (O’Rourke 2000). Eine Alternative zu der Analyse mitochondrialer und Y-chromosomaler DNA zur Erstellung phylogeographischer Szenarien stellt die Untersuchung von X-chromosomalen, nicht rekombinierenden Abschnitten dar, da in jeder Generation statistisch die Hälfte aller weiblichen X-Chromosomen und alle männlichen X-Chromosomen auf das jeweils andere Geschlecht übergehen. Hierdurch kann potentiell Information über beide Geschlechter in einer Population gleichzeitig gewonnen werden. Die Haplogruppendiversität auf einem Abschnitt des langen Arms des X-Chromosoms, welcher eine sehr niedrige Rekombinationsrate hat, datiert den letzten gemeinsamen afrikanischen Vorfahren auf ca. 182.000 Jahre vor heute, ein „Out-of-Africa“ zwischen 65.000 und 55.000 Jahren vor heute, und eine nachfolgende Besiedlung
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Populationsgenetik
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der Kontinente, welche von zahlreichen Gründereffekten begleitet war (Santos-Lopes et al. 2007). Zweifellos haben die populations- und evolutionsgenetischen Untersuchungen der vergangenen Jahre viel Licht auf die Stammesgeschichte des Menschen und die rezentere Populationsdifferenzierung geworfen. Es gibt aber gut begründete Hinweise darauf, dass uniparentale Marker wie mtDNA und Y-chromosomale Polymorphismen auch ihre Grenzen haben, nicht zuletzt weil die Demographie auch weitgehend auf stochastischen Prozessen beruht (s. Kap. 3.3). Mehr und mehr zeigt sich, dass selbst mitochondriale SNPs eben nicht sämtlich selektionsneutral sind, und dass mitochondriale Sequenzen des Menschen mit klimatischen Bedingungen kovariieren. Es ist daher an der Zeit, sich weniger auf uniparentale Marker zu verlassen, sondern die Forschung verstärkt auf autosomale Marker auszudehnen (Balloux 2010). Die Erstellung phylogeographischer Linien dürfte sich aber mit diesen Markern ungleich schwieriger gestalten, da die Variabilität autosomaler Mikrosatelliten z. B. innerhalb einer kontinentalen Großgruppe (s. Kap. 3.2.1) bereits für 93 bis 95 % der gesamtgenetischen Variabilität verantwortlich ist, und sich damit die genetischen Unterschiede zwischen den großen Gruppen auf ca. 5 % beschränkt (Rosenberg et al. 2002, 2005).
3.1.4
Medizinische Aspekte
Krankheiten können auf mehrere Art und Weise genetisch bedingt sein, etwa durch chromosomale Anomalien (z. B. Trisomie 21), oder auch durch Mutation in Körperzellen (z. B. manche Krebsarten). Populationsgenetisch relevant sind jedoch vor allem solche Erkrankungen, welche durch einzelne Gene bedingt sind (z. B. cystische Fibrose), und auch multifaktorielle Erkrankungen (z. B. Erkrankungen der Herzkranzgefäße, Bluthochdruck, verschiedene Krebsarten, Erkrankungen des Immunsystems). Die populationsgenetischen Modelle sind außerordentlich hilfreich, die Häufigkeit genetisch bedingter Erkrankungen in einer Population abzuschätzen, und spielen entsprechend auch bei der individuellen genetischen Beratung eine wichtige Rolle. Das internationale „HapMap Project“ (http://hapmap.ncbi.nlm. nih.gov) vereint Forscher aus vielen Staaten in der Bestrebung, sowohl genetische Übereinstimmungen als auch Verschiedenheiten von Menschen zu katalogisieren, um diejenige genetische Ausstattung definieren zu können, welche Gesundheit und Krankheit, sowie die individuelle Reaktion auf Medikation oder Umweltfaktoren bestimmt. Mit dieser biomedizinischen Richtung beschreitet die Populationsgenetik ein Terrain, welches nicht nur im öffentlichen Interesse ist, sondern auch seine eigenen ethischen Voraussetzungen erfordert. Sowohl in der akademischen Forschung als auch in der Biotechnologie hat ein ausgesprochenes „genehunting“ in Bezug auf solche Gene eingesetzt, welche mit bestimmten Krankheiten assoziiert sind und in isolierten Populationen gehäuft vorkommen. Da die bestehenden Regulationen bezüglich der Forschung am Menschen in der Regel auf Individuen abstellen und nicht auf ganze Gruppen von Menschen, ist die Forderung nach adäquaten ethischen Regelwerken berechtigt (z. B. Greely 2001). Ein umfassender Katalog zu genetisch
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Bevölkerungsbiologie
bedingten, den Mendelgesetzen folgenden Erkrankungen ist mit der OMIM-Datenbank ( OnlineMendelianInheritanceinMan, www.ncbi.nlm.nih.gov.omim) online erhältlich. Bei den im Folgenden als Beispiel aufgeführten Erkrankungen ist die OMIM-Nummer entsprechend angegeben, die Datenbank enthält die einschlägige wissenschaftliche Literatur. 7 Autosomal-dominante Krankheiten (z. B. Chorea Huntington) weisen im Stammbaum betroffener Individuen eine charakteristische vertikale Verteilung auf, da die Krankheit in jeder Generation auftritt, während autosomal-rezessive Erkrankungen (z. B. Cystische Fibrose) eher eine horizontale Verteilung aufweisen, da die betroffenen Personen oft Geschwister sind. Bei X-chromosomal gebundenen Erkrankungen (z. B. Hämophilie, fragiles X-Syndrom) ist das männliche Geschlecht aufgrund seiner Hemizygotie stets betroffen, während Frauen oft lediglich heterozygote Träger und damit phänotypisch gesund sind (Abb. 3.3a, b und 3.4).
In wieweit sich genetische Erkrankungen im betroffenen Individuum klinisch manifestieren werden, hängt sowohl von der Penetranz (Wahrscheinlichkeit, mit der sich ein mutiertes Gen phänotypisch zeigt), als auch von der Expressivität (Schweregrad der Krankheit) des Gens ab. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand werden mehr als 70 % der genetisch bedingten Erkrankungen autosomal-dominant und etwa 20 % autosomal-rezessiv vererbt. Weniger als 10 % aller Fälle sind an das X-Chromosom gekoppelt (Trent 1994). Nach einer Studie von Baird et al. (1988) in Kanada werden bis zum Alter von 25 Jahren 53 von 1000 Lebendgeborenen eine Erkrankung mit genetischer Ursache ausprägen, wobei die Mehrzahl dieser Erkrankungen multifaktoriell ist, d. h. die Erkrankung beruht auf der Wechselwirkung zwischen mehreren Genen und vor allem auch Umwelteinflüssen.
3.1.4.1 Autosomal-dominante Erkrankungen In diesen Fällen haben die Nachkommen eines jeden Patienten eine Wahrscheinlichkeit von 50 %, ebenfalls zu erkranken. Einige autosomal-dominante Erkrankungen treten spontan durch Mutation auf, wie manche Fälle angeborenen Minderwuchses (Trent 1994). In anderen Fällen, wie der • Chorea Huntington („erblicher Veitstanz“, OMIM 143100) sind sporadische Fälle eher selten, da die Krankheit in typischer Weise erst nach dem vollendeten 30. Lebensjahr auftritt, zu einem Zeitpunkt also, an dem sich die betroffenen Individuen häuig bereits fortgeplanzt haben. Diese neurodegenerative Erkrankung manifestiert sich durch progressive Bewegungsstörungen, Demenz und auch psychische Affektionen. Der Genlocus liegt auf dem Chromosom 4p16.3. Die genetische Ursache liegt in einer Verlängerung von repetitiven CAG-Tripletts (CAG kodiert für die Aminosäure Glutamin), welche im normalen HuntingtonGen 6 bis 35 Wiederholungen aufweisen, bei Huntington-Patienten jedoch 36 bis mehr als 120 Wiederholungen. In seltenen Fällen tritt die Chorea Huntington nicht erst im Erwachsenenalter, sondern bereits im Jugendalter auf, wobei in der Regel mehr als 70 Wiederholungen vorliegen. Da bei der Weitergabe des Gens
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Populationsgenetik
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Abb. 3.3 a Schematischer Stammbaum bei einer autosomal-dominanten Erkrankung. Betroffene: schwarz; b Schematischer Stammbaum bei einer autosomal-rezessiven Erkrankung. Konduktoren: grau; Betroffene: schwarz
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194 Abb. 3.4 Schematischer Stammbaum bei einer X-chromosomal gebundenen Erkrankung. Konduktorinnen: grau; Betroffene: schwarz
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im Zuge der Vererbung bevorzugt eine paternale Transmission beobachtet wird, indet die Verlängerung des repetitiven Tripletts offenbar während der Spermatogenese statt (Graw 2010). Auch dürfte es sich somit um ein genetisches Imprinting handeln. Für ein Imprinting ist letztlich verantwortlich, dass das mütterliche und väterliche Genom, welche zu einer Zygote beisteuern, nicht äquivalent sind. Für die Geschlechtschromosomen und die Vererbung zytoplasmatischer Faktoren, welche jeweils von der Eizelle stammen, liegt dies auf der Hand. Es gilt aber auch für die Autosomen, dass paternale und maternale homologe Chromosomen in einer Weise verändert sein können, dass es zu einer unterschiedlichen Genexpression kommt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Methylierung der Base Cytosin des weniger exprimierten Gens. Genetisches Imprinting wird auch bei anderen erblichen Erkrankungen beobachtet, wie z. B. im Falle des • Prader-Willi- und des Angelman-Syndroms (OMIM 176270 bzw. 105830). Beide Erkrankungen sind auf dem Chromosom 15 in der Region von q11 bis q13 lokalisiert. Trotz gleicher Genorte sind die phänotypischen Manifestationen der Erkrankungen sehr unterschiedlich. Patienten mit Prader-Willi-Syndrom zeichnen sich durch ausgeprägte Adipositas, geistige Retardierung, Verhaltensstörungen und charakteristische morphologische Merkmale aus, während Patienten mit Angelman-Syndrom eine schwere geistige Retardierung, fehlende Sprachentwicklung und psychomotorische Entwicklungsstörungen aufweisen. Diagnostisch für mehr als 70 % der Patienten mit Angelman-Syndrom ist eine Mikrodeletion des mütterlichen Chromosoms 15.
3.1.4.2 Autosomal-rezessive Erkrankungen • Die Cystische Fibrose (synonym Mukoviscidose, OMIM 219700) ist die häufigste autosomal-rezessive Erkrankung bei Europäern mit einer Allelfrequenz von etwa 0,022 und einer Häufigkeit von etwa 1:2500 Geburten. Anwendung
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Populationsgenetik
195
des Hardy-Weinberg-Gesetzes belegt, dass mehr als 4 % der Europäer heterozygot und damit Träger der genetischen Erkrankung sind (Graw 2010). Klinische Symptome sind zähe und dickflüssige Sekrete, welche zu chronischen Lungeninfektionen führen, im Kindesalter zu Pankreasinsuffizienz und bei Neugeborenen häufig zum Darmverschluss. Trotz vielfältiger therapeutischer Ansätze ist die Cystische Fibrose heute immer noch die häufigste Ursache für Todesfälle in der Kindheit durch Atemwegserkrankungen (ca. 90 % der an Mukoviscidose Erkrankten sterben an Lungenkomplikationen). Betroffene werden selten älter als 40 Jahre (Trent 1994). Die Krankheit beruht auf einer Mutation des CFTRGenortes ( cystic fibrosis transmembrane conductance regulator) auf dem Chromosom 7q31.2. Bei erkrankten Personen fehlt im defekten CFTR-Protein an der Position 508 die Aminosäure Phenylalanin (ΔF508), so dass dieses für den Chloridtransport durch die Zellmembran verantwortliche Protein dysfunktional wird. Ein erhöhter Salzgehalt des Schweißes ist für Patienten aufgrund des gestörten Salzhaushaltes charakteristisch. Da diese Krankheit vor allem in früheren Zeiten unweigerlich zum Tod des betroffenen Individuums führte, ehe es zur Fortpflanzung kam, stellt sich die Frage, warum dieses Allel so häufig ist, und ob Heterozygote (welche selber nicht erkranken) möglicherweise einen Selektionsvorteil haben. Es wurde vorgeschlagen, dass Heterozygote aufgrund des gehemmten Chlorid-Transportes einen Selektionsvorteil gegenüber dem Choleratoxin haben. Das Gen für Cystische Fibrose ist hoch polymorph: zwischenzeitlich wurden mehr als zweihundert verschiedene Mutationen beschrieben. In Nordeuropa weitaus am häufigsten ist die genannte, als ΔF508 bezeichnete Mutation, von der mehr als 70 % der Patienten betroffen sind. Für diese hohe Frequenz wird ein Gründereffekt vermutet, demzufolge die besagte Mutation während des Neolithikums in der Region Dänemarks ihren Ursprung hatte (Graw 2010). • Die Phenylketonurie (PKU, OMIM 261600) ist eine autosomal-rezessive Erkrankung, wobei das verantwortliche Gen auf dem Chromosom 12 (12q22-q24.1) lokalisiert ist und für das Enzym Phenylalaninhydroxylase kodiert. Bei defektem Allel kommt es zu Störungen des Stoffwechsels der Aminosäure Phenylalanin, insbesondere ihrer Umwandlung zu Tyrosin. In den Patienten kommt es damit zu einer Akkumulation von Phenylalanin sowie zu einem alternativen Stoffwechselweg über Phenylpyruvat und anderen Stoffwechselprodukten, welche zu schweren Schäden des Zentralnervensystems führen. Unbehandelt geht die Fitness von an PKU Erkrankten gegen Null. Die Häufigkeit der PKU bei Lebendgeborenen zeigt große geographische Schwankungen, allein in Europa reichen die Häufigkeiten von 1:4500 in Irland bis 1:16000 in der Schweiz (Weiss 1993). Mehr als fünfzig Haplotypen sind zwischenzeitlich identifiziert worden, wobei die Mehrzahl der europäischen PKU-Mutationen die Haplotypen 1 und 4 betrifft. Da der Haplotyp 4 auch in Asien ein hohes Vorkommen von ungefähr 80 % hat, könnte dieser Haplotyp der ursprüngliche sein (Daiger et al. 1989). Die Frequenz der verschiedenen PKU-Haplotypen zeigt geographische Gradienten in einer Art und Weise, die nur so erklärt werden können, dass bestimmte Mutationen in einer Region entstanden sind und sich dann per Diffusion ausgebreitet haben (Hertzberg et al. 1989).
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3.1.4.3 X-chromosomal gekoppelte Erkrankungen Diese Krankheiten werden durch defekte Allele auf dem X-Chromosom hervorgerufen. Aufgrund ihrer Hemizygotie werden betroffene Männer das Krankheitsbild daher vollständig ausprägen, Frauen dagegen mehrheitlich lediglich heterozygote Trägerinnen dieses Defektes sein. Bekanntestes Beispiel dürfte die Bluterkrankheit sein, die • Hämophilie, wobei der Typ A (OMIM 306700) auf einem Mangel eines als Faktor VIII bezeichneten Gerinnungsproteins beruht, der Typus B auf einem Mangel des Gerinnungsfaktors IX. • In jüngerer Zeit ist das Fragile X-Syndrom gut untersucht worden, die häufigste erbliche Form geistiger Behinderung. Verantwortlich ist eine zerbrechliche Stelle auf dem X-Chromosom, wovon etwa eines von 2000 Kindern betroffen ist. Ursächlich ist eine Mutation im FMR1-Gen ( fragile X mental retardation gene) am Genort Xq27.3 (Fragiles X-Syndrom A), welche in einer Verlängerung repetitiver CGG-Sequenzen besteht. Durch diese Verlängerung der CGG-repeats wird das FMR1-Protein dysfunktional. Liegt die Anzahl der CGG-Wiederholungen zwischen 52 und 200, spricht man von einer Prämutation, welche als Vorstufe der Vollmutation mit mehr als 200 CGG-Wiederholungen anzusehen ist. Bei dem Fragilen X-Syndrom E ist der Genlocus Xq28, und betroffen ist das Trinukleotid GCC mit entsprechenden Auswirkungen auf das FMR2-Protein. Während Prämutationen von beiden Geschlechtern vererbt werden können, erfolgt die Längenveränderung der Prämutation zur Vollmutation nur bei der mütterlichen Vererbung. Eine Vollmutation in einem männlichen Patienten ist daher stets maternal vererbt und niemals Folge nur eines einzigen Mutationsgeschehens. Patienten mit Fragilem X-Syndrom sind geistig retardiert und weisen einige morphologische Symptome z. B. des Gesichtes auf, darüber hinaus häufig auch Verhaltensauffälligkeiten. Die Ausprägung der Erkrankung ist bei Frauen in der Regel schwächer als bei Männern. • Ein weiteres Beispiel für X-chromosomal gekoppelte Erkrankungen ist die Duchenne-Muskeldystrophie (OMIM 310200), von der etwa eines von 3000 männlichen Neugeborenen betroffen ist. Die Erkrankung äußert sich in progressivem Muskelschwund und führt zumeist im Alter von 20 bis 30 Jahren zum Tod. Das verantwortliche Gen ist sehr groß und umfasst mit über 2600 Kilobasen etwa 1 % des gesamten X-Chromosoms. Diese beträchtliche Größe macht das Gen für zahlreiche Mutationen anfällig. Bei Patienten wird kein oder nur noch eine sehr geringe Menge an Dystrophin gebildet, eines wichtigen Bestandteiles der Muskelzellmembran. Fehlt dieses Protein, ist die Durchlässigkeit der Membran erhöht, mit der Folge des erhöhten Einstromes von Schadstoffen und des Verlustes von Enzymen. In Folge dieses gestörten Zellstoffwechsels sterben die Muskelfasern ab. Nicht an das X-Chromosom gebunden, aber ebenfalls maternal vererbt sind Erkrankungen, die auf Mutationen der mitochondrialen DNA beruhen. Sie betreffen bevorzugt solche Organe, die einen hohen Energiebedarf haben, wie z. B. Gehirn und Herzmuskel. Charakteristisch ist in jedem Fall, dass die Symptome auch die mitochondriale oxidative Phosphorylierung betreffen. Aufgrund von Heteroplasmie
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Populationsgenetik
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(gleichzeitiges Vorliegen normaler und mutierter Mitochondrien in derselben Zelle) ist die Symptomatik bei den Patienten sehr heterogen. Beispiele für mitochondriale Erkrankungen sind die familiäre mitochondriale Encephalomyopathie (epileptische Anfälle, Muskelerkrankungen, gelegentlich Demenz und Ataxie), oder das KearnsSayre-Syndrom, eine progressive neuromuskuläre Erkrankung.
3.1.4.4 Genetische Beratung In einer Population kann die Allelfrequenz für eine genetisch bedingte Erkrankung anhand der Häufigkeit der Homozygoten nach dem Hardy-Weinberg-Gesetz berechnet werden, um damit die Häufigkeit der phänotypisch gesunden Träger des Alleles zu bestimmen. Im Falle der PKU beträgt die Häufigkeit Erkrankter im Durchschnitt 1:10 000 (entsprechend q2), d. h. q = 0,01. Da p + q = 1, gilt für p = 1 − 0,01 = 0,99 ≈ 1. Es folgt für die Heterozygotenhäufigkeit 2pq = 2:100 = 1:50; d. h. jedes fünfzigste Individuum der Population ist heterozygot für PKU. Hieraus folgt, dass seltene rezessive Allele in einer Bevölkerung im Wesentlichen heterozygot vorliegen. Das Verhältnis Heterozygoter zu Homozygoter beträgt damit 2pq:q2 = 2p/q, woraus unmittelbar ersichtlich wird, dass das Verhältnis Heterozygoter zu Homozygoter größer wird, je kleiner q ist (Hirsch-Kauffmann und Schweiger 1992). Alle in den vorangegangenen Kapiteln als Beispiel aufgeführten genetischen Erkrankungen können pränatal diagnostiziert werden. Die hierfür notwendigen fetalen Zellen können z. B. aus der Amnionflüssigkeit gewonnen werden. Dieser als Amniozentese bezeichnete Vorgang wird etwa in der 15. Schwangerschaftswoche durchgeführt. Auch eine Gewebeentnahme aus den Chorionzotten – Gewebe fetalen Ursprunges, welches den Embryo umgibt – ist bereits im ersten Drittel der Schwangerschaft möglich. Bei der Präimplantationsdiagnostik werden an einigen der noch undifferenzierten Zellen eines invitro gezeugten Kindes die erforderlichen DNA-Untersuchungen durchgeführt. Sofern sich keine genetische Erkrankung nachweisen lässt, werden die übrigen Zellen in die Gebärmutter der Mutter eingepflanzt, wo sie sich zu einem normalen Embryo entwickeln. Obgleich eine Reihe von genetischen Erkrankungen einen Schwangerschaftsabbruch legitimieren würde, bleibt das unlösbare ethische Problem, dass die werdenden Eltern vor einer schweren Entscheidung stehen, bei denen ihnen letztlich niemand helfen kann. Jeder pränatalen Diagnostik sollte also zwingend eine genetische Beratung vorausgehen (Hirsch-Kauffmann und Schweiger 1992). Im Zuge der genetischen Beratung wird das Erkrankungsrisiko eines Kindes abgeschätzt, wobei die so genannten a-priori-Risikofaktoren wie Genfrequenz in der Population, Mutationsrate und Stammbaum der Eltern ebenso einbezogen werden wie die so genannten konditionalen Faktoren, z. B. biochemische und klinische Befunde. Es wäre in einem angenommenen Beispiel denkbar, dass eine gesunde Frau direkte Verwandte hat, welche eine an das X-Chromosom gekoppelte erbliche Erkrankung aufweisen, z. B. Hämophilie. Sie würde dann eine genetische Beratung wünschen, um abschätzen zu können, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie Überträgerin dieser Krankheit ist. Wenn in diesem Beispiel sowohl ihr Bruder als auch ihr Onkel an Hämophilie erkrankt sind, trägt sie ein Risiko von 50 %, das defekte X-Chromosom von ihrer Mutter geerbt zu haben. Um die Wahrscheinlichkeit des
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Erkrankungsrisikos eines Kindes weiter eingrenzen zu können, werden im Zuge einer genetischen Beratung die genannten konditionalen Faktoren mit einberechnet. Zusätzlich zu der a-priori-Schätzung mit Hilfe des bekannten Stammbaumes der ratsuchenden Mutter und der a-posteriori-Schätzung für die nachfolgende Generation aufgrund etwa eines biochemischen Befundes wird die Wahrscheinlichkeitsberechnung für das Risiko des zu erwartenden Kindes in Abhängigkeit von seinem Geschlecht mit Hilfe des Bayes-Theorems (Evett und Weir 1998) abgeschätzt (Hirsch-Kauffmann und Schweiger 1992). Dieses Theorem, welches dem Kleriker Thomas Bayes des 18. Jahrhunderts zugeschrieben wird, ist ein sehr hilfreiches Modell, nicht nur zur Risikoabschätzung im Zuge der genetischen Beratung, sondern auch in Bezug auf forensische Fälle (s. Kap. 5.2). Zusammenfassung Kap. 3.1: Populationsgenetik
• Die differentielle Häufigkeit von Allelen und die Gründe für die festgestellten Genfrequenzen spielen eine Schlüsselrolle für das Verständnis der Evolution des Homosapiens und die Epidemiologie genetisch bedingter Erkrankungen. Die Populationsgenetik untersucht, auf welche Weise Allele von der Elternauf die Nachkommengeneration weitergegeben werden. Von zentraler Bedeutung in der Populationsgenetik ist das Hardy-Weinberg-Gesetz. • Lokale Populationen sind die aktuellen, real evolvierenden Einheiten einer Biospezies. Sie sind genetisch polymorph. Aufgrund der hohen Zahl von Polymorphismen ist jedes Individuum „biochemisch einmalig“, ausgenommen eineiige Mehrlinge. • Veränderungen von Genfrequenzen beruhen auf Mutation und Selektion (wichtiger Selektionsfaktor beim Menschen sind Infektionskrankheiten), genetischer Drift, Flaschenhals- und Gründereffekten, Migration, assortativer Paarung und Verwandtenehen. Positive assortative Paarung und Verwandtenehen beeinflussen nicht die Allelfrequenzen im Gesamtgenpool der Population, führen aber zu einer Erhöhung der Homozygoten unter den Nachkommen. • Gemeinsamkeiten im Genpool von Bevölkerungen beruhen in der Regel auf einem gemeinsamen Ursprung. Die Theorie der neutralen Evolution besagt, dass eine Vielzahl der auf der molekularen Ebene detektierbaren Polymorphismen selektionsneutral ist. Bei konstanter Rate der molekularen Evolution kann über das Modell der molekularen Uhr die Genealogie von Genen rekonstruiert werden. • Über die Variabilität genetischer Merker in rezenten Populationen können phylogeographische Linien rekonstruiert und damit wesentliche Bevölkerungsprozesse aufgeklärt werden, welche in der Vergangenheit abgelaufen sind. • Populationsgenetische Modelle sind außerordentlich hilfreich, die Häufigkeit genetisch bedingter Erkrankungen in einer Population abzuschätzen und spielen eine entsprechend wichtige Rolle bei der genetischen Beratung. Jeder pränatalen Diagnostik sollte zwingend eine solche Beratung vorausgehen.
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Humanökologie
Der anatomisch moderne Mensch hat sämtliche Kontinente mit Ausnahme der Antarktis dauerhaft besiedelt, wobei sein Primatenerbe der Flexibilität und des eher Generalisiert- als Spezialisiertseins außerordentlich hilfreich war. 7 Umweltadaptationen des Menschen sind jedoch nicht nur genetischer, sondern auch kultureller Natur bzw. Verhaltensanpassungen, welche es ihm ermöglicht haben, selbst in primär lebensfeindlichen Umwelten eine durchaus komfortable Mikroumwelt, z. B. in Form von beheizten Behausungen, zu etablieren, welche allerdings kaum kostenneutral zu erlangen ist.
Hierzu bedarf es nicht notwendigerweise moderner technischer Errungenschaften: Die Viliui Sakha siedelten ca. 1200 n. Chr. im Nordosten des heutigen Sibiriens, wo sie im Wesentlichen von der Pferde- und Rinderzucht lebten. Die Temperaturspitzen erreichten dort bis + 40 °C im Sommer und bis − 60 °C im Winter; das entspricht einer Temperaturdifferenz von bis zu 100 °C im Jahresverlauf (Crate 2009). Diese kulturelle, gelegentlich als „zweite Natur“ bezeichnete Eigenschaft des Menschen ist Bestandteil seiner natürlichen Lebensform ( Kastenholz 1993) und ermöglicht die Veränderung naturräumlicher Standorte gemäß den unmittelbaren Bedürfnissen einer Population, was zur Genese anthropogener Standorte mit den ihnen eigenen Charakteristika und Problemen führt. Kultur ist adaptiv, oft jedoch auch opportunistisch – ohne Beachtung der langfristigen Konsequenzen (z. B. Ausbeutung fossiler Energieträger; Bates 2001). Tatsache ist, dass die geographisch weite Verbreitung von Menschen deren hohe Toleranz gegenüber und Bewältigung vieler limitierender Faktoren bezeugt, wie Temperatur, Sauerstoffpartialdruck, Nahrungsressourcen, UV-Strahlung, Konkurrenten, etc. Solche Faktoren werden dann als „Umweltstressoren“ bezeichnet, wenn sie potentiell ein Verletzungs- oder Schadenspotential für die betroffenen biologischen Systeme (Organismus oder einzelne seiner Organe und Zellen) in sich bergen (Hoffman und Parsons 1991). Sie können zur Störung der Homöostase (= Gesamtheit der endogenen Regelvorgänge, welche für ein stabiles inneres Milieu sorgen) führen, zu welcher die Beibehaltung der Körperkerntemperatur, des pH-Wertes, des Blutdruckes, des Blutzuckerspiegels und viele andere Faktoren mehr zählen. Biologische und kulturelle Adaptationen verleihen menschlichen Populationen eine besonders hohe Umweltplastizität im Sinne der speziesspezifischen Reaktionsnorm (= beobachtbare Veränderungen des Organismus, welche als Funktion von Umweltkonditionen variieren) (Stearns 1989). Folgende prinzipielle Adaptionsmechanismen sind voneinander zu unterscheiden: • Akklimatisation = die phänotypische Plastizität, die es dem Individuum ermöglicht, Umweltveränderungen innerhalb von Tagen oder Wochen zu kompensieren, z. B. saisonale Temperaturschwankungen. Akklimatisationen sind reversibel. • Ontogenetische Adaptationen = Anpassung an Umweltstressoren während der Entwicklungsphase, z. B. an einen niedrigen Sauerstoffpartialdruck oder durch Erwerb von Immunität gegenüber endemischen Pathogenen.
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Bevölkerungsbiologie
• Demografische Adaptation, z. B. durch Anpassung der Bevölkerungsdichte an vorhandene und produzierbare Nahrungsressourcen. • Genetische Adaptationen (vgl. Kap. 3.1) • Kulturelle und Verhaltensanpassungen. Diese können außerordentlich flexibel sein und das Resultat kurzfristiger strategischer Entscheidungen; sind in Abhängigkeit gegebener Umweltparameter (z. B. der mittleren Jahrestemperatur) bei traditionaler Lebensweise aber auch sehr konstant. Aufgrund der Komplexität menschlicher Umweltbeziehungen bezieht sich die Mehrzahl der einschlägigen Publikationen auf Anpassungen an physikalische (klimatische) und biologische Umweltstressoren und basiert dabei auf der Benennung der jeweiligen limitierenden Faktoren (Kälte, Nahrungs- und Wasservorkommen) im Sinne von „single-stressor-Modellen“. Diese werden der Thematik jedoch nur bedingt gerecht (Kormondy und Brown 1998). Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der Terminus „Adaptation“ insofern doppeldeutig ist, als er gleichermaßen den Anpassungsprozess, als auch das angepasste Merkmal bzw. den angepassten Merkmalskomplex bezeichnet.
3.2.1
Homo sapiens – eine polytypische Spezies
Das äußere Erscheinungsbild von Menschen ist vielfältig: es existieren Menschen mit verschiedenen Proportionen (gedrungene oder lineare Statur), Hautfarben, Haar- und Augenfarben, Haarformen (straff bis spiralig gelockt), Gesichtsformen, etc. Derartige biologische Merkmale häufen sich in einigen Populationen, sind in anderen dagegen selten oder fehlen sogar. Ebenso verhält es sich mit biologischen Merkmalen, welche nicht unmittelbar mit den Sinnen erfasst werden können, wie Blutgruppen-, Enzym- und DNA-Polymorphismen (s. Kap. 3.1). Die Populationszugehörigkeit von Menschen wird häufig noch durch nicht-biologische Merkmale unterstützt, wie z. B. Tracht, Gebräuche oder auch Religion. Als Angehörige der Primaten sind Menschen „Augentiere“ mit der Folge, dass die spontane Zuweisung der Gruppenzugehörigkeit eines Anderen primär nach den äußerlich sichtbaren Merkmalen, etwa der Hautfarbe, erfolgt. Noch immer hält sich hartnäckig der Begriff der „Menschenrassen“ mit einer Einteilung der geographischen Gruppen in Europide, Indianide, Mongolide, Negride…, wie z. B. bei Knußmann (1996), obgleich eingeräumt wird, dass der Begriff für Menschen völlig obsolet ist („Gerade in neuerer Zeit wird mitunter dem Rassismus naiverweise dadurch zu begegnen versucht, dass schlichtweg behauptet wird, es gäbe keine menschlichen Rassen. In gewisser Hinsicht ist dies freilich eine Frage der Definition; denn im Sinne biologisch scharf voneinander abgegrenzter Gruppen gibt es tatsächlich keine Rassen, da solche Abgrenzungen im subspezifischen Bereich nicht möglich sind“; Knußmann 1996). Richtig ist an dieser Definition lediglich, dass Menschen in Bezug einiger der oben angeführten biologischen Merkmale eine graduelle Variabilität hinsichtlich ihrer geographischen Verbreitung aufweisen, und dass nur gemäß dem in der Anthropologie überholten Typologiekonzept (s. Kap. 2.3.1) eine Einteilung in Europide, Mongolide, etc. vorgenommen werden kann (z. B. Clauss und Clauss 2009,
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Humanökologie
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obgleich diese nicht von Rassen, sondern von Ethnien sprechen). Diese Definition könnte jedoch suggerieren, dass es eine biologische Grundlage für die Einteilung von Menschen in „Rassen“ gebe. Das Negieren der Existenz von „Menschenrassen“ dient auch nicht einer „naiven“ Argumentation gegen rassistische Strömungen, es ist ohnehin fraglich, ob eine Ideologie Sachargumenten gegenüber offen ist. Vielmehr gilt es zu beantworten, ob „Menschenrassen“ auf der Grundlage eines soliden biologischen Fundamentes definiert werden können, bzw. welchen biologischen Erklärungswert derartige Kategorien haben könnten. 7 Die Frage nach der Existenz von Menschenrassen wird bis in die Gegenwart heftig und kontrovers debattiert, wobei die Antwort aus biologischer Sicht rasch und sicher mit „nein“ gegeben werden kann.
Rassen sind Zuchtprodukte, wie unsere heutigen Haus- und Nutztierrassen. Sie sind durch bestimmte Merkmale charakterisiert, wie Fellfarbe und -zeichnung, Größe und Proportionen, Fleischqualität, Milchleistung, Verhaltensmerkmale und vieles mehr. Die Einhaltung dieser Rassestandards ist Aufgabe der Züchter. Selbstverständlich gibt es auch innerhalb einer Rasse eine mehr oder weniger große Merkmalsvariabilität, jedoch werden Tiere, welche den Standards nicht genügen, in der Regel von der Zucht ausgeschlossen. 7 Rassen sind somit anthropogene Produkte, welche in freier Wildbahn nicht existent sind. Konsequent kommt die Subspezies-Kategorie der Rasse auch in der zoologischen Taxonomie und Nomenklatur nicht vor. Freilich ist die Debatte mit diesem einfachen und klaren Hinweis darauf, dass der Terminus „Rasse“ auf menschliche Populationen nicht zutrifft und daher falsch ist, keineswegs beendet.
Hier helfen auch andere, auf dem dynamischen Populationskonzept beruhende Klassifikationsversuche nicht weiter, wie z. B. jene, dass Menschenrassen Populationen seien, welche sich bezüglich der Genfrequenzen voneinander unterscheiden. Solche Populationen existieren ohne Frage, aber gemäß dieser Definition würden sämtliche menschlichen Populationen das Rassekriterium erfüllen. Ferner seien Subspezieskategorien dann erkennbar, wenn 75 % der Individuen einer Gruppe eindeutig dieser Gruppe zugeordnet werden können – hier könnte man sicherlich die autochthone Bevölkerung der Kontinente voneinander unterscheiden, jedoch gelingt eine Zuordnung sämtlicher Menschen dieser Erde keinesfalls, und das Ende ist eine vergleichsweise hilflose Auflistung von „Sondergruppen“ (Knußmann 1996). Dass eine solche Kategorisierung von Menschen auch gar nicht gelingen kann, zeigt die rasante Aufdeckung genetischer Polymorphismen: Die genetische Diversität innerhalb einer kontinentalen Großgruppe (Europa, Ostasien, subsaharisches Afrika) liegt bei 93–95 %, lediglich 3–5 % der Diversität beruhen auf der Variabilität zwischen diesen Großgruppen (Buselmaier und Tariverdian 2006) – auch wenn einige wenige phänotypische Merkmale (z. B. die Hautfarbe) für uns „Augentiere“ besonders sinnfällig erscheinen. Wesentlich ist aber vor Allem die Aussage von Harrison et al. (1988): „Race as such explains practically nothing.“, d. h. die Bildung von
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Bevölkerungsbiologie
Menschenkategorien hat keinerlei Erklärungswert. Trotz aller sinnfälligen morphologischen Unterschiede und deren geographischer Verteilung ist die genetische Diversität von Menschen weltweit kleiner als z. B. in rezenten Schimpansenpopulationen, welche ihre genetische Diversität über einen vergleichbaren evolutiven Zeitraum akkumulieren konnten (Ferris et al. 1981; Ruano et al. 1992; Marks 1995; Gagneux et al. 1999 (vgl. auch Kap. 3.1.3, Evolutionsgenetik). Bis heute glauben viele Nicht-Biologen, dass es inhärente, biologische Rasseunterschiede zwischen den menschlichen Populationen gebe (Almquist und Cronin 1988). Dabei ist jeder Rassegedanke letztlich ein soziales oder sozialpolitisches Konstrukt, was sich unter anderem an dem Verhalten von Kleinkindern zeigt, welche zwar äußerliche Unterschiede zwischen Menschengruppen wahrnehmen, jedoch nicht als signifikant bewerten (Holmes 1995). Die rein fiktive Behauptung der Existenz von nicht-trivialen, erblichen und grundlegenden Merkmalen, welche die Mitglieder einer Population gemeinsam haben, und welche in anderen Gruppen fehlen würden (Graves 2001), ist, vor allem bei suggestiver Präsentation, geeignet und auch die Grundlage für die Bewertung von Menschen außerhalb der eigenen Gruppe bis hin zu deren Diskriminierung, und gibt damit die Legitimation für Rassismus. Selbst für kognitive Leistungen wurden signifikante Unterschiede zwischen Menschen verschiedener geographischer Herkunft vorgeschlagen (Herrnstein und Murray 1994). Auch ein IQ-Wert ist grundsätzlich nicht anders zu bewerten als ein morphologisches Merkmal, und keines dieser Merkmale lässt Rückschlüsse auf Persönlichkeit und oder gar moralische Qualitäten des Probanden zu. Die phänotypische Varianz eines Merkmales ist hochkomplex und setzt sich nach Graves (2001) wie folgt zusammen: VarianzPhänotyp = Varianzgenetisch + Varianzumweltbedingt + VarianzGen /Umwelt-Interaktion + KovarianzGen/Umwelt + VarianzMessfehler. Eine bestimmte Typologie erlaubt somit in der Regel keine sofortigen Rückschlüsse auf die genetische Grundlage. Die sozialpolitische Konstruktion von Menschenrassen zeigt sich z. B. in der Definition von Immigranten in die USA: So finden sich neben AfricanAmericans, Caucasians, Asian-Americans und NativeAmericans auch Hispanics – es wird also willkürlich einmal nach geographischer Herkunft, ein anderes Mal nach der Zugehörigkeit zu einer Sprachfamilie kategorisiert (Marks 1995). Angesichts der bis heute anhaltenden rassistischen bzw. rassistisch geprägten Übergriffe in allen Teilen der Welt besteht offenbar nach wie vor ein hoher Aufklärungsbedarf, obgleich das rassistische Vorurteil vermutlich so alt ist wie die geschriebene Geschichte. Das Bedürfnis nach einer Gruppenzugehörigkeit ist einem sozialen Primaten und damit auch Menschen inhärent, gleichzeitig ist eine wie auch immer geartete Definition der eigenen „Innengruppe“ und deren Absetzung von anderen „Außengruppen“ impliziert (s. Kap. 6). Die Einsicht, dass „Menschenrassen“ sozialpolitische Konstrukte und nicht biologische Realität sind, eröffnet zumindest potentiell eine Perspektive, rassistischem Gedankengut entgegenwirken zu können, da soziale Praxis rascher wandelbar ist als genetische Konstitution (Graves 2001). 7 Es steht außer Frage, dass sich die Populationen auf den Kontinenten unserer Welt auch morphologisch unterscheiden, z. B. in Bezug auf die Körperstatur und die Hautfarbe. Diese Merkmale variieren jedoch graduell mit der Folge, dass die Merk-
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Humanökologie
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malsvariabilität innerhalb einer kontinentalen Gruppe größer ist als zwischen den Gruppen. Es kann gezeigt werden, dass wesentliche morphologische wie physiologische Merkmale und differentielle Genfrequenzen der Populationen als ökologische Anpassung an physikalische und biologische Charakteristika dieser Standorte verstanden und erklärt werden können.
3.2.2
Anpassung an physikalische Umweltparameter
3.2.2.1 Temperatur: Adaptation an kalte und heiße Klimazonen Als warmblütiges Säugetier ist es für den Menschen lebensnotwendig, die Körperkerntemperatur in einem sehr engen Bereich konstant zu halten (normale Temperatur im Inneren des Rumpfes und Hirnschädels: 36,5–37 °C; Schmidt et al. 2000), in welchem die inneren Organe funktional sind. Vom Körperkern unterschieden wird die Körperschale, welche alle jene Gewebsschichten unter der Haut umfasst, in denen ein nach außen gerichtetes Temperaturgefälle auftreten kann, und deren Toleranz gegenüber Temperaturschwankungen größer ist. Grundsätzlich kann ein Temperaturausgleich mit der Außentemperatur über Konvektion (durch Bewegung der Wärmeträger, z. B. bewegte Luft), Konduktion (Wärmeleitung, Hautkontakt mit Oberflächen) und Aufnahme bzw. Abgabe langwelliger Infrarotstrahlung erfolgen. In Abhängigkeit von kalten oder heißen Außentemperaturen kommen physiologische Regulationsmechanismen dazu, welche im Dienst der Thermoregulation stehen und im Wesentlichen die Muskulatur, die Hautdurchblutung, den Fettstoffwechsel und die Schweißsekretion betreffen. Grundsätzlich gilt, dass Menschen besser an Hitze als an Kälte adaptiert bzw. adaptierbar sind, wahrscheinlich als stammesgeschichtliches Erbe eines ehemals tropischen Primaten. Neben Thermorezeptoren in der Haut und einigen inneren Organen sind es insbesondere im Hypothalamus lokalisierte Zentren, welche die Körpertemperatur regeln (Möricke et al. 1991; Schmidt et al. 2000). Dauerhaft von Menschen besiedelte kalte Standorte sind die Arktis, aber auch das Innere der gemäßigten Breiten mit harten Wintern, sowie große Höhenlagen (Anden, Himalaya), welche starke tageszeitliche Temperaturschwankungen aufweisen (Box 3.6). Nicht zu vernachlässigen ist Wind als Temperaturfaktor, welcher einen Wärmeverlust durch Konvektion beschleunigt (vgl. den Unterschied zwischen der realen und der „gefühlten“ Außentemperatur). Ebenfalls beträchtlich beschleunigt ist die Wärmeabgabe des Körpers im Wasser (bis zu 25fach; Kormondy und Brown 1998), so dass selbst in warmen Klimaten ein verlängerter Aufenthalt im Wasser rasch zur Unterkühlung führt. Bei Unterschreitung der normalen Körperkerntemperatur kommt es zur Hypothermie, welche zu Erfrierungen und letztlich zum Tod führen kann. Sinkt die Körperkerntemperatur um lediglich 1 °C, setzt eine kompensierende metabolische Wärmeproduktion ein. Von einer Körperkerntemperatur von 35 °C an kommt es zum Kältezittern, ab 34 °C sind physische und mentale Funktionen beeinträchtigt, und bei einer Körperkerntemperatur von 31–32 °C tritt ohne Intervention von Außen
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der Tod ein (Beall und Steegmann 2000). So ist es nicht verwunderlich, dass es vornehmlich kulturelle und Verhaltensadaptionen sind, welche es Menschen ermöglicht haben, an kalten Standorten komfortable Mikroklimate zu schaffen. Geeignete Kleidung und isolierende Behausungen gehören ebenso dazu wie ein den tageszeitlichen Temperaturschwankungen angepasstes Aktivitätsmuster, sowie die Produktion von Wärme durch Feuer. Die Ernährungsweise muss den gesteigerten physiologischen Prozessen entsprechen, insbesondere heiße Nahrung und heiße Getränke sind geeignet, Wärme unmittelbar in den Körperkern zu transportieren (Kormondy und Brown 1998; Moran 2007). Biologische Anpassungsmechanismen betreffen zunächst eine vom sympathischen Nervensystem gesteuerte periphere Vasokonstriktion (= Verengung der Blutgefäße) zur Reduktion der Wärmeabgabe nach Außen. Eine möglicherweise populationsspezifische adaptive Fähigkeit ist die kälteinduzierte rhythmische Vasodilatation (= Erweiterung der Blutgefäße) (CIVD = cold induced vasodilation) in den Extremitäten, wodurch vor allem Finger und Zehen in zeitlichen Abständen durch die verbesserte Durchblutung kurzfristig wieder erwärmt werden, um Erfrierungen zu vermeiden und die Funktionalität zu gewährleisten (Nelms und Soper 1962; Beall und Steegmann 2000). Sehr effizient in Bezug auf die endogene Wärmeproduktion ist das Kältezittern, eine unwillkürliche, rhythmische Zunahme der Muskelaktivität, welche den Grundumsatz um das 2–5fache erhöht, aber bezüglich des erforderlichen Energieaufwandes sehr kostenintensiv ist. Gleiches gilt für die Wärmeproduktion durch körperliche Aktivität an sich (Kormondy und Brown 1998). Als „metabolisches Äquivalent“ wird die Erzeugung von 1 kcal/kg/ Stunde bezeichnet: dies entspricht der Leistung des Grundumsatzes. Kältezittern produziert im erwachsenen Menschen circa 3 kcal/kg/Stunde, körperliche Aktivität im durchtrainierten Menschen sogar bis zu 15 kcal/kg/Stunde (Piantadosi 2003). Somit kann schon mäßige Bewegung bei Kälte das Zittern völlig unterdrücken. Viele Säugetiere verfügen über die Fähigkeit der zitterfreien Thermogenese über braunes Fettgewebe, welches über das Hormon Norepinephrin die Stoffwechselrate erhöht. Die Zellen des braunen Fettgewebes haben nicht nur eine erhöhte Dichte an Mitochondrien, sondern diese Mitochondrien besitzen auch ein so genanntes Entkopplerprotein ( uncoupling protein 1, UCP1), welches die Atmungskette von der ATP-Synthese abkoppelt. Wird das UCP1 über eine Sympathikus-Innervierung aktiv, wird die Mitochondrienmembran für Protonen durchlässig, so dass der für die ATP-Synthese erforderliche Protonengradient nicht mehr aufrecht erhalten und die freiwerdende Energie nicht mehr als ATP gespeichert werden kann, sondern direkt als Wärmeenergie zur Verfügung steht (Heldmeier und Neuweiler 2004). Menschliche Neugeborene verfügen über braunes Körperfett, da sie aufgrund ihres hohen Oberflächen/Volumen-Verhältnisses, der geringen Dicke der Körperschale und der noch dünnen Fettschicht in großer Gefahr der Hypothermie sind (Schmidt et al. 2000). Bei Säugetieren mit einem Körpergewicht von mehr als ca. 10 kg, und somit auch bei erwachsenen Menschen, spielt die zitterfreie Thermogenese eine untergeordnete Rolle.
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Humanökologie
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Box 3.6: Kälteadaptation Standorte Arktis, Binnenregionen der gemäßigten Breiten (saisonal intensive Kälte), Höhenlagen, trockene Standorte (nächtliche Kälte) ▼ ▼ BiologischeAnpassung KulturelleundVerhaltensanpassung Körperform (Oberflächen/Volumen-Verhältnis) Bekleidung, isolierende Behausung, Vasokonstriktion, CIVD, Zittern, Unterhautfett- Feuer, heiße Nahrung und Getränke, zeitgewebe, Bemuskelung, energiereiche Ernährung liche Aktivitätsmuster ▼ ▼ DemografischeEffekte Kosten Hohe Risiken für Kinder und für Erwachsene bei Rohstoffe und Arbeitsaufwand für die bestimmten Arbeiten Herstellung von Kleidung, Behausung etc., Nahrungsenergie, Brennstoffe Verändert nach Kormondy und Brown (1998)
Die Bedeutung der zitterfreien Thermogenese für erwachsene Individuen ist nach wie vor strittig, jedoch ist diese zumindest für einige Populationen naheliegend (Hong 1973). Selbst für die Inuit11, jene menschliche Populationen, die seit Jahrtausenden in einer besonders kalten und harschen Umwelt leben, ist die Frage nach genetisch bedingten physiologischen Adaptionen bis heute nicht vollständig geklärt (Piantadosi 2003). Tatsache ist, dass bei Inuit ein gegenüber Europäern um 25–50 % erhöhter Grundumsatz gemessen wurde. Ob dies jedoch Folge einer genetisch bedingten hocheffizienten Thermoregulation, oder eher Folge permanent hoher körperlicher Aktivität und spezieller Ernährungsweise ist, kann nicht klar voneinander getrennt werden (Schmidt et al. 2000). Eine Akklimatisierung an Kälte ist Menschen möglich, kenntlich u. a. an einer Absenkung der für das Einsetzen des Kältezitterns verantwortlichen Temperaturgrenze. Weitere biologische Anpassungen, welche auch im Zuge einer Akklimatisierung erworben werden können, sind eine isolierende Körperzusammensetzung mit einer dicken Unterhautfett- und Muskelschicht (Beall und Steegmann 2000). Sind die physiologischen Mechanismen zur Thermoregulation nicht mehr ausreichend, und/oder die Verhaltensanpassungen insuffizient (hierzu zählt die isolierende Bekleidung ebenso wie z. B. das Vermeiden von Alkohol, welcher zu einer kontraproduktiven peripheren Vasodilatation führt), kommt es zur Hypothermie, die perdefinitionem bei einer Körperkerntemperatur von 35 °C einsetzt. Aufgrund der Beeinträchtigung des zellulären Stoffwechsels arbeiten z. B. die Ionenkanäle der Zellmembranen langsamer, so dass die erregbaren Zellen des Herzens und des Nervensystems eine verlangsamte elektrische Impulsrate haben. Hiermit erklären sich die kognitiven Beeinträchtigungen, betreffend z. B. das Erinnerungsvermögen und eine Häufung von Fehlentscheidungen. Bei echten Erfrierungen werden die Zellen nekrotisch durch Bildung von intrazellulären Eiskristallen, welche die Zelle dehydrieren, die Elektrolytkonzentration verändern, und letztlich durch Dena11
Inuit = autochthone Bevölkerung der Küsten Grönlands, Nordamerikas und Nordostasiens.
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Bevölkerungsbiologie
turierung von Proteinen und Enzymen den Zelltod herbeiführen (Piantadosi 2003). Es ist auffällig, dass die weltweite Verbreitung mitochondrialer Haplogruppen (s. Kap. 3.1.3) in Bezug auf die wesentlichen Aufspaltungsereignisse eine starke Beziehung zum Breitengrad aufweisen: z. B. haben nur Abkömmlinge der M- und N-Haplogruppen die gemäßigten Breiten Europas kolonisiert, eine zweite Aufspaltung betrifft das gemäßigte Zentralasien und die arktischen Regionen Sibiriens. Es wurde vorgeschlagen, dass hier eine klimatisch bedingte Selektion in dem Sinne stattgefunden hat, dass mtDNA-Varianten, welche eine effizientere Abkopplung der Atmungskette von der ATP-Produktion gestatten (s. oben), in kälteren Regionen einen Selektionsvorteil hatten (Wallace 2007). Bezüglich heißer Standorte ist zwischen trocken/heißen und feucht/heißen Umwelten zu unterscheiden: Beiden sind hohe Temperaturen gemeinsam, jedoch sind trocken/heiße Standorte (heiße Wüsten und Savannen) durch eine geringe Primärproduktion, dünne bis fehlende Pflanzenbedeckung (damit auch wenig Schatten) und ausgesprochene Wasserknappheit gekennzeichnet, während an feucht/heißen Standorten (tropische Regenwälder) die Temperaturen und tageszeitlichen Temperaturdifferenzen weniger extrem, eine üppige Primärproduktion und Pflanzenbedeckung sowie reichliches Vorkommen von Wasser typisch sind (Box 3.7, 3.8). Box 3.7: Adaptation an heiße und trockene Standorte Standorte Wüste, Savanne (tagsüber heiß bis sehr heiß, nachts kühl bis kalt) ▼ ▼ BiologischeAnpassung KulturelleundVerhaltensanpassung Körperform (Oberflächen/Volumen-VerVentilierte Behausungen, zeitliche Aktivitätshältnis), Vasodilatation, Transpiration muster, Schaffen von Schatten, Kühlung durch Evaporation DemografischeEffekte Kosten ▼ ▼ Hohe Risiken für Kinder, ältere Menschen Wasser, Ressourcen und Arbeitsaufwand für Kühlsysteme, Behausungen, Sonnenschirme und solche mit kardiovaskulären Erkranetc. kungen und Adipositas Verändert nach Kormondy und Brown (1998)
Als biologische Anpassungen an trockene Hitze kommt es zunächst zu einer Vasodilatation und Vermehrung des Blutflusses in die Extremitäten, um Wärme aus dem Körperkern über die Körperschale abzuführen. In der Konsequenz wird der Herzschlag rascher und kräftiger, was für Risikopersonen ein besonderes Problem darstellt. Die normale Körperkerntemperatur des Menschen kommt der höchsten tolerierbaren Kerntemperatur von 40–42° C ohnehin nahe, bei deren Überschreiten es zu Hämorrhagien und Organversagen kommt. Allein aufgrund körperlicher Aktivität wird endogen Wärme produziert (s. oben), und angesichts der Tatsache, dass der Zellstoffwechsel bei jedem Ansteigen der Körperkerntemperatur um 1° C seinerseits um 13 % steigt, ist auch in Bezug auf Hitzestress die Spanne zwischen
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normaler Funktion und letaler Dysfunktion ausgesprochen eng. Hitzebedingte Erschöpfungszustände, gekennzeichnet durch Schwäche, Müdigkeit, Kopfschmerz, Krämpfe und Erbrechen sowie mentale Beeinträchtigung, sind Folge von Dehydrierung und Verlust von Elektrolyten durch Schwitzen (s. unten) und können entweder kontinuierlich zu dem lebensbedrohlichen Hitzschlag führen, welcher (Namensgebung!) jedoch auch plötzlich und ohne Vorwarnung eintreten kann. Klassische Symptome des Hitzschlages sind eine Körperkerntemperatur über 41 °C, ausgetrocknete Haut und Dysfunktionalität des Zentralnervensystems mit Delirium oder Koma, Folge eines zu geringen Plasmavolumens durch fortschreitende Austrocknung und letztlich Koagulation des Blutes (Beall und Steegmann 2000). Körpermasse und Körperoberfläche sind wichtige Parameter, die bestimmen, wie rasch es zu einem Hitzschlag kommen kann. In einem heißen Sommer kann die Temperatur in einem geschlossenen Auto leicht auf 40–60 °C steigen. Ein Kind von etwa 10 kg kann unter diesen Bedingungen bereits nach weniger als 30 min an einem Hitzschlag sterben (Piantadosi 2003). Ein wichtiges physiologisches System zur Abkühlung ist das Schwitzen, was bei Menschen durch die Anzahl von etwa 2 Mio. ekkriner Schweißdrüsen (= Schweißdrüsen, welche nur Wasser und Elektrolyte sezernieren), welche bis zu 2 L Schweiß pro Stunde produzieren können, in hoch effizienter Weise ausgeprägt ist. Die Befeuchtung der Haut mit Schweiß produziert Verdunstungskälte (Verdunstungswärme von reinem Wasser: ca. 2400 kJ/L; Mörike et al. 1991). Angesichts der enormen Schweißmengen, die ein Mensch unter Hitzestress produzieren kann (10–12 L pro Tag bzw. 500 g/m2/Stunde; Schmidt et al. 2000; Kormondy und Brown 1998) ist es unbedingt erforderlich, dem Körper Wasser und Elektrolyte in ausreichender Menge wieder zuzuführen, wobei an heißen Wüstenstandorten der lokale Wassermangel zum physiologischen Problem werden kann. Kulturelle und Verhaltensanpassungen tragen diesem Umstand Rechnung: beispielsweise eine ausgeprägte Tageszeitrhythmik in Bezug auf körperliche Aktivitäten (Siesta), das Tragen leichter und lockerer Kleidung (welche zugleich das Risiko des Sonnenbrandes minimiert), der Bau isolierender Behausungen und die Induktion von Evaporation durch ausgeklügelte Kühlsysteme (Moran 2007). Populationen wie die Khoi San in der Kalahari, welche traditional in ariden Klimaten leben, haben spezifische physiologische Adaptationen betreffend den Wasserhaushalt und den Fettstoffwechsel, deren genetische Grundlagen noch nicht restlos aufgeklärt sind (Schuster et al. 2010). Generell jedoch sind Menschen abhängig von einer regelmäßigen Wasserzufuhr, da der Körper keinen nennenswerten H2OSpeicher hat, Körperflüssigkeiten wie Urin und Bilirubin rascher produziert werden als metabolisches H2O, und ferner eine ständige Evaporation über die Lunge und die Haut stattfindet. Als Faustregel gilt, dass ein Erwachsener ca. 100 Stunden ohne Wasser überleben kann. Wenn etwa 12 % des Körpergewichtes durch Dehydrierung verloren gehen, kommt es zum klinischen Schockzustand: bei einer 70 kg schweren Person beträgt der kritische Wasserverlust also etwa 8,5 L. Die physiologische Osmolarität des Blutplasmas liegt zwischen 280 und 290 mmol/L. Diese wird von speziellen Osmorezeptoren im Gehirn kontrolliert, und bei einem Ansteigen der Salzkonzentration wird im Wesentlichen durch die Neurohypophyse das antidiuretische
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Hormon ausgeschüttet, welches in der Niere die Reabsorption von H2O steigert und zum Ausscheiden eines konzentrierteren Urins führt. Dieser Mechanismus spielt eine Schlüsselrolle in der physiologischen Prävention der Dehydrierung durch Wärmestress, kann aber die adäquate Wasserzufuhr durch regelmäßiges Trinken nicht ersetzen. Es ist allgemein bekannt, dass Salzwasser den Durst nicht löscht. Meerwasser hat im Durchschnitt eine Osmolarität von 1035 mmol/L, was mehr als dem Dreifachen der Osmolarität des Plasmas entspricht. Trinken von Meerwasser (z. B. nach einem Schiffbruch) verschlimmert also die Dehydrierung (Piantadosi 2003). An feucht-heißen Standorten nützt der physiologische Mechanismus des Schwitzens nichts mehr, da in Abhängigkeit von der Luftfeuchtigkeit die Verdunstung des Schweißes nicht mehr erfolgen kann. An diesen Standorten wird die Kleidung minimiert; in Bezug auf die Behausungen ist die Ventilation von allen Seiten notwendig, so dass die Häuser z. B. bevorzugt auf Stelzen errichtet werden (Moran 2007). Ebenso wie bei der Kälteadaptation kommt es bei Hitzestress zur Akklimatisierung, kenntlich z. B. an einem Nachlassen der Schweißsekretion und Zunahme des Plasmavolumens (Schmidt et al. 2000). Bereits vor einigen Jahrzehnten wurde die „Hypothese der Natrium-Retention“ aufgestellt, welche besagt, dass besonders in feuchtheißen Klimaten solche Individuen einen Selektionsvorteil haben, welche weniger Natrium ausscheiden. Dieses Element geht in relativ großer Menge mit dem Schweiß verloren, ist aber andererseits essentiell für viele metabolische Prozesse. Zwischenzeitlich scheint sich diese Hypothese zu bestätigen, da die Häufigkeit einiger genetischer Varianten, welche in den Salzmetabolismus involviert sind, signifikant mit dem Breitengrad des Lebensraumes korrelieren (Hancock und Di Rienzo 2008). Box 3.8: Adaptation an heiße und feuchte Standorte Standorte Regenwald (heiß und feucht mit geringer tageszeitlicher Schwankung) ▼ ▼ BiologischeAnpassung KulturelleundVerhaltensanpassung Körperform (Oberflächen/Volumen- Ver- Ventilation, Kühlung durch Evaporation wenn möglich, Minimierung von Kleidung, ventilierte hältnis), Vasodilatation, Transpiration Behausung wenig effizient ▼ ▼ DemografischeEffekte Kosten Wasser, besondere Bauweise Hohe Risiken für Kinder, ältere Menschen und solche mit kardiovaskulären Erkrankungen; Probleme bei schwererer körperlicher Arbeit Verändert nach Kormondy und Brown (1998)
Nach Roberts (1978) treffen die für warmblütige Tiere aufgestellten Regeln bezüglich der Adaption von Körperform und -proportion an die unterschiedlichen Klimastandorte der Erde auch auf Menschen zu.
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Humanökologie
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7 Nach der Bergmann’schen Regel sind warmblütige Tiere im kalten Habitat größer. Da Volumen und Masse eines Körpers in drei Dimensionen zunehmen, die Oberfläche dagegen im Quadrat, haben gleichgeformte große Körper ein geringeres Oberflächen/Volumenverhältnis und besitzen somit einen besser gegen Kälte isolierten Körperkern. Die negative Korrelation zwischen mittlerer Jahrestemperatur und Körpervolumen ist daher größer als jene zwischen Temperatur und Körperhöhe. Zusätzlich besagt die Allen’sche Regel, dass warmblütige Tiere in kalten Klimaten kürzere Extremitäten haben als in warmen, wiederum eine Adaptation im Sinne der Reduktion der Körperoberfläche und damit Wärmeabstrahlung.
Tatsächlich zeichnen sich z. B. die Inuit durch einen kompakten, eher gedrungenen Körperbau aus, gegenüber der sehr viel lineareren Statur vieler Populationen des tropischen Afrika. Autochthone Bevölkerungen der Regenwaldbiome sind häufig von geringer Körperhöhe. Angesichts der o. a. biologischen Adaptationen, z. B. des isolierenden Faktors von Unterhautfettgewebe und Muskelmasse, sowie der zahlreichen hochwirksamen kulturellen und Verhaltensadaptationen, sind die Klimagradienten in Bezug auf den Körperbau beim Menschen jedoch nicht ganz so klar wie bei Tieren (Walter 1994). Es ist jedoch denkbar, dass in der Vorzeit diese klimabedingten Proportionsunterschiede prononcierter waren als heute, da das Oberflächen/Volumen-Verhältnis ohne Zweifel in bestimmten Klimazonen adaptiv ist (Trinkaus 1981; Holliday 1997). Nach Katzmarzyk und Leonard (1998) sind diese klimatischen Relationen zur Körperstatur in Rezentbevölkerungen eher schwach ausgeprägt, überwiegend aufgrund der seit einiger Zeit beobachtbaren Größen- und Volumenzunahme von Populationen an tropischen Standorten, so dass auch andere Parameter wie eine zunehmend verbesserte Ernährungssituation eine mit den allgemeinen Klimaregeln interferierende Rolle spielen könnten (s. Kap. 4.1.2). Eine weitere Klimaregel die Nasenform betreffend (Thomson’s Regel), welche beinhaltet, dass Menschen in kühlen und vor allem trockenen Klimaten höhere und schmalere Nasen hätten, um die Atemluft anzuwärmen und anzufeuchten, konnte nicht wirklich bestätigt werden (Franciscus und Long 1991). Selbst die Extremstandorte der Erde sind heute dauerhaft von Menschen der unterschiedlichsten Größen und Proportionen besiedelt. Es bleibt aber die Tatsache, dass bestimmte Mitglieder einer Population ein höheres Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko tragen (vgl. Box 3.6–3.8).
3.2.2.2
Strahlung: Anpassung an hohe und niedrige Intensität von UV-B-Strahlung Die Sonneneinstrahlung, welche die Erde erreicht, wird entsprechend des Wellenlängenspektrums eingeteilt in Infrarotstrahlung (> 750 nm), sichtbares Licht (400–750 nm) und ultraviolettes Licht (UV-Strahlung, < 400 nm), letztgenanntes wiederum in UV-A- (315–400 nm) und UV-B-Strahlung (280–315 nm). Die Intensität der UV-B-Strahlung variiert beträchtlich mit dem Breitengrad sowie saisonal. Sie ist für Menschen u. a. deshalb lebenswichtig, als UV-B-Strahlung von dem Steroid 7-Dehydrocholesterol (7DHC) in den Zellen der Epidermis absorbiert wird und dort eine photochemische Reaktion auslöst, welche essentiell für die Bildung des Vitamin D3 ist (Abb. 3.5). 7DHC wird durch die Absorption von Photonen
3
210
Bevölkerungsbiologie
UV-B
7DHC
Lumisterol Tachysterol
Pro-D3
Haut wärmeinduzierte Isomerisierung Vitamin D3
Vit. D3 Vitamin D3 binding protein
25-OHD3
1,25-OHD3
Leber
Niere
aktives Vitamin D3
Abb. 3.5 Stufen der Vitamin D3-Synthese. (Vgl. Text)
zunächst in Provitamin D photokonvertiert, welches seinerseits thermisch (durch die Körpertemperatur) in Vitamin D3 umgewandelt wird. Dieses wird an das Vitamin-D-bindende Protein gebunden und aus der Haut über das Blut zunächst in die Leber, dann in die Niere transportiert, wo jeweils eine Hydroxylierung (an Position 25 bzw. 1) erfolgt und somit das Vitamin D3 in seine aktive Form (1,25-Dihydroxycholecalciferol bzw. 1,25-(OH)2D3) überführt wird. Eine Überproduktion von
3.2
Humanökologie
211 Vitamin D3 +
Darm
SerumCalcium
Knochen Parathormon + Vitamin D3 + Calcitonin -
Calcitonin Parathormon + Niere
Calcitonin + Parathormon -
Abb. 3.6 Vitamin D3 fördert die intestinale Calciumresorption und den Einbau von Calcium in das Osteoid (vgl. Kap. 2.3.2), jedoch auch die Freisetzung von Calcium aus dem Knochengewebe. In Bezug auf den Serum-Calciumspiegel steht das Vitamin in Wechselwirkung mit den Hormonen Calcitonin (hemmt die Demineralisierung des Knochens und die Rückresorption von Calcium aus der Niere) und dessen Antagonisten, Parathormon
Vitamin D3 findet physiologisch nicht statt, da sowohl die Photokonversion von 7DHC nach Provitamin D3 reversibel ist, als auch das Provitamin in Lumisterol und Tachysterol umgewandelt werden kann (Lexikon der Biochemie und Molekularbiologie 1990). Ein Mangel an Vitamin D3 führt zu massiven Erkrankungen des Skelettes (Rachitis im Kindesalter bzw. Osteomalazie im Erwachsenenalter), da das Vitamin eine unverzichtbare Rolle in der Calcium-Regulation durch Induktion des Calcium-bindenden Proteins in den Zellen des Dünndarmes spielt (Abb. 3.6). Vitamin D3-Mangel führt somit zu einem Calcium-Mangel im Skelett, was zu schweren Entwicklungsstörungen und Deformierungen führt. Rachitische Kinder weisen kein normales Wachstum und keine normale Entwicklung des Skelettes auf, Thoraxverengung beeinträchtigt die Atmung, Muskelschmerzen und schwache Gelenke machen es den Kindern unmöglich, sich normal zu bewegen, bzw. in schweren Fällen sogar ihr eigenes Gewicht zu tragen. Die Mortalitätsrate rachitischer Kinder ist erhöht. Bei Frauen ist ein rachitisch deformiertes Becken nicht selten ein Geburtshindernis, was in früheren Zeiten für Mutter und Fetus gleichermaßen von tödlicher Konsequenz sein konnte. Eine Erkrankung an Osteomalazie bedeutet ein hohes Frakturrisiko, weitere Symptome sind Knochenschmerzen, Muskelschwäche und Anorexie. Osteomalazische Frauen bringen Kinder mit
212
3
Bevölkerungsbiologie
niedrigem Vitamin-D-Status zur Welt und haben auch einen erniedrigten Vitamingehalt in der Muttermilch, so dass ein Teufelskreis induziert ist (Beall und Steegmann 2000). Wie jede Strahlung kann auch UV-Strahlung die DNA in den Hautzellen schädigen und Hautkrebs auslösen. Insbesondere induziert ultraviolette Strahlung eine Mutation des p53-Tumorsuppressorgens12 und senkt die Immunkompetenz durch Schädigung der Langerhans-Zellen in der Epidermis, welche im funktionalen Zustand eine starke Expression von Histokompatibilitäts-Molekülen aufweisen. Beide Effekte führen zur malignen Entartung von Hautzellen (Vermeer und Hurks 1994; Leffell und Brash 1996). Diese Problematik gewann nicht zuletzt aufgrund der Reduktion der Ozonschicht infolge anthropogener Klimaeffekte weltweite Bedeutung (Goudie 1994). Eine stark pigmentiere Haut schützt auch vor der UV-induzierten Photolyse von Folsäure (Jablonski und Chaplin 2000). 7 In Anpassung an eine Balance zwischen Nutzen und Schädigung der UV-B-Strahlung variiert die Pigmentierung der menschlichen Haut, welche in Abhängigkeit vom Breitengrad bei den autochthonen Populationen der Kontinente eine graduelle Änderung von stark (dunkle Haut) bis schwach (helle Haut) aufweist. Populationen mit der intensivsten Hautpigmentierung leben überwiegend in tropischen Regionen bzw. hochgelegenen Gebieten, also Gegenden höchster UV-Einstrahlung, was zur Formulierung der Gloger’schen Regel führte (= positive Korrelation zwischen Pigmentierungsgrad und Intensität der Sonneneinstrahlung; Walter 1994).
Verantwortlich für die Hautfarbe ist das Chromophor Melanin, welches Sonneneinstrahlung über einen breiten Wellenlängenbereich absorbiert und somit auch mit 7DHC um UV-B-Strahlung konkurriert. In Abhängigkeit von der Melaninkonzentration in der Epidermis dringt ein größerer oder geringerer Anteil der UV-B-Strahlung in die tieferen Hautschichten ein: etwa 29 % bei hellhäutigen, aber lediglich 7 % bei dunkelhäutigen Personen (Kaidbey et al. 1979). Eine hohe Melaninkonzentration hat daher eine protektive Wirkung gegenüber strahlungsbedingter DNASchädigung, setzt aber gleichzeitig die Kapazität zur Vitamin D3-Bildung herab. Mit anderen Worten haben hellhäutige Personen in Regionen geringer UV-Intensität den Selektionsvorteil genügender Vitamin D3-Synthese, in Regionen hoher Strahlungsintensität jedoch das Risiko der Erkrankung an Hautkrebs, wohingegen dunkelhäutige Individuen einen Schutz vor Hautkrebs haben, in Regionen geringer Strahlungsintensität jedoch den Selektionsnachteil durch ein hohes Risiko der Erkrankung an manifestem Vitamin-D3-Mangel. Melanin wird durch spezielle Zellorganelle (Melanosomen) in den Melanozyten synthetisiert, welche sich in der Haut im Grenzbereich zwischen Epidermis und Dermis befinden und das Chromophor in benachbarte Keratinozyten abgeben (Rohen und Lüthjen-Drecoll 2000). Stark pigmentierte Populationen weisen mehr Melanozyten und größere MelanoDas p53-Protein ist ein nukleäres Phosphoprotein. Veränderungen des p53-Gens zählen zu den häufigsten bei der Tumorbildung im Menschen. 12
3.2
Humanökologie
213
somen auf als hellhäutige Menschen, so dass in Bezug auf die Pigmentierung eine genetische Adaptation vorliegt (Walter 1994). Genetische Unterschiede, welche für die Pigmentierung verantwortlich sind, betreffen z. B. den Melanocortin-1-Rezeptor ( MC1R; Hancock und Di Rienzo 2008), weitere starke Kandidatengene (z. B. SLC24A5 und andere) sind zwischenzeitlich gut untersucht. Da in Bezug auf die genetischen Grundlagen der Minderpigmentierung bei Europäern und Asiaten jeweils andere Genloci involviert sind, gehen Norton et al. (2007) von konvergenter Evolution aus. Die Bräunung heller Haut bei saisonal intensivierter UV-Einstrahlung ist ein Akklimatisationseffekt als adaptive Antwort auf die UV-induzierte DNA-Schädigung der Hautzellen. Das Signal für eine erhöhte Melaninproduktion besteht in einer Anhäufung von DNA-Fragmenten, insbesondere von Pyrimidin-Dimeren, welche aufgrund des Strahlungsschadens entstanden sind und enzymatisch aus der DNA herausgeschnitten wurden (Eller et al. 1994). Die gesteigerte Melaninproduktion erhöht die Absorption der UV-B-Strahlung und schützt somit vor weiteren Schäden. Setzen sich hellhäutige Personen allerdings zu plötzlich einer intensiveren UV-B-Einstrahlung aus, kommt es zum bekannten Sonnenbrand: die zu große Menge strahlungsgeschädigter DNA initiiert den programmierten Zelltod (Apoptose), und die abgestorbenen Zellschichten werden abgestoßen („Schälen“ der Haut) (Kamb 1994). Eine genetisch bedingte metabolische Besonderheit, und zwar die Fähigkeit, noch im Erwachsenenalter das Milchzucker- (Laktose-) spaltende Enzym Laktase produzieren zu können, kann als Ko-Adaptation an ein Leben in Regionen geringer UV-Intensität angesehen werden. In Bezug auf den genetischen Polymorphismus der Laktasepersistenz (autosomal dominantes Merkmal, Genlocus auf Chromosom 2) ist ein klarer geographischer Gradient feststellbar: Mehr als 75 % der Populationen, welche in nördlichen Regionen jenseits des 50. Breitengrades leben, sind laktasepersistente Phänotypen, jedoch weniger als 25 % der Populationen zwischen dem Äquator und dem 30. Breitengrad (Durham 1991). Neugeborene Säugetiere werden zunächst ausschließlich von Muttermilch ernährt, welche Milchzucker enthält, so dass das Enzym Laktase für die Spaltung dieses Disaccharides in die Monosaccharide Glucose und Galaktose unerlässlich ist. Auch Menschen produzieren im frühen Kindesalter Laktase, jedoch ist die Enzymproduktion bei der Mehrzahl der Individuen bereits im 5. Lebensjahr um rund 90 % gesunken, um später ganz eingestellt zu werden. Dies dürfte der ursprüngliche Zustand sein, denn für die längste Zeit der menschlichen Stammesgeschichte gab es für Erwachsene weder Milch noch Milchprodukte als Nahrungsmittel – hierzu bedurfte es der Haltung und Domestikation von Nutztieren, die gemolken werden konnten. Fehlt die Laktase, kommt es im Intestinaltrakt zur Milchzuckerspaltung durch Darmbakterien, begleitet von der Produktion organischer Säuren und H2. Symptome der Laktoseintoleranz sind Bauchschmerzen, Blähungen und Diarrhoe durch die Gasbildung, vermehrtes Einströmen von Wasser in den Darm (da ungespaltener Milchzucker osmotisch aktiv ist und H2O bindet) und vermehrte Darmbewegungen. Das Phänomen der Laktosetoleranz im Erwachsenenalter ist demnach stammesgeschichtlich wahrscheinlich sehr jungen Ursprunges, jedoch kann nicht ausgeschlossen
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3
Bevölkerungsbiologie
werden, dass eine diesbezügliche Präadaptation im Zuge der Neolithisierung einen Selektionsvorteil erbrachte. Die Häufung laktosetoleranter Individuen in hellhäutigen Bevölkerungen der nördlichen Breitengrade könnte in einem Selektionsvorteil gegenüber saisonalem Calcium-Mangel in den strahlungsarmen Wintermonaten liegen, da laktosetolerante Phänotypen eine allgemein verbesserte Calcium-Absorption, vorzugsweise jedoch bei Präsenz von Milchzucker aufweisen und somit einem drohenden Calcium-Mangel entgehen können (Stinson 1992; Johansen Mange und Mange 1998; Beall und Steegmann 2000). Nicht mit der regionalen UV-B-Intensität ist jedoch das Vorkommen von Laktosetoleranz bei einigen äquatorialafrikanischen Populationen, sowie die geringe Frequenz dieses Merkmals bei den Inuit zu erklären. Im ersten Fall handelt es sich zumeist um Populationen, welche eine lange Tradition als Hirten aufweisen und bei denen die Milch der Nutztiere eine wichtige Nahrungsgrundlage darstellt, so dass auch hier eine junge Adaptation vorliegt. Bei den Inuit dürfte wiederum ihr spezielles Ernährungsverhalten für die geringe Verbreitung der Laktasepersistenz verantwortlich sein, da die Nahrung sehr viel Vitamin-D-haltigen Seefisch enthält, welcher die geringe endogene Vitaminproduktion aufgrund der niedrigen UV-Einstrahlung balancieren kann (Beall und Steegmann 2000). Bei Europäern ist die Laktasepersistenz auf einen Polymorphismus im Laktasegen ( LCT) zurückzuführen (C/T-13910), welcher die Laktaseproduktion auf der Transkriptionsebene reguliert. Diese Variante ist aber sehr selten oder fehlt gänzlich bei afrikanischen Populationen oder jenen des Mittleren Ostens, bei denen die Laktasepersistenz ebenfalls verbreitet ist. In der Tat wurden zwischenzeitlich mehrere Polymorphismen gefunden, welche für die Laktasepersistenz verantwortlich sind (u. a. G/T-14010, T/G-13915, C/G-13907), so dass hier ein weiteres Beispiel für konvergente Evolution vorliegt (Imtiaz et al. 2007; Tishkoff et al. 2007).
3.2.2.3 Höhenlagen: Anpassung an erniedrigten pO2 Die Besiedlung von Hochgebirgslagen stellt Menschen vor eine Reihe ökologischer Herausforderungen, wie geringe Primärproduktion („Hochgebirgswüsten“), nächtliche Kälte und hohe UV-B-Einstrahlung, vor allem aber vor das Problem des erniedrigten Sauerstoffpartialdruckes (pO2) (Box 3.9). Dieser wird ab Höhenlagen von 2500 m über dem Meeresspiegel relevant, da sämtliche Vitalvorgänge an die Verfügbarkeit von ausreichendem Sauerstoff gebunden sind, für den der Körper jedoch keinen wirklichen Speicher hat. Der geringere Atmosphärendruck in diesen Höhen bewirkt eine geringere Dichte von O2-Molekülen pro Volumeneinheit in der Luft, entsprechend wird dem Organismus auch weniger Sauerstoff pro Atemzug zugeführt. Dieser Mangel an absolut vorhandenem und physiologisch verfügbarem Sauerstoffgehalt bewirkt die hypobare Hypoxie, einen schwerwiegenden ökologischen Stressfaktor, dessen Ausmaß über den Prozentsatz von sauerstoffgesättigtem arteriellen Hämoglobin quantifiziert wird. In den heutigen Zeiten, in denen Touristen mittels Seilbahnen und Gondeln innerhalb kürzester Zeit von Meeresspiegelhöhe bis auf hohe Berggipfel transportiert und damit akut der hypobaren Hypoxie ausgesetzt werden, ist das Phänomen der akuten Höhenkrankheit zu Recht gefürchtet. Zu den Symptomen zählen Kopfschmerzen, Schläfrigkeit, Orientierungslosigkeit und Schwäche, Atemnot sowie Erbrechen und Krämpfe als Folge einer
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Humanökologie
215
respiratorischen Alkalose (s. unten), welche sich aber in der Regel innerhalb weniger Tage abschwächen. Normale physiologische Werte und Wohlbefinden stellen sich jedoch erst bei Verlassen der Höhenlagen wieder ein. Von 3600 Höhenmetern an entwickeln etwa 1–2 % der Individuen schwere Symptome mit Lungen- und/ oder Hirnödemen und können nur durch den Abtransport in die Tallagen gerettet werden. Selbst prinzipiell an die Hypoxie adaptierte Menschen können noch an der chronischen Höhenkrankheit erkranken, welche sich in Kopfschmerzen, Atemnot, Knochenschmerzen, Müdigkeit, Schlaflosigkeit und Verwirrtheit äußert. Die durch den niedrigen pO2 ausgelösten Symptome sind somit vielfältig und oft genug auch fatal – dennoch leben menschliche Bevölkerungen seit Tausenden von Jahren permanent in Höhen über 2500 m, wie die Quechua und Aymara in den Anden, oder die Einwohner Tibets (Beall und Steegmann 2000; Moran 2000). Die einzige Verhaltensadaptation, welche in solchen Umwelten wirklich greift, ist eine Reduktion der körperlichen Aktivität. Das habituelle Kauen von CocaBlättern bei den südamerikanischen Hochlandbevölkerungen soll eine sofortige Steigerung des Blut-Glucose-Spiegels zur Folge haben, möglicherweise durch Stimulation der Glycogenspeicher (Bolton 1973; Baker und Little 1976). Biologische Anpassungen zielen auf eine verbesserte Sauerstoffausnutzung: Stimuliert durch Chemorezeptoren in der Karotis kommt es zu einer Erhöhung der Ventilationsrate und zu tieferen Atemzügen. In der Folge wird jedoch auch mehr CO2 exhaliert mit der Folge einer respiratorischen Alkalose, welche durch eine erhöhte Exkretionsrate von Bicarbonat durch die Nieren balanciert wird. Durch die Alkalose erhöht sich die Affinität des Hämoglobins zu O2. so dass die Erythrocyten mehr O2 aus den Lungenkapillaren binden können – dies allerdings auch schwerer in den Zielzellen wieder abgeben können. Zur Kompensation wird in den Erythrocyten die Konzentration an 2,3-Diphosphoglycerat erhöht, welches die Abgabefähigkeit für O2 wieder herstellt (Piantadosi 2003; Heldmeier und Neuweiler 2004). Durch Dilatation der Lungenkapillaren und Aktivierung von Lungenalveoli wird eine größere Kontaktfläche für den Sauerstoffaustausch zwischen der Lunge und dem Blut geschaffen, auch die Kapillarität in den Zielorganen wird vergrößert. Ein vergrößertes Lungenvolumen stellt vermutlich eine genetische Anpassung bei den Quechua Indianern dar, findet sich aber z. B. nicht bei den Tibetern (Kormondy und Brown 1998). Aufgrund der Sekretion von Erythropoietin werden mehr rote Blutkörperchen gebildet, mit der Folge einer Polyzytämie (Albrecht und Littell 1972). Erythropoietin wird in der Niere synthetisiert, wobei ein als hypoxia-inducible-factor-1 (HIF-1) bezeichneter Proteinkomplex aktiv wird. Bei genügender Präsenz von O2 ist dieser Komplex inaktiv, da eines der Proteine (die α-Untereinheit) durch O2 degradiert wird. Liegt Hypoxie vor, bleibt die α-Untereinheit stabil, HIF-1 wird in den Zellkern transportiert und reguliert dort die Transkription des Erythropoietin-Gens (Piantadosi 2003).13 In den Zielzellen erhöht sich die Aktivität jener Enzyme, welche in den oxidativen Stoffwechsel involviert sind, der Herzmuskel zeichnet sich Eryhthropoietin wurde im Leistungssport als Dopingmittel EPO bekannt. Da durch die Gabe von EPO die Menge an roten Blutkörperchen gesteigert wird, jedoch ohne gleichzeitige Erhöhung des Plasmavolumens, besteht die Gefahr des Gefäßverschlusses und Gewebsinfarktes.
13
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Bevölkerungsbiologie
durch einen effizienteren Glucose-Stoffwechsel aus (Holden et al. 1995), wodurch die Energie für die erforderliche Mehrleistung des Herzens bereitgestellt wird. Box 3.9: Adaptation an Höhenlagen Standorte Hochgebirge (niedriger pO2, nächtliche Kälte, geringe Primärproduktion) ▼ ▼ BiologischeAnpassung KulturelleundVerhaltensanpassung Niedriges Aktivitätsniveau, Meiden großer Schnelle Ventilation, Polyzytämie, erhöhte Höhenlagen Vaskularisation, vergrößertes Lungenvolumen, vergrößertes Residual-Volumen ▼ ▼ DemografischeEffekte Kosten Niedrige Geburtenrate, langsames Wachstum Keine weiteren Kosten und Reifung, hohes Risiko für Kinder und Individuen mit Lungenerkrankungen Verändert nach Kormondy und Brown (1998)
Neben der genannten vergrößerten Lungenkapazität südamerikanischer Indianer im Vergleich zu sympatrischen Tieflandbewohnern sind nur noch wenige Adaptationen bekannt, welche genetischer Natur sein dürften. Die Mehrzahl der oben angeführten Anpassungsmechanismen wirkt im Zuge der Akklimatisation, wobei jedoch eine starke ontogenetische Komponente erkennbar wird: Die biologische Höhenanpassung ist umso effizienter, je jünger ein Individuum zum Zeitpunkt des Aufsuchens dieser Höhenlagen ist, und je länger es dort lebt (Moran 2007). Bei den wenigen genetischen, oder vermutet genetischen, Adaptationen existieren zum Teil deutliche Unterschiede zwischen den Hochlandbevölkerungen Südamerikas, Tibets oder auch Äthiopiens, z. B. in Bezug auf einige Aspekte des Sauerstofftransportes, des Lungenvolumens oder der Ventilationsrate. Vermutlich genetisch bedingt ist der höhere Bohr-Effekt bei den südamerikanischen Hochlandbewohnern (= die Abhängigkeit der O2-Aufnahme- bzw. -Abgabekapazität des Blutes vom pCO2 und dem pH-Wert), welcher eine wesentliche Rolle bei der O2-Abgabe in die Zielzellen spielt (Walter 1994). Beall et al. (1994) konnten ein autosomal dominantes Allel feststellen, welches für die Sauerstoffsättigung des arteriellen Hämoglobins bei Tibetern verantwortlich ist und in den Populationen mit einer Frequenz von 0,56 vorkommt. Durch diese vielfältigen Anpassungsmechanismen wird die hypobare Hypoxie jedoch nicht vollständig kompensiert. Die dauerhafte relative Unterversorgung des Organismus, seiner Organe und Zellen äußert sich in einer relativen Kleinwüchsigkeit der Hochlandbewohner, einem verminderten Geburtsgewicht der Neugeborenen mit zunehmender Höhenlage (Moore und Regensteiner 1983; Moran 2007) und begleitender erhöhten Neugeborenensterblichkeit, sowie einer verminderten Fertilität. Erniedrigter pO2 wirkt damit limitierend auf das Bevölkerungswachstum, was angesichts der marginalen Standorte allerdings wiederum als adaptiv aufgefasst werden kann.
3.2
Humanökologie
3.2.3
217
Anpassung an biologische Umweltparameter
Krankheiten und Ernährungsstörungen, die sich in den Industrienationen häufen („Zivilisationskrankheiten“), obgleich eine gute medizinische Versorgung und eher ein Lebensmittelüberfluss denn ein -mangel vorherrschen, werden seit geraumer Zeit unter dem Dach der „Evolutionären Medizin“ (synonym „Darwinian Medicine“) untersucht, unter der Prämisse, dass der Mensch mit seinen biologischen Bedürfnissen unter Lebensumständen evolvierte, welche sich dramatisch von modernen Lebensstilen und Ernährungsformen unterschied. Der heutige „mismatch“ zwischen Biologie und Lebensumständen sei gewissermaßen auf ein steinzeitliches Erbe zurückzuführen, das heute nicht mehr adaptiv ist. Der Hunger nach Fett, Salz und Süßem war für frühe Wildbeuter sicher überlebensnotwendig, wird aber zum Problem, wenn fetthaltige Nahrung und Raffineriezucker kostengünstig und im Überfluss zur Verfügung stehen. Ein anderes Beispiel betrifft die menschliche Reproduktion: In traditionalen Ethnien ohne effiziente Geburtenkontrolle durchläuft eine Frau in ihrem Leben etwa 160 Menstruationszyklen, während eine Frau, welche regelmäßig hormonelle Kontrazeptiva nimmt, bis zu 450 Menstruationszyklen während ihrer reproduktiven Phase haben kann. Da der weibliche Körper offenbar nicht unter den Bedingungen eines mehr als vierhundertfachen monatlichen Anstiegs und Abfalls von Östrogen evolvierte, wird eine östrogeninduzierte Zunahme von Brust-, Gebärmutter- und Eierstockkrebs bei Frauen in den Industrienationen angenommen (Trevathan 2007). Die evolutionäre Medizin fragt danach, warum unser Körper nicht besser evolvierte und wir überhaupt für bestimmte Erkrankungen anfällig sind (Nesse und Williams 1994; Nesse 2001). Ein besseres Verständnis dafür, wie die natürliche Selektion diese Krankheitsanfälligkeiten hervorgebracht hat, ist für die Prävention mindestens so relevant wie das Verständnis der menschlichen Physiologie und Biochemie. Hiermit wendet sich die Medizin verstärkt von der traditionellen klinischen Problemlösung auf der proximaten Ebene hin zu der ultimaten Ebene (s. Box 6.1). Allzu oft stellt die Humanmedizin auf das „Normale“ ab, was zumeist auf westlichen Konzepten und der Biologie von Populationen in den Industrienationen basiert. Die organismische Biologie, mithin die anthropologische Perspektive, ist durch ihren Fokus auf die evolutiv gewordene Variabilität des Menschen sehr hilfreich – dies schließt die kulturelle und Verhaltensebene selbstverständlich mit ein (Trevathan 2007).
3.2.3.1
Infektionskrankheiten
7 Die Abundanz von Pathogenen an den Standorten menschlicher Bevölkerungen zählen zu den sehr effizienten Umweltstressoren, da Infektionen zu einer dauerhaften Beeinträchtigung des erkrankten Individuums oder sogar zu seinem Tod führen können und im Falle von Epidemien in hohem Maße bevölkerungswirksam sind.
Gemäß einer Statistik der World Health Organization, welche ein Drittel aller Sterbefälle weltweit einbezog, gehen mehr als ein Viertel aller Todesfälle auf Infektionen zurück (WHO 2003). Infektionskrankheiten können durch Viren (z. B.
218
3
Bevölkerungsbiologie
Influenza: RNA-Viren der Familie Orthomyxoviridae; AIDS: HIV = humanimmunodeficiency virus; Masern: Morbilli-Virus; Pocken: Variola-Virus), Bakterien (z. B. Pest: Yersiniapestis; Tuberkulose: Mycobacteriumtuberculosis; Lepra: Mycobacteriumleprae), Einzeller (z. B. Amöbenruhr: Entamoebahistolytica; Toxoplasmose: Toxoplasmagondii; Malaria: Plasmodiumfalciparum) und Helminthen (z. B. Bilharziose: Schistosoma haematobium; Spulwurm: Ascaris lumbricoides; Rinderbandwurm: Taenia saginata) ausgelöst werden. Die Infektionswege sind vielfältig und vom Erreger abhängig (Inhalation, Tröpfcheninfektion, verunreinigte Nahrungsmittel oder indirekt durch Vektoren wie z. B. Stechmücken oder Zecken) (Frauendorf 2001). Bei langfristiger Koexistenz von Menschen und Pathogenen kommt es zu genetischen Anpassungen: So wird z. B. das hohe Alter der HLAPolymorphismen mit Koevolution erklärt, in populationsgenetischer Hinsicht sind unterschiedliche Allelfrequenzen beobachtbar (vgl. den Heterozygoten-Vorteil bei Malaria, Kap. 3.1). Zu den eher allgemeinbiologischen Anpassungen zählen Enzyme wie die bakteriolytischen Lysozyme, welche in Körperflüssigkeiten wie Speichel oder Tränenflüssigkeit vorkommen (Jackson 2000). Von herausragender Rolle, vor allem in prä-antibiotischen Zeiten, sind wiederum kulturelle und Verhaltensanpassungen, welche im Kontext hygienischer Maßnahmen und Kontaktvermeidung stehen. In Kriegszeiten oder nach Naturkatastrophen sind diese jedoch oft nicht einzuhalten, weshalb es in solchen Krisensituationen häufig zu den gefürchteten Seuchenausbrüchen kommt. Das Infektionsgeschehen in menschlichen Bevölkerungen war und ist in Raum und Zeit sehr variabel, wobei die Bevölkerungsdichte einen wesentlichen Faktor darstellt. Eingeweideparasiten haben sicherlich seit jeher auch in den kleinen Wildbeuterpopulationen eine wichtige Rolle gespielt. Infektionskrankheiten mit einer langen Inkubationszeit haben einen Selektionsvorteil in eher dünn besiedelten Gebieten (z. B. Lepra), wohingegen Erkrankungen mit kurzer Inkubationszeit einen Selektionsvorteil in Ballungsgebieten haben (Tuberkulose). Erkrankungen wie Pocken, Röteln, Masern, Ruhr und Typhus benötigen eine Wirtspopulation von mehreren Hunderttausend Individuen (Dobson 1992; Winkle 1997). Erreger mit hoher Virulenz lösen bei Erstkontakt mit nicht-immunisierten Populationen Epidemien mit hoher Sterblichkeit aus („virgin soil syndrome“) und dürften z. B. bei der Verdrängung und Eroberung der autochthonen Population Amerikas durch die Konquistadoren eine Schlüsselrolle gespielt haben (Crosby 1986). Seit der Schaffung ortsfester Siedlungen in Zuge der Neolithisierung kam der Mensch zunehmend in engen Kontakt mit Kulturfolgern und seinen eigenen Haus- und Nutztieren, was Zoonosen (= Krankheiten, welche zwischen Wirbeltier und Mensch übertragen werden) Tür und Tor öffnete. Bekannte Beispiele sind die Tollwut, Hunde- bzw. Fuchsbandwurm, oder Nagetierpopulationen als Reservoir für Yersiniapestis bzw. Geflügel als Reservoir für Influenza-Epidemien. Während in den Industrienationen die ehemals „klassischen“ Zoonosen wie Rindertuberkulose, Tollwut, Milzbrand, Brucellose und Leptospirose kaum noch eine gesundheitliche Bedrohung für weite Bevölkerungsteile darstellen, sind andere auf dem Vormarsch (Borreliose) oder sogar weitgehend anthropogen (BSE = BovineSpongiformeEncephalopathie). Nach wie vor größte Sorgfalt wird der Lebensmittelhygiene gewidmet, da die Infektion
3.2
Humanökologie
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mit Salmonellen, Trichinen und Campylobakterien zumeist durch tierische Lebensmittel erfolgt. Die Mehrzahl der gefürchteten Epidemien ist viraler Natur, deren Ursache in einer Zoonose zu suchen ist. Die „Spanische Grippe“, welche in den Jahren 1917 bis 1919 weltweit 20 Mio. Menschen tötete, gehörte zum Influenza-Stamm H1N1, dessen Reservoir das Hausschwein war. Die Bezeichnung „H1N1“ bezieht sich auf die spezifischen Oberflächenantigene des Virus, in diesem Falle das Hämagglutinin H1 und die Neuraminidase N1. Aufgrund jüngster epidemischer Ereignisse ist eine andere H1N1-Variante heute auch unter dem Trivialnamen „Schweinegrippe“ bekannt. Im Dezember 1998 kam es in der Demokratischen Republik Kongo zum Ausbruch der Marburger Krankheit, das Virus stammte primär von Fledermäusen. Bei der Enzephalitis-Epidemie in Malaysia 1999, hervorgerufen durch das Hendra-Virus, waren alle Opfer in der Schweineaufzucht tätig. Bis heute treten auch gänzlich neue Epidemien auf, z. B. eine auf dem Hanta-Virus beruhende Lungenerkrankung (HPS = Hantaviruspulmonarysyndrome), welche erst vor kurzer Zeit im Südwesten der USA registriert wurde. Durch weltweiten Handel und Fernreisen werden Infektionserkrankungen in Regionen transportiert, in welchen sie vorher unbekannt waren. Die Legionärskrankheit (Legionellose, hervorgerufen durch das Bakterium Legionella pneumophila) ist gerade in unserer heutigen technisierten Welt gefürchtet, da die Bakterien in warmem Wasser sehr gut gedeihen und sich daher in der Warmwasserversorgung von Gebäuden und Schwimmbädern, aber auch in Luftbefeuchtern, gut vermehren können (Scott und Duncan 2001).
3.2.3.2
Ernährung
7 Im Kontext der Umweltadaptation spielt die Ernährung eine zweifache Rolle: zum einen ist Nahrungsmangel für sich allein genommen ein unabhängiger Umweltstressor, zum anderen kann er andere Stressoren modifizieren (Infektionsrisiko, Schwere einer Erkrankung; Stinson 1992).
Bereits auf einer recht frühen Stufe in der Stammesgeschichte (vgl. Kap. 2.2) wurden Menschen omnivor, wobei sie sich weltweit als ausgesprochene Nahrungsgeneralisten und auch -opportunisten auszeichnen. In Abhängigkeit vom physiologischen Status, der physischen Arbeitsbelastung und den Umweltgegebenheiten sind die individuellen und populationsspezifischen Bedürfnisse durchaus voneinander verschieden. Zu diesem Aspekt existiert eine Fülle von Literatur zur Ernährungslehre (z. B. Senser und Scherz 1991; Biesalski und Grimm 2001; Elmadfa 2009), auf die an dieser Stelle deshalb nicht näher eingegangen werden soll. Selbst an extremen Standorten, wie zum Beispiel der pflanzenarmen Tundra oder in arktischen Regionen, denen eine Pflanzendecke fehlt, konnten sich Nahrungsspezialisierungen entwickeln, welche dennoch für eine adäquate Ernährung sorgten, wie zum Beispiel bei den bereits mehrfach erwähnten Inuit Nordalaskas (Moran 2007). Fehlernährungen bei den Inuit sind heute Folge der Einführung einer westlichen Ernährungsweise (Draper 1977). Die außerordentliche Flexibilität im mensch-
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3
Bevölkerungsbiologie
lichen Ernährungsverhalten erlaubte somit auch die langfristige Besiedlung von Extremstandorten. Jede Form der Fehlernährung kann dagegen als Maß bzw. als Anzeichen dafür gelten, dass sich eine Population nicht erfolgreich an ihren naturräumlichen Standort adaptiert hat, bzw. – angesichts der Fehlernährungen in den heutigen Überflussgesellschaften – psychosozialen Stressfaktoren ausgesetzt ist. Über die bei Weitem längste Geschichte der Menschheit war jedoch nicht Überfluss, sondern Mangel ein potentielles Problem. Die heutigen zahlreichen Hungerkatastrophen sind Folge von Überbevölkerung (s. unten) bzw. anthropogener Umweltzerstörung (vgl. Kap. 3.2.4). Bei Proteinmangel ist eine Anpassung an mäßige oder vorübergehende Mangelsituationen biologisch möglich, vor allem durch Sekretion von Serumproteinen (Albumin) in den Intestinaltrakt, wo diese verstoffwechselt werden. Gleichzeitig erhöht die Albuminabgabe in den Intestinaltrakt die Effizienz der Aminosäureresorption aus der Nahrung. Bei schwerem oder langandauerndem Proteinmangel kommt es jedoch zum Abbau der Skelettmuskulatur, nachfolgend zur Verstoffwechselung von Proteinen, welche für die Immunabwehr unerlässlich sind. Proteinmangel während der Schwangerschaft resultiert in einem geringen Geburtsgewicht des Neugeborenen mit begleitend erhöhtem Mortalitätsrisiko, Proteinmangel im Kindesalter verlangsamt Wachstum und Reife. Derart schwerer Proteinmangel führt zum Krankheitsbild des Kwashiorkor, zu dessen Symptomen Muskelatrophie, Wachstumsretardation, Ödeme, Hautausschlag und in einigen Fällen auch Depigmentierung zählen. Die charakteristisch vorstehenden Bäuche sind eine Folge des geringen abdominalen Muskeltonus. Herrscht nicht nur Protein-, sondern Protein-Kalorie-Mangel, leidet das betroffene Individuum an totaler Unterernährung. Es kommt zunächst durch den Abbau von Körperfett zum Gewichtsverlust, dann zum Verlust körpereigener Proteine. Die Körpertemperatur sinkt, die Stoffwechselrate wird reduziert. Im Zuge des Hungerstoffwechsels werden Ketonkörper produziert, welche das Gehirn ersatzweise anstelle der Glucose als Energieträger nutzen kann, jedoch wird der Bedarf hierdurch nicht vollständig gedeckt. Gluconeogenese aus Aminosäuren ist erforderlich, welche wiederum den Verlust von körpereigenem Protein beschleunigt. Symptome der als Marasmus bezeichneten totalen Unterernährung im Kindesalter sind neben dem genannten Gewichtsverlust Muskelschwund, Immundefizienz, Apathie und Inaktivität. Erbrechen und Durchfälle führen zur Dehydrierung. Aus heutiger Sicht sind Kwashiorkor und Marasmus mögliche Manifestationen ein und derselben Krankheit durch graduelle Übergänge von Protein- zum Protein-Kalorie-Mangel (Gopalan 1992). Nahrungsmangel und Fehlernährung sind besonders starke Umweltstressoren für Kinder, welche in der Wachstumsphase hohe Ansprüche an eine adäquate Nahrung haben. Kinder mit nahrungsbedingten Wachstumsretardationen (s. Kap. 4.1.1) sind gleichzeitig anfälliger für Infektionskrankheiten wie Diarrhoe, Malaria, und Pneumonie. Eine Erhebung in Äthiopien aus dem Jahr 2000 demonstriert dies eindrücklich: Von allen Kindern, welche vor Vollendung des 5. Lebensjahres starben, litten 23 % an Mangelernährung, 6 % an Atemwegsinfektionen, 22 % an Masern, und 37 % an infektiöser Diarrhoe (Piantadosi 2003).
3.2
Humanökologie
221
Ein Maß für Normalgewichtigkeit ist der BodyMassIndex (BMI), berechnet aus dem Körpergewicht (in kg) dividiert durch das Quadrat der Körpergröße (in m2). Der BMI ist alters- und geschlechtsspezifisch, liegt aber bei normalgewichtigen Erwachsenen zwischen 19 und 25 kg/m2. Anorektische Personen haben typischerweise einen BMI < 17,5, ein BMI < 10 ist mit dem Leben in der Regel nicht mehr vereinbar. In den Industrienationen nimmt das Adipositasproblem (BMI > 30) zu (s. unten), mit den begleitenden Risiken der kardiovaskulären Erkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes, Hyperlipidämie, Arthritis und mehr. Selbst in fatalen Situationen von Mangelernährung kann es noch als adaptiv angesehen werden, in welcher Weise der Organismus sich gewissermaßen „aus sich selbst heraus“ ernährt: Das am wenigsten kritische Material (Fett) wird zunächst verstoffwechselt, dann die Muskulatur. Das Zentralnervensystem und das Reproduktionssystem, beide vital für die Aufnahme von Lebensprozessen bei Überwinden des Mangelzustandes, sind ganz zuletzt involviert (Kormondy und Brown 1998). 7 Fehl- bzw. Mangelernährung betrifft letztlich sämtliche Aspekte der Mensch/Umwelt-Beziehung, insbesondere aufgrund des Synergismus zwischen Mangelernährung und Infektion infolge des durch die Fehlernährung dysfunktionalen Immunsystems.
Da Infektionen wiederum zu Mangelernährungen führen können, etwa durch Blutverlust oder durch Störung der Verdauung durch Pathogene (s. oben), wird sehr leicht ein Teufelskreis initiiert. Die Beeinträchtigungen spielen sich nicht nur auf individueller Ebene ab, sondern können die gesamte physische Kapazität einer Population betreffen, z. B. durch erniedrigte Produktivität im Sinne von Arbeitsleistung als Folge der Reduktion von Muskelmasse sowie der Beeinträchtigung der Kapazität des kardiovaskulären und respiratorischen Systems. Sämtliche Single-StressorModelle (vgl. Kap. 3.2.2) haben somit in Bezug auf ihren Erklärungswert durchaus enge Grenzen. Im Jahre 2009 war weltweit die Milliardengrenze von hungernden Menschen überschritten, besonders gefährdet sind die Kleinkinder: über 90 % der Kinder, welche aufgrund der nahrungsmangelbedingten Wachstumsretardation für ihr Alter zu klein sind, leben heute in Afrika und Asien. Die höchsten Anteile an Unterernährten in der Bevölkerung haben heute mit jeweils mehr als 50 % die Demokratische Republik Kongo, Burundi, Eritrea, Haiti und die Komoren, die höchsten Raten untergewichtiger Kinder unter fünf Jahren sind mit mehr als 40 % in Bangladesch, Indien, dem Jemen und Ost-Timor zu verzeichnen. Mehr als 20 % der Kinder sterben vor Vollendung ihres 5. Lebensjahres in Afghanistan, Angola, Somalia und dem Tschad (Welthunger-Index 2010). Genetisch bedingte Ernährungsadaptationen sind stets im Wechselspiel der Interaktion zwischen Genen und der Umwelt zu sehen. Ein prägnantes Beispiel ist die im Kap. 3.2.2 genannte Laktosetoleranz, welche sich vermutlich in Koevolution mit geringer UV-B-Strahlung, Vitamin-D3-Mangel und bestimmten Ernährungsweisen herausgebildet hat. In den westlichen Industrienationen nehmen chronische Erkrankungen zu, aber offensichtlich nicht allein aufgrund der gestiegenen
222
3
Bevölkerungsbiologie
Lebenserwartung. Das Auftreten von Herz/Kreislauferkrankungen und Krebs auch bei jungen Menschen spricht auch für ein psychosoziales Phänomen (Kormondy und Brown 1998). Eine mit der Ernährung in Zusammenhang stehende Erkrankung, welche hauptsächlich in industrialisierten, hingegen kaum in traditionalen Bevölkerungen auftritt (allerdings nach deren „Modernisierung“ recht häufig sein kann), ist der nicht-insulinabhängige Diabetes mellitus (non-insulin dependent diabetes mellitus, NIDDM). NIDDM unterscheidet sich von der im Jugendalter einsetzenden insulinabhängigen Diabetes dadurch, dass nicht das Versagen der Betazellen der Bauchspeicheldrüsen zur Insulinproduktion verantwortlich ist, sondern dass die Körpergewebe insgesamt eine geringere Sensibilität gegenüber Insulin besitzen. Dass die allgemeinen Lebensgewohnheiten eine wichtige Rolle in der Ätiologie dieser Erkrankung spielen sollten, belegt deren Häufigkeit in übergewichtigen Menschen, welche charakteristischerweise älter als 40 Jahre sind. Durch die Übergewichtigkeit wird die Anzahl von Insulinrezeptoren der Zielzellen reduziert (Leonard 2000). Für die Genese der NIDDM wurde die Hypothese des „thrifty genotype“ formuliert: Populationen, deren Lebensraum durch regelmäßige, etwa saisonale Zyklen von Nahrungsmangel und reicher Ernte gekennzeichnet waren, mussten in der Lage sein, während der guten Zeiten effiziente Fettdepots anzulegen, von denen sie in den Mangelmonaten zehren konnten. Wenn solche Populationen aufgrund der Industrialisierung nunmehr durchgängig in guten Zeiten oder gar in Zeiten des Überflusses leben, entwickelt sich zwangsläufig Übergewicht mit Fettleibigkeit (Adipositas), und damit das Risiko für die Erkrankung an NIDDM (Neel 1982, aktualisiert in Neel et al. 1998). Die metabolische Ursache wird in einer selektiven Insulinresistenz der Zielgewebe gesehen, woraus eine kompensatorische Hyperinsulinämie und Überstimulierung solcher Stoffwechselprozesse resultieren, welche von der Insulinresistenz nicht oder weniger betroffen sind, wie z. B. das Anlegen von Fettdepots. Physische Inaktivität, gekoppelt mit einer „westlichen“ Ernährung (hochenergetisch, reich an gesättigten Fettsäuren, arm an Ballaststoffen) fördern die Insulinresistenz (O’Dea 1995). Die Hypothese des „thrifty genotype“ ist nicht unwidersprochen geblieben, da sich das Phänomen nicht in allen Populationen gleichermaßen zeigt. Hales und Barker (1992) sowie Phillips et al. (1994) sehen in einer Mangelernährung inutero bzw. im frühen Kindesalter einen weiteren Risikofaktor für die Erkrankung an NIDDM durch ontogenetischen Erwerb der Insulinresistenz als Folge des frühkindlichen Nahrungsstresses. In der Tat ist ein Geburtsgewicht von weniger als 2500 g assoziiert mit einem höheren Risiko, im Erwachsenenalter an Bluthochdruck, Diabetes und Hypercholesterinämie zu erkranken. Nahrungsstress inutero führt zu einer adaptiven Antwort des Fetus, welcher durch Reduktion der Größe von inneren Organen wie der Leber oder auch von Muskelmasse dem Gehirn auch bei Nahrungsmangel weiterhin genügend Nährstoffe zuführen kann. Der Fetus wird gewissermaßen „programmiert“, lebenslangem Nahrungsstress vorzubeugen. Dies führt dann aber zu einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber chronischen Erkrankungen nach der Geburt, insbesondere wenn die postnatale Umwelt nicht nur genügend Nährstoffe, sondern sogar einen Kalorienüberschüsse bietet (Trevathan 2007).
3.2
Humanökologie
3.2.4
223
Eingriffe von Menschen in die naturräumliche Umwelt
7 Als einzige Spezies haben Menschen in einem Ausmaß gestalterisch in ihre naturräumliche Umwelt eingegriffen, dass weltweit eine Vielzahl anthropogener Ökosysteme entstanden ist.
Die Mensch/Umweltbeziehungen lassen sich nach Boyden (1993) prinzipiell in vier zeitlich aufeinanderfolgende Stadien einordnen, wobei menschliche Bevölkerungen auf jeder dieser Stufen bereits einen spürbaren Einfluss auf die naturräumlichen Standorte ausübten. Auf der Stufe des Wildbeutertums spielte das Feuer eine gewichtige Rolle, und durch Brandrodungen wurden Wälder in Savannenlandschaften transformiert. Mit dem Übergang zur produzierenden Lebensweise vom Neolithikum an begann die geographische Umverteilung von Pflanzen und Tieren, regional kam es bereits zur Bodenexhaustion. Im Zuge der Urbanisierung wurden gänzlich neue, anthropogene Systeme geschaffen, welche von den Ressourcen des Umlandes abhängig waren. Ökologisch spielen Städte somit die Rolle eines Konsumenten, welcher im wesentlichen Wärme und Müll produziert und diese wieder an das Umland abgibt. Seit der Industrialisierung hat der menschliche Einfluss auf die Umwelt globale Dimensionen, wobei die Effekte zunächst sehr subtil sein konnten und sich erst dann offenbarten, wenn ein manifester Schaden bereits eingetreten war (Boyle und Boyle 1994). Manche Auswirkungen auf die unmittelbare Umwelt sind leicht und offenkundig auf ihre Ursache zurückzuführen, etwa ein gesunkener pH-Wert von Seen infolge saurer Präzipitation mit nachfolgendem Rückgang der Fischpopulationen. Die Akkumulation von Insektiziden wie z. B. DDT in der Nahrungskette mit Bedrohung der Raubvogelpopulationen ist dagegen ein Beispiel für Spätfolgen von anfänglich eher geringen Dosen des ausgebrachten, allerdings langfristig persistierenden Giftes. Das Verbrennen fossiler Energiequellen und das Einbringen anderer klimawirksamer Spurengase in die Atmosphäre ist vielleicht das eindringlichste Beispiele von anfänglich subtilen Ursache/Wirkungs-Gefügen, deren Langzeitfolgen erst sehr spät wahrgenommen wurden und damit ein umso rascheres Handeln auf globaler Ebene erfordern (Russel 1993; Crate und Nuttall 2009). Nach Isermann (1993) sind heute natürliche Quellen wie Sümpfe, Moore, Seen, Tundren und Ozeane verantwortlich für ein Drittel der jährlichen globalen Methanemission, landwirtschaftliche Aktivitäten dagegen für rund die Hälfte, überwiegend durch Wasserreis-Feldbau und Wiederkäuer. Offensichtlich ist es Menschen immer wieder gelungen, durch Innovationen die naturgegebene Tragekapazität des Lebensraumes zu erweitern und auch marginale Standorte dauerhaft zu besiedeln, was ursächlich für die beständige Bevölkerungszunahme und heutige Situation der Überbevölkerung ist. Eingriffe in die Natur wie z. B. das Aufstauen und Begradigen von Flüssen, Trockenlegen von Sümpfen oder Bewässern arider Areale können kurz- oder mittelfristig neue Anbauflächen schaffen und das Transportwesen verbessern. Derartige künstliche Systeme bedürfen aber der ständigen Pflege durch den Menschen und verursachen damit auch langfristig hohe Kosten. Eine Monokultur wie ein Getreidefeld muss von Wildkräutern freigehalten werden, zudem bedarf sie der beständigen Zufuhr von Nährstoffen
3
224
Bevölkerungsbiologie
durch Düngung, da man nur aus einem solchen künstlich im Unreifezustand gehaltenen System Biomasse entnehmen (ernten) kann. Ebenso müssen bei größeren Maßnahmen die langfristigen Konsequenzen bedacht und eine sorgfältige Kosten/ Nutzen-Bilanz erstellt werden, da die wirtschaftlichen Vorteile niemals frei von Nachteilen sind, welche sich längerfristig gravierend auswirken können (Box 3.10). Box 3.10: Vor- und Nachteile von Eingriffen in die Natur am Beispiel des Assuanstaudammes Vorteile Wasserführung des Nils konstanter (geringere Hochwasserspitzen) Ganzjährige Schifffahrt möglich Bewässerung von 486.000 ha Neuland Etablierung einer Fischereiwirtschaft (mehrere Tausend Arbeitsplätze) Neue Elektrizitätswerke
Nachteile Verlust von 500.000 ha Land durch den Stausee Rückhalt des Nilschlammes im Stausee (Verlandung), dadurch Düngung flussabwärts gelegener Felder erforderlich, Nährstoffmangel im Mittelmeer Pflegeaufwand für das Kanalsystem zur Bewässerung Stehendes Wasser des Stausees führt zur Versalzung, Versumpfung, erhöhter Infektionsrate an Bilharziose
Nach Nentwig (1995)
Häuig wird die Ansicht vertreten, dass Überbevölkerung und die globalen Umweltprobleme der heutigen Zeit jungen Datums sind und erst aus der Zeit der Industrialisierung datieren, also erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Die nach dem zweiten Weltkrieg einsetzende Wachstumsphase, auch als 1950er-Jahre-Syndrom (Pister 1995) bezeichnet, ist durch eine jährliche Wachstumsrate der Weltbevölkerung um 2 % gekennzeichnet, sowie den Einsatz von Erdöl als nahezu universellem Energieträger, und eine zunehmende Globalisierung. Das nunmehr konsequente Aufbrechen regionaler Stoff- und Energiekreisläufe führte zu einer weltweiten Abhängigkeit. Es ist allgemein bekannt, dass das Welthungerproblem heute nicht Folge einer weltweiten Nahrungsknappheit ist, sondern Folge einer nicht funktionierenden Verteilung. Einschlägige Lehrbücher zur Humanökologie widmen sich daher vornehmlich den Umweltproblemen der Moderne (z. B. Sukopp und Wittig 1993; Goudie 1994; Campbell 1995; Nentwig 1995): • Überbevölkerung und Geburtenkontrolle • Welternährungsproblem • Energieverbrauch und -bereitstellung • Rohstoffvorrat und -verfügbarkeit • Einflüsse auf die Bodenstruktur • Einflüsse auf stehende und fließende Gewässer • Verschmutzung und Ausbeutung der Weltmeere • Umweltverschmutzung durch anorganische, organische und synthetische Stoffe • Klimaveränderungen • Vernichtung von Tier- und Pflanzenarten
3.2
Humanökologie
225
• Import und Export von Tieren und Pflanzen, somit Floren- und Faunenfälschung • Verbreitung von Infektionserkrankungen • die Entstehung von Städten und Ballungsräumen als anthropogene Ökosysteme. Das Eingehen auf jeden dieser Aspekte, welche eng miteinander verzahnt sind und nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, würde ein eigenes Kapitel erfordern, weshalb auf die einschlägige Spezialliteratur verwiesen sei (s. oben). Zahlreiche Umweltprobleme sind jedoch bereits eindeutig historischer Natur und datieren z. T. bis in antike Zeiten, wie z. B. die großräumigen Naturzerstörungen im Mittelmeerraum mit Desertifikation von Nordafrika, Sizilien und Griechenland (Mensching 1983). Die heutigen Wälder Mitteleuropas haben mit „Natur“ in der Regel nichts mehr gemein, sondern sind Neuaufforstungen nach dem gewaltigen mittelalterlichen Raubbau an den Wäldern, zunächst als Nutz- und Wirtschaftswald, heute zunehmend aus Gründen der Naturkonservierung einschließlich der im Wald lebenden Tier- und Pflanzengemeinschaften (Küster 1998). Viele Savannenlandschaften in den tropischen und subtropischen Regionen sind Folge übermäßiger Brandrodung durch einen Bevölkerungsdruck in prähistorischen Zeiten (Boyden 1993), ebenso wie die tiefen Erosionsschluchten (Barrancas) in Mittelamerika Folge von gewaltigen Materialumschichtungen durch menschlichen Feldbau sind, und eine mindestens 3000jährige Geschichte haben (Lauer 1981). Die Kenntnis über solche Langzeitfolgen menschlicher Einwirkung auf die Natur verdanken wir den Bemühungen der Historischen Umweltforschung (z. B. Brimblecombe und Pfister 1990; Crosby 1986; Bork et al. 1998; Küster 1996; Spindler 1998), welche zu Recht dazu mahnt, vielbenutzte Begriffe wie „Langzeitrisiko“ oder „Nachhaltigkeit“ einer sorgfältigen inhaltlichen Prüfung zu unterziehen.
3.2.5
Die Entwicklung der Weltbevölkerung
Die Erde heißt eine Mutter aller Dinge, nicht weil sie selbige hervorbringt, sondern weil sie das, was sie hervorbringt, erhält und ernähret.
Dieses Zitat des berühmten Bevölkerungswissenschaftlers des 18. Jahrhunderts, Johann Süssmilch (Zitat nach Birg 1996), zeigt Problembewusstsein und Verantwortung gegenüber der Ressourcennutzung der Weltbevölkerung, während noch im gleichen Jahrhundert Robert Malthus mit seiner These der begrenzten Tragfähigkeit der Erde bei ungebremstem Bevölkerungswachstum die Angst der Wohlhabenden vor Umverteilungen von Ressourcen schürte (vgl. Kap. 3.3.1). Ende 2010 betrug die Weltbevölkerung 6,9 Mrd. Menschen. Im Oktober 2011 wurde die 7 Mrd.- Marke erreicht, die Tendenz ist weiterhin steigend (United Nations 2011; Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2010) (vgl. Box 3.11). 7 Die hohe Wachstumsrate ist ein geschichtlich noch junges Phänomen, das durch Verbesserungen der Lebensbedingungen, insbesondere der hygienischen Bedingungen, der medizinischen Fortschritte und der Entwicklung ertragssteigernder landwirtschaftlicher Techniken ermöglicht worden ist.
226
3
Bevölkerungsbiologie
Bevor das Wachstum sich rasant beschleunigte, lebten noch bis zum Jahr 1804 weniger als eine Milliarde Menschen auf der Erde, bei einem bis dahin außerordentlich langsamen Wachstum von weit weniger als einem Promille pro Jahr. Erst mit der Industrialisierung stieg die Wachstumsrate allmählich auf 0,4 bis 0,5 % zu Beginn des 19. Jahrhunderts an (Birg 1994b). Es dauerte nur ein weiteres gutes Jahrhundert, bis 1926 die zweite Milliarde hinzukam. 1960 wurde bereits die 3-Milliarden-Grenze überschritten und knapp 40 Jahre später (1999) hatte sich die Weltbevölkerung auf 6 Mrd. Menschen nochmals verdoppelt (Haub 2002). In Kap. 3.3.3 wird gezeigt, dass die Veränderungen des Bevölkerungsbestandes vor allem von den Sterblichkeitsverhältnissen und den Geburtenraten abhängt. 7 Die Industrieländer haben den ersten und zweiten demografischen Übergang, geprägt durch einen Sterblichkeitsrückgang mit nachfolgendem Geburtenrückgang, bereits vollzogen und befinden sich in einer posttransformativen Phase, in der das Absinken der Geburtenrate unter die Sterberate einen Bevölkerungsrückgang bewirkt (vgl. Kap. 3.3.4, Abb. 3.19). Viele Entwicklungsländer sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts jedoch durch den bereits deutlichen Rückgang der Sterblichkeit und damit der Erhöhung der Lebenserwartung bei gleichzeitig noch relativ hohem Fruchtbarkeitsniveau geprägt. Ihre Geburtenzahlen pro Frau nehmen zwar seit den 1970er und 1980er Jahren ab, bevor sich jedoch auch die Bevölkerungszahlen reduzieren, werden von zahlenmäßig noch stark besetzten Kohorten weiterhin große Kinderzahlen hervorgebracht. In diesem Stadium findet ein besonders starkes Bevölkerungswachstum statt, das sich erst verlangsamt, wenn auch die Geburtenzahlen dauerhaft abnehmen.
Erst die dann schwächer besetzte Elterngeneration führt zu wiederum schwächeren Kinderjahrgängen. Diese Entwicklung wird in den nächsten Jahrzehnten greifen und erst dann eine Verlangsamung des Weltbevölkerungswachstums nach sich ziehen. Aufgrund dieser in groben Zügen absehbaren quantitativen Entwicklung der Weltbevölkerung wird nach einer mittleren Projektion eine Zunahme um weitere 2,2 Mrd. Menschen auf etwa 9,2 Mrd. Menschen bis etwa 2050 erwartet (United Nations 2006). Der Altersaufbau der Weltbevölkerung ist in den Weltregionen sehr heterogen und setzt sich aus sehr unterschiedlichen Bevölkerungsstrukturen zusammen. Er wird von der Bevölkerungszusammensetzung derjenigen Länder geprägt, die hohe Bevölkerungszahlen aufweisen, wie China und Indien, die 19,5 und 17,8 % der gesamten Weltbevölkerung stellen (United Nations 2010, 2011). Die Alterszusammensetzung ist inzwischen deutlich durch die weltweite Entwicklung der sinkenden Sterberaten gekennzeichnet. Dies zeigt sich in der Bevölkerungspyramide der Weltbevölkerung, die noch vor einem halben Jahrhundert die Pyramidenform einer jungen Bevölkerung aufwies und sich allmählich bis 2050 zur Glockenform wandelt (Abb. 3.7). Neben der Veränderung der Altersstruktur zeigt sie auch die drastische Zunahme der Weltbevölkerung.
3.2
Humanökologie
227
Alter (0 - 95 Jahre)
Bevölkerungspyramiden 1950
-10
-5
0
Prozent
2000
5
10
-10
-5
0
Prozent
2050
5
10
-10
-5
0
5
10
Prozent
Abb. 3.7 Altersaufbau der Weltbevölkerung 1950, 2000 und 2050. (Adaptiert nach Birg 1996; United Nations 2000)
Box 3.11: Die Weltbevölkerung von 7 Mrd. – einige wesentliche Fakten
• Die Weltbevölkerung hat nach statistischen Berechnungen am 12. Oktober 1999 sechs Milliarden Menschen überschritten und der siebenmilliardste Mensch wurde um den 31.10.2011 geboren. • Die Weltbevölkerung wächst auf voraussichtlich 8,9 Mrd. Menschen im Jahr 2050 und 9,1 Mrd. im Jahr 2100, unter der Voraussetzung, dass die Kinderzahl pro Frau von heute 2,5 Kindern auf das Ersatzniveau von 2,0 Kindern sinkt. • Innerhalb von nur 12 Jahren ist die Weltbevölkerung von 5 auf 6 Mrd. Menschen gestiegen (1987–1999). In wiederum nur 12 Jahren kommt 2011 eine weitere Milliarde Menschen hinzu. Dies ist die größte Geschwindigkeit des Bevölkerungswachstums in der Geschichte der Menschheit. • Bis 1804 blieb die Weltbevölkerung unter 1 Mrd. Menschen, die Zeiträume, in denen jeweils eine weitere Milliarde hinzukam, verkürzten sich auf 33, 14, 13 und nun 12 Jahre. Für das weitere Weltbevölkerungswachstum jenseits der 7 Mrd. Menschen wird wieder mit einer Verlangsamung und damit Verlängerung der Zeitspanne gerechnet. • Die höchste Rate des Weltbevölkerungswachstums (2,07 %) gab es in den 1960er Jahren. Die aktuelle Wachstumsrate (2005–2010) beträgt 1,16 %. • Die höchste jährliche Bevölkerungszunahme von 86 Mio. wurde in den späten 1980er Jahren erreicht. Momentan wächst die Weltbevölkerung jährlich um 1,1 %. Die geschätzte Bevölkerungszunahme zwischen 2008 und 2050 ist etwa so hoch wie die gesamte Weltbevölkerung um 1950. • An dieser Bevölkerungszunahme haben die weniger entwickelten Ländern einen Anteil von über 95 %. • In den weniger entwickelten Ländern leben 82 % der Weltbevölkerung. Um 1900 waren dies 70 %, Mitte des 21. Jahrhunderts werden dies 90 % sein. • In den am wenigsten entwickelten Ländern steigt die Bevölkerung am stärksten – von heute 832 Mio. Menschen um nahezu das Dreifache auf 2,7 Mrd. Menschen im Jahr 2100.
228
3
Bevölkerungsbiologie
• In den Entwicklungsländern haben Frauen im Durchschnitt 3 Kinder, vor 30 Jahren waren es noch 6 Kinder. Prognosen gehen davon aus, dass die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau von momentan weltweit 2,5 Kindern bis zum Jahr 2100 auf 2,0 Kinder sinkt. Die Prognosen der Bevölkerungsentwicklung hängen stark von der Fertilitätsentwicklung ab (s. Abb. 3.9). • Die Weltbevölkerung altert. Das Medianalter stieg von 23,5 Jahre 1950 auf heute 29 Jahre (2010). 2100 wird das Medianalter wahrscheinlich 42 Jahre erreichen. Der Anteil der über 60jährigen steigt von 10 % auf 22 % in 2050. In den Industrieländern sind dies bereits jetzt 22 %, in 2050 in diesen Ländern 33 %. • Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt jetzt 69 Jahre, ein Anstieg um über 20 Jahre seit 1950. 2050 wird die Lebenserwartung voraussichtlich 76 Jahre betragen. Einige Länder sind allerdings durch AIDS stark betroffen und weisen erhebliche Einbrüche in der Entwicklung der Lebenserwartung auf (vgl. Kap. 3.2.6). • Die internationale Migration hat von etwa 75 Mio. im Jahre 1965 auf heute über 125 Mio. zugenommen. • Die Welt urbanisiert zunehmend. Bereits über 50 % der Weltbevölkerung leben in urbanen Gebieten, 2050 werden dies schätzungsweise zwei Drittel der Weltbevölkerung sein. (United Nations 1999, 2000, 2008, 2010; Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2001, 2010)
3.2.5.1 Die Prognosen des Weltbevölkerungswachstums Die grob skizzierten Annahmen des Weltbevölkerungswachstums gelten unter der Annahme bestimmter Entwicklungen der Sterbeverhältnisse und der Geburtenhäufigkeiten. Wenn auch der Prognosezeitraum der nächsten 50 Jahre recht überschaubar erscheint, so resultieren doch aus unterschiedlichen Modellannahmen sehr unterschiedliche Bevölkerungszahlen (vgl. Kap. 3.3.4). Für die Zunahme der Weltbevölkerung auf 10,1 Mrd. Menschen bis zum Jahr 2100 ist eine mittlere Variante der Sterblichkeits- und Geburtenentwicklung zugrunde gelegt worden (Abb. 3.8). Sie geht davon aus, dass bis zum Jahr 2050 die durchschnittliche Kinderzahl von derzeit etwa 2,5 auf 2,0 Kinder pro Frau absinkt (vgl. auch Kap. 3.3.6) (United Nations 2011). Wie anfällig derartige Prognosen gegenüber leichten Modifikationen der angenommenen Parameter sind und wie unsicher daher Langzeitprognosen der Bevölkerungsentwicklung erscheinen, zeigt sich, wenn die Kinderzahl in den Entwicklungsländern um 0,5 Kinder pro Frau höher ausfällt (hohe Variante). Dann würde im Jahr 2100 nicht eine Weltbevölkerung von 10,1 Mrd. Menschen, sondern eine um mehr als die Hälfte höhere Bevölkerungszahl von 15,8 Mrd. Menschen zu erwarten sein. Ebenso resultiert eine Verringerung der Kinderzahl um weitere 0,5 Kinder in einer niedrigen Variante mit 6,2 Mrd. Menschen (Abb. 3.8) (United Nations 2011). Ob die wahrscheinlichste mittlere Variante eintreten kann, ist schwer vorauszusagen. Aber auch wenn die weniger wahrscheinliche niedrige Variante realisiert
3.2
Humanökologie
229
Abb. 3.8 Entwicklung der Weltbevölkerung (bis 2000 tatsächliche Werte, danach Prognose der United Nations) unter der Annahme verschiedener Parameter der Geburtenentwicklung (niedrige, mittlere, hohe Variante, vgl. Text) und geschätzte Entwicklung des Bevölkerungsanteils in weniger entwickelten Regionen. (Datenquellen: Schulz 1999; United Nations 2007)
werden sollte, bedeutet dies, dass die Weltbevölkerung auch in den nächsten Jahrzehnten zunächst noch weiter ansteigt. 7 Die Probleme des derzeitig starken Anwachsens der Weltbevölkerung sind mit der Tatsache verknüpft, dass die meisten Menschen in weniger entwickelten Ländern leben, in denen sich auch die stärkste Bevölkerungszunahme vollzieht.
Dies betrifft praktisch alle Länder außer den Industrienationen Europas, Nordamerika, Japan, Australien und Neuseeland. Wesentliche Probleme des globalen Bevölkerungswachstums liegen in der Ungleichverteilung der Ressourcennutzung begründet. Der Konzentrierung des Reichtums auf wenige Länder mit geringem Anteil der Weltbevölkerung steht die Armut einer großen Menge Menschen in den weniger entwickelten Regionen gegenüber. Für die vergleichsweise noch geringe Lebenserwartung in diesen Ländern müssen daher mangelhafte Ernährung, schlechte Bildungschancen und die medizinische Unterversorgung verantwortlich gemacht werden. Deren Änderung kann jedoch erst dann zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen führen, wenn
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3
Bevölkerungsbiologie
durchgreifende gesellschaftsstrukturelle und wirtschaftliche Parameter greifen, sowie die unzureichenden Bildungs- und Informationssysteme und vor allem die fehlende Selbstbestimmung von Frauen verbessert worden sind (Kelley 1996; Montgomery und Lloyd 1996).
3.2.5.2 Die Bevölkerungsentwicklung in den Weltregionen Für die pauschale Betrachtung der Weltbevölkerung spielen Wanderungsprozesse nur eine untergeordnete Rolle, da sich regionale Zu- und Abwanderungen gegenseitig aufheben. Allerdings ist die Dynamik des Bevölkerungswachstums in den Weltregionen sehr heterogen. Durch größere Bevölkerungsbewegungen zwischen strukturell unterschiedlichen Regionen können sich daher die Voraussageparameter ändern, woraus Fehlschätzungen der Bevölkerungsentwicklung resultieren. Aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit sollen hier jedoch die hauptsächlich die Bevölkerungsentwicklung in den Weltregionen steuernden Parameter der Geburtenentwicklung und der Sterblichkeit betrachtet werden. 7 Während die meisten Industrieländer negative Wachstumsraten aufweisen, nehmen die Bevölkerungszahlen auf dem asiatischen und insbesondere dem afrikanischen Kontinent am stärksten zu.
Hierbei ist jedoch zwischen absoluter zahlenmäßiger Zunahme und der relativen Wachstumsrate zu unterscheiden, um die Dynamik des Bevölkerungswachstums verstehen zu können, eine wesentliche Voraussetzung für bevölkerungspolitische Planungen. Der bevölkerungsreichste Kontinent ist Asien. Gemeinsam mit der Bevölkerung Europas setzte in Asien bereits im 18. Jahrhundert eine großräumige Beschleunigung des Bevölkerungswachstums ein, und heute weist Asien basierend auf 4,2 Mrd. Menschen und einer natürlichen Wachstumsrate (Differenz von Geburtenund Sterberate) von 1,2 % den stärksten absoluten Zuwachs auf. In Lateinamerika und Afrika begann erst ab 1950 eine starke Bevölkerungszunahme. Während die Bevölkerung Afrikas 1950 einen Weltbevölkerungsanteil von 9,1 % besaß, ist dieser heute auf 14,8 % gestiegen. Für 2050 wird der Weltbevölkerungsanteil Afrikas auf 23,6 % geschätzt. Mit einer natürlichen Wachstumsrate von 2,4 % weist Afrika heute den stärksten relativen Anstieg der Bevölkerung weltweit auf, während die Bevölkerung Europas bereits abnimmt. Europa hatte auch zu Zeiten seines größten Bevölkerungswachstums zwischen 1800 und 1950 nie die hohen Wachstumsraten, die heute Asien und Afrika aufweisen. Im Jahr 1950 lebten in Europa doppelt so viele Menschen wie in Afrika; zu Beginn des 21. Jahrhunderts überstieg bereits die Bevölkerung Afrikas diejenige Europas (vgl. Tab. 3.4), und im Jahr 2050 werden mehr als dreimal so viele Menschen in Afrika leben wie in Europa (Bähr et al. 1992; Haub 2002; Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2010). Insbesondere in den wirtschaftlich schwach entwickelten Zonen West-, Zentral- und Ostafrikas werden die weltweit höchsten Wachstumsraten verzeichnet. Damit muss der afrikanische Raum als eine der größten Problemzonen der Bevölkerungsentwicklung betrachtet
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Humanökologie
Tab. 3.4 Aktuelle demografische Parameter der sche Stiftung Weltbevölkerung 2010) Natürliche Weltregionen BevölkeWachstumsrung in Millionen rate in % Welt gesamt 6892 1,2 Industrieländer 1237 0,2 Entwicklungsländer 5656 1,4 Am wenigsten ent832 2,5 wickelte Länder Afrika 1030 2,4 Asien 4157 1,2 Europa 739 0,0 Lateinamerika und 585 1,3 Karibik Nordamerika 344 0,6 Ozeanien 37 1,1
231 Weltbevölkerung im Jahr 2010. (Quelle: DeutLebenserwartung bei Geburt 69 77 67 48
Gesamtfruchtbarkeitsrate 2,5 1,7 2,7 5,6
Medianalter % älter in Jahren als 64 Jahre 29,2 8 46,4 16 26,9 6 19,7 3
55 70 76 74
4,7 2,2 1,6 2,3
19,7 29,2 40,1 27,6
3 6 15 6
78 76
2,0 2,5
37,2 32,8
13 10
werden, da die infrastrukturelle Situation der betroffenen Entwicklungsländer der Versorgung der stark zunehmenden Bevölkerung nicht gewachsen ist. Durch die zunehmenden Bevölkerungszahlen in diesen Regionen wird aber auch mit einer politischen Gewichtsverlagerung zu rechnen sein, die sich im Weltmaßstab auswirkt, und die dadurch wiederum den internationalen Stellenwert und die innere Struktur der Länder beeinflussen wird (Schmid 2000). Ein wichtiger Indikator der Altersstruktur einer Bevölkerung ist das Medianalter (vgl. Kap. 3.3.3). Es lag für die Weltbevölkerung im Jahr 1950 bei 23,9 Jahren, im Jahr 2000 bei 26,7 Jahren und ist innerhalb von 10 Jahren weiter auf 29,2 Jahre gestiegen (United Nations 2011). Die demografische Alterung der Industrieländer spiegelt sich in ihrem hohen Medianalter von inzwischen über 40 Jahren wider, die älteste Bevölkerung lebt in Japan mit einem Medianalter von 44,7 Jahren, dicht gefolgt von Deutschland mit 44,3 und Italien mit 43,2 Jahren Medianalter. In den am wenigsten entwickelten Ländern Afrikas dagegen war die Hälfte der Bevölkerung unter 17 Jahre alt (vgl. Tab. 3.4). Hierin zeigt sich wiederum sehr deutlich die zukünftige Problematik der Bevölkerungsentwicklung, wenn man bedenkt, dass in diesen Ländern 50 % der Bevölkerung einen Familienbildungsprozess noch vor sich hat und dann entsprechend hohe Kinderzahlen hervorbringen wird.
3.2.5.3 Fertilität als Motor der Bevölkerungsentwicklung Im weltweiten Vergleich lassen sich enorme Schwankungen der Fruchtbarkeitsrate beobachten. Im Jahr 2010 treten die weltweit höchsten Werte in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara mit im Durchschnitt 5,2 Kindern pro Frau auf. Es sind jedoch in dieser Weltregion sogar bis 7,4 Kinder pro Frau (Niger) und in einigen Ländern auch über 6 lebend geborene Kinder pro Frau (Somalia, Uganda, Kongo, Sambia, Tschad) zu beobachten (Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2010). Gekoppelt mit derart hohen Kinderzahlen treten in den betroffenen Ländern vor allem
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Bevölkerungsbiologie
hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit, hohe Kindersterblichkeit, niedrige Lebenserwartung sowie Bevölkerungszunahmen auf, die den verfügbaren Ressourcen nicht gewachsen sind. Im Gegensatz dazu stehen die Industrienationen, die im Durchschnitt weltweit die niedrigsten Kinderzahlen aufweisen. Mit 1,7 Kindern pro Frau zeigen diese jedoch mittlerweile wieder einen leichten Anstieg. Auch bei den derzeit 27 Mitgliedsstaaten der EU und ihrer Bevölkerungsgröße von einer halben Milliarde Menschen hat sich die Kinderzahl pro Frau von 1,47 im Jahr 2003 wieder auf 1,60 im Jahr 2009 gesteigert (Eurostat 2009). Diese große Variationsbreite stellt einen Spiegel der natürlichen wie auch der kulturell überformten Lebensbedingungen dar. Traditionen und Normen des Geburtenverhaltens, die sich im Laufe vieler Generationen vor dem Hintergrund der verfügbaren Ressourcen und ihrer Nutzungsmöglichkeiten sowie der naturräumlichen Gegebenheiten entwickelt haben, stellen Reaktionen auf die Kindersterblichkeit, das soziale Entwicklungspotential von Kindern oder die Arbeitskraft von Kindern dar. Damit lässt sich das Geburtenverhalten mit den „k- und r- Strategien“ des LifeHistory-Konzeptes (vgl. Box 2.2) vereinbaren. Um eine weitere Senkung von Sterbeziffern zu erreichen, muss auf die Verbesserung des Gesundheitssystems fokussiert werden. Sie unterliegt der direkt-kausalen bevölkerungspolitischen Kontrolle, deren Ergebnis zeitnah zu nachvollziehbaren Verbesserungen führt, das oft auch mit einem wirtschaftlichen Interesse der Pharmaindustrie einhergeht. Um die hohen Kinderzahlen zu senken, bedarf es hingegen einer stärkeren Einflussnahme auf gesellschaftliche Umwälzungen, eine eher indirekte und langfristige Investition, die aber den wichtigsten Schlüssel für die Kontrolle des Bevölkerungswachstums darstellt. Es muss versucht werden, entsprechende Lebensbedingungen zu schaffen, auf deren Basis die individuelle Entscheidung für eine reduzierte Kinderzahl auch realisierbar ist und die momentan noch sehr hohen Zahlen ungewollter Schwangerschaften reduziert werden können. Erst wenn ein Selbstbestimmungsrecht für Frauen durchgesetzt worden ist, Aufklärung und Anwendung von Verhütungsmitteln bevölkerungsdeckend erreicht ist, gekoppelt mit Schulbildung für alle Bevölkerungsschichten und damit der drastischen Reduzierung des Analphabetentums, die Säuglingssterblichkeit weiter gesenkt werden kann, die sozioökonomische Situation sowie die Sicherung des Familieneinkommens und der Altersversorgung nicht durch eine hohe Kinderzahl gewährleistet werden muss, um nur einige der wesentlichsten Determinanten der Fertilität zu nennen, wird es gelingen, in den Bevölkerungen der am wenigsten entwickelten Länder mit heute noch hohen Kinderzahlen ein Bewusstsein für die Kontrolle und Reduzierung der Familiengröße zu vermitteln (World Health Organisation 2010). In vielen Ländern mit hohen Kinderzahlen steht Frauen das Bildungssystem nur begrenzt zur Verfügung; sie heiraten früh, haben wenig Mitspracherecht bei der Familienplanung, und ihre gesellschaftliche Rolle definiert sich häufig über die Anzahl ihrer Kinder, insbesondere der Söhne. Wie auch bei der Betrachtung der Sterbeverhältnisse und der Ernährungssituation (s. unten), so hängt die realisierte Fruchtbarkeit einer Bevölkerung von einem komplexen Gefüge an Determinanten ab, in dem die ökonomische Situation eine Schlüsselrolle spielt. Herrscht weiterhin Armut vor, werden die
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Humanökologie
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System demo-ökonomischer Wechselwirkungen
Bevölkerungswachstum
Arbeitskräfte / Humankapital
Sozialprodukt / Wirtschaftsstruktur
Geburtenrate / Generatives Verhalten
Technischer Fortschritt / Dynamik der Arbeitsmärkte
Spar- und Investitionsintensität
Langfristige Festlegung im Lebenslauf
Ökon. u. biograph. Opportunitätskosten / Lebenslaufoptionen
Pro-KopfEinkommen
Abb. 3.9 Selbstregulierende Wirkung des ökonomischen Systems auf die Geburtenrate einer Bevölkerung. (Adaptiert nach Birg 1994a)
Kinderzahlen nicht in dem erhofften Maße bis zum Niveau der Bestandserhaltung sinken (Ahlburg 1996; Lipton 1999). Dies wird sich erst dann regulieren, wenn aufgrund eines hohen volkswirtschaftlichen Sozialproduktes die ökonomischen und biographischen Opportunitätskosten von Kindern derart gestiegen sind, dass die Entscheidung für eine Begrenzung der Kinderzahl im Hinblick auf konkurrierende biographische Entwicklungsmöglichkeiten für den individuellen Lebenslauf planungsrelevant wird (vgl. Kap. 3.3.6, Abb. 3.9). Ist jedoch die wirtschaftliche Lage wie in den am wenigsten entwickelten Ländern extrem schlecht und herrscht die Armut vor, so ist dieser selbstregulierende Regelkreis außer Kraft gesetzt und steigendes Elend verursacht weitere Bevölkerungszunahme (Birg 1994a, b). Dies mag verdeutlichen, wie stark die unterschiedliche Bevölkerungsdynamik zu relativen Umverteilungen der Bevölkerung in den Weltregionen zu führen vermag.
3.2.5.4 Entwicklung der Sterblichkeit Die wesentlichen Errungenschaften des medizinisch-hygienischen Fortschrittes lassen sich direkt in der Reduzierung der Sterblichkeit ablesen. Es ist insbesondere das Absinken der Säuglings- und Kindersterblichkeit, das großen Einfluss auf die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung einer Bevölkerung ausübt (vgl. Kap. 3.3.3). Das Überleben von Neugeborenen ist in höherem Maße als bei allen anderen Altersgruppen von den allgemeinen Lebensbedingungen abhängig. Schlechter Ernährungszustand der Mütter, schnelle Geburtenfolge, unzureichende hygienische Bedingungen und medizinische Betreuung der Schwangeren stellen ein großes Sterberisiko nicht nur für den Säugling, sondern auch für die Mütter dar. So
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Bevölkerungsbiologie
ist heute noch in den problematischen, am wenigsten entwickelten, Ländern Afrikas die Müttersterblichkeit die häufigste aller Todesursachen von Frauen im Alter unter 60 Jahren. So stirbt eine von 22 Frauen in Afrika südlich der Sahara an den Folgen einer ihrer Schwangerschaften bzw. Geburten, während dies in Deutschland lediglich eine unter 19.200 Frauen betrifft (Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2010). In einigen dieser Länder beträgt die Säuglingssterblichkeit (Sterblichkeit innerhalb des ersten Lebensjahres) noch bis zu 12 % (Tschad, Guinea-Bissau, Angola, Mali). Während sie in den Industrieländern heute schon auf den geringen Wert von 0,6 % gesunken ist und damit künftig nur noch geringfügige Verbesserungen möglich sein werden, ist in den Entwicklungsländern im Durchschnitt eine Reduzierung auf 5 % erreicht worden (Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2010). Die niedrige Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung Afrikas von durchschnittlich 55 Jahren (vgl. Tab. 3.4) ist hauptsächlich auf diese Sterberisiken zurückzuführen. Der zukünftige Sterblichkeitsrückgang und die damit zu erwartende Steigerung der durchschnittlichen Lebenserwartung werden weitestgehend mit der Reduzierung der Säuglings- und Müttersterblichkeit einhergehen. Als wesentliche Todesursachen herrschen in den weniger entwickelten Ländern noch Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose und AIDS. Da diese Sterbeursachen vor allem für die Sterblichkeit in jüngerem Alter verantwortlich sind, treten die in den Industrieländern häufigen Todesursachen im hohen Alter wie HerzKreislauf-Erkrankungen und bösartige Neubildungen (Karzinome) oft gar nicht erst auf (vgl. Kap. 3.2.3, 3.2.6). Somit hängt das Todesursachenspektrum eng mit der Alterszusammensetzung einer Bevölkerung zusammen. Wie aus Tab. 3.4 ersichtlich, ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa nicht so hoch wie in den Vergleichsregionen Nordamerika oder Ozeanien (Australien, Neuseeland). Dies liegt an der sehr heterogenen Struktur der europäischen Länder, unter denen sich mit Island, Schweden, der Schweiz und Italien Länder befinden, die nach Japan zu den Ländern mit den höchsten Lebenserwartungen zählen, aber auch Länder, wie die osteuropäischen strukturell schwachen Reformstaaten, die noch keinen Anschluss an die westeuropäischen Verhältnisse des Gesundheitssystems und der allgemeinen Lebensbedingungen gefunden haben. Die Ursachen und Konsequenzen der demografischen Alterung mit dem steigenden Anteil älterer Altersklassen an der Bevölkerung werden in Kap. 3.3.4 behandelt. Dies führt zu einer Verbreiterung des oberen Teils der Bevölkerungspyramide und trägt neben der Verschmälerung seiner Basis durch abnehmende Geburtenraten zu ihrer Glockenform bei, wie sie für die Mitte dieses Jahrhunderts prognostiziert wird.
3.2.5.5 Die Verstädterung der Weltbevölkerung Die ersten Städte traten in der Region des „Fruchtbaren Halbmondes“ im Vorderen Orient vor etwa 6000–8000 Jahren auf, nachdem der Prozess des Überganges von der aneignenden zur produzierenden Lebensweise im Neolithikum erfolgreich beschritten war (vgl. Kap. 2.3). Sie unterschieden sich von den auf Ackerbau und Viehzucht basierenden dörflichen Siedlungen (so genannter primärer Sektor) durch eine differenzierte Bebauung und einen höheren Anteil an Bevölkerung mit handwerklicher Tätigkeit (heute auch industrieller Tätigkeit, der so genannte sekundäre Sektor) sowie Dienstleistungen (der so genannte tertiäre Sektor). Diese frühen Städ-
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te waren nach dem heutigen Maßstab klein und zählten kaum mehr als 5000 oder 10000 Einwohner. 7 Heute versteht man unter Verstädterung die Vermehrung, Ausdehnung und Vergrößerung von Städten nach Anzahl, Fläche und Einwohnern, als Urbanisierung wird die Ausbreitung städtischer Lebensformen beschrieben.
Während Städte oft mit einer Einwohnerzahl von mehr als 2000–5000 definiert werden, übersteigen Großstädte 100.000 Einwohner, und Megastädte zählen nach der internationalen Definition der United Nations über 8 Mio. Einwohner (Bähr et al. 1992). Erst mit der Industrialisierung setzte im 19.Jahrhundert eine nennenswerte Verstädterung ein, die innerhalb eines Jahrhunderts den städtischen Anteil der Erdbevölkerung von 3 % auf 15 % um 1900 steigerte. Heute lebt bereits jeder zweite Mensch in einer Stadt, und mit dem weiteren Zuwachs der Weltbevölkerung geht eine zunehmende Konzentration der Bevölkerung in die städtischen Gebiete einher, so dass für 2030 eine städtische Weltbevölkerung von über 60 % erwartet wird. Diese Dynamik der Verstädterung übersteigt noch bei weitem diejenige der zahlenmäßigen Bevölkerungszunahme. Die Zunahme der städtischen Bevölkerung erfolgt auf drei unterschiedliche Arten: Zum einen durch den Wandel von ursprünglich ländlichen Siedlungen zu Städten durch Bevölkerungszunahme, zum zweiten durch das natürliche Bevölkerungswachstum aufgrund der sinkenden Sterblichkeit bei hohen Geburtenzahlen der städtischen Bevölkerung und zum dritten durch Wanderungsüberschuss, oft gezielte Zuwanderungsströme aus dem ländlichen Raum in städtische Agglomerationsgebiete (Bähr 2000). Die Zahl der Großstädte mit über 1 Mio. Einwohner nimmt drastisch zu, und insbesondere die strukturell höchst problematischen Megastädte vermehren sich und wachsen rasant weiter. Heute haben bereits 30 Städte über 10 Mio. Einwohner. Vor knapp 50 Jahren waren es lediglich New York und Tokio, die diese Grenze überschritten hatten. Allerdings sind es weniger die großen Zentren in den Industrieländern, in denen die Lebensbedingungen problematisch sind, als vielmehr die planlos und explosionsartig wachsenden Städte in den Entwicklungsländern. Heute leben bereits doppelt so viele Menschen, etwa 2 Mrd., in diesen Bevölkerungsagglomerationen der Entwicklungsländer, verglichen mit der Gesamtbevölkerung der Industrieländer. Die starken Zuwanderungsströme aus den ländlichen Gebieten, unter denen diese Städte leiden, werden in starkem Maße durch die massiven Umweltzerstörungen verursacht, die langfristig zu nachlassenden landwirtschaftlichen Erträgen führen und der ländlichen Bevölkerung die Lebensgrundlage entziehen (vgl. Kap. 3.2.4). Sie stellen dann die Bewohner der Elendsviertel mit menschenunwürdiger Lebensweise, die „Pauper“. Damit muss die massive Verstädterung der Weltbevölkerung als ein globales Problem ersten Ranges angesehen werden (Kraas 2007; Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2010; Meusburger 1997; UNHabitat 2009; Heineberg 2007). Letztlich erweist sich auch hier wieder die Armut als ein zentrales Problem: „Der schlimmste Feind der Umwelt ist Armut“ (Indira Gandhi). Die Vergrößerung der bereits existierenden städtischen Bevölkerung geschieht heute unter anderen Vorzeichen als die Verstädterung in der Zeit der Frühindust-
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rialisierung. Während um 1800 die Lebenserwartungen in den englischen Städten der Industriegebiete Liverpool und Manchester noch bei etwa 26 Jahren lag, die Geburtenzahlen durch Sterblichkeitsausfälle dadurch niedrig blieben und damit die Bevölkerungszahl begrenzt war, sind heute die Lebenserwartungen selbst in den am wenigsten entwickelten Ländern bereits mehr als doppelt so hoch (Bähr et al. 1992).
3.2.5.6 Ernährungsprobleme Betrachtet man die heutige Ernährungssituation der Weltbevölkerung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass etwa ein Drittel der Menschen an Unter- bzw. Mangel- und Fehlernährung leidet (vgl. Kap. 3.2.3), ist schwer vorstellbar, wie sich angesichts der weiterhin wachsenden Bevölkerungszahlen die Problematik in den wenig entwickelten Ländern entwickeln wird. Die weltweit zur Verfügung stehenden Ressourcen indes sind zur Ernährung der Weltbevölkerung ausreichend. So stehen heute den über 7 Mrd. Menschen pro Kopf durchschnittlich 15 % mehr Nahrungsmittel zur Verfügung als den 4 Mrd. Menschen in den achtziger Jahren (Schulz 1999). Das größte Problem ist jedoch die regionale Verteilung der Nahrungsmittel und deren Nutzung, beispielsweise als Tierfutter in den Industrieländern, wodurch einem kleinen Anteil an Menschen ein teuer erkauftes breites Nahrungsspektrum auf Kosten der Grundversorgung einer großen Anzahl an Menschen in den Problemregionen zur Verfügung steht. Rechnerisch lässt sich mit den gleichen pflanzlichen Nahrungsressourcen, die ausreichen, um 5,5 Mrd. Menschen zu ernähren, lediglich noch die Hälfte der Menschen versorgen, wenn diese ein Viertel ihres Kalorienbedarfs durch tierische Produkte decken. Politische und wirtschaftliche Interessen sowie logistische Probleme stehen einer gleichmäßigen Verteilung von Ressourcen entgegen. Die katastrophale Ernährungssituation in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara hat sich bei steigenden Bevölkerungszahlen derart verstärkt, dass sie pro Kopf 20 % weniger Nahrungsmittel verfügbar haben als 1950 (Bohle 2001). Aufgrund der vorherrschenden Armut können die lebensnotwendigen Mittel – dazu gehören auch Brennstoffe für die Nahrungszubereitung – nicht beschafft werden. Die resultierende Unterversorgung verstärkt die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten und reduziert die Arbeitsfähigkeit, wodurch ein weiteres Absinken in die Armut vorgezeichnet ist und ein Überleben oft nur durch Einsatz aller Familienangehörigen, einschließlich der Kinder, gewährleistet werden kann, deren Anzahl bei reduzierter Arbeitsfähigkeit der Eltern dann ausschlaggebend für die Überlebenskraft der Familie ist (Livi-Bacci und De Santis 1999). Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, bedarf es weltweiter intensiver Anstrengungen, die helfen, Armut abzubauen. Kernaussagen Kap. 3.2.5: Die Entwicklung der Weltbevölkerung
• „Die“ Weltbevölkerung gibt es nicht, da die Menschen in demografisch extrem unterschiedlichen Teilwelten unter sehr verschiedenen Lebensbedingungen leben. • Die demografische Zukunft der Erde hängt nahezu ausschließlich von der Bevölkerungsdynamik der Entwicklungsländer ab, in denen ein rasantes Wachstum stattfindet.
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• Verstädterung und Urbanisierung stellen ein ernstzunehmendes Problem insbesondere in den ärmsten Ländern der Welt dar, welches nur durch eine nachhaltige weltweite Wirtschafts- und Umweltpolitik zu lösen ist.
3.2.6
Epidemiologie und Public Health
Die Gesundheit einer Bevölkerung gilt als wesentlicher Spiegel ihrer Lebensbedingungen. Als Ergebnis der biologischen Evolution ist der Mensch an ein Leben mit verschiedenen Krankheitserregern adaptiert (vgl. Kap. 3.2.3). 7 Die Epidemiologie (griech. epidēmios = im Volk verbreitet) befasst sich mit der Ursachenforschung von Krankheiten auf der Bevölkerungsebene und stellt ein Bindeglied zum öffentlichem Gesundheitswesen ( Public Health) dar. Ihre Aufgabe ist die Erforschung von Krankheitsvorkommen und der regionalen Verbreitung von Krankheiten mit ihren biologischen, ökologischen, geomorphologischen, psychischen und soziokulturellen Einflussfaktoren.
Ursprünglich standen die klassischen Epidemien der Infektionskrankheiten, die der Epidemiologie ihren Namen gaben, im Zentrum des Interesses. Heute werden Krankheiten allgemein, vor allem verbreitete chronische Krankheiten, von der Epidemiologie untersucht. Darüber hinaus beschäftigt sich die Epidemiologie mit den möglichen Nebenwirkungen von Arzneimitteln oder mit gesundheitsgefährdenden Belastungen am Arbeitsplatz und Umweltfaktoren (z. B. Ozonloch, Luftverschmutzung), die sich negativ auf die menschliche Gesundheit auswirken können (Kreienbrock und Schach 2000). 7 Die öffentliche Gesundheitsforschung oder Public-Health-Forschung zielt auf die Prophylaxe, also die Vorbeugung und Verhütung von Krankheiten, ab. Public Health hat von jeher zwei Zielrichtungen: die Beseitigung oder Verringerung von Umweltrisiken und die „Erziehung“ der Bevölkerung zu einer gesünderen Lebensführung. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Public Health als „Wissenschaft und Praxis der Krankheitsverhütung, Lebensverlängerung und der Förderung psychischen und physischen Wohlbefindens durch gemeindebezogene Maßnahmen“ (Weitkunat et al. 1997; Schwartz 2002). Die Aufgabengebiete von Public Health sind daher unter anderem die Gesundheitsförderung und Prävention. Epidemiologie, Public Health und klinische Medizin ergänzen sich dabei gegenseitig (Polak 1999; Schwartz 2002). 7 Für die Betrachtung einer Bevölkerung aus anthropologischer Sicht ist vor allem deren Krankheitsbelastung (Morbidität) von Bedeutung, die 1. Rückschlüsse auf das biologische Gefüge aller Organismen eines Ökosystems erlaubt, 2. sich auf das populationsgenetische Gleichgewicht einer menschlichen Bevölkerung auswirkt, und 3. deren demografische Entwicklung nachhaltig beeinflussen kann (Davey et al. 2001; Scott und Duncan 1998).
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Insbesondere Infektionskrankheiten haben Entwicklung und Struktur von Bevölkerungen entscheidend geprägt, wie am Beispiel der Malaria gezeigt werden konnte (vgl. unten, auch Kap. 3.1).
3.2.6.1 Epidemiologische Grundbegriffe und Methoden Eine Epidemie (von griech. epi = über und demos = Volk) ist eine Krankheit, die in der Bevölkerung einer definierten Region zeitlich begrenzt gehäuft vorkommt. Sie tritt meist plötzlich auf, verbreitet sich schnell und verschwindet nach einer begrenzten Zeitdauer wieder. Im engeren Sinn werden hierunter Infektionskrankheiten verstanden. Als Endemie (von griech. endemios = daheim, an einem Ort verweilend) wird dagegen eine Krankheit bezeichnet, die in einer definierten Region dauerhaft verstärkt vorkommt, da ein Wirt-Erreger-Gleichgewicht eintritt. Eine Krankheit, die (welt-)weit verbreitet ist und ungewöhnlich häufig auftritt, bezeichnet man als Pandemie (von griech. pandemios = allgemein verbreitet). Der übergeordnete Begriff der Seuche ist nach heutigem Verständnis eine grassierende, ansteckende Krankheit. Im 15/16. Jahrhundert bezeichnete man allgemein eine „schleichende, langwierige Krankheit“ oder „Siechtum“ als Seuche. Im 17. Jahrhundert verwendete man den Begriff Seuche für „ansteckende Krankheiten“. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Seuche zum Synonym für den Begriff der Epidemie (Pfeifer 1995). Die deskriptive Epidemiologie erstellt zunächst für Vergleiche geeignete Datensammlungen. Mögliche Fragestellung wären, ob in Deutschland mehr Personen an Lungenkrebs sterben als in Frankreich, ob Adipositas bei Kindern in den letzten Jahren signifikant zugenommen hat, oder inwiefern die AIDS-Erkrankung einen Einfluss auf die Alterszusammensetzung eines stark betroffenen Landes hat. Um Krankheitsverläufe darstellen und über einen längeren Zeitraum Prognosen über Zu- oder Abnahme der Erkrankungsfälle aufstellen zu können, sind epidemiologische Maßzahlen notwendig, von denen die beiden wesentlichsten, Prävalenz und Inzidenz, in Box 3.12 vorgestellt werden. Box 3.12: Epidemiologische Maßzahlen
Prävalenz Die Prävalenz ist eine Maßzahl für die Wahrscheinlichkeit, mit der eine zufällig ausgewählte Person aus der betrachteten Bevölkerung an einem Stichtag von der untersuchten Krankheit betroffen ist. Sie berechnet sich aus der Anzahl der erkrankten Personen und der Größe der Population am Stichtag, die so genannten Personen unter Risiko: Prävalenzrate (p) =
Anzahl d. erkrankten Personen Anzahl d. Personen unter Risiko
Vergrößert sich die Prävalenzrate in einer Bevölkerung signifikant, entwickelt sich eine Epidemie, bleibt sie konstant, befindet die Bevölkerung sich in einem epidemiologischen Gleichgewicht (endemische Phase) und verringert sie sich, spricht man von einer epidemiologischen Regression.
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Inzidenz Die Inzidenzrate ist ebenfalls ein Risikomaß, drückt aber die Wahrscheinlichkeit aus, dass eine Person in einem betrachteten Zeitraum (beispielsweise ein Jahr) neu erkrankt. Die Inzidenz gilt als Maßzahl, um die Entstehung einer Krankheit und ihre Dynamik zu beschreiben. War die gesamte Population bei Beginn der Untersuchung gesund, spricht man von der kumulativen Inzidenz: Inzidenzrate (i) =
Anzahl d. Neuerkrankungen im Studienzeitraum Anzahl d. Personen unter Risiko zu Beginn d. Studie
(Schwartz 2002) Die analytische Epidemiologie baut auf diese Datensammlung auf und betreibt Ursachenforschung (Kausalität von Krankheiten). Das Hauptproblem bei der Auswertung von Daten ist die mögliche Falschzuweisung von Einflussfaktoren. Durch Einbeziehung von Faktoren in eine Kausalitätsanalyse, die nur scheinbar mit der zu untersuchenden Frage zu tun haben, können systematische Fehler die Ergebnisse verfälschen. Bei der Untersuchung von eindeutigen Kausalzusammenhängen unterscheidet man die Risikofaktoren, die eine klar erkennbare kausale UrsachenWirkungs-Beziehung zwischen Faktor und Effekt darlegen, von den so genannten Risikoprädiktoren, die eine Assoziierung mit einem Effekt nahe legen, aber teilweise ungeklärte Wechselwirkungen einschließen können. Die Validität einer Untersuchung kann vor allem aus zwei Gründen gestört sein: Zu vergleichende Bevölkerungen können von Störfaktoren, so genannten Confoundern, überlagert sein, die nicht existierende Zusammenhänge vortäuschen. Informationen über Confounder sind die entscheidenden Voraussetzungen, um diejenigen Individuen herauszufiltern, die nicht von diesem Störfaktor betroffen sind. Eine weitere Fehlerquelle ist die fehlende Vergleichbarkeit der Informationen, wenn beispielsweise Mess-Ungenauigkeiten bei technischen Apparaten auftreten oder befragte Personen sich nicht ausreichend exakt an bestimmte Ereignisse in der Vergangenheit erinnern können.
3.2.6.2 Infektionskrankheiten Zu den bedeutendsten Infektionskrankheiten in der Menschheitsgeschichte zählen die Pest, die Pocken, Lepra, Syphilis, Cholera, Tuberkulose, verschiedene Geschlechtskrankheiten und schließlich die auch als „Kriegsseuchen“ bekannten Erkrankungen Fleckfieber, Ruhr, Malaria und Hepatitis epidemica (Leven 1997; Vasold 1991). Mittlerweile sind viele alte und auch neue Infektionskrankheiten wieder auf dem Vormarsch und stehen weltweit an der Spitze der Todesursachen. Als Ursachen gelten: • Mängel in der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, • ökologische Veränderungen aufgrund von Wirtschaftswachstum und Neulandgewinnung, • weltweite Mobilität von Menschen und internationaler Güteraustausch,
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• Technikfolgen (z. B. falsche Anwendung von Antibiotika), • demografische Veränderungen (Bevölkerungswachstum, Slumbildung in den Städten, freizügigeres Sexualverhalten), • mikrobiologische Anpassungs- und Veränderungsprozesse, die z. B. AntibiotikaResistenzen zur Folge haben. Die WHO führt seit den 1950iger Jahren Kampagnen zur Eliminierung von Infektionskrankheiten durch. Aufgrund dieser Bemühungen gelten die Pocken seit 1979 als ausgerottet (Fenner et al. 1988; Gelderblom 1997). Dagegen scheiterte bisher der Versuch, die Malaria einzudämmen, da die Anophelesmücke als Wirt des Malariaerregers Resistenzen gegen verwendete Insektizide und die bisher üblichen Medikamente entwickelte. Für einige Infektionskrankheiten sind die Aussichten auf Ausrottung aufgrund ihrer Eigenschaften und Lebensbedingungen von vornherein sehr gering. Erreger, die ein Wirtsreservoir in Tieren (z. B. Gelbfieber in Affen), im Wasser (z. B. Cholera) oder im Boden (z. B. Wundstarrkrampf/ Tetanus) haben, die im Körper infizierter Menschen lange persistieren, bevor die Krankheit zum Ausbruch kommt (z. B. Tuberkulose), oder die häufig mutieren (z. B. Influenza, AIDS), sind nur schwer zu fassen (Jütte 1997; Frendis und Sauerwort 1999–2003). Die WHO teilt die 10 bedeutendsten Krankheiten unserer Zeit in drei Kategorien ein: 1. verheerende und unkontrollierte Krankheit, 2. Kontrollstrategie vorhanden, aber das schwere Ausmaß der Krankheit besteht ungehindert fort und 3. Kontrollstrategie erwies sich als erfolgreich, das Ausmaß der Krankheit nimmt ab und die Ausmerzung ist absehbar. Zur ersten Kategorie zählen die durch Trypanosomen verursachte Schlafkrankheit, das Dengue-Fieber und die Leishmaniose; zur zweiten die Malaria, der Schistosomas-Befall und die Tuberkulose; schließlich zur dritten die Chagas-Krankheit, die Lepra, die lymphatische Filariose und die Onchozerkose (Remme et al. 2002; World Health Organization 2009). Etwa die Hälfte der Mortalität durch Infektionskrankheiten kann allein drei Krankheiten zugeschrieben werden: HIV, Tuberkulose und Malaria (World Health Organization 2010a, b, 2011). In Deutschland regelt seit dem 01.01.2001 als Nachfolger des alten Bundesseuchengesetzes (BSeuchG) das „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG)“ die Meldevorschriften für Infektionskrankheiten (Frendis und Sauerwort 1999–2003).
3.2.6.3 Diskurs 1: Malaria Die Kontrolle und Bekämpfung der Malaria ist eines der Hauptanliegen der globalen Gesundheitsförderung. Mit der 2008 gegründeten „MalariaEradicationResearchAgenda“ hat sich ein Paradigmenwandel von den Bestrebungen der Malariakontrolle hin zu der gezielten Unterbrechung der Malariaübertragung von der Anophelesmücke auf den Menschen vollzogen (Alonso et al. 2011). Große Hoffnungen werden derzeit in erfolgreiche Genomkodierungen sowohl verschiedener
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Plasmodium-Erreger als auch von Anophelesmücken gesetzt, mit denen in Zukunft eine gezielte Bekämpfung mit Vakzinen, Insektiziden oder genetischen knock-outMutanten erwartet wird (The malERA Consultative Group on Basic Science and Enabling Technologies 2011). Davon verspricht sich die Initiative eine vollständige Ausrottung der Malaria. Bisher haben die Maßnahmen zur Malariakontrolle vor allem auf die Gesundheitserziehung, Unterrichtung und Verhaltensänderung der Bevölkerung endemischer Gebiete, Vektorkontrolle, epidemiologische Überwachungen, Maßnahmen zur Trockenlegung von Gewässern, Kanalisationen, Insektizidanwendungen und diagnostisch/therapeutische Bemühungen abgezielt (Meyer 2001). Im Jahr 2009 lebten 3,28 Mrd. Menschen, mehr als 40 % der Weltbevölkerung, in malariagefährdeten Gebieten, darunter allein 1,2 Mrd. Menschen in Hochrisikogebieten, die sich durch jährliche Inzidenzraten von mehr als einer unter 1000 Personen in der Bevölkerung auszeichnen. 90 % aller Malariafälle treten im tropischen Afrika südlich der Sahara auf, wo in jedem Jahr bis zu 280 Mio. Kinder im Alter unter 5 Jahren erkranken. Insgesamt kam es noch vor wenigen Jahren weltweit jährlich zu 1,5–2,7 Mio. tödlichen Verläufen. Im Jahr 2009 hat sich dieser Wert nahezu halbiert, stellt sich aber angesichts der Tatsache, dass überwiegend Kleinkinder betroffen sind, weiterhin dramatisch dar. 81 der 106 malariaendemischen Länder weltweit kämpfen darum, die Malaria unter Kontrolle zu bekommen, während sich die übrigen Länder in der Phase der Präelimination, der Eliminierung bzw. der Verhinderung der Wiedereinführung befinden (WHO 2010; Alonso et al. 2011). In einigen Ländern breiten sich nach zunächst erfolgreichen Eradikationskampagnen der WHO derzeit die endemischen Malariagebiete jedoch wieder aus. Dies findet seine Ursache besonders in den rasch zunehmenden Insektizid- und Medikamentenresistenzen. Die Bekämpfung der Malaria ist unter anderem deshalb so problematisch, weil es nicht nur eine Malariaform gibt – allein mehr als 30 Überträgerarten der Anophelesstechmücke mit ihren unterschiedlichen Brut- und Nahrungsgewohnheiten sind bekannt. Diese übertragen neben den bislang bekannten vier humanpathogenen Plasmodium-Arten ( falciparum, vivax, ovale, malariae) auch einen fünften, erst kürzlich entdeckten Stamm ( knowlesi), der bisher nur bei Affen bekannt war (White 2008). Die von ihnen verursachten Krankheitsbilder Malaria tertiana, quartana und tropica wiederum zeigen sich im epidemiologischen Bild sehr heterogen. Aus diesen Gründen ist die Dynamik der Malariaübertragung zwischen den Wirten Mensch und Anophelesmücke in den endemischen Gebieten sehr heterogen. Die Malariabekämpfung ist zudem von zahlreichen sozialen und technischen Faktoren der menschlichen Lebensweise, der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems, der politischen Durchsetzungskraft gezielter Bekämpfungsmaßnahmen, der ökonomischen Möglichkeiten sowie der Form der Vektorkontrolle (Schutz vor Neuinfektionen zur Überträgerbekämpfung, vor allem durch Trockenlegung von Feuchtgebieten, Insektizide) abhängig und dadurch in den malariaendemischen Ländern von unterschiedlichem Erfolg gekrönt. Der relativ langsame Aufbau schützender Immunantworten führt dazu, dass in Endemiegebieten Kinder sehr stark durch Malaria gefährdet sind. Im ersten Lebens-
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jahr besteht meist ein partieller Schutz vor Infektionen, der auf mehrere Faktoren zurückgeht: In den ersten Lebensmonaten weisen Kinder noch einen Anteil fetalen Hämoglobins auf, das von Plasmodien nicht effizient verwertet werden kann. Zusätzlich können schützende IgG-Antikörper wirken, die von der Mutter diaplazentar übertragen wurden. Bei Säuglingen enthält das Blutserum, bedingt durch die Milchdiät, nur in geringem Maße para-Amino-Benzoesäure, die ein essentieller Wuchsstoff der Plasmodien ist. Mit dem Wegfall dieses Schutzmechanismus nach dem Abstillen sind Kinder bis zum Aufbau eigener Immunantworten – was um das fünfte Lebensjahr geschieht – durch Plasmodien stark gefährdet. In manchen Verbreitungsgebieten von P.falciparum werden bis zu 50 % der Kindersterblichkeit auf Malaria tropica zurückgeführt. Wegen der hohen Sterblichkeit stellt P. falciparum einen bedeutenden Selektionsfaktor dar. Personen, die besonders gut Immunantworten gegen bestimmte Plasmodienantigene aufbauen können, haben deshalb eine bessere Überlebens- und Fortpflanzungschance. Das Potential, gegen bestimmte Antigene reagieren zu können, wird wesentlich mitbestimmt durch die Immunantwortgene des MHC-Systems, so dass der Selektionsdruck der Malaria zur bevorzugten Ausbildung bestimmter Immunantwortgene geführt hat (Lucius und Loos-Frank 1997). Die Liste menschlicher Gene, für die eine malariaprotektive Wirkung gezeigt werden konnte, beinhaltet jetzt mehrere Hämoglobin-Typen, Enzyme und „Defekte“ an den Membranen der roten Blutkörperchen, und sogar einen HLA-Typus. Die erblichen Erythrozytenanomalien, darunter in erster Linie die Sichelzellanämie (HbS/HbA), bestimmte Formen der im Mittelmeerraum durch Selektionsfaktoren angereicherten Thalassämie, des Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangels, sowie das Fehlen bestimmter Duffy-Blutgruppen-Antigene (Fya, Fyb) bei der durch Plasmodiumvivax induzierten Malaria, wirken protektiv und treten daher in Endemiegebieten mit hohen Frequenzen auf. Auch die genetisch determinierte Expression bestimmter humaner Leukozytenantigene (HLA) und Allele des Tumor-Nekrose-Faktors scheinen mit einem relativen Schutz gegen schwere Verlaufsformen der Malaria tropica assoziiert zu sein (vgl. Kap. 3.1.2). Diese Bandbreite lässt vermuten, dass starke Selektionsfaktoren einer endemischen oder pandemischen Krankheit wirken, die an vielen Genloci zugleich tätig werden. Malaria ist als selektive Kraft in der menschlichen Geschichte demnach sehr wirksam gewesen. Um die beobachtete weite Verbreitung der verschiedenen malariaresistenten Gene beim Menschen in der evolutionär kurzen Zeit, seit die Malaria bedeutend wurde, zu bewirken, verlangt es einen Mechanismus für ihre schnelle Ausbreitung. Kurzstreckenmigration, selbst wenn sie verwandtenstrukturiert ist, liefert keine ausreichende Erklärung für diese Dynamik. Voraussetzung für die Ausbreitung ist deshalb Migration über weite Strecken hinweg, um die Verbreitungsrate und das Verbreitungsgebiet der Hämoglobinvarianten nach nur etwa 120 Generationen zu erklären. So sind das Hämoglobin E (HbE) und die Ovalozytose (hereditäre Elliptozytose, die mit einer Permeabilitätssteigerung der Erythrozytenmembran für Natrium einhergeht), zwei Allele, die Malariaresistenz verleihen, sehr variabel in Siedlungen
3.2
Humanökologie
243
der Semai Senoi, einem Volk der zentralmalaysischen Halbinsel. In ihren Genealogien tauchen einige Fälle von Langstreckenmigration aus anderen ethnischen Gruppen auf. Einige dieser Ereignisse scheinen wichtige Auswirkungen auf den Genpool der Semai gehabt zu haben, einschließlich der wahrscheinlichen Einführung des malariaangepassten Ovalozytose-Alleles (Fix 1999). Die Bedeutung der Landwirtschaft bei der Begünstigung von Malaria (Brutstätten der Anophelesmücke durch künstliche Bewässerung) lässt vermuten, dass die adaptiven Allele in Bevölkerungen mit landwirtschaftlicher Lebensgrundlage evolviert sind. Setzte die Selektion für Malariaresistenz in einer ursprünglich kleinen, wachsenden Bevölkerung ein, konnte die Wachstumsrate der adaptiven Variante zunehmen. Das Bevölkerungswachstum erzeugt Migrationdruck, der zum Prozess der Demischen Verbreitung (der Zerstreuung von Lokalpopulationen) führt. Die anfängliche Bevölkerungsgröße früher landwirtschaftlicher Dörfer konnte mit vielleicht nur 100 Individuen und HbE-Häufigkeiten von 0,05 beginnen. In ihnen kann HbE durch Malaria angereichert werden, im Gegensatz zu Jäger-Sammler-Bevölkerungen, denen aufgrund ihres fehlenden Kontaktes mit der landwirtschaftlichen Bevölkerung die HbE-Variante fehlt (Fix 1999).
3.2.6.4 Diskurs: AIDS Die weltweit häufigsten Todesursachen sind infektiöse und parasitäre Erkrankungen, denen insgesamt ein Drittel aller Menschen zum Opfer fallen. In den Entwicklungsländern gehen derzeit knapp die Hälfte aller Todesfälle auf das Konto von Infektionskrankheiten, in den Industrieländern dagegen nur etwa 1,2 %. Die sich am raschesten ausbreitende Infektionskrankheit ist AIDS ( AcquiredImmune Deficiency Syndrome), hervorgerufen durch HIV-Erreger (Human-Immunschwäche-Virus). Die epidemiologische Dynamik zeigt weltweit einen Höhepunkt an Neuerkrankungen im Jahr 1995, einen Sterblichkeitsgipfel 2004 und eine weiterhin steigende Prävalenzrate, da die Lebenserwartung Infizierter bei verbesserten Therapien steigt. Zahlreiche Arbeiten zur Biologie und Infektiologie des HIV-Virus liegen mittlerweile vor (z. B. Fan et al. 2000, 2007; Benn und Weinreich 2009; Barnett und Whiteside 2002); diese werden in der einschlägigen Literatur laufend aktualisiert. Insbesondere wird hier für detaillierte Informationen auf das seit über 25 Jahren aktuelle Forschungsergebnisse präsentierende Journal „AIDSResearchandHuman Retroviruses“ hingewiesen. Es soll hier mehr eine für die Anthropologie primär relevante evolutionsbiologische Betrachtung der Entwicklung des Immunsystems erfolgen sowie der Blick gelenkt werden auf die Verbreitungsdynamik, basierend auf der Erkenntnis, dass die beiden Haupttypen des HIV, HIV-2 und HIV-1, von unterschiedlichen Primatenarten auf den Menschen übertragen wurden. HIV-2 hat seinen Ursprung bei den Rußmangaben ( Cercocebus), wohingegen HIV-1 ursprünglich unter Schimpansen endemisch war. Die verschiedenen Varianten des HIV-1 gehen aus unabhängigen Übertragungsmechanismen vom Schimpansen zum Menschen hervor. Durch die Verbreitung des HIV-Virus ist die Übertragungsraten-Hypothese ( transmissionratehypothesis) bestätigt worden: Sorgt der Wirt für eine schnelle
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3
Bevölkerungsbiologie
Weitergabe des Erregers (häufiger Sexualpartnerwechsel im Fall von HIV), kommt einem besonders virulenten Erregerstamm eine gesteigerte Fitness zu. Er hat die Möglichkeit, zahlreiche neue Wirte zu infizieren, auch wenn er seinen ursprünglichen Wirt vergleichsweise schnell tötet. Wechselt der Wirt hingegen selten den Partner, hat ein weniger virulenter Stamm eine gesteigerte Fitness. Er erlaubt seinem Wirt lange genug zu überleben, um ihm die Möglichkeit zur Infektion eines neuen Wirtes zu geben. Virulente Stämme sexuell übertragener Pathogene sollten sich dann in einer Bevölkerung am wirkungsvollsten ausbreiten, wenn die Raten des Partnerwechsels hoch sind, währenddessen sich weniger virulente Stämme am wirkungsvollsten ausbreiten sollten, wenn die Raten des Partnerwechsels niedrig sind. Ist die Infektionsrate erhöht, wird die natürliche Selektion eine gesteigerte Virulenz bevorzugen. Ist jedoch die Infektionshäufigkeit gering, bevorzugt die Selektion gutartige Stämme. Im Sinne dieser evolutionären Analyse könnten sich auch die zu beobachtende Evolution von Medikamentenresistenzen bei den Grippe- und den Hepatitis-B-Viren sowie bei den die Tuberkulose hervorrufenden Stämmen des Bakteriums Mycobacteriumtuberculosis (vgl. Kap. 3.2.3) erklären lassen (Freeman und Herron 2001; Ewald 1997). Mit Ende des Jahres 2008 etwa 33,4 Mio. Infizierten, jährlich etwa 2,7 Mio. Neuansteckungen und rund 2 Mio. Todesfällen pro Jahr (Joint United Nations Programme on HIV/AIDS(UNAIDS) u. World Health Organization 2009) hat sich AIDS zu einer Krankheit entwickelt, die mehr als jede andere Folgen für die Gesellschaftsstruktur, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Lebensbedingungen in den betroffenen Gebieten hat. Vor allem im südlichen Afrika ist um die Jahrtausendwende in mehreren Ländern die Lebenserwartung um 10 bis 20 Jahre zurückgegangen, während sie in allen übrigen Ländern der Welt gestiegen ist (vgl. Kap. 3.2.5). Am stärksten betroffen sind Botswana, Simbabwe und Sambia, wo die durchschnittliche Lebenserwartung Anfang des Jahrtausends um ein Drittel unter derjenigen der 1980er Jahre lag und mittlerweile allmählich wieder ansteigt. Die weltweit höchste Prävalenzrate hat Botswana, deren Prävalenzrate in der Altersgruppe der 15–49jährigen 24,8 beträgt, was bedeutet, dass jeder vierte Erwachsene infiziert ist. Die demografischen Auswirkungen machen sich bereits deutlich bemerkbar und werden weiterhin zu einer signifikanten Verschiebung der Bevölkerungspyramide führen (Abb. 3.10) (WHO 2011). Wie stark das Auftreten und die Verbreitung von AIDS mit der sozioökonomischen Situation verwoben ist und welche demografischen Konsequenzen daraus erwachsen, lässt sich am Beispiel zweier kulturell so unterschiedlicher Länder wie Simbabwe und Thailand zeigen, die beide zu den am stärksten betroffenen Ländern weltweit zählen (vgl. Tab. 3.5). Neben den zahlreichen Kampagnen zur Aufklärung, Vorsorge und Therapie von AIDS bedarf es daher grundlegender sozialer Verbesserungen der Bevölkerung und nicht zuletzt der Beseitigung von Stigmatisierung und Diskriminierung der Betroffenen, um die HIV-Infektion, die derzeit weltweit mit größter Besorgnis beobachtet wird, kontrollieren zu können (Alkier und Dronsch 2009). Durch die inzwischen verbesserten Möglichkeiten der antiretroviralen Therapie und deren Zugang lassen sich zumindest die AIDS-Todesfälle insbesondere in
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Humanökologie
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Botswana: Demographische Auswirkungen von HIV/Aids Alter Männer
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80 + 75-79 70-74 65-69 60-64 55-59 50-54 45-49 40-44 35-39 30-34 25-29 20-24 15-19 10-14 5-9 0-4
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Abb. 3.10 Demographische Auswirkungen von HIV/AIDS: Bevölkerungspyramiden für Botswana zwischen 1970 und 2025. Insbesondere sind die Verschiebungen der Geschlechtsproportionen zu beobachten. Angaben zur Population in Tausend. (Datenquelle: United Nations 2010)
Süd- und Ostafrika eindämmen. Eine epidemiologische Berechnung beziffert die Gesamtsumme der aufgrund der Therapie gewonnenen Lebensjahre zwischen 1996 und 2008 auf etwa 11,7 Mio. Jahre. Westeuropa und Nordamerika lieferten hierzu mit 7,2 Mio. Jahren den größten Beitrag, obwohl sie im Vergleich zu den afrikanischen Staaten südlich der Sahara (2,3 Mio. Jahre) nur etwa 10 % der Infizierten stellen. In diesen Zahlen zeigt sich sehr deutlich der differentielle Zugang zu therapeutischen Möglichkeiten. Das primäre Ziel aber ist es, wirksame Prävention zu betreiben, die gezielt auf die unterschiedlichen epidemiologischen Entwicklungen in den betroffenen Ländern zugeschnitten ist (Joint United Nations Programme on HIV/AIDS(UNAIDS) u. World Health Organization 2009).
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3
Bevölkerungsbiologie
Tab. 3.5 Wirtschaftliche und soziokulturelle Verknüpfungen der Verbreitung von HIV/AIDS und demografische Konsequenzen in Simbabwe und in Thailand. (Daten nach Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS) u. World Health Organization 2009; World Health Organisation 2011; United Nations 2003) Süd-/Südostasien Afrika (südlich der Sahara) Anzahl Infizierter 3,4–4,3 ( 30%Frauen) 20,8–24,1 ( 50%Frauen) gesamt Ende 2007/9 in Mio. Prävalenzgesamt 0,6/0,3 3,7/5,6 Männer/Frauenin% Thailand Simbabwe 67,8 12,5 PopulationinMio. 1,3 14,3 Prävalenzunter 15–49jährigenin% 42 661 HIV/AIDSMortalitätsratepro100.000 40 44 Lebenserwartung 1950inJahren 68/68/70 61/45/49 Lebenserwartung 1990/2000/2009in Jahren 73,0 68,1 potentielleLebenserwartung2003ohne AIDSinJahren Agrarische Gesellschaftsform: Ökonomisch-geogra- Dynamisches WirtschaftswachsFeldarbeit wird primär von tum, große Landesteile blieben phischeSituation Frauen ausgeführt davon jedoch unberührt (schwacher Nordosten) Saisonale Beschäftigung, Rest des Hohe Prävalenz der Frauen hat Gesellschaftliche Jahres Versuch Geld in den Groß- einen Engpass bei der landwirtVerknüpfungder städten zu verdienen; Prostitution, schaftlichen Produktion zur AIDS-Problematik um Lebensunterhalt der Familie zu Folge; Schätzungsweise jedes sichern; hohe räumliche Mobilität sechste Kind auf einer Farm ist ein Waise (Verlust der Eltern, Mitversorgung durch andere Familienmitglieder) Harare 1995: 26 % aller Sexualverhalten fördert die AidsEpidemiologie verbreitung; Aids wird als Problem Schwangeren unter 20 Jahren von Homosexuellen und Fremden HIV-positiv, dadurch hohe Kinbetrachtet; Beginn der Ausbreitung dersterblichkeit; Außerhalb der Großstädte Anstieg der Prävalenz von AIDS in den Großstädten, Heterosexuelle mittlerweile Haupt- von 8 % (1990) auf 40 % (1995); Reproduktive Altersgruppe am übertragungsweg (Prostituierte, stärksten betroffen (ArbeitsKunden, Partner/innen); Übertragung über Hauptverkehrswege kräfte und Familieneinkünfte fallen aus); hohe Prävalenz bei (Straßenbordelle/LKW-Fahrer) Lehrern (weitere Schwächung des in ländliche Gebiete; Steigende Bildungssystems) Prävalenz auch durch intravenös Drogenabhängige
3.2
Humanökologie
247
Tab. 3.5 (Fortsetzung) Bevölkerungspolitik
Prognosen
Süd-/Südostasien AIDS wurde öffentlich problematisiert: Anti-AIDS-Kampagnen (Verteilung von 60 Mio. Kondomen pro Jahr); Rückgang des vorehelichen Geschlechtsverkehrs; Sinkende Neuinfektionsrate bewirkt verstärkte Sozialarbeit, Selbsthilfegruppen Schätzung der Gesundheitsbehörden: etwa 38 % Frauen betroffen; Anteil infizierter Frauen gibt Hinweise auf die weitere Bevölkerungsentwicklung
Afrika (südlich der Sahara) Fehlende Aufklärungskampagnen: vermutlich kein Rückgang der Neuinfektionen
20 %ige Verringerung der Fruchtbarkeit HIV-infizierter Frauen; langfristig dadurch weniger Kinder dem Infektionsrisiko ausgesetzt; Kindersterblichkeit steigt weiter an
Zusammenfassung Kap. 3.2: Humanökologie
• Umweltadaptationen von Menschen sind sowohl genetischer als auch kultureller Natur als auch Verhaltensanpassungen. • Sie beziehen sich im Wesentlichen auf physikalische Umweltparameter (Hitze, Kälte, UV Strahlung, pO2), die Abundanz von Pathogenen, und die Ernährung. • Da Menschen mit ihren Lebensbedürfnissen unter ganz anderen Bedingungen evolvierten als sie heute in den Industrienationen herrschen, ist die Zunahme der „Zivilisationskrankheiten“ unter evolutiven Gesichtspunkten zu erklären. Dies ist Gegenstand der evolutionären Medizin. Für die Definition des „Normalen“ ist die weltweite Variabilität von Menschen sowohl hinsichtlich physiologischer, als auch kultureller und verhaltensbiologischer Parameter relevant. • Menschliche Populationen unterscheiden sich zwar sowohl morphologisch als auch physiologisch und hinsichtlich der Genfrequenzen, jedoch variieren diese Merkmale graduell mit der Folge, dass die Variabilität innerhalb einer kontinentalen Gruppe höher ist als zwischen den Gruppen. Es existieren keine Rassen von Menschen. Jegliche derartige Kategorisierung ist letztlich ein soziales oder sozialpolitisches Konstrukt. • Als einzige Spezies haben Menschen in einem Ausmaß gestalterisch in ihre naturräumliche Umwelt eingegriffen, dass weltweit eine Vielzahl anthropogener Ökosysteme entstanden ist. Zahlreiche Umweltprobleme sind nicht moderner Natur, sondern wurden bereits in historischen oder sogar prähistorischen Zeiten begründet. • „Die“ Weltbevölkerung gibt es nicht, da die Menschen in demografisch extrem unterschiedlichen Teilwelten unter sehr verschiedenen Bedingungen leben. • Die demografische Zukunft der Erde hängt nahezu ausschließlich von der Bevölkerungsdynamik der Entwicklungsländer ab, in denen ein rasantes Wachstum stattfindet. • Verstädterung und Urbanisierung stellen ein ernstzunehmendes Problem insbesondere in den ärmsten Ländern der Welt dar, welches nur durch eine nachhaltige Wirtschafts- und Umweltpolitik zu lösen ist.
3
248
Bevölkerungsbiologie
• Die derzeit in verschiedenen Regionen der Welt am stärksten vorherrschenden Infektionskrankheiten sind Malaria und AIDS. Die Epidemiologie erforscht u. a. die gesellschaftliche Vernetzung der Krankheiten.
3.3 3.3.1
Demografie Aufgaben und Ziele, Geschichte
7 Die Demografie oder Bevölkerungswissenschaft untersucht die Gliederung einer Bevölkerung (Population) nach regionaler Verteilung, Geschlecht, Alter, Familienstand, Kinderzahl und zahlreichen weiteren statistischen Parametern. Über diese enge Definition der formalen Demografie hinaus liefert die Demografie nicht nur derartige Zustandsdaten, sondern berechnet dynamische Maße der drei grundlegenden Prozesse, welche die Struktur einer Bevölkerung verändern. Dies sind die Fertilität (Geburtsverhalten), die Mortalität (Sterblichkeit) und die Migration (Wanderungsbewegungen). Diese wesentlichen Zustands- und Prozessdaten sind notwendige Voraussetzung zum Verständnis des Wandels von Populationen sowie der Variabilität innerhalb von und der Unterschiede zwischen Bevölkerungen. Die Demografie stellt eine essentielle Datenbasis für die Interpretation biologischer und sozialer Prozesse dar. Sind zugrunde liegende Einflussfaktoren in ihrer Wirkung hinreichend untersucht, lassen sich auch zukünftige Entwicklungen von Bevölkerungen abschätzen. Die Erfassung dieser Prozesse beruht auf der demografischen Definition von Bevölkerungen, die hierunter Gruppen von Menschen versteht, die zu einem Zeitpunkt oder innerhalb eines Zeitraumes einem definierten geografischen Raum zugeordnet sind (Preston et al. 2001).
Die Anthropologie bedient sich dieser demografischen Technik und ihrer Konzepte, um die Interaktionen zwischen biologischen und sozioökonomischen Merkmalen des Homo sapiens in ihrer räumlichen und zeitlichen Variabilität untersuchen zu können. Neben den demografischen Parametern der Fertilität, Mortalität und Migration, die den Bevölkerungsbestand quantitativ prägen und verändern, spielt die Morbidität eine Rolle für die qualitative Beschreibung von Bevölkerungsprozessen. Sie erfasst den Gesundheitszustand der Bevölkerung, der in der Epidemiologie mittels speziell angepasster demografischer Methoden ermittelt wird (vgl. Kap. 3.2). 7 Aufgabe der Anthropologie ist es, aus ihrem Verständnis der normalen Variabilität des Menschen heraus, sich um Präventionsmaßnahmen gesundheitlicher Risikofaktoren zu bemühen, die noch nicht in den Aufgabenbereich der kurativ tätigen Medizin fallen.
Damit stellt die Anthropologie eine der Disziplinen dar, die mit der Demografie eng verknüpft sind: „Man darf ohne Schaden an Allgemeingültigkeit die Demografie
3.3
Demografie
249
als Hilfswissenschaft für eine ganze Reihe anderer wissenschaftlicher Disziplinen verstehen, denen sie Konzepte bereitstellt, mit denen Struktur und Veränderung von solchen Gesamtheiten untersucht werden können, die sich auf natürlichem Weg erneuern.“ (Dinkel 1989, S. 1). Dieses Kapitel betrachtet demzufolge die Demografie aus der Sichtweise der raumzeitlichen Variabilität des Menschen, welche die biologischen mit den kulturellen Einflussfaktoren verbindet. Die natürliche Selektion wird durch die demografischen Prozesse Mortalität und Fertilität, die regionale Verteilung genetischer Merkmale (Genfluss) durch die Migration und deren Verbreitung (Gendrift) durch die Bevölkerungsdichte gesteuert. Umgekehrt beeinflussen biologische Parameter der Individualentwicklung, insbesondere Wachstum, Menarche, Menopause und Alterung, die demografischen Prozesse Fertilität und Mortalität und tragen zu einer populationsspezifischen Bevölkerungsstruktur bei. Dadurch entsteht eine enge Verknüpfung zwischen den Disziplinen Demografie und Anthropologie. Da insbesondere die Sterblichkeit als ein wichtiger Biomarker des menschlichen Lebenslaufes für die Anthropologie von Bedeutung ist, soll ihr in diesem Kapitel besondere Aufmerksamkeit zuteil werden. Für eine umfassendere Beschäftigung mit der demografischen Erfassung von Fertilität und Wanderungsverhalten sei auf die einschlägige demografische Literatur verwiesen (Preston et al. 2001; Müller et al. 2000a, b; Esenwein-Rothe 1982; Dinkel 1989; Müller 1993). „Bevölkerung: Das sind die einzelnen Menschen.“ Dieser Ausspruch des Historischen Demografen Artur Imhof mag verdeutlichen, dass Bevölkerung kein abstrakter Begriff für eine Menschengruppe ist, sondern dass die individuellen Handlungsweisen aller Personen in einer Gesamtheit aggregiert betrachtet werden. Der Lebenslauf jedes einzelnen Menschen ist von individuellen Erfahrungen und Handlungen geprägt, welche in ihrer Gesamtheit die demografischen Kenndaten zur räumlichen Mobilität, Heirat, der Geburt von Kindern und dem eigenen Tod ergeben. Zahlreiche Einflussfaktoren wirken auf diese Parameter. Unter den gegebenen räumlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen reagieren Menschen mit ähnlichen sozialen Lebensgeschichten häufig mit ähnlichen Handlungsmustern. Diese Zusammenhänge werden hauptsächlich von der Soziologie (Joas 2007; Höpflinger 1997) und der Verhaltensökologie (Low et al. 2002; Voland und Engel 2000) untersucht. Die Kenntnis demografischer Verhaltensweisen unter bestimmten Bedingungen stellt eine wichtige Grundlage für raumstrukturelle Planungen dar. Daher werden oft weitergehende Differenzierungen in der demografischen Datenerhebung vorgenommen, beispielsweise nach Heiratsalter, Bildungsstand, Beruf, Einkommen, ethnischer Herkunft, Staatsbürgerschaft und vielen anderen Merkmalen mehr. Sie erlauben der Demografie Einsichten in die differentiellen bevölkerungsrelevanten Prozesse innerhalb von Teilpopulationen. Der Begriff der „Be-Völkerung“ ist ein dynamischer. Die große Herausforderung an die Bevölkerungswissenschaft stellt diese Dynamik von Populationen dar. Deren unterschiedliche Formen und Mechanismen zu modellieren, bedarf es eines umfangreichen mathematischen Methodenspektrums, das die moderne Demografie entwickelt.
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Bevölkerungsbiologie
Die Tage unserer Jahre (betragen) von sich aus 70 Jahre Und, wenn mit Krafttaten: 80 Jahre Aber ihr Drängen ist Mühsal und Unheil. Unsere Tage zu zählen, lehre uns so dass wir Weisheit ins Herz (ein)bringen (Altes Testament, 90.Psalm, Verse 10, 12 Übers. Krüger 1994)
Diese in der Demografie häufig zitierte Textpassage des Alten Testamentes wird als einer der frühesten Belege für eine populationsbasierte Betrachtung der Lebenszeit angesehen. Sie beschreibt nicht nur die auf Beobachtung basierenden Ausprägungen der Lebenserwartung, sondern geht darüber hinaus auch auf deren Variationsbreite ein und zeigt damit, wie tiefgreifend demografische Veränderungen mit dem Verständnis des menschlichen Lebens verknüpft sind. In den letzten Jahren sind die naturwissenschaftlichen Disziplinen mit der Demografie enger zusammengewachsen und haben in der „biodemography“ zwei Forschungsrichtungen gefunden (Vaupel 2010; Carey und Vaupel 2005). Erste dient der Betrachtung der biologischen Struktur, der Verhaltensstrategien und demografischen Dynamik menschlicher Bevölkerungen und versucht, die Veränderungen menschlicher Gesellschaften unter der Berücksichtigung evolutionsbiologischer Wurzeln zu erklären. Als Paradebeispiel für die praktische Umsetzung dieser neuen Forschungsrichtung kann das 1996 gegründete Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock angesehen werden, in dem die biologische Mensch-Umwelt-Beziehung in die demografische Betrachtung eingebettet wird. In der Geschichte der Demografie kann als Vorläufer dieser Forschungsrichtung die Beschäftigung mit der ursprünglich als rein biologisches Phänomen angesehenen „natürlichen Fertilität“ betrachtet werden. Dem französischen Demografen Louis Henry ist es zu verdanken, dass die Fertilität keineswegs mehr ausschließlich natürlich erscheint. Henry erkannte, dass das generative Verhalten vom menschlichen Bewusstsein in seiner sozial-kulturellen Umgebung geformt wird und dadurch hoch variabel ist (Henry 1961). Damit war der Grundstein für die Erklärung der bevölkerungsdynamisch so unterschiedlichen Verhaltensweisen durch die umweltabhängige Plastizität biologisch-demografischer Merkmale als evolutionäres Erbe gelegt (Wachter 2003). Die andere Forschungsrichtung der „biodemography“ kann auch als Medizinische Demografie oder als Epidemiologische Demografie bezeichnet werden. Sie bemüht sich um die Zusammenhänge und Auswirkungen genetischer und medizinischer Faktoren auf das demografische Geschehen. Regionalstatistisch zu erfassende Auswirkungen von genetischen Varianten, die sich beispielsweise auf differentielles Altern auswirken (vgl. Kap. 4.1.5), oder die demografischen Effekte verschiedener Krankheiten stehen dabei im Vordergrund (Carey und Vaupel 2005). Auch die Sterblichkeit unterliegt zwar einerseits biologischen Gesetzmäßigkeiten, wird aber darüber hinaus durch kulturelle Faktoren überformt, so dass die Demografie zu einem wesentlichen anthropologischen Verständnis des Menschen beiträgt. 7 Die Demografie liefert wesentliche Grunddaten einer Bevölkerung, die erst gemeinsam mit der biologischen Variabilität von menschlichen Gruppierungen und der soziologischen Bevölkerungsanalyse das raumzeitliche menschliche Verhalten erklären können.
3.3
Demografie
251
Das Interesse an Bevölkerungsstruktur und -entwicklung in Wissenschaft und Politik ist im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert aus pragmatischen Gründen erwachsen. Anlass für das Interesse war eine radikale Abnahme der Bevölkerungszahlen europäischer Länder in Folge des Dreißigjährigen Krieges und der Pest im 17.Jahrhundert. Im damals herrschenden Wirtschaftssystem des Merkantilismus sah man einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Größe der Bevölkerung und der wirtschaftlichen (Steuerzahler) und militärischen (Soldaten) Macht eines Staates. Das politische Ziel bestand in einer Zunahme der Population, wozu das Verständnis der zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten die Voraussetzung war (Birg 1996). Zeitgenössische Bevölkerungstheoretiker, so genannte Populationisten, empfahlen beispielsweise eine Beschränkung der Auswanderung, Bekämpfung der Kindersterblichkeit, Förderung von Eheschließungen und Kinderreichtum in Familien. Bald darauf jedoch wendete sich die Einstellung, bedingt durch die in Gang gesetzte Bevölkerungszunahme, und nicht zuletzt durch die Diskussionen der Arbeiten von Süssmilch und Malthus.
3.3.1.1
Zwei Klassiker der Bevölkerungswissenschaft: Süssmilch und Malthus Johann Peter Süssmilch (1707 bis 1767) veröffentlichte 1741 „Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen“. Süssmilch lieferte erstmals realistische Schätzungen der maximalen Weltbevölkerung und prognostizierte eine Weltbevölkerung von 7 Mrd. Menschen. Er war der Auffassung, dass es einen selbstregulierenden Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Tragfähigkeit der Erde gebe, denn die Geburtenrate passe sich auf natürliche Weise den äußeren Umständen (Nahrungsressourcen) an (Birg 1996). Der einflussreiche Thomas Robert Malthus (1766 bis 1834) vertrat ein halbes Jahrhundert später in seinem „Principle ofpopulation“ (1798) konträre und wissenschaftlich weniger haltbare Thesen. Zu seiner Zeit nahm die Bevölkerung stark zu, und im Zuge der beginnenden Industrialisierung wuchs die Zahl der Armen. Malthus schürte die Angst vor Überbevölkerung und sah die Kapazität der Erde bei einer Zahl von einer Milliarde Menschen als erschöpft an. Er stellte die berühmte These auf, dass 7 die Menge der Unterhaltsmittel in arithmetischer Reihe wachse, d. h. mit konstanten absoluten Zuwächsen (z. Bsp. 4, 6, 8, 10), während die Bevölkerung in geometrischer Reihe wachse, d. h. mit konstanten prozentualen Zuwächsen (z. Bsp. 1, 2, 4, 8).
Der Sündenbock war für ihn die sich „wild vermehrende“ Unterschicht, die mit erhöhten Kinderzahlen auf die sich verbessernden Lebensumstände reagiere. Das Elend und die schlechte medizinische Versorgung der Unterschicht konnten somit als politisch notwendig legitimiert werden (Khalatbari und Otto 1999). „Dass MALTHUS heute immer noch der weitaus bekannteste, um nicht zu sagen populärste Bevölkerungstheoretiker ist, liegt einerseits an seiner eingängigen Argumentationsweise, aber auch daran, dass MALTHUS der Oberschicht eine wissenschaftlich untermauerte moralische Überlegenheit über die Unterschicht bescheinigte.“ (Birg 1994a)
252
3
Bevölkerungsbiologie
Malthus stützte seine Theorie auf zwei sowohl damals als auch heute noch nachweislich falsche Argumente: • Mit einem Anstieg der Lebensqualität steigt die Geburtenrate. • Das Bevölkerungswachstum hat die Tendenz, die Zunahme der Nahrungsmittelproduktion zu übersteigen. Das Gegenteil ist der Fall. In den Industrieländern sinkt die Geburtenrate bei steigender Lebensqualität, und die quantitative Nahrungsmittelproduktion ist trotz der „Bevölkerungsexplosion“ (vgl. Kap. 3.2) ausreichend, um alle Menschen der Welt ernähren zu können. Allerdings nehmen inzwischen die Warnungen zu, dass Malthus doch in gewisser Weise Recht behalten könnte, wenn nicht aktiv in die Bevölkerungsentwicklung der Erde eingegriffen wird (Smail 2002). Der damalige Einfluss von Malthus auch auf die Anthropologie ist nicht zu unterschätzen. Charles Darwin wurde durch die Veröffentlichungen Malthus’ dazu inspiriert, dessen Lehre als „wissenschaftlich allumfassend auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich“ in seiner Evolutionstheorie anzuwenden. Aber auch kritische Stimmen wandten sich offen gegen Malthus’ Buch. Karl Marx bezeichnete es als „sensationelles Pamphlet“, Werner Sombart 1938 in seinem Buch „Vom Menschen – Versuch einer geistwissenschaftlichen Anthropologie“ als „das dümmste Buch der Weltliteratur“ (Khalatbari 1999). Auch die umgekehrte Beeinflussung durch die Biologie, insbesondere die Anthropologie, hat die Demografie stark geprägt. Die Bevölkerungswissenschaft ist als theoretische Disziplin in der Naturphilosophie und in der Geschichtsphilosophie verankert. Nach Malthus war sie vorwiegend naturphilosophisch ausgerichtet, wobei ihre Leitdisziplin die Biologie war. Dies kann als eine wesentliche Weichenstellung für die fatale Entwicklung zur Rassenpolitik des Dritten Reichs angesehen werden (Birg 1999). Wie die demografische Transition (vgl. Kap. 3.3.4) zeigt, kam es zu einem starken Anstieg der Bevölkerung in Europa am Übergang zur Industriegesellschaft. Ursachen waren einerseits die Abnahme der Sterberate, bevor die Geburtenzahlen sanken. Zum anderen überstieg die Zahl der Geburten die Zahl der Gestorben, sowohl vor als auch nach der industriellen Revolution. Mit der Zunahme der Bevölkerung und verursacht durch die gesellschaftlichen Umstände (v. a. die kapitalistische Produktionsweise und eine liberale Politik) stieg die Zahl der Armen stark an, und die damit einhergehenden sozialen Probleme nahmen in Ausmaß und Intensität zu. Politisch wurde das Bevölkerungswachstum für die auftretenden Probleme verantwortlich gemacht, und man reagierte, gestützt durch die Theorie von Malthus, unter anderem mit einer verschärften Regelung der Eheschließung. So durfte nur bei einem gewissen Besitzvermögen geheiratet werden. Ziel war es, das schnelle Wachstum der Unterschichten aufzuhalten. Als weitere Möglichkeit, die „Überbevölkerung“ abzubauen, betrieb man ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Übersiedlung in Kolonien oder in die USA. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die bevölkerungspolitische Instrumentalisierung der Demografie in den Epochen Stalins und Hitlers als ein Mittel der Herrschaft praktiziert. Die machtpolitischen Interessen der Nationalstaaten bestimmten, ähnlich wie zu Zeiten des Merkantilismus, die Bevölkerungspolitik.
3.3
Demografie
253
Ihren negativen Höhepunkt erreichte die Bevölkerungspolitik im Nationalsozialismus (vgl. Box 3.13). Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts fällt schließlich in beinahe allen entwickelten Staaten die Zahl der Neugeborenen unter diejenige der Todesfälle, in der BRD z. B. erstmals im Jahr 1974 (Birg 1994a). Die Folge ist ein Rückgang der Bevölkerung in jenen Ländern, der allerdings durch Zuwanderung abgebremst wird. Aus dem politischen Diskurs verschwindet dadurch die Idee, militärische und machtpolitische Stärke der Nation mit der Größe der Bevölkerung zu verknüpfen. Vielmehr rücken die Folgen der demografischen Verschiebung auf das soziale Sicherungssystem in das Zentrum des Interesse (Birg 1999). Nach dem zweiten Weltkrieg wurden mit der Bevölkerungsentwicklung zusammenhängende politische und kulturelle Themen in Deutschland fast gänzlich ignoriert. Erst in jüngster Zeit ist die Wissenschaft aus ihrer Zurückhaltung herausgetreten und bemüht sich, die Verantwortung der Bevölkerungswissenschaftler für die Abschätzung und Beurteilung zukünftiger Bevölkerungsentwicklung auch aktiv zu übernehmen (Birg 1999), wie dies auch in dem 2004 gegründeten Rostocker Zentrum für Demografischen Wandel sichtbar wird. Box 3.13: „Volk und Raum“ – Zur Bevölkerungspolitik im Dritten Reich
Die Grundvorstellungen des NS-Regimes von „Volk und Raum“ orientierten sich an dem Hauptziel der Gewinnung deutschen Lebensraums im Osten. Durch die Grenzveränderungen zwischen 1938 und 1942 wurden Pläne zur Volksordnung und Landschaftsgestaltung als Bestandteil der Reichspolitik laufend verändert und zeigten eine zunehmende Unterdrückungs- und Ausrottungspolitik gegen die nichtdeutsche Bevölkerung (Wichterich 1994). Anthropologen, insbesondere Eugen Fischer als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin, lieferten mit der Rassenkunde die biologische Begründung für die ‚Reinhaltung des deutschen Volkes‘ als Vertreter einer anderen Völkern überlegenen Rasse (s. hierzu insbesondere Müller-Hill 1984; Weindling 1989; Weingart et al. 1992; Becker 1988; Bäumer 1990; Shipman 1995; Lösch 1997). Die typische Argumentationsweise einiger anthropologischer Fachvertreter, wie sie im Dienst der NS-Ideologie eingesetzt wurde, verdeutlicht die Haltung gegenüber osteuropäischen Bevölkerungen, die der „ostbaltischen Rasse“ zugerechnet und aufgrund der ihr zugeschriebenen seelischen Eigenschaften als „unerwünscht“ beurteilt wurde: • „Wo Fröhlichkeit durchbricht, hat sie leicht etwas Wildes und Maßloses, Leidenschaft wird oft zur Brutalität. Ihr Handeln ist nicht von der kühlen Gradheit der Nordischen, verschlagene Umwege sind ihnen nicht fremd, Entschlüsse werden langsam, schwer und schwankend gefasst. Aber sie sind fügsam, genügsam und zähe – nicht gute Herren, aber gute Untertanen.“ (Eickstedt 1933) Geografen unterstützten die massive Ausmerzung und Umsiedlung der Bevölkerung als raumstrukturelle Maßnahmen zur Expansion und ‚Pflege der deutschen Kulturlandschaft‘: So der Geograf Walter Geisler 1942:„Der Ausmerzung unliebsamer Elemente steht die Einwanderung der
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Bevölkerungsbiologie
Bevölkerung gegenüber, die den Stamm der im Lande ansässigen Volksdeutschen verstärkt. … Wenn man aufbauen will, muss eine Säuberungsaktion vorausgehen, d. h. es muss vernichtet und ausgemerzt werden, was nicht in den neuen Plan hineinpasst oder sich ihm widersetzt.“ • Aus der ‚Landschaftsfibel‘ Heinrich Wiepking-Jürgensmann 1941 stammen folgende Worte, die mit den Ansprüchen Hitlers konform sind: „Es gibt gesunde und kranke Landschaften. Immer ist die Landschaft eine Gestalt, ein Ausdruck und eine Kennzeichnung des in ihr lebenden Volkes. Sie kann das edle Antlitz seines Geistes und seiner Seele ebenso wie auch die Fratze des Ungeistes, menschlicher und seelischer Verkommenheit sein. In allen Fällen ist sie das untrügliche Erkennungszeichen dessen, was ein Volk denkt und fühlt, schafft und handelt. Sie zeigt uns in unerbittlicher Strenge, ob ein Volk aufbauend und ein Teil der göttlichen Schöpfungskraft ist, oder ob das Volk den zerstörenden Kräften zugerechnet werden muss. So unterscheiden sich auch die Landschaften der Deutschen in all ihren Wesensarten von denen der Polen und Russen – wie die Völker selbst. Die Morde und Grausamkeiten der ostischen Völker sind messerscharf eingefurcht in die Fratzen ihrer Herkommenslandschaften. Je verwahrloster und verkommener, je ausgeräumter eine Landschaft ist, umso größer ist die Verbrechenshäufigkeit.“ (alle Zitate nach Fehn 1992) Mit den „Rasseformeln“ Egon von Eickstedt’s wurden Erhebungen vorgenommen, die zur Beurteilung „rassisch Unerwünschter“ führte. Auch damals schon gab es Bedenken gegen derartige Klassifizierungen von Menschen (Lenz 1941). Sie werden heute als Projektionen von Vorurteilen in ein wissenschaftlich verbrämtes System angesehen, das einer Prüfung seines wissenschaftlichen Gehaltes nicht standhalten kann (vgl. auch Preuschoft und Kattmann 1992). Insbesondere die Biodemografie mit der ihr eng verbundenen Anthropologie zeigt heute wertfrei, dass regionale Bevölkerungsunterschiede aufgrund von Anpassungsprozessen an die jeweilige Umweltsituation entstanden sind und somit einerseits die Notwendigkeit infrastruktureller Verbesserungen aufzeigen sowie auch als positives Kriterium der Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Überlebensfähigkeit einer Bevölkerung gelten können.
3.3.2
Konzepte demografischer Messungen
Wenn sich auch die Historische Demografie intensiv um die Rekonstruktion der Bevölkerungsdynamik in den Zeiten vor der amtlichen Einwohnerregistrierung bemüht und es ihr auch gelingt, kleinräumige Einheiten in ihrer Bevölkerungsentwicklung langfristig zu verfolgen, so lassen sich zuverlässige Informationen über die Sterblichkeitsentwicklung in Deutschland erst ab der Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 gewinnen, mit der die systematische Erfassung der relevanten Personendaten eingeführt wurde. Eine erste Sterbetafel (vgl. unten) konnte für Deutschland daher erst für den Zeitraum 1871/81 erstellt werden. Vor allem in den skandinavischen Ländern wurden Bevölkerungsdaten bereits im 18. Jahrhundert
3.3
Demografie
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Tab. 3.6 Die wichtigsten Datenquellen zur Gewinnung demografischer Daten in Deutschland Datenquelle Erhebungszeitraum und Umfang Verfügbare Daten Bevölkerungsgröße, Alters- und Regelmäßiger Abstand (z. B. Volkszählung Geschlechtsstruktur, Haushalts- und alle 5 oder 10 Jahre); alle sich (Zensus) Familienstrukturen, Ausbildungsim Gebiet aufhaltenden Persound Berufsstrukturen, Wohnungsnen; letzte Vollerhebung 1987; merkmale, Arbeitsplatzsituationen, Zensus 2011 Querschnittsdaten Einwohnerregister Fortlaufende Bevölkerungsfort- Geburtsdatum, -ort, Geschlecht, Heirat, schreibung; alle sich im Gebiet Familienstand Wohnsitzwechsel Längs- undQuerschnittsdaten aufhaltenden Personen 1 %-Stichprobe der Bevölkerung Sozioökonomische Strukturdaten Mikrozensus ( Querschnittsdaten) Surveys (z. B. In regelmäßigen Abständen; Sozioökonomische Daten ( Längs-und SOEP, ALLBUS)a definierte Stichproben Querschnittsdaten) a SOEP – Sozioökonomisches Panel; ALLBUS – Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften
gesammelt (Island seit 1703, Schweden seit 1749, Dänemark und Norwegen seit 1769) (Imhof 1995). Für langfristige demografische Betrachtungen werden daher häufig Daten der skandinavischen Länder herangezogen. Die Registrierung der demografischen Daten erfolgt in Deutschland mit dem Einwohnermelderegister (vgl. Tab. 3.6), das in den Einwohnermeldeämtern oder Standesämtern geführt wird. Diese Daten werden als amtliche Daten bezeichnet. Die von den Statistischen Landesämtern auf der Länderebene verwalteten Bevölkerungsdaten werden im Statistischen Bundesamt für nationale Betrachtungen Deutschlands zusammengefasst. Die Führung und Nutzung der Bevölkerungsdaten unterliegen in Deutschland der Kontrolle durch den Datenschutz. Mit der Führung der Einwohnermelderegister können durch die so genannte Bevölkerungsfortschreibung zu einem beliebigen Zeitpunkt der Bevölkerungsbestand, seine Geschlechts- und Altersstruktur sowie wenige weitere Daten, beispielsweise zum Familienstand, ermittelt werden. Dazu wird der Bevölkerungsbestand P zu einem Zeitpunkt t aus dem Bestand zum Zeitpunkt t− 1 und denjenigen Variablen berechnet, die eine Bestandsveränderung verursachen. Addiert werden die im Zeitraum t zwischen t− 1 undt Geborenen G und die zugewanderten Personen Wi (Immigranten), subtrahiert werden die im gleichen Zeitraum Gestorbenen D und die abgewanderten Personen We (Emigranten): Pt = Pt−1 + Gt − Dt + Wit − Wet (Esenwein-Rothe 1982). Durch Nichtbeachtung von Meldevorschriften und aufgrund von organisatorischen Defiziten werden jedoch nicht alle Zuzüge und Fortzüge, Geburten und Todesfälle aus dem Zuständigkeitsbereich eines Einwohnermeldeamtes exakt erfasst. Dadurch kommt es zu Fortschreibungsfehlern, die sich von Jahr zu Jahr aufsummieren und verstärken können. Da dies vor allem jüngere Altersgruppen betrifft, die eine wesentliche Grundlage für die Berechnung der Geburtenzahlen darstellen, stellen die Fortschreibungsfehler ein ernst zu nehmendes Problem bei der regionalen
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Bevölkerungsbiologie
Strukturplanung dar (Dinkel 1989). Aus diesem Grund werden von Zeit zu Zeit Bereinigungen durch Vollerhebungen des Bevölkerungsbestandes notwendig. Diese Volkszählungen oder Zensuserhebungen erfassen als Stichtagsbevölkerungen alle Personen, die sich an einem festgelegten Stichtag in der zu erfassenden Gebietseinheit aufhalten bzw. wohnhaft sind. Es wurden in verschiedenen Vergleichen Unterschiede von bis zu 8 % zwischen dem mit einer Zensuserhebung erfassten und dem nach Bevölkerungsfortschreibungen über 10 Jahre geschätzten Bestand bei jüngeren Altersgruppen beobachtet, die durch ausbildungs- und arbeitsplatzbedingte Wanderungen besonders mobil sind. Insbesondere für infrastrukturelle Planungen stellen die erheblichen Fortschreibungsfehler ein ernstzunehmendes Problem dar. In der BRD haben die letzten vollständigen Volkszählungen 1951, 1961, 1971 und 1987 stattgefunden. Sie stellen die umfassendste Datenerhebung einer Landesbevölkerung dar und erlauben eine Bestimmung des administrativen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus und der Wechselwirkungen der verschiedenen Faktoren innerhalb eines Landes (Knox und Marston 2001). Mit ihrer Hilfe ist auch der internationale Vergleich regionaler, sozialer und demografischer Daten möglich. In Deutschland werden in den dazwischen liegenden Zeiträumen umfassende sozioökonomische Daten in einem jährlichen Mikrozensus an einer repräsentativen 1 %- Stichprobe der Bevölkerung erhoben. Diese ermöglichen die kurzfristige Darstellung demografischer Strukturveränderungen (Hall und Rao 1992) und sind aufgrund fehlender aktueller Zensusdaten von besonderer Bedeutung. Es wird angenommen, dass die Fortschreibungsdaten 2011 die Bevölkerung Deutschlands um etwa 1,3 Mio. Menschen überzeichnen. Berücksichtigt man zudem, dass die letzte Volkszählung in der DDR 1981 stattgefunden hat, und seitdem die Wiedervereinigung 1989 zu erheblichen Bevölkerungsverschiebungen innerhalb Deutschlands geführt hat, lässt sich erahnen, dass aufgrund der anzunehmenden Fortschreibungsfehler keine verlässlichen infrastrukturellen Planungen möglich sind. Nachdem mehrfach Planungen für einen erneuten Zensus gescheitert sind, haben sich die Länder für einen EU-weiten neuen Zensus mit dem Stichtag 9. Mai 2011 für eine Bevölkerungserhebung entschieden. Hierbei wurde erstmals von Deutschland ein gemischtes Erhebungsmodell angewandt, für den das Statistische Bundesamt und die statistischen Landesämter einen so genannten „registergestützten Zensus“ entwickelt haben. Dieser basiert auf einer umfassenden Gebäude- und Wohnungszählung, einer Haushaltebefragung auf Stichprobenbasis, bei der deutschlandweit eine Erfassung von 9,6 % der Bevölkerung (7,9 Mio. Menschen) erfolgt, und einer Vollerhebung in Wohnheimen und Gemeinschaftsunterkünften, da bezüglich der dort lebenden Menschen erfahrungsgemäß die größten Fehler in den Melderegistern auftreten. Ergänzt werden diese Erhebungsdaten durch Registerdaten zur Erwerbsstatistik und der Meldeämter. Die Ergebnisse des registergestützten Zensus sollen der Verlässlichkeit einer traditionellen Volkszählung entsprechen. Erste Ergebnisse werden 18 Monate nach dem Zensusstichtag erwartet (www.zensus2011. de). In einer neuen EU-weiten Vorschrift ist im Anschluss an den Zensus 2011 alle zehn Jahre eine neue Erhebung vorgeschrieben.
3.3
Demografie
257
Ergänzt werden derartige amtliche Daten durch nicht-amtliche Survey-Erhebungen, in denen über das demografische Interesse hinaus strukturelle Daten erfasst werden können. Das seit 1982 in jährlichen Wellen fortgeführte Sozioökonomische Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist wohl das in Deutschland größte laufende Survey zur Erfassung des sozioökonomischen Gefüges (vgl. Tab. 3.6). Demografische Daten lassen sich grundsätzlich auf zwei unterschiedliche Arten darstellen und analysieren. Einerseits können demografisch relevante Ereignisse wie Geburt, Heirat, Geburt eigener Kinder oder Tod gruppiert nach Lebensalter der sie betreffenden Personen in einer Bevölkerung betrachtet werden. Mit einer derartigen Kohortenanalyse (vgl. Box 3.14) lässt sich beispielsweise der Frage nachgehen, in welchem Alter die 1960 geborenen Frauen durchschnittlich ihr erstes Kind bekommen oder wie sich die Sterblichkeitsverhältnisse der 1910 Geborenen darstellen. Man verfolgt dabei eine Gruppe von Personen, eine Kohorte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt einem bestimmten identischen Ereignis ausgesetzt war, zum Beispiel der eigenen Geburt. Eine Geburtskohorte umfasst demnach alle Personen, die in einem bestimmten Zeitraum (wie etwa einem Kalenderjahr) geboren wurden. Derart definierte Kohorten können bezüglich des Eintretens verschiedener Ereignisse beobachtet werden. Dies ist eine Längsschnittbetrachtung. Es lassen sich damit exakte Lebensverläufe erstellen – ein großer Vorteil der Kohortenanalyse. Als nachteilig erweist sich dabei jedoch, dass diese Betrachtungsweise eine Sammlung gleichartiger Daten über einen langen Zeitraum hinweg erfordert. So kann beispielsweise die Betrachtung einer Geburtskohorte in einer reinen Kohortenanalyse bezüglich ihrer Sterblichkeitsverhältnisse erst dann abgeschlossen werden, wenn das letzte Mitglied dieser Kohorte gestorben ist. Dadurch ist ihre Anwendung zumeist auf die Analyse exakter retrospektiver Daten ohne allzu großen aktuellen oder prognostischen Wert beschränkt. Box 3.14: Anlage demografischer Untersuchungen
Periodenanalyse, Querschnittsuntersuchungen: Einmalige Datenerhebung zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem kurzen Zeitraum (z. B. Volkszählung, jährliche Fortschreibung). Kohortenanalyse, Längsschnittuntersuchungen: Wiederholte Erhebungen derselben Variablen zu mehreren Zeitpunkten in Bevölkerungsgruppen, die durch ein gemeinsam eintretendes, längerfristig prägendes Startereignis definiert werden. Je nach Ereignis können dies Geburts-, Sterbe-, Heirats-, Berufeintrittsoder auch Rentenkohorten sein. Gegenstand der Analyse sind Verhaltensweisen der Kohortenmitglieder im Zeitverlauf, z. B. Familiengründung, -auflösung, Migration. Trenduntersuchung: Die gleiche Variable wird zu mehreren Zeitpunkten an jeweils anderen Stichproben erhoben. Paneluntersuchung: mehrere gleiche Variablen zu mehreren Zeitpunkten; im Gegensatz zur Trenderhebung allerdings auf der Grundlage einer identischen Stichprobe (z. B. Mikrozensus) (Engelhardt 2000).
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Bevölkerungsbiologie
Im Gegensatz dazu steht die Periodenanalyse, die zu einem exakten Zeitpunkt einen Querschnitt durch die betrachtete Bevölkerung erstellt. Sie besitzt den großen Vorteil einer kurzfristig zu erreichenden Momentaufnahme der Bevölkerung. Der ideale Einsatz dieser Vorgehensweise ist die Erstellung von Alterspyramiden (s. unten), mit denen der Altersaufbau des Bevölkerungsbestandes zu einem bestimmten Zeitpunkt dokumentiert wird. Damit können aktuelle Daten schnell zur Verfügung gestellt werden. Allerdings wird jedes der Mitglieder nur in einem bestimmten Moment erfasst, so dass Betrachtungen kompletter Lebensverläufe nicht möglich sind. In der Regel wird jedoch auch mit der Periodenanalyse versucht, Fragen zu Lebensverläufen zu beantworten. Dann wird der erfasste Bevölkerungsquerschnitt als eine iktive Kohorte behandelt. Mitglieder unterschiedlichen Alters dieser Momentaufnahme werden dann derart betrachtet, als handle es sich um die gleichen Personen, die alle diese Altersklassen sukzessiv durchlaufen. Identisch sind Kohorten- und Periodendaten jedoch nur, wenn sich die erfassten Merkmale im zeitlichen Verlauf nicht ändern (Dinkel 1984, 1989). Am Vergleich von Sterbetafeln werden weiter unten (vgl. Kap. 3.3.4) die Auswirkungen zwischen Kohorten- und Periodenbetrachtung bei sich ändernden Merkmalen erläutert. Veränderungen im Bevölkerungsbestand stellen somit eine Herausforderung an die Demografie dar. 7 Gerade in dieser Populationsdynamik ist die Schnittstelle zwischen demografischer und anthropologischer Forschung zu sehen. Insbesondere regionale biologische Adaptationsmechanismen mit populationsgenetischen Konsequenzen (vgl. Kap. 3.1, 3.2) lassen sich nur mit Kenntnis der demografischen Strukturveränderungen adäquat interpretieren.
Als ein wesentliches theoretisches Konzept der Demografie, auf dem die Populationsdynamik beruht, gilt das Modell der stabilen Bevölkerung, das sich auf den Mathematiker Euler (1707–1783) zurückführen lässt, der sich intensiv mit der Frage von Existenz und Stabilität eines bevölkerungsstrukturellen Gleichgewichtes beschäftigt hat. In der Demografie wie in der Ökologie ist dies ein gleichermaßen aktuelles Arbeitsgebiet, das alle Organismen der belebten Natur betrifft. 7 Kennzeichen einer stabilen Bevölkerung ist die langfristige Konstanz von altersspezifischen Fertilitäts- und Mortalitätsraten bei Ausschluss von Wanderung.
Dabei geht man zumeist von der weiblichen Bevölkerung aus, um die Komplexität durch das geschlechtsspezifisch unterschiedliche Fortpflanzungsverhalten zu vermeiden. Bleiben Fertilitäts- und Mortalitätsraten konstant, ändert sich der Bevölkerungsbestand bei gleich bleibender Altersstruktur mit einer konstanten Rate. Übersteigt die Geburtenrate die Sterberate, so spricht man von einer stabil wachsenden Bevölkerung. Ist das Verhältnis umgekehrt, handelt es sich um eine stabil schrumpfende Bevölkerung. Bei dem Sonderfall der stationären Bevölkerung tritt ein Gleichgewicht zwischen Geburten- und Sterberate ein, so dass auch die Bevölkerungszahl konstant bleibt. Dieses Modell der stabilen Bevölkerungen ver-
3.3
Demografie
259
einfacht die realen Verhältnisse stark, es erfüllt jedoch seinen Zweck zur Charakterisierung biologischer Gegebenheiten in Bevölkerungen. Drei Modellanwendungen stehen dabei im Vordergrund: • Im Rahmen des Modells lassen sich bestimmte demografische Parameter eindeutig definieren und beschreiben, die in konkreten Bevölkerungen dann stets unterschiedliche und einander vielleicht sogar widersprechende Bedeutung erhalten. • Im Rahmen des Modells lassen sich in bestimmten Grenzen Aussagen über die Auswirkungen von Parametervariationen auf die einzelnen Modellelemente machen. In diesem Punkt ähnelt das Modell der stabilen Bevölkerung in seinem Nutzen, aber auch in seiner möglichen Verführung zur Fehlinterpretation stark dem, was Modelle in den Sozialwissenschaften typischerweise auszeichnet. Die strengen und unrealistischen Grundannahmen können aber schrittweise aufgelöst werden, und man kann von der Basis des stabilen Modells ausgehend die Möglichkeiten und Grenzen der Beschreibung von Entwicklungen verstehen, die nicht mehr den Stabilitätseigenschaften entsprechen. • Eine wichtige Funktion des Modells – weshalb es vor allem in den letzten Jahrzehnten auch so intensiv genutzt wurde – ist eine ganz unmittelbare Anwendungsfrage. Immer noch ist es für den überwiegenden Teil der Weltbevölkerung nicht selbstverständlich, dass exakte Informationen über Stand und Entwicklung einer nationalen Bevölkerung vorliegen. Kennt man aber beispielsweise nur das Ergebnis einer einzigen Volkszählung oder gar einer einzigen Altersgruppe im Bestand einigermaßen genau, lassen sich nur mit Hilfe des stabilen Bevölkerungsmodells approximative Beschreibungen von Struktur und Entwicklung der Gesamtbevölkerung gewinnen. Wesentliche Aspekte des Modells der stabilen Bevölkerung sind alleine um des Zwecks willen formuliert worden, demografische Schätzwerte trotz unvollständiger statistischer Basisinformationen zu geben (Dinkel 1989; Keyfitz und Flieger 1991).
3.3.3
Demografische Maßzahlen
Die Datenerhebung in der Demografie liefert die Grundlage für die Analyse von Strukturbeschreibungen und Wandlungsprozessen einer Bevölkerung. Hierfür hat sich in der Demografie ein umfangreiches Methodeninventar entwickelt, das demografische Maßzahlen bereitstellt. Grundsätzlich werden zwei Konzepte demografischer Merkmale unterschieden. Die Strukturmaße liefern eine Beschreibung der Verteilung von Merkmalsausprägungen in einer Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Sie werden auch als Zustandsmaße bezeichnet, da sie sich auf das Vorhandensein von Zuständen zu einem definierten Zeitpunkt beziehen. Die Anzahl der über 60jährigen oder der Erwerbstätigen sind beispielsweise derartige Maße. Hingegen beschreiben Ereignismaße, auch als Dynamikmaße bezeichnet, das Auftreten von Ereignissen innerhalb eines Zeitraumes, wie beispielsweise die Anzahl an Geburten oder Sterbefällen in einem Kalenderjahr. Gelegentlich sind die absoluten Zahlen von Bedeutung, wenn daran infrastrukturelle regionale Maßnahmen wie die Anzahl benötigter Kindergartenplätze, Kran-
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Bevölkerungsbiologie
kenhausbetten oder Einrichtungen des Rettungssystems bemessen werden. Für alle Arten von Vergleichen der Ereignis- und Dynamikmaße sind jedoch die relativen Maßzahlen aussagekräftiger als die absoluten Werte. Sie werden als Quotient aus der absoluten Zahl des auftretenden Merkmales in der Bevölkerung und der zugrunde liegenden Gesamtheit oder Teilen derselben berechnet. Bei dieser Vorgehensweise ist große Sorgfalt auf den inhaltlich richtigen Bezug zwischen Merkmalszahl und Grundgesamtheit zu legen, und immer zu hinterfragen, ob mit der gewählten Maßzahl tatsächlich eine adäquate Antwort auf die gestellte Frage zu erzielen ist. Bezieht man beispielsweise den Anteil an Gestorbenen auf die zugrunde liegende Gesamtbevölkerung, so erhält man einen allgemeinen Durchschnittswert, eine Rohe Ziffer, auch Rate, welche die realen Veränderungen in der Bevölkerung wiedergibt. Da jedoch das Sterberisiko sehr stark mit dem jeweiligen Alter variiert, ist die Rohe Sterbeziffer nicht geeignet, die Dynamik des Sterbegeschehens in den Altersgruppen einer Bevölkerung auszudrücken. Hierzu bedarf es der Kalkulation spezifischer Ziffern, in diesem Fall altersspezifischer Ziffern. Bestehen dabei beide Maßzahlen des Quotienten aus Dynamikmaßen, spricht man von einer Ziffer. Ziffern drücken das Ausmaß eines Ereigniseintrittes innerhalb eines definierten Zeitraumes im Vergleich zu der dem Ereignis exponierten Bevölkerung, der Risikobevölkerung, aus (Expositionsmaß). Sterbeziffern beispielsweise kennzeichnen den Anteil der Gestorbenen unter den dem Risiko ausgesetzten Personen, beispielsweise eines Geburtsjahrganges in einem bestimmten Zeitintervall. Aus Strukturmaßen hingegen ergeben sich Quoten. Das Vorhandensein eines Merkmals zu einem bestimmten Zeitpunkt wird dabei im Verhältnis zu der absoluten Zahl aller Personen betrachtet, die dieses Merkmal aufweisen können. Ein Beispiel ist der mit dem Stichtag einer Volkszählung erfasste Anteil an Müttern unter den Frauen im gebärfähigen Alter (Müller 1993; Esenwein-Rothe 1982).
3.3.3.1 Bevölkerungsaufbau und Bevölkerungsstruktur Zur Beschreibung demografischer Strukturen gehört zunächst einmal die Analyse der Bevölkerungsverteilung. Sie beschreibt die Streuung der Bevölkerung im Raum nach ihrer absoluten Zahl. Faktoren wie z. B. Klima, Bodenfruchtbarkeit, Verfügbarkeit infrastruktureller Einrichtungen oder die bereits vorhandene Bevölkerungsstruktur spielen eine wichtige Rolle für die Herausbildung bestimmter Verteilungsmuster. Die Bevölkerungsstruktur lässt sich dabei mittels dreier unterschiedlicher Merkmalsgruppen charakterisieren (Bähr 2000): • demografische Merkmale (Geschlecht, Alter, Familienstand, Familienstruktur, Haushaltstyp) • sozio-ökonomische Merkmale (Erwerbstätigkeit, Beschäftigung nach Wirtschaftszweigen, Stellung im Beruf, Bildungsstand) • ethnische und kulturelle Merkmale (Staatsangehörigkeit, Konfession, ethnische Herkunft, sprachliche Gliederung) Offen gehandhabt wird die Eingruppierung der Daten zu Familie und Haushalt, da sie je nach Fragestellung oft auch in einem sozio-ökonomischen Zusammenhang betrachtet werden (Knox und Marston 2001).
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Demografie
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Tab. 3.7 Demografische Maße zur Gliederung einer Bevölkerung nach Geschlecht Berechnung Dimension Gleichverteilung bei Wert x Demografisches Maß der Männerüberschuss bei Wert x Geschlechtsverteilung nm Anteil des männlichen Anteil Männer an der 0,5 nm + nf Geschlechts an der Gesamtbevölkerung > 0,5 Gesamtbevölkerung nm − nf Relativer · 100 Überschuss an Männern 0 nm + nf Männerüberschuss in % bezogen auf die >0 Gesamtbevölkerung nm Sexualproportion Zahl der Männer auf 100 · 100 nf 100 Frauen > 100 mit nm Anzahl Männer in der Gesamtpopulation, nf Anzahl Frauen in der Gesamtpopulation
Die Merkmale Alter und Geschlecht als so genannte natürliche demografische Merkmale nehmen darunter eine Sonderstellung ein, da sie als Bezugsdaten für viele demografische Untersuchungen herangezogen werden. Bei der Gliederung nach Geschlecht stehen drei wesentliche Maße zur Verfügung (vgl. Tab. 3.7). Bei allen drei Maßen stellt der Anteil an Frauen den Bezugswert dar – er wird quasi als Basis betrachtet, um die der Anteil an Männern variiert. Diese Sichtweise hat sich in der Demografie aus verschiedenen Gründen herauskristallisiert. Zum einen stellen Frauen den demografisch und biologisch begrenzenden Faktor für die Fruchtbarkeit dar. Legt man den Anteil Frauen für diese Strukturmaße zugrunde, lassen sich Fruchtbarkeitsmaße biologisch sinnvoller darstellen, als wenn diese anhand des Anteils an Männern berechnet würden. Zum anderen spielt eine weitere biologische Gegebenheit eine Rolle. Kinder können bei der amtlichen Registrierung nach ihrer Geburt zweifelsfrei ihren Müttern zugeordnet werden, und somit lassen sich Fertilitätsmaße verzerrungsfrei darstellen. Die Zuordnung von Kindern zu ihren Vätern ist ungleich schwieriger und in der amtlichen Statistik auch nur bedingt möglich. Die Altersstruktur einer Population gibt Auskunft über den Anteil einzelner Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung. Die Kenntnis der Altersstruktur in einer Gesellschaft ist wichtig für die Beschreibung und Prognose demografischer Entwicklungen. Üblicherweise wird in der Demografie eine Bevölkerung in Altersklassen eingeteilt, die je nach Fragestellung in Ein-Jahres- oder Fünf-Jahres-Klassen vorgenommen wird. Setzt man die Anzahl an Personen eines bestimmten Altersbereiches mit der einer anderen Altersgruppe oder derjenigen der Gesamtpopulation in Beziehung, erhält man Proportionen, die als Maßzahlen zur Beschreibung des Altersaufbaus einer Bevölkerung geeignet sind, wie beispielsweise das als Abhängigkeitsquotient bezeichnete Zahlenverhältnis der wirtschaftlich abhängigen Altersgruppen zur Bevölkerung im erwerbstätigen Alter. In den Industriestaaten geht man meist von einem produktiven Alter zwischen 20 und 60 Jahren aus, in weniger entwickelten Ländern ist eher ein Alter zwischen 15 und 65 Jahren anzunehmen. Der Abhängigkeitsquotient a berechnet sich dann aus dem Bevölkerungsanteil der unter 15jähri-
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Alter
Bevölkerungsbiologie
Entwicklungsländer heute
Deutschland 1920
Europa Um 1960
Bundesrepublik 2030
Pagodenform (stark wachsende Bevölkerung)
Dreiecksform (wachsende Bevölkerung)
Glockenform (stationäre Bevölkerung)
Urnenform (schrumpfende Bevölkerung)
100
65
15 0
Abb. 3.11 Die Grundformen der Bevölkerungspyramide. Sie beschreibt die Altersstruktur einer Bevölkerung ( oberesTextfeld), die Besetzung der Altersklassen ist zudem ein wesentliches Merkmal der Bevölkerungsdynamik. ( unteresTextfeld)
gen n0−14, dem Anteil der 65jährigen und Älteren n65 − x und dem Anteil der Personen im erwerbstätigen Alter n15 – 65 wie folgt: Abhängigkeitsquotient: a = n0 − n1415+− n6465 − x (in Entwicklungsländern, in Industrieländern n0 – 19 bzw. n20 – 64) Zur Charakterisierung des Altersaufbaus einer Bevölkerung mittels einer einzigen Maßzahl ist der arithmetische Mittelwert nur bedingt aussagekräftig, da die Altersverteilung nicht der einer statistischen Normalverteilung entspricht, sondern eine schiefe Verteilung hin zu den jüngeren Jahrgängen darstellt. Aussagekräftiger ist das Medianalter, das eine Population statistisch in zwei gleich große Gruppen teilt, von denen eine Bevölkerungshälfte jünger als das Medianalter, die andere älter ist. Auf dem Medianalter basiert die Einteilung in junge Bevölkerungen (Medianalter unter 20 Jahren), mittlere Bevölkerungen (Medianalter 20–30 Jahre) und alte Bevölkerungen (Medianalter über 30 Jahre) (vgl. Kap. 3.2). Einen guten grafischen Überblick liefert die Bevölkerungspyramide, eine Momentaufnahme der Geschlechts- und Altersstruktur einer Bevölkerung. In einem Koordinatensystem werden die Anzahl oder der Anteil an Personen in den jeweiligen Altersgruppen als liegender Balken dargestellt. Von einer Mittellinie werden die Männer nach links, die Frauen nach rechts abgebildet. Drei Standardtypen der Bevölkerungspyramide lassen sich unter den Annahmen bestimmen, 1. dass eine geschlossene Bevölkerung ohne Zu- und Abwanderung vorliegt, 2. dass die altersspezifischen Sterberaten konstant bleiben und 3. dass die Geburtenrate entweder konstant bleibt oder sich um einen konstanten Faktor ändert. Bei derartigen stabilen Verhältnissen nimmt in vormodernen, traditionellen Bevölkerungen diese Altersverteilung die Form einer Pyramide an (vgl. Abb. 3.11). Sie
3.3
Demografie
263
charakterisiert eine junge, wachsende Bevölkerung, wie sie heute in den weniger entwickelten Ländern vorliegt. Bei Zunahme der Geburtenzahlen wird die Pyramidenbasis von Jahr zu Jahr breiter. Durch die gleichmäßige Sterblichkeit bildet sich die Pyramidenspitze, da sich die Sterberaten mit zunehmendem Alter auf immer geringer besetzte Altersgruppen auswirken. Der zweite Modelltyp ist die Glockenform oder Bienenkorbform, bei der die Geburtenzahl konstant bleibt und dadurch ein immer gleich bleibender Pyramidensockel durch Geburten nachgebildet wird. Durch die konstante Sterblichkeit wird die Altersverteilung gleichmäßig reduziert, wobei die Glockenform durch die mit zunehmendem Alter wachsende Sterbewahrscheinlichkeit zustande kommt. Diese Form der Altersverteilung wiesen die europäischen Länder gegen Ende des ersten demografischen Überganges auf (s. unten). Heute weisen einige Länder Südamerikas, wie Brasilien, eine Glockenform der Bevölkerungspyramide auf. Bei zurückgehender Fertilität und Mortalität kehrt sich die Bevölkerungspyramide um. Dann verschmälert sich die Basis, und die Spitze verbreitert sich. Daraus resultiert eine Urnenform, die umso ausgeprägter ist, je weiter die Bevölkerung in die zweite Phase des demografischen Überganges vorgedrungen ist. Dies charakterisiert eine schrumpfende und alternde Bevölkerung mit sinkenden Geburtenzahlen und steigender Lebenserwartung. Typisch für diese Form sind die aktuellen Bevölkerungspyramiden der Industrieländer (vgl. Abb. 3.12). Ein Bevölkerungseinbruch durch Krieg, eine Infektionskrankheit oder Wanderungswelle bildet sich ebenso deutlich und durch abrupte Einbrüche in den Bevölkerungspyramiden ab wie gegenteilige Effekte durch Einwanderungen oder kurzfristige Fertilitätssteigerungen („Babyboom“). Aber so nützlich derartige Darstellungen auch sind, sie bleiben auf einer pauschalen Ebene, so dass vor einer schablonenhaften Anwendung der Modelle, Raten und Quoten gewarnt werden muss. Reale Bevölkerungen lassen sich nicht in ein Standardschema hineinpressen, da ein die Grundannahmen der Modelle übersteigender Komplex aus zahlreichen Einzelfaktoren auf die Bevölkerungsstruktur einwirkt. Bei einer Analyse der Bevölkerungsstruktur ist daher immer auf eine adäquate Anwendung und vor allem auf eine Interpretation der gewonnenen Daten vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen bzw. politischen Entwicklung zu achten. Die demografische Methodenliteratur liefert hierzu reichhaltige Hilfestellung (Dinkel 1989; Preston et al. 2001).
3.3.3.2 Die Erfassung der Sterblichkeit (Mortalität) Einer der demografisch zentralen Parameter, welcher zur Beurteilung der Bevölkerungsstruktur und der Bevölkerungsdynamik herangezogen wird, ist die Sterblichkeit. Die strukturelle und bevölkerungsbezogene Betrachtung der Sterblichkeit erlaubt Rückschlüsse auf Sterberisiken, denen Bevölkerungen bzw. Teilbevölkerungen ausgesetzt sind, auf den Gesundheitszustand einer Bevölkerung und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems. Im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Strukturmaßen werden mit der Sterblichkeit Ereignismaße aufgestellt. Als ein geeigneter Indikator für die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems sowie für die sozioökonomische Situation eines Landes gilt die Säuglingssterberate (vgl. Box 3.15), obwohl sie nicht die gesamte Sterblichkeit einer Bevölkerung erfasst.
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Bevölkerungsbiologie
110+ 105 100 Männlich 95 Weiblich
90 85 80 75 70 65 60 55 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 800
600
400
200
0
200
400
600
800
in Tausend
Abb. 3.12 Bevölkerungspyramide Deutschland 2009. (Datenquelle: Human Mortality Database 2011)
Box 3.15: Demografische Erfassung der Säuglingssterblichkeit
Die Säuglingssterblichkeit gibt die Zahl der Sterbefälle von Kindern unter einem Jahr je 1000 Lebendgeburten an. Da das Risiko, während der Geburt zu sterben (perinatales Sterberisiko) das höchste während des ersten Lebensjahres ist, bezieht sich der Wert nur nominell auf das gesamte erste Lebensjahr, wird aber im
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Demografie
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eigentlichen Sinn hauptsächlich vom perinatalen Risiko geprägt, das statistisch die Sterbefälle der ersten sieben Lebenstage nach der Geburt erfasst. Dabei hängt die Höhe der Säuglingssterberate nicht nur von der Mortalität der Neugeborenen selbst, sondern auch ganz entscheidend von der Definition einer Lebendgeburt ab, weswegen gerade bei internationalen Vergleichen große Vorsicht geboten ist. Nach der internationalen Konvention der Weltgesundheitsorganisation WHO wird dazu das Auftreten von eigenständigen Lebenszeichen des Kindes gefordert. Dass die praktische Handhabung der Regel der Lebenszeichen durch religiöse und erbrechtliche Situationen beeinflusst werden kann, ist bei internationalen Vergleichen der Säuglingssterblichkeit zusätzlich zu jeweils unterschiedlichen Definitionen zu beachten. Stirbt ein Neugeborenes kurz nach der Geburt, wird es in der Sterblichkeitsstatistik aufgeführt, während ein totgeborenes Kind nicht als Säuglingssterbefall, sondern lediglich als Totgeburt in der Statistik erscheint. In Deutschland wird ein Geburtsgewicht von mindestens 500 g als Kriterium dafür gefordert, dass eine Totgeburt in die Statistik eingeht. Niedrigere Gewichte gelten als Fehlgeburt und erscheinen gar nicht in der Geburtenstatistik. Solch eine niedrige Gewichtsgrenze ist jedoch nur in Industrieländern mit einem hochleistungsfähigen Gesundheitssystem sinnvoll, in denen, mit allerdings hohem medizinischen Aufwand und oftmals mit gesundheitlichen Folgeschäden für das Kind, eine Frühgeburt mit derart niedrigem Geburtsgewicht überhaupt lebensfähig ist. In Entwicklungsländern mit deutlich ungünstigerer perinataler Versorgung gelten z. T. höhere Geburtsgewichte als Grenzwerte. Als einfachstes Maß der Sterblichkeit einer gesamten Bevölkerung dient die Rohe Sterberate (vgl. Tab. 3.8), welche die absolute Zahl der Todesfälle eines definierten Zeitraumes (in der Regel ein Kalenderjahr) pro 1000 Einwohner angibt. Üblicherweise wird dazu der Bevölkerungsbestand zur Jahresmitte angenommen, der genau genommen aber nur unter sehr unwahrscheinlichen Voraussetzungen dem Expositionsrisiko über den Jahresverlauf entspricht (Preston et al. 2001). Da die Rohe Sterberate stark von der Altersstruktur abhängt, sagt sie allein nicht viel über den Gesundheitszustand und die Sterblichkeit einer Bevölkerung aus. So ist beispielsweise die Rohe Sterberate in einer jungen Bevölkerung bei gleichem altersspezifischen Sterberisiko naturgemäß niedriger als in einer alten Bevölkerung. Da ein demografisches Ereignis wie der Tod in einer Bevölkerung nicht für alle Menschen gleich wahrscheinlich ist, sind erst standardisierte Sterberaten geeignet, die tatsächlichen Risiken zu beschreiben. So beziehen die altersspezifischen Sterberaten die Anzahl der Sterbefälle in einer bestimmten Altersstufe auf je 1000 Personen gleichen Alters, wobei die Raten meist auch geschlechtsspezifisch berechnet werden. Eine aus der alters- und geschlechtsspezifischen Sterblichkeit abgeleitete Kennziffer ist die Lebenserwartung. Gegenüber anderen Mortalitätsziffern wie der Rohen Sterberate oder altersspezifischen Sterberaten besitzt die Lebenserwartung den Vorteil, von der Altersstruktur der untersuchten Bevölkerung unabhängig zu sein, da zu ihrer Berechnung die altersspezifischen Ereigniswahrscheinlichkeiten standardisiert werden.
266
3
Bevölkerungsbiologie
Tab. 3.8 Demografische Basismaße zur Sterblichkeit Sterblichkeitsmaß Berechnung Bedeutung Dt0→t1 Rohe Sterberate m Zahl der Todesfälle D in einem Jahr t0 → t1 m= P · 1000 t0→t1 ( crudedeathrate) je 1000 Personen der Bevölkerung P (dient als ein Faktor zur Bestimmung der Bevölkerungsgesamtzahl) Säuglingssterberate m = St0→t1 · 1000 Anteil der im ersten Lebensjahr gestorbenen 0 Gt0→t1 m0 ( infantmortality) Säuglinge S pro 1000 Lebendgeborene G des gleichen Zeitraumes t0 → t1 (wichtiger Indikator für Standard des Gesundheitswesens und allgemeinen sozio-ökonomischen Entwicklungsniveaus) Dx(t0→t1) Altersspezifische Zahl der Todesfälle im Alter x, Dx, bezogen auf mx = P · 1000 x(t0→t1) Sterberatemx 1000 Personen des durchschnittlichen Bevölkerungsbestandes Px im gleichen Zeitraum t0 → t1
Die Lebenserwartung kann mit Hilfe einer Sterbetafel (engl. lifetable) berechnet werden. Die Sterbetafel stellt ein Modell dar, mit dem sich die Sterblichkeitsverhältnisse einer gesamten Population darstellen lassen. Sterbetafeln können als das älteste Modell der demografischen Analyse angesehen werden. Erste Versuche gehen in das 17. Jahrhundert auf John Graunt 1662 und Edmond Halley 1693 zurück (Berlin Institut für Weltbevölkerung und globale Entwicklung o. J.). Mittlerweile stellen methodisch ausgereifte Sterbetafeln das am weitesten verbreitete Instrumentarium zum Vergleich von Sterblichkeitsverhältnissen dar. Ihre Funktion wird in der Beantwortung der folgenden Fragen gesehen (Dinkel 1984; Esenwein-Rothe 1982): • Wie hoch ist die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt? • Wie viele Lebensjahre hat eine Person im Alter x noch zu erwarten (weitere Lebenserwartung)? • Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer Person im Alter x, innerhalb des nächsten Altersjahres zu sterben? • Wie groß ist das Risiko einer Person im Alter x, ein bestimmtes höheres Alter zu erreichen? Es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten zur Erstellung von Sterbetafeln. Die Kohortensterbetafel, die einen Geburtsjahrgang bezüglich ihrer Sterblichkeit verfolgt, ist für amtliche Statistiken kaum von Bedeutung, da sie retrospektiv eine bereits durch Sterblichkeit aufgelöste Kohorte in einer Längsschnittuntersuchung verfolgen muss. Dies ist in der Praxis kaum möglich und liefert zudem Aussagen über die Sterblichkeit einer inzwischen historischen Bevölkerung, deren prognostischer Wert äußerst eingeschränkt sein dürfte (Feichtinger 1973). Auch aufgrund der größeren Aktualität und der besseren Erhebbarkeit gehen amtliche Sterbetafeln und zahlreiche Untersuchungen zur Mortalität daher von einem kurzen Zeitraum aus, dem eine Querschnittserhebung von Sterbefällen zugrunde liegt und der in Periodensterbetafeln beschrieben wird. Damit wird die gegenwärtig herrschende Sterblichkeit einer realen Bevölkerung in eine hypothetische Längsschnittbetrachtung für eine fiktive Kohorte umgesetzt. Dies hat eine Reihe von Konsequenzen auf die
3.3
Demografie
267
berechnete Lebenserwartung, da Perioden- und Kohortensterbetafeln beträchtlich divergieren können. Für Schweden liegen seit dem 18. Jahrhundert Sterblichkeitsdaten vor, die geeignet sind, Vergleiche von Perioden- und Kohortensterbetafeln vorzunehmen. Ein Vergleich zeigte eine in Folge des kontinuierlichen Rückganges der Sterblichkeit systematische Unterschätzung der Lebenserwartung in Periodentafeln. Weiterhin wurde beobachtet, dass Periodendaten stärkeren Schwankungen unterliegen als Kohortendaten, und in bestimmten Situationen kann die aus Periodendaten berechnete Lebenserwartung sinken, während diejenige aus Kohortendaten steigt (Dinkel 1984). Insbesondere ist problematisch, dass die in einem kurzen Zeitraum erhobenen Daten zur Erstellung einer Periodensterbetafel die momentanen Sterblichkeitsverhältnisse messen und diese in einen Längsschnitt projizieren. So wird zum Beispiel für die heute 20jährigen angenommen, dass sie in 20 Jahren die Sterblichkeit der heute 40jährigen aufweisen, usw. Dies ist nicht gerechtfertigt, wenn sich die altersspezifischen Mortalitätsraten im Zeitverlauf derart verändern, wie dies seit Beginn des letzten Jahrhunderts der Fall ist. Vorhersagen der Lebenserwartung können daher mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Erhebung wachsende Verzerrungen liefern, die zu prognostischen Fehlinterpretationen großen Ausmaßes führen können (Klein 1988). Grundlage einer Periodensterbetafel sind die Sterblichkeitsverhältnisse zum Zeitpunkt ihrer Beobachtung als Querschnittsbetrachtung über alle Altersgruppen. Diese Sterblichkeitsverhältnisse werden auf eine fiktive Grundgesamtheit von in der Regel 100.000 Personen übertragen, die dann derart dargestellt wird, dass diese Grundgesamtheit die Sterberisiken aller Altersklassen von Geburt an durchläuft, bis die letzte, also älteste Person, gestorben ist. Die durch eine Querschnittsbetrachtung gewonnenen Kennziffern werden damit gewissermaßen als künstlicher Längsschnitt aufgefasst. Das Grundschema einer Sterbetafel stellt sich wie in Tab. 3.9 dar. Die einzelnen Spalten errechnen sich dabei wir folgt: • x (vollendetes Alter x in Jahren): Die Breite der Altersklasse wird zumeist mit einem Jahr berechnet. Eine abgekürzte Sterbetafel, wie in der Paläodemografie üblich, benutzt beispielsweise 5-Jahres-Klassen. • lx (Überlebende im Alter x): lx kennzeichnet den Anfangsbestand bei Eintritt in die Altersklasse. Bei Geburt (Alter = 0) ist der Anfangsbestand per definitionem 100.000. Die Überlebenden bei Eintritt in die Altersklasse berechnen sich aus: lx = lx−1 − dx−1 • dx (Gestorbene im Alter x bis x + 1): Differenz zwischen den Überlebenden bei Eintritt in die betrachtete Altersgruppe und den Überlebenden der folgenden Altersgruppe: dx = lx − lx+1 • qx (Sterbewahrscheinlichkeit im Alter x bis x + 1): altersspezifische Sterbewahrscheinlichkeit, d. h. innerhalb der Altersklasse Gestorbene bezogen auf den Bevölkerungsbestand zu Beginn der Altersklasse, also zum Zeitpunkt des exakd ten Erreichens des Alters x: qx = lxx • Lx (von den Überlebenden im Alter x bis zum Alter x + 1 durchlebte Jahre): Anzahl der Lebensjahre, die von sämtlichen Lebenden in der Altersklasse x bis x + 1 durchlebt werden. Die in die nächsthöhere Altersgruppe Eintretenden gehen mit jeweils einem ganzen Jahr in die Berechnung ein. Weiterhin geht man ein-
0,00406191 0,00035593 0,00019248 0,00015099 0,00014409 0,00011571 0,00010542 0,00009671 0,00009614 0,00008584 0,00008942 0,00009723 0,00010457 0,00008755 0,00016492 0,00019974 0,00029653 0,00034145 0,00055573 0,00054531 0,00059740
0,99593809 0,99964407 0,99980752 0,99984901 0,99985591 0,99988429 0,99989458 0,99990329 0,99990386 0,99991416 0,99991058 0,99990277 0,99989543 0,99991245 0,99983508 0,99980026 0,99970347 0,99965855 0,99944427 0,99945469 0,99940260
99.656 99.576 99.549 99.532 99.517 99.504 99.493 99.483 99.473 99.464 99.456 99.446 99.436 99.427 99.414 99.396 99.371 99.340 99.295 99.241 99.184
7.733.257 7.633.600 99.549 7.434.476 7.334.944 7.235.427 7.135.923 7.036.430 6.936.947 6.837.473 6.738.009 6.638.553 6.539.107 6.439.671 6.340.244 6.240.830 6.141.433 6.042.062 5.942.722 5.843.427 5.744.187
77,33 76,65 75,67 74,69 73,70 72,71 71,72 70,73 69,73 68,74 67,75 66,75 65,76 64,77 63,77 62,78 61,79 60,81 59,83 58,87 57,90
406 35 19 15 14 12 10 10 10 9 9 10 10 9 16 20 29 34 55 54 59
ex
100.000 99.594 99.558 99.539 99.524 99.510 99.498 99.488 99.478 99.469 99.460 99.451 99.442 99.431 99.422 99.406 99.386 99.357 99.323 99.268 99.213
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
8 Durchschnittliche fernere Lebenserwartung im Alter x in Jahren
Tab. 3.9 Ausschnitt der Sterbetafel für Männer in Deutschland, 2007/2009. (Datenquelle: Statistisches Bundesamt) 1 2 3 4 5 6 7 SterbewahrÜberlebenswahr- Von den Überlebenden im Alter x Überlebende Gestorbene Vollendetes scheinlichkeit im Alter x im Alter x bis scheinlichkeit Alter x in unter x + 1 Jahren insgesamt noch zu im Alter x bis x + 1 bis zum Alter x + 1 durchlebende Jahre durchlebte Jahre x lx dx qx px Lx Tx
268 3 Bevölkerungsbiologie
65.861 63.245 60.452 57.448 54.252 50.965 47.504 43.948 40.329 36.688 33.009 29.285 25.606 21.973 18.659 15.592
2.616 2.793 3.004 3.196 3.287 3.461 3.556 3.619 3.642 3.679 3.723 3.679 3.633 3.314 3.066 2.648
0,03971938 0,04416219 0,04969792 0,05563519 0,06058343 0,06790411 0,07486475 0,08234153 0,09029578 0,10028014 0,11279794 0,12563070 0,14188072 0,15084206 0,16433669 0,16982333
0,96028062 0,95583781 0,95030208 0,94436481 0,93941657 0,93209589 0,92513525 0,91765847 0,90970422 0,89971986 0,88720206 0,87436930 0,85811928 0,84915794 0,83566331 0,83017667
px
75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90
qx
lx
x
dx
2 3 4 5 SterbewahrÜberlebenswahrÜberlebende Gestorbene scheinlichkeit im Alter x im Alter x bis scheinlichkeit unter x + 1 im Alter x bis x + 1
1 Vollendetes Alter x in Jahren
Tab. 3.9 (Fortsetzung)
64.553 61.849 58.950 55.850 52.609 49.235 45.726 42.139 38.508 34.848 31.147 27.446 23.790 20.316 17.126 14.268
bis zum Alter x + 1 durchlebte Jahre Lx 684.697 620.144 558.295 499.345 443.495 390.886 341.652 295.925 253.787 215.278 180.430 149.283 121.837 98.048 77.732 60.606
insgesamt noch zu durchlebende Jahre Tx
6 7 Von den Überlebenden im Alter x
10,40 9,81 9,24 8,69 8,17 7,67 7,19 6,73 6,29 5,87 5,47 5,10 4,76 4,46 4,17 3,89
ex
8 Durchschnittliche fernere Lebenserwartung im Alter x in Jahren
3.3 Demografie 269
270
3
Bevölkerungsbiologie
fachheitshalber von der Annahme aus, dass sich die Sterbefälle für die jeweilige Altersklasse gleichmäßig über den Beobachtungszeitraum verteilen und damit für die in der Altersklasse Gestorbenen jeweils die halbe Länge des Zeitraumes angesetzt werden kann: Lx = lx+1 + d2x • Tx (von den Überlebenden im Alter x insgesamt noch zu lebende Jahre): Die insgesamt zur Verfügung stehende Anzahl an Lebensjahren für alle Mitglieder der Bevölkerung im Alter x berechnet sich aus der Summe aller folgenden Lx-Werte. Dieser Wert steht für alle Geborenen im Alter 0 zur Verfügung und reduziert sich in jeder Altersklasse um die Anzahl der jeweils durchlebten Jahre: T0 = Lx, Tx = Tx−1 − Lx−1 (mit x = 1 bis x = max) • ex (durchschnittliche Lebenserwartung im Alter x): ex ergibt sich durch Division der insgesamt noch zu lebenden Jahre Tx durch den Bestand an Personen bei Eintritt in die Altersklasse lx; daraus resultieren die durchschnittlich noch zu lebenden Jahre: ex = Tlxx (Esenwein-Rothe 1982) In der Sterbetafel ist die Lebenserwartung von Neugeborenen, zumeist als mittlere Lebenserwartung bezeichnet, die durchschnittliche Lebenszeit, die unter der Annahme unveränderter Sterblichkeit zu erwarten ist. Sie spiegelt demnach die derzeitige demografische Lage der Bevölkerung wider. Im Anschluss an Volkszählungen lassen sich Allgemeine Sterbetafeln erstellen, deren Daten von Stichprobeneffekten bereinigt und statistisch geglättet sind. Sie sind daher präziser als aus Daten der Bevölkerungsfortschreibung berechnete Tafeln. Gehen Sterbewahrscheinlichkeiten ungeglättet in die weiteren Berechnungen ein, spricht man von vollständigen Sterbetafeln in vereinfachter Form. Solche Berechnungen werden in der Regel von den statistischen Ämtern jährlich für den Zeitraum zwischen zwei Volkszählungen vorgenommen. Werden zudem Altersgruppen zusammengefasst, zumeist üblich in 5-Jahres-Klassen, spricht man von abgekürzten Sterbetafeln. Die Parameter der Lebenserwartung, die in einer Sterbetafel berechnet werden, stellen Durchschnittswerte für die untersuchte Bevölkerung dar. Die Anwendung der individuellen Interpretation von Parametern der Lebenserwartung ist daher nicht möglich. Ein bei den Interpretationen von Sterbetafeln vielfach unberücksichtigter Effekt ergibt sich aus dem unterschiedlichen Mortalitätsrisiko in der beobachteten Bevölkerung. Da vor allem diejenigen Bevölkerungsmitglieder sterben, die (durch entsprechende gesundheitliche Risikofaktoren) auch einem hohen Mortalitätsrisiko unterliegen, findet damit eine Selektion statt, die in einer Bevölkerung mit hoher Sterblichkeit in jüngerem Alter folglich ältere Menschen von vergleichsweise guter Gesundheit hinterlässt. Diese Kumulation hat eine Unterschätzung der Mortalitätsentwicklung in höherem Alter zur Folge, wodurch die Lebenserwartung zu günstig eingeschätzt wird. Der gleiche Effekt mit umgekehrter Wirkung ist in der Folgezeit nach Selektionsmechanismen zu beobachten, die eher Bevölkerungsteile mit gutem Gesundheitszustand dezimieren, die unter normalen Bedingungen einem niedrigen Mortalitätsrisiko ausgesetzt sind. So zeigte sich, dass in Bevölkerungen, die kriegsbedingt unter einem frühen Ausscheiden besonders viriler Männer zu leiden hatten, Männer mit schlechtem Gesundheitszustand überwiegen. Dies führt zu erhöhter
3.3
Demografie
271
Tab. 3.10 Demografische Maßzahlen zur Fertilität. (Nach Esenwein-Rothe 1982) Fertilitätsmaß Berechnung Bedeutung Gt0→t1 Zahl der Geborenen G in der Zeiteinheit t0 RoheGeburtenrategbr br g = P · 1000 t0→t1 bis t1 je 1000 Personen des Bevölkerungs( crudebirthrate) bestandes P in der gleichen Zeiteinheit Zahl der Geborenen G in der Zeiteinheit t0 AllgemeineGeburtenrate g = Gt0→t1 · 1000 Pf ,15−45 bis t1 je 1000 Frauen f im Alter von 15–45 g ( generalfertilityrate) Jahren in der gleichen Zeiteinheit Gx Zahl der Geborenen G in der Zeiteinheit t0 AltersspezifischeFruchtgx = P(t0→t1) · 1000 f ,x bis t1 je 1000 Frauen f einer Altersklasse x barkeitsrategx ( age-spein der gleichen Zeiteinheit cificfertilityrate) 44 Summe der altersspezifischen FruchtbarGesamtfruchtbarkeits gx keitsraten gx über alle Altersklassen, fasst rateTFR ( totalfertility T F R = x=15 rate) die Fertilität aller gebärfähigen Frauen in einem Zeitraum zusammen
Mortalität bei deren Alterung, was in sowjetischen Sterbetafeln sogar zeitweise zu einer scheinbar sinkenden Lebenserwartung geführt hat (Dinkel 1985). In der paläodemografischen Anwendung von Sterbetafeln (vgl. Kap. 2.3.4) ist die Besetzung der Überlebenden lx, auf die sich die Anzahl der Gestorbenen im jeweiligen Alter bezieht, nicht verfügbar. Da Sterbetafeln eine stationäre Bevölkerung simulieren, lässt sich bei dieser Anwendung die Altersklassenbesetzung als komplementärer Wert zu derjenigen der Gestorbenen berechnen.
3.3.3.3 Die Erfassung der Fruchtbarkeit (Fertilität) Von der biologischen Fruchtbarkeit, welche die Fortpflanzungsfähigkeit beschreibt, ist die demografische Definition der Fertilität zu unterscheiden, welche die Zahl der Lebendgeburten von Frauen beschreibt. Aufgrund von zwei Faktoren erfordert die demografisch gemessene Fertilität einen besonderen methodischen Zugang: • Sie stellt ein „Mehrfachrisiko“ dar, was bedeutet, dass das Ereignis im Gegensatz zu der Sterblichkeit oder der eigenen Geburt mehrfach wiederholbar ist. • Nicht alle Mitglieder einer Bevölkerung sind dem „Ereignisrisiko“ ausgesetzt. Bei Frauen begrenzen die biologischen Möglichkeiten den Zeitraum ab der Menarche bis zur Menopause (vgl. Kap. 4.2), bei Männern von der Pubertät bis in das hohe Erwachsenenalter. Daher werden Fruchtbarkeitsraten zumeist geschlechtsund altersspezifisch ermittelt. Die Fertilität ist der am stärksten eine Bevölkerungsstruktur formende Parameter. Veränderungen in der Fruchtbarkeit pflanzen sich über alle Altersklassen fort, während Veränderungen der Sterblichkeit sich lediglich ab dem entsprechenden Alter in der Bevölkerungsstruktur auswirken. Da sich die Sterblichkeit in den Industrieländern nahezu ausschließlich im Alter über 60Jahre auswirkt, ist dort der Effekt von Sterblichkeitsveränderungen deutlich geringer als der Effekt sich verändernder Geburtenraten. Einige der wesentlichen Maßzahlen zur Berechnung der Fertilität sind in Tab. 3.10 aufgeführt. Mit der als Rohe Geburtenrate bezeichneten Maßzahl wird die Anzahl der Lebendgeborenen auf je 1000 Personen der Bevölkerung
272
3
Bevölkerungsbiologie
bezogen. Bedeutung bekommt dieses Maß im Vergleich zu der Rohen Sterberate. Werden beide Werte in Bezug gesetzt, lässt sich daraus ermitteln, ob in der betreffenden Bevölkerung ein Geburten- oder ein Sterbeüberschuss herrscht. Allein betrachtet ist die Rohe Geburtenrate jedoch wenig aussagekräftig, da sie sich auf alle Personen einer Bevölkerung bezieht, auch auf diejenigen, die nicht in der Lage sind, Kinder zu bekommen. Als erster Schritt zur Eliminierung an der Fertilität unbeteiligter Bevölkerungsanteile wird die Allgemeine Geburtenrate angesehen, bei der die Gesamtzahl der erfassten Geburten auf die dem Risiko ausgesetzten Frauen im Alter zwischen 15 und 45 Jahren bezogen wird. Um Veränderungen in der Altersstruktur der gebärfähigen Frauen zum Ausdruck zu bringen, wird in altersspezifischen Fruchtbarkeitsraten die Anzahl von Lebendgeborenen von Müttern einer bestimmten Altersklasse auf je 1000 Frauen der selben Altersklasse bezogen. Die Gesamtfruchtbarkeitsrate TFR gibt an, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens durchschnittlich bekommen würde, wenn die im erfassten Zeitraum beobachteten altersspezifischen Fruchtbarkeitsverhältnisse auf ihre gesamte fertile Alterspanne angewandt wird und sie die komplette reproduktive Lebensphase überlebt.
3.3.3.4
Die Erfassung räumlicher Bevölkerungsbewegungen (Migration) Als Wanderungsvorgänge werden dauerhafte Wohnortwechsel über die Gemeindegrenze hinaus bezeichnet (Knox und Marston 2001). Ihre Analyse erlaubt Rückschlüsse auf die Mobilität der betrachteten Bevölkerung. Es lässt sich ermitteln, ob die Region ein durch Zuwanderungen oder Abwanderungen aus anderen territorialen Einheiten betroffenes Gebiet darstellt. So werden Sozial- bzw. Altersstrukturen in einer Population durch gezielte Wanderungsbewegungen bestimmter Teilgruppen geformt. Ausbildungs- und Arbeitsplatzangebot, Wohnraumangebot, Gesundheitsversorgung, kulturelle Infrastruktur, landschaftliche Attraktivität und Familienzusammenführung sind die wesentlichsten Gründe für Wohnortwechsel. Der soziodemografische Wandel einer Region mit seiner räumlichen Struktur und Ausstattung wird dadurch maßgeblich gesteuert. Neben der demografischen Bedeutung der infrastrukturellen Gliederung sind Wanderungsbewegungen auch von biologischer Bedeutung. Die Allelverteilung genetischer Merkmale wird direkt von der Tatsache beeinflusst, ob es sich um eine Isolatbevölkerung handelt oder ob wanderungsbedingte Gendrifteffekte wirksam werden. Ebenso ist die endemische bzw. epidemische Krankheitsverbreitung eng an das Mobilitätsverhalten einer Bevölkerung gekoppelt (vgl. Kap. 3.2). Die populationsgenetische und epidemiologische Untersuchung einer Region hat daher stets die Migrationsverhältnisse einzubeziehen (vgl. Kap. 3.1). Für die Analyse von Wanderungsprozessen können die so genannten Push- und Pull-Faktoren herangezogen werden, die vor allem in der geografischen Literatur intensiv beschrieben und diskutiert werden. Als Push-Faktoren werden Ereignisse oder Bedingungen bezeichnet, die eine Person veranlassen, ihren bisherigen Wohnstandort zu verlassen. Pull-Faktoren hingegen stellen attraktive Ereignisse oder Bedingungen dar, die eine Person veranlassen, in einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Region ein-
3.3
Demografie
Tab. 3.11 Demografische Maßzahlen zur Migration Maß zur Migration Berechnung Wanderungsbilanz,Wan- wn = Wi t0→t1 − We t0→t1 derungssaldo,Nettowanderungwn ( netmigration) n Wanderungsbilanzrate, wb = P w · 1000 t0→t1 Nettowanderungsratewb ( netmigrationrate) AllgemeineMobilitätsrate W +We,t0→t1 wbr = i,t0→t1 · 1000 Pt0→t1 ( generalmobilityrate)
273
Bedeutung Differenz zwischen Zahl der Zuzüge Wi und der Fortzüge We in der Zeiteinheit t0 bis t1 Wanderungsbilanz wn bezogen auf 1000 Einwohner der Bevölkerung P in der Zeiteinheit t0 bis t1 Summe aller Wanderungsvorgänge (Zuzüge Wi und Fortzüge We) für ein bestimmtes Gebiet im Zeitraum t0 bis t1, bezogen auf 1000 Einwohner der Bevölkerung P
zuwandern (Knox und Marston 2001). Je nach Beweggrund für Wanderungen oder Distanzen werden verschiedene Begrifflichkeiten in der Wanderungsstatistik unterschieden. Unter Außenwanderungen versteht man Wanderungen über die Grenze des betrachteten geografischen Raumes, in der Regel über die Staatsgrenze, hinaus, Binnenwanderungen umschreiben Wohnortwechsel innerhalb der betrachteten Gebietseinheit. Völkerwanderungen betreffen größere Bevölkerungsteile. Gründe für diese Art von Wanderungen können in schwindenden Ressourcen, der Suche nach neuen Siedlungsgebieten bzw. Arbeitsplätzen in einer wachsenden Population liegen, oder durch militärische oder politische Veränderungen bedingt sein, die eine notgedrungene Suche nach neuem Lebensraum erzwingen (Müller et al. 2000a, b; Hoffmeyer-Zlotnik 2000). Das Wanderungsvolumen (vgl. Tab. 3.11) drückt die Mobilität der Bevölkerung aus, unabhängig davon, ob es sich um Zu- oder Abwanderungen handelt. Ein hoher Wert bedeutet, dass es sich um eine Bevölkerung mit starker Bevölkerungsumschichtung aufgrund von Wanderungstätigkeit handelt. Die Berechnungen weiterer demografischer, sozioökonomischer und ethnischkultureller Strukturmaße von Bevölkerungen sollen hier nicht weiter ausgeführt werden. Sie finden sich in der allgemeinen demografischen Literatur (Müller 1993; Esenwein-Rothe 1982; Dinkel 1989; Müller et al 2000a, b).
3.3.4
Die demografische Alterung
7 Während die biologische Alternsforschung die mit dem Alter korrelierten Veränderungen im menschlichen Körper dokumentiert, wird in der Demografie der Alterungsprozess als zeitliche (kalendarische) Veränderung von Zuständen auf der Populationsebene verstanden. Diese Alterung kann man daher als durchschnittliche Veränderung der Altersstruktur von Bevölkerungsgesamtheiten umschreiben (Dinkel 1992). Allerdings sind die Faktoren des biologischen Alterns, des sozialen Alterns und des demografischen Alterns nicht unabhängig. Sie bedingen sich gegenseitig in einem komplexen Phänomen, das sich im zeitlichen und räumlichen Vergleich höchst variabel darstellt.
3
274
Bevölkerungsbiologie
100 90
Industrieländer
% Überlebende
80 70
Modell bei Sterblichkeit ausschließlich durch biologisches Altern
Heutige Entwicklungsländer Und historische Bevölkerungen
60 50 40 30 20 10 0 0
10
20
30
40
50 60 70 Alter in Jahren
80
90
100
110
120
Abb. 3.13 Überlebenskurven unter verschiedenen Lebensbedingungen. Unter Ausschalten der extrinsischen Risiken ergibt sich das „rektanguläre Modell“ mit einer Kumulierung der biologischen Risiken am Ende der Lebenszeit. (Adaptiert nach Fries 1989)
Als wichtiges Merkmal des Altersstrukturwandels ist die stetige Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu nennen. Während in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Lebenserwartung eines Neugeborenen noch zwischen 39 und knapp 50 Jahren lag (Imhof 1994), haben Neugeborene in den westlichen Industrieländern heute die Aussicht, über 80 Jahre alt zu werden, mit einer möglichen geschätzten Steigerung auf bis zu 100 Jahren (Vaupel 1997). Damit hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung im letzten Jahrhundert mehr als verdoppelt (Birg 1996). In den hochentwickelten Industrieländern werden bereits etwa zwei Drittel aller Menschen über 70 Jahre alt. Diese Entwicklung ist einerseits der gesunkenen Kindersterblichkeit zu verdanken, die seit prähistorischen und historischen Zeiten bis in das letzte Jahrhundert hinein vor allem durch das hohe Sterberisiko im Säuglingsalter große Verluste forderte (vgl. Kap. 2.3.4). So hatte im Mittelalter nur etwa jedes dritte Neugeborene die Chance, das erste Lebensjahr zu überleben. Noch 1855 starb in Deutschland ein Viertel der Geborenen im ersten Lebensjahr (Imhof 1994) und bis in unsere heutige Zeit sank die Säuglingssterblichkeit weiterhin stetig auf derzeit etwa 4 Sterbefälle pro 1000 Lebendgeborene (Statistisches Bundesamt 2010). Aufgrund der drastischen Reduzierung spezifischer Todesursachen, insbesondere der Infektionskrankheiten, erreichen nun mehr als 995 von 1000 Lebendgeborenen das 2. Lebensjahr (vgl. Abb. 3.13). Aber auch alle anderen Altersgruppen haben im Laufe der Zeit einen Rückgang der Sterberisiken erfahren. Dass dieser Trend anhält, hat Dinkel (1992) dadurch nachweisen können, dass sich trotz eines immer enger werdenden biologischen Spielraumes der Rückgang der Sterbewahrscheinlichkeiten in den alten Bundesländern in den letzten Jahren nicht verringert hat, sich sogar eher noch beschleunigt.
3.3
Demografie
275
50 2000 2010 2050
45 40 Medianalter
35 30 25 20 15 10 5 0 Welt gesamt
Afrika
Asien
Europa
LateinNordamerika amerika + Karibik
Ozeanien
Abb. 3.14 Medianalter in den großen Weltregionen in den Jahren 2000 und 2010 sowie Prognose für das Jahr 2050. (Datenquelle: Deutsche Stiftung Weltbevölkerung, adaptiert nach WittwerBackofen 2002a)
Somit lässt sich die demografische Alterung als ein Phänomen beschreiben, zu dem die gesamte Bevölkerung beiträgt. Sie kann nicht nur als isoliertes Produkt von Veränderungen in höherem Alter betrachtet werden, sondern ist durch das Zusammenwirken von sinkender Sterblichkeit in allen Altersgruppen und abnehmender Fruchtbarkeit gekennzeichnet. Eine besondere Dynamik der Bevölkerungsentwicklung, die in hohem Maße zu der demografischen Alterung beiträgt, ist vor allem bei den Bevölkerungsgruppen der Älteren zu beobachten. Diese zu beobachtenden Veränderungen sind derart ausgeprägt, dass man regelrecht von den „drei Gesichtern des Alterns“ sprechen kann (Wittwer-Backofen 2002a): 1. „Kaum Sterberisiko unter 60“ – Immer mehr Menschen erreichen 60 Jahre Ein hohes Alter zu erreichen, ist nicht mehr ein rares Gut wie in der Vergangenheit. Noch 1890 waren lediglich 5 von 100 Deutschen über 60 Jahre alt. In den Industrieländern erreichen heute mehr als 90 % aller Menschen dieses Alter. Dieser Wert, der Anteil der über 60jährigen, sagt zwar noch nichts über die Altersverteilung in einer Bevölkerung aus, wird jedoch häufig als Maß für die demografische Alterung herangezogen. Er steigt schnell an: waren vor 50 Jahren 15 % der deutschen Bevölkerung über 60 Jahre alt, sind es heute bereits über 20 % und für das Jahr 2050 wird ein Anteil von über 30 % prognostiziert. Im weltweiten Vergleich sind die höchsten Anteile älterer Menschen in Europa und Nordamerika zu beobachten. Für die nächsten Jahrzehnte wird jedoch insbesondere für die lateinamerikanischen und asiatischen Länder ein extremer Anstieg erwartet, da diese dem demografischen Trend von Steigerung der Lebenserwartung und Absinken der Fertilität in den Industrieländern verzögert, aber umso schneller folgen. Das Medianalter, die Altersschwelle, oberhalb und unterhalb derer jeweils die Hälfte der Bevölkerung liegt, verdeutlicht diesen Trend (vgl. Abb. 3.14).
3
276 50 Quotient 60+/20-59
Abb. 3.15 Entwicklung des Anteils der über 60jährigen in Relation zu den 20- bis 60jährigen in Deutschland im zeitlichen Verlauf (bis 1989 BRD, danach Deutschland gesamt). (Datenquelle: Statistisches Bundesamt)
Bevölkerungsbiologie
40
30
20 1950
1960
1970
1980
1990
2000
2010
Die Betrachtung des Anteils der über 60jährigen ist jedoch nicht unproblematisch, da er im zeitlichen Verlauf von der Besetzung der anderen Altersklassen abhängig ist, vor allem von jener der Kinder. Als Hauptmechanismus der demografischen Alterung dient der Rückgang der Fertilität allerdings nur so lange, bis die geburtenschwachen Jahrgänge in das Alter über 60 Jahre eintreten. Bei einem dazu parallel verlaufenden weiteren Rückgang der Sterblichkeit unter der älteren Bevölkerung kommt es zu einem zusätzlichen und stärkeren Altern von der Spitze der Bevölkerungspyramide. Dies erklärt den momentanen, im internationalen Vergleich relativ geringen, Bevölkerungsanteil von Menschen über 60 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland oder auch in Japan, obwohl diese Länder nach anderen Kriterien als überaltert gelten (Dinkel 1992). Als „Altenquotient“ hat sich der Quotient aus dem Bevölkerungsanteil der über 60jährigen zu dem der 20–60jährigen etabliert, ein für die Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme wichtiges Maß. Auf 100 Menschen im Alter von 20 bis 60 Jahren kommen 2010 in der Bundesrepublik Deutschland 43,6 über 60jährige (Statistisches Bundesamt 2010) (Abb. 3.15). Modellrechnungen ergaben, dass es im Jahr 2030 über 70 sein könnten. Da der Begriff des Altenquotienten in der bevölkerungspolitischen Diskussion (s. unten) häufig mit negativen Konnotationen besetzt ist, sollte er reflektiert eingesetzt werden. Neutraler ist beispielsweise die Nennung der in Relation gesetzten Altersklassen. 2. „Die Alten werden immer älter“ – Die Entwicklung der Hochaltrigkeit Wer heute 60 Jahre alt wird, und das sind die meisten Menschen in den Industrieländern, kann davon ausgehen, dass er durchschnittlich noch mehr als 18 Jahre (Männer) bzw. 22 Jahre (Frauen) leben wird. Betrachtet man die Periodensterbetafeln für Deutschland ab dem Zeitraum 1871/81, so lässt sich seit der Gründung des Deutschen Reiches eine stetige Zunahme der weiteren Lebenserwartung erkennen. Die Männer im Alter von 60 Jahren hatten vor rund 120 Jahren noch durchschnittlich 5,5 Jahre vor sich, die Frauen noch 9,3 Jahre. Vor einem Jahrhundert konnten bereits 13 bzw. 14 weitere Jahre erwartet werden. Mit anderen Worten: „Die Alten werden immer älter“. Messbar ist diese Entwicklung anhand der Zunahme der weiteren Lebenserwartung im Alter von 60 Jahren (vgl. Abb. 3.16). Auf den ersten Blick mag
3.3
Demografie
277
26
Lebenserwartung mit 60 Jahren
24
22 Männer 20
Frauen
18
16
14
12 1865
1885
1905
1925
1945
1965
1985
2005
Jahr
Abb. 3.16 Weitere Lebenserwartungen im Alter von 60 Jahren in Deutschland (bis 1933 Deutsches Reich, ab 1946 BRD, ab 1991 Gesamtdeutschland) für Männer und Frauen. (Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Dinkel 1992; adaptiert nach Wittwer-Backofen 1999 und Statistisches Bundesamt 2011, S. 461–463)
diese Entwicklung angesichts des sozialen, wirtschaftlichen und medizinischen Fortschritts in diesem Zeitraum nicht allzu viel erscheinen. Interpretiert man diese Zahlen jedoch im Zusammenhang mit dem enorm gestiegenen Bevölkerungsanteil, der in die Altersgruppe der über 60jährigen eintritt (s. oben), so wird deutlich, dass im Laufe der Zeit eine immer weniger nach gesundheitlichen Kriterien selektierte Altersgruppe entstanden ist. Gesundheitlich eingeschränkte Menschen erleben heute viel häufiger als in früheren Zeiten diese Altersspanne. Zu erwarten wären demnach sogar höhere Sterberaten unter den Älteren, das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die verbesserten Lebensbedingungen konnten sich in derart hohem Maße auswirken, dass sie nicht nur die negativen Selektionseffekte ausgleichen, sondern die Sterberaten noch weiter senken konnten. In diesem Licht betrachtet, demonstriert die beobachtete Zunahme der Lebenserwartung eine außerordentlich dynamische Entwicklung. Ihr wird auch durch neue Begrifflichkeiten Rechnung getragen: So spricht man, um die Menschen in der heute deutlich größeren Altersspanne der über 60jährigen zu charakterisieren, in der Demografie von den „Jungen Alten“ und den „Alten Alten“ (van Dyk und Lessenich 2009). Eine besonders rasante Veränderung vollzieht sich bei den extrem Hochaltrigen, den über Hundertjährigen (vgl. Box 3.16). Diese Gruppe erfährt eine besondere Aufmerksamkeit, da sich bei ihr die demografischen Beobachtungen der steigen-
278
3
Bevölkerungsbiologie
den durchschnittlichen Lebenserwartung eines möglichen biologischen Limits der Lebensdauer (vgl. Kap. 4.1.5) annähern, woraus neue Erkenntnisse für die Alternsforschung erwartet werden. Box 3.16: Hundertjährige im demografischen Blick
Noch 1950 waren Hundertjährige rar. Da verschiedene Krankheitsbilder, die früher vorzeitig zum Tode führten, in der modernen Medizin kein Sterberisiko mehr darstellen und sich zudem die sozialen und ökonomischen Bedingungen verbessert haben, erreichen heute mehr Menschen die Altersgruppe der Hochaltrigen. Im Jahr 1990 lebten in Westdeutschland 2206 Menschen im Alter von 100 Jahren oder darüber. Bereits 6 Jahre später waren es bereits knapp 4000 Menschen, mehr als 80 % unter ihnen Frauen. Etwa 55 Frauen unter einer Million Frauen und 13 Männer unter einer Million Männern erreichten dieses Alter in Deutschland (Gjonca et al. 2000). Die Anzahl der Hundertjährigen hat trotz abnehmender Bevölkerungszahlen die 10.000 überschritten (Maier et al.2010). Damit wächst diese Altergruppe der extrem Hochaltrigen besonders stark. Es wird angenommen, dass es bis zum Beginn des 19. Jahrhundert extrem selten vorkam, dass jemand die Altersgrenze von 100 Jahren überschritt. Anhand der Daten aus der Kannisto-Thatcher Database on Oldest Old können die Daten von Hundertjährigen aus 12 Ländern Westeuropas und Japans seit 1950 verglichen werden. Neben dem Trend der Zunahme Hundertjähriger ist auch zu beobachten, dass deren verbleibende Lebenserwartung ansteigt. Ihre Sterberaten sinken mit 1 % bis 2 % jährlich schnell. Dies ist umso erstaunlicher, als es immer schwieriger wird, in diesem Alter noch Verbesserungen zu erreichen, welche die Sterblichkeit weiter senken können. Dennoch ist in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Ausgangssterberaten der Anstieg der Lebenserwartung in dieser höchsten Altersstufe nahezu identisch (Kannisto et al. 1994; Maier et al. 2010). Wer die magische Grenze von 100 Jahren überschritten hat, hat gute Chancen, auch ein noch höheres Alter von 105–110 Jahren zu erreichen, da die Sterberisiken in dem Alter sogar leicht absinken (Robine et al. 1997; Jeune und Kannisto 1997; Maier et al. 2010). Es kann vermutet werden, dass in wenigen Jahrzehnten das Auftreten von extrem alten „Super-Centenarians“ in der Bevölkerung ebenso häufig ist wie das derjenigen, welche die Schwelle zum 100. Geburtstag heute überschreiten. Auffällig ist, dass Hundertjährige oft erstaunlich vital sind (Franke et al. 1985) und weniger stark durch Altersbeschwerden in ihrem täglichen Leben eingeschränkt sind als dies etwa bei 80–85jährigen der Fall ist. Aber auch bei Hundertjährigen ist der biologische Alterungsprozess nicht aufzuhalten. Häufig wird in der demografischen Literatur das Sterberisiko in jüngerem Alter als stark durch extrinsische Faktoren (s. unten), das der Hundertjährigen nahezu vollständig durch intrinsische Faktoren gesteuert erklärt, mit dem Verweis auf Alternstheorien, welche die Reparaturfähigkeit des biologischen Systems für begrenzt halten (vgl. Kap. 4.1.5). Diese Zusammenhänge sind jedoch nur schwer zu belegen. Vorerst bleibt es wichtig, die Entwicklung unter den Höchstaltrigen
3.3
Demografie
279
%
80
FRAUEN 74,98
MÄNNER
60
64,16
61,87
69,15
66,67
57,96 48,93
51,07
40
42,04 38,13
35,84
33,33
30,85 25,02
20
0
E3>E4 abnimmt (Miyata und Smith 1996). Das Apo-E4-Allel ist am niedrigsten in asiatischen Bevölkerungen mit etwa 0,07 % vertreten, die höchste Genfrequenz findet sich in Neuguinea mit 0,37 %. Die Genfrequenzen sind umgekehrt proportional zu dem Auftreten ischämischer Herzerkrankungen in den Bevölkerungen (Kamboh 1995). Weiterhin ist mit der Anreicherung des Apo-E3-Allels um das Doppelte und einer Verringerung des Apo-E4-Allels in Hundertjährigen (Schächter et al. 1994) ein Selektionseffekt beobachtet worden, der für ein Risikomodell der Apo-E-Polymorphien spricht. Die Varianten des Apolipoproteins scheinen auf die verschiedenen Weisen zur differentiellen Alterung beizutragen, wenn auch die Ergebnisse für die Interpretation direkter Kausalzusammenhänge noch nicht ausreichend ist (Arking 2006). Zellteilungs-Theorien Anfang der 60er Jahre gelang Hayflick und Moorehead mit der Entdeckung, dass Zellen nicht unbegrenzt teilungsfähig sind, ein wesentlicher Fortschritt in der zellbiologischen Alternsforschung (Hayflick und Moorehead 1961). Zuvor ging man von potentiell unsterblichen Zelllinien aus (Carrel nach Rose 1991). In seinen Versuchen wies Hayflick jedoch nach, dass Kulturen menschlicher Fibroblasten (Bindegewebszellen) sich nur etwa 40–60mal teilen, bevor sie ihre Teilungsaktivität zunächst verlangsamen, um sie schließlich ganz einzustellen. Die derart in vitro ermittelte Anzahl maximal erreichbarer Zellteilungen, das so genannte Hayflick-Limit, variiert zwischen verschiedenen Spezies. Es korreliert positiv mit der maximalen Lebensdauer der Spezies. Dies erfordert eine Art inneren Taktgeber, der den Zellen eine bestimmte Zahl von Teilungen ermöglicht. Auch alternde Zellkulturen, die 20 Jahre lang tiefgefroren wurden, bewahrten ihre „Erinnerung“ bereits vollzogener Mitosen. Wieder aufgetaute Zellen fuhren exakt mit der noch verbliebenen Anzahl an Teilungen fort. Ein weiterer Hinweis auf die Relevanz des Hayflick-Limits als eine Grundlage für das Altern von Zellen ist die in vitro reduzierte Teilungsfähigkeit von Zellen beim Hutchinson-Gilford-Syndrom oder Werner-Syndrom (s. oben) (Finch 1990). Inwieweit sich die invitro gewonnenen Ergebnisse von Zellkulturen jedoch auf in-vivo-Verhältnisse übertragen lassen, bei denen komplexe Interaktionen zwischen Geweben und Organen bestehen, wird seit langem ohne eindeutiges Ergebnis diskutiert. Zudem scheint sich die Limitierung der Zellteilungsaktivität erst deutlich jenseits des durchschnittlichen Sterbealters auszuwirken. Das zeigt die Tatsache, dass selbst Zellen von über 90jährigen sich noch bis zu 20mal teilen können. Aus den Ergebnissen lässt sich interpretieren, dass die verbliebene Zellteilungskapazität zwar eng mit dem Alter korreliert ist, aber nur in den seltensten Fällen direkt zur Todesursache beitragen kann. Sie wird vielmehr als eine Ursache der maximalen Lebensspanne des Menschen diskutiert. Telomer-Theorie Im Zusammenhang mit dem Hayflick-Limit wird die TelomerTheorie diskutiert. Zur Vermeidung von Substanzverlusten innerhalb von Genen, die fatale Folgen für ihren Träger haben können, sind den Chromosomenenden so
4.1 Wachstum, Reifung, Altern
349
genannte Telomere angelagert. Bei diesen Pufferzonen handelt es sich um repetitive, nichtkodierende und damit genetisch funktionslose Basenabfolgen, die bei jeder DNA-Replikation im Rahmen der Zellteilung durch die Funktionsweise der DNA-Polymerase um einige Basen verkürzt werden (Harley et al. 1990; Greider und Blackburn 1998). Die Telomere fungieren damit als eine Art innere Uhr. Ist sie abgelaufen, werden Proteine fehlerhaft oder gar nicht mehr gebildet. In den Zellen der Keimbahn und in Krebszellen verhindert das erst kürzlich nachgewiesene RNA-Enzym Telomerase das Verkürzen der Telomere durch einen Reparaturmechanismus (Kelner 1997). Diese Entdeckung hatte eine euphorische Aufbruchsstimmung in der Entwicklung geriatrischer Pharmaka zur Folge, in dem Glauben, mit der Telomerase einen zellbiologischen „Jungbrunnen“ gefunden zu haben. Die Anwendung dieser Kenntnis ist jedoch durch Rückschläge bei Experimenten mit Modellorganismen in weite Ferne gerückt. Theorie der Kalorienrestriktion Schon früh ist beobachtet worden, dass kalorienreduzierte Nahrung ein vermindertes Auftreten spontaner Tumore bei Mäusen bewirkt, solange der Bedarf an Aminosäuren, Vitaminen und Spurenelementen gedeckt ist. Durch Einschränkung der Fett- und Kohlehydratzufuhr konnte die Lebensspanne bei Mäusen von durchschnittlich 600 Tagen auf bis zu 900 Tage gesteigert werden. Tiere, die im Versuch bereits nach der Entwöhnung einer derartigen Diät ausgesetzt waren, blieben kleiner und weniger muskulös im Vergleich zu adlibitum gefütterten Tieren und zeigten • eine verbesserte Immunantwort durch verstärkte Lymphozytenteilung in der Milz, • weniger oxidative Schäden durch freie Radikale, • verringerte Wachstumshormonkonzentration, • verbesserte DNA-Reparaturmechanismen, • herabgesetzten Glucose- und Insulinmetabolismus, sowie • erniedrigte Körpertemperatur. Weibliche Tiere wurden später fertil, blieben dann aber länger fruchtbar. Unter konstanten Bedingungen bevorteilt, waren die Diättiere in Stresssituationen durch weniger Fettreserven, höhere Sensibilität gegenüber bakteriellen Infektionen und niedrigerer Körpertemperatur allerdings stärker gefährdet. Erfolgte jedoch die Nahrungsumstellung auf kalorienreduzierte Nahrung erst im adulten Alter, lebten die Mäuse weniger lang als normal ernährte Vergleichstiere (Weindruch und Walford 1988; Austad 2001; Masoro 1995, 2003; Masoro und Austad 1996). Demzufolge wird vermutet, dass die Kalorienrestriktion zu einer Verlangsamung der Alternsprozesse führt und als adaptiver Prozess eines verzögerten und verlängerten reproduktiven Lebensabschnittes betrachtet werden kann. Mittlerweile zeigt sich, dass viele der genetischen Varianten, die einen Zusammenhang mit verlängerter Lebensspanne zeigen, über aktive ernährungsabhängige zellbiologische Signalwege funktionieren, wie am Beispiel der Rapamycin (TOR)-Kinasen aufgezeigt (s. oben). „Burn out“ Der Theorie liegt die Idee einer sich erschöpfenden Quelle oder Substanz zugrunde, die im Laufe des Lebens verbraucht wird und nicht ersetzt werden
350
4
Lebenszyklus
kann. Treffende Beispiele mögen Insekten (z. B. Eintagsfliegen Ephemeroptera) sein, die als Imago keine Mundwerkzeuge mehr besitzen und nach Verbrauch ihrer Kalorienreserve verhungern. Auch die Verwendung von Stoffwechselleistung für die Reproduktion anstatt für die Selbsterhaltung wird in diesen Zusammenhang gesetzt, gestützt auf die Beobachtung, dass nichtreproduktive Organismen oft länger leben als ihre reproduktiven Artgenossen, wie z. B. kastrierte Lachse Oncorhynchusnerkakennerlyi (Robertson 1961; zit. nach Rose 1991) oder an der Paarung gehinderte Fruchtfliegen Drosophilamelanogaster (Partridge und Farquhar 1981). Beim Menschen sind die Ergebnisse widersprüchlich, da eine direkte Kausalität nicht nachgewiesen werden kann. „Protein-error“-Theorie Während sich die „somatic-mutation“- und die „mutation-catastrophe“-Theorie auf die genetischen Ursachen von Seneszenz beschränken, wird in der „protein-error“-Theorie (Orgel 1963; nach Rose 1991) Seneszenz mit fehlerhafter Transkription vom Gen zum Protein erklärt. Tritt ein Fehler bei der Proteinsynthese auf, resultieren daraus entweder keine oder nur geringe Veränderungen, die Inaktivität des Proteins oder eine fehlerhafte Funktion des Proteins. Ist ein Protein von einem derartigen Fehler betroffen, kann daraus ein exponentiell wachsendes Auftreten von Folgefehlern resultieren. Die verkürzte Lebensspanne bei Tieren, in deren Entwicklungsphase durch aminosäureanaloge Nahrungszusatzstoffe künstlich provozierte Proteinanomalien auftraten, wird als Beleg für diese Theorie angeführt (Holliday 1995). Direkte Nachweise sind allerdings nur schwer zu führen.
4.1.5.4 Zusammenfassende Bemerkungen Die Fülle der beschriebenen Theorien und Mechanismen des Alterns lässt nur den Schluss zu, dass es die Alternstheorie nicht gibt. Alle hier vorgestellten Überlegungen weisen experimentelle Evidenzen auf und erklären einzelne Phänomene des Alterungsprozesses, liefern Erkenntnisse über allgemeine Mechanismen oder beschreiben die Folgen der zu beobachtenden Prozesse: This broader view of theories of aging, namely, that there is some truth in all of them, implies that the deleterious events that finally lead to aging can occur in many types of molecules and can be brought about by many inducing events. (Holliday 1995, S. 66)
So kann die hier nicht näher vorgestellte, aber bekannte „rate of living theory“, nach der die für den gesamten Lebenslauf limitierte Stoffwechselenergie für erhöhte Fruchtbarkeit oder verlängertes Leben eingesetzt werden kann (Promislow und Harvey 1990), im Einklang mit sowohl der „Theorie der freien Radikale“ als auch der „nichtenzymatischen Glykosylierung“ gesehen werden. Beide Theorien beruhen auf dem Grundsatz „mehr Stoffwechsel bedeutet höhere potentielle Schädigung“. Sie sind wiederum mögliche Ursachen für „Somatische Mutationen“ oder „protein errors“. Allgemein kann man sie auch als Folge eines übermäßigen „wearandtear“ sehen. Die „Einschränkung der Kalorienzufuhr“, die „Temperaturabsenkung“ oder die „Aktivitätseinschränkung“ würden dann aufgrund ihrer stoffwechseldrosselnden Wirkung lebensverlängernd einem „wearandtear“ entgegenwirken. Die lang
4.2
Fortpflanzungsbiologie
351
geführte Diskussion, ob die Alternsabläufe stochastischer oder genetischer Natur sind, erweisen sich als obsolet, denn die Umwelteinflüsse machen den Genotyp zum individuell angepassten Phänotyp, auf den sowohl Umweltbedingungen als auch genetische Limits einwirken, die artspezifische und individuelle Alternsprozesse ausmachen (Mockett und Sohal 1997). Auch mit den neuen biologischen Erkenntnissen über den Alterungsprozess beeinflussende Faktoren bleiben die wesentlichen Fragen des Alterns ungeklärt. Das Zusammenspiel von oxidativen Schäden, das Blockieren oder Freischalten von Signalwegen, altersabhängige Organfunktionen oder die Rolle der Proteinfaltung sind bisher nicht geklärt, ebenso wenig wie die Frage, ob und wie die umweltplastische Variabilität mit diesen Faktoren interagiert. Zusammenfassung Kap. 4.1: Wachstum, Reifung, Altern
• Die menschliche Ontogenese ist in mehrere Abschnitte gegliedert, welche sich in Bezug auf körperliche und kognitive Entwicklung voneinander abgrenzen lassen. • Während der postnatalen Entwicklung kommt es zu einer Serie altersgruppenspezifischer Wachstumsraten. Altersgruppentypische Formmerkmale sind Folge allometrischen Wachstums. • Im Vergleich zu anderen Säugetieren einschließlich der Primaten zeichnen sich Menschen durch ein relativ kurzes Kleinkindalter, dafür eine verlängerte Kindheit und eine Phase der Adoleszenz aus. • Umweltfaktoren, welche das Wachstum retardieren können, sind vor allem mangelhafte Ernährung und damit der Mangel an erforderlicher Stoff- und Energiezufuhr, sowie häufige Erkrankungen und mangelnde Hygiene. Das individuelle Wachstum reflektiert somit unmittelbar die Lebensbedingungen. • Verbesserte Lebensbedingungen haben in vielen Bevölkerungen zu einer größeren Körperendhöhe sowie zeitlicher Vorverlegung der sexuellen Reife geführt (säkulare Trends). • Altern ist ein genetisch determinierter Prozess, der stark umweltplastisch beeinflusst werden kann. Er äußert sich darin, dass das physiologische Gleichgewicht des Körpers zunehmend gestört ist. • Altern unterliegt einem artspezifisch universalen Muster, das auf evolutionsbiologische Wurzeln zurückzuführen ist.
4.2
Fortpflanzungsbiologie
In der Fortpflanzungsbiologie geht es letztendlich um die Beantwortung der Frage, warum die Fertilität von Individuum zu Individuum variiert und welche Faktoren diese Unterschiede bedingen. Die Fortpflanzung ist eine der zentralen Aufgaben unseres Lebens, ungeachtet der individuellen Möglichkeiten eines Menschen, sich dagegen zu entscheiden. Durch unsere Fortpflanzungsfähigkeit werden immer neue Individuen in eine menschliche Fortpflanzungsgemeinschaft hineingeboren, so dass
352
4
Lebenszyklus
diese Population über die Lebensspanne eines einzelnen Menschen hinaus Bestand haben kann. So kann der letztendlich unvermeidbare Tod eines Menschen durch sein generatives Verhalten durch erfolgreiche Fortpflanzung kompensiert werden. Allerdings ist die Geburtenentwicklung in Europa von einer konstant niedrigen Geburtenrate gekennzeichnet, die sich in der Statistik immer auf die weibliche Fertilität in der Bevölkerung bezieht, da Frauen die „begrenzende Ressource“ in der menschlichen Fortpflanzung sind. Im Gegensatz zum Vater eines Kindes können Frauen aufgrund der sexuellen Fortpflanzung des Menschen durch die Schwangerschaft frühestens nach der Geburt des Kindes und der eventuell intensiven Stillphase wieder einen ovulatorischen Zyklus haben, der ihnen eine erneute Zeugung eines Kindes und anschließende Schwangerschaft möglich macht. Bei den Geburtsjahrgängen von 1934 bis 1938 lag der Anteil kinderloserFrauen nur bei ungefähr 11 %; bei Frauen, die in den 1930er Jahren geboren wurden, lag die Geburtenziffer statistisch noch bei über zwei Kindern (Pötzsch 2010). Doch innerhalb der folgenden 30 Jahre war in Deutschland die endgültige Kinderzahl je Frau um etwa 25 % zurückgegangen. Frauen des Geburtsjahrgangs 1959, die im Jahr 2008 49 Jahre alt wurden, erreichten in diesem Alter aufgrund ihres Prämenopause-/Menopausestatus durchschnittlich eine endgültige Kinderzahl von 1,7 Kindern pro Frau (1,8 Kinder in den neuen und 1,6 Kinder in den alten Bundesländern). Dieser Rückgang der Gesamtfertilitätsrate (durchschnittliche Kinderzahl je Frau) spiegelt den Wechsel vom stark familienorientierten Reproduktionsverhalten zum heutigen Lebensstil der Frauen und ihrer männlichen Partner wider. Mit der VerschiebungderGeburten in ein höheres Lebensalter – z. B. wegen längerer Ausbildungszeiten oder Berufstätigkeit einer Frau – verringert sich im statistischen Durchschnitt seit 1960 die endgültige Kinderzahl der Frauen. In einer Umfrage im Jahr 2006 bezüglich der Geburtenzahlen in Deutschland zeigte sich dementsprechend auch, dass der Anteil der FrauenohneeinleiblichesKind im Laufe der Jahrzehnte kontinuierlich gestiegen war. Und das, obwohl bereits seit etlichen Jahren Frauen bis zu einem Alter von Anfang 40 – in Ausnahmefällen sogar auch darüber hinaus – eine Schwangerschaft und ein unerfüllt gebliebener Kinderwunsch dank der medizinischen Fortschritte in der Behandlung von Fertilitätsstörungen erfüllt werden kann. In früheren Kohorten von Frauen im Alter zwischen 40–44 Jahren lag der Anteil der kinderlosen Frauen mit dem Beginn ihrer Menopause nur bei ungefähr 21 % (Pötzsch 2010). So war es damals bereits absehbar, dass die kumulierte Geburtenziffer auch für Frauen bis zum derzeitigen Alter von 30 Jahren vermutlich weiter abnehmen würde. Schon ab 1960 zeichnete sich in anderen europäischen Staaten kontinuierlich der Beginn einer entsprechenden Entwicklung ab – mit einem Tiefststand der Geburtenzahl in Europa im Jahr 2001 mit 1,33 Kindern pro Frau. In Österreich blieb 2005 mit der endgültigen Kinderzahl von 1,41 pro Frau die Gesamtfertilitätsrate auch nahezu unverändert, und dieser Wert ist seit einem Tiefststand im Jahr 2001 mit 1,33 Kindern pro Frau bisher auch nicht wieder gesunken. (Kytir 2006). Im Unterschied zur durchschnittlichen Kinderzahl je Frau blieb die durchschnittliche Kinderzahl je Mutter in den letzten drei Jahrzehnten in Deutschland relativ stabil. Nach einem
4.2
Fortpflanzungsbiologie
353
Rückgang von 2,4 auf 2,1 Kinder pro Mutter aus den Geburtsjahrgängen 1933– 1938 und 1944–1948 blieb die Kinderzahl der Mütter anschließend bis zu jenen der Geburtsjahrgänge 1964 bis1973 auf dem Niveau von etwa zwei Kindern (Pötzsch 2010). Der Anteil kinderloser Frauen am Ende ihrer Reproduktionsfähigkeit liegt bei den Frauen der Geburtsjahrgänge 1933 bis 1948 relativ niedrig zwischen 11 und 12 % im Vergleich zu den statistischen Werten bezüglich der zwischen 1964 und 1968 geborenen Frauen mit 21 % (Pötzsch 2010). Die Ursachen liegen einerseits in der vorhandenen oder nicht vorhandenen Fekundität eines Menschen, d. h. der biologischen Voraussetzung für die Fortpflanzungsfähigkeit eines Menschen. Dazu gehören die vorgeburtliche sexuelle Differenzierung des Embryos in weibliche oder männliche Richtung (siehe Kap. 4.2.1), die sexuelle Reifung der Jugendlichen in der Pubertät (siehe Kap. 4.2.3) und die damit einsetzende Produktion von Sexualhormonen, die neben geschlechtsspezifischen, körperlichen Veränderungen auch zur Entwicklung von reifen Eizellen bei Frauen bzw. befruchtungsfähigen Spermatozoen bei Männern (siehe Kap. 4.2.5) benötigt werden. Fekundität ist daher eine unerlässliche Voraussetzung für die Fertilität eines Menschen, in der Definition der Demographie die Geburt eines eigenen, lebenden Kindes6. Ein fekunder Mensch ist jedoch nicht immer auch ein fertiler Mensch. Große Bedeutung kommt sozialen Einflüssen und Verhaltensstrategien wie die Verfügbarkeit von Sexualpartnern, erfolgreicher Partnerwerbung, Häufigkeit und Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs und bewusster Familienplanung zu. Als natürliche Fertilität eines Paares oder einer Population gilt in der Fortpflanzungsbiologie die Fertilität, die ohne feste Vorstellung über die endgültige Familiengröße und damit ohne bewusste Geburtenplanung erreicht wird (Wood 1994), wie sie heute z. B.. noch bei den strenggläubigen Amischen (Mennoniten) in den USA zu finden ist (Greksa 2002). Die natürliche Fertilität eines Paares hängt von verschiedenen Einflüssen ab, die als proximate Determinanten einen direkten Effekt auf die Kinderzahl haben (Tab. 4.5). Zusätzlich können distale (entfernte) Einflussfaktoren mittels eines der proximaten Faktoren einen Einfluss ausüben (z. B. religiöse Zugehörigkeit und damit verbundene Tabus bestimmen den erlaubten Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs). Die Betonung des weiblichen Einflusses auf die Fertilität eines Paares oder einer Bevölkerung hat ihre Ursache in der biologischen Begrenzung der Befruchtungsfähigkeit bei der Frau, da bei ihr die zyklische (diskontinuierliche) Produktion von Eizellen, Schwangerschaften und Stillzeiten die Anzahl möglicher Kinder erheblich stärker einschränkt als bei Männern. Der männliche Einfluss auf die Fertilität eines Paares ist naturgemäß ausschließlich auf die Zeit der Zeugung beschränkt. Die Häufigkeit der Inseminationen kann ebenso wie die Qualität und Quantität der Spermatozoen mit dem Alter des Mannes geringer werden. Als beschränkender Faktor gilt bei Männern auch die altersbe6 In der Medizin wird unter Fertilität die Fähigkeit verstanden, zu konzipieren bzw. eine Schwangerschaft zu induzieren. Beim Mann ist demnach Fertilität gleichbedeutend mit Zeugungsfähigkeit. In fekundität bedeutet, dass eine Schwangerschaft nicht ausgetragen werden kann.
354
4
Lebenszyklus
Tab. 4.5 Proximate Faktoren der natürlichen Fertilität. Proximate Faktoren, die einen direkten Effekt auf die Fertilität eines Menschen oder Paares haben, müssen mindestens einmal im Reproduktionsprozess auftreten, damit Fortpflanzung überhaupt stattfinden kann. (Erweitert nach Wood 1994) A.Faktoren,welchedieMöglichkeitzumGeschlechtsverkehrbeeinflussen 1. Faktoren, welche die Gründung oder Auflösung von Verbindungen während der reproduktiven Phase bestimmen • Alter bei Beginn der sexuellen Beziehungen • Andauerndes Zölibat: Prozentsatz der Frauen und Männer, die niemals eine sexuelle Beziehung haben • Ausmaß der Reproduktionsperiode nach oder zwischen sexuellen Beziehungen (Ende einer Beziehung durch Scheidung, Trennung, Tod des Partners) 2. Faktoren, welche die Möglichkeit zum Geschlechtsverkehr in einer sexuellen Beziehung beeinflussen • Freiwillige Enthaltsamkeit • Unfreiwillige Enthaltsamkeit (Impotenz, Krankheit, zeitweilige Trennung der Partner) B.Faktoren,welchedieMöglichkeitzurKonzeptionbeeinflussen 1. Dauer der fekunden Zeit bis zur Konzeption der Frau • Häufigkeit der Insemination durch den Mann • Spermatozoenqualität und –quantität • Länge der ovariellen Zyklen der Frau • Prozentsatz der Zyklen mit einem Eisprung • Dauer der fertilen Phase eines Paares • Wahrscheinlichkeit der Konzeption durch eine einzige Insemination in der fertilen Phase der Frau 2. Wahrscheinlichkeit des Verlustes eines Fötus 3. Dauer der nicht empfängnisbereiten Phase der Frau nach dem Verlust eines Fötus 4. Dauer der Schwangerschaft bis zur Geburt eines reifen Kindes 5. Dauer der Infekundität der Frau durch Laktation (Stillen des Kindes)
dingte, permanente Zeugungsunfähigkeit durch sexuell übertragene Krankheiten sowie der allmähliche Abfall der Testosteronkonzentration, der zu absinkender Libido bis zur Impotenz führen kann (siehe Kap. 4.2.3). Einen wichtigen Einfluss auf die Konzeptionschancen eines Paares hat die Dauer der gemeinsamen Lebensphase von Eizelle und Spermium, die bestenfalls 24 Stunden beträgt. Die Überlebensdauer einer menschlichen Eizelle wird mit sechs Stunden bis zu einem Tag angegeben, die Spermatozoen des Mannes bleiben maximal 40 Stunden befruchtungsfähig. Diese Zeitspannen sind typisch für viele Säugetiere (Tab. 4.6) Ist es zur Befruchtung der Eizelle (siehe Kap. 4.2.5) gekommen, beginnt die komplizierte Entwicklung des neuen Individuums aus der Zygote bis zu einer geschlechtsreifen Frau oder eines Mannes. Die sexuelle Differenzierung kann in verschiedene Stadien unterteilt werden (Tab. 4.7), die sich nacheinander in einer festgelegten Abfolge bedingen. Normalerweise stimmen das genetische, gonadale und somatische Geschlecht überein.
4.2
Fortpflanzungsbiologie
Tab. 4.6 Schätzung der durchschnittlichen Überlebensdauer (in Stunden) von fertilen Gameten im Reproduktionstrakt der Frau/ des weiblichen Tieres
Tab. 4.7 Stufen der Geschlechtsdifferenzierung. (Nach Josso 1996)
355 Spezies Mensch Rind Schaf Pferd Schwein Maus Kaninchen
Sperma 30–40 Std. 30–48 Std. 30–48 Std. 140–150 Std. 25–50 Std. 6–12 Std. 30–36 Std.
Eizelle 6–24 Std. 12–24 Std. 15–25 Std. 15–25 Std. 10–20 Std. 6–15 Std. 6–8 Std.
Fertilisation Genetisches Geschlecht Gonadales Geschlecht Somatisches Geschlecht Legales Geschlecht Geschlechtsidentitä
Das legale Geschlecht wird dem Neugeborenen durch die Geburtshelfer aufgrund seines körperlichen Erscheinungsbildes (somatisches Geschlecht) zugewiesen und dem Standesamt gemeldet. Die Geschlechtsidentität eines Menschen entwickelt sich jedoch erst im Laufe der Ontogenese und kann sich gelegentlich durchaus vom legalen Geschlecht unterscheiden.
4.2.1
Geschlechtsdetermination und sexuelle Differenzierung
Das Geschlecht eines Menschen ist wie bei allen Säugetieren genetisch determiniert. Normale Individuen mit einem Karyotyp 46,XX entwickeln sich zu Frauen, ein 46,XY- Chromosomensatz steuert die Entwicklung zum männlichen Geschlechtstyp. In dem Moment, in dem ein Spermium mit einem X- bzw. Y-Chromosom in die weibliche Eizelle eingedrungen ist und mit dem X-Chromosom der Eizelle verschmilzt, ist das chromosomale Geschlecht dieses Individuums festgelegt. Weibliche und männliche Embryonen sehen in den ersten Wochen nach der Zeugung zunächst gleich aus. Die Anlagen der Gonaden, Keimleiter (Gonodukte) und der äußeren Genitalien können sich in weibliche und männliche Richtung entwickeln, wobei die Entwicklung zum weiblichen Phänotyp die Grundform darstellt, während für die Differenzierung zum männlichen Erscheinungsbild zusätzliche genetische Anlagen notwendig sind. Fehlen diese, erfolgt automatisch die Feminisierung der betroffenen Gewebe. Geschlechtsunterschiede werden erst sichtbar, wenn das entscheidende Gen, der so genannte Testis-Determinierende Faktor (TDF) auf dem Y-Chromosom aktiv wird. Es ist ein Gen auf dem kurzen Arm des Y-Chromosoms, das als „Sex Determining Region Y“ (SRY) benannt wurde. Es kodiert ein 204 Aminosäuren langes Protein, dem DNS-bindende und DNS-biegende Eigenschaften zugeschrieben werden (Ostrer 1996). Das SRY-Gen setzt mit seinen Genprodukten jene Prozesse
356
4
Lebenszyklus
Abb. 4.7 Wanderung der Urgeschlechtszellen in die Gonaden. (Adaptiert nach Knörr et al. 1972)
in Gang, die die undifferenzierten Gonaden (Keimdrüsen) des Embryos zu Hoden ausdifferenzieren und so die genetisch vorprogrammierte Entwicklung der Urgonaden zu Eierstöcken unterdrücken. SRY-Genprodukte haben auch eine indirekte Wirkung auf die undifferenzierten Keimdrüsen, indem sie Gene autosomaler Chromosomen (9: SF-1; 11: WT-1; und 17: SOX-9) dabei mit einbeziehen, da sie deren Transkription regulieren können (Sultan et al. 1997). Zusätzlich zur SRY-Region spielt das Gen DAX-1 auf dem X-Chromosom für die Gonadenentwicklung eine Rolle, dessen Genprodukte die Wirkung der SRY-Region bei der Entwicklung der ableitenden Genitalwege (Gonodukte) überlagern können. So entstehen weibliche Individuen mit dem Karyotyp 46,XY, die eine Verdoppelung des kurzen Arms des X-Chromosoms aufweisen, auf dem sich der Genlocus für das DAX-1 Gen befindet (Bardoni et al. 1994). Die Urgonaden oder Genitalleisten werden zunächst im Embryo paarig für beide Geschlechter gleich angelegt. Um den 32. Tag der Embryonalentwicklung herum entstehen sie als eine Verdickung an der Oberfläche der Urnieren (Mesonephron) und sind das gemeinsame somatische Blastem7 für die zukünftigen Follikelzellen in den Eierstöcken oder die androgenbildenden Interstitiumzellen in den Hoden. Die Urgeschlechtszellen, die als Stammzellen der Oogonien bzw. Spermatogonien gelten, sind zuerst um den 21. Tag außerhalb der Gonadenanlage extraembryonal im Entoderm des Dottersackes nachzuweisen. Mit Hilfe ihrer Eigenbeweglichkeit wandern sie in der 5. Schwangerschaftswoche beiderseits zu den Gonadenanlagen und breiten sich dort entlang der Oberfläche aus (Abb. 4.7). Sobald sich die Keimzellen in der Gonadenregion angesiedelt haben, setzt in der Tiefe des Blastems eine 7 Indifferentes Keimgewebe aus teilungsfähigen Stammzellen, aus dem sich in der Embryonalentwicklung differenziertes Gewebe entwickelt.
4.2
Fortpflanzungsbiologie
357
rapide Zellvermehrung ein, und die Keimzellen beginnen selbst aktiv in das Blastem einzudringen. Die Spermatogonien verbleiben in den Rindenschichten der Gonadenanlage. Dort verharren sie in der G1-Phase des Zellzyklus ohne weitere Teilungen in einer Ruhephase bis zum Einsetzen der Pubertät. Die Oogonien dringen bis in die inneren Schichten des Blastems ein, wo sich bei weiblichen Embryonen aus der Tiefe des Blastems Zellstränge entwickeln, welche die Vorstufen der Follikelzellen enthalten. Sie nehmen die Oogonien auf, umschließen sie mit einer einschichtigen Zelllage und bilden so die Primärfollikel. Die Kontaktaufnahme mit den Follikelzellen veranlasst einen entscheidenden Funktionswechsel der weiblichen Keimzellen. Ihre Vermehrungsphase ist abgeschlossen, und die mitotischen Teilungen der Oogonien werden nun gestoppt. Es beginnt die Vorbereitungsphase für die späteren, generativen Aufgaben, indem Oozyten in die Prophase der ersten meiotischen Teilung eintreten und darin bis zur Geschlechtsreife der Frau verweilen werden (siehe Kap. 4.2.5 Keimzellentstehung). Die Oogonien sind nun zu Oozyten oder Primordialfollikeln differenziert, die jeweils aus Eizelle und Epithelzellen bestehen. Zu diesem frühen, vorgeburtlichen Zeitpunkt sind ungefähr 10 Mio. Follikelapparate in den weiblichen Gonaden eingebettet, von denen bis zur Geburt des Mädchens bereits 90 % zugrunde gehen. Bis zur Pubertät werden weitere 90 % atretisch (Abkapselung und Abbau), so dass noch ungefähr 100.000 der ursprünglich angelegten Primordialfollikel übrig bleiben (Neulen 1997). Parallel zur Entwicklung der Urgonaden haben sich die ableitenden Gonodukte ausgebildet, die anfänglich bei beiden Geschlechtern gleich angelegt sind: die Wolff’schen Gänge als potentiell männliche Anlage und die Müller’schen Gänge als primäre Struktur der weiblichen Geschlechtswege (Tab. 4.8). Die sexuelle Differenzierung beginnt bei weiblichen Embryonen mit der genetisch vorprogrammierten Entwicklung der Urgonaden zu Ovarien. Bei männlichen Individuen erfolgt zwischen der 6. und 8. Schwangerschaftswoche die Ausbildung der bis dahin indifferenten Gonadenanlage zum Hoden. Die Genprodukte des SRY-Gens veranlassen in den Gonaden die Entwicklung von Sertolizellen, die das Glykoprotein Anti-Mullerian-Hormone (AMH) produzieren. AMH wird auch als Oviduktrepressor bezeichnet, weil es die Rückentwicklung der Müller’schen Gänge bei männlichen Embryonen bis zur vollständigen Regression einleitet. So können sich diese Strukturen nicht wie bei Frauen vorgeburtlich zu Eileitern, Gebärmutter, Cervix (Muttermund), Vagina und Hymen ausdifferenzieren (Tab. 4.8). Bei weiblichen Embryonen gibt es wegen des fehlenden SRY-Gens kein AMH, so dass sich die Müller’schen Gänge bis zur Geburt voll entwickeln können. Andererseits bilden sich bei ihnen die Wolff’schen Gänge vollständig zurück (Josso 1996). Die Wolff’schen Gänge der männlichen Embryonen beginnen sich ab der 10. Schwangerschaftswoche zu Nebenhoden, Samenleitern, Prostata, Penis und peniler Harnröhre auszubilden. Der Wolff’sche Gang unterliegt einer positiven Regulierung durch Testosteron, das zu diesem Zeitpunkt durch die Leydig-Zellen im Hoden ausreichend produziert werden kann, da bereits in der 8. Schwangerschaftswoche die Differenzierung der Stammzellen zu Hormon produzierenden Leydigzellen erfolgte. In der 14. bis 17. Gestationswoche erreicht der Testosteronspiegel bei
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4
Lebenszyklus
Tab. 4.8 Zeitplan der wichtigsten Ereignisse der fetalen sexuellen Differenzierung Fetales Alter (Wochen) Ereignis 4 Entwicklung der Wolff´schen Gänge 4,5 Entwicklung der Urgonaden 5 Wanderung der Ur-Geschlechtszellen 6 Entwicklung der Müller`schen Gänge (MG) 6–7 Bildung von Sertoli-Zellen in den männlichen Gonaden, Beginn der AMH-Sekretiona 8 Männlicher MG beginnt Rückentwicklung 8 Auftauchen von Leydig-Zellen in den Hoden und Beginn der Testosteron-Sekretion 9 Entwicklung der Vaginalplatte aus den weiblichen MG 10 Beginn der meiotischen Prophase der Oogonien 10 Ende der Rückbildungsphase des männlichen MG 10 Entwicklung der männlichen Wolf’schen Gänge zu Nebenhoden, Prostata, Penis und peniler Harnröhre 10 Beginn Rückbildung der weiblichen Wolff’schen Gänge 10 Entwicklung der weiblichen Müller’schen Gänge zu Eileitern, Uterus, Cervix, Vagina und Hymen 12–14 Ende der Penisausbildung 15–17 Maximum an Leydig-Zellen und Testosteronproduktion 17 Erste Follikel im Ovar 24 Ausbildung der Vagina 28 Ende der mitotischen Oogonienvervielfältigung 28 Abstieg der Testes aus dem Bauchraum a AMH Anti-Mullerian-Hormone (= Oviduktrepressor) wird von den Sertoli-Zellen gebildet, die durch das Protein SOX-9 des entsprechenden Gens auf dem Chromosom 17 aktiviert werden
männlichen Feten sein Maximum, bevor er nach der 24. Woche auf das Niveau der weiblichen Feten sinkt. In diesen Wochen ist die Konzentration des freien, biologisch aktiven Testosterons bei den männlichen Feten höher als das geschlechtsreifer Männer, was nicht nur die Ausbildung der Geschlechtsorgane ermöglicht, sondern auch eine vorgeburtliche Prägung bestimmter Regionen des Gehirns mit sich bringt (Christiansen 2004). Die Differenzierung der Wolff’schen Gänge zu den äußeren männlichen Genitalien kann nicht direkt durch Testosteron erfolgen, sondern sie unterliegt dem Einfluss von Dihydrotestosteron (DHT). DHT wird aus Testosteron durch das Enzym 5α-Reduktase gebildet. Unterbleibt diese Umwandlung in der Zielzelle, resultiert eine unzureichende Maskulinisierung der Geschlechtsorgane, die dem Ausmaß des normalen, jetzt aber fehlenden DHT-Effektes entspricht (Weinbauer et al. 2000).
4.2.1.1 Störungen der sexuellen Differenzierung Chromosomale Anomalien Der Zusammenhang zwischen den Geschlechtschromosomen und dem Geschlechtsphänotyp wurde von Wilson (1911) entdeckt, aber erst Ende der 1960er Jahre konnte die Bedeutung des Y-Chromosoms für die männliche sexuelle Differenzierung belegt werden (Jacobs 1969). Ein Y-Chromo-
4.2
Fortpflanzungsbiologie
359
Abb. 4.8 Geschlechtschromosomenkonstitution und phänotypische sexuelle Differenzierung
som steuert normalerweise die Ausbildung männlicher Gonaden und Keimbahnen, unabhängig von der Zahl vorhandener X-Chromosomen, während das Fehlen des Y-Chromosoms in der Regel den Phänotyp des Individuums in eine weibliche Richtung differenziert (Abb. 4.8). Der normale Karyotyp eines Mannes ist 46,XY. • Liegt bei vorhandenem Y-Chromosom eine Vervielfachung des X-Chromosoms vor (47,XXY; 48,XXX; 49,XXXY), wird diese Chromosomenabberation als Klinefelter Syndrom bezeichnet. Die numerischen Aberrationen entstehen durch so genannte Non-Disjunction in den meiotischen Teilungen während der Keimzellentwicklung (mütterliche Oogenese und väterliche Spermatogenese oder während der frühembryonalen mitotischen Teilungen). Die phänotypischen Männer zeigen das klinische Bild des Hypogonadismus (Hodenunterfunktion), das durch sehr kleine Hoden, Infertilität aufgrund fehlender Spermatozoen und Gynäkomastie (weibliche Fettverteilung) gekennzeichnet ist. • Ein überzähliges Y-Chromosom (Karyotyp 47,XYY) führt bei den XYY-Männern zu Hochwuchs, normaler bis leicht eingeschränkter Hodenfunktion; gelegentlich entsteht dadurch ein Testosteronmangel, der behandlungsbedürftig sein kann. Die Ursache des überzähligen Y-Chromosoms ist eine Verteilungsstörung in der väterlichen Meiose.
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4
Lebenszyklus
Abb. 4.9 Erscheinungsbild bei phänotypischen Frauen mit Turner-Syndrom: Kleinwuchs, Faltenhals, Knochen-, Herz-, Gefäß- und Nierenmissbildungen, Pigmentationsanomalien. (Adaptiert nach Lauritz 1987)
• Eine Ausnahme bezüglich der Notwendigkeit eines Y-Chromosoms für die Ausbildung eines männlichen Phänotyps sind Männer mit 46,XX- oder 45,XKaryotyp. Bei ihnen liegt eine Translokation zwischen X- und Y-Chromosom während der väterlichen Meiose vor, bei der unter anderem das SRY-Gen auf das X-Chromosom übertragen wurde („sex reversal“). Die Folgen sind eine eingeschränkte Maskulinisierung mit kleinen Hoden, Gynäkomastie, Azoospermie und meist erniedrigtem Testosteronspiegel, allerdings sind die Körperproportionen der Männer normal. Für die Ausbildung weiblicher Gonaden und Keimbahnen sind mindestens zwei X-Chromosomen notwendig. Überzählige oder ein fehlendes X-Chromosom bringen vielfältige Störungen mit sich. • Bei weiteren X-Chromosomen (47,XXX, 48,XXX und 49,XXXX) sind die Frauen, so genannte Superfemales, in ihrem äußeren Erscheinungsbild unauffällig weiblich. Bei rund einem Drittel von ihnen treten aber eine Unterentwicklung der Eierstöcke, Menstruationsstörungen, gelegentlich sogar Sterilität auf. • Ist nur ein X-Chromosom vorhanden (Karyotyp 45,XO), handelt es sich um das Ullrich-Turner-Syndrom (Abb. 4.9). Die Gonaden der phänotypischen Frauen entwickeln sich bis zur 12. Gestationswoche normal, und es bilden sich auch die ersten Primordialfollikel. Danach beginnt eine gonadale Dysgenesie, so dass bei der Geburt des Kindes nur noch Gonadenreste mit erkennbarem Ovarial-
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Fortpflanzungsbiologie
361
gewebe vorhanden sind. Zusätzlich gibt es Fehlbildungen (Abb. 4.9) wie einen Faltenhals, Schildthorax, Kleinwuchs, Herz-, Gefäß-, Nieren- und Knochenmissbildungen. • Das Phänomen, dass ein offensichtlich intakter, gonosomal eindeutiger Genotyp in einem „falschen“ Phänotyp mündet, gibt es auch bei 46,XY-Frauen. Da 85 % dieser Frauen ein intaktes SRY-Gen aufweisen, könnte als Erklärung die Verdoppelung des kurzen Arms des X-Chromosoms (Genlocus für DAX-1) gelten. Es scheinen hier aber auch noch andere, bisher noch nicht identifizierte Faktoren für das „sexreversal“ verantwortlich zu sein (Puschek et al. 1994). Testikuläre Feminisierung Beim klassischen Bild der testikulären Feminisierung (46,XY Karyotyp) handelt es sich um eine genetisch bedingte Störung, bei der die Zielorgane nicht auf Testosteron ansprechen, da aufgrund eines rezessiven Defektes des Androgen-Rezeptor-Gens auf dem X-Chromosom (Xq11–q12) in den Zielzellen kein Androgenrezeptor-Protein erzeugt wird. In der Embryonalentwicklung sind noch Hoden entstanden, diese steigen aber auch nach der Geburt meist nur bis in den Leistenkanal ab. Die inneren Genitalien fehlen, da die unbeeinträchtigte testikuläre Sekretion des Anti-Mullerian-Hormone (AMH) die Entwicklung von Eileitern und Gebärmutter verhinderte, und die Stimulation der Wolff’schen Gänge zu Nebenhoden, Samenleitern, Samenblase durch Testosteron aufgrund des Androgen-Rezeptor-Defektes unterblieb. Es ist ein unverminderter Testosteronspiegel im Blut vorhanden, aber das Testosteron kann nicht wirksam werden. Trotz der geringen Östrogenproduktion entwickeln diese Menschen einen normalen weiblichen Phänotyp. Sie haben eine Vagina (die blind endet), die Labien sind oft unterentwickelt, die Klitoris ist klein bis normal. Die Brüste sind nach der Pubertät gut entwickelt, die Körperfettverteilung und psychische Entwicklung sind normal weiblich, aber die Menarche bleibt aus. Das Kopfhaar zeigt eine unauffällige weibliche Verteilung und Qualität, aber es gibt keine Achsel- und Genitalbehaarung, da diese bei beiden Geschlechtern androgenabhängig ist. Hermaphroditismus verus Beim echten Hermaphroditismus haben die Individuen eindeutig testikuläres und ovarielles Gewebe. Die Gonaden können aus ein- oder beidseitigen Ovotestes mit gemischtem Gewebe bestehen; es können aber auch ein Eierstock (fast immer auf der linken Körperseite in normaler Lage) und ein Hoden, meist auf der rechten Seite, allerdings häufig nicht im Hodensack, sondern im Bauchraum, vorhanden sein (Abb. 4.10). Die äußeren Genitalien von Hermaphroditen sind meist männlich, so dass die meisten von ihnen als Jungen großgezogen werden, obwohl sich bei allen Individuen in der Pubertät Brüste entwickeln. Der Karyotyp von Hermaphroditen ist in 60 % der Fälle 46,XX, von diesen Individuen menstruieren nach der Geschlechtsreife auch ungefähr 40 %. Einen 46,XY-Karyotyp haben 10–15 %, bei den restlichen Formen findet man verschiedene Mosaikformen, wie z. B. 49,XXYYY (Hasty und Rock 1996; Ostrer 1996). Viele, aber nicht alle Hermaphroditen haben das Testis-Determinierende Gen SRY; bei echten Hermaphroditen ohne Y-chromosomale Gensequenzen werden X-chromosomale oder
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Lebenszyklus
Abb. 4.10 Das innere Genitale eines Individuums mit Hermaphroditismus verus. Es sind ein Eierstock und Eileiter, die Gebärmutter, ein Hoden mit Samenleiter und der Penis vorhanden
autosomale Mutationenen in den SRY-Gen untergeordneten Sequenzen diskutiert (Slaney et al. 1998). 5α-Reduktasestörung Es gibt eine Pseudoform von Protogynie8 bei Menschen, die von Imperato-McGinley und Mitarbeitern 1979 auf einer Karibikinsel der Dominikanischen Republik entdeckt wurde (Imperato-McGinley 1996). Es handelt sich um 22 Familien, die alle nachweislich von einer Ahnfrau mit dem MutantenGen abstammen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden 37 Kinder (normaler, männlicher Karyotyp 46,XY) mit der autosomal-rezessiv vererbten 5α-ReduktaseStörung geboren. Dieser Störung der sexuellen Differenzierung liegt eine Mutation des Gens für das Enzym Typ II auf dem Chromosom 2 zugrunde (Thigpen et al. 1992). Testosteron ist das Pro-Hormon für 5α-Dihydrotestosteron (DHT) und wird in den Zielzellen durch das Enzym 5α-Reduktase zu diesem umgewandelt. Während der Phase der vorgeburtlichen sexuellen Differenzierung des Embryos liegt dieses Enzym in besonders hoher Konzentration im Sinus urogenitalis vor, aus dem bei Knaben die äußeren Genitalien hervorgehen. Aufgrund des angeborenen 5α-Reduktase-Mangels unterbleibt die Differenzierung dieser Anlagen zum männlichen Wird aus einem weiblichen Tier allmählich ein männliches Tier, so wird das Protogynie genannt, im umgekehrten Fall Protandrie. Dieser serielle Hermaphroditismus (Zwittertum) ist bei einigen Korallenfischen der normale Entwicklungsgang. Bei einer Überzahl des weiblichen Geschlechts können die größeren Weibchen das Geschlecht wechseln und damit das Geschlechterverhältnis in einer Population ausgleichen.
8
4.2
Fortpflanzungsbiologie
363
Phänotyp, so dass bei der Geburt das äußere Genitale der Kinder weiblich differenziert ist, obwohl andererseits Gebärmutter und Eileiter nicht angelegt wurden. Die betroffenen Individuen haben Hoden und ihre inneren Geschlechtswege sind männlich. Die Lage der Hoden ist entweder im Bereich der Leisten oder in den Hodenbeuteln, die als große Schamlippen gedeutet werden. Die Kinder haben durch den 5α-Reduktasemangel einen Mikrophallus, der als Klitorishypertrophie angesehen wird. Der Harnleiter und die Harnblase können als solche erhalten geblieben sein oder es kann – wie beim weiblichen Geschlecht – eine separate Vaginalöffnung bestehen, die jedoch blind endet. Die betroffenen Knaben werden bis zur Geschlechtsreife als Mädchen aufgezogen. Da die 5α-Reduktase-Störung nicht absolut ist, kann mit der Pubertät und den dann stark ansteigenden Testosteronkonzentrationen eine Maskulinisierung eintreten. Vermutlich sorgt die in extragenitalem Gewebe aktive 5α-Reduktase-1 dafür, dass sich im Blutserum dann relativ viel DHT nachweisen lässt, so dass es für die Entwicklung des Penis zu einem normalen Phallus ausreicht. Die Hoden vergrößern sich ebenfalls, auch wenn das Hodenvolumen meist geringer bleibt und es Fertilitätsstörungen geben kann, aber nicht muss. Die Samenproduktion ist dann unterdurchschnittlich, und häufig wird eine Azoospermie (keine Spermien im Ejakulat) diagnostiziert. Die Mehrzahl der Männer entwickelt nach der Pubertät eine normale männliche Geschlechtsidentität, heiratet und kann auch Kinder zeugen. Die Muskelentwicklung und Stimmbruch setzen ebenfalls mit der Pubertät ein, die Behaarung im Gesicht und am Körper bleibt wegen des erniedrigten DHT-Spiegels aber spärlich. Inzwischen wurden auch in anderen Teilen der Welt Männer mit der 5α-Reduktase-Störung-2 entdeckt. In einem entlegenen Dorf des Taurus-Gebirges in der Türkei (Akgun et al. 1986), im Hochland von Papua-Neuguinea (Herdt und Davidson 1988; Imperato-McGinley et al. 1991) und in Mexiko (Canto et al. 1997) konnte sich dieser Enzymdefekt aufgrund der Isolation der Bevölkerung durchsetzen.
4.2.2
Sexuelle Reifung
Nach der Geburt ruht die weitere sexuelle Entwicklung und Differenzierung während der Kindheit. Es besteht eine endokrinologische Funktionsruhe der Ovarien und Testes, die durch die „Unreife des Hypothalamus“ gewährleistet ist. In diesem Lebensabschnitt verharren die Spermatogonien in den Hoden wie seit der frühen Embryonalphase ohne weitere Teilungen in ihrer Ruhephase. In den Ovarien lassen sich auch in dieser Zeit Follikelreifungen und -rückbildungen (Atresien) nachweisen (Peters et al. 1976), aber nie die Entwicklung eines dominanten Follikels (siehe Kap. 4.2.5 Keimzellenentwicklung) oder gar ein Eisprung. In den vergangenen einhundert Jahren ist das mittlere Menarchealter der Mädchen etwa um 2 Jahre gesunken und lag in den Jahren ab 1970 bis Ende der 1980er Jahre durchschnittlich bei 12,5 bis 13 Jahren. Inzwischen ist das mittlere Menarchealter nach einem Stillstand in der Akzeleration weiter gesunken. Der Kinder- und Jugendgesundheits-Survey (KIGGS) mit der Datenerhebung in Deutschland in den Jahren von 2003–2006 lieferte bundesweit erhobene Daten von Kindern und Ju-
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Lebenszyklus
gendlichen im Alter von 10 Jahren bis zum Beginn des 18. Lebensjahres bezüglich ihrer sexuellen Reifung (Kahl et al. 2007). Aufgrund der Beurteilung durch die an der klinischen Untersuchung beteiligten Ärzte sowie der Selbsteinschätzung der 10–17jährigen Jugendlichen bezüglich ihrer körperlichen Reifemerkmale mittels Befragungen anhand der Skalen von Tanner und Whitehouse (1976) wurden das Menarchealter (erste Regelblutung) der Mädchen und die Mutation (Stimmbruch) bei den Jungen erhoben. Das im KIGGS gewonnene Datenmaterial von fast 18.000 befragten Kindern und Jugendlichen lieferte umfangreiche aktuelle Daten bezüglich des säkularen Trends der körperlichen Entwicklung und geschlechtlichen Reifung in den letzten einhundert Jahren bis zu den Erhebungen von 1981–1994 in den alten Bundesländern und dem Erhebungszeitpunkt im Jahr 1985 in den neuen Bundesländern. Die umfangreiche Datenerhebung ergab, dass die Menarche 2007 bei rund 2 % der in Deutschland lebenden 10-jährigen Mädchen und zu 91 % bei den 14-jährigen Mädchen bereits eingetreten war, danach erfolgte bis zum Alter der befragten Personen mit 21 Jahren nur noch eine geringe prozentuale Steigerung auf 99 %. Die Daten belegten, dass das mittlere Alter der Menarche bei den befragten Mädchen im Vergleich zu früheren Erhebungen in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in etwa um zwei Jahre gesunken war. Es lag nun im Durchschnitt bei 12,5–13 Jahren (Median 12,8 Jahre) in den europäischen Ländern. Welcher der zahlreichen postulierten Einflussfaktoren letztendlich den Beginn der Pubertät auslöst, ist weitgehend ungeklärt. Neben genetischen Faktoren (Rowe 2002: Zwillingsuntersuchungen; Cambell und Udry 1995: Menarchealter der Mutter) spielen auch Einflüsse von veränderten Ernährungsgewohnheiten in Bezug auf den Protein-, Fett- und Faseranteil der Nahrung, und erkennbar am Körperbau eines Mädchen oder Jungen, eine wichtige Rolle. Der Anteil des Körperfetts des Jungen oder Mädchens sollte ca. 15 % betragen, da er dann die kritische Größe erreicht, um in den Fettzellen ausreichend das Hormon Leptin9 zu produzieren. Der Leptinspiegel spielt eine auslösende Rolle für den Beginn der sexuellen Reifung, indem über eine positive Rückkoppelung dem Hypothalamus signalisiert wird, dass die Körpermasse zur Initiierung der reproduktiven Fähigkeiten des Kindes ausreicht (Clayton und Trueman 2000). Der Einfluss sozioökonomischer Faktoren auf den Pubertätszeitpunkt wirkt indirekt auch über den Ernährungsstatus des Mädchens oder Jungen, der durch schwere körperliche Arbeit, mangelnde Qualität und Quantität der Nahrung negativ beeinflusst wird. Dieser Zusammenhang wurde in Langzeitstudien schlüssig nachgewiesen (Eveleth und Tanner 1976; Danker-Wyshak und Frisch 1982; Loesch et al. 2000; Hwang et al. 2003), in denen gezeigt werden konnte, wie die Menarche der Mädchen im Laufe des letzten Jahrhunderts in unterschiedlichen Kulturen mit zunehmender Verbesserung des Lebensstandards, und damit auch der besseren Ernährung der Menschen, ständig früher stattfand (Abb. 4.11). Besonders deutlich ist dieser Effekt bei Mädchen aus sozioökonomisch schwächeren Schichten, bei denen sich der Ernährungsstatus erhebDie im Blutserum vorhandene Leptin-Konzentration korreliert beim Menschen direkt mit der Masse des Fettgewebes. 9
4.2
Fortpflanzungsbiologie
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Abb. 4.11 Der säkulare Trend zum früheren Menarchealter in Europa. (Adaptiert nach Eveleth und Tanner 1976)
lich stärker verbesserte. Je mehr Proteine und Fette und je weniger Faseranteile die Nahrung enthält, desto früher setzt unter ansonsten konstanten Lebensbedingungen die Pubertät ein. Für den säkularen Trend in der geschlechtlichen Reifeentwicklung sind neben der Ernährung auch die allgemein verbesserte gesundheitliche Versorgung verantwortlich gemacht worden. Seit einigen Jahren werden soziologische Parameter wie Familiengröße (Apraiz 1999: je kleiner die Zahl der Familienmitglieder, desto früher beginnt die Pubertät) und die An- bzw. Abwesenheit des Vaters als Determinanten des Menarchealters genannt (Draper und Harpending 1982; Belsky et al. 1991; Comings et al. 2002). Der Zusammenhang zwischen väterlicher An- oder Abwesenheit und der sexuellen Reifung der Tochter wird von Belsky und seinen Mitarbeitern (1991) mit der Stressbelastung des Mädchens erklärt, das früh als Kleinkind vom Vater verlassen wurde und seine Verunsicherung durch einen frühen Pubertätszeitpunkt, sexuelle Betätigung und eigenen Nachwuchs zu stabilisieren versucht. Comings et al. (2002) suchten nach einer Erklärung dafür, wie dieser Zusammenhang zwischen väterlichem Verhalten und dem der Tochter zustande kommen kann. Sie hatten die Hypothese, dass ein bestimmtes Allel des Androgenrezeptor-Gens auf dem X-Chromosom vom Vater auf die Tochter vererbt wird, von dem relevante Verhaltensmerkmale gesteuert werden könnten. Sie entdeckten in einer Stichprobe von erwachsenen Frauen und Männern einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem AR GGC 16-Repeat-Allel des Androgenrezeptor-Gens und verschiedenen Verhaltensmerkmalen wie Aggressivität, Impulsivität und Wutanfällen und übertrugen diese Ergebnisse auf die Vater-Tochter-Beziehung. Beim Vater könnte dieses Allel in Zusammenhang mit seinem ehelichen Konfliktverhalten und dem Verlassen der Familie stehen, bei der Tochter könnte es ebenfalls zu einer geringeren Anpassung
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4
Lebenszyklus
an gesellschaftliche Normen, Impulsivität und Aggressivität führen sowie zu einer frühen Menarche, die das Ende der Kindheit signalisiert. Fast alle der eingangs erwähnten Faktoren wurden in Bezug auf den Pubertätszeitbeginn bei Jungen nicht untersucht, da das Äquivalent zur Menarche, die Ejakularche (der erste, spontane Samenerguss) kaum erfragt wurde und wird10. Im klinischen Bereich bei Jungen mit einer Pubertas tarda (Entwicklungsverzögerung) wurde jedoch als Erklärung auch ein humanbiologisch relevanter Parameter wie der Ernährungsstatus als Ursache für den verspäteten Pubertätsbeginn bei Jungen nach dem 14. Lebensjahr gefunden. Es gibt auch einen interessanten Beleg für die historische Vorverlegung des Pubertätsbeginns bei Jungen in den letzten 200 Jahren, der sich auf ein rein männliches Pubertätsgeschehen bezieht, den Stimmbruch. Von 1727 bis 1749 wurde der Stimmbruch von Chorknaben des Leipziger Thomaschors durchschnittlich mit 16 Jahren angegeben. Heute verlieren Jungen durchschnittlich bereits im Alter von 13,5 Jahren ihre Sopranstimmlage.
4.2.2.1 Hormonelle Steuerung der Pubertät Die Veränderungen der sekundären Geschlechtsmerkmale während der Pubertät werden durch die Sexualhormonausschüttung der Nebennierenrinde und der reifenden Gonaden veranlasst. Die endokrinologischen Veränderungen beginnen mit der zunehmenden Aktivität der Nebennierenrinde (NNR). Die Adrenarche ist durch kontinuierliche, wenn auch zunächst nur langsam ansteigende Serumspiegel der adrenalen Androgene Androstenedion, Dehydroepiandrosteron (DHEA) und seines Sulfats DHEAS gekennzeichnet. Sie beginnt bei Mädchen zwischen dem 6. und 8. Lebensjahr (Bing et al. 1988), bei Jungen durchschnittlich 2 Jahre später (Yanovski und Cutler 1996). Aufgrund der Stimulation durch die adrenalen Androgene findet der „mid-growth-spurt“ statt (siehe Kap. 4.1.1). Er liefert einen Beleg für die Beteiligung adrenaler Androgene (neben Östrogen bei den Mädchen und Testosteron bei den Jungen) an der Skelettreifung des Kindes. Der kontinuierliche Anstieg der DHEA- und DHEAS-Spiegel dauert ungefähr bis zum 15. Lebensjahr, dann sind die durchschnittlichen Serumwerte von Erwachsenen erreicht. Die wichtigste Zielwirkung des DHEA(-S ) besteht in der Stimulation der Pubesund Axillarbehaarung, das erste sichtbare Zeichen der Pubertät. Zusammen mit den Androgenen aus den Ovarien bzw. Testes lösen die Nebennierenrindenandrogene bei Mädchen und Jungen die Pubarche aus, bei Mädchen (Tab. 4.9) im Durchschnitt ein halbes Jahr früher als bei Jungen (Tab. 4.10). Die Adrenarche geht stets der Gonadarche (Reifung der Eierstöcke und Hoden) voraus, dennoch werden beide unabhängig voneinander initiiert. Die Adrenarche findet auch bei Individuen ohne funktionierende Gonaden (z. B. XY-Frauen mit Turner-Syndrom) statt, und auch eine vorzeitige Adrenarche führt normalerweise nicht zu einer vorgezogenen Gonadarche (Yanovski und Cutler 1996). Während es früher vermutlich als Tabuthema galt, lässt sich der Zeitpunkt der Ejakularche heute kaum mehr feststellen. Der erste Samenerguss erfolgt aufgrund der freieren Einstellung zu Masturbation im pubertären Alter in der Regel nicht mehr spontan.
10
4.2
Fortpflanzungsbiologie
Tab. 4.9 Pubertätsphasen bei Mädchen Altersmittel Ereignis in Jahren; Monaten 8;0 Hüftschweifung 9;0 Adrenarche: DHEA/DHEAS Ausschüttung der Nebennierenrinde (NNR) steigt an 11;2 Telarche: Beginn der ovariellen Östrogenausschüttun 11; 7 Pubarche: Anstieg der Androgene aus Ovar und NNR: Sexual- und Achselbehaarung beginnt 12;1 Puberaler Wachstumsschub: maximale Konzentration des IGF-1 (Insulinlike Growth Factor I) 13;5 Menarche: erste Monatsblutung durch Funktionsaufnahme der Ovarien 14;4 Brustentwicklung abgeschlossen 15;3 Schambehaarung voll entwickelt; Duftdrüsen am Genitale, Achsel, Nase, Augenlidern, Ohren und Brustwarzen voll funktionsfähig
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Altersspanne in Jahren; Monaten 7;0–9;0 8;0–10;0 9;0–13;6 9;5–14;2 10;5–14;0 11;6–15;6 12;3–16;6 11;8–18;8
Die Gonadarche hängt von der Reifung des Hypothalamus-Hypophysen-Systems ab (Box 4.4). Es beginnt mit der Aktivierung des GnRH-Pulsgenerators, der die Ausschüttung des Gonadotropin-Releasing Hormons (GnRH) aus dem Hypothalamus steigert und damit die zunehmende Hormonproduktion im Regelkreis der nachfolgenden endokrinen Organe (Hypophyse, Ovarien bzw. Testes) auslöst. Zunächst erfolgt die pulsatile GnRH-Ausschüttung aus dem Hypothalamus nur nachts, führt konsekutiv in der Hypophyse zur Ausschüttung des Luteinisierenden Hormons (LH) und des Follikel-stimulierenden Hormons (FSH) und löst damit die Pubertätsentwicklung aus. LH bewirkt die langsam einsetzende Produktion von Testosteron in den Leydig-Zellen der Hoden, und durch die stimulierende Wirkung von FSH auf die Follikelreifung in den Eierstöcken beginnt die Östrogensynthese. Anfangs wird der GnRH-Pulsgenerator nur durch die Aktivität des ZNS gesteuert; die Ovarien und Hoden sind noch unbeteiligt, da sich der positive bzw. negative Rückkoppelungsmechanismus des Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Systems erst gegen Ende der Pubertät voll ausgebildet hat. Spätestens dann zeigt die deutliche pulsatile Ausschüttung von LH die Reifung des Systems an. Box 4.4: Hormonelle Steuerung der Pubertät: Definitionen
• Gonadotropin-Releasing Hormon (GnRH): ein Peptidhormon, das vor allem im Nucleusarcuatus, aber auch von Neuronen in weiteren Arealen des Hypothalamus synthetisiert und ausgeschüttet wird. GnRH ist ein Neurotransmitter und stimuliert die Synthese und Freisetzung der Gonadotropine LH und FSH aus dem Hypophysenvorderlappen; • GnRH-Pulsgenerator: neurale Struktur (vermutlich) im Hypothalamus, die die pulsatile Ausschüttung von GnRH steuert;
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4
Lebenszyklus
• Luteinisierendes Hormon (LH): ein Gonadotropin (Glycoprotein) zur Steuerung der Ausschüttung von Sexualhormonen in den Zielzellen der Gonaden Frauen: Östradiol aus den Granulosa-Zellen des Follikels im Ovar; Männer: Testosteron aus den Leydig-Zellen des Hodens; • Follikel-stimulierendes Hormon (FSH): steuert das Wachstum der Follikel im Ovar der Frau und die Spermatogenese in den Sertoli-Zellen im Hoden des Mannes; • Progesteron: Sexualhormon der Frau, hauptsächlich gebildet durch das Corpus luteum im Ovar und von den heranwachsenden Follikeln während des LH/FSH-Anstiegs vor dem Eisprung; • Östradiol: wichtigstes Sexualhormon der Frau, gebildet von den reifenden Follikeln im Ovar; wird auch vom Corpus luteum ausgeschüttet; • Androgene: Oberbegriff für Steroidhormone, die bei Männern und Frauen die sexuelle Differenzierung von Körper und Verhalten in männliche Richtung bewirken: Testosteron, 5α-Dihydrotestosteron, Dehydroepiandrosteron und Dehydroepiandrosteron-Sulfat; • Testosteron: wichtigstes Sexualhormon des Mannes; gebildet in den LeydigZellen des Hodens; • 5α-Dihydrotestosteron: durch 5α-Reduktase von Testosteron entstandenes Sexualhormon des Mannes; • Dehydroepiandrosteron DHEA und sein Sulfat DHEAS: adrenale Androgene, gebildet in der Nebennierenrinde bei Frauen und Männern; • IGF-1: Insulin-likeGrowthFactor ist ein insulinähnlicher Wachstumsfaktor; in der Leber unter Einfluss von Wachstumshormonen aus der Hypophyse gebildet; • positive Rückkoppelung (Feedback): Kommunikation zwischen Ovar bzw. Testis und Hypophyse/Hypothalamus, die die LH- und FSH-Ausschüttung steigert; • negative Rückkoppelung (Feedback): Kommunikation zwischen Ovar (Testis) und Hypophyse/Hypothalamus, die die LH und FSH-Ausschüttung bremst. Testosteron und Östradiol bewirken bei ausreichender Sekretion der Gonaden die typischen körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die in einem festgelegten Ablauf entsprechend der endokrinen Reifung erfolgen (Tab. 4.9 und 4.10). Die Dauer der einzelnen Pubertätsphasen weist jedoch innerhalb und zwischen den Geschlechtern eine große Varianz auf, so dass die volle geschlechtliche Reife bei einigen Jungen erst mit 19 Jahren erreicht wird (Willers et al. 1996), während Mädchen in Ausnahmefällen bereits im 13. Lebensjahr die Pubertät abgeschlossen haben können (Marshall und Tanner 1969). Die Telarche, die beginnende ovarielle Östrogenproduktion, wird zunächst an der Brustentwicklung mit Knospung des Brustdrüsenkörpers bei den Mädchen sichtbar. Auch bei knapp der Hälfte der pubertierenden Jungen kommt es ebenfalls zu einer leichten Entfaltung des Brustdrüsenkörpers nach Beginn der testikulären
4.2
Fortpflanzungsbiologie
369
Tab. 4.10 Pubertätsphasen bei Jungen Altersmittel Ereignis in Jahren; Monaten 9;5 Adrenarche: DHEA/DHEAS-Ausschüttung 11;2 Beginn der Genitalentwicklung: Wachstum von Hoden, Fältelung des Skrotums und Längenwachstum des Penis 11;8 Pubertätsbeginn: mindestens 1 Hoden > 3 ml 12;4 Pubarche: Anstieg der Androgene aus Hoden und der NNR; Beginn der Sexual- und Achselbehaarung 12;10 Beginn des Peniswachstums im Umfang 13;5 Stimmbruch 14;0 Puberaler Wachstumsschub (max.IGF-1-Konzentration) 14;6 (?) Ejakularche: erste spontane Ejakulation 14;9 Penisentwicklung abgeschlossen 14;10 Schambehaarung voll entwickelt 15;3 Hodenentwicklung abgeschlossen, Duftdrüsen am Genitale, Achsel, Gesichts- und Kopfregion voll funktionsfähig Tab. 4.11 Ovulationsfähigkeit der heranreifenden Ovarien
Anovulation (%) Gelbkörperschwäche (%) Normaler Zyklus (%)
12–14a 60 30 10
Altersspanne in Jahren; Monaten 8;2–10;3 8;2–14;2 10;0–13;1 9;3–15;4 10;5–15;5 12;2–17;0 12;4–15;8 12;6–16;0 (?) 12;9–16;10 12;0–16;11 13;0–17;10
15–17a 43 40 17
18–20a 27 37 36
Androgenproduktion. Sie kann bei ihnen gelegentlich auch von einer Brustwarzenschwellung bis hin zu einer Pubertätsgynäkomastie (Vergrößerung des männlichen Brustdrüsengewebes) begleitet werden, die sich aber fast immer spontan zurückbildet. Östrogene und Testosteron bewirken auf hypophysärer Ebene einen Wachstumsschub, weil sie dort eine verstärkte Freisetzung von Wachstumshormonen auslösen und abhängig davon eine vermehrte Ausschüttung von IGF-1 ( Insulin-like Growth Factor) aus der Leber. Dieser insulinähnliche Wachstumsfaktor erreicht während des puberalen Wachstumsschubs seine maximale Konzentration, und es kann zu einer Körperlängenzunahme von bis zu 10 cm pro Jahr kommen. Der weiter steigende Sexualhormonspiegel wirkt dann auch direkt an den Knorpelwachstumszonen, so dass es schließlich zum Schluss der Epiphysenfugen und damit letztendlich zum Abschluss des Längenwachstums kommt. Gut ein Jahr nach dem puberalen Wachstumsschub erfolgt bei Jungen die Ejakularche und bei Mädchen die erste Regelblutung, die Menarche. In der Regel findet die Menarche ohne vorangegangenen Eisprung statt, erst im weiteren Verlauf der Pubertät entwickeln sich Zyklen mit Ovulation und nachfolgender Bildung des Corpus luteum (Gelbkörper). Selbst Frauen im Alter von 18 bis 20 Jahren haben erst in 36 % der Fälle einen normalen Zyklus mit Eisprung und anschließender Progesteronausschüttung aus dem Gelbkörper (Tab. 4.11). Nur so ist es möglich, dass sich eine befruchtete Eizelle in der Gebärmutterschleimhaut einnisten kann, da das
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Lebenszyklus
Endometrium ausreichend durch Progesteron aufgebaut wurde und dadurch eine erfolgreiche Schwangerschaft gewährleistet ist. Der Abschluss der Pubertät findet individuell und geschlechtsspezifisch unterschiedlich zwischen 12 und 19 Jahren statt. Er ist durch allmähliche Ausreifung der Genitalien, der Behaarung und der Duftdrüsen in der Genitalregion, Achselhöhle, an den Brustwarzen und am Kopf gekennzeichnet. Dort werden Pheromone (Sexuallockstoffe) produziert, die zur chemischen Kommunikation zwischen Individuen und letztendlich der Fortpflanzung dienen sollen. Als Störungen der Pubertätsentwicklung werden sexuelle Reifungsvorgänge bezeichnet, die deutlich früher oder später als der ohnehin zeitlich sehr variable normale Pubertätsbeginn einsetzen (Yanowski und Cutler 1996). Man spricht von Pubertas praecox bei vorzeitiger sexueller Reifung mit der Entwicklung äußerer Sexualmerkmale vor dem 8. Lebensjahr, in Extremfällen bei Mädchen und Jungen sogar bereits im Alter von 4 Jahren. Die häufigste Form der Pubertas praecox wird durch eine vorzeitige Reifung des Hypothalamus mit pulsatiler GnRH-Freisetzung ausgelöst, die ohne erkennbare Ursache erfolgt und die deshalb als idiopathische, hypothalamische Pubertas praecox bezeichnet wird. Sehr selten hingegen kann eine organisch bedingte Pubertas praecox auftreten, die durch hirnorganische Veränderungen (Hirntumor) oder durch einen Nebennierenrinden- oder Eierstocktumor mit autonomer Östrogenausschüttung (Mädchen) bzw. bei Jungen durch eine LH-unabhängige Aktivität der Leydigzellen in den Hoden (Mutation des LH-Rezeptors) verursacht werden kann (Themmen et al. 1998). Eine Pubertas tarda oder sexueller Infantilismus wird diagnostiziert, wenn sich bei Mädchen bis zum 14. Lebensjahr noch keine Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale zeigt und bis zum 16. Lebensjahr die Menarche noch nicht eingetreten ist. Bei Jungen wird von verspäteter Pubertät gesprochen, wenn nach dem 14. Lebensjahr die Hoden kleiner als 4 ml sind oder nach dem 15. Lebensjahr noch keine Schambehaarung erkennbar ist. Die bei weitem häufigste Ursache für eine Pubertas tarda ist bei beiden Geschlechtern die konstitutionelle Entwicklungsverzögerung, die ein Ausdruck der individuellen Schwankungen der Hypothalamusreifung ist. Bei Tumoren im Hypothalamus-Hypophysenbereich oder bei magersüchtigen Jugendlichen kann als Folge ein LH- und FSH-Mangel eintreten, der ebenfalls den Pubertätsbeginn verzögert bzw. verhindert. Als weitere klinische Ursachen für eine Pubertas tarda sind chromosomale Störungen zu nennen, die zu einer Insuffizienz der Eierstöcke bzw. Hoden oder sogar zu einer Gonadendygenesie führen können (siehe Kap. 4.2.1).
4.2.3
Sexualhormone und Sexualverhalten
Die vorgeburtliche sexuelle Differenzierung und die Reifungsvorgänge in der Pubertät sind unerlässliche Voraussetzungen für die Fekundität eines Menschen. Um auch fertil zu sein, sind weitere Faktoren von entscheidender Bedeutung (Abb. 4.12). Es müssen Sexualpartner vorhanden und zu einer sexuellen Partnerschaft bereit sein, es muss Geschlechtsverkehr mit einer Ejakulation stattfinden und zwar zum Zeit-
4.2
Fortpflanzungsbiologie
371
Abb. 4.12 Fekundität und Fertilität: soziale Parameter und Sexualhormone
punkt der Ovulation bei der Frau. Die Funktionstüchtigkeit der HypothalamusHypophysen-Gonaden-Achse ist für die biologischen Vorgänge der Spermatogenese beim Mann und der Eireifung bis zur Ovulation bei der Frau unerlässlich, da sie durch die Botenstoffe aus dem Hypothalamus und der Hypophyse sowie durch die Sexualhormone Testosteron, Östradiol und Progesteron aus den Hoden bzw. Eierstöcken gesteuert werden (siehe Box 4.4). Die Wirkungen von Testosteron, Östradiol und Progesteron gehen über diese rein biologischen Prozesse hinaus, denn für das sexuelle Interesse und das sexuelle Verhalten eines Menschen sind die Sexualhormone aus den Gonaden ebenfalls von Bedeutung. Sie beeinflussen die sexuelle Lust und das Sexualverhalten eines Mannes oder einer Frau. Damit bestimmen sie indirekt die Häufigkeit sexueller Betätigungen und den Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs mit, da beide Verhaltensweisen durch das Ausmaß der Libido (Sexualtrieb) eines Menschen gesteuert werden, obwohl seelische, soziale und kulturelle Faktoren ebenfalls von entscheidender Bedeutung sind. Die komplexen Steuerungsfaktoren des Sexualhormonspiegels und vor allem des menschlichen Verhaltens sorgen jedoch dafür, dass „…ein Hormon oder eine Kombination von Hormonen die Wahrscheinlichkeit erhöhen kann, dass ein bestimmtes Verhaltensmuster auftritt, aber Hormone nicht selber Verhalten auslösen können.“ (Beach 1977)
4.2.3.1 Hormonelle Steuerung des Sexualverhaltens von Frauen Der Menstruationszyklus galt lange als eine wesentliche Informationsquelle für die Wirkung von Gonadenhormonen auf das Sexualverhalten von Frauen. Ergebnisse über die Verteilung der sexuellen Aktivität und sexuellen Verlangens im Menstruationszyklus der Frau sind widersprüchlich. Die Mehrzahl der Befunde stützt nicht die Annahme, dass die sexuelle Lust und Aktivität in der Zyklusmitte zur Zeit des Eisprungs am größten ist, was biologisch sinnvoll wäre. In einer Überblicksarbeit von Sanders et al. (1983) wurden insgesamt 32 Studien zusammengefasst. In 8 Untersuchungen wurde von einem Anstieg sexueller Aktivitäten um
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4
Lebenszyklus
den Zeitpunkt der Ovulation herum berichtet, in 4 Fällen lag der Gipfel sexueller Aktivität während der Menstruation, in 18 Studien war dieser Anstieg nach der Menstruation und in 17 dieser Untersuchungen während der prämenstruellen Phase. Abgesehen von der Möglichkeit, dass Frauen in dieser Hinsicht eben unterschiedlich sind, kann man einige methodische Unzulänglichkeiten für die widersprüchlichen Ergebnisse verantwortlich machen, z. B. die verschiedenen Methoden der Identifikation von Zyklusphasen und der Verzicht auf Hormonmessungen zur exakten Identifikation des Zykluszeitpunktes. Auch wurde in kaum einer Studie zwischen dem spontanen sexuellen Verlangen einer Frau und der sexuellen Aktivität unterschieden, die von ihrem Partner initiiert wurde. Adams und Mitarbeiter (1978) berücksichtigten diesen Unterschied und fanden heraus, dass die von der Frau initiierte sexuelle Aktivität gehäuft in der Zyklusmitte zum Zeitpunkt des Eisprungs auftreten würde. Die Stichprobe dieser Studie war allerdings sehr klein, und bei diesem Untersuchungsansatz blieb offen, welches Sexualhormon für die zyklusabhängige sexuelle Aktivität entscheidend war. Da der Testosteronspiegel um den Zeitpunkt des Eisprungs am höchsten ist, wenn die Östradiolausschüttung kurz vor dem Eisprung Spitzenwerte erreicht (Ferin 1996), konnte allein mit der Erfassung des Zykluszeitpunktes nicht geklärt werden, welches Sexualhormon das Verteilungsmuster der sexuellen Aktivitäten von Frauen bedingt. In mehreren sorgfältig kontrollierten Studien wurde deshalb der körpereigene Sexualhormonspiegel der Frauen gemessen und mit verschiedenen Aspekten des sexuellen Verhaltens in Beziehung gesetzt. Es zeigen sich keine Hinweise für Auswirkungen des endogenen Östrogenspiegels auf Veränderungen des sexuellen Verlangens und Erlebens, obwohl minimale Östrogenmengen nötig sind, um normale sexuelle Reaktionen zu gewährleisten. Es gibt aber eine deutliche, testosteronabhängige Steigerung der Libido (sexuelle Lust) und des Sexualverhaltens (Überblick in Christiansen 2004). Der körpereigene Testosteronspiegel korreliert positiv mit sexuellem Interesse, dem Ausmaß der sexuellen Initiative, Erregung und Befriedigung. Auch die Stärke der Reaktion auf erotische Reize, die Koitus- und Masturbationshäufigkeit, Zahl der Sexualpartner und Häufigkeit von Sex ohne feste Bindung scheinen bei den untersuchten Frauen testosteronbedingt zu sein (Tab. 4.12). Box 4.5: Forschungsgeschichte der endokrinologischen Steuerung von Sexualität
Die ersten Forschungen über eine endokrinologische Steuerung des Sexualverhaltens wurden 1849 von dem Göttinger Physiologen A. Berthold unter dem Titel „Transplantation der Hoden“ publiziert. Berthold hatte sechs junge Hähne kastriert und reimplantierte vier von ihnen jeweils einen Hoden des Artgenossen in den Bauchraum, wo dieser eine neue Blutversorgung ausbildete und überlebte. Berthold beschreibt ihr Verhalten. „Diese 4 Hähne verrieten in ihrem allgemeinen Benehmen die Natur uncastrirter Tiere; sie krähten ganz gehörig, waren häufig untereinander und mit anderen jungen Hähnen im Kampf verwickelt, und sie äußerten die gewöhnlich Neigung zu Hühnern; auch entwickelten sich ihre Kämme und Halslappen wie bei gewöhnlichen Hähnen.“
4.2
Fortpflanzungsbiologie
373
Tab. 4.12 Sexualhormone und Sexualverhalten bei Frauen: die Bedeutung des endogenen Testosteronspiegels sowie einer Testosteron- oder Östrogensubstitution – signifikant positive Korrelationen. (Nach Christiansen 2004) Endogener Testosteronsubstitution Östrogensubstitution Testosteronspiegel Sexuelle Erregung Sexuelle Erregung Sexuelle Erregung Sexuelles Interesse Sexuelles Interesse Sexuelles Interesse Orgasmushäufigkeit Orgasmushäufigkeit Orgasmushäufigkeit Reaktion auf erotische Reaktion auf erotische Reize – Reize Koitushäufigkeit – – Masturbationshäufigkeit – – Sexuelle Initiative der Frau – – Zahl der Sexualpartner – – Sex ohne feste Bindung – – Zufriedenheit mit Sex Zufriedenheit mit Sex – – Sexuelle Phantasien – – Sexuelle Befriedigung – – Sexuelle Attraktivität des Mannes –
Über die zwei Hähne ohne implantierte Testes berichtete er, dass sie echte Kapaune wurden. Es war der erste experimentelle Nachweis für eine endokrine Funktion der Hoden und damit auch der Beginn der Endokrinologie als wissenschaftliche Disziplin. Berthold erklärte die Wirkungen der implantierten Hoden damit, dass bestimmte Substanzen (den Begriff Hormon gab es noch nicht) von den Hoden gebildet und über das Blut ins Gehirn transportiert werden, wo sie ihre Wirkung auf Verhalten ausüben würden. Zwar war der Einfluss von Kastration der Hoden auf das Verhalten bei Menschen und Tieren bereits lange vorher bekannt, doch beim Menschen ist die Variabilität der Verhaltensantworten beim Verlust der Hoden groß. Es gibt eine Vielzahl von Kastrationsstudien seit der Antike, die zeigen, dass der Verlust der Gonaden die Sexualität eines Mannes zwar auf einer rein biologischen Basis beeinträchtigt, emotionale Faktoren das Ausmaß seiner Sexualfunktionen dennoch stärker bestimmen. Kastration vor Einsetzen der Pubertät soll zu schwerwiegenden Störungen des Sexuallebens führen, wenn nicht wie heute üblich eine Hormonsubstitution durchgeführt wird. Zwischen 1920 und 1950 berichteten etliche Forscher über derartige Fälle von frühzeitiger Kastration, die mit einem Totalverlust an Libido und sexueller Funktionsfähigkeit endeten. Bei einer Kastration nach Erreichen der vollen sexuellen Reife ist es schwer vorherzusagen, wie sich das Sexualleben eines kastrierten Mannes entwickeln wird. Unser Wissen beruht nur auf den subjektiven Schilderungen der Betroffenen. Ganz generell lässt sich aufgrund dieser Einzelfallstudien sagen, dass eine graduelle Abnahme der sexuellen Potenz eintreten wird, aber durchaus nicht sofort nach dem Hodenverlust, sondern in Einzelfällen erst bis zu 30 Jahre danach, was dann vielleicht schon als natürlicher Alterungsprozess zu werten ist. Die verbleibende
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sexuelle Reaktionsfähigkeit wird möglicherweise durch die Androgene aus der Nebennierenrinde mitbedingt. Der heutige Wissensstand in der endokrinologischen Forschung erlaubt es, über den Extremfall der Kastration hinaus die Wirkungsweise von Sexualhormonen bei gesunden Frauen und Männern zu untersuchen, deren Funktionsfähigkeit der Gonaden voll erhalten geblieben ist. Seit ungefähr 30 Jahren kann aus minimalen Blut- oder Speichelproben die Konzentration der Sexualhormone spezifisch und exakt bestimmen, so dass die beobachtbare Variabilität im Sexualverhalten zu individuellen Sexualhormonwerten in Bezug gesetzt kann. Seit Ende der siebziger Jahre ist belegt, dass Sexualhormone tatsächlich elektrische und biochemische Charakteristika der Nervenzellen verändern können, wenn sie an spezifische Rezeptoren gebunden und in den Kern der jeweiligen Nervenzelle transportiert werden. Dadurch beeinflussen sie die Produktion von Enzymen und anderen Proteinen, die die hormonelle Wirkung repräsentieren. Dadurch können sie mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung die Auftretenswahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens beeinflussen (Christiansen 2004). Aussagekräftiger als die Messungen des körpereigenen Sexualhormonspiegels sind klinische Studien mit Frauen, die nach der operativen Entfernung ihrer Eierstöcke (Ovarektomie) mit Sexualhormonen substituiert werden müssen, um bei ihnen vor allem eine ausreichende Versorgung mit Östrogenen zu gewährleisten. Hier wurde deutlich, dass eine physiologische Östrogensubstitution z. B. für die Knochensubstanz, Haut und psychische Befindlichkeit wichtig ist, aber eben auch für die Sexualität. Die behandelten Patientinnen berichteten über eine Steigerung ihrer Libido, sexuellen Erregung und Interesses sowie der Orgasmushäufigkeit, sobald die Östrogenbehandlung nach der Operation einsetzte (Tab. 4.12). Bezüglich vieler Aspekte des Sexualverhaltens erwiesen sich Testosterongaben ebenfalls als positiv, die zum Ausgleich der fehlenden körpereigenen ovariellen Testosteronproduktion gegeben wurden. (Dennerstein 1980; Sherwin und Gelfand 1987; Sherwin 1991, 2002; Shifren et al. 2000). Wurde den ovarektomierten Frauen zusätzlich das Gelbkörperhormon Progesteron verabreicht, das im normalen weiblichen Zyklus nach dem Eisprung gebildet wird, wirkte es sich hemmend auf das sexuelle Erleben aus. Diese Wirkung dürfte indirekt sein, da Progesteron in den Zielzellen die Umwandlung von Testosteron zu 5α–Dihydrotestosteron negativ beeinflusst und damit die Wirkung von Testosteron auf das Sexualverhalten einschränkt bzw. unterdrückt (Dennerstein et al. 1980; Sherwin 1991). Der Progesteronanstieg dient zum Aufbau der Gebärmutterschleimhaut nach dem Eisprung, damit die Einnistung und Versorgung des Embryos optimal gewährleistet ist (siehe Kap. 4.2.5). Man könnte spekulieren, ob die negative Wirkung von Progesteron auf die Libido der Frau vielleicht auch zum Schutz des Embryos vor äußeren Einflüssen durch Sexualkontakte in der kritischen Phase der Nidation dient.
4.2.3.2 Hormonelle Steuerung des Sexualverhaltens von Männern Die Bedeutung des Testosterons für die männliche Sexualität ist unumstritten, obwohl seelische, körperliche, soziale und kulturelle Faktoren ebenso eine wichtige
4.2
Fortpflanzungsbiologie
375
Tab. 4.13 Testosteron und Sexualverhalten bei Männern: positive Wirkungen des endogenen Testosteronspiegels und der Testosteronsubstitution. (Nach Christiansen 2004) Endogener Testosteronspiegel Testosteronsubstitution Sexuelles Interesse und Phantasien Sexuelles Interesse und Phantasien – Sexuelle Erregung Spontane Erektion (nachts, morgens) Spontane Erektion (nachts, morgens) Ejakulationshäufigkeit Ejakulationshäufigkeit Sexuelle Aktivitäten mit Partnerin/Partner Sexuelle Aktivitäten mit Partnerin/Partner Orgasmushäufigkeit Orgasmushäufigkeit Koitushäufigkeit (Masturbation oder – Geschlechtsverkehr)
Rolle spielen. Augenfällig sind in der Pubertät bei jungen Männern zunehmendes sexuelles Interesse und Aktivität, die mit einem ansteigenden Testosteronspiegel assoziiert sind. Ebenso gehen nachlassendes sexuelles Interesse und Potenz älterer Männer mit absinkenden Testosteronwerten einher (siehe Kap. 4.2.8). Testosteronwerte im Blut von 3–12 ng/ml gelten als Normbereich, in dem die sexuelle Funktionstüchtigkeit eines Mannes aus endokrinologischer Sicht gewährleistet ist. Erst unterhalb von 3 ng/ml sind sexuelle Funktionsstörungen zu beobachten (Nieschlag 1979), allerdings sind sie individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt deshalb keinen absoluten Grenzwert, bei dem testosterongesteuertes sexuelles Verhalten bei einem Mann gänzlich unmöglich ist. Es kann ein relativ normales Muster körperlicher sexueller Reaktionen – mit Ausnahme der Ejakulation – auch ohne normalen Androgenspiegel bestehen bleiben. Der Unterschied zwischen hypogonadalen und eugonadalen Männern dürfte hauptsächlich in der Motivation liegen, aktiv sexuelle Stimulation zu suchen und in der damit verbundenen Libido. Selbst eine Kastration führt nicht unweigerlich dazu, dass ein Mann keine Erektionen und keinen Geschlechtsverkehr mehr haben kann (siehe Box 4.5). Eindeutige Belege für die Rolle des Testosterons als wichtigster biologischer Faktor für die Ausbildung und Aufrechterhaltung männlichen Sexualverhaltens liefern vor allem klinische Studien, die zumeist an Männern mit Hodenunterfunktion (Hypogonadismus) und einem dadurch deutlich erniedrigten Testosteronspiegel durchgeführt wurden. Die Ergebnisse zeigen eindeutig (Tab. 4.13), dass sich bei diesen Patienten die Substitution mit Testosteron auf die Frequenz fast aller sexuellen Verhaltensmerkmale bis auf die Orgasmushäufigkeit positiv auswirken kann (Literaturüberblick in Christiansen 2004). Bei eugonadalen Männern mit Testosteronwerten im Normbereich ließ sich hingegen eine Steigerung des Sexualverhaltens durch zusätzliche Testosteronsubstitution nur schwer nachweisen. Es konnte zwar eine Steigerung des sexuellen Interesses bei Männern erreicht werden, die wegen einer sexuellen Störung in Behandlung waren. Eine weitergehende Wirkung, etwa eine Zunahme der sexuellen Kontakte mit der Partnerin, konnte nicht erzielt werden. Selbst supraphysiologische Testosterongaben zur Erprobung der Kontrazeption beim Mann steigerten lediglich das sexuelle Interesse und die Erregbarkeit der Männer, nicht aber ihr sexuelles Verhalten wie Masturbation, morgendliche Erektionen und Geschlechts-
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verkehr (Anderson et al. 1992; Bagatell et al. 1994). Es ist allerdings zu bedenken, dass es nicht eindeutig nachgewiesen ist, ob eine künstliche Erhöhung des Testosteronspiegels bei eugonadalen Männern nicht doch eine Wirkung auf die verschiedenen Parameter des Sexualverhaltens ausüben würde – wenn sich der Testosteronspiegel durch Hormongaben beliebig erhöhen ließe. Mit steigendem Testosteronspiegel wird es nämlich immer schwieriger, den endogenen Androgenspiegel zu beeinflussen, da die starken homöostatischen Mechanismen dazu führen, dass bei zunehmenden Testosterongaben entweder die endogene Testosteronproduktion gebremst oder die Abbaurate des Testosterons erhöht wird. So stellten Benkert et al. (1979) fest, dass bei eugonadalen Männern mit geringer oder fehlender Erektionsfähigkeit der Testosteronspiegel nach Hormoninjektionen nicht anstieg und diese damit therapeutisch wirkungslos bleiben mussten. Obwohl für eine normale männliche Sexualität eine wesentlich geringere Menge als die im Normalfall verfügbare Androgenkonzentration nötig ist, zeigt sich auch im Bereich normaler Testosteronwerte, dass das Sexualverhalten mit der absoluten Höhe des Androgenspiegels variiert. In einer schwedischen epidemiologischen Untersuchung (Nilsson et al. 1995) an fast 500 Männern gleichen Alters hing ein geringes sexuelles Interesse mit einem ebenfalls niedrigen freien11 Testosteronspiegel zusammen. In einer weiteren Studie an gesunden jungen Männern ohne Androgendefizit oder Sexualstörungen korrelierte die Testosteronkonzentration im Blut signifikant positiv mit der Orgasmushäufigkeit in einem Zeitraum von 48 Stunden nach der Blutentnahme (Knußmann et al. 1986). Dieses Ergebnis galt für die Gesamtstichprobe, während bei den intraindividuellen Korrelationen (jeweils sechs Hormonwerte und Verhaltensmaße pro Person) zwar überwiegend ebenfalls ein positiver Zusammenhang bestand, aber bei einzelnen Männern auch ein signifikant negativer Zusammenhang zwischen Testosteronwert und nachfolgender sexueller Aktivität oder keine Korrelation bestanden. Das könnte die uneinheitlichen Ergebnisse etlicher anderer Studien erklären, die ebenfalls positive, negative oder überhaupt keinen Zusammenhang zwischen Testosteronwert und Koitushäufigkeit bei eugonadalen Männern aufzeigen.
4.2.3.3 Einfluss von Sexualverhalten auf den Testosteronspiegel Nicht nur Hormone beeinflussen Verhalten, sondern sexuelles Verhalten und Erleben kann ebenso deutlich den Testosteronspiegel verändern (Literaturhinweise in Christiansen 2004). Als erstes erschien zu diesem Aspekt in der Zeitschrift Science (Anonymous 1970) eine viel zitierte Arbeit eines ungenannten Wissenschaftlers, der berichtete, dass vor der Rückkehr von einer einsamen Insel bereits intensive Gedanken an den sexuellen Kontakt mit seiner Partnerin zur Erhöhung seines Androgenspiegels führten. Er schloss das aus seinem vermehrten Bartwuchs an diesen Tagen, der vom Androgen Dihydrotestosteron gesteuert wird. Nach dieser Arbeit erschien eine Reihe von weiteren Studien, in denen verschiedene Parameter sexuellen Erlebens wie sexuelle Anregung, Erregung, Masturbation und Koitus mit und ohne Or11 Bioverfügbares Testosteron, das im Blutserum nicht an das Trägereiweiß SHBG (Sexualhormon bindendes Globulin) gebunden ist.
4.2
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gasmus untersucht wurden. Generell ließ sich zeigen, dass jede Form sexueller Betätigung den Sexualhormonspiegel von Männern messbar beeinflussen kann, auch wenn psychische Faktoren diesen Zusammenhang erheblich modifizieren können. Fast alle Untersuchungen fanden an Männern statt, bei denen sich Veränderungen des Testosteronspiegels nach einem Orgasmus und Ejakulation vielfach nachweisen ließen, sich aber als besonders anfällig für psychische Begleitprozesse zeigten. Dies führte je nach emotionaler Beteiligung eines untersuchten Mannes zu unterschiedlichen Resultaten, die es nicht erlauben, generell die hormonelle Reaktion auf Koitus und Masturbation für eine Untersuchungsstichprobe oder einen bestimmten Mann vorherzusagen, da auch noch intraindividuell kognitive und emotionale Faktoren von Mal zu Mal einen anderen Einfluss ausüben können. Messbare Reaktionen der Hypophysen-Gonaden-Achse auf sexuelle Erlebnisse treten bei Männern auch nach sexueller Aktivität ohne Orgasmus (Petting) und nach sexueller Anregung ohne sexuelle Handlungen auf, wie z. B. durch attraktive Frauen und Männer, erotische Fotos und Sexfilme (Überblick in Christiansen 2004). Dass bereits sexuelle Anregungen zu einer Erhöhung des Testosteronspiegels führen, ist biologisch durchaus sinnvoll, um den männlichen Organismus auf einen Koitus vorzubereiten. Die hormonelle Reaktion kann erstaunlich schnell bereits nach 10 bis 15 min erotischer Stimulation durch einen Sexfilm auftreten (Hellhammer et al. 1985), vermutlich aufgrund einer erhöhten arteriellen Durchblutung der Hoden und zwar unabhängig von einer verstärkten LH-Ausschüttung der Hypophyse (siehe Box 4.5). Lediglich eine Untersuchung beschäftigte sich mit der Wirkung von sexuellem Verhalten auf den Sexualhormonspiegel bei Frauen. Dabbs und Mohammed (1992) entdeckten einen signifikanten Testosteronanstieg bei Frauen nach einem Koitus im Vergleich zum vorher gemessenen Basiswert. Welche physiologischen Mechanismen zu dem höheren Testosteronspiegel geführt haben, diskutieren die Autoren allerdings nicht.
4.2.4
Evolutionsbiologische Aspekte der Fertilität
Sexuelle Fortpflanzung und sexuelle Differenzierung sind eine Grunderscheinung des Lebens. Die biologische Bedeutung der Sexualität ist für alle Organismen einheitlich: Die im Laufe der Bildung von Keimzellen auftretende Reduktionsteilung in der Meiose und die Verschmelzung von Samenzelle (Spermium) und Ei zur Zygote (siehe Kap. 4.2.5) führen zu einer Trennung und Rekombination der auf den Chromosomen lokalisierten väterlichen und mütterlichen Erbanlagen. Sexualität ist damit eine Voraussetzung für die Veränderlichkeit der Organismen und die Grundlage ihrer Anpassungsfähigkeit an die Umwelt. Die Sexualität hat sekundär dazu geführt, dass im Laufe der Evolution getrennte Geschlechter hervorgebracht wurden, die jeweils einen andersgeschlechtlichen Partner zur Vermehrung benötigen. Vor rund 600 Mio. Jahren war die Entstehung einer neuen Generation durch asexuelle Fortpflanzung die allgemein verbreitete Form. Bei der Agamie, der mitotischen Zellteilung bei Einzellern (z. B. Bakte-
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rien, Amöben), enthalten die Tochterzellen exakte Kopien der genetischen Information der elterlichen Zelle; nur Mutationen schaffen Veränderungen im Genom. Ungeschlechtliche Fortpflanzung durch Knospung existiert auch bei vielzelligen Tieren (Metazoen); das neue Individuum stammt von mehreren elterlichen Zellen ab. Bei der Parthenogenese entwickelt sich der Embryo aus einem unbefruchteten Ei, und es wird bei dieser unisexuellen Fortpflanzung kein genetisches Material ausgetauscht (Wehner und Gehring 1995). Bei der asexuellen Fortpflanzung ist das Individuum nicht auf Partner angewiesen, aber die Nachkommen sind genetisch mit vorangegangenen Generationen weitgehend identisch. Bei der sexuellen Fortpflanzung kommt es hingegen zu einer nahezu beliebigen Durchmischung der genetischen Information. Es müssen aus den diploiden Körperzellen haploide Keimzellen gebildet werden, da sonst in den nachfolgenden Generationen jeweils eine Verdoppelung der Chromosomenzahl erfolgen würde. Beim Menschen mit 22 Autosomen-Paaren und den Geschlechtschromosomen X und Y ergäben sich theoretisch für jede Keimzelle mehr als 8 Mio. mögliche Kombinationen der Genverteilung. Der Vorteil der sexuellen gegenüber der asexuellen Vermehrung ist die Rekombination der genetischen Information und dadurch die Steigerung des Evolutionstempos für die Weiterentwicklung der Lebensformen. Allerdings tauchen durch die Notwendigkeit zweier Elternteile auch neue Probleme auf: ein passender Sexualpartner/Sexualpartnerin muss gefunden sowie eine Kommunikation und Synchronisation des sexuellen Verhaltens erfolgen. Die Evolution der sexuellen Vermehrung führte zu einem Sexualdimorphismus in körperlichen Merkmalen und im Verhalten der Partner, der sich in verschiedenen Merkmalen manifestiert hat. • Die Anisogamie (Vielgestaltigkeit von Keimzellen) erwies sich als optimale Strategie für die Reproduktion. Es entwickelten sich zwei Morphen. Es gibt Spermatozoen als Keimzellen an der unteren Größengrenze mit geringem Nährstoffgehalt bei gleichzeitiger Steigerung der Gametenanzahl, um die Trefferwahrscheinlichkeit zu erhöhen. Die zweite Keimzellform, das Ei, evoluierte bis an die obere Größengrenze, hat einen hohen Nährstoffgehalt, dafür aber eine geringe Beweglichkeit. • Der Gonochorismus (Zweihäusigkeit) soll den Vorteil der biparentalen Fortpflanzung erhalten, da so die Gefahr der Selbstbefruchtung ausgeschlossen ist. Ein Individuum kann sich allein nicht vermehren, da es auf die Keimzelle eines zweiten Organismus angewiesen ist. • Die Organdifferenzierung der Genitalien erwies sich als vorteilhaft, da die Verlegung der Befruchtung in den ovaproduzierenden, weiblichen Organismus möglich wurde und dadurch die „wertvollere“ Eizelle geschützt werden konnte. • Der Sexualdimorphismus im engeren Sinne betrifft anatomische Merkmale bei weiblichen und männlichen Individuen, die nicht direkt in Beziehung zum Akt der Fortpflanzung stehen. Diese Merkmale12 haben den Zweck, den jeweiligen 12 Beispiele sind das Hirschgeweih, die Löwenmähne, Federfärbung und Gesang bei Vögeln sowie Muskelmasse, Stimmlage und Körperbehaarung beim Mann; Körperbauproportionen wie die Tailleneinziehung und der geschlechtsspezifische waist-to-hip-ratio (Björntorp 1991), Brüste, ein prozentual hoher Anteil an Unterhautfettgewebe bei der Frau.
4.2
Fortpflanzungsbiologie
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andersgeschlechtlichen Sexualpartner anzulocken und zu beeindrucken, sollen aber auch dazu dienen, Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Die körperlichen Fähigkeiten des Menschen werden bei intrasexuellen Auseinandersetzungen um Geschlechtspartnerinnen oder um Ressourcen (Besitz, Nahrung) durch Verhaltensmerkmale wie Kampfbereitschaft und Aggression ergänzt (McFarland 1989). Die intrasexuelle Selektion hat beim modernen Menschen – wenn auch im Vergleich mit rezenten Primaten und fossilen Hominoidea – zu einem moderaten Sexualdimorphismus des Körpergewichts und der Eckzahngröße geführt. Diese Entwicklung beruht nicht allein auf der intrasexuellen Konkurrenz bei männlichen Primaten, sondern ist unabhängig davon auch durch Veränderungen bei weiblichen Primaten bedingt (Plavcan 2001). Die Selektion begünstigt die Individuen, die in der Lage sind, ihren Fortpflanzungserfolg im Vergleich zu Artgenossen zu erhöhen. Das kann auf zwei Wegen geschehen: Während es bei der intrasexuellen Selektion um den Zugang zum Gegengeschlecht geht, spielt bei der intersexuellen Selektion die Auswahl eines optimalen gegengeschlechtlichen Partners für die Zeugung und Aufzucht von Nachwuchs eine Rolle. Bei der Wahl des richtigen Geschlechtspartners ist es für weibliche Primaten besonders wichtig, auf die Qualität des Sexualpartners zu achten, da ihr Aufwand an Zeit und Ressourcen durch Schwangerschaft, Laktation und Fürsorge für das Kind erheblich größer als der des Männchens ist, der nur in die Kopulation investiert. Trivers (1972) brachte als erster die sexuelle Konkurrenz mit der Investition in die Nachkommenschaft in Verbindung. Er verwendete den Ausdruck elterliches Investment ( parental investment) für den Aufwand an Zeit und Ressourcen, der für die Aufzucht eines Nachkommen geleistet wird. Bei Säugetieren einschließlich des Menschen ist das weibliche das stärker in die Fortpflanzung investierende Geschlecht und muss deshalb bei der Auswahl des Sexualpartners wählerischer sein als ein Männchen. Für weibliche Individuen sind beim Menschen für die Frau folgende Eigenschaften bei der Partnerselektion von Bedeutung: • Der Mann bietet der Frau wertvolle Ressourcen an, z. B. einen hochwertigen materiellen Besitz, den er allein kontrolliert. • Er bietet sich als guter Verteidiger und Ernährer der künftigen Nachkommen an. • Er wirbt mit Signalen, die bei der Frau als Indikatoren für seine genetische Qualität gelten. • Für Männer ist im Sinne ihres Reproduktionserfolges die Anzahl und Fruchtbarkeit der Fortpflanzungspartnerinnen wichtiger als ihr zeitliches und körperliches Investment in „Brutpflege“-Leistungen. Wenn Männer in Nachwuchs investieren sollen oder wollen, streben sie nach Vaterschaftssicherheit und versuchen durch Kontrolle des Weibchens („mate guarding“) dafür zu sorgen. Buss (1989) untersuchte in einer vergleichenden Studie bei Menschen aus 37 Kulturen die praktische Umsetzung der postulierten Reproduktionsstrategien von Trivers (1972). Für Frauen sind nach dem Modell von Buss die Abschätzung des männlichen Investionspotentials und die langfristige Sicherung des väterlichen
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Tab. 4.14 Geschlechtsspezifische Reproduktionsstrategien bei der Partnerwahl. (Buss 1989) 1.ErstrebenvonRessourcen In 36 von 37 Kulturen bewerten Frauen gute finanzielle Aussichten, Fleiß und Ehrgeiz des Partners höher als Männer bei ihrer Partnerin (Ausnahmen: Zulus, Spanier, Kolumbianer) 2.FruchtbarkeitundReproduktionswert In allen Kulturen wollen Männer jüngere Frauen, und Frauen wollen ältere Männer • Männer wollen durchschnittlich 2,66 Jahre jüngere Frauen • Frauen wollen durchschnittlich 3,42 Jahre ältere Männer • Tatsächlich gefundene Differenz ist 2,99 Jahre (Ausnahme Nigeria mit über 6 Jahren wegen häufig praktizierter Polygynie) 3.Vaterschaftssicherheit • In 62 % der Stichproben zeigte sich, dass die sexuelle Unberührtheit der Frau wichtiger ist als die des Mannes. Allerdings gab es Länder, in denen die sexuelle Unberührtheit von Frauen und Männern gleichermaßen gewünscht wird.
Investments in die gemeinsamen Nachkommen wichtig. Bei Männern lauten die Strategien: Monopolisieren von Frauen, häufiger Partnerinnenwechsel, Wahl einer fekunden Sexualpartnerin, die mit ihm ein Kind zeugen, es austragen und lebend gebären kann sowie Streben nach Vaterschaftssicherheit bei seiner Investition in den Nachwuchs. Als first-pass-Filter bezüglich des Fertilitätsstatus einer Frau bietet sich für Männer die Einschätzung des Taille-Hüfte-Verhältnisses einer Frau als Anhaltspunkt zur Beurteilung ihrer aktuellen Reproduktionsfähigkeit: Gibt es eine eventuell schon bestehende Schwangerschaft oder stattdessen Empfängnisbereitschaft und Fruchtbarkeit bei der Frau (Furnham et al. 2004)? Die Ergebnisse von Buss’ (1989) empirischer Befragung bestätigten weitgehend seine Hypothesen zur Partnerwahl (Tab. 4.14). Der Mechanismus der Verwandtenerkennung anhand von körperlichen Merkmalen ermöglicht es dem Menschen, sein soziales, sexuelles und fürsorgliches Verhalten gegenüber genetischen Verwandten im Vergleich zu Nichtverwandten entsprechend zu modifizieren. In der Studie von Platek et al. (2004) betonten alle befragten jungen Mütter zur Sicherung der väterlichen Fürsorge für das neugeborene Kind, dass ihre neugeborenen Söhne und in geschlechterneutralen Merkmalen auch die Töchter dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten seien – im Gegensatz zu unabhängigen Beurteilern, die nur bei einem Drittel eine Ähnlichkeit des neugeborenen Säuglings mit dem Vater feststellten. Erst ab dem Kleinkindalter von 2–3 Jahren nimmt die Ähnlichkeit der Gesichtszüge zwischen Sohn und leiblichem Vater kontinuierlich zu. Das Ausmaß der Asymmetrie des elterlichen Investments von Mutter und Vater ist ein grundlegendes Merkmal der sexuellen Fortpflanzung. Da die elterliche Fürsorge für den Nachwuchs erheblicher materieller und nichtmaterieller Ressourcen bedarf, ist es für den Mann wichtig, die Gewissheit zu haben, dass er in seinen leiblichen Nachwuchs investiert (Anderson et al. 2007). Während Frauen durch die naturbedingte interne Befruchtung sich ihrer Mutterschaft sicher sein können, bleibt für den Mann nach Geburt des Kindes vor allem die Möglichkeit
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Fortpflanzungsbiologie
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nach Ähnlichkeiten seiner angeborenen körperlichen Merkmale mit denen des gemeinsamen Kindes zu suchen (Apicella und Marlowe 2007). Die Arbeitsgruppe um Platek konnte auch mittels funktioneller MRT einen Geschlechterunterschied bei der zerebralen Reaktion auf die Ähnlichkeit eines Kindergesichtes mit dem der Testperson nachweisen. Männer zeigten eine signifikant stärkere Aktivierung des links frontalen Kortex bei Betrachtung des Kindergesichtes, welches ihrem eigenen ähnelt. Dies weist auf einen neurokognitiven Prozess hin, der die Inhibition negativer Reaktionen der männlichen Betrachter bewirkt (Platek und Keenan 2005). Dieses Ergebnis unterstützt die Hypothese von Daly und Wilson (1982), das für Männer väterliches Investment durch Vater-Kind-Ähnlichkeit gesteigert wird. Der Aspekt der Vaterschaftssicherheit spielt für den Mann nicht nur nach Geburt eines Kindes, sondern ebenso unbewusst für die Auswahl einer Geschlechtspartnerin eine Rolle. Da die Augenfarbe eines Menschen auf einem dominant-rezessiven Erbgang beruht, kann sie einen sichtbaren Hinweis für die Abstammung eines Kindes liefern. Sind beide Elternteile blauäugig, wird ihr Kind ebenso blaue Augen haben. Sollte bei zwei blauäugigen Partnern das Kind braunäugig sein, ist dies für den Mann Hinweis darauf, dass er als genetischer Vater nicht in Frage kommt. Laeng et al. (2007) konnten mit ihrer Studie nachweisen, dass blauäugige Männer tatsächlich signifikant häufiger blauäugige Frauen attraktiver einstuften als braunäugige Frauen. Bei einer umfangreichen Befragung zu bestehenden romantischen Beziehungen ergab sich wiederum, dass blauäugige Männer besonders häufig mit Frauen gleicher Augenfarbe liiert waren. Diese Bevorzugung von blauäugigen Frauen bewerteten die Autoren als Strategie zur Minimierung der Vaterschaftsunsicherheit des Mannes. Vaterschaftssicherheit kann auch für die Großelterngeneration von erheblicher Bedeutung sein (Laham et al. 2005). In einer Befragung von 787 australischen Studenten und Studentinnen zeigten sich deutlich entsprechende Unterschiede in Bezug auf das Investment in Enkelkinder durch den väterlichen Großvater: • Sein emotionales und finanzielles Engagement fiel signifikant geringer bei den Kindern seines Sohnes im Vergleich zu den Enkelkindern seitens seiner Tochter aus. • Es zeichnete sich bei den Befragungen von fast 800 weiblichen und männlichen Studenten auch eine klare Hierarchie im Ausmaß des großelterlichen Investments in die befragten Studenten und Studentinnen ab: nach ihren Angaben zeigten die Großmütter mütterlicherseits im Durchschnitt das größte Engagement für ihre Enkel, gefolgt von Großmüttern väterlicherseits. Es folgen die Großväter mütterlicherseits und schließlich die Großväter väterlicherseits, wobei letzte im Vergleich sogar signifikant am wenigsten in ihre Enkelkinder investierten. Laham et al. (2005) prägten dafür den Begriff der „Preferential Investment Hypothesis“, nach der Differenzen im großelterlichen Engagement für verschiedene Enkel entstünden, je nachdem ob es sich um Kinder eines ihrer Söhne oder ihrer Töchter handelt. Die Autoren erklärten sich die gefundenen Präferenzen für die Kinder einer Tochter im Vergleich zu den Kindern eines Sohnes mit der höheren „Großvaterschaftssicherheit“. Sie formulierten dementsprechende Hypothesen über das großelterliche
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Engagement in Bezug auf Enkelkinder und stellten mit ihrer empirischen Untersuchung in Australien (New South Wales) tatsächlich fest, dass Großeltern mütterlicherseits den Enkelkindern emotional im Durchschnitt enger verbunden sind als die Großeltern väterlicherseits. Sie erklärten ihr Ergebnis damit, dass letzte nicht mit Gewissheit davon ausgehen könnten, dass die Kinder ihres Sohnes auch tatsächlich ihre leiblichen Enkel sind.
4.2.4.1 Partnerwahl Die menschliche Partnerwahl beruht auf einem Zusammenspiel unterschiedlicher Reize und Bewertungsstrategien. Besonders einflussreich sind optische Reize, gefolgt von akustischen und olfaktorischen Reizen. Die Evolutionsbiologen Frederick und Haselton (2007) stellten die Hypothese auf, dass extrem ausgebildete sekundäre Geschlechtsmerkmale (z. B. der Pfauenschwanz, die üppige Löwenmähne) einen Hinweis auf die Qualität der genetischen Ausstattung liefern, die direkt den reproduktiven Erfolg eines männlichen Tieres steuern. Auch bei Menschen liefern stark ausgebildete sekundäre Geschlechtsmerkmale einen Hinweis auf unsere Partnerwahlpräferenzen. Für Frauen sind eine überdurchschnittliche Körperhöhe, eine besonders kräftige Muskulatur sowie maskuline Gesichtszüge des Mannes wichtiger Hinweis auf seine genetische Ausstattung und Überlebensfähigkeit, die neben der männlichen Ausprägung des Körpers ebenfalls seinen reproduktiven Erfolg mit beeinflussen können. Ein maskulines Gesicht des Mannes gilt als Zeichen für seine Qualität als Sexualpartner und als Marker für seine körperliche Gesundheit (Rhodes et al. 2003). In mehreren Studien wurde der Einfluss des Menstruationszyklus der Frau auf die Bewertung der Attraktivität von männlichen Gesichtszügen nachgewiesen (PentonVoak und Perrett 2000), allerdings konnte dieser Zusammenhang nur bei Frauen gefunden werden, die keine hormonellen Kontrazeptiva einnahmen und nicht schwanger waren. Interessanterweise korreliert die Präferenz für besonders männliche Attribute mit dem reproduktiven Status der Frau. Little et al. (2010) zeigten, dass dieser Effekt signifikant stärker bei prämenopausalen als bei menopausalen Frauen ist. Als Stimuli wurden gemorphte Fotos von Männern verwendet, die so verändert wurden, dass das Gesicht eines Mannes den Probandinnen in einer femininen und maskulinen Version zur Bewertung vorgelegt werden konnte. Die Präferenz für maskuline Gesichter war bei präpubertierenden Mädchen am geringsten, gefolgt von den Frauen ab 46 und den 15–20 Jährigen. Die stärkste Bevorzugung für maskuline Gesichter zeigte die Gruppe der 26–45jährigen Frauen. Körperlich attraktive Frauen werden von Männern eher als gesund und fertil eingeschätzt und werden als Partnerin bevorzugt (Mathes et al. 2005). Das Körpergewicht hat interkulturell unterschiedliche Wirkungen auf die Attraktivitätsbewertung einer Frau (Marlowe und Wetsman 2001; Swami et al. 2009). Ein höherer Körperfettanteil wird besonders in Gesellschaften mit Subsistenzwirtschaft bevorzugt, die ein größeres Risiko für Nahrungsmangel haben (Anderson 1992). Nicht nur der Körperfettanteil bei Frauen, sondern auch das geschlechtsspezifische Verteilungs-
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muster des Fettdepots ist wichtiger Stimulus bei der Partnerwahl eines Mannes. Östrogene stimulieren vor allem die Fetteinlagerung auf Oberschenkel, Hüfte und Gesäß, so dass der Waste-to-Hip-Ratio (WHR) ein guter Indikator für die feminine Fettverteilung und Fertilität der Frau ist. Da sich außerdem die deutliche Tailleneinziehung bei der Frau bereits im ersten Trimenon der Schwangerschaft verringert, bevorzugen Männer in fast allen westlichen Kulturen, aber auch in asiatischen und afrikanischen Ländern, einen niedrigen Taille-Hüft-Index um 0,7 (e.g. Sugiyama 2004), der sowohl den Hormonstatus als auch die Fekundität der Frau signalisiert. Westliche Frauen mit normalem WHR (0,67–0,80) zeichnen sich zudem durch ein geringes Risiko für primäre Infertilität, Herz-Kreislauferkrankungen und Malignome aus, unabhängig von ihrem Körperfettanteil (Björntorp 1988; Canoy et al. 2007, Arslan et al. 2010). Die Forschungsgruppe um Little untersuchte den Einfluss der Gesichtssymmetrie auf die Partnerwahl. Dafür untersuchte er zwei Populationen: Ursprünglich lebende Hadzda-Jäger und -Sammler aus Tansania und Europäer aus Großbritannien. In beiden Untersuchungsgruppen zeigte sich eine signifikante Bevorzugung von symmetrischen Gesichtern, wobei diese bei den Hadzda insgesamt stärker war. Dabei legten die erfolgreichen Hadzda-Jäger und schwangere oder stillende HadzdaFrauen besonders großen Wert auf dieses Attribut. In Übereinstimmung mit einer australischen Studie zur Gesichtssymmetrie von Rhodes und Simmons (2007) resümierte Little (2008), dass Symmetrie ein evolutionär relevantes Merkmal ist, welches genetische Qualität und Gesundheit signalisiert und bei ursprünglich lebenden Populationen mit höherer Mortalität von größerer Bedeutung ist als in westlichen Kulturen. Eine aktuelle Studie von Burriss et al. (2011) untersuchte eine Gruppe westeuropäischer heterosexueller Paare und konnte ebenso eine Präferenz für symmetrische Gesichtszüge im Sinne eines assortativemating erkennen: Männer und Frauen wählen (unbewusst) einen Partner mit ähnlich hoher Symmetrie. In einer norwegischen Studie (Scheib et al. 1997) über evolutionspsychologische Aspekte weiblicher Partnerwahlkriterien wurden 44 heterosexuelle Studentinnen im Alter von 20–29 Jahren befragt, von denen zwei Drittel noch Singles waren. Die jungen Frauen wurden entweder nach ihren Auswahlkriterien für einen Mann als Ehepartner bzw. als hypothetischen Samenspender befragt. Es zeigte sich, dass die von den Frauen als mäßig bis stark erblich eingeschätzten körperlichen Merkmale (maskulines Aussehen, Gesundheit und körperlicher Zustand) bei der Auswahl eines anonymen Samenspenders zur „künstlichen“ Befruchtung (In-vitro-Fertilisation) wichtiger waren als bei der Wahl eines langjährigen Partners, bei dem die befragten Frauen vor allem die charakterliche Eignung des Mannes als entscheidende Eigenschaft für die geplante Partnerschaft und eine mögliche Elternschaft bewerteten. Die menschliche Stimmlage ist ein geschlechterdifferentes Merkmal, das in der Partnerwahl und bei der männlichen Hierarchiebildung eine bedeutende Rolle spielt. Während der Pubertät wachsen die Stimmbänder der Jungen durch den steigenden Testosteronspiegel. Die tiefe Stimmlage signalisiert die gereifte hormonelle Maskulinität eines heranwachsenden Mannes und gilt bei erwachsenen Männern als
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ein Dominanzsignal. Der Sprecher mit einer tiefen Stimme wird zumeist von anderen Männern auch als besonders dominant eingeschätzt. Vor allem in ursprünglich lebenden Populationen sind diese Männer zumeist auch reproduktiv erfolgreicher (Puts et al. 2006, 2007; Apicella et al. 2007; Wolff und Puts 2010). Lange galten vor allem visuelle und akustische Reize als die entscheidende Variable für die Partnerwahl des Menschen. Erst die Untersuchungen von Kohl et al. (2001) deuteten an, dass die Bedeutung des menschlichen Geruchssinnes für die Partnerwahl bis dahin allgemein unterschätzt worden war. Etliche Studien zeigen, dass olfaktorische Reize, bewusst und unbewusst, einen entscheidenden Einfluss auf das menschliche Reproduktionsverhalten haben können. Es sind schon geringe olfaktorische Stimuli ausreichend, um eine spezifisch negative oder positive Reaktion auszulösen (Tirindelli et al. 2009). Geruchsreize können beim Menschen unbewusste emotionale Antworten generieren, da das olfaktorische System Signale nicht nur an den Neokortex zur bewussten Weiterverarbeitung der Information, sondern auch an das limbische System sendet. Dieses erzeugt unsere Emotionen durch die Verbindung der wahrgenommen Geruchsreize mit den dazu gehörigen spezifischen Erinnerungen an die erlebten Situationen. Pheromone sind Moleküle, die als chemische Signale der intraspezifischen Kommunikation dienen und die als „Ekto-Hormone“ bezeichnet werden – chemische Botenstoffe, die von einem Individuum unbewusst in ihre Umgebung abgegeben werden und bereits in kleinsten Mengen im Zielorganismus wirksam werden. Wenn sie von einem „Absender“-Individuum derselben Art stammen, können im Zielorganismus eine spezifische, physiologische Reaktion, eine entwicklungsphysiologische Determination oder eine Verhaltensantwort ausgelöst werden. Pheromone werden auch beim Menschen je nach ihrer Funktion bzw. Wirkung in zwei Kategorien eingeteilt: 1. Primerpheromone stimulieren keine direkte Verhaltensantwort, sondern induzieren eine physiologische Veränderung beim Empfänger, indem sie endokrine Folgereaktionen auslösen. Deren Wirkung führt zu Verhaltensveränderungen des Zielorganismus mit zeitlicher Verzögerung: Primerpheromone bewirken eine längerfristige und somit langsamere physiologische, endokrine bzw. neuroendokrine Reaktion mit hormonellen Veränderungen, die mit einer zeitlichen Verzögerung auftreten und über einen Tag oder Wochen zu beobachten sind. 2. Releaserpheromone, die in ihrer Wirkung eine direkte Verhaltensantwort stimulieren und in wenigen Sekunden oder Minuten eine Veränderung des nervösen Systems bewirken: • anziehende Wirkung auf Menschen des anderen Geschlechts, • Zurückweisung von Individuen desselben Geschlechtes, • Etablierung der Mutter-Kind-Bindung, • Anpassung des weiblichen Menstruationszyklus. (McClintock 1971; 1984) Die Zyklussynchronisation wurde experimentell mit geruchslosen Achselschweißproben von anderen Frauen durchgeführt, die während der Follikel- bzw. ovulatorischen Zyklusphase gewonnen wurden. Zwei der meistzitierten Studien über den Einfluss von Pheromonen für die Partnerwahl waren die von Cutler et al. (1998) und McCoy und Pitino (2002). Beide
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Arbeitsgruppen verwendeten ein doppelblind-placebokontrolliertes Studiendesign für die Untersuchung der Wirkung synthetischer Pheromone auf das soziosexuelle Verhalten junger Männer und Frauen. Beide Geschlechter zeigten nach Applikation der Pheromone des eigenen Geschlechts eine gesteigerte sexuelle Aktivität. Da insbesondere bei der weiblichen Versuchsgruppe die Masturbationshäufigkeit nicht zunahm, wurde der Effekt der Pheromone nicht als Veränderung der sexuellen Motivation der Testpersonen gewertet. Vielmehr fungieren die Pheromone als ein sexueller Lockstoff, der nicht den „Sender“ sondern den „Empfänger“ beeinflusst. Das führte bei den Empfängerinnen dazu, dass sie ihren laufenden Zyklus (Cutler et al. 1986; McClintock 1971) veränderten. Frauen reagieren in Abhängigkeit vom Zykluszeitpunkt allerdings unterschiedlich auf männliche Pheromone. Der Geruch des Androstenons, die vorherrschende Geruchskomponente des männlichen Axelschweißes, wird von Frauen zum Zeitpunkt der Ovulation als angenehmer gewertet als während des restlichen Zyklus (Grammer 1993). Allerdings beschränkt sich dieser Effekt nur auf natürliche Ovulationszyklen; die Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva hebt diese Wirkung auf. Ein weiterer geruchsvermittelter Faktor bei der Partnerwahl sind MHC- ( major histocompatibility complex) abhängige Geruchskomponenten. Der MHC ist eine große chromosomale Region, die Gene für die immunologische Fremd- und Eigenerkennung beinhaltet. Die genetische Information gelangt über androgenbasierte Phermomone nach außen (Jordan und Bruford 1998) und trägt zum spezifischen Geruch eines Individuums bei (Hurst et al. 2001). Mehrere Studien zeigten, dass Frauen Sexualpartner mit einem MHC bevorzugen, der von ihrem eigenen verschieden ist. Dies führt bei erfolgreicher Reproduktion zu Nachwuchs mit einer gesunden genetischer Heterogenität des Immunsystems. Heterozygote Individuen können auf eine größere Spannbreite von fremden pathogenen Antigenen reagieren, da sie an doppelt so viele verschiedene Peptide im Vergleich zu HLA-Homozygoten binden können (Roberts und Roiser 2010). Wedekind et al. (1995) und Wedekind und Füri (1997) entdeckten, dass Frauen den Geruch von Männern mit komplementären MHC-Genen attraktiver einschätzten als von Männern mit gleichartigem MHC. Dieser Effekt wird durch die Einnahme oraler Kontrazeptiva umgekehrt. Garver-Apgar et al. (2006) konnten zeigen, dass Frauen mit einem MHC-ähnlichen Lebenspartner diesen eher sexuell unattraktiv fanden und häufiger fremdgingen. Neben den oben beschriebenen visuellen, akustischen und olfaktorischen Partnerwahlkriterien, die auch in der heutigen Gesellschaft noch eine entscheidende Rolle spielen, beschreiben Little et al. (2011) einen weiteren Mechanismus in der Partnerwahl, den sie als „soziales Lernen“ von Partnerwahlpräferenzen bezeichneten: Individuen (Menschen und andere Spezies) einer Gruppe kopieren voneinander Verhaltensweisen, die sich als erfolgreiche Strategie bewährt haben. In Bezug auf die Partnerwahl bedeutet dies, dass es vorteilhafter ist, das bewährte Partnerwahlverhalten anderer zu kopieren, als selber durch Versuch und Irrtum eine erfolgreiche Partnerwahlstrategie zu entwickeln. Dies hat nach Little zur Folge, dass sich in einer Population eine spezielle Partnerwahlpräferenz verbreiten kann, insbesondere wenn Individuen mit einer Vorbildfunktion (erfolgreicher Jäger, Sportler, Musiker,
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Geschäftsmann) diese vorleben. Dies erklärt auch, wie interkulturell Unterschiede in der Partnerwahl (z. B. Schönheitsideale) entstanden sind.
4.2.4.2 Fortpflanzungserfolg Bezogen auf die geschlechtsspezifischen Partnerwahlstrategien von Trivers (s. oben) taucht die Frage auf, ob die untersuchten Verhaltensweisen eine Relevanz für den tatsächlichen Fortpflanzungserfolg haben. Kann ein hoher sozialer Status die Fertilität eines Mannes steigern? Erhöht sich die Kinderzahl, wenn ein Mann eine möglichst junge Frau heiratet? Würde es sich positiv auf die Fertilität einer fekunden Frau auswirken, wenn sie einen etwas älteren, wohlhabenden Mann heiratet, der ihr ausreichend Ressourcen zur Verfügung stellt? Es gibt zu diesen Fragen eine Anzahl von Untersuchungen in vorindustriellen Gesellschaften, in denen Ackerbau, Viehzucht und Fischfang den Lebensunterhalt der Menschen sichern. Kultureller Erfolg wurde in diesen Studien mit Wohlstand, religiösem Rang, politischem Status und Landbesitz definiert, den der Mann unabhängig von seiner Frau und seinen Kindern erworben hatte. Als Maße für den reproduktiven Erfolg galten die Zahl der geborenen Kinder bzw. die Zahl der überlebenden Kinder. In fast allen untersuchten Gesellschaften (die Daten betreffen Bevölkerungen aus der Zeit des Mittelalters bis in die Gegenwart) konnte ein signifikant positiver Zusammenhang von väterlichem Status und seinem Fortpflanzungserfolg gefunden werden (Mealey 1985; Turke und Betzig 1985; Boone 1986; Flinn 1986; Hughes 1986; Borgerhoff Mulder 1987; Christiansen 2002). Der Einfluss des gesellschaftlichen Status eines Mannes darf jedoch nicht überbewertet werden. Wertvolle Ressourcen eines Mannes sind auch in vorindustriellen Gesellschaften nicht der einzige Weg zum reproduktiven Erfolg eines Mannes gewesen. Heath und Hadley (1998) verglichen unterschiedliche Reproduktionsstrategien von Mormonen, die im 19. Jahrhundert in Utah (USA) lebten. Sie werteten Zensus-Daten aus den Jahren 1850, 1860 und 1870 sowie Aufzeichnungen in der Family History Library in Salt Lake City über die Lebensgeschichte der ausgewählten Familien aus. So konnten sie den Reproduktionserfolg von Männern vergleichen, die mindestens 60 Jahre alt geworden waren und in Polygamie leben durften. Sie verglichen den Reproduktionserfolg dieser Männer, die entweder als high-quality-Männer eingestuft wurden, wenn ihr Vermögen zu den oberen 2 % gehörte, oder als low-quality-Männer, wenn deren Besitz in die Kategorie der 16 % ärmsten Mormonenhaushalte gehörte. Heath u. Hadley bestätigten zunächst den bekannten Befund, dass der Wohlstand und das Ansehen eines Mannes in der polygynen Mormonengesellschaft mit einer höheren Anzahl von Ehefrauen und auch mit einer größeren Kinderzahl und bis zur Pubertät überlebenden Kindern des Mannes korrelieren (Tab. 4.15). High-quality-Männer haben eine längere Reproduktionsphase, da sie die finanziellen Mittel haben, immer wieder jüngere Frauen dazu zu heiraten, und sie bleiben dadurch auch länger in der Lage, mit einer ihrer noch fertilen Frauen Kinder zu zeugen. Der Beginn der Reproduktionsphase unterscheidet sich zwischen den beiden Statusgruppen nicht. Erstaunlich ist aber, dass statusniedrigere Männer signifikant mehr Kinder pro Ehefrau zeugen und von ihren Kindern (pro Ehefrau) im Vergleich mit high-quality-
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Tab. 4.15 Männliche Reproduktionsstrategien: Investment in Ressourcen oder väterliches Investment. (Heath und Hadley 1998) Signifikanz-Variable Investment in Ressourcen Investment in Kinder ( High-quality- ( Low-quality- Niveau Männer) Männer) Anzahl Ehefrauen 3,2 1,4 P < 0,001 Kinder geboren 23,3 12,3 P < 0,001 Kinder über 15 Jahre 16,9 9,3 P < 0,001 Reproduktionsphase (Rp) (in Jahren) 32,9 21,8 P < 0,001 Kinder/Jahr während Rp 0,7 0,6 P < 0,01 Alter des Mannes bei Geburt des 1. 25,3 26,4 – Kindes (in Jahren) Alter des Mannes bei Geburt des 58,2 48,3 P < 0,001 letzten Kindes (in J.) Geborene Kinder pro Frau 7,7 8,8 P < 0,03 Kinder über 15 J. pro Frau 5,5 6,9 P < 0,02
Männern mehr das reproduktive Alter erreicht haben. Diese Väter haben die Möglichkeit einer Fitnessmaximierung durch ein verstärktes elterliches Investment in ihre Kinder nach der Geburt erkannt und sich deshalb in der „Brutpflege“ engagiert. In modernen Industriegesellschaften lässt sich der Zusammenhang zwischen Status des Mannes und dem Reproduktionserfolg so jedoch nicht mehr nachweisen. Bereits vor der Verbreitung hormoneller Kontrazeption, die in westlichen Industriegesellschaften, vor allem in Europa, zu einem drastischen Geburtenrückgang führte, änderte sich das generative Verhalten der Menschen. Der hohe gesellschaftliche Status eines Mannes korreliert nun nicht mehr positiv mit der Familiengröße. Vining (1986) wertete den Japanischen „Who’s Who“ von 1955 aus, in dem die Kurzbiographien von rund 70.000 gesellschaftlich hoch stehenden Männern aus Politik, Wirtschaft, Universität, Medizin, Kunst, Gewerkschaft, Sport und Adel veröffentlicht wurden. Nach Geburtsjahrgängen (vor 1896 bis 1920 und später) getrennt errechnete Vining die durchschnittliche Kinderzahl der Männer, die jemals verheiratet gewesen waren. Diese Zahlen verglich er mit den Angaben aus dem Japanischen Statistischen Jahrbuch für verheiratete Frauen aus den gleichen Jahrgängen. Die durchschnittliche Kinderzahl sank sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen kontinuierlich, je später sie geboren wurden. In allen Geburtsjahrgängen seit 1896 hatten die japanischen Frauen der Gesamtbevölkerung mehr Kinder als Männer der gesellschaftlichen Auslese, ungefähr im Verhältnis von 1:0,7. Ganz ähnliche Werte ergab der Vergleich von der Kinderzahl hochintelligenter männlicher Mitglieder des Amerikanischen Mensa Clubs mit den Geburtenraten weißer amerikanischer Frauen (Vining 1986). Große intellektuelle Begabung mit allen ihren gesellschaftlichen Vorteilen resultierte bei den Männern in Kinderzahlen, die bei den Mitgliedern der letzten Geburtskohorte von 1941–1945 gerade noch die Hälfte gleichaltriger Frauen ausmachten (Abb. 4.13). In der modernen Industriegesellschaft gilt das Paradigma der Evolutionsbiologie bezüglich der Fitnessmaximierung offensichtlich nicht mehr. Die wohlhabenden
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Lebenszyklus
Abb. 4.13 Geburtenrate (nur weiße Nord-Amerikaner) von Frauen und männlichen Mitgliedern des MENSA Clubs für Hochintelligente. (Aus Vining 1986 (Bildrechte))
und gebildeten Männer übertragen ihren höheren Status in der Gesellschaft nicht in eine höhere reproduktive Fitness. Zweifellos überlagern kulturelle Einflüsse, wie Monogamie und Geburtenkontrolle (meistens von den Frauen praktiziert), die evolutionsbiologisch abgeleiteten Fortpflanzungsstrategien und ihre geschlechtsspezifischen Umsetzungen. Der Kanadier Daniel Pérusse versuchte in seiner Studie (1993) an weit über 400 kanadischen Männern den Fitness reduzierenden Einfluss von Einehe und Geburtenkontrolle auszuschalten, um die Gültigkeit der sexuellen Selektionsmechanismen in modernen Gesellschaften zu überprüfen. Er befragte die 30- bis über 40jährigen Männer bezüglich ihres Status nach Bildungsniveau, Beruf und Einkommen. Die reproduktive Fitness erfasste er konventionell mit der Frage nach den leiblichen Kindern der Männer, wobei ehelicher und außerehelicher Nachwuchs angegeben werden sollte. Um die Einflüsse der Fitnesseinschränkung durch Monogamie und Geburtenkontrolle durch den Mann oder die Geschlechtspartnerin auszuschalten, errechnete er die Zahl möglicher Konzeptionen. In die Formel gehen die Zahl der Sexualpartnerinnen in der Befragungszeit, die Zahl der Geschlechtsakte mit jeder Partnerin und die Konzeptionswahrscheinlichkeit pro Koitus ein. Dieser Index bezieht also die Zahl der Geschlechtspartnerinnen und die Zahl der sexuellen Kontakte pro Menstruationszyklus der Frauen ein. Die Ergebnisse bestätigten zunächst, dass der soziale Status der Männer keinen Einfluss auf ihren tatsächlichen reproduktiven Erfolg, nämlich die Anzahl der leiblichen Kinder, hatte. Die Zahl möglicher Kinder, errechnet aus der Zahl potentieller Schwangerschaften der Partnerin, korrelierte in der Gesamtstichprobe signifikant, in den Altersklassen von 30–39 Jahren sogar hochsignifikant mit dem sozialen Status der Männer. Aus diesem Ergebnis zieht Pérusse den Schluss, dass evolutionäre
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Fortpflanzungsbiologie
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Erklärungen menschlichen Verhaltens in modernen Gesellschaften ihre Gültigkeit behalten haben. Wie sieht es mit der Relevanz der zweiten Reproduktionsstrategie von Frauen und Männern bezüglich der gewünschten Altersdifferenz zwischen den Ehepartnern aus, die Buss (1989) bei seiner weltweiten Befragung nachweisen konnte? Bekommen Paare mehr Kinder, wenn tatsächlich ein Altersunterschied zugunsten des Mannes besteht, er also ungefähr 3 Jahre älter ist als seine Partnerin? Zwei Datenerhebungen aus vorindustrieller (Voland 1990) und heutiger Zeit (Bereczkei und Csanaky 1996) befassen sich mit diesem Thema. Voland untersuchte den Reproduktionserfolg in der ostfriesischen Landgemeinde Krummhörn anhand von Aufzeichnungen in Kirchenbüchern über Eheschließungen und Geburten aus der Zeit von 1720 bis 1874. Das Heiratsalter der Männer betrug bei der ersten Ehe in allen Bevölkerungsschichten knapp 30 Jahre, so dass zwischen den sozialen Ständen (Großbauern, Kleinbauern mit politischen Rechten, Kleinbauern ohne politische Rechte und Landlose) diesbezüglich kein Unterschied zu finden war. Die Bräute der Großbauern waren im Mittel knapp 25 Jahre alt und somit durchschnittlich 2,3 Jahre jünger als die Frauen der landlosen Männer. Hier zeigte sich, dass das Heiratsalter der Bräute mit dem Status des Bräutigams variiert. Unabhängig davon hatten in allen sozialen Schichten die jung heiratenden Frauen am Ende ihres Lebens mehr Kinder geboren als die Frauen, die erst mit über 30 Jahren eine Ehe geschlossen hatten. Die Altersdifferenz zwischen den Geschlechtern spielt für die Fertilität also durchaus eine Rolle, wobei zwei unterschiedliche Faktoren für den Effekt der Paarung „jüngere Frau und älterer Mann“ von Bedeutung sein dürften. Ein älterer Mann – aus allen sozialen Schichten – hat mit größerer Wahrscheinlichkeit schon Ressourcen in Form von Bildung, Status und Besitz akkumulieren können, und eine jüngere Frau ist mit größerer Wahrscheinlichkeit fertiler als eine ältere Frau (siehe Kap. 4.2.7). Bereczkei und Csanaky (1996) untersuchten im Rahmen einer Befragung in Ungarn in den Jahren 1988 bis 1989, ob die Auswirkungen der Altersdifferenz zwischen Ehepartnern auch im Industriezeitalter noch eine relevante Rolle für die Fertilität des Paares spielen. Von über 1800 Personen (Männer älter als 40 Jahre, Frauen älter als 35 Jahre) bekamen sie vollständige Datensätze, die zunächst einmal die klassische Altersdifferenz von 3,5 Jahren auch für diese Stichprobe bestätigten. Tatsächlich hatten Männer, die jüngere Frauen geheiratet hatten, nahe dem Ende ihrer reproduktiven Phase im Durchschnitt signifikant mehr Nachwuchs (1,82 Kinder) gezeugt als Männer mit älteren Ehefrauen (1,43 Kinder). Auch hier spielt das Alter der Frau eine entscheidende Rolle aufgrund der Fertilitätsminderung, die bei ihr bereits mit dem 35. Lebensjahr einsetzen kann (siehe Kap. 4.2.6).
4.2.5
Keimzellentwicklung, Befruchtung und Implantation: Die ersten Phasen menschlichen Lebens
Jede der Milliarden von Zellen eines erwachsenen menschlichen Körpers stammt ursprünglich von einer einzigen Zelle ab, der Zygote, die aus der Verschmelzung einer Eizelle von der Mutter und eines Spermiums vom Vater entstanden ist. Im
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reproduktiven Lebensabschnitt einer Frau werden bei einem regelmäßigen Zyklus ohne Schwangerschaften ungefähr 300 bis 500 Eizellen reifen und könnten nach der Ovulation durch die Spermien ihres Sexualpartners befruchtet werden. Ein junges Mädchen hat zu Beginn der Pubertät noch ungefähr 20.000 Follikelapparate, aus denen sich reife Eizellen im Eierstock entwickeln werden. Es ist ein Vielfaches dessen, was an Eizellen jemals mit den Spermien eines Mannes in Kontakt kommen wird. Die anderen Oozyten werden lediglich Begleitfollikel einer Kohorte von Eizellen sein, aus denen monatlich ein dominanter Follikel heranreifen wird (Neulen 1997). Für diese Begleitkohorte, die der Sexualhormonproduktion im Ovar dient, werden im Leben einer Frau ungefähr 15.000 Follikel benötigt, das sind 0,15 % der ursprünglich in der frühen Embryonalphase angelegten Primordialfollikel (siehe Kap. 4.2.1). Durch den stetigen Abbau der Follikel nach der Geschlechtsreife des Mädchens bleiben bis zur Menopause knapp 10.000 Primordialfollikel übrig, die dann aber nicht mehr auf die Gonadotropine aus der Hypophyse reagieren und bis zur Befruchtungsfähigkeit heranreifen können (siehe Kap. 4.2.7). Die Mechanismen, die den ständigen Verbrauch der Follikel von der Embryonalphase bis zur Menopause regeln, sind bisher unbekannt.
4.2.5.1 Oogenese – die Reifung der Eizellen Die Oozyten oder Primordialfollikel, die sich vorgeburtlich in den Gonaden der weiblichen Embryonen aus den Oogonien (Stammzellen) entwickeln, bestehen aus der Eizelle und dem Epithel aus abgeflachten Granulosa- und Thekazellen. Sie befinden sich seit der Embryonalzeit im Status der Vorphase der 1. Reifeteilung (Meiose) im Ovar. Nachdem die Hypophysen-Gonaden-Achse in der Pubertät ihre Funktion aufgenommen hat (siehe Kap. 4.2.2), können sich die Oozyten durch die hormonelle Stimulation zu Primärfollikeln oder primären Oozyten entwickeln. Die Oozyten vergrößern sich, weil sie nun kubisch aufgebaute Granulosa-Zellen und eine Basalmembran zwischen Granulosa und Thekazellen ausgebildet haben (Abb. 4.15). Aus diesem Stadium heraus entwickeln sich einige Primärfollikel durch die Steigerung der Expression von FSH-Rezeptoren in den Granulosazellen zu Gonadotropin-sensiblen Sekundärfollikeln, die auf die Ausschüttung des FollikelBox 4.6: Entdeckungsgeschichte der Keimzellen
Galen von Pergamon (129–199), Leibarzt des römischen Kaisers Marc Aurel, beschrieb die Hoden des Mannes als Ort der Samenbereitung, glaubte aber, dass die zu den Hoden ziehenden Arterien und Venen bereits eine Vorstufe des Samens enthielten. Eine weißliche Flüssigkeit (Tubenschleim aus den Eileitern, den er in der Gebärmutter entdeckte) deutete er als weiblichen Samen. Er charakterisiert ihn – im Vergleich zum männlichen Sperma – als schwächer, flüssiger, kälter und in der Spannkraft geringer: Männlicher und weiblicher Samen sind nicht gleichwertig, sondern der weibliche Samen dient in der Gebärmutter dem männlichen Keim nur als Nahrung, bis sich aus dem weiblichen Samen die Allantois (Dottersack) bildet, die den Keim ernährt.
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Fortpflanzungsbiologie
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Abb. 4.14 Die erste Darstellung von Spermatozooen unter einem Lupenmikroskop im Jahr 1677 von Antoni van Leeuwenhoek
Der Anatom William Harvey (1578–1657) aus England entwarf das Modell von der Urform eines Eies, das aus zwei Grundbestandteilen besteht: der Hülle und der Flüssigkeit im Inneren, aus der sich ein Lebewesen entwickelt. Er orientierte sich an der Entwicklung eines Hühnerembryos, geprägt durch die Bebrütungsexperimente des 16. Jahrhunderts. Da die Experimentatoren keine Spur von Gockelsamen im Hühnerei feststellen konnten, wurde von Harvey eine Theorie der immateriellen Zeugung entwickelt: Der vom Ei ferngehaltene Samen würde über den trennenden Zwischenraum hinweg eine Art Fernwirkung, „aura seminalis“, ausstrahlen und damit seinen zeugenden Einfluss auf das Hühnerei ausüben. Die Gebärmutter ist der Ort der Zeugung, in ihr bilden sich Flüssigkeit und Hülle, die Grundbestandteile des Ur-Eies, das durch die Eihüllenfunktion der Gebärmutter zum vollständigen Ei der Säugetiere wird. Eine wesentliche Korrektur zu Harveys Ei-Theorie brachten mikroskopische Befunde. Mit einem von ihm entwickelten Lupenmikroskops erzielte der Niederländer Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) aus Delft bis zu 500fache lineare Vergrößerungen. Einzeller hatte er damit bereits 1674 entdeckt. Wenige Jahre später entdeckte der Medizinstudent Johan Ham mit so einem Mikroskop im Sperma eines Patienten „dierkens“, die Leeuwenhoek nun auch im Sperma von Insekten, Fischen, Reptilien, Vögeln und Säugern nachweisen konnte (Abb. 4.14). Er kam anhand seiner „dierkens“ zu einer neuen Zeugungslehre, die der Harveyschen Ei-Theorie widersprach: Das Ei spielt bei der Zeugung nur eine untergeordnete Rolle, die Samentierchen sind das eigentlich Lebendige. Das unbewegliche Ei liefert ihnen nur Nahrung, wenn die Samentierchen in das Ei hineinschlüpfen und sich dort entwickeln. Leeuwenhoek hat sich vier Jahrzehnte
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Lebenszyklus
mit den Spermien beschäftigt und seine Entdeckung wurde weltweit bekannt. Der niederländische Begriff dierken wurde lateinisch als animalculum und griechisch alsSpermatozoon in die internationale Fachterminologie übertragen. Die ungezügelte Phantasie einiger „dierkens“-Beobachter führte bei etlichen Wissenschaftlern zu Behauptungen, dass sie Samen-Menschen oder Samen-Pferdchen unter dem Mikroskop gesehen hätten, zwar winzig klein, aber doch schon voll entwickelt. Sogar Geschlechtsunterschiede wären festzustellen. Die Anhänger dieser neuen Zeugungstheorie bezeichneten sich als Animalkulisten, während die Vertreter der Harveyschen Ei-Theorie als Ovisten galten. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es dem Anatom und Biologen Karl Ernst von Baer (1792–1876) nach vielen vergeblichen Versuchen im Mai 1827 als Erster das Ei eines Säugetiers zu finden. In den Graaf-Follikeln aus dem Eierstock einer Hündin entdeckte er „ein kleines gelbes Fleckchen in einem Bläschen“. Er öffnete das Bläschen und hob vorsichtig das Fleckchen mit einem Messer heraus und betrachtete es unter einem Mikroskop: „Ich sah ein scharf umschriebenes, von einer starken Haut umschlossenes, regelmäßiges Kügelchen vor mir, von einem Vogeldotter nur durch eine derbe, etwas abstehende äußere Haut unterschieden“. Von Baer hatte das Säugetierei entdeckt. Der Streit der Ovisten und Animalkulisten um den Zeugungsvorgang wurde aber erst 1875 durch Oskar Hertwig beigelegt, der demonstrierte, dass eine Befruchtung durch Verschmelzen der Kerne von Ei und Samenzelle zustande kommt. stimulierenden Hormons (FSH) aus der Hypophyse ausreichend reagieren. Je größer die FSH-Konzentration im Blut bzw. Ovar ist, desto größer ist die Kohorte der Follikel, die sich in einem Zyklus zu Sekundärfollikeln entwickeln – meist sind es 3 bis 7 Follikel. Zunächst werden durch FSH die Granulosazellen der Sekundärfollikel stimuliert, IGF 2 ( Insulin-likeGrowthFactor 2) zu synthetisieren. IGF 2 regt zusammen mit IGF 1 aus der Leber die Theka-Zellen an, Rezeptoren für das luteinisierende Hormon (LH) zu exprimieren und dadurch sensitiv für die steigende LH-Ausschüttung aus der Hypophyse zu werden. Dadurch wird in den Theka-interna-Zellen der Follikel die Produktion von Androstenedion und Testosteron angeregt (Hillier 1994). In der darunter liegenden Schicht aus Granulosazellen erfolgt unter dem Einfluss von FSH die Umwandlung der Androgene in Östrogene und die Produktion von Activin, das wiederum die Freisetzung von FSH in der Hypophyse fördert. Aus der Kohorte der Sekundärfollikel differenziert sich nach 5 bis 7 Tagen der spätere Graaf-Follikel heraus, der von allen heranreifenden Eizellen die größte Anzahl von FSH-Rezeptoren hat. Dieser Follikel bildet nun verstärkt Östrogene, und durch die Rückkoppelung von Östradiol mit der Hypophyse sinkt der FSHSpiegel im Blut, während der LH-Spiegel weiter ansteigt (Ferin 1996). Follikel, die in der Granulosazellreifung nicht weit genug vorangekommen sind, bleiben nun durch die verminderte FSH-Stimulation in ihrer Entwicklung zurück und ihre Östrogenproduktion sinkt. Der Testosterongehalt dieser Follikel steigt aber dennoch weiter an, da die Thekazellen durch den LH-Anstieg zur Androgenbildung ange-
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Fortpflanzungsbiologie
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Abb. 4.15 Der Aufbau eines reifen Follikels mit Basalmembran, Theka- und Granulosazellschichten. (Aus Felberbaum und Ortmann 1998 (Bildrechte))
regt werden. Schließlich kommt es durch den hohen Androgenspiegel zur Atresie (Rückbildung) dieser Follikel. Der selektierte Graaf-Follikel setzt nun noch Inhibin frei, ein Peptid, das ebenfalls die FSH-Bildung in der Hypophyse hemmt und damit das Wachstum der übrigen Kohortenfollikel (Hillier und Miro 1993). Der GraafFollikel wird dennoch weiter durch die verminderte FSH-Ausschüttung ausreichend stimuliert, da er eine hohe Rezeptordichte in seinen 16 bis 20 Schichten von Granulosazellen aufgebaut hat. Das Antrum (Follikelhöhle) ist nun deutlich ausgebildet (Abb. 4.15). Die Aktivität der Granulosazellen des Graaf-Follikels führt zu einem exponentiellen Anstieg der Östradiolkonzentration im Serum, der durch einen positiven Feedback-Mechanismus zu einem LH-Peak (massive Freisetzung von LH aus der Hypophyse) führt, der ca. 12 Stunden später die Ovulation (Eisprung) auslöst. Fehlt dieser plötzliche Anstieg, kommt es nicht zu einer Ovulation. Wenige Stunden vor dem Eisprung vervollständigt sich die Meiose (1.Reifeteilung) der Eizelle, in der sie seit der Embryonalphase verharrte, und ein Polkörperchen entsteht. Box 4.7: Oogenese: Begriffsdefinitionen
• Theka-Zellen: Bindegewebszellen im Follikel, die Androgene, vornehmlich Testosteron und Androstenedion, produzieren • Granulosa-Zellen: hormonproduzierende Zellen im Follikel mit FSH-Rezeptoren, die im Follikel die Androgene aus den Theka-Zellen in Östrogene umwandeln • IGF 1: Insulin-like-growthfactor 1 wird in der Leber gebildet und durch das Blut in das Ovar transportiert
394 Tab. 4.16 Ablauf der Spermatogenese
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Lebenszyklus
Spermatogonien (diploid) ↓ Nach mitotischen Reifeteilungen: Spermatozyte I (diploid) ↓ Nach 1. meiotischen Teilung: Spermatozyte II (haploid) ↓ Nach 2. Reifeteilung: Spermatide (haploid) ↓ Durch Spermiogenese: Spermatozoon (haploid)
• IGF 2: Insulin-like-growthfactor 2 wird in den Granulosa-Zellen gebildet • Atresie/atretisch: Rückbildung einer Zelle, z. B. ausgelöst durch Androgene in den nicht-selektierten Follikeln • Inhibin und Activin: Wachstumshormone (Peptide), die in den Follikeln gebildet werden Nach dem Eisprung luteinisieren die Granulosa-Zellen unter dem Einfluss von LH und bilden das Corpus luteum (Gelbkörper), das nun stark zunehmend das Gestagen Progesteron produziert (Abb. 4.15). Tritt keine Schwangerschaft ein, kommt es nach 14 Tagen zur Luteolyse, der Rückbildung des Corpus luteum. Hat eine Fertilisation der Eizelle im Eileiter stattgefunden, wird das Corpus luteum durch das plazentare Hormon HCG ( humanchorionichormone oder Choriongonadotropin) stimuliert und wird zum Corpus luteum graviditate.
4.2.5.2 Spermatogenese – die Reifung männlichen Keimzellen Als Spermatogenese bezeichnet man den Vorgang der gesamten männlichen Keimzellentwicklung von den Spermatogonien (diploide Stammzellen, die in der frühen Embryogenese in den Hoden eingewandert und dort verblieben sind) bis zu den Spermatozoen. Diese Entwicklung dauert ca. 64 bis 74 Tage. Als Spermiogenese wird nur der letzte Abschnitt der Spermatogenese bezeichnet. Es ist die Entwicklung nach der 2. Reifeteilung von der haploiden Spermatide bis zum Spermatozoon, der reifen, befruchtungsfähigen Keimzelle (Tab. 4.16). Die wesentlichen Schritte der Spermiogenese, der Transformation der haploiden Keimzellen, sind die Kernkondensation, die Akrosombildung und die Geißelbildung. Alle Entwicklungsschritte durchlaufen die Spermatogonien erstmals in der Pubertät eines Jungen, wenn nach der Reifung der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse die Testosteronproduktion eingesetzt hat. Der Hoden erreicht nach der Ausdifferenzierung während der sexuellen Reifung ein durchschnittliches Volumen von 12 bis 20 ml. Von diesem Zeitpunkt an werden bei gesunden Männern lebenslang männliche Gameten (Spermatozoen bzw. Spermien) in den Sertolizellen gebildet; die Leydig-Zellen produzieren und sezernieren das Sexualhormon Testosteron, wenn auch – in Abhängigkeit vom Lebensalter des Mannes – in unterschiedlicher Qualität der Spermien und unterschiedlichem Ausmaß der Testosteronausschüttung (siehe Kap. 4.2.8).
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Fortpflanzungsbiologie
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Die Funktion der Hoden wird primär endokrin durch die Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse reguliert. Es gibt zwei Hauptachsen: die Verbindung Hypothalamus-Hypophyse-Leydig-Zellen für die Testosteronproduktion unter LH-Einfluss und die Verbindung Hypothalamus-Hypophyse-Sertoli-Zellen für die Spermatogenese unter FSH-Einfluss (Weinbauer et al. 2000). Das Hodenparenchym wird von einer derben Hülle, der Tunica albuginea umgeben. Die Spermatogenese findet im tubulären Kompartiment des Hodens statt, das aus den Tubuli seminiferi (Abb. 4.16) und dem Interstitium besteht, das zwischen den Samenkanälchen liegt. Die Spermatogenese vollzieht sich im Lumen der Samenkanälchen (Tubuli seminiferi). Jede einzelne Sertoli-Zelle steht mit einer bestimmten Anzahl von Keimzellen im morphologischen und funktionellen Kontakt und steuert den Ablauf der Spermatogenese in funktioneller Hinsicht. Sertoli-Zellen produzieren und sezernieren Proteine, Zytokine, Wachstumsfaktoren, Modulatoren der Zellteilung und vor allem Flüssigkeit in das tubuläre Lumen (Röhre). In dieser Flüssigkeit werden die Samenfäden transportiert, und der flüssigkeitsbedingte Druck hält das Lumen aufrecht. Von hier aus gelangen die Spermatozoen im Laufe ihrer Entwicklung von der Spermatogonie bis zum Spermatozoon vom Rand bis ins Zentrum des Tubulus und dann über das Rete Testis in die Nebenhoden. Während der Passage durch die Nebenhoden vollziehen die Spermatozoen in ungefähr 8 bis 17 Tagen weitere Reifungsprozesse. Die Spermien (Abb. 4.17) können in den Nebenhoden gespeichert werden und erhalten ihre progressive Motilität (Vorwärtsbeweglichkeit), da das Nebenhodenepithel Substanzen (u. a. Glykoproteine) produziert, die für die Reifung der Spermatozoen von Bedeutung sind. Auch der Zona-Rezeptor am Spermienkopf, der Moleküle enthält, die für die artspezifische Bindung eines Spermatozoons an die Eizelle entscheidend sind, reift nach13. Box 4.8: Spermatogenese: Begriffsdefinitionen
• Sertoli-Zellen: Sie bilden das Stützgerüst des Keimepithels. Ihnen kommt eine zentrale Bedeutung zu, weil sie mit ihren Zellfortsätzen die Keimzellen umgreifen und so lange im Keimepithel festhalten, bis sie ausgereift das Samenkanälchen verlassen können • Leydig-Zellen: steroidhormonproduzierende Zellen im interstitiellen Kompartiment, die unter dem Einfluss von LH (luteinisierendes Hormon) aus der Hypophyse das Sexualhormon Testosteron bilden
Wie wichtig diese Prozesse sind, zeigt sich bei einem Verschluss im Nebenhoden oder des Ductus deferens. Für eine künstliche Befruchtung der Partnerin müssen dort Spermien entnommen werden. Die Schwangerschaftsrate nach der Samenübertragung steigt in Abhängigkeit von der Strecke, die die Spermien im männlichen Genitaltrakt vorher auf natürlichem Weg zurücklegen konnten von 9 % bis (Nebenhoden-Kopf) bis zu 51 % bis (Nebenhoden-Schweif).
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Abb. 4.16 Anatomie des Hodens. (Verändert und adaptiert nach Mader 1977)
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Abb. 4.17 Spermatozoon. (Verändert und adaptiert nach Mader 1977)
• Hodenparenchym: Es besteht aus speziellen Zellen des Hodens (z. B. Leydig-Zellen), die im Gegensatz zum Gerüstgewebe (Bindegewebe mit Gefäßen und Nerven) seine Funktion bedingen • Tunica albuginea: Kapsel um das Hodenparenchym • Tubuli seminiferi: Samenkanälchen, die Keimzellen in verschiedenen Entwicklungsstadien sowie die Sertoli-Zellen enthalten • Interstitium oder Interstitielles Kompartiment: Der Raum zwischen den Samenkanälchen, in dem sich die Leydig-Zellen, Blut- und Lymphgefäße, Nerven, lockeres Bindegewebe und Zellen des Immunsystems befinden • Rete testis: System netzartig verbundener Spalträume, in das die Tubuli seminiferi münden • Nebenhoden: Sie sind mit den Hoden verwachsen und bestehen jeweils aus einem Nebenhodenkopf (Caput), -körper (Corpus) und -schweif (Cauda) Von den Nebenhoden gelangen die Spermatozoen über die Ducti deferentes (ableitende Samenwege) in die Samenblasen, deren Sekret zwischen 50 und 80 % des Ejakulates ausmachen. Dieses Sekret besteht hauptsächlich aus Fructose, zusätzlich noch aus Elektrolyten, Enzymen und Prostaglandinen (Weinbauer et al. 2000). Bevor die Spermatozoen durch die Harnröhre während der Ejakulation den Geschlechtsweg verlassen, passieren sie noch die Prostata (Vorsteherdrüse), aus deren Sekret das Ejakulat zu 15 bis 30 % besteht und das ebenfalls für die Fertilisie-
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Tab. 4.17 Ablauf der notwendigen Ereignisse für die Fertilisation Spermium (S) aus den Tubuli semininiferi gelangt in den Nebenhoden ↓ Nachreifung des S im Nebenhoden und den Samenleitern ↓ Platzierung des S mit der Samenflüssigkeit in die Vagina ↓ S durchdringt den zervikalen Mukus am Muttermund ↓ Kapazitation des S im weiblichen Genitaltrakt ↓ Eisprung/Wanderung des S bis in die Tuben ↓ S erreicht die ovulierte Eizelle im Eileiter ↓ Penetration des Cumulus oophorus der Eizelle durch S ↓ Bindung des S an die Zona pellucida der Eizelle durch Hyperaktivität, Akromsomreaktion ↓ S durchdringt die Zona pellucida ↓ Passieren des pervitellinen Spaltes der Eizelle ↓ Bindung des S an die Vitellinmembran der Eizelle ↓ Verschmelzung des S mit dem Vitellus ↓ Bildung der Befruchtungsmembran aus dem Vitellus ↓ Aktivierung der Eizelle, Abschnürung des 2. Polkörperchens der Eizelle ↓ Organisation der Spindelbildung und Dekondensation des Chromatins des S ↓ Bildung des männlichen Pronucleus/Bildung des weiblichen Pronucleus ↓ Verschmelzung der Kerne zur Zygote (Fertilisation)
rungsfähigkeit der Spermatozoen wichtige Inhaltsstoffe (Immunoglobuline, Lipide und Serumproteine) enthält.
4.2.5.3 Befruchtung und Implantation Wenn Spermien nach einer Ejakulation in den weiblichen Genitaltrakt der Frau gelangen, müssen sie die Wanderung bis in die Eileiter (Tuben) überleben, wo die Eizelle befruchtet wird (s. auch Tab. 4.17). Die Überlebenszeit der Spermien liegt zwischen 24 und 48 Stunden, in Einzelfällen auch bis zu 4 Tagen. Von ursprünglich 40 Mio. Spermien im Ejakulat, die durch einen Koitus in die Vagina gelangt sind, erreichen ca.1 bis 2 % die Gebärmutter. Nur ein sehr geringer Teil, ungefähr 200 Spermatozoen, kommen schließlich bis in die Eileiter. Über die notwendige Ener-
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gie für ihre Motilität verfügen die Spermien selbst in ihren Mitochondrien, oder sie gewinnen diese aus der Samenflüssigkeit, mit der sie in die Vagina gelangt sind. Die Aktivierung der notwendigen glykolytischen und oxidativen Prozesse zur Energiegewinnung aus der Samenflüssigkeit ist von einer Östrogen- oder Progesterondominanz im Genitaltrakt abhängig. Nur Östrogene aktivieren die Stoffwechselprozesse und erreichen gerade in der Ovulationsphase Maximalwerte. Dieses östrogendominierte endokrine Milieu ermöglicht den Spermien auch die Passage durch den Muttermund (Zervix), dessen Verschluss durch Zervikalmukus nur zu diesem Zeitpunkt für sie penetrierbar ist. Morphologisch abnormal geformte Spermien haben dennoch Schwierigkeiten, den Mukus zu durchdringen, der aus einer Vielzahl ineinander verwobener Fibrillen (Mucin) besteht, die ihm eine hohe Viskosität verleihen. So kann es zu einer gewissen, mechanischen Spermienselektion kommen. Nach dem Erreichen des Uterus bewegen sich einige Spermatozoen weiter in Richtung der Eileiter; andere verbleiben vorerst in den Krypten der Zervix, von wo aus sie später langsam weiterwandern und eine kontinuierliche Spermienfreisetzung ermöglichen. Zusätzlich zur Eigenbewegung der Spermien wird ihre Fortbewegung durch die Kontraktionen des weiblichen Genitaltraktes stimuliert (Kunz et al. 1996). Wenn die Spermatozoen die Tuben erreichen, werden sie durch Inhaltsstoffe der Follikelflüssigkeit, die durch die Ovulation in die Eileiter gelangt, in ihrer Beweglichkeit wieder angeregt. Die Tuben zeigen zwar ein kontinuierliches, komplexes Muster von spontanen Kontraktionen, aber diese pflanzen sich gleichzeitig in entgegen gesetzte Richtungen fort. Ihre Bedeutung für den Spermientransport ist unklar. Da der Zilienschlag (Wimpernschlag) in der Tube zu einer Bewegung in Richtung Uterus führt, um eine fertilisierte Eizelle zur Gebärmutter zu transportieren, kann der Transport der Spermien in die Gegenrichtung nur durch deren Eigenbewegung erfolgen. Im Glykoproteinsekret der Tuben ist es den Spermien möglich, sich durch eigene Kraft in Richtung Ovar fortzubewegen, zumal der Wimpernschlag der Tuben durch die Viskosität des Tubensekretes stark gedämpft wird. Nach der Freisetzung der Eizelle aus dem Graaf-Follikel an der Oberfläche des Ovars muss die Oozyte, die vom Cumulus oopherus (Anhäufung von Granulosazellen) umgeben ist, zunächst den freien Bauchraum passieren. Normalerweise ist die Stelle des Eisprungs am Ovar von dem Fimbrientrichter des seitenzughörigen Eileiters abgedeckt, so dass die Eizelle direkt in die Tube hineingeschleudert wird. Landet sie im Bauchraum, kann es zu einer gefährlichen Bauchhöhlenschwangerschaft kommen. Die aus dem Follikel geschwemmte Eizelle macht zum Zeitpunkt des Follikelsprungs ihre erste Meiose durch. Dabei wird ein Zellkern fast ohne Plasma als Polkörperchen abgeschnürt und geht zugrunde. Die zweite Reifeteilung, die nur durch einen von außen kommenden Reiz, normalerweise die bei der Befruchtung eindringende Samenzelle, ausgelöst wird, muss innerhalb von 12 Stunden erfolgen, sonst stirbt die Eizelle ab. Bei ihrer Wanderung durch den weiblichen Genitaltrakt müssen die Spermien den Parallelvorgang, die Kapazitation durchlaufen, mit der sie in 5 bis 6 Stunden auf die spätere Interaktion mit der Eizelle vorbereitet werden. Unter dem Einfluss von Progesteron aus dem Corpus luteum strömen Phospholipide aus den Sper-
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mienhüllen aus, die dadurch labil werden. Ohne Kapazitation könnten Spermien eine Eizelle nicht befruchten, denn die Folgen dieses Vorgangs führen dazu, dass die Spermatozoen eine hyperaktivierte Motilität zeigen, die sich im Absinken der bisherigen vorwärtsgerichteten Motilität und einer erhöhten Schlagfrequenz des Flagella äußert. Wenn kapazitierte Spermien mit der Eizelle in Berührung kommen, müssen sie zunächst zwei Umhüllungen der Eizelle durchdringen. Die äußere Hülle ist der Cumulus oophorus aus Granulosazellen, eingebettet in einer viskösen Schicht aus Hyaluronsäure. Das lytische Enzym Hyaluronidase auf der Spermienoberfläche löst die visköse Schicht auf, und das Spermium kann sich mittels seiner drillbohrerähnlichen Eigenbewegung durch den Cumulus vorarbeiten. Die innere Hülle bildet die nichtzelluläre Zona pelludica, die aus einem Netzwerk von den Glycoproteinen besteht, von denen ZP3 der entscheidende Rezeptor für die artspezifische Bindung (Hägele et al. 1998) ist14. Nach der Bindung an ZP3 wird am Spermienkopf die Akrosomreaktion ausgelöst, die eine Voraussetzung für die Durchdringung des Spermiums von der Zona pellucida und den Perivitellinspalt bis zur Vitellinmembran ist. Sobald das Spermium durch den perivitellinen Spalt bis zur Eizelloberfläche, der Vitellinmembran, gelangt ist, verschmelzen der Vitellus und die Spermienmembran. Das Spermium dringt in die Eizelle ein. Es entsteht sofort, durch die Fusion kortikaler Granula aus dem Cumulus oophorus mit dem Vitellus, eine Befruchtungsmembran als physische Blockade, um eine Polyspermie durch weitere eindringende Spermien zu verhindern. Der Inhalt der Corticalgranula wird außerdem freigesetzt, diffundiert zur Zona pellucida und wandelt dort das Glykoprotein ZP3 in ZP3f um, das nicht mehr die notwendigen Kohlehydrate zur Spermienerkennung enthält. So können nachfolgende Spermatozoen nicht an die Zona pellucida binden. Im Inneren des Eies wird vom Spermatozoon der Schwanz abgelöst und die mitochondriale DNA des Spermiums abgebaut. Aus dem Mittelstück des Spermatozoons bilden sich zwei Zentriolen (Zentralkörperchen), die mit dem männlichen Keim zur Mitte des Eies wandern. Gleichzeitig kommt es zur Abschnürung des 2. Polkörperchens von der Eizelle, und es bildet sich der weibliche Pronucleus aus dem haploiden Chromosomensatz der Eizelle. Auch der weibliche Pronucleus bewegt sich zum männlichen Nucleus hin, und beide Kerne verschmelzen zu einem gemeinsamen Kern. Nach der Bildung der Zygote erfolgen noch im Eileiter die ersten Teilungen des Embryos. Dadurch wird vor allem die genetische Information vervielfacht15, während die Masse des Embryos, der noch von der Zona pellucida umgeben ist, nur gering zunimmt (Abb. 4.18). Eine Differenzierung der Blastomeren tritt nach der dritten Furchungsteilung im Achtzellstadium ein. Diese Zelltraube wird MoAm Spermienkopf befindet sich der Zonarezeptor des Spermiums, ein Adhäsionsmolekül ß-1,4Galaktosyltransferase, das wahrscheinlich an den ZP3 -Rezeptor binden kann. 15 Die durch Furchung der Zygote entstehenden Zellen (Blastomeren) teilen sich ohne Wachstum und werden so bei jeder Teilung kleiner. Das Verhältnis von Zellplasma zu Zellkern verschiebt sich zugunsten der Kerne.
14
4.2
Fortpflanzungsbiologie
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Abb. 4.18 Entwicklung des Embryos bis zur Implantation. (Verändert und adaptiert nach Mader 1977)
rula genannt und wird ausschließlich von Pyruvat (Salz der Brenztraubensäure) und Laktat (Salz der Milchsäure) aus dem mütterlichen Milieu im Eileiter ernährt. Der Embryo hat keine Eigenbewegung, sondern er wird durch das Flimmerepithel des Eileiters passiv transportiert. Nach zwei bis drei Tagen erreicht der Embryo im späten Morulastadium mit Embryoblast und Trophoblast (äußere Zellschicht) den Uterus. Etwa am 4. Tag nach der Befruchtung bildet sich eine Blastozyste aus (Abb. 4.18). Diese besteht aus einem trophoblastären Zellkranz, einer Blastozystenhöhle sowie einem Embryoblasten, der an der späteren Implantationsstelle liegt. Der Implantationsvorgang ist ein genetisch gesteuerter Prozess. Sechs bis sieben Tage nach der Fertilisation und nach ca. 3 Tagen „freien“ Aufenthaltes im Uterus legt sich die Blastozyste, von der Zona pellucida umhüllt, mit der Embryonalplatte (Embryoblast) an die Gebärmutterschleimhaut an. Die zunächst lockere Anheftung wird zu einem intensiven Zellkontakt zwischen der Trophoblastzellschicht und dem Epithel der Gebärmutterschleimhaut. Kurz vor der Implantation schlüpft die Eizelle aus der Zona pellucida und trennt sich von ihr. Dieser Vorgang wird durch steroidhormonabhängige lytische Faktoren gesteuert. Am 20. Bis 21. Tag nach der Befruchtung der Eizelle wächst der Trophoblast invasiv in das endometriale Stroma (bindegewebiges Stützgewebe der Uterusschleimhaut) ein. Ab dem Achtzellstadium hat der Embryo bereits Wachstumsfaktoren, Interleukine und andere Cytokine produziert, welche die Einnistung steuern. Die mütterliche Immunabwehr muss soweit beeinflusst werden,
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Lebenszyklus
dass der Embryo nicht als fremd erkannt und somit keine Abstoßungsreaktion ausgelöst wird. Die Blastozyste bringt das Schleimhautepithel und das darunter liegende Bindegewebe durch Enzymwirkungen zur Auflösung und senkt sich in die so entstandene Höhle ein. Nur dann können die mütterlichen Blutgefäße eröffnet und die Ausbildung der Plazenta vorbereitet werden. Wenn die Blastozyste vollständig in die Schleimhaut der Gebärmutter eingedrungen ist, verschließt mütterliches Fibrin (Blutfaserstoff) die Öffnung.
4.2.6
Störfaktoren der Fertilität bei Frauen und Männern
Die Nichterfüllung des Wunsches nach einem Kind bedeutet für die meisten Betroffenen eine psychische Belastung, da die Geburt des eigenen Kindes heute zu einem weitgehend bewussten und planbaren Lebensziel geworden ist. Es wird heute allgemein von einem jederzeit einsetzbaren generativen Potential ausgegangen. Aber die Angaben über die Anzahl ungewollt kinderloser Paare im reproduktionsfähigen Alter mit primärer (noch kein Kind) oder sekundärer Infertilität (Ausbleiben einer erneuten Schwangerschaft) machen deutlich, dass nicht für alle Paare die Erfüllung des Kinderwunsches so problemlos ist, wie es vielen zunächst erscheint. Schätzungen für Deutschland gehen von einer Prävalenz der Infertilität zwischen 5 und 15 % aus, das heißt, es ist bei regelmäßigem, ungeschütztem Sexualverkehr innerhalb eines Jahres nicht zu einer Schwangerschaft gekommen (Bruckert 1991). Eine WHO-Studie ergab die Zahl von weltweit 60 bis 80 Mio. ungewollt kinderlosen Paaren; die Schätzungen schwanken je nach Region zwischen 3,6 % im Mittleren Osten und 14,3 % in Zentralafrika (Farley und Belsey 1988). In den vergangenen 20 Jahren hat die natürliche Reproduktion in den Industrienationen signifikant abgenommen. Im gleichen Zeitraum haben medizinische Kinderwunschbehandlungen sowie die Zahl der publizierten klinischen Studien auf dem Gebiet der assistierten Reproduktion exponentiell zugenommen. Die Ursachen der ungewollten Kinderlosigkeit liegen bei Paaren, die deswegen in ärztliche Behandlung gegangen sind, ungefähr zu 40 % nur bei der Frau, zu 20 % nur beim Mann; in 26 % der Fälle sind die Ursachen bei beiden Partnern zu finden. Trotz ständig verfeinerter Diagnosemethoden bleibt bei 15 % der Paare die Ursache der Kinderlosigkeit unentdeckt. Naheliegend, aber vielen Paaren offensichtlich nicht bewusst oder bewusst umgesetzt, ist die Bedeutung der Koitusfrequenz für eine Schwangerschaft. Bereits 1955 stellten McLeod u. Gold fest, dass bei einer mittleren Koitusfrequenz von weniger als 1 Mal pro Woche die spontanen Konzeptionschancen (ohne intervenierende Behandlung) innerhalb von 6 Monaten bei nur 16 % liegen, bei Verkehr von mehr als 3 mal pro Woche steigt die Chance einer Befruchtung auf über 90 %. Oft wird auch die Bedeutung des Alters der Frau für die Konzeptionswahrscheinlichkeit von den Paaren unterschätzt. In kontrollierten Studien, in denen die Samenqualität des Mannes durch spezielle Aufbereitung konstant gehalten wurde, sank die Konzeptionswahrscheinlichkeit der Partnerin ab der Gruppe der Mitdreißigjährigen konstant mit zunehmendem Lebensalter.
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Fortpflanzungsbiologie
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Tab. 4.18 Infertilität bei Frauen Körperliche Faktoren • ChromosomaleAbberationen z. B. Turner-Syndrom mit XO-Karyotyp, nach der Geburt nur Reste von Primordialfollikeln mit erkennbarem Ovarialgewebe • Endokrine/ovarielleSterilität gestörte Follikelreifung mit Anovulation und Gelbkörperschwäche • ZervixbedingteSterilität gestörte Sekretion des Zervixmukus • PeriovarielleundperitubareVerwachsungen Bindegewebswucherungen oder Verwachsungen in den Eileitern, fehlende Tubendurchgängigkeit • Adnexitis Eileiterentzündung mit fehlender Tubendurchgängigkeit • Endometriose Entzündungen an Tuben oder Ovarien durch Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut • Uterusmyomatosus Wucherungen von Polypen an der Uteruswand Ovarialgewebe nach der Geburt • Hyperprolaktinämie erhöhte Prolaktinkonzentration • Fehlbildungen Uterusmissbildungen, Vaginalaplasie • Spermienantikörperbildung
4.2.6.1 Körperliche Faktoren der Infertilität bei Frauen Im weiblichen Körper werden die Gameten (Eizellen) produziert; dort findet die Befruchtung sowie die Entwicklung von der Zygote zum reifen Kind statt, das auch nach einer Geburt unter natürlichen Bedingungen zunächst von der Fürsorge der Mutter durch das Stillen abhängt, wenn auch nicht mehr von der Funktion ihrer Fortpflanzungsorgane. Bei Frauen sind deshalb nicht nur die Keimzellbildung und die Fähigkeit zum Geschlechtsverkehr von Bedeutung für die Fertilität, sondern auch die Fähigkeit des weiblichen Fortpflanzungssystems, eine befruchtete Eizelle im Körper bis zur Geburt eines extrauterin lebensfähigen Kindes heranreifen zu lassen. Abgesehen von Frauen, deren vorgeburtliche sexuelle Differenzierung aufgrund einer chromosomalen Aberration gestört ist, wie z. B. beim Turner-Syndrom (siehe Kap. 4.2.1 Störungen der sexuellen Differenzierung), können alle anderen angeführten Infertilitätsfaktoren Frauen betreffen, die vor ihrem unerfüllten Kinderwunsch nicht an mögliche Komplikationen gedacht haben. Die wichtigsten Ursachen für Infertilität bei Frauen (Tab. 4.18): • Störungen in der Funktion der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse können durch die mangelnde Östrogenbildung in den Hormonzellen der Follikel zum Ausbleiben der Follikelreifung im Eierstock und zur Anovulation führen. Selbst nach erfolgter Ovulation kann aufgrund einer zu geringen LH-Ausschüttung der Hypophyse die Progesteronbildung im Gelbkörper nicht ausreichend
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stimuliert werden und als Folge die Einnistung des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut nicht gelingen (siehe Kap. 4.2.5). Aufgrund einer fehlerhaften Regulation der Biosynthese der Sexualsteroide im Eierstock kann es zu einem erhöhten Androgenspiegel der Frau kommen, der für ein polyzystisches Ovar, das PCO-Syndrom16 verantwortlich ist. Eine erhöhte Prolaktinkonzentration im Blut – ein Prolaktinspiegel über 20 ng/ml gilt als pathologisch – kann eine Vielzahl von Ursachen haben: Medikamente (Psychopharmaka), Schilddrüsenunterfunktion und chronische Niereninsuffizienz. Können diese körperlichen Erkrankungen ausgeschlossen werden, ergibt sich anamnestisch relativ häufig eine erhöhte Stressbelastung der Frauen, und in der Folge ein erhöhter Prolaktinspiegel. Daher ist Prolaktin nicht nur als Milchhormon (Steuerung der Milchsekretion in den Brustdrüsen), sondern ist auch als „Stresshormon“ bekannt. Aus biologischer Sicht ist diese endokrine Reaktion unter körperlichen und psychischen Belastungen adaptiv, denn sie erschwert oder verhindert bei Stress die (erneute) Schwangerschaft einer Frau17. Die Folge der Hyperprolaktinämie ist eine reduzierte GnRH-Sekretion durch den Hypothalamus, wobei die Pulsfrequenz und die Menge des Releasing-Hormons absinken. Dadurch kommt es zu einer mangelnden Stimulation der Hypophyse, die weniger LH und FSH ausbildet. Diese Veränderungen führen zur Störung der Follikelreifung, Anovulation und schließlich zu mangelnder Progesteronsynthese im Corpus luteum (Knuth et al. 2000). Die Passage der Spermien bis zur Eizelle kann durch die gestörte Bildung des Zervixmukus, Entzündungen der Eileiter z. B. durch Chlamydien (bakterienähnliche Mikroben), Endometriose18, Verwachsungen oder Bindegewebswucherungen in den Eileitern blockiert sein und die Befruchtung des Eies verhindern, bzw. das befruchtete Ei kann den Eileiter nicht verlassen und in die Gebärmutter gelangen, um sich dort einzunisten. Angeborene Fehlbildungen im Urogenitaltrakt sind durch Störungen während der embryonalen, sexuellen Differenzierung bedingt, welche die Müllerschen Gänge betreffen (siehe Kap. 4.2.2). Es können der Uterus, die Eileiter und die Vagina betroffen sein; gegebenenfalls wird durch eine Operation die Funktionsfähigkeit der Organe wieder hergestellt werden müssen. Eine erworbene Fehlbildung des Uterus stellen Myome (Geschwulst aus Muskelfasern der Gebärmutterwand) dar, die sich bei ca. 20 % der über 30jäh-
16 Eine gesteigerte Anzahl von heranreifenden Follikeln (20–100) anstatt der normalen Zahl von 3–7 Eizellen führt dazu, dass sich kein Leitfollikel ausbildet und bis zum Eisprung heranreift. Alle Follikel im polyzystischen Ovar werden atretisch. 17 Die Unterdrückung der normalen Funktion der Hypothalamus-Hyphophyen-Gonaden-Achse und damit das Ausbleiben von Follikelreifung und Ovulation funktioniert auch bei stillenden Frauen unter der Bedingung, dass der Prolaktinspiegel einen gewissen Minimalwert nicht unterschreitet. Dafür muss eine Mutter ihr Kind täglich mehrmals stillen. 18 Ansiedelung von Endometriumgewebe (Gebärmutterschleimhaut) in den Eileitern, teilweise bis hin in den Bauchraum der Frau. Endometriumzellen und -fragmente können während der Menstruation retrograd aus dem Uterus in die Eileiter und darüber hinaus gelangen und sich dort implantieren.
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Fortpflanzungsbiologie
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rigen Frauen feststellen lassen. Sie können die Ursache für eine ausbleibende Schwangerschaft bzw. für einen Abort sein, so dass die Myome durch eine Operation entfernt werden müssen, wenn sie die Konzeption und das Austragen der Schwangerschaft gefährden. • Liegen bei einer Frau keine hormonellen oder anatomischen Faktoren der Infertilität vor, kann das Immunsystem des Zervikal- oder Vaginalmukus Antikörper gegen Spermien ausgebildet haben. Obwohl das weibliche Immunsystem typischerweise trotz der großen Anzahl an potentiell antigen wirkenden Spermien, die beim ungeschützten Koitus aufgenommen werden, nicht aktiviert wird, haben sich vermutlich bei 2–3 % der Frauen Spermienantikörper ausgebildet. Die Anwesenheit von Spermienantikörpern im Mukus der Frau ist mit der Zahl lebender Spermien negativ korreliert, aber ein signifikanter Zusammenhang von Spermienantikörpern mit der Schwangerschaftsrate konnte bisher nicht direkt nachgewiesen werden.
4.2.6.2 Körperliche Faktoren der Infertilität bei Männern Der Beitrag des Mannes zur Fertilität eines Paares beschränkt sich im somatischen Bereich auf die Produktion der Spermatozoen und die Befruchtung seiner Partnerin während des Sexualaktes, also auf den Zeugungsakt. Danach ist der Einfluss des Mannes auf die Entstehung eines neuen Menschen nur noch indirekt durch den Schutz und die Versorgung seiner Partnerin möglich. Störungen der Fertilität des Mannes beruhen auf der Funktionsunfähigkeit der Testes, der ableitenden Samenwege (Nebenhoden und Samenleiter) und der Samendisposition, also auf der Unfähigkeit, seine Spermien in den Körper der Frau zu bringen. Obwohl der Mann nicht mehr für die Versorgung und Weiterentwicklung der von ihm befruchteten Eizelle zuständig ist, gibt es in seinem reproduktiven System eine große Zahl möglicher Ursachen für Infertilität (Tab. 4.19). Nach Schätzungen dürften im Laufe ihres Lebens ungefähr 7 % der Männer mit der Störung ihrer Zeugungsfähigkeit konfrontiert sein (Nieschlag 2000). • Aufgrund einer angeborenen Störung im Bereich des Hypothalamus, dem idiopathischen hypogonadotropen Hypogonadismus, der durch eine zu geringe Ausschüttung des Gonadotropin-Releasing Hormons (GnRH) gekennzeichnet ist, kommt es bei Männern in der Folge zu einem Mangel der Hypophysenhormone FSH (Follikelstimulierendes Hormon) und LH (Luteinisierendes Hormon). Durch den Mangel an LH und FSH kann in den Hoden weder eine Reifung der Keimzellen noch eine nennenswerte Testosteronproduktion stattfinden, so dass in der Pubertät die Entwicklung bei den betroffenen Jungen ausbleibt oder nur ansatzweise erfolgt. Ohne Hormonsubstitution mit GnRH oder den Gonadotropinen LH und FSH bleiben die Männer aufgrund ihrer Azoospermie (keine Spermatozoenbildung) lebenslang infertil. • Eine konstitutionelle Entwicklungsverzögerung (KEV) liegt vor, wenn die Pubertätsentwicklung (siehe Kap. 4.2.2) bei einem Jungen nicht bis zum Alter von 14 Jahren eingesetzt hat. Die normale Altersspanne liegt zwischen 8 Jahren bis zum 14. Geburtstag. Die KEV wird als extreme zeitliche Variante der normalen pubertären Entwicklung angesehen, da sie in ihrer zeitlichen Abfolge und
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Tab. 4.19 Infertilität bei Männern Körperliche Faktoren StörungenimBereichHypothalamus/Hypophyse • IdiopathischerhypogonadotroperHypogonadismus: angeborene Störung der GnRH-Sekretion • konstitutionelleEntwicklungsverzögerung: „nachgehende biologische Uhr“ • Hyperprolaktinämie: Auslöser können Adenome, Medikamente und Drogen sein StörungenimBereichderHoden • Anorchie(fehlendeHoden): angeborene Anorchie (fetaler Hodenverlust), erworbene Anorchie (Erkrankung) • LageanomalienderHoden: Testes sind im Bauchraum verblieben (Maldescensus testes) • Germinalaplasie bzw. Sertoli-Cell-Only-Syndrome: Hodenepithel enthält keine Keimzellen • ChromosomenanomalienmitangeborenemHypogonadismus: Testesvolumen < 3 ml • Hodenatrophie durch systemische Erkrankungen (Leberzirrhose, Niereninsuffizienz, Arteriosklerose) • Orchitis: Entzündung der Hoden mit Keimzellschädigung StörungenimBereichderableitendenSamenwege • AngeboreneAnomalienoderObstruktionen: Verschluss der Samenwege • ImmunologischeInfertilität: Autoimmunreaktionen gegen Spermien • Infektionen durch Bakterien, Viren und Chlamydien im Ejakulat • StörungenderSamendisposition: Penisdeformation, Erektionsstörung, Ejakulationsstörung
in der Reihenfolge der Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale der Jungen der Norm entspricht. Dieses Phänomen der „nachgehenden biologischen Uhr“ tritt familiär, allerdings auch spontan auf. • Prolaktin produzierende Adenome in der Hypophyse sind die häufigste Ursache für eine Hyperprolaktinämie, den erhöhten Spiegel des Prolaktins (bei der Frau bekannt als „Milchhormon“ in der Stillphase), aber auch verschiedene Medikamente, chronische Niereninsuffizienz oder eine Schilddrüsenunterfunktion können eine Hyperprolaktinämie auslösen. Leichte Erhöhungen des Prolaktinspiegels als Stressreaktion können auch beim Mann durch körperliche und psychische Belastungen ausgelöst werden. Ungünstige Stressverarbeitungsstrategien, die eher zur Stressverstärkung als zum Stressabbau führen, korrelieren bei Männern und Frauen, die sich wegen ihres Kinderwunsches in Therapie befinden, ebenfalls signifikant positiv mit ihrem Prolaktinspiegel (Hars 2002). Die Folge ist eine Störung der pulsatilen GnRH-Freisetzung im Hypothalamus, die wiederum die Ausschüttung von FSH und LH vermindert und dadurch die männlichen reproduktiven Funktionen beeinträchtigt. • Zu den schwersten Störungen im Bereich der Testes gehört die Anorchie, die angeboren (Häufigkeit 1:20 00; Monoorchie: Häufigkeit 1:5000) oder durch Verletzungen, Entzündungen oder aufgrund der Operation eines Tumors entstanden sein kann. Bei der angeborenen Anorchie, bei der die Hoden zur Zeit der sexuellen Differenzierung noch das Anti-Mullerian Hormone (AMH), aber kein Testosteron mehr produziert haben, haben die betroffenen Männer ein weibli-
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ches äußeres Genitale, obwohl ein XY-Geschlechtschromosomensatz vorliegt (Nieschlag et al. 2000). Es gibt verschiedene Lageanomalien der Hoden, die bei bestimmten Krankheitsbildern aufgrund von angeborenem Hypogonadismus oder Chromosomenaberrationen auftreten; sie können aber auch ungeklärte Ursachen (idiopathische Störungen) haben. Wenn der Hoden entweder oberhalb des Inguinalkanals (Leistenkanal) im Bauchraum liegt, im Leistenkanal steckt oder dort mobil liegt und nur ins Skrotum herabgedrückt werden kann, kommt es durch Überhitzung zu histologischen Veränderungen des Hodenepithels. Die Folgen reichen von einer verringerten Spermatogenese bis zu einem Sertoli-Cell-onlySyndrome mit einem vollständigen Ausbleiben der Spermatogenese. Die Fertilitätseinschränkungen bis hin zur Infertilität sind zudem von einem 4–5fach erhöhten Hodentumor-Risiko begleitet. Bei der Germinalzellaplasie oder dem Sertoli-Cell-Only-Syndrome befinden sich in den Hodentubuli nur Sertoli-Stützzellen, aber keine Keimzellen. Die Testosteronproduktion in den Leydigzellen des Hodens (siehe Kap. 4.2.5) ist ungestört, so dass die Männer ansonsten eine normale männliche körperliche Entwicklung haben und von ihrer Infertilität erst erfahren, wenn sie kein Kind zeugen können. Ursachen für die Germinalzellaplasie sind Mikrodeletionen des Y-Chromosoms, exogene Schädigungen durch ionisierende Strahlen oder Lageanomalien der Testes. Chromosomenanomalien wie z. B. das Klinefelter-Syndrom (Häufigkeit von 0,2 % in der männlichen Bevölkerung) sind die häufigste Ursache für den angeborenen Hypogonadismus (Hodenvolumen 1–2 ml, normale Werte beim Mann zwischen 12 und 30 ml). Das Klinefelter-Syndrom beruht auf einer angeborenen Chromosomenaberration (47, XXY-Karyotyp bis 49,XXXXY-Karyotyp), die durch so genannte Non-Disjunction in den meiotischen Teilungen während der Keimzellentwicklung oder in frühembryonalen mitotischen Teilungen entsteht (Nieschlag et al. 2000). Durch eine Vielzahl von systemischen Erkrankungen wie z. B. Leberzirrhose, Nierenerkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen, Schilddrüsenerkrankungen, Diabetes mellitus und Arteriosklerose (Durchblutungsstörungen) kommt es sekundär zu Schädigungen der Hoden, die zu Hypogonadismus und Störungen der Spermatogenese führen, die in ihrem Ausmaß mit der Schwere der Erkrankung variieren (Handelsman 2000). Eine Entzündung der Hoden, die Orchitis, ist die Folge von Viruserkrankungen (z. B. Mumps), Pneumokokken, Salmonellen, Gonokokken oder unspezifischen bakteriellen Erregern, deren zunächst im Körper ausgelöste Entzündungen auf die Hoden übergreifen können. Gefährlich ist insbesondere eine Mumpserkrankung, die nach Eintreten der Pubertät ohne Behandlung zu irreversiblen Schäden der Spermatogenese (Keimzellenschädigung bis hin zum SertoliCell-Only-Syndrome) führen kann und dadurch im Extremfall zu lebenslanger Infertilität des Mannes. Zu den wichtigsten Störungen im Bereich der ableitenden Samenwege gehören Infektionen durch Chlamydien, Viren und Bakterien. Die entzündlichen Pro-
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zesse führen aufgrund der Infektion zu Narbenbildungen und dadurch zum Verschluss der Samenwege, der nur durch rechtzeitige medikamentöse Behandlung reversibel ist. • Angeborene anatomische Anomalien oder durch Vasektomie (operative Durchtrennung der Samenleiter) entstandene Verschlüsse sind hingegen nicht immer operativ zu beheben. Den betroffenen Männern bleibt dann nur noch die Möglichkeit, durch eine künstliche Befruchtung ihrer Partnerin mit Spermien, direkt aus dem Hoden oder Nebenhoden gewonnen, ein Kind zu zeugen. • Es kann zur Bildung von Anti-Spermien-Antikörpern (ASA) kommen, wenn durch Verletzungen oder Infektionen die Blut-Hoden-Schranke zerstört wurde und immunkompetente Zellen aus dem Serum mit Spermatozoen in Kontakt kommen. Die ASA sind im Serum, frei im Seminalplasma und direkt an Spermatozoen gebunden nachweisbar. ASA können zu einer Störung der Fertilität führen, indem sie die Beweglichkeit der Spermien im weiblichen Genitaltrakt sowie ihre Fähigkeit, den Zervixmukus zu durchdringen, behindern. • Störungen der Samendisposition beruhen größtenteils auf sexuellen Funktionsstörungen wie Libidostörungen (fehlende sexuelle Lust), mangelnder Erektionsfähigkeit des Penis und Ejakulationsproblemen, die hauptsächlich auf psychische Ursachen zurückzuführen sind. Es gibt auch anatomische Penisveränderungen, die angeboren oder durch Verletzungen verursacht sein können. Die Erektionsfähigkeit des Penis kann durch organische (Gefäße, Nerven) oder hormonelle Faktoren beeinträchtigt sein, wobei vermutlich 50–80 % aller organisch bedingten Erektionsstörungen auf arterielle Durchblutungsstörungen der Gefäße im Penis zurückzuführen sind (Ahlen und Hertle 2000).
4.2.6.3
Einfluss von Umweltfaktoren auf die Fertilität von Frauen und Männern Bei Frauen und Männern kann die Fruchtbarkeit durch natürlich vorkommende und synthetische Stoffe negativ beeinflusst werden. Die Angriffspunkte der Umwelteinflüsse sind vielfältig: Schädigung der noch nicht ausgereiften Keimzellen (Primordialfollikel und Spermatogonien); Störung der Oogenese und Spermatogenese; nach erfolgreicher Verschmelzung von Eizelle und Spermium kann die Einnistung des befruchteten Eies behindert oder das Absterben des bereits eingenisteten Embryos bewirkt werden. In vielen Lebensbereichen lässt sich die Exposition des Menschen gegenüber fertilitätsmindernden Fremdstoffen nicht immer leicht vermeiden, besonders wenn es sich um Umweltchemikalien oder ionisierende Strahlung (Radioaktivität) handelt. Sehr viel bedeutender in der Wirkungsbreite sind jedoch alltäglich konsumierte „Genussgifte“, denn sie werden meistens freiwillig in einer Dosis mit viel höheren Wirkungsgraden zugeführt als klassische Umweltchemikalien. Kaum jemand macht sich klar, welches Risiko der Fertilitätsminderung eingegangen wird, wenn Alkohol, Tabak, Marihuana, Opiate, selbst koffeinhaltige Getränke (im Übermaß) konsumiert werden oder der Lebensstil zu einer starken Stressbelastung führt. Gerade deshalb ist es wichtig, das Ausmaß möglicher Toxizität dieser Parameter auf Keimzellen und Fertilität von Frauen und Männern zu kennen.
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Umweltchemikalien und ionisierende Strahlung Schädigungen der Fruchtbarkeit von Frauen und Männer sind bei einigen Chemikaliengruppen und für ionisierende Strahlung inzwischen vielfach untersucht worden (Hanf 1998; Brinkworth und Handelsman 2000). Es konnten bei Frauen und Männern schädigende Wirkungen auf etliche Organe nachgewiesen werden: die Hypothalamus-HypophysenGonaden-Achse (GnRH-, LH-, FSH-, und Testosteronproduktion), Entwicklung der Eizellen bzw. Spermatozoen, Produktion genitaler Sekrete im Nebenhoden und der Samenblase beim Mann, Motilität und Durchblutung des inneren Genitale bei der Frau und auf die Libido von beiden Geschlechtern. Ständiger Kontakt mit Asbest, Anästhetika (Glykolether), Lösungsmitteln, chemischen Reinigungsmitteln, Schwermetallen wie Blei19, ionisierender Strahlung aus der natürlichen Umgebung oder Röntgenstrahlung (z. B. bei medizinischen Untersuchungen20), Pestiziden und Holzschutzmitteln führt bei Frauen und Männern nachweislich zur Einschränkung ihrer Fertilität. Sexualhormone: Östrogene Bereits pränatal können künstliche Östrogene wie Diethylstilbroestol (DES), die über die Versorgung durch die schwangere Mutter aufgenommen werden, den männlichen Fötus schädigen. In der Zeit von 1940–1971 wurde schwangeren Frauen DES verabreicht, um bei Abortgefahr die Schwangerschaft zu erhalten. Bei männlichen Embryonen kam es dadurch während der pränatalen Zeit zu einer verminderten Sertolizellen-Replikation. Nach der Geburt wiesen die Jungen verschiedene genitale Fehlbildungen (z. B. Hodenhochstand) auf. Im Erwachsenenalter hatten die betroffenen Männer eine verminderte Spermatozoenproduktion, auch eine erhöhte Neigung zu Hodenkrebs wurde festgestellt. Mindestens bis Anfang der siebziger Jahre wurde DES auch dem Futter für die Rindermast beigefügt und ist dadurch vermutlich über die Nahrungskette in den menschlichen Körper gelangt, wobei Knaben vorgeburtlich über die Mutter, postnatal durch ihren eigenen Milch- und Fleischkonsum geschädigt werden konnten. Östrogene haben bei Männern eine hemmende Wirkung auf die Ausschüttung des Follikelstimulierenden Hormons und damit auf die Sertoli-Zellen, wodurch sich das Hodengewicht verringert und die Stimulation der Spermatogenese unterdrückt wird. Zu weiterem Kontakt mit Östrogenen kann es bei der (ungeschützten) Herstellung östrogenhaltiger Kontrazeptiva bzw. der Handhabung von östrogen19 Eine Gefährdung der Fertilität bei Frauen oder Männern durch Amalgamfüllungen, die Blei enthalten, wurde nicht gefunden. Bei zahnärztlichem Personal, das durch Ausbohren alter Füllungen im Sprühnebel der Bohrung mit Wasserkühlung intensiv mit Amalgam in Kontakt kommt, wurde bei 30 Füllungen pro Woche ein signifikanter Effekt auf die Fruchtbarkeit (nur noch 63 % der Fertilisierungschancen unbelasteter Frauen) nachgewiesen. 20 Geringe Strahlenbelastung führt beim Mann zur Reduzierung der Spermienanzahl im Ejakulat; hohe Dosen können ein Ausbleiben der Spermatogenese über mehrere Jahre bewirken bis hin zu irreversiblen Schädigungen der Keimzellen. Bei Frauen lösen niedrige Dosen von Röntgenstrahlen eine temporäre Amenorrhoe (Ausbleiben der Regelblutung) aus. Bei stärkerer Belastung können Mutationen im Genom der Eizelle auftreten und je nach Ausmaß der Strahlenbelastung eine bleibende Sterilität. Für elektromagnetische Strahlung (Elektrosmog) ist bisher noch kein nachweisbarer Effekt auf die Fertilität von Frauen und Männern nachgewiesen worden.
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wirksamen Pflanzengiften kommen. Auch Phytoöstrogene aus Pflanzen (z. B. bei Sojabohnen), östrogenähnliche Inhaltsstoffe in Bier oder in Milch schwangerer Kühe haben bei Männern durch übermäßigen Genuss eine negative Wirkung auf die Fertilität. Auch für Frauen ist eine unkontrollierte Zufuhr von exogenen Östrogenen keinesfalls unbedenklich, denn diese sind nicht wie körpereigene Östrogene an inaktivierende Trägerproteine gebunden, sondern sofort biologisch aktiv, wenn sie in den Blutkreislauf gelangen. So können sie unkontrolliert in den Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Regelkreis eingreifen und ihn möglicherweise stören.
4.2.6.4 Lebensstil Stress Für etliche Infertilitätssyndrome ist in den letzten Jahren eindeutig Stress als Ursache ausgemacht worden. Psychosoziale Belastungen können über verschiedene Kommunikationswege zwischen Gehirn und Fortplanzungsorganen die Fertilität beeinlussen. Stress setzt neuroendokrinologische Mechanismen in Gang, die durch die Aktivierung des autonomen Nervensystems oder erhöhte Cortisolausschüttungen aus der Nebennierenrinde zu einer erniedrigten Pulsrate von GnRH im Hypothalamus führen. Bei Männern kann dadurch die Spermiogenese beeinträchtigt werden, bei Frauen kommt es durch diese psychosomatischen Abläufe zu Zyklusstörungen. Aufgrund kontrollierter Fallstudien wurden bei infertilen Paaren mit diesen Symptomen signiikant häuiger psychosoziale Belastungen als bei fertilen Kontrollgruppen gefunden. Selbst die Auseinandersetzung mit dem unerfüllten Kinderwunsch korreliert signiikant mit entscheidenden Fertilitätsparametern. Die Folgen waren bei den Männern eine deutliche Einschränkung der Spermienqualität, Spermienanzahl und Spermienmorphologie21 aufgrund der verringerten FSH-Ausschüttung, bei infertilen Frauen war dementsprechend die Eireifung gestört, und es kam nicht zur Ovulation (Hars 2002). Nikotingenuss Die negativen Auswirkungen von Nikotingenuss bei Frauen in der Schwangerschaft auf die Entwicklung eines ungeborenen Kindes sind gut dokumentiert, der Einfluss auf die Fekundität ist hingegen schwerer nachzuweisen. Ein Einfluss von moderatem Rauchen (bis zu 10 Zigaretten pro Tag) auf die Konzeptionschancen ist bisher nicht gefunden worden, obwohl in experimentellen Studien gezeigt wurde, dass Nikotin die Kontraktilität von Uterus- und Eileitermuskulatur und dadurch den Gametentransport beeinträchtigt. Auch kann Nikotin die Durchblutung der Einnistungsstelle im Endometrium des Uterus Männer mit ausgeprägt maskulinem Rollenideal sind in modernen Gesellschaften starkem sozialem Stress ausgesetzt, der durch ihre Konkurrenz- und Wettstreitmentalität bedingt ist. In einer eher anonym lebenden Großstadtbevölkerung sind sie ständig zu neuen „Rangordnungskämpfen“ gezwungen, um ihren Status aufrecht zu erhalten. Es ließ sich in einer psychobiologischen Studie (Christiansen et al. 1997) belegen, dass gerade diese Männer eine hochsignifikant schlechtere Spermienqualität (Morphologie, Motilität und Quantität) hatten als androgyn typisierte Männer, die sich eine weibliche und männliche Rollenausrichtung zuschreiben und sich nicht so stark zu intramännlichen Positionskämpfen neigen. 92 % der maskulin orientierten Männer wiesen pathologische Spermiogramme auf, und auch der tatsächliche Schwangerschaftserfolg war bei androgynen Männern viermal höher, unabhängig von der Fertilitätsdiagnose bei ihrer Partnerin. 21
4.2
Fortpflanzungsbiologie
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herabsetzen sowie direkt auf die Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse negativ wirken. Es gibt Hinweise für eine direkte schädigende Wirkung auf die Primordialfollikel noch ungeborener Mädchen mit rauchenden Müttern, die bei den betroffenen Mädchen im Erwachsenenalter zu einer höheren Wahrscheinlichkeit der Kinderlosigkeit führt. Auch die Follikel im Ovar von Raucherinnen werden geschädigt, so dass diese Frauen früher in die Menopause (siehe Kap. 4.2.7) kommen als Nichtraucherinnen. Wissenschaftliche Studien über den Einfluss von Rauchen auf die Fertilität der Männer belegen eine leichte Reduzierung der Spermienzahl und der Spermienbeweglichkeit im Ejakulat. Bei einem Nikotinkonsum von mehr als 20 Zigaretten pro Tag wurde eine direkte Wirkung auf die innere Faserstruktur der Spermatozoenflagella nachgewiesen, die zur Verminderung der Spermatozoenmotilität führt. Nikotin im Sekret des Ejakulats wirkt zusätzlich schädlich auf die Beweglichkeit der Spermatozoen. Experimentell wurde nachgewiesen, dass in Spermaflüssigkeit von starken Rauchern die Motilität der Spermien von Nichtrauchern deutlich sinkt und ebenso Spermien von Rauchern in der Samenflüssigkeit ohne Nikotinbelastung ihre Beweglichkeit verbessern (Zavos et al. 1998a, b). Alkohol Exzessiver Alkoholkonsum übt bei Männern eine direkte, toxische Wirkung auf die Spermiogenese aus. Indirekt kommt es durch eine alkoholbedingte Leberzirrhose zu einer Hodenatrophie und Hypogonadismus (verminderte Testosteronsynthese in den Leydig-Zellen) mit negativen Auswirkungen auf die Spermatozoenreifung und auf die Zeugungsfähigkeit. Bei Frauen sind schädigende Wirkungen von Alkohol auf die Entwicklung des ungeborenen Kindes, die Alkoholembryopathie (Wachstumsverzögerung, Fehlbildungen am Schädel und postkranialen Skelett und geistige Retardierung) eindeutig belegt. Eine Minderung der Fekundität ist bisher nicht nachgewiesen worden, allerdings scheint die Abortrate bei Alkoholkonsum erhöht zu sein. Überhitzung Erhöhte Temperatur in der direkten Umgebung der Hoden gehört zu den am besten untersuchten schädigenden Einflüssen. Selbst kurze Perioden erhöhter Temperatur durch umwelt- oder arbeitsplatzbedingte Hitzeexposition führen zu einem deutlichen Abfall der Spermienproduktion und damit der Fekundität eines Mannes. Experimentell konnte durch lokale Erhitzung des Skrotums sogar eine kontrazeptive Wirkung erzielt werden, die sich jedoch nicht praktisch umsetzen ließ. Ungewollt ist wohl die Hitzeeinwirkung bei Männern, die als Berufsfahrer durch längeres Sitzen am Steuer (ohne Unterbrechung über 3 Stunden) oder durch Tragen von sehr engen Hosen ihre Fertilisierungschancen ebenfalls verringern dürften. Sportausübung Junge Sportlerinnen, die Sportarten (Ballett, Laufen, Radfahren, Triathlon) ausüben, bei denen ein geringes Körpergewicht von Vorteil ist, haben häufig eine verspätete Menarche. Viele von ihnen werden bereits im Kindergarten ausgewählt, früh gefördert und intensiv trainiert (Wolf und Sterzik 1998). Als Ursachen für das Ausbleiben der ersten Regelblutung wurden neben dem niedrigen Körpergewicht der Mädchen vor Beginn des Leistungssports die physische
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Belastung durch das Training, extreme Ernährungsgewohnheiten oder auch Essstörungen genannt. Sobald das intensive Training eingestellt wird und sich das Körpergewicht normalisiert, setzt die normale pubertäre Entwicklung ein. Bei erwachsenen Leistungssportlerinnen (vor allem bei Langstreckenläuferinnen, Balletttänzerinnen und Gymnastinnen), welche die Pubertät mit Menarche vor dem Beginn des Leistungssports durchlaufen haben, kann es während der Belastungsphasen durch intensives Training immer wieder längere Zeiten mit anovulatorischen Zyklen und ausbleibender Menstruation geben. Als Ursachen für die Zyklusstörungen wurden eine genetische Disposition, ein geringes Körpergewicht verbunden mit einer signifikanten Abnahme des Körperfettanteils22, einer Kalorienreduktion23 oder einer hohen Trainingsintensität24 gefunden. Bei Männern haben kurzzeitige, körperlich anstrengende Sportübungen (5– 30 min) einen stark aktivierenden Effekt auf die Produktion von Testosteron sowie auf die Ausschüttung von LH und FSH aus der Hypophyse (Überblick in Christiansen 1999). Von geringer Bedeutung scheint die ausgeübte Sportart zu sein, solange der Körper wie beim Kurzstreckenlauf, Rudern, Schwimmen, Ergometertraining und Judokämpfen stark belastet wird. Ebenso typisch wie die schnelle Erhöhung des Gonadotropinspiegels und der Testosteronwerte ist bereits nach 15 bis 60 min der rapide Abfall aller Werte unter den Basiswert vor Trainingsbeginn. Bis sich die Hormonspiegel wieder normalisiert haben, vergehen in Abhängigkeit von der Intensität der vorangegangenen körperlichen Belastung drei Stunden bis zu 3 Tage. Etwas überraschend dürfte der Befund sein, dass hochtrainierte Leistungssportler trotz ihres athletischen Erscheinungsbildes niedrigere Androgenwerte als untrainierte Männer haben. Elias und Wilson (1993) erklärten dieses Phänomen mit einer unterdrückten Hypophysen-Gonaden-Funktion durch körperlichen Stress. Langfristiges Leistungstraining löse im Körper eine „Kampf- oder Flucht-Reaktion“ aus, die zu einer Absenkung der Testosteronproduktion unter lebensbedrohlichen oder feindlichen Umweltbedingungen führe. Dadurch werde die Fertilität eines Mannes verringert, was seine Überlebenschancen oder die seiner Gruppe erhöhen solle, da weniger Geburten mehr Flexibilität im Verhalten zulassen. Die Androgenausschüttung beim Mann würde deshalb unter Dauerbelastung nicht kompensatorisch erhöht, sondern die normale Testosteronproduktion beibehalten. Das von den Fettzellen produzierte Leptin ist für die Steroidhormonsynthese wichtig ist (siehe Kap. 4.2.2 über den Pubertätsbeginn). Es wurden bei Sportlerinnen mit Amenorrhö signifikant niedrigere Körperfettanteile und signifikant geringere Leptinwerte als bei einer nicht Sport treibenden Kontrollgruppe festgestellt (Laughlin et al. 1997). Weiterhin leisten Fettzellen einen wichtigen Beitrag zur peripheren Umwandlung von Androgenen im Blut in Östrogene. 23 Eine Erklärung für Zyklusstörungen durch Kalorienreduktion könnte die Energiekonservierung des Körpers sein (Williams et al. 1995). Bei unzureichender Kalorienzufuhr werden Prozesse des Körpers heruntergefahren, die Energie verbrauchen, aber nicht direkt zur Lebenserhaltung notwendig sind. Hierzu gehört zum Beispiel ein ovulatorischer Zyklus für die monatliche Bereitstellung einer befruchtungsfähigen Eizelle. 24 Die pulsatile LH-Sekretion der Hypophyse wird durch die erhöhte ß-Endorphinausschüttung während des intensiven Trainings oder Wettkampfes gehemmt und dadurch die Follikelreifung im Eierstock unterdrückt (Harber et al. 1997).
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Fortpflanzungsbiologie
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Diese diene aber vordringlich der Sicherung des überlebenswichtigen Kampf- oder Fluchtverhaltens. Die dadurch ebenfalls verursachte Absenkung von Libido und Fertilität werde in Kauf genommen und sei aus evolutionsbiologischer Sicht ein „erwünschter“ Nebeneffekt.
4.2.7
Menopause
Im Laufe der Individualentwicklung der Frau gibt es in Bezug auf ihre Fortpflanzungsfähigkeit verschiedene Lebensphasen. Obwohl bereits vorgeburtlich ungefähr 10 Mio. Oozyten oder Primordialfollikel in den Ovarien eingebettet sind, hat ein Mädchen nach der Geburt noch nicht die Fähigkeit zur Fortpflanzung. Erst mit ihrer Geschlechtsreife im Alter von 11 bis 15 Jahren können sich die Primordialfollikel unter dem Einfluss der Gonadotropine LH und FSH aus der Hypophyse so weit entwickeln, dass monatlich eine Oozyte heranreifen und als befruchtungsfähige Eizelle den Eierstock verlassen wird (siehe Kap. 4.2.5). Die fruchtbare Phase einer Frau endet meist gegen Ende des fünften Lebensjahrzehnts zwischen dem 45–55. Lebensjahr. Das äußerlich sichtbare Kennzeichen für den unwiderruflichen Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit ist nach einer Zeit mit unregelmäßigen, seltener werdenden Menstruationsblutung das endgültige Ausbleiben der Blutung, das klinische Zeichen für das Erlöschen der generativen Ovarialfunktion25 (siehe Box 4.9). Box 4.9: Erlöschen der generativen Ovarialfunktion: Begriffsdefinitionen
• Klimakterium: die Zeitspanne, die von der reproduktiven Phase zur nicht mehr reproduktiven Phase einer Frau überleitet. Das Klimakterium wird durch die Menopause in einen prä- und postmenopausalen Abschnitt geteilt. • Prämenopause: klimakterische Phase vor der letzten Menstruationsblutung, gekennzeichnet durch Gelbkörperinsuffizienz und dadurch entsprechend niedrigen Progesteronwerten. • Menopause: die letzte vom Ovar gesteuerte Regelblutung. Dieser Zeitpunkt kann erst retrospektiv nach mindestens einjähriger Amenorrhö (Ausbleiben der Regelblutung) bestimmt werden. • Postmenopause: Zeit nach der letzten Regelblutung, das Erlöschen der generativen Ovarialfunktion. Die endokrine Ovarialfunktion (Produktion von Sexualhormonen) verringert sich in Bezug auf Östrogene und Progesteron, erlischt aber nicht für Androgene.
Die Ovarien sind neben der Thymusdrüse die einzigen endokrinen Organe, die ihre Funktion lange vor Ende des Lebens einstellen. Die Ovarien erreichen ihr maximales Gewicht ungefähr im 28. Lebensjahr, danach beginnt zunächst ein langsamer Gewichtsverlust der Ovarien, der bis zum 40. Lebensjahr zunimmt und mit der Menopause beendet ist. Der Substanzverlust geht von durchschnittlich 12 cm3 auf 4 cm3. 25
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Das Ende der Reproduktionsfähigkeit der Frau ist die Folge der unzureichenden Östrogenproduktion in den Ovarien, da die Granulosazellen der Follikel (siehe Kap. 4.2.5) jetzt kaum oder gar nicht mehr auf die Stimulation durch das Follikelstimulierende Hormon (FSH) reagieren (Adashi 1996). Dadurch können die Androgene aus den Stromazellen von den Granulosazellen nicht mehr in Östrogene umgewandelt werden26. So gibt es keine Eireifung mehr, und die noch im Eierstock vorhandenen primordialen Keimzellen werden allmählich fest vom Ovarialgewebe eingeschlossen. Hingegen bleibt die Sekretion von Androstenedion, einem männlichen Sexualhormon, aus den Stromazellen und Hilarzellen des Ovars27 auch in der Postmenopause lange erhalten. Sie sind jetzt die einzige Quelle der Sexualhormonsynthese. Allerdings werden die Stromazellen in der Menopause hyperplastisch und ihre Androgenproduktion wird deshalb manchmal so hoch, dass Androgenwerte im männlichen Normalbereich synthetisiert werden. Das führt zu einer unerwünschten Maskulinisierung der betroffenen Frauen, insbesondere zu einer verstärkten männlichen Behaarung (Bart, Schambehaarung bis an die Oberschenkel und Bauchnabel hochgezogen). Obwohl die physiologischen Vorgänge für das Erlöschen der reproduktiven Funktion des Ovars bekannt sind, ist der Zeitpunkt der Menopause multifaktoriell bedingt und durch verschiedene exogene und endogene Parameter beeinflusst.
4.2.8 Vitalität und Reproduktionsfähigkeit des älteren Mannes Mit zunehmendem Alter verringert sich bei Männern stetig die Produktion des wichtigsten Sexualhormons Testosteron. Auch die Androgene aus der Nebennierenrinde, Dehydroepiandrosteron (DHEA) und sein Sulfat DHEAS, die peripher in Testosteron umgewandelt werden können, nehmen mit steigendem Alter kontinuierlich ab (Vermeulen et al. 1996). Das dadurch allmählich entstehende Androgendefizit des älteren Mannes wird mit verschiedenen Begriffen wie Testosteron-MangelSyndrom (TMS) oder „lateonset“-Hypogonadismus (spät einsetzende Hodenunterfunktion) belegt. International hat sich die Bezeichnung PADAM durchgesetzt, das in der deutschen Sprache für partielles Androgendefizit des alten Mannes steht. Nicht mehr gebräuchlich sind heutzutage die Bezeichnungen „Klimakterium virile“ oder „Andropause“, die als Analogien für das Klimakterium und die Menopause der Frau (siehe Kap. 4.2.7) verstanden werden könnten, die aber dem biologischen Ge26 Die Östrogenproduktion im Ovar dürfte nach der Menopause in den Stromazellen stattfinden, allerdings auf einem sehr niedrigen Niveau, das bei weitem nicht für die Follikelreifung ausreicht. Verschiedene Studien belegen nämlich, dass die Östradiol- und Östronkonzentration im ovariellen Blut noch zweimal höher als im peripheren Blut außerhalb des Eierstocks ist. Die bei weitem überwiegende Menge an Östrogenen im Blutserum wird jedoch außerhalb des Ovars im Unterhautfettgewebe sowie der Haut durch Aromatisation von Androstenedion zu Östron gewonnen. 27 Stromazellen sind lipidreiche Zellen, die den Thekazellen (Bindegewebszellen im Ovar) ähneln, die während der reproduktiven Phase der Bildungsort für Androgene sind. Hilarzellen liegen im Zentrum des Ovars. Ihre embryonale Herkunft ähnelt den Leydigzellen (Ort der Testosteronbiosynthese) im Hoden.
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schehen beim Mann in wesentlichen Punkten nicht entsprechen. Obwohl bei beiden Geschlechtern die Produktion des jeweils wichtigsten, in den Keimdrüsen produzierten Sexualhormons betroffen ist, kommt es bei Männern altersbedingt lediglich zu einem partiellen Androgendefizit. Von der Menopause sind ausnahmslos alle Frauen ab einem bestimmten Alter betroffen, während nur ca. 20–35 % der erwachsenen Männer ein erhebliches Androgendefizit (Testosteronwerte zwischen 2–4 ng/ ml bzw. 7–12 nmol) aufweisen, das sich schleichend über Jahrzehnte entwickelt hat. Zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr sinkt das biologisch aktive, freie Testosteron im Blutserum um ca. 1,2 % im Jahr (Vermeulen et al. 1972), so dass 20 % der Männer über 60 Jahre, 30 % der über 70jährigen und 50 % der Männer über 80 Jahre einen deutlich erniedrigten Testosteronspiegel aufweisen. Vor allem die biologisch aktive Form, das freie, nicht an das sexualhormonbindende Globulin (SHBG) gebundene Testosteron verringert sich besonders stark und dadurch zwangsläufig die Verfügbarkeit des Hormons (Feldman 2002; Harmann et al. 2001; Kaufman und Vermeulen 2004). Auch die DHEA-Konzentration im Blut verringert sich nach den Maximalwerten im jungen Erwachsenenalter stetig, so dass im 8. und 9. Lebensjahrzehnt die DHEA-Titer nur noch 10 bis 20 % der Werte junger Männer erreichen (Bélanger et al. 1994). Im Gegensatz zu den hormonellen Veränderungen in der Menopause der Frauen verläuft der Abfall der Androgenproduktion bei alternden Männern jedoch nicht einheitlich, und zeitlich relativ schwer vorhersagbar. Vor allem gibt es keinen Lebensabschnitt, in dem alle Männer als Folge des Androgenmangels ihre reproduktiven Fähigkeiten verloren haben. Ursächlich für das Androgendefizit ist nicht, wie bei menopausalen Frauen, die zunehmende Unfähigkeit der östrogenproduzierenden Follikel in den Ovarien auf die Ausschüttung der gonadotropen Hormone LH und FSH zu reagieren, sondern die Leydigzellen in den Hoden werden vor allem durch eine zu geringe Gonadotropinausschüttung aus der Hypophyse nicht mehr ausreichend zur Testosteronsynthese stimuliert. Durch die Verringerung der GnRH-Produktion des Hypothalamus kommt es bei gleicher Pulsfrequenz zu einer verminderten Pulsamplitude der LHAusschüttung. Als Folge ist auch die Tagesrhythmik der Testosteronsekretion in den Hoden aufgehoben, so dass bei älteren Männern statt eines morgendlichen Gipfels nur noch Testosteronwerte auf dem niedrigen, abendlichen Niveau gemessen werden können (Veldhuis et al. 1992).
4.2.8.1 Androgenmangelsyndrom Allein in Europa lebten im Jahr 2000 nach Angaben des United Nations Department of Economic and Social Affairs – Population Division – knapp 59 Mio. Männer über 60 Jahre. Die Prognosen für das Jahr 2050 gehen von 96 Mio. Männern dieses Alters aus. Die Zahl sehr alter Männer über 80 Jahre wurde im Jahr 2000 mit 22 Mio. angegeben, wobei eine Steigerung auf rund 60 Mio. im Jahr 2050 erwartet wird (Diszfalusy 2000). In Anbetracht dieser Zahlen sind die Folgen eines Androgenmangelsyndroms bei älteren Männern von erheblicher Bedeutung – für die betroffenen Männer und die Gesellschaft.
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Die Folgen des absinkenden Androgenspiegels sind vielfältig und umfassen vor allem körperliche Veränderungen: Libidoverlust, Störungen der Stimmungslage und Absinken der geistigen Leistungsfähigkeit. Die Symptome können das Ausmaß klinischer Relevanz mit objektivierbaren Kriterien erreichen, aber auch als subjektive Beschwerden ohne Krankheitswert bis hin zu Befindlichkeitsstörungen auftreten. Zu den somatischen Veränderungen gehören eine verminderte Mineralisation des Knochens mit der Folge einer Osteopenie (Abnahme von Knochengewebe im höheren Alter) oder Osteoporose (Verlust bzw. Verminderung der Knochensubstanz und -struktur), mit Knochenschmerzen zumeist am Rücken und einem erhöhten Frakturrisiko (Snyder et al. 1999a; Rolf und Nieschlag 2000; Orwoll 1996), Reduktion der Muskelmasse bis hin zu Atrophie der Muskulatur (Bross et al. 1999), Zunahme des viszeralen Fettgewebes (Snyder et al. 1999b) und Gewichtszunahme (Rolf et al. 2002), vasomotorische Symptome wie aufsteigende Hitze, Hitzewallungen, Frösteln (Ginsburg 1996), Verringerung der männlichen Körperbehaarung (Jockenhövel 2003), eine erhöhte Inzidenz von Autoimmunerkrankungen (Tenover 1994) und Verlust der sexuellen Potenz durch erektile Dysfunktion (Swerdloff und Heber 1982; Morgentaler 1999). Als psychosomatische Beschwerden werden die Verringerung der Libido (Hajjar et al. 1997), vegetative Dysfunktionen wie Schwindelgefühl, Pulsrasen, Gleichgewichtsstörungen, chronische Müdigkeit und Antriebsschwäche (Tietz et al. 1992) genannt. Niedrige Testosteronspiegel stehen auch mit einer depressiven Stimmungslage älterer Männer in Zusammenhang (Seidman et al. 2002), die sich durch Testosteronsubstitution signifikant verbessern lässt (Wang et al. 1996; Nieschlag und Behre 2000; Christiansen 2004). In Querschnittsuntersuchungen bei alternden Männern wurde eine positive Korrelation zwischen freiem Testosteronspiegel und kognitiver Leistungsfähigkeit festgestellt, die sich insbesondere bei Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit und sprachlichen Leistungen zeigte (Literaturüberblick in Janowsky et al. 1994; Yaffe et al. 2002). Altersassoziierte körperliche und psychische Veränderungen werden oft durch ein erhöhtes Anspruchsdenken der betroffenen Männer an die eigene Virilität, Aktivität und Leistungsfähigkeit als besonders belastend erlebt. Die Befragung von Degenhardt und Schmidt (1994) mittels eines „Klimakterium-Virile“-Inventars zeigte dementsprechend, dass die befragten Männer im Alter von 46 bis 55 Jahren ihre Befindlichkeit hauptsächlich als „Psychisches Energieverlustsyndrom“28 wahrnehmen, obwohl die klinischen Daten einschlägiger Studien gerade im körperlichen Bereich objektiv erheblich mehr Einschränkungen erkennen lassen. Eine Therapie des Androgenmangelsyndroms bei älteren Männern, deren Testosteronwerte im hypogonadalen Bereich liegen (unter 4 ng/ml bzw. 12 nmol/l), birgt wie alle Hormontherapien erhebliche Risiken (Nieschlag und Behre 2000). So bedeutet ein latentes Prostatakarzinom (eine Testosteronsubstitution kann aber kein Prostatakarzinom induzieren!) eine absolute Kontraindikation. Bei der Einbindung in ein regelmäßig durchgeführtes Überwachungsprogramm, das auch weitere Der Faktor „Psychisches Energieverlustsyndrom“ ist geprägt durch Gefühle der Sinnlosigkeit und Minderwertigkeit, depressive Verstimmung, Störungen der Konzentration und des Gedächtnisses und gesteigerte Reizbarkeit.
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4.2
Fortpflanzungsbiologie
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Risiken wie z. B. kardiovaskuläre Erkrankungen oder ein Schlafapnoe-Syndrom (schlafbezogene Atemstörung) kontrolliert, kann die Testosteronsubstitution zur Behandlung der somatischen und psychischen Beschwerden eingesetzt werden, um die Lebensqualität hypogonadaler Männer wieder zu verbessern.
4.2.8.2 Reproduktive Funktionsfähigkeiten älterer Männer In der Regel nimmt die Häufigkeit sexueller Aktivitäten mit zunehmendem Alter der Männer ab. Für diesen Rückgang gibt es viele Gründe – medizinische Probleme wie kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus, Einnahme von Psychopharmaka und oft auch psychische Faktoren wie Langeweile beim Sexualverkehr, geringes Interesse bei der Partnerin und der Glaube, Sex sei nichts für Alte und körperlich Schwache. (Zilbergeld 1983). Andererseits ergab eine Befragung von Männern von 16 bis über 55 Jahre, dass eine erhebliche Diskrepanz zwischen der männlichen Libido (Sexualtrieb) und der tatsächlichen sexuellen Betätigung bei den befragten Männern im Alter über 40 Jahren besteht. Der mit dem Alter stetig zunehmend geäußerte Wunsch nach mindestens täglichem Sexualverkehr wird von deutlich abnehmender sexueller Aktivität des älter werdenden Mannes begleitet: im Durchschnitt gaben die über 55jährigen Männer an, seltener als ein Mal pro Woche Sex zu haben, womit sie exakt der sexuellen Aktivität und erwünschten Häufigkeit von den befragten, gleichaltrigen Frauen entsprechen (Eysenck 1980). Trotz der deutlich verringerten sexuellen Aktivität älterer Männer bleibt ihre Zeugungsfähigkeit grundsätzlich erhalten. Beim vorhandenen Kinderwunsch eines Paares ist die relativ seltene Vaterschaft von Männern über 60 Jahre vor allem durch die verminderte oder gänzlich erloschene Fekundität der Frau bedingt. Während Geburten von 50jährigen Frauen extreme Einzelfälle darstellen, können Männer durchaus noch im Alter von über 70 Jahren Vater werden, wenn ihre Partnerin noch konzeptionsfähig ist. Eine Untersuchung von Centola und Eberly (1999) über die Zeugungsfähigkeit älterer Männer ergab keine altersbedingten Veränderungen des Ejakulatsvolumen, der Spermatozoenzahl und –morphologie. Lediglich die Motilität der Spermatozoen verringerte sich signifikant mit dem Alter der Männer; die Werte gaben aber keinen Hinweis auf eine generelle Fertilitätseinschränkung. Es gibt etliche Hinweise für die Bedeutung des Alters bezüglich der Qualität des genetischen Materials der Spermatozoen. Als Ursache für diese Störungen gelten erhöhte Mutationsraten durch Strahlung und chemische Noxen; außerdem teilen sich ab der Pubertät die Spermatogonien 23mal pro Jahr. Das heißt, im Alter des Mannes von 35 Jahren haben die Urkeimzellen bereits 540 Zellteilungen durchgemacht, die Spermatogonien eines 45jährigen Mannes haben ungefähr 750 Zellteilungen, so dass Mutationen als Resultat von Fehlern bei den wiederholten DNA-Replikationen im Alter vermehrt auftreten können (Crow 1997). Ungefähr 50 % der Fälle von Klinefelter-Syndrom (siehe Kap. 4.2.1) werden auf altersabhängige Störungen der meiotischen Teilungen beim Vater zurückgeführt. Außerdem gilt mittlerweile für etliche autosomal dominant vererbte Krankheiten das erhöhte Alter des Vaters als Erklärung (Tab. 4.20). Das Risiko für diese Erkrankungen liegt in der Höhe von ~ 0,3 bis 0,5 % der geborenen Kinder mit einem Vater über 40 Jah-
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Tab. 4.20 Dominant oder rezessiv vererbte Syndrome beim Kind und in Abhängigkeit vom Alter des Vaters Achondroplasie (Störung der Knochenbildung, Minderwuchs) Apert-Syndrom (u. a. Turmschädel, Löffelhände, d. h. die Finger (2–5) sind zusammengewachsen) Marfan-Syndrom (Bindegewebserkrankungen im kardiovaskulären System und in den Augen) Aniridie (vollständiges oder teilweises Fehlen der Iris) BilateralesRetinoblastom (Netzhauttumor) Crouzon-Syndrom (Störung der Knochenbildung) Lesch-Nyhan-Syndrom (Störung des Harnsäurestoffwechsels, Muskelhypotonie, geistige Behinderung) Treacher-Collins-Syndrom (Dysplasien am Gesichtsschädel) RenalespolyzystischesSyndrom (Nierenfehlbildung) Progerie (vorzeitige Vergreisung)
re, was dem Risiko für eine Trisomie 21 (Down-Syndrom) bei Kindern mit Müttern zwischen 35 und 40 Jahren entspricht (Auroux 1998). Das väterliche Alter und damit die Qualität des genetischen Materials hat sogar für die Leistungsfähigkeit des Gehirns einen messbaren Einfluss. Versuche an Ratten (Auroux 1983) hatten gezeigt, dass Versuchstiere von älteren Vätern in einem Lernexperiment signifikant schlechtere Leistungen als Tiere von jüngeren Vätern (bei gleichbleibend jungen Müttern) hatten. Reihenuntersuchungen an über 12.000 französischen Rekruten (Auroux et al. 1989; Auroux 1998) belegen, dass das väterliche Alter auch Auswirkungen auf deren Ergebnisse in psychometrischen Tests hatte. Es ergab sich ein parabolischer Zusammenhang zwischen Testleistung und väterlichem Zeugungsalter: Am besten schnitten Rekruten mit Vätern ab, die zum Zeitpunkt der Zeugung um 30 Jahre alt waren, während die Söhne von jüngeren Männern und Vätern über 30 bis 60 Jahre schwächere Leistungen zeigten. Die Autoren interpretierten ihre Ergebnisse dahingehend, dass die genetische Qualität der Spermatozoen nach der Pubertät ansteigt, im Alter von 30 Jahren ein Maximum erreicht und danach kontinuierlich abfällt. In Bezug auf die psychologischen Testleistungen müssten jedoch auch psychosoziale Einflüsse berücksichtigt werden, die in dieser Studie jedoch nicht gemessen wurden.
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Angewandte Anthropologie
5.1 5.1.1
Industrieanthropologie Definition und Forschungsgegenstand
In einer Welt, in der fast alle Gegenstände der Arbeits- und Wohnumwelt industriell gefertigt sind, ist es erforderlich, Produkte und Arbeitsmittel den körperlichen Bedürfnissen und Gegebenheiten des Menschen anzupassen. Die dafür notwendige Datenbasis liefert die Industrieanthropologie, die sich – mit Blick auf die industrielle Gestaltung unserer Arbeits- und Wohnumwelt – mit den morphologischen, physiologischen und verhaltensbiologischen Eigenschaften des Menschen befasst. Dabei ist es von vorrangiger Bedeutung, geeignete Daten zu erheben und die Menschen gewissermaßen als Nutzerpopulation industriell gefertigter Produkte angemessen zu beschreiben. Damit ist die Industrieanthropologie ein spezielles Gebiet der angewandten Anthropologie. Ursprünglich stand die Bereitstellung von, auf der Basis der traditionellen standardisierten Messtechnik gewonnenen, anthropometrischen Daten für industrielle Zwecke im Vordergrund der Forschung, wobei Normung (Box 5.1) und Unfallschutz zu den wichtigsten Aufgabenfeldern gehörten (Jürgens 1977). Box 5.1: Normung
Durch Normung werden Standards für Erzeugnisse und Verfahren festgelegt. Die entstehenden Normen sind anerkannte Regeln, die als allgemein gültige Empfehlungen zu sehen sind. In Deutschland ist das Deutsche Institut für Normung e. V. (DIN) der Träger der Normung; innerhalb dieser Organisation gibt es für verschiedene Fachgebiete Normenausschüsse. Das DIN ist auch Mitglied des Europäischen Komitees für Normung (CEN – Commission Européenne de Normalisation) und als nationales Normeninstitut Mitgliedskörperschaft der Internationalen Normenorganisation (ISO – International Standards Organisation). Das CEN dient vorrangig der Harmonisierung innerhalb der EU, um die Vollendung des europäischen Binnenmarktes zu unterstützen. Das Ziel der ISO ist G. Grupe et al., Anthropologie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-25153-5_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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die Förderung der Normung in der Welt, um den Austausch von Dienstleistungen und Gütern in der Welt zu vereinfachen und die gegenseitige Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen voranzutreiben. Einige DIN-Normen sind von vorrangiger Bedeutung für die Industrieanthropologie; dies gilt insbesondere für DIN 33402-1(Körpermaße des Menschen; Begriffe, Messverfahren), DIN 33402-2 (Körpermaße des Menschen; Werte), DIN 33402-3 (Körpermaße des Menschen; Bewegungsraum bei verschiedenen Grundstellungen und Bewegungen) sowie für DIN EN 547 (1-3), die sich mit den Körpermaßen mit Blick auf die Sicherheit von Maschinen befasst. Mittlerweile haben zahlreiche neue anwendungsbezogene Fragen und neue Methoden das Forschungsgebiet der Industrieanthropologie erheblich erweitert, wodurch es auch zu etlichen Überschneidungen mit der Ergonomie (Arbeitswissenschaft) gekommen ist. Heute befasst sich die Industrieanthropologie auch mit der Entwicklung, Optimierung und Prüfung von Produkten unter humanbiologischen oder ergonomischen Gesichtspunkten. Basierend auf der klassischen statischen Anthropometrie wurden neue industrieanthropologisch relevante Körpermaße, wie etwa Reichweiten, Greifräume oder Körperwinkelketten entwickelt, die besondere Funktionen berücksichtigen. Darüber hinaus wird die Schnittstelle zwischen Mensch und industriell gestalteter Wohn- und Arbeitsumwelt auch mit Methoden untersucht, die sich von der klassischen Anthropometrie recht weit entfernt haben.
5.1.2
Die Variabilität von industrieanthropologisch relevanten Körpermaßen
Ein besonderes Problem für die Industrieanthropologie stellt die enorme Variabilität des Menschen dar. Durchschnittswerte allein beschreiben den Menschen nur höchst unzureichend. Wir wissen beispielsweise, dass der „deutsche Durchschnittsmann“ (Abb. 5.1) eine Körperhöhe von 178,8 cm, ein Körpergewicht von 73,1 kg, eine Stammlänge von 93,8 cm, eine Greifweite nach vorn von 75,9 cm und eine Gesäß-Knie-Tiefe von 61,6 cm aufweist (Mittelwertangaben nach Jürgens 2000, die Maßdefinitionen sind in Tab. 5.3 dargestellt). Gleichzeitig ist es aber höchst unwahrscheinlich, in der Realität einem Menschen zu begegnen, der genau diesen Körpermaßen entspricht, denn der „Durchschnittsmensch“ ist ein statistisches Artefakt. Würde man die Gestaltung unserer Wohn- und Arbeitsumwelt an solchen Durchschnittswerten orientieren, wären viele Menschen von der Benutzung ausgeschlossen. Am schlichten Beispiel der Türhöhe lässt sich das leicht nachvollziehen. Eine Tür, für deren Höhe die durchschnittliche Körperhöhe als Konstruktionshilfe herangezogen würde, wäre eben nur 1,80 cm hoch, und etwa die Hälfte aller männlichen Nutzer müsste beim Durchgang den Kopf einziehen. Diese einfache Betrachtung lässt bereits erahnen, dass die statistische Beschreibung der menschlichen Variabilität in der Industrieanthropologie von großer Bedeutung ist. Als Streuungsmaß haben sich die Perzentile (Punkte auf einer kumulativen Prozentskala) bewährt, weil
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Industrieanthropologie
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Abb. 5.1 Industrieanthropologisch relevante Messstrecken und deren Mittelwerte ( links Körperhöhe und Reichweite nach vorn, in der Mitte die Körpersitzbreite und rechts die Unterschenkelhöhe mit Fuß, die Stammlänge und die Sitztiefe). Es sind die Mediane für erwachsene Männer dargestellt. (Maße adaptiert nach Jürgens, 2000)
bei deren Verwendung genaue Aussagen darüber gemacht werden können, wie viel Prozent einer Nutzerpopulation berücksichtigt werden. Als Mittelwertangabe wird dem entsprechend der Median, also das 50. Perzentil bevorzugt. Die üblichen Grenzen sind das 5. und das 95. Perzentil, so dass ein industriell gefertigter Gegenstand, für dessen Konstruktion diese Werte verwendet wurden, von 90 % der Menschen angemessen benutzt werden kann. Bei sicherheitsrelevanten Fragen gelten hingegen das 1. und das 99. Perzentil als Konstruktionsgrenzen, so dass lediglich 2 % der Menschen keine „angemessene“ Berücksichtigung erfahren. In vielen Fällen ist eine allgemeine Nutzbarkeit industriell gefertigter Güter nur gewährleistet, wenn entsprechende Verstellmöglichkeiten vorgesehen sind. Jeder kennt solche vielfältigen Verstellvorrichtungen z. B. vom Schreibtischstuhl oder vom Fahrzeugsitz. Mit Blick auf die Körperabmessungen ist eine Fülle von Gruppenunterschieden festzustellen. Zu den wichtigsten Gruppenunterschieden gehören • die regionale Differenzierung, • die Geschlechterdifferenzierung und • die alterstypische Differenzierung. Betrachten wir zunächst die geographische Variabilität von Körpermessdaten am Beispiel europäischer Menschen (Abb. 5.2). Die Körperhöhe, die als ein wichtiges Indikatormaß gilt, zeigt ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Die größten Europäer leben in Nordeuropa, speziell in den Niederlanden, die kleinsten in Südosteuropa und auf der Iberischen Halbinsel, speziell in Portugal (s. Kap. 3.2.2).
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Abb. 5.2 Regionale Differenzierung der Körperhöhe in Europa am Beispiel der männlichen Bevölkerung. (Quelle der Daten: Jürgens et al. 1989) Tab. 5.1 Geschlechtsunterschiede bei 26–40jährigen für ausgewählte industrieanthropologisch relevante Körpermaße. (Daten aus Jürgens 2000) Frauen (cm) Männer (cm) Sitzhöhe 87,3 92,6 < Unterschenkellänge 45,9 48,8 < Sitzbreite 39,3 37,4 >
Als nächster wichtiger Gruppenunterschied ist der Sexualdimorphismus des Menschen zu nennen. Bei den meisten Körpermaßen weisen Frauen bekanntermaßen kleinere Werte auf als Männer (Tab. 5.1). Es gibt jedoch auch einige Maße, in denen die weiblichen Durchschnittswerte die männlichen Durchschnittswerte übertreffen; dies gilt beispielsweise für die Körpersitzbreite. Die Sitzbreite ist nämlich kein reines Knochenmaß, sondern auch ein Weichteilmaß, und die durchschnittlich höheren Werte bei Frauen spiegeln die geschlechtstypisch unterschiedliche Verteilung des Fettgewebes wider (s. Kap. 4). Weitere wichtige Gruppenunterschiede bei den Körpermaßen finden wir zwischen Menschen unterschiedlichen Alters. Bei den meisten Körpermessdaten erreichen jüngere Menschen auf Grund der säkularen Akzeleration größere Werte als ältere (Kap. 4.1). Dieses von Greil (2001a) als „Biomorphose der Generationenfolge“ bezeichnete Phänomen äußert sich in einer Entwicklungsbeschleunigung,
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Abb. 5.3 Veränderungen von Körpermaßen mit dem Alter: Die obere Abbildung zeigt die Zunahme der Sitzbreite bei Frauen, die untereAbbildung die Abnahme der Sitzhöhe bei Männern. (Daten adaptiert nach Flügel et. al. 1986)
zu deren bekannten Aspekten größere und schwerere Neugeborene, ein früherer Eintritt der Geschlechtsreife und ein stärkeres Längenwachstum gehören. In Folge dessen übertreffen jüngere Menschen die älteren Generationen in den meisten Körpermaßen. Verstärkt wird dieser Unterschied dadurch, dass die Körpermaße auch vom physiologischen Alterungsprozess, der Involution, beeinflusst werden. Körpermaße verändern sich auch noch nach abgeschlossenem Wachstum. Daher gilt auch die Regel, dass in der jüngeren Altersgruppe durchschnittlich größere Körpermaße festzustellen sind, nicht ohne Ausnahme (Abb. 5.3). Während beispielsweise die Stammlänge ein Maß ist, welches eine alterstypische Abnahme aufweist und Involutionserscheinungen an der Wirbelsäule widerspiegelt, nimmt die Sitzbreite mit dem Alter zu. Die Zunahme der Sitzbreite mit steigendem Alter findet ihre Entsprechung darin, dass auch das durchschnittliche Körpergewicht mit zunehmendem Alter ansteigt. Altersabhängige Gruppenunterschiede ergeben sich daher aus der
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Angewandte Anthropologie
Abb. 5.4 Die maximale seitliche Rotation des Kopfes zeigt alters- und geschlechtstypische Unterschiede. (Verändert und adaptiert nach Matzdorff 1999)
Kombination von zwei verschiedenen humanbiologisch relevanten Entwicklungen: Akzeleration und Involution. Die höheren Werte, die bei jüngeren Menschen festzustellen sind, spiegeln einerseits den allgemeinen Akzelerationstrend wider, andererseits sind die häufig niedrigeren Messdaten Älterer auch die Konsequenz der Involution. Bei industrieanthropologischen Fragestellungen ist weiterhin zu berücksichtigen, dass es in vielen Fällen zu additiven Effekten kommt, bzw. dass solche Gruppenunterschiede interferieren. So sind bei der Konstruktion eines Stuhls mit individuell einstellbarer Sitzhöhe nicht nur die verschiedenen Unterschenkellängen von Männern und Frauen zu berücksichtigen, sondern bei europaweiter Vermarktung müssen die entsprechenden Körpermessdaten von Südeuropäern und Nordeuropäern zugrunde gelegt werden. Konkret bedeutet dies, dass als Rahmendaten die Werte für eine kleine Frau von der iberischen Halbinsel einerseits und einen großen Mann aus Nordeuropa zu berücksichtigen sind. Auch Alters- und Geschlechtsunterschiede zeigen industrieanthropologisch relevante interferierende Effekte. Die seitliche Rotation des Kopfes beispielsweise, die für die Gestaltung des Fahrzeuginnenraums mit Blick auf das Rückwärtsfahren von Bedeutung ist, zeigt nicht nur alterstypische, sondern auch geschlechtstypische Unterschiede (Abb. 5.4). Matzdorff (1999) konnte an einer Stichprobe von insgesamt 299 speziell nach Altersgruppe ausgewählten Probandinnen und Probanden zeigen, dass nicht nur 20- bis 25jährige höhere Rotationswinkel erzielen als 60- bis 70jährige, sondern dass Frauen in beiden Altersgruppen den Kopf weiter seitlich drehen können als Männer desselben Alters. 7 Für die Industrieanthropologie folgt aus den hier dargestellten Gruppenunterschieden als zentrale Aufgabe die fortlaufende Aktualisierung der vorhandenen Datenbasis, da sich die durchschnittlichen Körpermaße und deren Streuung einerseits durch den noch andauernden Akzelerationsprozess verändern, und andererseits auch demografische Entwicklungen (s. Kap. 3.3), wie z. B. Migration und Verschiebungen der Alterszusammensetzung einer Bevölkerung, einen erheblichen Einfluss auf die Durchschnittswerte und die Streuung haben.
Menschen sind nicht nur in ihren Körpermaßen sondern auch in ihren Körperproportionen höchst unterschiedlich. Bereits durch einfache Beobachtung lässt sich feststellen, dass eher hochgewachsene Menschen nicht immer auch eine große
5.1
Industrieanthropologie
Tab. 5.2 Korrelationsmatrix für ausgewählte Körpermaße 1. (KH) 2. (SH) 1. Körperhöhe (KH) 2. Sitzhöhe (SH) 0,79 3. Unterschenkellänge (USL) 0,80 0,45 4. Oberarmlänge (OAL) 0,68 0,43 5. Sitzbreite (SiB) 0,14 0,14 6. Schulterbreite (SchB) 0,11 0,09
425
3. (USL)
4.(OAL)
5. (SiB)
0,67 0,04 0,02
0,18 0,22
0,65
Schulterbreite oder lange Arme haben. Jeder kennt so genannte Sitzriesen, also Menschen, die im Sitzen groß, im Stehen jedoch eher durchschnittlich wirken. Bei ihnen ist der Rumpf im Verhältnis zu den Beinen besonders lang. Verdeutlichen lässt sich diese Problematik durch einen Blick auf eine Korrelationsmatrix industrieanthropologischer Maße (Tab. 5.2). Etliche Korrelationskoeffizienten, z. B. Unterschenkellänge/Schulterbreite oder Oberarmlänge/Sitzbreite zeigen, dass zwischen zahlreichen Körpermaßen faktisch kein Zusammenhang besteht. 7 Aus industrieanthropologischer Perspektive gilt: Alle Menschen sind ungleich!
5.1.3
Stichproben
Die umfangreichen Datensammlungen mit industrieanthropologisch relevanten Körpermaßen (z. B. Flügel et al. 1986; DIN 33402 1986; Küchmeister et al. 1990; Jürgens 2000) müssen – wie bereits ausgeführt – laufend aktualisiert und ergänzt werden, um z. B. die Auswirkungen der Akzeleration oder der Migration auf die Körpermaße und ihre wichtigsten statistischen Kenngrößen (Mittelwert und Streuung) zu erfassen. Die Erhebung entsprechender Daten stellt sehr hohe Anforderungen an die zu untersuchenden Stichproben. Um eine repräsentative Stichprobe zusammenzustellen, ist darauf zu achten, dass die Alterszusammensetzung, die Anteile der Stadt- und Landbevölkerung und bestimmte Berufsklassen so gewählt werden, dass sie der Verteilung in der Population entsprechen, auf die Bezug genommen werden soll (Greil 2001a, b). Sehr problematisch ist auch die angemessene Berücksichtigung von Migrantinnen und Migranten in einer Bevölkerung. In Deutschland lebende Ausländerinnen und Ausländer und Deutsche ausländischer Herkunft gehören demografisch zur deutschen Wohnbevölkerung, können sich jedoch – je nach Herkunft – in ihrem Körperbau beträchtlich von den Deutschen im ethnischen Sinne unterscheiden. Die in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten stammen überwiegend aus Regionen, in denen die Menschen nicht nur kleiner, sondern oft auch anders proportioniert sind. Damit stellt sich für die Zusammensetzung einer repräsentativen Stichprobe die Aufgabe, diese Bevölkerungsgruppen entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung zu berücksichtigen. Greil (2001a) stellt darüber hinaus auch die Forderung, Migrantinnen und Migranten, die zur Wohnbevölkerung gehören, in anthropometrischen Datensammlungen getrennt auszuweisen, weil ihr Anteil quantitativen Schwankungen unterworfen ist.
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Angewandte Anthropologie
7 Eine allein auf das Erwachsenenalter beschränkte Stichprobe, in der Faktoren wie Geschlecht, Alter und geographische Herkunft adäquat berücksichtigt sind, bedarf eines Umfangs von mindestens 6000 Personen (Greil 2001a).
Werden auch Daten von jüngeren Menschen benötigt, sind erheblich größere Probandenzahlen erforderlich, um geschlechtstypische Unterschiede und akzelerationsbedingte Veränderungen in den Wachstums- und Reifungsmustern zu erfassen. Der Vergleich verschiedener anthropometrischer Datensammlungen (Greil 2001a, b, c; DIN 33402-2; Küchmeister et al. 1990; Jürgens 2000) hat gezeigt, dass Abweichungen zwischen den einzelnen Untersuchungen bestehen, deren Ursachen nicht eindeutig zu klären sind, vermutlich aber auch auf den jeweiligen Zusammensetzungen der Stichproben beruhen. Speziell eine Neufassung der DIN 33402 (1986) erscheint dringend erforderlich, weil die Daten veraltet sind. Die Maße für das Kinder- und Jugendalter sind nicht mehr zutreffend (Greil 2001a), und die zahlenmäßig angestiegene Altersgruppe der 40- bis 65jährigen ist nur unzureichend berücksichtigt. Diese Neufassung sollte auf einer grundlegend neuen anthropometrischen Messung beruhen. Sobald eine neue Datensammlung vorliegt, die den veränderten Anforderungen genügt, ist eine fortlaufende Aktualisierung auch möglich, ohne jeweils das gesamte anthropometrische Programm an einer repräsentativen Stichprobe zu messen. Diese Anpassung der Daten kann an vergleichsweise kleinen, sorgfältig ausgewählten Kontrollstichproben anhand weniger Leitmaße erfolgen, aus denen andere relevante Maße über bekannte Regressionsgleichungen hochgerechnet werden können. Bei Fragestellungen, in deren Vordergrund die Prüfung, Optimierung oder Weiterentwicklung von Produkten, Arbeitsplätzen, usw. stehen, sind manchmal ganz andere Stichprobendesigns erforderlich (Box 5.2). Oft geht es darum zu prüfen, wie sich Menschen, deren Körperabmessungen stark vom Durchschnitt abweichen, in einer so genannten Mensch-Maschine-Schnittstelle, beispielsweise dem Fahrersitz eines PKW, verhalten. In solchen Fällen werden gezielt Stichproben zusammengestellt, welche die Ränder einer Verteilung repräsentieren, also besonders kleine, besonders kurzbeinige, besonders füllige oder anderweitig vom Durchschnitt abweichende Personen berücksichtigen. Die Grundforderung, den Menschen bei bestimmten Fragestellungen als „Prüfmittel“ einzusetzen, ist so weit anerkannt, dass sie sich auch in Normen niederschlägt. Basierend auf einer deutschen Norm (DIN 33419) entstand die ISO-Norm (ISO 15537), die Grundsätze festlegt, nach denen die Prüfung anthropometrischer Aspekte von Produktentwürfen und Industrieprodukten in einem Versuchspersonenkollektiv erfolgen soll. Box 5.2: Menschen als „Prüfmittel“
In der Entwicklungsphase eines Produkts mit einer komplexen Mensch-Maschine-Schnittstelle werden die physischen Eigenschaften und Bedürfnisse der zukünftigen Nutzer zunächst durch statistische Tabellenwerke und Normen repräsentiert. Diese Vorgehensweise bedingt, dass lediglich die relevant er-
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Industrieanthropologie
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scheinenden Einzelkomponenten des real existierenden „Aggregats“ Mensch (Jürgens 2001) Berücksichtigung finden. Etliche morphologische und physiologische Gegebenheiten entziehen sich jedoch aufgrund ihrer Komplexität einer rein technischen Zerlegung in Einzelkomponenten. Daher reichen die Beachtung der gültigen Normen und die Verwendung der umfangreichen Tabellenwerke mit anthropometrischen Daten sowie der darauf basierenden Menschmodelle (Box 5.4) oft nicht aus, um ein Produkt menschengerecht zu gestalten. Spätestens wenn die Vorentwicklung eines Produkts abgeschlossen ist, sollte eine Prüfung der ergonomischen Qualität und der Gebrauchstauglichkeit erfolgen, die sich ausschließlich an der Nutzerpopulation und ihrer Variation orientiert (Jürgens 2001). Für solche menschenbezogenen Produktprüfungen gibt es seit 1993 mit der Norm DIN 33 419 (ISO 15 537) eine allgemein verbindliche Grundlage. Zusammenstellung und Umfang des Probandenkollektivs müssen sich an der Fragestellung orientieren. Je nach in Frage kommender Nutzergruppe können Versuchspersonen nach Geschlecht, Alter, geographischer Herkunft oder speziellen Körpermaßen ausgewählt werden. Problematischer gestaltet sich dieser Schritt der Produktprüfung, wenn physiologische Merkmale des Menschen zu berücksichtigen sind. Im Gegensatz zu den umfangreichen Datensammlungen bezüglich morphologischer und biomechanischer Eigenschaften liegen für zahlreiche physiologische Charakteristika keine repräsentativen Grundlagendaten vor. Will man also beispielsweise die mikroklimatischen Eigenschaften eines körperunterstützenden Systems (z. B. einer Matratze) evaluieren, sind erheblich größere Stichprobenumfänge erforderlich. Für große Herstellerfirmen besteht die Möglichkeit, sich aus den eigenen Betriebsangehörigen ein Panel von freiwilligen Versuchspersonen zusammenzustellen, deren Körpermaße (und ggf. andere physische Eigenschaften) bekannt sind, so dass bei spezifischen Fragestellungen ein Prüfkollektiv gezielt ausgewählt werden kann. Die großen Automobilhersteller haben diese Vorgehensweise bereits umgesetzt. Kleinere Betriebe haben alternativ die Möglichkeit, solche Produktprüfungen als wissenschaftliche Dienstleistung von Spezialisten erbringen zu lassen.
5.1.4
Methoden
Das Arsenal industrieanthropologischer Methoden ist angesichts der Vielzahl von Fragestellungen überaus vielfältig. Bis heute nimmt die Anthropometrie eine zentrale Rolle ein, wobei im Laufe der Zeit etliche neue Maße definiert wurden, um die Schnittstelle zwischen dem Menschen und seiner industriell gestalteten Umwelt zu erfassen und zu beschreiben. Hier sind vor allem Bewegungsmaße zu nennen, denn die Möglichkeiten der statischen Anthropometrie reichen in vielen Fällen nicht aus, um die Interaktionen zwischen dem Menschen und seiner selbst geschaffenen körpernahen Umgebung angemessen zu beschreiben. Hinzu kommen neuerdings auch berührungslose Messverfahren, mit deren Hilfe die Körperform des Menschen optisch erfasst wird und die gewonnenen Daten direkt digitalisiert werden (Bodyscan-
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ning, Box 5.3). Um die Vielzahl der Messwerte und Daten über Tabellen hinaus für Anwender wie Designer oder Konstrukteure einfacher nutzbar zu machen, sind inzwischen etliche so genannte Menschmodelle entwickelt worden, die in anschaulicher Form die Referenzdaten zur Verfügung stellen sollen (Box 5.4) Im Zusammenhang mit körperunterstützenden Systemen wie Stühlen, Autositzen oder Matratzen kommen Kontaktflächenmessungen und Druckverteilungsuntersuchungen ebenso zum Tragen wie die Analyse von Körperwinkelketten. Bei körperunterstützenden Systemen werden heute auch physiologische Reaktionen auf Materialeigenschaften untersucht, wobei die Wechselwirkungen zwischen Transpiration und so genannten mikroklimatischen Eigenschaften der verwendeten Materialien im Vordergrund stehen. Schließlich werden heute auch Aspekte menschlichen Verhaltens sowie das subjektive Komfortempfinden der Nutzer von Industrieprodukten in industrieanthropologische Fragestellungen einbezogen. Etliche Untersuchungen, die mit dem Ziel der Produktentwicklung, -optimierung oder -prüfung durchgeführt wurden, sind Auftragsarbeiten für Hersteller entsprechender Produkte und somit aus Wettbewerbsgründen oft unveröffentlicht geblieben. Die Bandbreite von Methoden, die in entsprechenden Untersuchungen zur Anwendung gekommen sind, kann daher hier nur exemplarisch an einigen Beispielen verdeutlicht werden.
5.1.4.1 Klassische Anthropometrie Die standardisierten international anerkannten Verfahren, die angewandt werden, um die umfangreichen, meist in tabellarischer Form vorliegenden Körpermessdaten zu ermitteln, beruhen auf einer einheitlichen Messmethodik, die in ihrem Ursprung auf Martin (1924) zurückgehen. Er hat Messstrecken und -methoden so definiert und beschrieben, dass sie den Anspruch auf Reproduzierbarkeit erfüllen. Die entsprechenden Beschreibungen umfassen Messpunkte (Abb. 5.5), Messstrecken, Körperhaltung des Probanden während der Messung und eine Festlegung des zu verwendenden Messgerätes. In Tab. 5.3 sind die Definitionen einiger Maße exemplarisch dargestellt. Definitionen zu zahlreichen anderen Körpermaßen sind in verschiedenen Standardwerken publiziert, beispielsweise im Anthropologischen Atlas (Flügel et al. 1986), im Band I des Handbuchs für vergleichende Biologie des Menschen (Knußmann 1988), im Handbuch der Ergonomie (Jürgens 2000) oder in der DIN 33402 (Deutsches Institut für Normung 1986). Etliche der definierten Messpunkte am Lebenden beziehen sich auf das Skelett, so dass vor dem Abnehmen der Messstrecke die jeweiligen Messpunkte durch Palpieren lokalisiert werden müssen. Dies gilt beispielsweise für die an den Gelenken definierten Messpunkte, wie etwa Akromiale (Schultergelenk), Radiale und Olecranale (Ellenbogengelenk), Stylion radiale und Stylion ulnare (Handgelenk), Femorale proximale (Hüftgelenk), Patellare und Tibiale (Kniegelenk), oder Sphyrion (Fußgelenk). Andere Messpunkte hingegen berücksichtigen gezielt die Weichteilauflagerungen, wie etwa Deltoidale, Abdominale, Glutaeale oder Coxale. Von großer Bedeutung in der Anthropometrie ist die standardisierte Körperhaltung der Probanden bei der Messung: Die zu messende Person nimmt – stehend oder sitzend – eine Grundhaltung ein, wobei der Körper voll aufgerichtet ist,
5.1
Industrieanthropologie
Vertex Opisthocranion Tragion Cervicale Akromiale Scapulare
Metopion Glabellare Entokanthion Gnathion
Thelion
429
Euryon
Vertex Metopion Pupillare Gnathion
Akromiale Deltoidale
Suprasternale Angulare axillaris
Angularis ulnaris Olecranale Radiale Stylion ulnare Glutaeale Metacarpale ulnare
Iliocristale sup. Abdominale Iliospinale ant. Stylion radiale Metacarpale pollicis Metacarpale radiale Sulcus prox. Daktylion III
Pterion Plantare
Akropodion
Transverso-Abdominale Iliocristale sup. Iliospinale ant. Stylion radiale Phalangion III Ischiadicale Daktylion III Patellare Tibiale
Sphyrion
Radioulnare prox. Femorale prox. Trochanterion Coxale Daktylion I Merion mediale Merion laterale
Metatarsale tibiale Metatarsale fibulare
Abb. 5.5 Lokalisation und Bezeichnung wichtiger anthropometrischer Messpunkte, links in Lateralansicht, unten in Frontalansicht. (Verändert und adaptiert nach Greil 2001b) Tab. 5.3 Definitionen einiger industrieanthropologisch relevanter Körpermaße Maß Definition Körperhöhe vertikale Entfernung von der Standfläche zum höchsten Punkt des Kopfes in der Medianebene Greifweite nach vorn horizontale Entfernung von einer Wand, an die sich die Person mit den Fersen, dem Gesäß und den Schulterblättern anlehnt, zu dem am weitesten distal befindlichen Punkt des Endes des rechten Mittelfingergliedes bei zur Faust geschlossener Hand und horizontal nach vorn gestrecktem rechten Arm Stammlänge vertikale Entfernung von der Sitzfläche zum höchsten Punkt des Scheitels in der Medianebene Körpersitzbreite größte horizontale Entfernung zwischen den am weitesten lateral ausladenden Punkten im Bereich der Oberschenkel und der Hüfte (Coxalia) im Sitzen gemessene vertikale Entfernung von der Auflageebene der Unterschenkelhöhe Füße zur Unterseite des gegen den rechten Unterschenkel rechtwinklig mit Fuß angebeugten rechten Oberschenkels unmittelbar hinter der Kniekehle, das heißt Abstand von der Auflageebene der Füße zur Sitzfläche Gesäß-Knie-Tiefe von der Rückenlehne gemessene horizontale Entfernung des am weitesten dorsal vorragenden Punktes im Bereich des rechten Knies am Unterrand der Kniescheibe
die Schultern aber nicht hochgezogen sind. Der Kopf ist in der Ohr-Augen-Ebene (Frankfurter Horizontale) ausgerichtet, d. h. der Oberrand des Ohrdeckelknorpels (Tragion) liegt mit dem unteren Rand der knöchernen Augenhöhle (Orbitale) in einer horizontalen Ebene. Die Messungen werden mit Präzisionsinstrumenten (Anthropometer, Tasterzirkel, Gleitzirkel, Maßband und Caliper) durchgeführt. Zu diesen Verfahren kommen neuerdings die so genannten Bodyscan-Verfahren hinzu,
430
5
Angewandte Anthropologie
die jedoch die bisher üblichen anthropometrischen Methoden noch nicht ersetzen können (Box 5.3). Box 5.3: Bodyscanning
In jüngerer Zeit treten mit zunehmend verfügbarer Rechenleistung und leistungsfähigen Systemen zur rechnergestützten Bildverarbeitung die so genannten Bodyscanning-Verfahren in Konkurrenz zur konventionellen Körpermessung mit Anthropometer, Taster und Maßband. Mit Bodyscanning bezeichnet man ein komplexes technologisches bildgebendes Verfahren, das den menschlichen Körper berührungslos mit hoher Auflösung optisch abtastet und die „gemessenen“ Daten digital durch entsprechende Softwareprogramme weiterverarbeitet. Der Computer erzeugt dann eine exakte dreidimensionale Kopie des Körpers, gewissermaßen einen elektronischen „Gipsabdruck“. Die Bodyscanning-Verfahren sind entweder kamera- oder laserbasierte Messsysteme. Heute wird diese Technologie bereits verstärkt in der Bekleidungsbranche eingesetzt, wo sie, integriert in eine Prozesskette zur Herstellung von Maßkonfektion, eine neue Form der kundenindividuellen Massenproduktion gestattet. Obwohl die Vorteile solcher Verfahren auf der Hand liegen, können sie jedoch derzeit die herkömmliche Anthropometrie nicht ersetzen. In der klassischen Anthropometrie werden, wie Abb. 5.5. zeigt, ganz überwiegend Messpunkte benutzt, die sich auf die knöcherne Unterlage, das Skelett, beziehen, die Körperoberfläche jedoch wird vielfach vernachlässigt. Die computergestützten optischen Verfahren hingegen benutzen zur Darstellung die Körperoberfläche des Menschen, während das Skelettsystem unberücksichtigt bleibt. Tatsächlich können optisch basierte Verfahren nicht zwischen Weichteilgewebe und knöchernem Skelett unterscheiden. Es ist vor diesem Hintergrund auch kein Zufall, dass die Bekleidungsindustrie derjenige Bereich ist, in dem Bodyscanning-Verfahren am schnellsten Fuß fassen konnten, denn viele der für die Konfektion benötigten Körpermaße sind Weichteilmaße, wie etwa Körperumfänge, die mittels optischer Abtastung gut feststellbar sind. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil des Bodyscanning-Verfahrens besteht darin, dass aus einmal erhobenen Datensätzen nachträglich viele Körpermaße abgeleitet oder errechnet werden können, die bei der Erstellung des Scans gar nicht von Interesse waren (Greil 2001b). Ein industrieanthropologisch äußerst relevantes Problem kann derzeit weder durch die klassische Anthropometrie noch durch Bodyscanning zufriedenstellend bearbeitet werden. Beide Systeme berücksichtigen nicht, dass sich bei Bewegungen die Weichteile über den Gelenken verschieben. Bei der berührungslosen optischen Abtastung des Körpers kommt noch hinzu, dass ein direkter Rückschluss auf Gelenkdrehpunkte und Gelenkbewegungsbahnen nicht möglich ist, weil das Skelett mit dieser Methode nicht erfasst wird. Die unterschiedlichen methodischen Ansätze beider Verfahren gestatten es nicht, die so gewonnenen Daten direkt miteinander zu vergleichen. Erst, wenn in einer soliden Stichprobe dieselben Personen sowohl klassisch anthropometrisch
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431
untersucht als auch gescannt werden, werden Rückschlüsse vom Scan auf das Skelett möglich sein. Neben den Verfahren des 3D-Oberflächenscannings werden zur Erfassung anatomischer Formen auch zunehmend Informationen aus bildgebenden Verfahren wie der Computertomographie, der Magnetresonanztomographie oder aus digitalen Röntgenverfahren genutzt. Da diese Verfahren alle die Exposition der Personen durch Röntgenstrahlung implizieren und damit der Röntgenschutzverordnung unterliegen, ist ihr Einsatz streng auf eine medizinische Indikation begrenzt und nicht mit reinen Forschungszwecken zu begründen. Dennoch können für viele anthropologische Fragestellungen der Körperformerfassung anonymisierte Bilddatensätze klinischer Patienten genutzt werden. Mit dieser neuartigen Informationsgrundlage der Körperformerfassung haben sich simultan Methoden entwickelt, mit denen die dreidimensionalen Forminformationen analysiert werden können. Eine der wichtigsten Analysemethoden, die in die Anthropologie Einzug gehalten hat, ist die Geometrische Morphometrie (s. Box 5.4). Box 5.4: Geometrische Morphometrie (GM)
Im Laufe der 1990er Jahre wurde eine neue Methode zur Vermessung biologischer Strukturen entwickelt: die Geometrische Morphometrie. Sie basiert auf der geometrisch-mathematischen Analyse von Landmarken, wie sie u. a. in der klassischen Anthropometrie, etwa von Martin (1914), verwendet wurden, um als gut identifizierbare Messpunkte zur Erhebung von Längenmaßen und Winkeln zu dienen. Allerdings nutzt die Geometrische Morphometrie – gemäß ihres Namens – die komplette geometrische Information, welche den Koordinaten (sei es 2D oder 3D) inhärent ist. Die zu untersuchenden Strukturen werden anhand der Landmarken extrapoliert, welche nun als geometrische Eckpunkte fungieren. Um die einzelnen Konfigurationen vergleichbar zu machen, müssen sie in einem gemeinsamen Koordinatensystem registriert werden. Hierbei ist die so genannte Prokrustes Registrierung (Kendall 1989; Dryden und Mardia 1998; Slice 2005) die am häufigsten verwendete Methode: Die Konfigurationen werden einem Optimierungskriterium entsprechend (die Quadratsumme der Abstände zwischen den entsprechenden Landmarken) übereinander geschoben, rotiert und skaliert. Die Residuen dieser Operation können nun als Formunterschiede zwischen den Observationen interpretiert werden. Die Quantifizierung der geometrischen Form erlaubt es nun, die so erhobenen Daten mit einer Vielzahl multivariater statistischer Methoden (z. B. MANOVA, Diskriminanzanalyse, etc.) zu analysieren. Die Anwendungsgebiete in der Anthropologie sind vielfältig: Es lassen sich z. B. Variationsbreiten quantifizieren oder Stichprobenunterschiede untersuchen und statistisch evaluieren. Dies ermöglicht es, etwa Sexualdimorphismus, Alter oder Populationsunterschiede zu quantifizieren und die damit einhergehenden Änderungen der Form zu visualisieren. Die GM erlaubt es zudem, eine Vielzahl von Fragestellungen zu bearbeiten, die mithilfe klassischer Methoden nicht lös-
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bar sind. Während letztere lediglich Unterschiede von Strecken oder Winkeln verifizieren können, ist die Klärung der Frage, welche strukturelle Änderung mit dieser Längenänderung einhergeht, nur mit Hilfe von GM möglich (vgl. etwa Wescott und Jantz 2005). Die GM ermöglicht weiterhin die Quantifizierung und Auswertung von Asymmetrie, die u. a. mit der Ontogenese von Organismen in Verbindung gebracht wird (Klingenberg et al. 2002, 2010). Erweiterungen: Da in der Regel nur sehr wenige Landmarken existieren, die klassischen Homologiekriterien genügen und zudem verlässlich definiert werden können, kann man diese durch so genannte Semilandmarken ergänzen. Diese werden mithilfe mathematischer Algorithmen „homologisiert“ (Gunz et al. 2005) und ermöglichen so eine detailliertere Analyse.
5.1.4.2 Reich- und Greifweiten Zwar stellte die eben geschilderte statische Anthropometrie das methodische Basisinventar der Industrieanthropologie, doch besondere Anforderungen haben dazu geführt, dass eine Reihe von speziellen Messverfahren entwickelt wurde. Menschen befinden sich in ihrer Wohn- und Arbeitsumwelt nicht in der vom Anthropologen vorgeschriebenen, reproduzierbaren Körperhaltung, sondern sie bewegen sich. Aus industrieanthropologischer Sicht sind beispielsweise Reich- oder Greifweiten von besonderer Bedeutung: 7 Zum einen muss an Arbeitsplätzen gewährleistet sein, dass bestimmte Bedienelemente, beispielsweise Schaltknöpfe, Hebel oder Griffe, auch für kleine Menschen noch gut erreichbar sind. Andererseits muss sichergestellt sein, dass Gefahrenpunkte, wie beispielsweise Motoren, Getriebe oder Rotorblätter, auch für große Menschen im wörtlichen Sinne außer Reichweite liegen.
Für solche Probleme sind statische Maße ungeeignet, weil sie die reale Bewegung nur unzureichend beschreiben. Die meisten Bewegungen sind das Ergebnis des Zusammenspiels von Muskeln, wobei Skelettteile und Gelenke einbezogen sind. Die dadurch bedingten komplexen anatomischen und morphologischen Gegebenheiten von Bewegungsabläufen, Bewegungsbahnen und Bewegungsräumen gestatten keine einfache mechanistische Analyse. Die Greifweite nach vorn (Abb. 5.1) gibt beispielsweise den Abstand zwischen Schulterblatt und Mittelhand bei gestrecktem Arm wieder, wobei die zu messende Person mit dem Gesäß und dem Schulterblatt eine hinter ihr befindliche Wand berührt. Ein Mensch, der in einer alltäglichen Situation nach vorne greift, bewegt jedoch den Rumpf mit, so dass ganz andere Reichweiten erzielt werden können. An einer solchen komplexen Bewegung sind außerdem zahlreiche Verschiebungen der Weichteile über der knöchernen Unterlage beteiligt, die zusätzlich erhebliche messtechnische Probleme bereiten. Daher werden in der Industrieanthropologie auch Bewegungsmaße oder dynamische Maße erhoben, wie etwa Bewegungskurven von Greifweiten in unterschiedlichen Körperhaltungen und auch über Hindernisse (Barrieren) hinweg. Eine Auswahl solcher Greifweitenkurven ist in den Abb. 5.6 und 5.7 dargestellt.
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Industrieanthropologie
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Abb. 5.6 Bewegungskurven von Greifweiten in unterschiedlichen Körperhaltungen, links Greifen nach vorn im Hocken, rechts Greifen zur Seite im Knien. (Verändert und adaptiert nach Flügel et al. 1986)
Abb. 5.7 Bewegungskurven von Greifweiten über unterschiedlich hohe Barrieren hinweg, links Greifen nach vorn über eine hohe Barriere, rechts Greifen zur Seite über eine niedrige Barriere. (Verändert und adaptiert nach Flügel et al. 1986)
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Abb. 5.8 Ausschnitt aus einer Körperwinkelkette: Bei der Beugung der Knie im Stehen ist nicht nur das Kniegelenk betroffen, sondern auch das Fußgelenk
5.1.4.3 Körperwinkel Bei Bewegungen von Gelenken, die grundsätzlich in Flexion und Extension, Adduktion und Abduktion sowie Außenrotation bzw. Pronation und Innenrotation bzw. Supination unterteilt werden, ändern sich deren Winkel. In der Literatur werden im Allgemeinen die maximalen Werte dieser Winkel angegeben. Die Messung erfolgt nach der Neutral-0-Methode, das heißt, von einer definierten Nullstellung aus (s. z. B. Abb. 5.4). Eine gute Übersicht über die anthropologisch relevanten Winkel gibt der Anthropologische Atlas (Flügel et al. 1986). Dort werden Bewegungswinkel für 20- bis 60jährige Frauen und Männer mitgeteilt. Für industrieanthropologische Zwecke sind solche Angaben, die eine mechanistische Sichtweise widerspiegeln, allerdings nur begrenzt verwendbar, denn im Vordergrund der Industrieanthropologie steht die interindividuelle Variabilität. Wenn nur die Maximalwerte einer nicht nach Lebensalter differenzierten Stichprobe zugrunde gelegt werden, dann bleiben ganz besonders die altersabhängigen Unterschiede der Gelenkfunktion unberücksichtigt. Mindestens ebenso wichtig ist es aber, dass sich diese Werte auf isolierte Gelenke beziehen, denn bei natürlichen Bewegungsabläufen spielen isolierte Gelenkbewegungen aus den unterschiedlichsten Gründen faktisch keine Rolle. Die Gelenke des Körpers sind auf vielfältige Weise sowohl morphologisch (durch Sehnen, Bänder, etc.) als auch funktional miteinander verbunden und bilden Winkelketten: Geht man aus dem Stand in die Knie, so wird nicht nur der Winkel im Kniegelenk kleiner, sondern gleichzeitig ändern sich auch die Winkel im Fußgelenk und im Hüftgelenk entsprechend (siehe Abb. 5.8). Schiebt man im Sitzen seinen Stuhl nach hinten und lässt die Position der Füße auf dem Boden unverändert, so wird der Kniewinkel und gleichzeitig auch der Fußwinkel größer. Mehrere funktionelle Ursachen bedingen, dass bei Bewegungen einzelner Gelenke stets auch andere Gelenke mit betroffen sind: • Oft werden mehrere Gelenke von einem Muskel oder ein und derselben Muskelgruppe bewegt, wodurch die Autonomie jedes einzelnen Gelenkes eingeschränkt ist. Der Musculus biceps humeri, beispielsweise, entspringt zweiköpfig am
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Schulterblatt und am Humerus und setzt vom Ellbogen am Radius an. Er erstreckt sich also über zwei Gelenke, Schulter und Ellenbogen. • Häufig erfordert die Bewegung eines Gelenks kompensatorische Bewegungen anderer Gelenke. Wenn z. B. eine stehende Person das Becken zur Seite schiebt und damit ein Bein stärker belastet, kommt es nicht nur zu einer Verbiegung der gesamten Wirbelsäule, sondern gleichzeitig auch zu einer Beugung im Kniegelenk des anderen Beins. • Menschen erlernen keine singulären Bewegungskomponenten, sondern Bewegungsabläufe. Daher bezieht sich auch die Kontrolle der Motorik im Gehirn auf die komplexen Bewegungen und nicht auf ihre Einzelbestandteile. Ein Kleinkind, das die Fähigkeit erwirbt, mit dem Löffel zu essen, lernt nicht, einen Löffel zu greifen, mit diesem Nahrung aufzunehmen, den Ellenbogen anzuwinkeln, den Oberarm zu heben sowie gleichzeitig den Mund zu öffnen und schließlich die auf dem Löffel befindlich Nahrung in den Mund zu befördern, etc., sondern es erlernt einen komplexen Bewegungsablauf. Statt der Maximalwinkel sollten bei industrieanthropologischen Fragestellungen daher die so genannten Komfortwinkel Berücksichtigung finden. Als Komfortwinkel bezeichnet man eine Winkelstellung innerhalb einer Winkelkette, die nach Beurteilung durch einen geschulten Anthropologen oder Orthopäden für die spezifische Situation physiologisch korrekt ist. Zurzeit liegen wenige neue Studien vor, die sich mit den Komfortwinkeln der großen Körpergelenke befassen. Babirat et al. (1998) untersuchten an einer ausgewählten Stichprobe von 30 Probanden die Komfortwinkel für zahlreiche Winkel in unterschiedlichen Winkelketten, die sich in typischen Arbeitsplatzsituationen als praxisrelevant erwiesen haben. Das Versuchspersonenkollektiv wurde mit Blick auf das Körperhöhen-Körpergewichts-Perzentil zusammengestellt: jeweils 10 Probanden wiesen Werte des 5. weiblichen sowie des 50. und 95. männlichen Perzentils auf. Zur Ermittlung der Winkel wurden die 3D-Raumkoordinaten videographisch aufgezeichnet und digital weiterverarbeitet (s. unten). Die Analyse von Körperwinkelketten spielt eine besondere Rolle bei der Gestaltung des „Fahrerarbeitsplatzes“. Da der Autofahrer zum einen durch die vorgegebenen Rahmenbedingungen der Innenraumgestaltung in eine Körperhaltung gezwungen ist, die kaum Variationen zulässt, und zum anderen im Verkehr zahlreichen verschiedenen Stressoren ausgesetzt ist, ist eine Cockpitkonstruktion erforderlich, die ein hohes Maß an Komfort gestattet und optimale Bewegungsabläufe ermöglicht. Die Untersuchung von Körperwinkelketten ist methodisch aufwändig. In der Regel werden zunächst Messpunkte an den betreffenden Gelenken markiert: zur Analyse von Bewegungsabläufen der oberen Extremitäten beispielsweise werden meist Akromiale, Radiale und Stylion ulnare (Abb. 5.5) verwendet. Anschließend wird die Verlagerung der Messpunkte im Raum während des Bewegungsablaufes videographisch aufgezeichnet (s. z. B. Helbig 1994). Da die Winkeländerungen nur messbar sind, wenn dreidimensionale Koordinaten vorliegen, sind drei parallel geschaltete Videokameras erforderlich. Aufgrund der großen Datenmenge sollten die Messwerte direkt digitalisiert werden. In der Automobilindustrie finden außerdem auch mehrgelenkige Messarme Verwendung, die bei eingemessenem Nullpunkt über eine äußerst präzise Sonde die Raumkoordinaten definierter Punkte registrie-
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Abb. 5.9 Mit dem Kypholordosometer lässt sich die Kurvatur der Wirbelsäule exakt festhalten und der Punkt der maximalen Kyphose ( Pfeil) kann bestimmt werden. (Verändert und adaptiert nach Frohriep 1999)
ren und digitalisieren. So lassen sich z. B. Veränderungen der Körperwinkelkette Hüfte-Kniegelenk-Fußgelenk ermitteln, wenn bestimmte Stellgrößen im Innenraum (z. B. Position des Sitzes, des Lenkrads oder der Pedalerie) mit dem Ziel der Optimierung variiert werden.
5.1.4.4 Kypholordosometrie Die Sitzhaltung eines Menschen wird maßgeblich von der Gestaltung der Rückenlehne eines Stuhls bzw. Sitzes bestimmt. Speziell im PKW kommt der Rückenlehne eine besondere Bedeutung zu, da der Fahrer im Allgemeinen die hintere Sitzhaltung einnimmt. Das Profil der Rückenlehne muss für ein komfortables, beschwerdefreies Sitzen der Kontur der Wirbelsäule angepasst sein. Die dafür erforderlichen Körpermessdaten ermittelt man am günstigsten durch die Kypholordosometrie (Abb. 5.9). Ein Kypholordosometer besteht aus einem Metallrahmen, in dem 100 verschiebbare Metallstäbe in gleichmäßigen Abständen von 1 cm horizontal angeordnet sind. Wenn Druck auf die Stäbe ausgeübt wird, gleiten sie zur Seite. Um die Höhe zu variieren, ist der Rahmen auf einem verstellbaren Fuß montiert. Mit Hilfe der Stäbe kann das Rückenprofil einer sitzenden Person in der Mediansagittalebene maßstabsgetreu abgebildet und fotografisch dokumentiert werden. Auf diese Weise lassen sich funktionell wichtige Aspekte der Wirbelsäulenkontur, wie beispielsweise der Punkt der maximalen Kyphose, ermitteln (Frohriep 1999). 5.1.4.5 Kontaktflächen- und Druckverteilungsuntersuchungen Verschiedene Konstruktionen, die den menschlichen Körper stützen, werden unter dem Sammelbegriff körperunterstützende Systeme zusammengefasst. Zu den wichtigsten körperunterstützenden Systemen, die wir im Alltag nutzen, gehören Stühle und Betten; aber auch Sitze im Fahrzeug, im Flugzeug oder in der Bahn
5.1
Industrieanthropologie
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fallen in diese Kategorie. Die Schnittstelle zwischen dem Menschen und dem System steht im Mittelpunkt der industrieanthropologischen Untersuchung. Sie wird einerseits von Faktoren auf der Seite des körperunterstützenden Systems bestimmt – hier spielen vor allem Aspekte wie metrische Abmessungen, Elastizität oder mikroklimatische Eigenschaften des Materials eine wichtige Rolle; andererseits beeinflussen von Seiten des menschlichen Nutzers Faktoren wie Körperdimensionen und -proportionen, Körperfülle, Körperzusammensetzung, Thermoregulation, Bewegungsverhalten, etc. die Kontaktzone. Schließlich spielt auch der subjektive Komfort der Nutzer eine immer bedeutendere Rolle. Die Kontaktfläche bezeichnet das Körperareal eines Menschen, das mit einem körperunterstützenden System, also einer Sitzfläche, einer Lehne oder einer Matratze direkten Kontakt hat. Ihre Größe hängt zum einen von den physischen Faktoren des Nutzers und zum anderen von den Materialeigenschaften des Systems ab. Betrachtet man etwa die Schnittstelle zwischen einem liegenden Menschen und einer Matratze, so hängt die Größe der Kontaktfläche davon ab, welche Körperfülle der Liegende aufweist und wie hart oder weich die Matratze ist. Ein schwerer, korpulenter Mann hat auf einer weichen Matratze eine erheblich größere Kontaktfläche als eine zierliche Frau auf einer harten Matratze. Eine sehr unkomplizierte, wenngleich ungewöhnliche Methode, diese Kontaktfläche größenmäßig zu bestimmen, besteht darin, die Körperkontur auf dem körperunterstützenden System rundherum mittels einer Spritzpistole zu markieren1. Bedeckt man die Matratze mit einem Spannbettuch, so kann man die aufgesprühten Konturen von diesem auf Papier mit bekanntem Gewicht pro Fläche übertragen, die Kontaktfläche ausschneiden und durch Wiegen des Papiers die Fläche ermitteln. Auch die Thermografie eignet sich in bestimmten Fällen sehr gut zur Kontaktflächebestimmung. Die Methode kommt allerdings nicht bei der Beurteilung der Kontaktfläche mit einem körperunterstützenden System zum Einsatz, sondern zur Analyse des Kontakts mit Griffen, Armlehnen, Stellteilen, o. ä. Wird beispielsweise ein Griff gekühlt, bevor er von Probanden angefasst wird, so bleibt ein thermografisch nachweisbarer Handabdruck zurück, der ausgewertet werden kann. Zur Beurteilung der Schnittstelle Mensch/ körperunterstützendes System reicht es meist nicht aus, nur die Größe der Kontaktfläche quantitativ zu bestimmen. Es ist mindestens ebenso wichtig zu erfahren, wie sich die Drücke, die der Körper auf das unterstützende System ausübt, über diese Kontaktfläche verteilen. Druckverteilungsmuster können über so genannte Druckmessmatten ermittelt werden (s. z. B. Reed und Grant 1993; Hong et al. 2001). Solche Matten verfügen über eine definierte Anzahl von Sensoren pro Fläche; die Matten sind flexibel, so dass bei einem Sitz die Sitzfläche und die Rückenlehne gleichzeitig erfasst werden können. Diese Untersuchungsmethodik ist ein gutes Beispiel dafür, dass in der Industrieanthropologie durch die oft neuartigen, anwendungsbezogenen Fragestellungen kein etabliertes Methodenarsenal zur Verfügung steht, sondern im Einzelfall ad hoc entwickelt werden muss. Im vorliegenden Fall hatte sich als eine geeignete Füllflüssigkeit für die Spritzpistole lauwarmer Kaffee erwiesen, da er einerseits gute Farbspuren hinterlässt, andererseits aber auch gut hautverträglich und schließlich auch noch sehr kostengünstig ist. 1
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Abb. 5.10 Sitzdruckverteilung auf der Sitzfläche eines Fahrersitzes: Links ist die Druckverteilung bei aufrechter Sitzposition dargestellt, rechts bei hinterer Sitzhaltung (Becken nach vorne geschoben, Rücken abgestützt). Die Grafik zeigt vereinfacht das Prinzip; die Grauabstufungen werden mit abnehmenden Druck heller (von ca. 200 mm Hg bis ca. 20 mm Hg). Die modernen Messmethoden gestatten eine differenzierte Darstellung
Abb. 5.10 zeigt vereinfacht das Ergebnis einer solchen Druckverteilungsmessung. Es ist deutlich zu erkennen, dass z. B. im Bereich der Tubera ischiadica (Sitzbeinhöcker) sehr hohe Drücke entstehen können. Wenn solche hohen Drücke punktuell auftreten, kann in dem betroffenen Körperareal eine Minderdurchblutung resultieren. Meist kompensiert der Sitzende dies durch erhöhte Bewegungsunruhe.
5.1.4.6 Untersuchungen zum Mikroklima Neben den metrischen Aspekten der Schnittstelle zwischen Mensch und industriell gestalteter Umwelt sind auch so genannte mikroklimatische Faktoren von der Industrieanthropologie zu untersuchen. Speziell bei der Analyse von Sitzen (Stühle, Fahrersitze, etc.) und Betten (Matratzen, Bettdecken, aber auch Schlafsäcke) spielen sie eine nicht unerhebliche Rolle. Das Mikroklima an der Schnittstelle zwischen dem Menschen und dem körperunterstützenden System ist das Ergebnis von drei Einflussfaktoren: • dem Raumklima der Umgebung (Temperatur und Luftfeuchtigkeit), • den Materialeigenschaften des körperunterstützenden Systems (z. B. Wärmeleitfähigkeit und Kapazität, Feuchtigkeit aufzunehmen) und • den physiologischen Reaktionen des Nutzers (z. B. individuelle Transpirationsneigung und kompensatorische Bewegungsunruhe). Wie die bereits diskutierten morphometrischen Eigenschaften zeigen auch die physiologischen Reaktionen der menschlichen Nutzer eine erhebliche interindividuelle Variabilität, wobei die Kenntnisse über Mittelwerte und Streuung solcher physiologischen Reaktionen noch recht begrenzt sind. Quantitative Messungen der Transpiration unter definierten Bedingungen beispielsweise zeigen eine erhebliche
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Industrieanthropologie
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Streubreite. Kowalski (Kowalski 1994; Schröder und Kowalski 1994) hat an einer kleinen Stichprobe (38 Männer zwischen 25 und 35 Jahren) gezeigt, dass die auf einem Hautareal von 10 cm² abgesonderte Schweißmenge zwischen 30 µl (5. Perzentil) und 120 µl (95. Perzentil) variiert, wobei der Median bei 70 µl liegt. Untersuchungen zum Mikroklima im Bett müssen neben der individuellen Transpirationsneigung und der Körpertemperatur des Schläfers auch berücksichtigen, dass Temperatur und Luftfeuchtigkeit in der Betthöhle ganz erheblich vom Schlafverhalten beeinflusst werden. Wie ruhig oder unruhig ist der Schlaf? Werden im Schlaf Extremitäten aus Gründen der Thermoregulation unwillkürlich unter der Bettdecke hervorgestreckt? Eine Langzeituntersuchung von Erichsen (1994), die den Schlaf einer Versuchsperson unter verschiedenen Bedingungen über mehr als ein Jahr videographisch aufzeichnete, hat beispielsweise ergeben, dass die Bewegungsfrequenz des Schläfers nicht vom Material einer Bettdecke abhängt, dass aber die Wärmeisolationseigenschaften der Bettdecke beeinflussen, wie lange Körperteile aus der Betthöhle herausgestreckt werden2. Im Ergebnis gestatten Untersuchungen dieser Art, das industriell gefertigte Produkt Bettdecke den physiologischen Bedürfnissen der Nutzer besser anzupassen. Menschen, die wenig schwitzen und ein großes Wärmebedürfnis haben, benötigen für einen erholsamen Schlaf andere Wärmeisolationseigenschaften der Bettdecke als Schläfer, die leicht schwitzen und ein kühles Raumklima bevorzugen. Allerdings sind weitere Kenntnisse über die Variabilität physiologischer Merkmale in der Bevölkerung und die Mechanismen der Thermoregulation dringend erforderlich, um die mikroklimatischen Eigenschaften von Materialien zu bewerten, mit denen der Mensch in seiner körpernahen Umwelt Kontakt hat. Box 5.4: Menschmodelle
Die an großen Stichproben gewonnenen anthropometrischen Datensätze stehen zwar als Tabellenwerke zur Verfügung, werden jedoch vor allem von anthropologisch kaum geschulten Anwendern im industriellen Bereich für Konstruktion, Entwicklung und Design von komplexen Arbeitsplätzen meist als schlecht handhabbar betrachtet. Um diese Aufgaben zu erleichtern, wurden verschiedene Menschmodelle (auch als Dummys oder Manikins bezeichnet) entwickelt, die sich in vielen Aspekten von einander unterscheiden. Menschmodelle können zweidimensional oder dreidimensional sein; sie können als reale Zeichenschablonen oder als virtuelle Computerdarstellungen vorliegen. Ein in verschiedenen Maßstäben verfügbares zweidimensionales Menschmodell, das für die 5-, 50-, und 95-Perzentil-Abmessungen von Männern und Frauen bereitgestellt wird, ist die Kieler Puppe, die auch realistische Gelenkbewegungen simuliert. Unter den dreidimensionalen virtuellen Menschmodellen ist RAMSIS (Rechnergestütztes Die Wärmeisolationseigenschaften können unproblematisch und reproduzierbar festgestellt werden, indem man in einem Versuch unter definierten physikalischen Bedingungen misst, wie viel elektrische Energie erforderlich ist, um einen Wärmedummy über einen festgelegten Zeitraum unter einer Bettdecke bei konstanter Temperatur von beispielsweise 37° C zu halten. 2
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Anthropologisches Mathematisches System zur Insassen-Simulation) zu nennen, das nicht nur für bestimmte Perzentile zur Verfügung steht, sondern den anthropometrischen Bedingungen definierter Nutzergruppen angepasst werden kann. So können bestimmte Körperbautypen berücksichtigt werden, die eher der humanbiologischen Realität entsprechen als die statistischen Artefakte der Perzentil-Typen. Menschmodelle unterscheiden sich teilweise erheblich in Qualität und Quantität der zugrunde liegenden Datenbasis. Dabei ist es z. B. von großer Bedeutung, ob sich die Referenzdaten, die dem Menschmodell zugrunde liegen, auf Messpunkte der Körperoberfläche oder auf Messpunkte am Skelett beziehen. In der Fachliteratur werden die darauf basierenden Modelle häufig – nicht ganz korrekt – als exoskeletäres oder endoskeletäres Modell bezeichnet. Beruht ein Menschmodell auf Körperoberflächenmesspunkten, sind zwangsläufig alle Simulationen von Gelenkfunktionen unpräzise, da diese den Bezug zu knöchernen Messpunkten erfordern. Beruht ein Modell hingegen auf Messwerten der knöchernen Unterlage, fehlt die Berücksichtigung der Weichteile und ihrer z. T. erheblichen Verschiebungen bei Bewegungen. Speziell bei digitalen Menschmodellen täuscht die hohe Auflösung und das realistische Aussehen mancher Modelle oft eine Genauigkeit und Validität vor, die durch die Datenbasis gar nicht gerechtfertigt ist.
5.1.5
User Experience Research
Ergonomie und Industrieanthropologie liefern spezifische Daten, um Produkte so zu entwerfen, zu entwickeln und zu testen, dass sie den Anforderungen und Bedürfnissen der menschlichen Nutzer angepasst sind. Damit wird dieser angewandte Forschungsbereich auch von Prozessen beeinflusst, die in Unternehmen die Entwicklung und Optimierung von Produkten steuern. Tatsächlich haben sich in den vergangenen Jahren wichtige Weiterungen für die Forschung ergeben, denn Produktentwicklungsprozesse einerseits und regulatorische Anforderungen andererseits haben sich verändert. Viele Unternehmen haben ihre Produktentwicklungsprozesse geöffnet: OpenInnovation, Nutzerpartizipation und Human-centredDesign haben stark an Bedeutung gewonnen. Der jüngste Trend ist die nutzergesteuerte Innovation ( user-driveninnovation), bei der statt technologischer Innovationen die Nutzerbedürfnisse den Anstoß für neue Produkte liefern. Der Prozess der nutzergesteuerten Innovation gilt als radikalste Veränderung von Unternehmensstrategien, denn er bedeutet eine Umkehr des Entwicklungsprozesses: Es werden nicht mehr primär technologische Produktideen sekundär an die Anforderungen der potenziellen Nutzer angepasst, sondern Nutzerideen und -wünsche stehen im Fokus und sollen technologisch umgesetzt werden. Daraus ergeben sich neue Herangehensweisen, die ein komplexes Verständnis vom Menschen erfordern. Unter dem Stichwort „humanfactors“ wird wissenschaftlich untersucht, wie Menschen sich im Umgang mit einem Produkt verhalten. Der Nutzungskontext wird ganzheitlich betrachtet, zu den Faktoren Sicherheit, Effizienz und Komfort treten Emotionen, Wahrnehmung,
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Industrieanthropologie
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Abb. 5.11 Der Prozess des Human-Centred Designs. (Umgezeichnet und adaptiert nach DIN EN ISO 9241-210:2010-01)
Präferenzen, etc. Auch die International Organization for Standardization hat auf die veränderten Bedingungen reagiert; seit 2010 ist die DIN EN ISO 9241-210:2010-01 (D) Ergonomicsofhuman-systeminteraction–Part 210: Human-centreddesignfor interactivesystems (ISO 9241-210:2010) in Kraft. Der Anwendungsbereich der Norm ist zwar beschränkt auf computerbasierte interaktive Systeme, doch viele Aspekte haben grundsätzliche Gültigkeit und können auf andere Produkte übertragen werden. Dies betrifft zum Beispiel die Abgrenzung von Usability (Gebrauchstauglichkeit) und User Experience Research. Die Gebrauchstauglichkeit umfasst Effektivität und Effizienz in der Nutzungssituation, UserExperienceResearch hingegen schließt nicht nur andere HumanFactors, wie z. B. Vorlieben und Abneigungen oder physische und psychologische Reaktionen ein, sondern bezieht auch die Phasen vor und nach der Nutzung ein. Der antizipierte Gebrauch muss also ebenso betrachtet werden wie die Verarbeitung im Anschluss an die Nutzung. Die Abb. 5.11 zeigt, wie der Prozess nach der neuen Norm idealtypisch ablaufen soll: Die Abbildung zeigt, dass das Feld der Nutzerforschung sehr heterogenen Anforderungen genügen muss. Tatsächlich kommen UserExperience Researcher aus unterschiedlichen Herkunftsdisziplinen, wie Ingenieurwissenschaften, Informatik, Wirtschaftswissenschaften, Designwissenschaft, Psychologie, Kulturwissenschaften und natürlich Anthropologie. Eine zielgerichtete wissenschaftliche Ausbildung existiert noch nicht. Die meisten User Experience Researcher haben ihre besonderen Kenntnisse durch eine intensive und qualifizierte berufliche Tätigkeit erworben. Auch das methodische Arsenal, das in der Nutzerforschung zur
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Angewandte Anthropologie
Anwendung kommt, spiegelt diese Interdisziplinarität wider. Brainstorming-Techniken, Fragebögen, semi-strukturierte Interviews, Verhaltensbeobachtungen, Netnographie (Ethnografie in Internetforen und Social Media) und viele andere Methoden bilden die Grundlage einer sich ständig erweiternden Toolbox. Die Wirtschaft hat einen zunehmenden Bedarf an hochqualifizierten UserExperienceResearchern, die über breit gefächerte Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen müssen; dazu gehören: • wirtschaftliches Verständnis, • Designaffinität, • technisches Verständnis, • gründliche Kenntnisse der menschlichen Natur und Kultur, • Bereitschaft zum transdisziplinären Austausch und zur interdisziplinären Zusammenarbeit. Eine im Auftrag der dänischen Regierung bereits 2005 durchgeführte Studie von Rosted (Rosted 2005) ist zu dem Ergebnis gekommen, dass ein interdisziplinärer Studiengang erforderlich ist, der Psychologie, Soziologie, Ethnografie und Anthropologie zusammenführt und von entsprechenden Forschungsaktivitäten begleitet wird. Auch in Deutschland fehlt eine solche universitäre Institutionalisierung. Die Anthropologie mit ihren vielfältigen interdisziplinären Bezügen und ihrer traditionellen Brückenfunktion könnte diese Lücke füllen. Zusammenfassung Kap. 5.1: Industrieanthropologie
• Die Industrieanthropologie liefert die erforderliche Datenbasis bezüglich morphologischer, physiologischer und verhaltensbiologischer Eigenschaften des Menschen im Hinblick auf die industrielle Gestaltung unserer Arbeitsund Wohnwelt. • Die enorme Variabilität des Menschen stellt dabei ein besonderes Problem dar. Aus industrieanthropologischer Sicht gilt: Alle Menschen sind ungleich! • Das methodische Basisinventar der Industrieanthropologie ist zwar noch immer die statische Anthropometrie, jedoch sind aufgrund der besonderen Anforderungen zwischenzeitlich spezielle Messverfahren entwickelt worden, welche den Bewegungsmustern der Menschen Rechnung tragen.
5.2
Forensische Anthropologie
Die forensische Anthropologie ist ein Teilbereich der angewandten Anthropologie, der gefordert ist, wenn Fragen nach der Identität, der biologischen Verwandtschaft, sowie biologischer Lebenslaufdaten von Menschen in einem rechtlichen Kontext auftreten. Dies erfordert umfangreiche Kenntnisse sowohl der Osteologie als auch der biologischen Variabilität des lebenden Menschen. Die Identifizierung unbekannter menschlicher Leichenfunde wird in solchen Fällen relevant, in denen die Liegezeit nicht in einen historischen oder prähistorischen Zeitrahmen fällt und die
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Forensische Anthropologie
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Überreste derart unkenntlich sind, dass eine schnelle Identitätsklärung nicht möglich erscheint. Dieses Anwendungsgebiet der forensischen Anthropologie ist durch enge Kooperation mit der Rechtsmedizin gekennzeichnet. Es bedient sich hauptsächlich der Methoden der prähistorischen Anthropologie, welche den speziellen Fragestellungen entsprechend modifiziert werden, ergänzt durch ein eigenständiges Methodenrepertoire der forensischen Anthropologie. Die Identifizierung von Menschen, die auf Fotografien bzw. Videos abgebildet sind, wird bei der morphologischen Bildbegutachtung angestrebt. Zumeist betrifft dies Bildmaterial von Überwachungskameras, welches in Zusammenhang mit Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten aufgezeichnet wurde. Von den Vergleichspersonen, die bezüglich ihrer Identität mit der auf dem Bildmaterial abgebildeten Person überprüft werden, liegt entweder ebenfalls geeignetes Bildmaterial vor, oder die Überprüfung geschieht in einer Gegenüberstellung. Die morphologische Bildbegutachtung bedient sich überwiegend der Methoden der vergleichenden Morphologie und ergänzt diese durch geeignete bildtechnische Verfahren. Bei Personen ohne verlässliche Angaben ihrer Geburtsdaten wird es bei Personenüberprüfungen und rechtlichen Fragestellungen der Strafmündigkeit, bei der Geltendmachung von beispielsweise Rentenansprüchen oder anderer an eine Altersgrenze gebundene Pflichten und Rechte notwendig, eine Altersbestimmung am lebenden Menschen durchzuführen. Hierfür werden in Abhängigkeit des zu überprüfenden Altersbereiches Methoden der Entwicklungsund Reifediagnostik wie auch in der prähistorischen Anthropologie übliche Methoden der Altersdiagnose appliziert. Inzwischen obsolet und nur noch in Ausnahmefällen relevant ist die erbbiologische Verwandtschaftsdiagnose. Insbesondere die morphologische Vaterschaftsdiagnose ist hier zu nennen. Die phänotypische Merkmalsausprägung der Betroffenen wird unter der Annahme verglichen, dass die Merkmalsausprägungen vererbt werden. Aufgrund von umweltplastischen Einflüssen, nicht gewährleisteter Altersstabilität der Merkmale sowie teilweise ungeklärter genetischer Grundlage der Merkmale liefert diese Anwendung eine deutlich geringere Aussagewahrscheinlichkeit gegenüber der serologischen und vor allem der heute üblichen molekulargenetischen Paternitätsfeststellung. Der Einsatz der forensischen Anthropologie unterliegt im deutschsprachigen Raum keiner rechtlichen Regelung. Anders als in der Rechtsmedizin, in der Leichenschau und im Sektionsrecht, wo sowohl die Zuständigkeit als auch die Inhalte gesetzlich geregelt sind und rechtsmedizinische Universitätsinstitute klar definierte Regionen betreuen, kommt die forensische Anthropologie sporadisch und nach Einzelfallentscheidung zum Einsatz. Im Fall der Identifizierung unbekannter Leichenfunde ist in Deutschland der forensisch-anthropologischen Untersuchung ausnahmslos eine rechtsmedizinische Untersuchung vorgeschaltet. Üblicherweise wird ein Untersuchungsauftrag an die Anthropologie erst dann erteilt, nachdem weder die polizeiliche Ermittlung noch die rechtsmedizinische Obduktion eine ausreichende Grundlage für die Identifizierung bzw. für weitere zielführende Ermittlungen erarbeiten konnten. Die forensische Anthropologie wird daher oft zeitlich deutlich verzögert in die Untersuchungen involviert, und es ist nicht unüblich, dass mehrere Jahre vergehen, bis die forensische Anthropologie als „letztes
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Angewandte Anthropologie
Mittel“ eingesetzt wird. Die Erfolgschancen sind aufgrund dessen in diesen Fällen eingeschränkt. Dennoch gelingt es der Anthropologie oft, mit Hilfe makroskopischer, histologischer, chemisch-analytischer und molekulargenetischer Methoden ein engmaschiges Lebenslaufprofil des Toten zu erstellen und eine typgerechte Gesichtsweichteilrekonstruktion von hohem Wiedererkennenswert zu erarbeiten. Die forensisch-anthropologische Untersuchung zielt daher darauf ab, Informationen zu liefern, die den polizeilichen Ermittlern Hilfestellungen für eine Eingrenzung der Ermittlung liefern. Diese führt in den meisten Fällen zu dem Abgleich eines erstellten Personenprofils mit Meldungen aus nationalen bzw. internationalen Vermisstendatenbanken, wie etwa Europol (European Police Office). Eine endgültige Identifizierung wird dann über den DNA-Abgleich zwischen dem Vermissten bzw. dessen Verwandten und dem Toten erreicht. Wenn auch bereits I. Schwidetzky (1954) in Deutschland den Begriff der „Forensischen Anthropologie“, seinerzeit für die morphologische Paternitätsbeurteilung, in die Anthropologie eingeführt hat, so ist doch die Entwicklung des Arbeitsgebietes von den USA ausgegangen. Während in der Nachkriegszeit in Deutschland die Anthropologie als Wissenschaft durch ihre unrühmliche Rolle im Nationalsozialismus einen schweren Stand hatte, konnte sie in den USA den großen Bedarf an Identifizierungen nutzen, die durch die Rückführungen der amerikanischen Gefallenen des Zweiten Weltkrieges, des Korea-Krieges und des Vietnam-Krieges notwendig wurde. Bereits zuvor hat der als Begründer der amerikanischen Physical Anthropology angesehene A. Hrdliĉka (1869–1931) eine enge Zusammenarbeit mit dem FBI angeknüpft, was 1947 in die Gründung des auch heute noch weltweit größten Zentrums für Identifikationen, das Central Identification Laboratory in Hawaii, mündete. Bereits in den 1970er Jahren organisierten sich die Anthropologen in einer Sektion der American Academy of Forensic Sciences und führten als American Board of Forensic Anthropologists ein Zertifizierungsverfahren zur Zulassung forensischer Anthropologen ein. Dies führte zu einem hohen Maß an Professionalisierung und Akzeptanz und sicherte der forensischen Anthropologie einen festen Platz in der Organisation der Kriminalistik. Weiter gefestigt wurde dies durch Identifizierungsaufgaben im Rahmen des humanitären Menschen- und Völkerrechtes, so bei den Bürgerkriegskonflikten in Argentinien, in Guatemala oder auf dem Balkan (Ubelaker 2006; Brickley und Ferllini 2007; Blau und Ubelaker 2009). Box 5.5: Der Daubert-Standard
Im Jahr 1993 wurden im Rahmen eines amerikanischen Gerichtsurteils, in dem die Familie Daubert gegen den Pharmakonzern Merrell Dow klagte, weil die Einnahme ihres Medikamentes Bendectin gegen morgendliche Übelkeit in der Schwangerschaft zu Entwicklungsschäden des Fötus führten (ähnlich dem Contergan-Fall in Deutschland), durch den Obersten Gerichtshof ein weit reichender Kriterienkatalog für den Beweiswert wissenschaftlicher Methoden im forensischen Kontext aufgestellt. Dieser hat sich als Daubert-Standard etabliert und umfasst die folgenden vier Kriterien (Christensen und Crowder 2009):
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Forensische Anthropologie
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1. Die verwendete Methode bzw. die zugrunde liegende Theorie sollen verifizierbar sein (empirische Überprüfbarkeit). 2. Die Methode soll in einer Fachzeitschrift veröffentlicht und dabei einem peerreview-Verfahren unterzogen sein. 3. Unsicherheiten bzw. Falsifikationen der Methode sollen offen dargelegt und bei der Bewertung der Ergebnisse berücksichtigt werden. 4. Die Methode soll in einer maßgeblichen wissenschaftlichen Gemeinschaft allgemein anerkannt sein. Wenn auch der Daubert-Fall (vgl. Box 5.5) nicht direkt Methoden der forensischen Anthropologie anspricht, so hat er doch für die forensische Anthropologie weitgehende Implikationen durch die Forderung der Entwicklung evidenzbasierter Standards (z. B. Christensen und Crowder 2009; Geserick und Schmeling 2011). Vor allem zwei Institutionen in den USA, die sich der Methodenentwicklung und -sicherung angenommen haben, sind hier zu nennen: Das Anthropological Research Center an der Universität von Tennessee – auch bekannt unter dem Namen „body farm“, 1971 gegründet von dem Anthropologen W. Bass – konzentriert sich auf taphonomische Prozesse der Abbauvorgänge menschlicher Leichen und ihrer Einflussfaktoren (Bass 1984). D. Ubelaker am Department of Anthropology des Smithsonian Institute in Washington arbeitet insbesondere an der praktischen Umsetzung des Methodeninventars für die Bestimmung individueller Lebenslaufmarker in seiner vollen Breite (Ubelaker 1999). In den europäischen Ländern stellt sich die forensische Anthropologie deutlich heterogener dar, sowohl was die Ausbildungssituation als auch was die Organisation betrifft. Auch die Inanspruchnahme forensisch-anthropologischer Dienste variiert beträchtlich und ist vielfach von persönlichen Kontakten der fast ausnahmslos an Universitäten angebundenen Anthropologen zu den Ermittlungsbehörden abhängig. Abgesehen von dem großen Netherlands Forensic Institute in Den Haag, welches ein akkreditiertes Kurssystem etabliert hat, und England, wo das 2003 gegründete Council for the Registration of Forensic Practitioners (CRFP) ein Akkreditierungssystem zur Zulassung forensischer Anthropologen entwickelt hat, gibt es keinen Standard-Kanon an Kenntnissen, der für einen forensisch arbeitenden Anthropologen gefordert ist. Anthropologen haben zudem einen unterschiedlichen Ausbildungshintergrund: als Biologen, physische Anthropologen, (Rechts-)Mediziner oder als Archäologen. Die 2004 gegründete Forensic Anthropology Society of Europe (FASE) ist unter dem Dach der europäischen Rechtsmediziner entstanden, und es bleibt weiter abzuwarten, ob sich daraus unter den heterogenen Bedingungen in den europäischen Ländern ein flächendeckendes Kommunikationsforum entwickeln kann. Für ein spezielles Feld der forensischen Anthropologie, der Identifizierungen bei Massenkatastrophen (Deasaster Victim Identification, DVI), hat sich unter der Ägide der Kriminalämter der Länder ein geregeltes, standardisiertes und gut funktionierendes System der internationalen Zusammenarbeit entwickelt, das nach Absprache, bzw. sofern Staatsbürger des jeweiligen Landes betroffen sind, kurzfristig aktiviert werden kann. In Deutschland durch das Bundeskriminalamt organisiert, ist
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aufgrund der rechtlichen Obduktionsregelung durch Fachärzte für Rechtsmedizin nur in Ausnahmefällen ein Einsatz forensischer Anthropologen möglich. Einsätze der IDKO (Identifizierungskommission des BKA) in den letzten Jahren waren beispielsweise das Zugunglück in Eschede 1998, der Absturz einer Concorde bei Paris 2000, die Anschläge auf Bali 2002 oder der Tsunami in Südostasien Weihnachten 2004.
5.2.1
Identifikation unbekannter Toter
Im Oktober 2008 führte das bundeslandübergreifende Informationssystem der Polizei Deutschlands INPOL in ihrer Vermisstenkartei über 8300 Fälle, darunter 5400 in Deutschland vermisste Personen. Täglich werden etwa 250–300 Fälle neu erfasst, von denen bereits in der ersten Woche etwa 50 % und bis zum Ablauf eines Monats nach dem Verschwinden bereits 80 % geklärt werden. In etwa 3 % aller Fälle bleiben die Personen jedoch über ein Jahr lang vermisst, die Fahndung nach ihnen bleibt 30 Jahre lang als Eintrag aktiv (Bundeskriminalamt: www.bka.de). Werden menschliche Überreste aufgefunden, die im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen nicht mit einer der regionalen Vermisstenmeldungen geklärt werden können, werden weiterführende Methoden nötig, um die Identität des unbekannten Toten zu klären. Dies betrifft vor allem menschliche Überreste, die nach einer längeren Liegezeit ausgedehnten Abbauprozessen der Weichgewebe ausgesetzt waren oder aufgrund von Feuereinwirkung stark unkenntlich geworden sind. Liegen derartige Fälle vor, bei denen zudem zunächst keine Eingrenzungen der Herkunft möglich sind, sind die Ermittler mit dem internationalen System der Vermisstendatei bei der EUROPOL überfordert, da die Recherchen schnell unübersichtlich werden. Es ist daher für die Identifizierung zielführend, ein möglichst engmaschiges Lebenslaufprofil des Toten zu erstellen, um die Ermittlungen kanalisieren zu können. Das ist die Aufgabe der forensischen Anthropologie, die damit die Rechtsmedizin ergänzt. In diesem Fall können makroskopische und mikroskopische Knochenanalysen zur Identifikation beitragen. 7 Grundsätzlich kommen dabei dieselben Methoden der Alters- und Geschlechtsbestimmung, der Körperhöhenschätzung und der Rekonstruktion individueller Lebenslaufparameter zur Anwendung wie bei der anthropologischen Untersuchung von historischem und prähistorischem Skelettmaterial.
Daher wird generell auf das Kap. 2.3 und auf spezielle Lehrbücher (z. B. Byers 2002; Schmitt et al. 2006; Brickley und Ferllini 2007; Black und Ferguson 2011) verwiesen, in denen die entsprechenden Verfahren ausführlich dargestellt sind. Neben dieser Fallsituation des Auffindens einzelner Toter gestaltet sich die Identifizierung noch weitaus komplexer, wenn es gilt, mehrere Tote nach Massenkatastrophen zu identifizieren. Hier steht vielfach die Differenzierung von Leichenteilen verschiedener Personen im Vordergrund. Die an den aufgefundenen menschlichen Überresten postmortem zu erhebenden individuellen Merkmale werden mit ante
5.2
Forensische Anthropologie
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mortem Daten von Vermissten abgeglichen, die beispielsweise durch Passagierlisten eingegrenzt werden können. Vor allem mit Hilfe der forensischen Odontostomatologie, die Zahnstatus und zahnärztliche Behandlungen zugrunde legt (Hill et al. 2011), aber auch der Daktyloskopie, welche individuelle Merkmale der Papillarleisten untersucht, der forensischen Pathologie, die individuelle Verletzungs- und Operationsspuren wie auch Implantate vergleicht und letztlich der DNA-Analytik wird abhängig von den oftmals schwierigen Arbeitsbedingungen vor Ort häufig die Identifizierung dennoch in einem zeitlich engen Fenster ermöglicht. Auch in Fällen von Massengräbern, die oft bei internationalen Hilfseingriffen nach Verletzungen der Genfer Menschenrechtskonvention aufgedeckt werden, steht die Forensische Anthropologie vor den Problemen der Zuordnung einzelner Skeletteile zu einem Individuum, der Differenzierung zwischen menschlichen und Tierknochen wie auch zwischen älteren und jüngeren Deponierungen. Hierbei kommen vielfach Ausgrabungstechniken zum Einsatz, die im archäologisch-anthropologischen Kontext entwickelt wurden, und neben morphologisch-histologischen Methoden seit kurzem auch eine biochemische Methode zum Nachweis humanspezifischer Proteine, den protein radioimmunassay (pRIA) umfasst (Ubelaker 2008). Ein entsprechender großer Projekteinsatz auf europäischem Gebiet ist durch die Menschrechtsverletzungen der Kosovo-/Bosnien-Herzegowina-Konflikte der 1990er Jahre notwendig geworden. Er wurde organisiert durch die 1996 hauptsächlich zu Identifizierungsarbeiten bei bewaffneten Konflikten gegründete international agierende International Commission of Missing Persons ICMP, die in Sarajewo ein großes DNA-Labor unterhält. Ein Überblick über aktuelle Methoden bei der forensisch-anthropologischen Bearbeitung von Massengräbern findet sich bei Adams und Byrd (Adams und Byrd 2008). Da die forensische Anthropologie in der Praxis mit unterschiedlichen Stadien des Leichenabbaus konfrontiert ist, spielt das Verständnis der Dekompositionserscheinungen eine große Rolle. Die Untersuchung des mit dem jeweiligen Erhaltungszustand verbundenen Liegemilieus und des sich daraus ableitenden postmortalen Intervalls, der Liegezeit, ist primär in der Rechtsmedizin angesiedelt, da in der forensischen Anthropologie zumeist Abbaustadien der späten Leichenerscheinungen eine Rolle spielen, bei denen der Leichnam dann vielfach bereits vollständig skelettiert ist. Im diesem Stadium ist die Liegezeit nur noch durch den Gehalt an Leichenfett oder Knochenkollagenen einzugrenzen. Dennoch ist das Verständnis auch der frühen Leichenerscheinungen für die forensische Anthropologie von großer Bedeutung, da viele fallspezifische Besonderheiten wie anatomische Skelettlage, Disartikulation, postmortale Frakturen, Teilskelettierungen und dergleichen nur durch diese interpretierbar werden (Schmitt et al. 2006). Für besondere Erhaltungszustände wie nach Leichenzerstückelung, Mumifizierungen, oder Leichenverbrennung (Ubelaker 2009) hat die Anthropologie eine Vielzahl methodischer Ansätze zum Verständnis der postmortalen Prozesse entwickelt (vgl. Kap. 2.3, Box 2.9). Die prähistorische Anthropologie verfügt über eine große Vielfalt von Methoden zur Alters- und Geschlechtsbestimmung am Skelett. Nicht alle dieser Methoden sind gleichermaßen für die forensische Diagnostik geeignet. Die hier vorgestellte Auswahl orientiert sich u.a. an den einschlägigen Empfehlungen der Arbeitsge-
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meinschaft Forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, die von Rechtsmedizinern und Anthropologen zusammengestellt wurden (Ritz-Timme et al. 2000; Rösing et al. 2005) und aus den „Empfehlungen für die Alters- und Geschlechtsdiagnose am Skelett“ (Ferembach et al. 1979) mit einigen Änderungen hervorgegangen ist. Bei der forensisch-anthropologischen Alters- und Geschlechtsbestimmung am Skelett steht die Identifikation einer Person im Vordergrund. Bei der Geschlechtsbestimmung wird die DNA-Analyse neben morphologischen Methoden eingesetzt, um eine möglichst gut abgesicherte Diagnose zu erreichen. Dies gilt insbesondere für Skelette von nicht erwachsenen Individuen, bei denen mit morphologischen Methoden deutlich schlechtere Ergebnisse erzielt werden als bei Skeletten Erwachsener, da der Geschlechtsdimorphismus vor Abschluss der körperlichen Reife noch nicht ausreichend deutlich ausgeprägt ist. Wenn aufgrund liegemilieubedingter DNA-Degradation mit möglichem kompletten Allelausfall molekularbiologisch kein oder kein klares Ergebnis erzielt werden kann, wird auf die morphologische Geschlechtsbestimmung vertraut, die jedoch in allen Fällen angewandt werden sollte, auch, um den Grad der Ausprägung geschlechtsspezifischer Merkmale auszudrücken und einen allgemeinen Eindruck zu erhalten, ob geschlechtstypische Robustizität und Form ausgeprägt sind. Nach den Empfehlungen für die forensische Geschlechts- und Altersdiagnose am Skelett kommen die in Tab. 5.4 genannten Kriterien zur Anwendung. Die Altersbestimmung erfolgt mit unterschiedlichen Methoden in Abhängigkeit davon, ob es sich um ein kindliches, jugendliches oder um ein erwachsenes Skelett handelt. Bei Kindern empfiehlt es sich, die odontologische Altersdiagnose vorzunehmen. Dabei sind die Stadien der Mineralisation, wie etwa vollständig ausgebildete Zahnkronen oder -wurzeln, besser geeignet als der alveolare Zahndurchbruch, der sehr variabel ist. Standardwerte können der Literatur entnommen werden (Liversidge 1993; Haavikko 1970; Demirjian und Goldstein 1976; Übersichten bei Liversidge et al. 1998; Rötzscher 2000; Kemkes-Grottenthaler 2002). Ein Vorzug der Altersdiagnose anhand der Zähne ergibt sich aus der Tatsache, dass sich die säkulare Akzeleration im Gegensatz zu anderen Prozessen der Skelettentwicklung kaum auf die Gebissentwicklung auswirkt (Herdeg 1992). Die Altersbestimmung anhand der Längenentwicklung der großen Röhrenknochen (Stloukal und Hanakova 1978 in Ferembach et al. 1979; Scheuer und Black 2000) ist zwar grundsätzlich möglich, jedoch sehr stark von der Akzeleration beeinflusst, so dass Liegezeit und regionale Herkunft für die Angabe eines Altersinterwalles unbedingt zu berücksichtigen sind. Bei Jugendlichen kommt bei der Beurteilung der Skelettreifung den Wachstumsfugen große Bedeutung zu, wobei bei der Auswahl von Vergleichswerten allerdings wiederum die säkulare Akzeleration zu berücksichtigen ist, so dass neueres Referenzmaterial verwendet werden sollte (z. B. Scheuer und Black 2000; Cardoso 2008; Schmeling et al. 2004; Schmidt et al 2008; Lynnerup et al. 2008). Bei Erwachsenen ist die morphologische Altersdiagnose aufgrund der großen individuellen Altersvariabilität für forensische Zwecke bis heute unbefriedigend. Zudem ist aufgrund der großen individuellen Variationsbreite eine Standardisierung
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Tab. 5.4 Merkmale zur forensischen Geschlechtsbestimmung; die Anzahl der Sterne repräsentiert die Gewichtung des jeweiligen Merkmals. (Nach Rösing et al. 2005) Merkmal Kurzbeschreibung Becken Angulus pubis**** ♂ weniger als 90˚ ♀ mehr als 90˚, die Äste sind konkav gebogen Arc composé*** ♂ der Bogen trifft vorn auf die Facies, ♀ der Bogen trifft erst hinten auf die Facies Diskriminanzanalyse*** zur gleichzeitigen Beurteilung mehrerer Streckenmaße (Sjøvold 1988) Incisura ischiadica maior** ♂ engerer Einschnitt, aber Scheitel der Kurve stärker gerundet ♀ offenerer Winkel mit Knick am Scheitel Foramen obturatum** ♂ hoch und stärker gerundet ♀ breit und eher dreieckig Acetabulum** ♂ deutlich größer als ♀ Sulcus praeauricularis** ♀ wenn vorhanden; wenn nicht vorhanden, ist keine Aussage zu treffen Schädel Glabella und Arcus ♂ vorgewölbt und reliefreich superciliares*** ♀ glatter Margo supraorbitalis*** ♂ gerundet ♀ scharfgratig Jochbogen und Crista ♂ dick, scharfgratig supramastoidea*** ♀ dünn, rundlich Diskriminanzanalyse*** mit Schädelmaßen nach Sjøvold 1988 Orbitaform** ♂ rechteckig, niedrig ♀ rund, hoch Stirnform** ♂ fliehend, kaum Höcker ♀ steil, eher Höcker Os zygomaticum** ♂ großflächig, reliefiert, ♀ klein, glatt Planum nuchale** ♂ reliefreich ♀ glatt Angulus mandibulae** ♂ Eversion und Muskelmarken ♀ glatt Diskriminanzanalyse** mit Zahnmaßen nach Rösing et al. (1995) Processus mastoideus* ♂ groß und reliefiert ♀ klein und glatt Mentum mandibulae* ♂ betont, oft dreieckig ♀ glatt, rund allgemeine Größe* in Sichteinschätzung ♂ größer als ♀
der Altersvariabilität einzelner Marker und ihrer Aussagekraft kaum möglich. Daher sind biochemische und histologische Methoden zu bevorzugen. Einsatz findet die Razemisierung der Asparaginsäure im Dentin der Zahnwurzel, ein biochemisches Verfahren, mit dem das Verhältnis der L-Form zur D-Form der Aminosäure Asparaginsäure analysiert wird (vgl. Kap. 5.2.4). Es zeichnet sich
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durch einen speziell im Vergleich zu morphologischen Methoden geringen durchschnittlichen Schätzfehler von 2,1 Jahren aus (Ritz-Timme 2000; Ritz-Timme et al. 2000) und ist daher ebenso gut geeignet, wie die in Kap. 2.3 ausführlich beschriebene Untersuchung der Zahnzementannulation (Jankauskas et al. 2001; Kagerer und Grupe 2001a; Wittwer-Backofen et al. 2004, 2008). Der durchschnittliche Schätzfehler dieser Methode kann bestenfalls 2,5 Jahre erreichen. Weiterhin kommen grundsätzlich auch alle übrigen Methoden der Altersschätzung in Frage, die bereits im Kap. 2.3 dargestellt wurden, jedoch sind diese Methoden generell mit einem höheren Schätzfehler behaftet als die beiden eben genannten Verfahren. Für eine möglichst genaue Altersbestimmung sollten mehrere Methoden miteinander kombiniert werden. Soll die Altersschätzung zur Identifikation im forensisch-anthropologischen Kontext beitragen, sind strengere Kriterien an die Irrtumswahrscheinlichkeit anzulegen, so dass die Altersgrenzen eher weiter sind als in einem prähistorischen Kontext, um die Ermittlungen zur Identifizierung nicht durch möglicherweise irreführend starke Einschränkungen zu behindern. Auf einer morphometrischen Basis kann es möglich sein, aufgrund verschiedener Diskriminanzformeln Hinweise auf die ethnische Herkunft eines skelettierten Leichnams zu erhalten. Erschwert wird dieses Verfahren durch die in Europa starke Überlappung der hohen morphologischen Variationsbreite in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. In der Regel ist es gut möglich, Personen asiatischen bzw. afrikanischen Ursprungs von denen europäischer Herkunft zu unterscheiden. Auch besteht eine recht hohe Wahrscheinlichkeit, Südosteuropäer in ihre Herkunftsregion einzuordnen. Ähnliches gilt für mediterrane oder vorderasiatische Herkunft. Schwierig ist jedoch eine Differenzierung innerhalb des mittel- und nordeuropäischen Raumes, auch eine Abgrenzung zu Personen osteuropäischer Herkunft, eine Problematik, die sich insbesondere in den letzten Jahren durch die Öffnung der Grenzen zu den Ländern der russischen Föderation verschärft hat. Eine gute Differenzierung in die großen Bevölkerungsgruppen erlaubt das von der University of Tennessee entwickelte Computerprogramm FORDISC, eine multifaktorielle morphometrische Methode, die auf einer diskriminanzanalytischen Zuordnung verschiedener Schädelmaße basiert und auch bei fragmentierten Schädeln anwendbar ist (University of Tennessee 2010, https://web.dii.utk.edu/fordisc/login.aspx). Sie erlaubt sowohl eine Geschlechtsdiagnose als auch eine ethnische Zuordnung. Auch DNA-Typisierung von STR- bzw. VNTR- Markern, für die Bevölkerungsfrequenzen existieren, lassen sich für eine Wahrscheinlichkeitseinschätzung der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Bevölkerungsgruppe nutzen, sofern differenzierende Allelfrequenzen der analysierbaren Marker vorliegen (Huckenbeck et al. 1997). Bei der Diagnose seltener Allele kann dann eine Bevölkerungseinordnung möglich sein. Da das Auftreten bestimmter anatomischer Varianten am Schädel bevölkerungsabhängig ist, lassen sich im günstigsten Fall auch mit dieser Methode der epigenetischen Merkmalsfrequenzen Regionen der genetischen Abstammung eingrenzen (Hauser und di Stefano 1989). Dies führt aber nur bei solchen Fällen zum Erfolg, bei denen charakteristische und aussagekräftige Merkmalskonstellationen vorliegen.
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Mit der Analyse stabiler Isotope im Knochen kann bei eindeutigen regionalen Kartierungsmustern ein Abgleich mit der Boden- und Grundwasserkonstellation einer Herkunftsregion möglich sein (vgl. Kap. 2.3.5). Das Verhältnis von Isotopien der Elemente Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff oder Strontium im biologischen Organismus kann Hinweise auf die Region liefern, in der eine Person aufgewachsen ist, sie kann Hinweise auf Wanderungsvorgänge geben und die Region benennen, in der sich die Person vor dem Tod aufgehalten hat. In den letzten Jahren hat sich diese Methode für die forensische Applikation zunehmend etablieren können (Meier-Augenstein 2010). Im Lebenslauf eines Menschen überlebte Belastungssituationen dokumentieren sich im Körper und lassen sich prinzipiell als individuelle Lebenslaufdaten ablesen. Die Anzahl dieser Stressmarker sowie ihre altersspezifische Anlage lassen auf ein Niveau der Lebensbedingungen schließen. Insbesondere die Zähne und die langen Röhrenknochen bewahren derartige Informationen. Sie erlauben Rückschlüsse auf durchlebte Krankheiten, Mangelernährung oder ungünstige hygienische Bedingungen. Die Position der Stressmarker erlaubt eine Aussage über das Alter, in dem die betreffende Person dieser Situation ausgesetzt war. Eine Möglichkeit der Darstellung solcher Stressmarker liegt ebenfalls im Zahnzement. Weichen die Zementlinien in Dicke und Dichte von den übrigen Linien ab, so spricht dies für eine belastende physiologische Situation. Eine Ursache lässt sich jedoch daran nicht ablesen – dazu bedarf es der zusätzlichen Absicherung durch Veränderungen der Knochenstrukturen an anderen Körperabschnitten. Krankheiten wie Tuberkulose, aber auch Schwangerschaften, hinterlassen ihre Spuren im Zahnzement (Kagerer und Grupe 2001a, b). Die Gesichtsweichteilrekonstruktionen als Identifizierungshilfe hat im Zusammenhang mit der Zunahme internationaler Recherchen der Identifizierung unbekannter Leichen an Bedeutung gewonnen. Aufgrund der oft stark abgebauten Weichgewebe bis hin zur völligen Skelettierung ist die Rekonstruktion der Gesichtsweichgewebe oft die einzige Möglichkeit für Ermittler, sich um Mithilfe bei der Identifizierung an die Öffentlichkeit zu wenden. 7 Neben den polizeilichen Ermittlungen, der rechtsmedizinischen Obduktion und dem anthropologisch-forensischen Gutachten kann die Gesichtsrekonstruktion als ergänzende Fahndungshilfe dienen. Daneben ist die Methode der Gesichtsrekonstruktion geeignet, einen Abgleich des aufgefundenen Schädels mit Porträtaufnahmen vermisster Personen auf deren Identitätsplausibilität zu prüfen. Ein Ausschluss ist dadurch oft schnell möglich, eine eindeutige Identifizierung jedoch nicht; sie muss mittels geeigneter alternativer Methoden (z. B. DNA-Abgleich) erfolgen.
Eine umfangreiche anthropologisch-forensische Voruntersuchung ist immer erforderlich, um die notwendige Informationsgrundlage für eine adäquate und typgerechte Rekonstruktion des Gesichtes zu schaffen. Alle Merkmale eventuell noch vorhandener Gesichtsweichteile wie Augenfarbe, Nasenform, Augenbrauendichte und -verlauf, Form der Mundspalte, der Ohren, der Kopfbehaarung, etc. tragen als wichtige Details zur Präzisierung des Ergebnisses bei. Der Informationsgewinn
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in diesem Stadium hängt jedoch vor allem von dem Erhaltungszustand bzw. der Liegezeit des Leichnams ab. Weichteilbedeckte Leichen gelangen meist nur dann zur forensisch-anthropologische Untersuchung, wenn durch peri- oder postmortale Einwirkungen der Körper, insbesondere das Gesicht, unkenntlich geworden sind. Hierzu zählen auch hochgradig fragmentierte Leichenteile aus Personenschäden an Bahngleisen, die meist aus suizidaler Absicht resultieren. Als direkte Vorarbeit zur Gesichtsrekonstruktion gilt die anthropologische Analyse des Schädels. Anhand der morphometrischen Untersuchung des Schädels lässt sich die allgemeine Gesichtsgeometrie erkennen, die über die Beziehung von Knochen und Weichgewebe Formmerkmale der Gesichtselemente aufzeigt. Ein wesentliches Kriterium für die Vorstellung individueller Merkmale ist die Erfahrung mit der Variabilität von Schädelelementen, die über die rein metrisch zu erfassenden Merkmale hinaus die Individualität eines Gesichtes ausmachen. Weiterhin ist die Abschätzung des Konstitutionstypus eine wichtige Voraussetzung für die Gesichtsrekonstruktion, denn der jeweilige Ernährungszustand ist für die individuelle Ausprägung des Gesichtes verantwortlich. Dieser lässt sich jedoch nur selten in grobem Rahmen anhand der Knochenstrukturen und Gelenkbeanspruchungen zuordnen, vielmehr helfen hier indirekte Informationen wie Größenangaben erhaltener Kleidungsstücke. Für die Gesichtsrekonstruktion sind verschiedene Techniken entwickelt worden, die je nach Anspruch an die Verwendung eines derart aufgebauten Gesichtsbildes gezielt eingesetzt werden sollten (Iscan und Helmer 1993). Alle Techniken basieren auf der Kenntnis der Stärke der Weichgewebeauflagerung auf den Knochen des Gesichtsschädels sowie der Kenntnis der Form und Platzierung von Gesichtselementen in Abhängigkeit der individuellen Knochenstrukturen. Als älteste Rekonstruktionsmethode ist die zeichnerische Gesichtsgestaltung zu nennen. Als Basis dienen die anthropologische Untersuchung am Schädel mit Messwerten der Weichteilauflagerung des Gesichtes, aber auch die künstlerischen Fähigkeiten und Kenntnisse der Gesichtsgeometrie. Mit dieser Methode eines geübten Zeichners wird ein schnelles Ergebnis erzielt, das die Gesichtszüge oft gut wiedergibt. Als Nachteil dieser Methode ist die mangelnde Vorstellungskraft zu nennen, mit einer Zeichnung ein reales Gesicht zu verbinden. Dies ist insbesondere dann relevant, wenn mit dem erzeugten Bild eine medienunterstützte Identifizierung angestrebt wird. Ein klassisches Verfahren, das seit den ersten Arbeiten des Russen Gerassimov in den 1950er Jahren in Gebrauch ist, ist die plastische Gesichtsrekonstruktion. Sie modelliert mit Plastilin auf den Schädel oder dessen Abguss das Gesicht dreidimensional aus. Hierzu werden die durchschnittlichen altersstandardisierten Weichteildicken an bis zu 34 Punkten (Helmer 1998) des Gesichtes verwendet. Diese Maße werden auf dem Schädel mit Abstandshaltern markiert und dienen als Orientierung bei der Arbeit mit Plastilin, Wachs oder Ton. Die Punkte werden je nach Ausprägung des Schädels miteinander verbunden, wobei auch hier neben anthropologischen Kenntnissen künstlerische Aspekte einfließen. Arbeitet man mit einer einzigen Auflageschicht, welche die gesamte Weichteilstärke berücksichtigt, so spricht man von der „amerikanischen Methode“, da sie überwiegend in den USA
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Abb. 5.12 Studie zur plastischen zweilagigen Gesichtsweichteilrekonstruktion. Die mimische Muskulatur bzw. Kaumuskulatur ist auf der linken Gesichtshälfte aufgetragen, Augen- und Stirnbereich mit bereits modellierter Gesichtsoberfläche, rechte Gesichtshälfte in Bearbeitung. Sichtbar sind auch die Distanzmarker der Weichgewebestärke. Sie markieren die Gesichtsoberfläche. (Rekonstruktion Jasma Dare, Bildrechte liegen bei der Anthropologie Freiburg)
angewandt wird. Im Gegensatz dazu steht die zweilagige Methode, bei der zunächst die Modellierung der Muskelauflagerung erfolgt. Deren Verlauf und Masse ergibt sich aus den am Schädel ausgeprägten Muskelansätzen und -ursprüngen. Darauf wird in einer zweiten Schicht die Auflagerung von Fettschicht und Haut modelliert. Nach dem Russen Gerassimov, der diese Vorgehensweise als eine der ersten Methoden zur Gesichtsweichteilrekonstruktion etablierte (Gerassimow 1968), wird dies auch als die „russische Methode“ bezeichnet (Wilkinson 2004; Stephan 2006, Abb. 5.12). Sie geht in stärkerem Maße auf die individuellen Ausprägungen des Gesichtes ein, ist jedoch auch mit höherem Aufwand verbunden und durch mangelnde Dokumentation in Kritik geraten (Ullrich und Stephan 2011). Sie findet vor allem dann Anwendung, wenn die Gesamtweichteildicke nicht in zuverlässigem Maße aus den verfügbaren Standarddaten aufgebaut werden kann. Dies spielt z. B. auch eine Rolle vor allem bei Rekonstruktionen anhand von Fossilien aus der menschlichen Stammesgeschichte (z. B. Zollikofer et al. 2005). Ihre Weichteilauflagerungen lassen sich mit denen des anatomisch modernen Menschen, für den die Weichteildicken vorliegen, nicht vergleichen. Vorteil dieser Methode ist, dass das entstandene Kopfmodell in beliebiger Ansicht präsentiert werden kann. Als Nachteil ist einerseits der hohe Aufwand zu
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nennen, der sich in den Kosten für eine plastische Gesichtsrekonstruktion niederschlägt, sowie das „puppenhafte“ Aussehen der Köpfe, in die vielfach zur realistischen Darstellung Glasaugen implementiert und die Haartracht durch Perücken simuliert wird. Dieser Nachteil ist nicht zu unterschätzen, wenn ein Medieneinsatz zur Ermittlung der Identität geplant ist. Ungeübten Betrachtern fällt es oft schwer, von den derart konstruierten Kunstgesichtern zu abstrahieren und sich ein reales Gesicht vorzustellen. Eine der neueren Methoden stellt die Computersuperposition dar, die ein schnelles und kostengünstiges Ergebnis für die polizeiliche Ermittlung liefert, das für eine Fahndung in den Medien, vor Ort und bei der Recherche vermisster Personen hilfreich ist (Iscan und Helmer 1993; Wittwer-Backofen 2004). Es baut das Gesicht als 2-D-Bild in Frontalansicht auf. Ausgangsituation ist eine in der Ausrichtung normierte digitalisierte Frontalaufnahme des Schädels, auf die mittels spezieller Software Gesichtelemente überlagert werden können. Dies erfordert eine umfangreiche Bilddatenbank mit einer großen Bandbreite von in Frage kommenden Gesichtsmerkmalen, die in beliebiger Auswahl kombiniert werden können. So lassen sich die Gesichtskonturen und -details wie Nase, Mund, Augen, Überaugenregion, Kinn und Ohren modellieren, deren Lage und Ausgestaltung durch die knöcherne Unterlage des Schädels definiert wird. Laufende Kontrollen der Arbeitsschritte können durch transparenten Überlagerungsmodus mit dem Schädel erreicht werden. Liegen Informationen über Haartracht, Bartwuchs, Dichte der Augenbrauen, etc. vor, werden diese entsprechend mit der gleichen Methodik aus der Datenbank selektiert und angepasst. Liegen keine derartigen Informationen vor, werden bevölkerungskonforme Strukturen ausgewählt. Um nicht zu starke Aufmerksamkeit auf ein derartiges, möglicherweise nicht stimmiges, Detail wie beispielsweise den Haaransatz, Haarfarbe, -form und -länge zu lenken, werden diese Partien möglichst unauffällig gestaltet, weichgezeichnet und in den Konturen verwischt. Zukünftig könnten neue Möglichkeiten der Interpretation kodierender DNA-Merkmale für eine Rekonstruktion der Augenfarbe genutzt werden, um einen authentischen Farbeindruck darzustellen (Branicki et al 2011). In einem letzten Arbeitsschritt werden, soweit bekannt, individuelle Details wie Narben oder Muttermale eingesetzt, der Alterseindruck durch Einsetzen oder Glätten von Fältchen und Furchen korrigiert, der Halsbereich analog zur Ausgestaltung der Hals- und Nackenmuskulatur modelliert und Kleidung des Oberkörpers oder Schmuck in das Bild eingepasst. Das Ergebnis ist ein reales Gesicht in Frontalansicht, das für eine kurze Darbietung in der Fahndung bzw. in den Medien gedacht ist. Hier kann es seinen Zweck schnell und effizient erfüllen. Eine derartige Gesichtsrekonstruktion appelliert an das menschliche Erinnerungsvermögen von Gesichtern, das insbesondere über die Gesichtsgeometrie abläuft. Das computererzeugte Bild ist allerdings nicht geeignet, das präsentierte Gesichtsbild endetail mit dem einer vermissten Person zu überprüfen. Bei Vorliegen von Ähnlichkeiten der Gesichtsgeometrie in der Fahndung sollte daher mit anderen Mitteln weiter recherchiert werden. Die Ähnlichkeit des rekonstruierten Gesichtes mit der zu identifizierenden Person ist abhängig von der verfügbaren Informationsdichte. Je geringer die Kenntnis
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Abb. 5.13 Virtuelle Gesichtsweichteilrekonstruktion bei skelettierten unbekannten Leichenfunden mit der 2D-Superpositionsmethode. Jeweils links die Rekonstruktion, rechts Passphotos der identifizierten Personen. (Bildrechte liegen bei Anthropologie Freiburg, Bundeskriminalamt)
über die individuelle Ausprägung des Gesichtes und seiner Details, umso größer sollte der Interpretationsspielraum bei der Durchsicht von Vermisstenkarteien, bei der Zeugenbefragung und der Mediendarbietung sein (Abb. 5.13). In den letzten Jahren sind vor allem Fortschritte bei der individuellen Rekonstruktion der Weichgewebestärken gemacht worden. Diese zu untersuchen und entsprechende Datenbanken in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Ernährungszustand, Ethnizität sowie individueller Gesichtsschädelstrukturen zu generieren, ist mit verschiedenen Techniken versucht worden (de Greef et al 2009; Verzé 2009). Sind bisher hauptsächlich die auf wenigen definierten landmarks basierenden Weichgewebestärken genutzt worden (Helmer 1998; de Greef et al. 2006), umfassen die neuen Ansätze die Nutzung von computertomographischen bzw. magnetresonanztomographischen Daten, die zahlreich in Kliniken verfügbar sind und eine dreidimensionale Formanalyse erlauben (Buzug et al. 2007; Claes et al 2010). Damit ist der Grundstein für automatisierte Verfahren gelegt, mit denen Gesichtsoberflächen generiert werden können. Ein großer Vorteil wird darin liegen, dass die oft unterschiedlichen Interpretationen der Rekonstrukteure, die eine Akzeptanz der Gesichtsweichteilrekonstruktion als wesentlichen Ermittlungsfaktor derzeit noch deutlich mindert (Kleinberg et al. 2007), vermieden werden können. Diese Verfahren werden die Zukunft der forensischen Gesichtsweichteilrekonstruktion darstellen (Claes et al. 2010, Stephan 2009), da sie, sofern eine ausreichend umfangreiche Referenzdatengrundlage besteht, schnelle und standardisierte Ergebnisse
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liefern können (Stephan und Cicolini 2008). Aktuelle Literatur und neue Entwicklungen des Arbeitsgebietes finden sich unter www.CRANIOFACIALidentification.com.
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Morphologische Identitätsprüfung
5.2.2.1 Fragestellung Bei der Aufklärung von Straftaten kommt in Zeiten zunehmender Verfügbarkeit moderner Bildaufnahme- und Datenspeichersysteme der Identifikation von Personen anhand von Bilddokumenten eine immer größere Rolle zu. 7 Der morphologische Vergleich zur Identität hat die Aufgabe, auf Bildmaterial dargestellte Personen in ihrer morphologischen Ausprägung zu vergleichen, um Aussagen über die Identität der dargestellten Person zu erzielen. Er basiert auf dem Vergleich der Ausprägung morphologischer Merkmale und deren Übereinstimmung bzw. Abweichung. Dabei lassen sich Vergleichspersonen ausschließen oder mit einer abgestuften Wahrscheinlichkeit als identisch ansprechen. Der Methode inhärent ist die Limitierung, dass die Identität nie eindeutig und mit ausschließender Sicherheit festgestellt werden kann, wenn auch in Einzelfällen eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit der Identität festgestellt wird.
Der Einsatz des morphologischen Bildvergleichs erstreckt sich im Kontext der forensischen Anthropologie auf rechtlich relevante Fragestellungen der Identität bei Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr oder strafrechtlichen Vergehen wie Eigentums- oder Personendelikte. Prinzipiell lässt sich der morphologische Bildvergleich in solchen Fällen anwenden, in denen die Identifizierung einer Person von rechtlicher Relevanz ist. Die Aufgabe des forensischen Anthropologen ist in diesem Aufgabenfeld die Erstellung eines gerichtlich verwendbaren morphologischen Identitätsvergleichs, seine Funktion ist die eines Sachverständigen. Der morphologische Bildvergleich wird bei Bedarf üblicherweise von den Gerichten, der Staatsanwaltschaft oder polizeilichen Ermittlungsbehörden in Auftrag gegeben und stellt somit ein aktuelles anwendungsorientiertes Aufgabenfeld der Anthropologie dar. Das Prinzip der Identifizierung anhand morphologischer Gesichtsmerkmale geht auf Alfonse Bertillon (1853–1914) zurück, der bereits 1890 als Anthropologe und Leiter des Pariser kriminologischen Erkennungsdienstes morphometrische und morphognostische Beschreibungen sowie die photographische Dokumentation von Personen im Fokus der polizeilichen Ermittlung in einem Karteikartensystem, der „Bertillonage“, dokumentierte.
5.2.2.2 Einsatzfeld der morphologischen Identitätsprüfung Die häufigste Anwendungssituation betrifft die Dokumentation von Geschwindigkeits-, Abstands- oder Rotlichtverstößen im Straßenverkehr. Bestreitet nach Ermittlung der mutmaßliche Fahrer (bei Privatfahrzeugen meist durch Halterermittlung, Familienangehörige, Bekanntenkreis) die Fahrereigenschaft durch Einspruch
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gegen den verhängten Bußgeldbescheid, oder macht er keine Angaben zu dem Vorwurf, kann ein gerichtliches Ordnungswidrigkeitsverfahren des zuständigen Amtsgerichtes eingeleitet werden, im Rahmen dessen über eine richterliche Verfügung ein Gutachten zur Identität des mutmaßlichen Fahrers in Auftrag gegeben wird. Die Aufgabe des anthropologischen Sachverständigen ist es dann, die Wahrscheinlichkeit der Identität des durch den Bußgeldbescheid Betroffenen mit dem Fahrer festzustellen. Als Grundlage dient bei diesen Fällen zumeist nur ein analoges oder zunehmend auch digitales Foto des geblitzten Fahrzeuges mit einer Ansicht des Fahrers. Das Foto stammt aus stationären oder mobilen Geschwindigkeitsüberwachungssystemen (bundesweit verbreitet ist das mehrspurige Überwachung und Dokumentation erlaubende PoliScanSpeedSystem von der Firma Vitronic), aus Kreuzungsüberwachungssystemen mit Rotlichtüberwachung und Geschwindigkeitsmessung sowie aus Videoaufzeichnungen (vielfach auf Autobahnen zur Abstandsmessung eingesetzt). Da die Kameraüberwachung von öffentlichen, aber auch von privaten Räumen zunimmt, werden zunehmend auch Straftaten auf Bilddokumenten aufgezeichnet. Bei Strafverfahren decken die Fälle ein weites Feld ab. Die Aufgabenstellung der Täteridentifizierung betrifft unter anderem Raubüberfälle auf Banken oder Tankstellen, Geldkartenbetrug, Überfälle und Einbrüche auf Einkaufsmärkte, Industriespionage, Raub, Körperverletzung, Sexualdelikte, Kinderpornographie und Tötungsdelikte. Neben der Identifizierung von Einzeltätern geht es dabei auch um Bandenkriminalität, organisierte Kriminalität oder Terrorismus. Ihnen ist die für die anthropologische Begutachtung verfügbare Grundlage aus Bildmaterial, das aus Raumüberwachungen oder gezielter Personenüberwachung stammt, gemeinsam. Für die Identifizierung von Straftätern steht in der Rechtsmedizin abhängig von der Spurenlage ein breites Spektrum beweisführender Methoden zur Verfügung. Als eine der aussagekräftigsten Methoden gilt die DNA-Analyse. Ihre Aussagekraft kann bei guter Erhaltung des Spurenmaterials mit einer praktisch erwiesenen Sicherheit (99,99999 %; Madea und Dettmeyer 2007) erwarten lassen, ob die aufgefundene Spur von dem Beschuldigten stammt. Sofern der Beschuldigte auswertbare DNA-Spuren hinterlässt, ist eine Identitätsprüfung in ihrer Aussagekraft einer morphologischen Bildbegutachtung deutlich überlegen. Letzte kommt vor allem in solchen Fällen zum Einsatz, wenn ein molekulargenetischer Identitätsnachweis nicht erfolgreich ist: • Vielfach werden von Tätern inzwischen Handschuhe getragen, wodurch die Spurenlegung durch Berührungskontakt, etwa bei Tankstellen-, Banküberfällen oder Geldautomaten, vermieden wird und damit diese hochgradig aussagekräftige Identifizierungsmethode weitestgehend entfällt. • Der Beweiswert einer ansonsten erfolgreichen DNA-Spurenanalyse ist in solchen Fällen außer Kraft gesetzt oder zumindest in Frage gestellt, in denen der Tatverdächtige als legaler Spurenleger angesehen wird und die Präsenz seiner DNA durch einen autorisierten Zugang zu dem Tatort erklärbar ist, wie dies beispielsweise bei Kunden, Mitarbeitern, Familienangehörigen, Bekannten der Fall ist.
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• Eine dritte Fallkonstellation, bei der die molekulargenetische Identifizierung nicht möglich ist, ist gegeben, wenn der Tatverdächtige flüchtig ist und für eine Vergleichsprobe nicht zur Verfügung steht. • Wenn im Zuge der Täterermittlung noch kein Tatverdacht gegen eine bestimmte Person vorliegt, tritt öfters die Frage auf, ob es Zusammenhänge zwischen verschiedenen Taten gibt. Dann ist zu prüfen, ob es sich bei den dargestellten Tätern um ein und dieselbe Person handelt. Liegen bei derartigen Fällen Täterbildaufzeichnungen des Tatherganges vor, kommt vielfach die morphologische Bildbegutachtung zum Einsatz.
5.2.2.3 Die Bedeutung des Gutachtens im Gerichtsverfahren Eine ausreichend sichere Identifikation von auf Bilddokumenten abgebildeten Personen als Tatverdächtige kann in den seltensten Fällen allein durch Augenschein erfolgen. Je schlechter die Bildqualität ist und je weniger von der zu beurteilenden Person zu sehen ist, desto eher sind wissenschaftlich begründete Gutachten zur Frage der Identität erforderlich. Die Fragestellung ist von den Gerichten bzw. den Ermittlern präzise vorzugeben und wird üblicherweise in einer richterlichen Verfügung formuliert. Sie hängt von der jeweiligen Konstellation der Beweislage, eines Beweisantrages, bzw. dem Fortgang eines Verfahrens ab. So kann die Frage lauten, • ob eine abgebildete Person mit einer bestimmten Person identisch ist, • oder ob ausgeschlossen werden kann, dass ein Tatverdächtiger mit einem Täter identisch ist, • oder welche der Personen aus einer Gruppe von Personen (Bandenkriminalität) mit dem Täter identisch ist, • oder auch mit welchem Täter aus einer Tätergruppe ein Tatverdächtiger identisch ist. Von der Fragestellung ist die zu treffende Aussagesicherheit abhängig. So lässt sich beispielsweise eine bestimmte Person sehr klar ausschließen, oder bei einer gesicherten engen Auswahl weniger Personen eine unter ihnen klar als übereinstimmend ansprechen, im Gegensatz zu der Beurteilung der Identität auf der Grundlage einer zahlenmäßig offenen Gruppe. Die Bedeutung des Gutachtens für das Verfahren abzuschätzen, ist dem Gericht allein vorbehalten. Der anthropologische Sachverständige hat dem Gericht jedoch das Verfahren und die Ergebnisse der Identitätsprüfung so zu vermitteln, dass dieses in die Lage versetzt wird, die Bedeutung für das Verfahren adäquat zu würdigen. So ist es für die Gutachtenerstellung an sich irrelevant, ob die Identitätsprüfung im Rahmen eines mit geringem Bußgeld geahndeten Ordnungswidrigkeitsverfahrens oder eines mit einem hohen Strafmaß verbundenen Strafverfahren erfolgt. Die Gutachtenerstattung hat bei jedem Fall mit der gleichen Sorgfalt und entsprechender Aussagesicherheit zu erfolgen. Bei Strafverfahren ist ein morphologisches Bildgutachten nie alleinige Beweisgrundlage eines Urteils. In diesen Fällen stellt üblicherweise das morphologische Bildgutachten eines unter einer Reihe von Hinweisen dar, die zusammen eine Gesamtbeweislast liefern. Bei Verkehrsordnungswidrigkeiten wird von den Gerichten
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vielfach neben dem morphologischen Bildgutachten beispielsweise die Fahrzeughaltereigenschaft oder der enge Personenkreis, der zu dem entsprechenden Fahrzeug Zugang hat, mit berücksichtigt. Hier werden jedoch öfters von dem Betroffenen mögliche Fahrer aus dem Verwandtenkreis benannt, die ein hohes Maß morphologischer Ähnlichkeiten mit dem Betroffenen aufweisen können. Wird im Rahmen der Gutachtenerstattung ein Merkmalsvergleich durch Inspektion des Körpers, meist des Gesichtes des Betroffenen, notwendig, ist dies in der Regel zulässig und unproblematisch, da es sich um eine einfache körperliche Untersuchung handelt, die eine zulässige und verhältnismäßige Maßnahme für behördliche und insbesondere strafprozessuale Zwecke (geregelt durch § 81a der STPO) darstellt. Sofern notwendig, geschieht dies zumeist in einer Gegenüberstellung während der Gerichtsverhandlung.
5.2.2.4
Der Einfluss der Bildqualität auf die morphologische Begutachtung Die Ausgangssituation des morphologischen Bildvergleiches wird durch das vorhandene Beweisbildmaterial vorgegeben. Die an diesem Bildmaterial auswertbaren morphologischen Merkmale sind Grundlage des Vergleiches mit einem Betroffenen bzw. Tatverdächtigen. Ihre Qualität ist damit entscheidend für die Aussagekraft des Gutachtens. Das Beweisbildmaterial umfasst im Verkehrsordnungswidrigkeitsverfahren überwiegend ein Einzelbild. Dessen Aussagekraft ist damit auf diejenigen Merkmale beschränkt, die bei der jeweiligen Ansicht dargestellt sind. Aussagekräftiger sind serielle Fotosequenzen (Fotos mit zeitlich getakteter Bildauslösung oder manueller Einzelbildauslösung), oder Videosequenzen, die in modernen Überwachungssystemen mit bis zu 18 Bilder/s aufzeichnen. Deren Vorteil liegt in der Möglichkeit, von der betreffenden Person verschiedene Ansichten, oft aus mehreren Kameras, auswerten zu können, so dass eine besser abzusichernde Aussage zu der morphologischen Ausprägung von Merkmalen möglich ist. Dies betrifft insbesondere das Ohr mit seinen Reliefstrukturen, dessen Dreidimensionalität sich oft erst aus mehreren Perspektiven und bei unterschiedlichem Lichteinfall erschließt. Die Bildpunkteauflösung, die Kameradistanz und der Fokus entscheiden über die Auswertbarkeit von Detailmerkmalen. Die Beleuchtung kann unter bestimmten Bedingungen morphologische Strukturen in ihrer Darstellung kontrastverstärken oder gar vortäuschen, abschwächen oder auch völlig nivellieren. Ein wesentlicher Schwachpunkt der Interpretierbarkeit morphologischer Merkmale liegt in der Abbildungsperspektive, die bei Raumüberwachungskameras zumeist durch die Kameraposition in Deckenhöhe vorgegeben ist. In diesen Fällen ist die kurze Distanz zu der Kamera eher nachteilig, da der steile Perspektivwinkel die kamerafernen Gesichtsabschnitte wie die Kinnpartie deutlich verkürzt, während andere Bereiche wie die Stirnregion verstärkt werden. In einem der wenigen experimentellen Ansätze konnte eine Simulation unterschiedlicher Kameraneigungswinkel und Gesichtswinkel die Problematik des Einsatzes morphometrischer Merkmale aufzeigen und Grenzwerte für die Auswertbarkeit liefern (Liese 2011).
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Durch in der Raumüberwachung häufig eingesetzte Weitwinkelobjektive werden tonnenförmige oder kissenförmige Verzeichnungen hervorgerufen, die eine Wölbung gerader Strukturen hervorrufen. Dies ist umso stärker der Fall, je geringer die Brennweite der Kamera und je weiter die Person aus der Bildmitte rückt. Die Verwendung von Bildern, auf denen sich die zu beurteilende Person am Bildrand befindet, ist daher zu vermeiden. Eine starke Einschränkung der Beurteilbarkeit morphologischer Merkmale ist gegeben, wenn der Gesichtsbereich verdeckt ist, wie es durch einen Fahrzeuginnenspiegel, eine Sonnenblende oder eine Sonnenbrille der Fall sein kann. Durch eine Maskierung bei vorsätzlich handelnden Tätern kann häufig nur eine eingeschränkte Merkmalszahl in die Beurteilung einfließen. In einem wissenschaftlich begründeten Gutachten erfolgt die Beurteilung der Frage der Identität einer abgebildeten Person mit einer tatverdächtigen Person durch den Vergleich der zu beurteilenden Bilder mit geeigneten Vergleichsbildern. Diese werden bei Verkehrsordnungswidrigkeiten mit Bestreiten der Fahrereigenschaft aus dem Passregister der zuständigen Meldebehörde bereitgestellt, gelegentlich ergänzt durch private Aufnahmen. Im Rahmen eines Strafverfahrens geht der Gutachtenerstellung zumeist eine erkennungsdienstliche Behandlung des mutmaßlichen Täters voraus. Sie beinhaltet ein vierteiliges Fotoset der Frontalaufnahme des Gesichtes, Profilaufnahme der rechten und Halbprofilaufnahme der linken Gesichtshälfte sowie eine Ganzkörperaufnahme mit Maßstab. Sind diese Vergleichsbilder nicht ausreichend zeitnah aufgenommen, so sind altersbedingte Veränderungen sowie Abweichungen im Ernährungszustand durch die Zeitdistanz zu berücksichtigen. Grundsätzlich gilt, dass das Bildmaterial für einen Vergleich der auf den Beweisbildern beurteilbaren Merkmale geeignet sein sollte. Ist das, wie häufig, nicht der Fall, muss entweder ergänzendes Bildmaterial angefertigt werden oder eine Gegenüberstellung in der Gerichtsverhandlung zur Ergänzung des Merkmalsvergleiches genutzt werden. Um die Auswertbarkeit morphologischer Merkmale zu verbessern, kann es sinnvoll sein, mit Hilfe eines Bildbearbeitungsprogrammes eine Kontrastverstärkung oder Aufhellung herbeizuführen, mit denen eine Differenzierung morphologischer Merkmale zu ihrer Umgebungssituation erreicht werden kann. Dies darf jedoch nur in moderatem Umfang geschehen, um Verfälschungen zu vermeiden. Auf jeden Fall ist die Originalqualität immer begleitend mitzuführen und es ist zu dokumentieren, welche Manipulationen in welchem Ausmaß vorgenommen werden. Die aufgelistete Problematik des zugrunde liegenden Bildmaterials erfordert daher eine besondere Vorsicht bei der Auswertung morphologischer Merkmale zum Identitätsvergleich.
5.2.2.5
Anforderungen an die morphologische Identitätsprüfung und Gutachtenerstellung Die morphologische Identitätsprüfung basiert auf dem Vergleich der Ausprägungen morphognostischer und morphometrischer Merkmale. Es ist keine Standardisierung des Verfahrensablaufes festgelegt; die Erstellung eines gutachterlich qualifizierten
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Merkmalsvergleiches richtet sich prinzipiell aber an einigen Grundanforderungen aus, die auch bei unterschiedlichem Aufbau zu beachten sind. Hierzu gehört die Reproduzierbarkeit sowohl des Merkmalsvergleiches als auch der Gesamtbeurteilung der Identitätswahrscheinlichkeit, die Vollständigkeit in der Erhebung aller beurteilbaren Merkmale, die Transparenz der Vorgehensweise im Detail, die auch fachfremden Beteiligten zu vermitteln ist, die Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Vorgängen, die eine interne Standardisierung erfordert, die zweifelsfreie Exaktheit der methodischen Vorgehensweise, die Dokumentation des Analyseprozesses sowie die Fehleranalyse. All dies sind Voraussetzungen, die essentiell sind, um den Auftraggebern, in der Regel den Gerichten, die Möglichkeit der Würdigung des Identitätsgutachtens zur Entscheidungsfindung im Verfahrensverlauf zu ermöglichen. Dies ist durch schriftliche Ausführungen zu gewährleisten. Diesen Anforderungen entspricht eine rein mündliche Gutachtenerstattung nicht, wenn diese auch wesentlicher Bestandteil eines gerichtlichen Gutachtens ist. Mit einer gerichtlichen Gutachtenerstellung verpflichtet sich der Sachverständige, die Gutachten persönlich und unabhängig, gewissenhaft, weisungsfrei und unparteiisch zu erstellen. Er hat zu versichern, das Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen und unter Einbeziehung des aktuellen wissenschaftlichen Standes zu erstatten. Dass hiermit die Übernahme der vollen Haftung verbunden ist, zeigt die Tatsache, dass bei Fehlbeurteilungen der Sachverständige zur Verantwortung gezogen werden kann. Die Anforderungen an die Gutachter selbst sind entsprechend hoch. Da nur wenige forensisch-anthropologische Gutachter im deutschsprachigen Raum tätig sind, hat sich ein unabhängiges Zulassungs- und Prüfsystem für Sachverständige, wie dies in anderen Sachgebieten der Fall ist, nicht etablieren können. Einige Tausend derartiger Gutachten werden in Deutschland jährlich erstellt, wobei die Fachkollegen an universitären Institutionen der Anthropologie, der Rechtsmedizin oder am Bundeskriminalamt angesiedelt sind und durch einige selbständige hauptberufliche Gutachter ergänzt werden. Grundsätzlich werden von der deutschen Fachgesellschaft für Anthropologie (GfA) eine intensive Erfahrung in der morphologischen Variabilität des Menschen, wie sie mit dem Studium der Anthropologie vermittelt wird, die Anbindung an eine einschlägige Institution mit mehrjähriger intensiver Einarbeitung in die forensische Anthropologie und der regelmäßige wissenschaftliche Austausch gefordert. Hierzu gehört auch die Teilnahme an Evaluierungen mit Blindtests in internationalen Vergleichsstudien, wie sie das Netherlands Forensic Institute anbietet.
5.2.2.6 Methoden Die morphologische Identitätsprüfung basiert auf zwei wesentlichen Aspekten der morphologischen Variabilität des Menschen. Die morphognostische Analyse berücksichtigt die unterschiedlichen Ausprägungsformen morphologischer Merkmale, die sich gegenseitig ausschließen. Diese stellen ein klassisches System der menschlichen Variabilität dar, das bereits in dem frühen Lehrbuch der Anthropologie von Rudolf Martin detailliert vorgestellt wurde (Martin 1914, 1957–1966,
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vgl. auch Knussmann 1988). Die morphometrische Analyse berücksichtigt die unterschiedlichen Größendimensionen, die sich in messbaren Strecken oder Winkeln quantitativ definieren lassen. Sie beruhen auf definierten und auch auf Fotos gut lokalisierbaren Messpunkten, erfassen also eine Merkmalsausprägung durch anthropometrisch definierte Körpermaße, die ebenfalls bereits von Martin (1914, 1957–1966) bereitgestellt wurden. Da auf den zugrunde liegenden Abbildungen die zu beurteilende Person keinen Maßstab aufweist, werden üblicherweise geeignete Strecken in eine relative Beziehung zueinander gesetzt, so dass beispielsweise Körper-, Gesichts- oder auch Handproportionen resultieren, deren Übereinstimmung überprüft werden kann. Eine morphologische Identitätsprüfung beinhaltet üblicherweise beide Aspekte.
5.2.2.7
Die Bedeutung von Übereinstimmung und Abweichung in der Merkmalsausprägung Die Ausprägung jedes der auswertbaren Merkmale wird auf Übereinstimmung bzw. Abweichung geprüft. Werden eindeutige Unterschiede festgestellt, kann eine Identität ausgeschlossen werden. Hier reicht bereits ein einziges aussagekräftiges, d. h. eindeutig auswertbares und nicht durch Artefakte beeinflusstes Merkmal aus, um zu einem Identitätsausschluss zu führen, der eindeutig getroffen werden kann. Ergeben sich Übereinstimmungen bei allen untersuchten Merkmalsausprägungen, wird eine Identitätswahrscheinlichkeit eingeschätzt. Diese ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Einerseits ist dies die Anzahl beurteilbarer Merkmale. Prinzipiell gilt die Regel, dass mit zunehmender beurteilbarer Merkmalszahl die Wahrscheinlichkeit abnimmt, dass es sich um zufällige Übereinstimmungen handelt – um ein so genanntes Doppelgängertum. Dies betrifft die jeweils auswertbaren Merkmale. Diese sind bei der Identitätsprüfung auf der Basis von Bildmaterial in der Praxis in Abhängigkeit von der Bildqualität, Ausrichtung der Person oder Verdeckung von Körperbereichen in ihrer Anzahl eingeschränkt. Es kommt auch durchaus vor, dass nur sehr wenige Einzelmerkmale zur Beurteilung vorliegen. Weisen zwei Personen bei einer Gegenüberstellung deutliche morphologische Unterschiede auf, die auch bei einem nicht geschulten Betrachter augenfällig sind, so kann es dennoch auf der Basis eines mit reduziertem Merkmalsspektrum auszuwertenden Bildmaterials möglich sein, dass dessen Merkmalsspektrum auf beide Personen zutrifft und somit beide mit einer, wenn auch niedrigen, Wahrscheinlichkeit als die abgebildete Person in Frage kommen. Diese Situation wird umso eher auftreten, je geringer die auswertbare Merkmalsanzahl ist und/oder je mehr übereinstimmende Merkmalsausprägungen die beiden Vergleichspersonen besitzen. In der Praxis tritt dies durchaus auf, insbesondere in jenen Fällen, in denen ein naher Verwandter, z. B. ein Bruder, im Verfahrensverlauf benannt wird, was bei Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht selten der Fall ist. So kann es sein, dass genetisch verwandte Personen in der ansonsten in der Grundbevölkerung mit geringer Frequenz auftretenden Ausprägung eines Merkmals aufgrund ihrer gemeinsamen genetischen Ausstattung mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit übereinstimmen als dies bei nicht verwandten Personen der Fall ist. Dies trifft ebenso zu, wenn im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens auf Grund
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morphologischer Merkmale eine Vorauswahl möglicher Tatverdächtiger getroffen wird. Da für jede der im Verfahren beteiligten Vergleichspersonen ein unabhängiger Merkmalsvergleich vorgenommen wird, kann es in Ausnahmefällen dazu führen, dass zwei oder mehr Personen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit als potentieller Täter bzw. Betroffener in Frage kommen. Da immer eine Einschätzung gegen eine Grundgesamtheit zu erfolgen hat, ist dies insbesondere dann der Fall, wenn nur wenige und darunter seltene Merkmalsvarianten beurteilt werden können. Bei zunehmender beurteilbarer Merkmalszahl erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, bei einem der Vergleichspersonen von dem Täter abweichende Merkmalsausprägungen zu finden. Da eine Übereinstimmung in beurteilbaren Merkmalen aber auch bei Personen in der Grundpopulation, die nicht im Rahmen des Verfahrens ermittelt wurden, bestehen kann, spielt die Tatsache, dass eine Vorauswahl ähnlicher Personen verfahrensbeteiligt ist, keine Rolle für die individuelle Wahrscheinlichkeitsaussage, wenn dies auch gelegentlich anders gehandhabt wird (Buck und Krumbholz 2008). Da bei geringer Merkmalszahl die Identitätswahrscheinlichkeit nicht hoch eingeschätzt werden darf, erhöht sich auch bei dieser Konstellation mit zunehmender Merkmalszahl die Aussagesicherheit sowohl bezüglich des Ausschlusses als auch der positiven Identitätswahrscheinlichkeit. Auch bei gleicher Anzahl beurteilbarer Merkmale resultiert daraus nicht eine Wahrscheinlichkeitsaussage mit der gleichen Sicherheit. Vielmehr entscheidet die Kenntnis der Häufigkeit des Auftretens der einzelnen Merkmalsausprägungen über die Aussagekraft jedes einzelnen Merkmals. Jene Merkmale, die übereinstimmend in einer seltenen Ausprägung auftreten, besitzen eine höhere Aussagekraft als solche Merkmale, die eine häufige Ausprägung zeigen. In der Handhabung von Merkmalsfrequenzen liegt jedoch eines der großen Problemfelder der Identitätsprüfung, da die Häufigkeit von Einzelmerkmalen nicht bekannt ist. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen erfordert dies eine Definition der Grundpopulation, auf deren Basis die Frequenzbestimmungen vorgenommen werden könnten. Es müsste eine nach regionalen oder politischen Grenzen definierte Bevölkerung quantitativ bzw. durch eine geeignete Stichprobenziehung in ihrer morphologischen Merkmalshäufigkeit erhoben werden, wie dies im Rahmen des EU-Projektes „Optimierung von Verfahren der Identifikation von Personen auf Bilddokumenten (Fotoidentifikation) – ein Beitrag zur Bekämpfung und Prävention von Kriminalität in Europa“ in verschiedenen Ländern für eine kleine Auswahl morphologischer Merkmale angestrebt wird (Aßmann et al. 2007; Nohrden et al. 2007). Wenn dies auch für industrieanthropologische Bedürfnisse in großem Rahmen (etwa mit dem Projekt „sizeGERMANY“, Ganzkörpermessungen an 12 000 Menschen in Deutschland im Auftrag der Textilindustrie, vgl. Kap. 5.1) gelegentlich realisiert wird, so betrifft dies, im Vergleich zu den Bedürfnissen der Identitätsprüfung, ein relativ grobes Merkmalsgefüge der allgemeinen Körperproportionen, der Körperhöhe oder eine speziell auf ökonomische, ergonomische oder sicherheitsrelevante Bedürfnisse zugeschnittene Untersuchung. Für eine Identitätsprüfung ist jedoch bereits die Bestimmung der Grundpopulation unmöglich, da sie nicht mit der Wohnbevölkerung einer geographischen Region übereinstimmen muss, bzw. bestimmten Selektionskriterien unterworfen sein kann. Als Beispiel seien zwei typische Fallsituationen genannt:
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1. Bei einer Geschwindigkeitskontrolle auf einer Autobahn in Deutschland wird ein Fahrzeug mit einem Halterkennzeichen aus einem nordeuropäischen Land erfasst, dessen mutmaßlicher Fahrer einen südeuropäischen Migrationshintergrund hat. 2. In einem Bankraubfall in Deutschland wird ein nichtdeutscher Tatverdächtiger festgenommen, dessen Identität mit dem Täter zu überprüfen ist. Welche Bevölkerungen sollten für eine Frequenzermittlung und damit Aussagekraft der auszuwertenden Merkmale zugrunde gelegt werden? Soll dies im Fall des Autofahrers die südeuropäische Bevölkerung oder die Benutzerpopulation des entsprechenden Autobahnteilstückes sein, und im Fall des Bankraubtäters die gesamte europäische Bevölkerung oder gar noch weiter gefasst? Prinzipiell hängen diese Entscheidungen von den jeweiligen Fallermittlungen und entsprechenden Hinweisen ab, die jedoch oftmals nur wenig spezifisch sind. Aber auch, wenn in Ausnahmefällen eine Grundpopulation mit hinreichender Sicherheit zu definieren wäre, so stößt man bei der Suche nach Merkmalsfrequenzen lediglich auf ältere somatologische Untersuchungen hoch selektiver Regionalgruppen, die nicht den Anforderungen der aktuellen Fälle genügen (z. B. Knußmann 1961, Scheidt 1931, Schwidetzky und Walter 1967). Eine Ausnahme stellt der Ländervergleich weniger morphometrischer Daten dar (Nohrden et al. 2011). Insbesondere auf Grund der heutigen hohen Mobilität ist mit einer starken Schwankung in der regionalen Verteilung morphologischer Merkmalsvarianten zu rechnen. Die Übereinstimmung in wenigen seltenen Merkmalen kann aussagekräftiger sein als die Übereinstimmung in zahlreichen häufigen Merkmalen. Daraus ergibt sich die eminente Bedeutung der Merkmalshäufigkeiten für die Zuverlässigkeit der Beurteilung, insbesondere in den Fällen, in denen wegen schlechter Qualität des Bildmaterials nur wenige Merkmale beurteilt werden können. Ein weiteres Problemfeld betrifft die gegenseitige Abhängigkeit von Merkmalsausprägungen, die insbesondere für räumlich benachbarte Merkmale des Gesichtsfeldes erkannt wurden (Zacher 2001 nach Buck und Krumbholz 2008). Die Vererbungsgänge dieser Interkorrelationen von prinzipiell genetisch fixierten Merkmalsausprägungen sind jedoch bis auf wenige in Zwillingsstudien dokumentierten Zusammenhänge weitestgehend unbekannt, so dass auch aus diesen Gründen die Frequenzen von Einzelmerkmalen nicht verwendbar sind, da bei gekoppeltem Auftreten seltener Merkmale eine Überschätzung der Identitätswahrscheinlichkeit resultieren kann. Diese Gefahr kann minimiert werden, wenn eine gleichmäßige Merkmalsverteilung über das gesamte Gesichtsfeld gewährleistet werden kann. Ausgehend von dieser Problematik ist eine mathematische Kalkulation zur exakten Bestimmung der Identitätswahrscheinlichkeit mittels des Multiplikationssatzes der Wahrscheinlichkeitslehre nicht möglich. Auch die Berücksichtigung von Konfidenzintervallen ist nicht geeignet, den Problemen abzuhelfen. Bereits Knußmann (1988, 1991) warnt vor der Aussage numerischer Wahrscheinlichkeiten und ihrer möglichen Fehlinterpretationen. Treten charakteristische Besonderheiten wie etwa Narben, Naevi (Muttermale, Leberflecke), Tätowierungen oder Seitenasymmetrien auf, sind diese hochgradig individualdiagnostisch zu bewerten. Die exakte Übereinstimmung in Form und
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Lage zwischen Abbild und der Vergleichsperson sind zu überprüfen. Andererseits können Auffälligkeiten auf der Gesichtsoberfläche von Bildmaterial nicht zwangsläufig als dauerhafte Hautveränderungen interpretiert werden, da diese sowohl vorübergehende Hautunregelmäßigkeiten als auch Bildartefakte darstellen können, wie beispielsweise Verschmutzungen der Windschutzscheibe oder des Kameraobjektives oder Lichtreflexe. Bei einem Merkmalsvergleich zur Identitätsprüfung werden aufgrund der beschriebenen Problematik die Häufigkeit des Auftretens der Einzelmerkmale und ihr Aussagewert lediglich grob eingeschätzt. Eine Einteilung in häufige, seltene und individuelle Merkmalsvarianten hat sich dabei bewährt.
5.2.2.8 Vorgehensweise bei der morphologischen Identitätsprüfung Die morphologische Bildauswertung beginnt mit der Deskription der Merkmalsausprägung bei der Täterperson. Nur die dort auswertbaren Merkmale sind in den diagnostizierbaren Ausprägungen für einen Vergleich heranzuziehen. Es ist für jedes Einzelmerkmal zu prüfen, ob Übereinstimmung bzw. Abweichung zu dem Tatverdächtigen besteht und wie hoch dessen Aussagewert einzuschätzen ist. In keinem Fall darf die Vorgehensweise umgekehrt sein, um von den klar erkennbaren Merkmalsausprägungen der Vergleichsperson nicht zu präjudizieren. Weiterhin ist es nicht zulässig, bei seitenspezifischen Merkmalen die Ausprägungen der jeweils anderen Gesichtshälfte zu vergleichen. Seitenasymmetrien sind vielfach zu beobachten und treten bei Merkmalen vor allem im Ohrbereich regelmäßig auf, so dass eine Beurteilung der nicht auf den Tatbildern dargestellten Gesichtsseite des Tatverdächtigen zu Fehlinterpretationen führen kann. Kann bei den Tatfotos keine eindeutige spezifische Merkmalsausprägung, jedoch ein Ausschluss bestimmter Varianten getroffen werden, so kann dies behelfsweise, mit einer allerdings geringen Wichtung, in die Beurteilung eingehen. Für Proportions- und Merkmalslagevergleiche hat sich bereits seit langem das Superpositionsverfahren etabliert (Helmer 1998), bei dem das auf einen relativen Größenmaßstab angepasste Gesicht bzw. der Körper der Vergleichsperson bildtechnisch über das Täterbild gelegt wird. In einem transparenten Kontrollmodus der Bildüberlagerung lassen sich dann die relevanten Strukturen und Proportionen vergleichen. Wichtig ist es hierbei, die Bildperspektive bzw. Ausrichtung des Täterkörpers einzuhalten. Um einen Vergleich zu ermöglichen, wurden daher insbesondere bei Strafverfahren bis vor wenigen Jahren an den originalen Tatplätzen mit der tataufzeichnenden Kamera Szenen nachgestellt und Vergleichsbilder erzeugt, indem entweder der Tatverdächtige, andere Vergleichspersonen oder Messlatten in das Bild dirigiert wurden. Die identischen Bildausschnitte lassen sich dann direkt übereinander projizieren und erlauben beispielsweise eine Körperhöhenüberprüfung (Knußmann 1988). Mit den heutigen technischen Möglichkeiten ist dies aus mehreren Gründen nicht unproblematische Vorgehen vielfach nicht mehr notwendig. Moderne 3D-Messverfahren erlauben die räumliche Erfassung von Tatorten und virtuelle Projektion maßstabgetreuer Körper in den Raum (Goos et al 2006). Auch die perspektivische Ansicht von Gesichtern lässt sich mittlerweile simulieren. So ist es mit ausreichender Sicherheit möglich, aus einem konventionellen Set
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zweidimensionaler Frontal- und Profilaufnahmen des Kopfes ein virtuelles dreidimensionales Gesicht zu generieren, das sich zur Proportionsüberprüfung beliebig eindrehen lässt (z. B. mit FaceGen Modeller, Singularinversions). Wenn auch in der praktischen Arbeit bei den verschiedenen als Sachverständige arbeitenden Anthropologen eine unterschiedliche Anzahl an Wahrscheinlichkeitsklassen für das Ergebnis der Identitätsprüfung genutzt wird, so sind doch die folgenden Klassen übereinstimmend gebräuchlich: • Identität auszuschließen (mindestens eine klar definierbare ausschließende Merkmalsabweichung ist diagnostizierbar) • Identität eher auszuschließen (Merkmalsabweichungen sind zu beobachten; es kann jedoch nicht eindeutig zwischen Bildartefakten und morphologischer Abweichung differenziert werden) • Keine Aussagen zur Identität möglich (die auswertbare Merkmalszahl ist für eine differenzierende Aussage zur Identität nicht ausreichend; nur in Ausnahmefällen anzuwenden, da zumeist bei dieser Konstellation nach einer Vorprüfung ein Auftrag zurückgegeben wird) • Identität möglich (Übereinstimmung in wenigen auswertbaren Merkmalen) • Identität wahrscheinlich (Übereinstimmung in einer repräsentativen Anzahl an Merkmalen) • Identität mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben (Übereinstimmung in einer repräsentativen Anzahl an Merkmalen, darunter mehrere Merkmale mit höherer Wichtung) • Identität mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben (Übereinstimmung in einer repräsentativen Anzahl an Merkmalen, darunter mindestens ein individualdiagnostisch charakteristisches Merkmale mit höchster Wichtung) Es ist fraglich, ob die Bedeutung der zum Teil gebräuchlichen noch feineren Untergliederungen im gerichtlichen Verfahren vermittelt werden kann.
5.2.2.9 Merkmale der morphologischen Identitätsprüfung Die Anforderung an ein Merkmalssystem zur morphologischen Identitätsprüfung betrifft insbesondere ihre Variationsbreite unterschiedlicher Ausprägungen, deren genetische Fixierung, ihre relative Unveränderlichkeit über den Lebenslauf und ihre weitestgehende Umweltstabilität. Während des Alterungsprozesses im erwachsenen Alter kommt es beispielsweise zu einer Verstärkung der Furchen im Gesichtsbereich, deren Form und Lage jedoch im Lebenslauf unverändert bleibt. So zählen Form und Lage der Furchen zu den beurteilbaren Merkmalen, während deren Stärke der Ausprägung in Abhängigkeit von der zeitlichen Distanz zwischen Aufnahmezeitpunkt der Beweisbilder und Vergleich abzuschätzen ist. Schwankungen des Ernährungszustandes sind zu berücksichtigen und bezüglich ihrer Plausibilität einzuschätzen. Eine Körperhöhendepression über den Tagesverlauf von bis zu 2 cm ist zu berücksichtigen. Leicht veränderbare Frisuren und Barttracht gehören demnach nicht zu dem Merkmalsspektrum, wohl jedoch Haaransatzlinien und deren einschätzbare Alternsverläufe.
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Abb. 5.14 Handgeometrie und Venenverlauf des Handrückens zur Identitätsprüfung bei einem Tatverdächtigen. Rechts das Täterbild einer Überwachungskamera; links daneben im gleichen Größenmaßstab Hand des Tatverdächtigen mit Tatwaffe nachgestellt; ganzlinks vergrößert. Die rotenPfeile markieren die übereinstimmenden individuellen Merkmalsausprägungen. (Bildrechte liegen bei Anthropologie Freiburg)
Allgemeine visuelle Eindrücke wie „derbe Gesichtszüge“, „weiches Gesichtsrelief“ oder „große Nase“ stellen keine Merkmale nach den genannten Richtlinien dar, der Gesamteindruck wird vielmehr aus einer Fülle von Einzelmerkmalen erzeugt, die individuell zu überprüfen sind. Das Spektrum an Merkmalen umfasst die allgemeine Körperkonstitution, Körperproportionen und die Körperhöhe, gelegentlich auch Körperhaltung und Bewegungsmuster wie das Gangbild oder die Händigkeit. Der Variabilität der Formmerkmale auf dem Handrücken kommt häufig eine besondere Beachtung zu, da vielfach auf Beweisbildmaterial die Tätermaskierung eine Analyse morphologischer Merkmale im Gesichtsbereich nicht zulässt, jedoch eine exponierte Hand (Waffenhand) abgebildet ist. Neben der Handgeometrie (Greil und Kahl 2005), den Maßverhältnissen zwischen Mittelhand und Fingergliedern, können der Venenverlauf auf dem Handrücken, Grübchen- und Polsterbildungen im Knöchelbereich sowie Phalangealbehaarung herangezogen werden (vgl. Abb. 5.14). Die größte Relevanz in der Praxis kommt dennoch der Variabilität der Merkmale im Gesichtsbereich zu. Für zahlreiche dieser Merkmale sind bereits von Martin (1914) Formvarianten beschrieben worden, die verschiedentlich sowohl durch Schemazeichnungen als auch durch Fotos von Variantentypen untermauert werden und die große phänotypische Bandbreite aufzeigen. Durch sie soll eine Standardisierung
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Abb. 5.15 Auswahl variierender morphologischer Merkmale im Gesichtsbereich. (Modifiziert und adaptiert nach Knußmann 1961, Martin 1957–1966)
in der Diagnostik erreicht werden. Vielfach weisen die Merkmalsvarianten jedoch kontinuierliche Übergänge auf, die eine eindeutige Variantenzuweisung erschweren. Exemplarisch werden hier einige derartige Schemata vorgestellt (Abb. 5.15). Ein diagnostisch hochgradig relevantes Merkmalssystem stellt das Ohr dar. Eine Vielzahl voneinander unabhängiger Detailmerkmale liegt auf engem Raum platziert (Abb. 5.16) und befindet sich dadurch zumeist in einer für die Auswertung von Bildmaterial günstigen übereinstimmenden Abbildungsebene. Allerdings ist die Beurteilung der Reliefstruktur der Ohrmuschel von der Ausrichtung des Kopfes abhängig. Bei guter Abbildungsqualität und Überprüfbarkeit bei gleichem Abbil-
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Abb. 5.16 Individuelle Variationsformen der morphologischen Merkmale am Ohr ( obereReihe; Bildrechte liegen bei Bilddatenbank Anthropologie Freiburg); Schema morphologischer Merkmale am Ohr ( untereReihelinks, adaptiert nach Martin 1957–1966; jeder der schwarzenPunkte lokalisiert unabhängig variierende Einzelmerkmale); Anwendung bei einem Verkehrsordnungswidrigkeitsverfahren (Tatbild untereReiherechts,Mittelgesichtunkenntlichgemacht) mit zwei Brüdern als mögliche Fahrer. Der Bruder mit dem links abgebildeten Ohr kann aufgrund der besonderen Ohrläppchenform ausgeschlossen werden. (Bildrechte liegen bei Anthropologie Freiburg)
dungswinkel ist anhand dieses hochvariablen Systems eine gute Aussage im Identitätsvergleich möglich (Cameriere et al. 2011; Meijermann et al. 2007). Für eine ausführliche Liste morphologischer Merkmale und ihrer Varianten sei auf die klassische anthropologische Literatur wie Martin (1914, 1957–1966), Scheidt (1931), Schade (1954), Ziegelmayer (1969a, b) oder Knußmann (1988) verwiesen. Eine umfangreiche Sammlung von für die morphologische Identifikation prinzipiell geeigneten Merkmalen ist von Buck und Krumbholz (2008) zusammengestellt worden. Eine kleinere Auswahl findet sich bei Aßmann et al. (2007) oder Burrath (2009). In der Praxis hat sich für die Auswertung von Bildmaterial aus Überwachungs- und Radarkameras ein zu prüfendes reduziertes Merkmalsspektrum herauskristallisiert, welches auf die allgemeinen Einschränkungen des Bildmaterials zugeschnitten ist, sich jedoch fallspezifisch erweitern lässt.
5.2.2.10 Ausblick Verwandt mit der Aufgabe der morphologischen Identifikation anhand von Bildmaterial sind Biometrische Systeme, die durch eine computergestützte Formerfassung in ihrer Entwicklung einen anderen Hintergrund haben.
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Durch die Einführung von biometrischen Zugangssystemen sollen künftig kostspielige und sicherheitsanfällige Logins und Passwörter ersetzt, wie auch eine schnelle und irrtumsfreie Personensuche realisiert werden. Sie verwenden unveränderliche Körper- und Verhaltensmerkmale für individuelle Zugangskontrollen. Eine Personenüberprüfung mit einem Ausweismerkmal bei sicherheitssensitiven Orten (Verifikation, 1:1-Vergleich; z. B. Firmenzugang, Rechnerräume, Banken, Labore) sowie die Filterung bestimmter Personen aus einer größeren Menge (Identifikation, z. B. Flughafenkontrolle, Fußballstadien) sind die beiden üblichen Anwendungsbereiche. Unter der Vielzahl biometrischer Technologien sind funktionsreife Systeme entwickelt worden, die Daten ( templates) von Hautleisten der Fingerbeeren, 2D- und 3D-Gesichtsscans, Retina- und Irismustern, der Handgeometrie sowie von Stimmaufzeichnungen und Unterschriften analysieren und mit einer Datenbank vergleichen, in die zuvor die entsprechenden Informationen der Personen abgelegt wurden ( enrollment). Stimmen die Merkmale zu einem gewissen Grad überein (Einstellen je nach Sicherheitsbedarf: falseacceptancerate FAR: der Fehler, mit dem eine falsche Akzeptanz gemessen wird; false rejectionrate FRR: der Fehler, mit dem eine falsche Zurückweisung gemessen wird), erfolgt eine Zugangsberechtigung. Vielfach noch bestehende technische Probleme der großen Datenmengen oder der Prüfzeiten wie auch des Datenschutzes oder der Missbrauchsmöglichkeiten sind limitierende Faktoren. Vor allem Fingerprintsensoren für Rechnerzugänge haben sich jedoch schon etabliert, und in vielen Bereichen wie Banken, Flughäfen und Zugangskontrollen in Unternehmen werden heute bereits biometrische Verfahren wie die Fingerabdrucküberprüfung oder die Gesichtserkennung zur Personenauthentifizierung eingesetzt. Basieren auch diese Systeme nicht auf der Variabilität der morphognostischen Merkmale, sondern eher auf den für Identifizierungszwecke weniger aussagekräftigen morphometrischen Merkmalen, so kann dennoch eine stärkere Verflechtung der Arbeitsgebiete durch Applikation von Prüfsystemen in die Verfahren der morphologischen Identitätsprüfung in der Zukunft erwartet werden. Aber auch mit derartigen Automatisierungen wird das Arbeitsfeld einem speziell anthropologisch-morphologische geschulten Kreis an Fachleuten vorbehalten bleiben, insbesondere auch, um bei zunehmender Technisierung der Verfahren die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Dateninterpretation zu gewährleisten. In Hinblick auf Qualitätssicherung und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse gerade im Strafverfahren ist problematisch, dass keine adäquaten Häufigkeiten von Merkmalsausprägungen vorliegen. Daraus resultiert in zahlreichen Fällen eine forensisch oft unbefriedigende Einschränkung der Beurteilungssicherheit. Zudem kann dadurch ein subjektiver Untersuchereinfluss nicht ausgeschlossen werden. Weiterhin gibt es bislang keine befriedigenden systematischen Untersuchungen zu speziellen Problembereichen wie der Erfassung von Merkmalsausprägungen bei maskierten Tätern sowie der Beurteilung von perspektivisch verzerrten Bildern oder von Bildern mit unvollständig abgebildetem Gesicht. In solchen Fällen stellt sich die Frage, wie zuverlässig sich die tatsächlichen Merkmalsausprägungen unter solchen Bedingungen fassen lassen. Systematische Untersuchungen zur Ro-
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bustheit spezieller Merkmalsausprägungen und zur Zuverlässigkeit der Fotoidentifikation fehlen weitgehend.
5.2.3
Altersbestimmung bei Lebenden
Die Notwendigkeit, das Alter lebender Menschen zu schätzen, ergibt sich immer dann, wenn ein Mensch keine oder augenscheinlich falsche Personaldokumente besitzt und die Kenntnis des Alters aus bestimmten rechtlichen Gründen erforderlich ist. In diesem Zusammenhang sind mehrere Altersgrenzen von Bedeutung. Strafrechtlich relevant sind in Deutschland: • das 14. Lebensjahr, denn ab diesem Alter ist ein Mensch in Deutschland strafmündig (§ 19 Strafgesetzbuch); unter vierzehnjährige Kinder werden generell als schuldunfähig und damit strafunmündig betrachtet. Damit bleiben Kinder unter dem 14. Lebensjahr straffrei. • das 18. Lebensjahr, welches die Grenze zwischen dem Jugendlichen und dem Heranwachsenden repräsentiert. Als Jugendlicher gilt, wer zur Tatzeit 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 1 Jugendgerichtsgesetz). Bei Jugendlichen ist Jugendstrafrecht anzuwenden. • das 21. Lebensjahr, nach dessen Erreichen das Jugendstrafrecht nicht mehr anwendbar ist. Personen zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr gelten als Heranwachsende, so dass festgestellt werden muss, ob sie nach ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichzustellen sind, so dass Jugendstrafrecht gilt (Kaatsch 2000). Eine weitere wichtige Altersgrenze ist das 16. Lebensjahr. Diese Altersstufe ist im Asylrecht (Ausländergesetz in Verbindung mit dem Asylverfahrensgesetz) von Bedeutung: Betroffene, die jünger als 16 Jahre sind, werden als handlungsunfähig angesehen und genießen dementsprechend in einigen Bereichen Vorteile im Verfahren (z. B. separate Unterbringung). Die Anzahl von Fällen, in denen eine Altersschätzung durchgeführt wird, nimmt mit steigender Migration zu, da immer mehr Menschen aus Drittländern kommen, in denen die Dokumentation oder Rückverfolgbarkeit von Personenstandsdaten nicht in demselben Maß gewährleistet ist wie in Deutschland. Erschwerend kommt hinzu, dass von potenziellen Straftätern oder Asylbewerbern kaum Kooperation zu erwarten ist, wenn sich ihr wahres Alter zu ihren Ungunsten auswirken würde. Die Altersschätzung bei Lebenden ist auf Grund dieser Entwicklung zu einem festen Bestandteil der forensischen Praxis geworden (Geserick und Schmeling 2011; Schmeling und Püschel 2010). Schließlich gibt es auch eine Reihe von Fällen, bei denen Menschen bekunden, sie seien älter als in ihren Personaldokumenten angegeben. Das Interesse an einer Korrektur des Geburtsdatums resultiert in diesen Fällen aus der Altersgrenze für den Eintritt in das Rentenalter, also dem 65. Lebensjahr. Es gibt allerdings zur Zeit nur die auch für eine Sterbealtersbestimmung am Skelett erwähnten Untersuchungsmethoden der Asparaginsäure-Razemisierung und der Zahnzementannulation, die eine hinreichend genaue Diagnose des Lebensalters bei Menschen die-
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ser Altersgruppe gestattet (Ritz-Timme et al. 2002; Wittwer-Backofen et al. 2004). Diese Untersuchungsmethode setzt die Kooperation der Betroffenen im Fall der medizinischen Indikation einer Zahnextraktion voraus, da die Methode zur Zeit nur invasiv anhand extrahierter Zähne durchgeführt werden kann. Da der Razemisierungsprozess in Proteinstrukturen zahlreicher Körpergewebe stattfindet, kann möglicherweise die Methode der Asparaginsäurerazemisierung in Zukunft ausgeweitet werden, sofern validierte Referenzdaten verfügbar sind. Wenn es gelingen sollte, die Zahnzementannulation mit nicht-invasiven Methoden darzustellen, wäre auch dies in Zukunft eine Methode der Wahl. Ein generelles Problem bei der Beurteilung des Lebensalters ist die Tatsache, dass man mit Hilfe biologischer Methoden stets nur das biologische Lebensalter näherungsweise ermitteln kann, nicht jedoch das chronologische Alter. Dies beruht auf den intraindividuellen Unterschieden der endogenen physiologischen Alterungsprozesse sowie auf der Umweltabhängigkeit dieser Prozesse (vgl. Kap. 4.1.4). Die Lebensaltersschätzung wird im Idealfall interdisziplinär durchgeführt, so dass die einzelnen Untersuchungen je nach Erfordernis von Sachkundigen verschiedener Fachdisziplinen (z. B. Rechtsmedizin, Odontologie, Pädiatrie, Radiologie, Anthropologie) durchgeführt und dann gegebenenfalls von Rechtsmedizinern koordiniert werden. Die teilnehmenden Untersucher sollten über einschlägige Erfahrungen verfügen und sich im Interesse der Qualitätssicherung regelmäßig an Ringversuchen beteiligen, die von der AGFAD organisiert werden. In der Literatur sind zahlreiche Methoden zur Altersschätzung beschrieben (z. B. Flügel et al. 1986; Koenig 1992; Liversidge et al. 1998; Ritz und Kaatsch 1996), doch nicht alle sind für die forensische Anwendung geeignet. Welche Methoden als geeignet erscheinen, wurde im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin erarbeitet und aktualisiert (Schmeling und Püschel 2010, Schmeling 2011). Diese Empfehlungen spiegeln einen breiten Konsens über die Methodik unter Einbeziehung wissenschaftlicher und ethischer Aspekte wieder. Die im Folgenden aufgeführten Methoden richten sich nach diesen Empfehlungen: • die körperliche Untersuchung mit Erfassung der sexuellen Reifezeichen (vgl. Tab. 5.5.) und anthropologischen Daten (Körperhöhe, Körpergewicht, Körperproportionen, Körperbautyp), unter Berücksichtigung möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen. Die Erhebung von Befunden zur Altersschätzung ist nicht unproblematisch, da z. B. die körperliche Untersuchung auf religiöse bzw. kulturelle Vorbehalte stößt. • die Röntgenuntersuchung der Hand, die eine Fülle altersabhängiger Veränderungen der Skelettreifung zwischen der Geburt und etwa dem 20. Lebensjahr kleinräumig auf einem einzigen Röntgenbild darstellt (Handwurzelknochen, distale Unterarmepiphysen, distale Epiphysen der Metacarpalia, proximale Epiphysen der Phalangen). • die odontologische Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus und Röntgenuntersuchung des Gebisses, wobei die eng altersgekoppelten Mineralisationsstadien der einzelnen Zahntypen und der Zahndurchbruch bewertet werden und eine zuverlässige Altersdiagnose bis zur vollständigen Mineralisation des zwei-
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Forensische Anthropologie
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Tab. 5.5 Sexuelle Reifungszeichen, die für eine morphologische Altersbestimmung herangezogen werden; die Altersstufen, in denen einzelne Entwicklungsstadien durchschnittlich erreicht werden, zeigen populationsabhängige Unterschiede und sind geeigneten Referenzstudien zu entnehmen Merkmal Morphologischer Wandel zwischen infantiler und geschlechtsreifer Phase Mädchen Brust Drüsenwachstum, Rundung, Pigmentierung der Mamille Schambehaarung Dichte, Ausdehnung und Kräuselung der Behaarung Hüftschweifung allmähliche Zunahme der runden, weiblichen Form Axillarbehaarung Dichte, Ausdehnung, Kräuselung und Pigmentierung der Behaarung Jungen Penis Größe, Form, Pigmentierung, Absetzung der Eichel Hoden und Scrotum Größe, Form, Fältelung, Pigmentierung Schambehaarung Dichte, Ausdehnung und Kräuselung der Behaarung Axillarbehaarung Dichte, Ausdehnung, Kräuselung und Pigmentierung der Behaarung Kehlkopf und Stimme Prominenz von Ring- und Schildknorpel, zunehmende Ausprägung der tiefen Stimme, Stimmbruch Bartbehaarung Härte der Haare und Ausdehnung der Behaarung
ten Dauermolaren, bis etwa zum 15. Lebensjahr, erlaubt (vgl. Kap. 2.3.3). Der dritte Molar ist in seiner Entwicklung deutlich altersvariabler, wird aber dennoch häufig für die fragliche Altersgrenze von 18 Jahren herangezogen (Demirjian et al 1973; Gelbrich et al. 2010). Seit 2007 ist aufgrund der in den letzten Jahren deutlich verminderten Strahlenexposition bei OPGs (Orthopantogramm, Panoramaaufnahmen des vollständigen Gebisses) und bei Handaufnahmen die Röntgenuntersuchung zur Altersbestimmung bei jungen Ausländern durch das Aufenthaltsgesetz § 49 legitimiert, was zu einer deutlichen Validitätssteigerung der Altersbestimmung beigetragen hat (Müller et al. 2011). Diese Ausnahme gilt jedoch nicht für die Beurteilung der medialen Claviculaepiphyse, deren Ossifikation mit dem mittleren Alter von 21 Jahren erfolgt (Vieth et al. 2010) und die Altersgrenze zum Erwachsenen abdeckt. Hierbei gilt weiterhin die Regelung des deutschen Strafrechtes, nach dem das Röntgen einer lebenden Person ohne medizinische Indikation den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt. Um die Aussagesicherheit zu erhöhen, sollte die Altersdiagnose aufgrund der Ergebnisse aller genannten Methoden erfolgen. Grundlage der Altersdiagnostik ist der Vergleich der individuellen Ausprägung der Entwicklungs- und Reifungsmerkmale der zu beurteilenden Person mit Referenzdaten, die hohen Anforderungen genügen müssen (Geserick und Schmeling 2011): • angemessene Stichprobengröße, • gesicherte Altersangaben der Probanden, • gleichmäßige Besetzung der Altersklassen, • geschlechtsspezifische Daten, • Angabe des Untersuchungszeitpunkts, • eindeutige Definition der untersuchten Merkmale,
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5
Angewandte Anthropologie
genaue Beschreibung der Methodik, Angaben zu regionaler Herkunft der Referenzpopulation, Angaben zu sozioökonomischem Status und Gesundheitszustand der Probanden, Angabe des Stichprobenumfangs, der Mittelwerte und der Streuung für jedes Merkmal. Referenzuntersuchungen, die diese Anforderungen erfüllen, sind beispielsweise die Arbeiten von Greulich und Pyle (1959), Tanner et al. (1975), Thiemann und Nitz (1991), Kahl und Schwarze (1988), Köhler et al. (1994) oder Mincer et al. (1993). Weicht die Person, deren Alter zu beurteilen ist, z. B. auf Grund des sozioökonomischen Status oder der regionalen Herkunft von der Referenzpopulation ab, so muss die Auswirkung auf die Altersdiagnose vom Gutacher diskutiert und möglichst gut abgeschätzt werden (Schmeling et al. 2000b). Diese Einschränkung gründet sich auf das Phänomen der Akzeleration, der allgemeinen Beschleunigung von Reifung und Entwicklung, die von sozioökonomischen Faktoren beeinflusst wird und deutliche regionale Unterschiede aufweist (s. Kap. 4.1). Bei der Beurteilung der sexuellen Entwicklung ist zu beachten, dass die verschiedenen Reifungszeichen in einer bestimmten Reihenfolge einsetzen. Bei Mädchen setzt beispielsweise die beginnende Hüftschweifung vor der Brustentwicklung ein (am Anfang der Entwicklung steht die so genannte Brustknospe) und noch etwas später beginnt die Entwicklung der Axillarbehaarung. Bei Jungen beginnt die Vergrößerung der Genitalien vor dem Beginn derer Pigmentierung, die Axillarbehaarung beginnt erst danach und der Stimmbruch folgt noch später.
• • • •
7 Als problematisch erweist sich die Tatsache, dass das Einsetzen bzw. Erreichen bestimmter Reifungsphasen einer enormen Schwankung unterliegt;
die Variabilität ist so groß, dass bei einzelnen Personen eine Entwicklung bereits vollendet ist, während sie bei einer anderen Person gleichen Alters noch nicht einmal eingesetzt hat (Knußmann 1996). Dies erschwert die Altersdiagnose vor allem in den Fällen, in denen die Vollendung des 14. oder des 16. Lebensjahres beurteilt werden soll (Tab. 5.6.). Einen Sonderfall bildet die Altersschätzung von Personen auf Bildmaterial. Das Lebensalter ist eines der wichtigsten Kriterien zur Identifikation von Menschen, daher ist es – vor allem bei auf Fotos oder auf Filmmaterial dargestellten unbekannten Opfern von Straftaten – von großer Bedeutung, das Lebensalter zu ermitteln. Hierbei kommen zwar grundsätzlich alle Altersgruppen in Frage. In den letzten Jahren gibt es jedoch einen Schwerpunkt bei Kindern und Jugendlichen, die als Opfer sexueller Gewalt auf pornografischem Bildmaterial zu sehen sind, das vor allem durch das Internet eine ungeahnte Verbreitung findet. Für die Beurteilung steht nur ein eingeschränktes Arsenal morphologischer Kriterien zur Verfügung und als besonders problematisch erweist sich die Altersbestimmung jüngere Kinder, bei denen noch keine Zeichen sexueller Reifung entwickelt sind. Hier können allenfalls alterstypische Körperproportionen, Gebissentwicklung und in Einzelfällen die Beurteilung motorischer Fähigkeiten herangezogen werden. Das Alter von Kindern und Jugendlichen anhand von sich im Laufe des Wachstumsprozesses von
5.2
Forensische Anthropologie
475
Tab. 5.6 Altersvariabilität des Erreichens der sexuellen Entwicklungsstadien bei 8689 Mädchen aus Deutschland; angegeben ist das Alter, in dem die entsprechenden Perzentilgruppen das Stadium erreicht haben. (Datenquelle: Greil und Kahl 2005; Stadien nach Tanner 1962) Entwicklungsstadium/Perzentile 1% 3% 10 % 50 % 90 % 97 % 99 % Brustentwicklung Stadium 2- Brustknospe 8,1 8,4 9,1 10,9 12,5 13,4 14,2 Stadium 3- Vergrößerung und 9,4 10,0 10,7 12,5 15,0 16,1 16,4 Vorwölbung Stadium 4- Knospenbrust 10,8 11,4 12,1 14,1 16,1 16,4 16,7 Stadium 5- Stadium der Reife 11,7 12,4 13,3 15,3 16,4 16,7 16,8 Schambehaarung Stadium 2- spärlich, fein 8,5 9,1 9,6 11,4 12,8 13,6 14,0 Stadium 3- dunkler, gröber 9,7 10,3 10,9 12,5 14,5 15,8 16,3 Stadium 4- Haarfeld noch klein 10,6 11,3 11,9 13,8 15,8 16,3 16,4 Stadium 5- Erwachsenenform 11,8 12,2 13,1 15,1 16,4 16,7 16,8 Menarche 10,1 10,7 11,4 12,7 14,1 14,7 15,2
der kindlichen zur erwachsenen Form ändernden Gesichtsproportionen zu schätzen, wird durch die große individuelle Variationsbreite der Wachstumsabläufe und Formunterschiede erschwert. Dadurch lässt sich mit diesem Ansatz nur eine Altersbestimmung in groben Altersklassen erreichen. Bei Einbeziehung möglichst vieler Kriterien lässt sich in Einzelfällen jedoch das Lebensalter recht genau schätzen, wobei fundierte Kenntnisse der Wachstums- und Reifungsprozesse (s. auch Kap. 4.1) eine Grundvoraussetzung sind. Zusammenfassung Kap. 5.2: Forensische Anthropologie
• Die forensische Anthropologie ist eine angewandte Wissenschaft, die in enger Kooperation mit der Rechtsmedizin und anderen Disziplinen zur Klärung gerichtsrelevanter Fragen beitragen kann. • Hauptaufgabe der forensischen Anthropologie ist die Mitwirkung bei der Identifikation von Lebenden sowie bei der Identifikation unbekannter Leichen. • Eine weitere Aufgabe der forensischen Anthropologie ist die Altersbestimmung bei Lebenden. • Die forensische Anthropologie nutzt unter anderem Methoden der prähistorischen Anthropologie, der Auxologie und der Alternsforschung, die mit einem hohen Standard der Aussagesicherheit an ihre Bedürfnisse angepasst sind.
6
Verhaltensbiologie
6.1
Grundlagen des Verhaltens
Wissenschaftler, die sich mit dem Verhalten von Tieren befassen, sind im Allgemeinen Biologen. Wissenschaftler hingegen, die menschliches Verhalten erforschen, stammen aus den unterschiedlichsten Herkunftsdisziplinen: Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Kulturwissenschaften und Biologie sind nur einige von ihnen. Mit diesen verschiedenen Fächern ist verbunden, dass sich die Forschungstraditionen, die methodischen Ansätze und nicht zuletzt das Erkenntnisinteresse unterscheiden. Grundsätzlich gelten für die biologische Erforschung menschlichen Verhaltens dieselben Voraussetzungen, methodischen Vorgehensweisen und Interpretationsansätze wie für die Erforschung tierlichen Verhaltens. Jede humanethologische Untersuchung ist stets damit verbunden, dass der evolutionäre Hintergrund in die Analysen und Interpretationen einbezogen wird. Diese besondere Perspektive ist allerdings über Jahrzehnte auch die Ursache für zum Teil heftige Kontroversen gewesen (s. Box 6.1). In den Geistes- und Sozialwissenschaften gibt es eine auf langer Tradition basierende Skepsis gegenüber den Erklärungsansätzen der Verhaltensbiologie. Bevor wir uns der speziellen Erforschung menschlichen Verhaltens zuwenden, ist es daher erforderlich, einen Blick auf die Entwicklung der allgemeinen Verhaltensbiologie zu werfen.
6.1.1
Die Entwicklung der Verhaltensbiologie
Die moderne Verhaltensbiologie leitet sich aus der vergleichenden Verhaltensforschung her, die auf Gründungsväter wie Konrad Lorenz und Niko Tinbergen zurückgeht. Die vergleichende Verhaltensforschung wird oft als klassische Ethologie1 bezeichnet, im Unterschied zu den jüngeren Forschungsgebieten Soziobiologie und Verhaltensökologie. Im Fokus soziobiologischer Forschung steht das Der Begriff Ethologie wurde bereits im 19. Jahrhundert geprägt und meint die Erforschung der „Sitten der Tiere“ (Grammer 1995). 1
G. Grupe et al., Anthropologie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-25153-5_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
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6 Verhaltensbiologie
Sozialverhalten von Tieren, häufig mit dem Schwerpunkt des Fortpflanzungsverhaltens; die Schwesterdisziplin Verhaltensökologie befasst sich schwerpunktmäßig mit den ökologischen Aspekten von Verhalten wie etwa Ressourcenkonkurrenz. Die beiden Teildisziplinen zeigen etliche Überschneidungen und sind nicht scharf voneinander zu trennen. Von der klassischen Ethologie hat die moderne Verhaltensbiologie vor allem methodologische Aspekte übernommen, wie etwa die sorgfältige Beobachtung und Deskription von Verhalten; andere Vorstellungen gelten heute hingegen als überholt. Hier ist beispielsweise das von Lorenz postulierte Prinzip der Arterhaltung zu nennen, das heute als gruppenselektionistisches Konzept abgelehnt wird. Zahlreiche Befunde zum Infantizid (Kindestötung) oder Siblizid (Geschwistertötung) lassen sich soziobiologisch plausibel erklären, während sie unter der Annahme der Tötungshemmung als arterhaltendem Verhaltenselement nur als pathologisches Verhalten interpretiert werden können. Auch den inzwischen als problematisch erkannten Begriff Instinkt sucht man im modernen verhaltensbiologischen Schrifttum beinahe vergeblich. Sofern er Erwähnung findet, wird er meist im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext verwendet. In der Anfangszeit der Ethologie wurde die Bezeichnung Instinkt häufig verwendet, um angeborene Verhaltens-„Programme“ zu charakterisieren, die es einem Lebewesen ermöglichen, adäquat auf Umweltreize zu reagieren (Wuketits 1997). Der Verzicht auf den Instinktbegriff trägt der Erkenntnis Rechnung, dass auch tierliches Verhalten enorm flexibel ist (de Waal 2001). Ein anderes Konzept der klassischen Ethologie hat jedoch bis heute uneingeschränkte Gültigkeit. Bereits in den 1950er Jahre definierte Tinbergen (1951, 1963) vier Ebenen, die im Zentrum verhaltensbiologischer Untersuchungen stehen: • Wie sieht die evolutionäre Geschichte des Verhalten aus: Welche phylogenetischen Faktoren haben auf seine Entstehung eingewirkt? • Wie ist aktuelles Verhalten durch die Individualentwicklung eines Tieres beeinflusst worden: Welche ontogenetischen Phasen durchläuft es, und welche Lernvorgänge wirkten auf ein Verhalten ein? • Welche endogenen oder exogenen Faktoren lösen ein Verhalten aus: Was veranlasst ein Individuum im Moment der Beobachtung sich in einer bestimmten Weise zu verhalten und nicht anders? • Welche Auswirkungen hat ein Verhalten auf das Überleben und den Fortpflanzungserfolg eines Individuums: Welchen Selektionsvorteil bietet das Verhalten? Die beiden letztgenannten Fragen werden auch als die Fragen nach der proximaten Wirkursache und der ultimaten Zweckursache bezeichnet (s. Box 6.1). In der Frühzeit der Ethologie war die biologische Erforschung von Verhalten sehr stark von der angeboren-versus-erworben-Kontroverse (engl. natureversus nurture) geprägt: Die Ethologie mit ihrem Fokus auf dem angeborenen Verhalten stand im Gegensatz zu dem milieutheoretischen Gedankengut. Box 6.1: Ultimat und proximat
In der Biologie gibt es auf die Warum-Frage bei einem Merkmal – auch einem Verhaltensmerkmal – stets zwei verschiedene und dennoch korrekte Antworten,
6.1
Grundlagen des Verhaltens
479
die sich auf unterschiedliche Analyseebenen beziehen, und sich demzufolge nicht widersprechen oder gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen. Immelmann et al. (1988) haben ein einfach nachvollziehbares Beispiel gewählt, um die beiden Frageebenen zu illustrieren: Warum ist der Schneehase weiß? Eine korrekte Antwort lautet: Der Schneehase ist weiß, weil die Haare, die sein Fell bilden, kein Pigment haben und das Licht vollständig reflektieren. Eine weitere korrekte Antwort lautet: Der Schneehase ist weiß, weil er dadurch in seinem natürlichen Habitat für Beutegreifer schlechter erkennbar ist und so seine Überlebens- und Fortpflanzungschancen erhöht. Die erste Antwort spiegelt die proximate Ebene wider: sie bezieht sich auf die Wirkursache (auch Nahursache genannt) des zu analysierenden Merkmals. Die zweite Antwort spiegelt die ultimate Ebene wider: sie bezieht sich auf die (evolutionäre) Zweckursache (auch Fernursache genannt) des Merkmals. Eine sehr anschauliche Darstellung der Beziehungen zwischen ultimater und proximater Ebene lieferte der Primatologe Kummer (1992), der deutlich machte, dass es für die Evolution zwei Wertmaßstäbe gibt: den Überlebenswert für Gene (ultimate Ebene) und den Befriedigungswert für das Individuum (proximate Ebene). Wenn einem Lebewesen Verhaltensalternativen offen stehen, so wird es sich für jene Verhaltensweisen entscheiden, deren Soforteffekte ihm die größtmögliche Befriedigung verschaffen. Die Leistung der Evolution ist es nun, diese beiden Wertmaßstäbe durch den Suchprozess Selektion zur Deckung zu bringen. Denn auf Dauer lässt die Selektion keine Verhaltensorganisation zu, in der Handlungen von hohem Befriedigungswert einen geringen Überlebenswert haben. In antidarwinischer Tradition lehnten Behavioristen, Psychologen und Soziologen so genannte hereditäre Theorien vor allem mit Blick auf die Interpretation menschlichen Verhaltens ab. Wichtige neue Impulse erhielt die Verhaltensbiologie durch die Soziobiologie, die untrennbar mit der Publikation „Sociobiology:TheNewSynthesis“ von Wilson (1975) verbunden ist. Tatsächlich beschreibt die Soziobiologie einen Paradigmenwechsel in den Verhaltenswissenschaften (Wuketits 1997), und vor allem die frühen Soziobiologen haben sich von der klassischen Ethologie distanziert (de Waal 2001). Die Soziobiologie bietet ein Theoriengefüge, das die konsequente evolutionsbiologische Analyse des Sozialverhaltens von Tieren und Menschen ermöglicht. Sie ist allerdings – vor allem wegen der Anwendung soziobiologischer Konzepte auf menschliches Verhalten – sehr kontrovers diskutiert und häufig diskreditiert worden (s. Box 6.2) Wenngleich die Kritik heute – nicht zuletzt durch die überaus erfolgreiche Anwendung der theoretischen Grundideen in der Praxis – weitgehend verstummt ist, haben viele Forscher sich von der umstrittenen Bezeichnung Soziobiologie für ihre Wissenschaft getrennt und bezeichnen sie statt dessen als Verhaltensökologie oder – vor allem wenn es um menschliches Verhalten geht – Evolutionspsychologie. Während jedoch die Soziobiologie ein innovatives Ideenkonzept für die Verhaltenswissenschaften bedeutete, haben sich mit der Verhaltensökologie keine grundsätzlich neuen Forschungsfragen oder Perspektiven ergeben (de Waal 2001).
480
6 Verhaltensbiologie
Box 6.2: Probleme der Humansoziobiologie
Im Anschluss an die Veröffentlichung grundlegender soziobiologischer Werke – wie WilsonsSociobiology–TheNewSynthesis (1975) oder Dawkins TheSelfishGene (1976) – hat es heftige Kritik innerhalb und außerhalb der Biologie gegeben, die bis heute nicht ganz verstummt ist. Die Soziobiologie ist in den Augen ihrer Kritiker sexistisch, rassistisch, biologistisch, reduktionistisch und eine moderne Fortsetzung des Sozialdarwinismus.„Sociobiologyisareductionist, biological determinist explanation of human existence“ (Lewontin et al. 1984, S. 236). „Zoocentrismistheprimaryfallacyofhumansociobiology,for thisviewofhumanbehaviourrestsontheargumentthatiftheactionsof‚lower‘ animalswithsimplenervoussystemsariseasgeneticproductsofnaturalselections,thenhumanbehaviourshouldhaveasimilarbasis“ (Gould 1983, zitiert nach Wuketits 1997, S. 242). „Ihavefounditusefultoseparatediscussionsof sociobiologicalapproachestothestudyofanimalbehaviorfromtheapplication ofsuchapproachestohumanbehavior“ (Fausto-Sterling 1997, S. 47). Diese Auswahl von Einwänden gegen die Soziobiologie ist insofern typisch, als sich die Kritik fast ausschließlich auf die Anwendung des soziobiologischen Konzepts auf die Analyse menschlichen Verhaltens konzentriert. Ebenso wie mehr als hundert Jahre zuvor die Veröffentlichung der Evolutionstheorie hauptsächlich wegen der Konsequenzen für die Stellung des Menschen angefeindet und diskreditiert wurde, richtet sich die Kritik an der Soziobiologie überwiegend gegen die Anwendung der Theorie auf den Menschen, da vielfach die Annahme vertreten wird, menschliches Verhalten sei grundsätzlich von seinen biologischen Wurzeln emanzipiert. Es sind vor allen drei Faktoren, die verhaltensbiologische Analysen des Menschen und menschlicher Sozialsysteme erschweren: • die enorme Plastizität des menschlichen Verhaltens; • die kulturelle Überformung, die das Erkennen genetisch determinierter oder prädisponierter Grundlagen beeinträchtigt; • die lange Lebensspanne und die langsame Generationenfolge, welche die Möglichkeiten einschränkt, Fitnesskonsequenzen zu erfassen. Dennoch sind Verhaltensbiologen davon überzeugt, dass die theoriengeleitete Untersuchung menschlichen Verhaltens grundsätzlich möglich und die erneute Zuweisung einer Sonderstellung des Menschen nicht gerechtfertigt ist. Gestützt auf die zahlreichen Befunde zu kulturellem Verhalten bei verschiedenen Tierarten, vor allem den Menschenaffen, ist die moderne Verhaltensbiologie des Menschen bestrebt, die in der christlich-abendländischen Tradition verwurzelte Natur-Kultur-Antinomie zu überwinden (Voland 2000; de Waal 2001). Gleichzeitig wendet sich moderne Verhaltensbiologie gegen normativen Biologismus. Während einige Vertreter der klassischen Ethologie, wie zum Beispiel Konrad Lorenz, versuchten, aus den Erkenntnissen der Naturbeobachtung moralische Bewertungen abzuleiten (Voland 2000), wenden sich Humansoziobiologen gegen solche naturalistischen Fehlschlüsse: Aus den Ist-Zuständen der Natur kann man keine normativen Soll-Zustände menschlichen Handelns ableiten.
6.1
Grundlagen des Verhaltens
481
Dennoch muss sich die Verhaltensbiologie des Menschen auch damit auseinandersetzen, dass ihre Erkenntnisse ideologisch vereinnahmt werden können. Dies kann jedoch keine Begründung dafür liefern, auf die theoriengeleitete biologische Erforschung zu verzichten. Der Evolutionsbiologe Waage (1997) hat den Kern dieses Konflikts mit den folgenden Worten sehr anschaulich gemacht: „Thebiologicalrealityisthere;itsinterpretationandimplicationiswhathumansmaymakeofit.Todenyorignorebiologyforfearofitbeingusedagainst gender,race,andsoforth,istolosethepowerandfreedomofunderstanding.“ Die Verhaltensökologie ist insgesamt stärker ökologisch ausgerichtet und befasst sich mit den funktionalen Aspekten des Verhaltens. Sie ist der Schnittpunkt für das wissenschaftliche Interesse am Verhalten, an der Ökologie und der Evolution (Krebs und Davies 1997). Der Verhaltensökologie und der Soziobiologie liegen die folgenden Annahmen zu Grunde: • Einzelne Individuen verhalten sich entsprechend ihrem Eigeninteresse und nicht zum Wohle einer Gruppe oder Art. • Die natürliche Selektion hat in der Evolution solche Individuen begünstigt, die eine Lebenslaufstrategie haben, mit der sie ihren Beitrag zum Genpool zukünftiger Generationen maximieren. • Das Verhalten eines Individuums beeinflusst ganz entscheidend seine Überlebenswahrscheinlichkeit und seinen Fortpflanzungserfolg. • Die ökologischen Bedingungen, also die biotischen und abiotischen Umweltfaktoren, bestimmen, welche Verhaltensmuster im Laufe der Evolution begünstigt werden. • Die Selektion hat Individuen geformt, die sich optimal verhalten, sich beispielsweise erfolgreich paaren, effizient ihren Nachwuchs versorgen und wirksam Beutegreifer vermeiden.
6.1.2
Die theoretischen Grundlagen der modernen Verhaltensbiologie
In der Verhaltensökologie und der Soziobiologie geht man von der sogenannten genegoistischen Fitnessmaximierung aus (zur Nomenklatur s. Box 6.3). Darunter ist zu verstehen, dass nicht Individuen oder Populationen oder Arten die Ebene der Anpassungsvorgänge repräsentieren, sondern letztlich die Gene selbst, die verschiedene Phänotypen hervorbringen, welche der Selektion unterliegen. Gene sind die Replikatoren, in denen die stammesgeschichtlichen Informationen gespeichert sind, und im Gegensatz zu den Individuen, die lediglich als vergängliche „Vehikel“ betrachtet werden können, sind die Gene potenziell unsterblich (Dawkins 1976; Voland 2000). Es liegt im „Interesse“ dieser Gene, einen möglichst großen Anteil am Genpool zukünftiger Generationen zu erzielen. Vor diesem Hintergrund wird die Fitness oder Eignung eines Organismus nicht nur an seinem Überleben gemessen, sondern ist weitgehend deckungsgleich mit seinem Fortpflanzungserfolg.
6 Verhaltensbiologie
482 Tab. 6.1 Verwandtschaftskoeffizienten für ausgewählte Verwandtschaftsverhältnisse
Verwandtschaftsverhältnis Eineiige Zwillinge Eltern – Kinder Vollgeschwister Halbgeschwister Großeltern – Enkel Tante/Onkel – Nichte/Neffe
Verwandtschaftskoeffizient 1,0 0,5 0,5 0,25 0,25 0,25
Box 6.3: Sprache und Begrifflichkeiten
Die moderne Verhaltensbiologie verwendet eine Terminologie, die vielfach zu Missverständnissen geführt hat. Dies gilt beispielsweise für Bezeichnungen wie Strategie und Interesse oder Egoismus und Altruismus. Diese und ähnliche Begriffe werden grundsätzlich nicht in dem Sinne benutzt, als beschrieben sie bewusste Aktionen oder ein geplantes absichtliches Verhalten. Der Terminus Interesse z. B. wird weitgehend deckungsgleich mit dem ultimaten Ziel eines Organismus verwendet, also dem Überleben und der Fortpflanzung. Die Bezeichnung Strategie beschreibt jene Vorgehensweise, mit der ein Individuum dieses Ziel am besten erreichen kann. Verhaltensstrategien sind nicht Ausdruck bewusster Vorgänge, sondern das Ergebnis evolutionärer Prozesse. Unter Egoismus versteht man ein Verhalten, das die Fitness des agierenden Individuums zu Lasten eines oder mehrerer anderer Individuen erhöht, wobei der Eigennutz wiederum keiner bewussten Verhaltenssteuerung entspringt. Dasselbe gilt auch für den Altruismus, ein uneigennütziges Verhalten, das die Fitness des agierenden Individuums zu Gunsten des profitierenden Individuums reduziert. In analoger Weise müssen auch andere, vor allem von der Soziobiologie verwendete Begriffe wie Nepotismus, Zölibat, Geschlechterkonflikt, Geschwisterkonflikt, Patriarchat oder Harem verstanden werden. Um die Sprache der modernen Verhaltensbiologie richtig zu verstehen, muss man also berücksichtigen, dass die anthropomorphen Begriffe, die zur Interpretation menschlichen und tierlichen Verhaltens herangezogen werden, stets auch Metaphern sind. Eine andere Gruppe von Fachausdrücken, die in der Verhaltensbiologie, vor allem der Verhaltensökologie, häufig verwendet wird, ist dem Wirtschaftssystem westlicher Industrieländer entlehnt. Hierzu gehören z. B. Investment (der Eltern in den Nachwuchs), Ressourcen, (Fitness)-Maximierung oder Kosten-NutzenAnalysen. Auch hier sollte man sich des metaphorischen Charakters der Begriffe bewusst sein, wenn z. B. Weibchen als begrenzende Ressource für männlichen Paarungserfolg bezeichnet werden, oder eine Kosten-Nutzen-Analyse des Infantizids (Kindstötung) durchgeführt wird. Auch viele Wissenschaftler, die solche Begriffe verwenden, sind sich nicht immer darüber im Klaren, dass ihre Sprache auf Grund des metaphorischen Charakters vieler Termini nicht wertfrei ist. Ein Lebewesen kann aber nicht nur durch eigene Fortplanzung seine direkte Fitness maximieren, sondern auch durch den Fortplanzungserfolg naher Verwandter, mit denen es gemeinsame Gene besitzt. Je näher die Verwandtschaft ist, umso größer ist der Verwandtschaftskoefizient, der den Anteil gemeinsamer, abstammungsidentischer Gene verwandter Individuen angibt (s. Tab. 6.1). Unterstützt
6.1
Grundlagen des Verhaltens
Tab. 6.2 Auszahlungsmatrix für das Gefangenen-Dilemma 2.Gefangener schweigt gesteht
483 1.Gefangener schweigt gesteht 1:1 5:0 0:5 2:2
ein Lebewesen zu Lasten der eigenen Reproduktion nahe Verwandte, so kann es durch diese Verwandtenselektion (engl. kinselection) durchaus seine Gesamtitness steigern. Nach dem theoretischen Konzept von der Gesamtitness (Hamilton 1964a, b) ergibt sich die Gesamtitness als die Summe der durch eigene Reproduktion erzielten direkten Fitness (auch als Darwin-Fitness bezeichnet) und der durch Verwandtenselektion erzielten indirekten Fitness. Das Konzept der Gesamtitness ist z. B. äußerst aufschlussreich, um die Evolution der sterilen Arbeiterinnen bei sozialen Insekten (z. B. Ameisen, Bienen) zu erklären. Doch auch bei vielen anderen Organismen einschließlich des Menschen bietet die Verwandtenselektion eine solide Erklärungsbasis z. B. für altruistisches Verhalten. Es gibt jedoch überall im Tierreich auch altruistisches Verhalten, das sich nicht durch Verwandtenselektion erklären lässt. Wie kann altruistisches Verhalten evolvieren, das zu Lasten des Überlebens oder der Fortpflanzung des agierenden Individuums geht? Plausible Erklärungen liefert die Anwendung der Spieltheorie (z. B. Axelrod und Hamilton 1981; Maynard Smith 1982). Sie erklärt, dass z. B. Hilfe in Notsituationen eine günstige Verhaltensstrategie ist, wenn vergleichbare Situationen immer wieder auftreten, weil die „Tit for Tat“-Strategie („Wie Du mir, so ich Dir“) sich unter diesen Bedingungen als stabil erweist. Diese Form des Altruismus nennt man reziproken Altruismus. In Primatensozietäten und speziell in menschlichen Gesellschaften ist reziproker Altruismus weit verbreitet (Franck 1997). Das Gefangenen-Dilemma (engl. prisoner’sdilemma) ist ein bekannter spieltheoretischer Ansatz um herzuleiten, dass Kooperation langfristig gesehen die stabilste evolutionäre Strategie darstellt. Man geht dabei von zwei Spielern aus, die gemeinsam eine Straftat begangen haben und daher ins Gefängnis gekommen sind, ohne vorher eine Taktik absprechen zu können. Die Beweislage ist unzureichend, so dass eine Verurteilung nur zu erwarten ist, wenn mindestens einer ein Geständnis ablegt. Nach den Regeln gibt es für denjenigen, der als erster gesteht, einen vollständigen Straferlass, während derjenige, der geschwiegen hat, zu fünf Jahren verurteilt wird. Gestehen beide, so bekommen sie mildernde Umstände und müssen zwei Jahren einsitzen. Schweigen beide, so werden sie nach einem Jahr entlassen. Je nachdem, wie sich die beiden Spieler verhalten, ergeben sich vier verschiedene Möglichkeiten, die in einer so genannten Auszahlungsmatrix dargestellt werden (s. Tab. 6.2): Die egoistische Taktik zu gestehen, um sofort frei zu kommen, ist äußerst unsicher, denn für den Fall, dass der andere sich genauso verhält, droht eine höhere Strafe, als wenn man schweigen würde. Schweigt man jedoch, so läuft man Gefahr, die Höchststrafe zu bekommen, falls der andere gesteht. Beide Gefangenen profitieren am meisten, wenn sie beide schweigen. Diese Form der Kooperation nach dem tit-for-tat-Prinzip gilt als Modell für die Evolution des reziproken Altruismus.
484
6 Verhaltensbiologie
Tab. 6.3 Möglichkeiten der sexuellen Selektion. Der zweiseitigePfeil bedeutet Konkurrenz, der einseitigePfeil bedeutet Wahl. Durch Fettdruck sind die Möglichkeiten hervorgehoben, welche die größere Rolle spielen Intrasexuelle Selektion Intersexuelle Selektion ♀↔♀ ♀→♂ ♂↔♂ ♂→♀
Eine ebenfalls wichtige Rolle in der modernen Verhaltensbiologie spielt die sexuelle Selektion. Sie geht in ihrem Ursprung bereits auf Darwin zurück und ist eine Teiltheorie des evolutionären Paradigmas. Im Gegensatz zu den anderen Teiltheorien spielte sie jedoch bis zum Ende der 1960er Jahre keine Rolle. Aufgegriffen wurde sie erst wieder in den 1970er Jahren. Mayr (1994) spricht von einer „Wiederentdeckung“ der sexuellen Selektion und definiert sie wie folgt: „[Sexuelle Selektion ist] der größere Fortpflanzungserfolg eines Individuums einer Population,dasimBesitzvonMerkmalenist,dieentwederseineKonkurrenzgegenüber AngehörigendesgleichenGeschlechtsoderseineAnziehungskraftaufdasandere Geschlecht steigern.“ Die Theorie der sexuellen Selektion dient nicht nur der Erklärung geschlechtstypisch unterschiedlicher morphologischer Merkmale (jede Form des Geschlechtsdimorphismus wie z. B. Gefiederunterschiede bei Vögeln, Geweihe bei männlichen Cerviden, etc.), sondern spielt heute vor allem eine Rolle bei der Analyse geschlechtstypisch unterschiedlichen Verhaltens. Obgleich es theoretisch vier verschiedene Möglichkeiten der Wirkungsrichtung sexueller Selektion gibt (s. Tab. 6.3), wird die Konkurrenz unter den Angehörigen eines Geschlechts um Reproduktionspartner des anderen Geschlechts überwiegend im männlichen Geschlecht verortet, während die Wahl eines Partners eher eine Reproduktionsstrategie ist, die dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben wird. Daraus ergeben sich Verhaltensbeschreibungen wie „spröde-zurückhaltend, wählerisch und eher pflegerisch veranlagt“ für weibliche Individuen und „durchsetzungsfähig, aggressiv und risikobereit“ für männliche Individuen (Verhaltensattribute nach Vogel 1992). Kritik an dieser traditionellen Perspektive, die sich direkt an Darwins Sichtweise der Geschlechter anschließt, wird in jüngerer Zeit immer häufiger aus der Sicht der Genderforschung geübt (z. B. Small 1988; Gowaty 1997; Schröder 2000). Das moderne Konzept vom Elterninvestment oder Elternaufwand (engl. parentalinvestment) wurde von Trivers (1972) entwickelt. Danach versteht man unter Elternaufwand jegliches Investment eines Elters in einen einzelnen Nachkommen, der die Überlebenswahrscheinlichkeit und den Reproduktionserfolg dieses Nachkommen erhöht, und zwar zu Lasten der Fähigkeit des Elters in andere Nachkommen zu investieren. Elterninvestment kann vielfältige Formen haben: dazu gehören z. B. der energetische Aufwand für die Bereitstellung von Keimzellen, Brutpflege und Jungenfürsorge oder die Verteidigung des Nachwuchses auch unter Inkaufnahme vitaler Risiken. Elternstrategien unterliegen der natürlichen Selektion, denn es ist das Ziel der genegoistischen Fitnessmaximierung, einen hohen Anteil eigener Gene im Genpool zukünftiger Generationen sicherzustellen, so dass der erfolgreichen Fortpflanzung eine große Bedeutung zukommt.
6.2 Verhalten des Menschen
485
Ebenfalls bedeutsam ist es, ob die Reproduktion einer Art eher K-strategisch oder r-strategisch2 ausgerichtet ist. Mit diesen beiden Begriffen wird ein Gleichgewicht zwischen Elterninvestment und life-history-Parametern (s. Kap. 2.1.2) beschrieben. Ein klassisches Beispiel für eine r-selektierte Art ist die Auster. Eine weibliche Auster produziert ca. 500 Mio. Eier pro Jahr (Voland 2000). Hier wird also sehr viel Energie in die Bereitstellung der Keimzellen gesteckt, wohingegen faktisch keine Brutfürsorge betrieben wird. Andere Arten hingegen, wie beispielsweise Wale, Elefanten oder Primaten sind K-selektiert: Ein weibliches Individuum bekommt nur sehr wenige Nachkommen und muss sehr viel Energie in die Aufzucht der Kinder stecken. Beide geschilderten Strategien stellen Extrempositionen auf einer Skala dar, auf der alle möglichen Zwischenformen realisiert sind. Der gesteigerte Elternaufwand bei K-strategischen Arten steht in einem engen Zusammenhang mit verschiedenen life-history-Parametern. Im Vergleich zu eher r-selektierten Arten sind sie gekennzeichnet durch langsamere Individualentwicklung, größere Körpergröße, längere Lebensspanne, späteren Fortpflanzungsbeginn, längere Geburtenabstände, geringere Wurfgröße (Voland und Winkler 1990).
6.2 Verhalten des Menschen Menschliches Verhalten ist hochkomplex und in vielfacher Hinsicht nicht nur biologisch, sondern auch kulturell oder religiös bestimmt, beziehungsweise überformt. In evolutionsbiologischer Hinsicht ist insbesondere das generative Verhalten relevant mit seinen zahlreichen Facetten, welche von der Sexualentwicklung und dem daraus resultierenden Geschlechtsdimorphismus in Biologie und Verhalten bis zu Aspekten der Partnerwahl, der geschlechtsspezifischen Verhaltensstrategien in Bezug auf das Investment in die Nachkommen und individuell bzw. kulturell geprägter Lebensweise mit Rückwirkung auf die Fertilität reichen. Aus inhaltlichen Gründen sind eine Reihe dieser Aspekte (z. B. generatives Verhalten, Partnerwahl) in das Kap. 4.2 „Fortpflanzungsbiologie“ inkorporiert worden. Weitere verhaltensbiologisch relevante Themen finden sich in den Kap. 3.2 „Humanökologie“, z. B. unter dem Stichwort „DarwinianMedicin“, und 3.3 „Demografie“. An dieser Stelle soll daher lediglich auf zwei Verhaltenskomplexe mit spezifisch menschlicher Ausprägung eingegangen werden; im Übrigen sei auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen (z. B. Paul 1998; Hassenstein 2007; Tomasello 2009; Voland 2007, 2009).
6.2.1
Eltern-Kind-Beziehungen
Reproduktion ist ein Maßstab des biologischen Erfolgs. Bei einer Art, deren Nachwuchs in seiner langen Entwicklungsphase in so hohem Maße unselbständig und Die Begriffe K-Strategie und r-Strategie leiten sich aus der Wachstumsfunktion einer Population in einem gegebenen Biotop mit einer definierten Tragekapazität K her; das Symbol r steht für die Wachstumsrate (Pianka 1970). 2
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6 Verhaltensbiologie
abhängig ist wie beim Menschen, kommt den Elternstrategien eine zentrale Funktion zu, um das Überleben und Heranwachsen der Kinder zu sichern (s. Kap. 4.1.1). Dieser Bedeutung entsprechend gibt es eine große Zahl von Untersuchungen, die sich mit Eltern-Kind-Beziehungen beim Menschen befassen. Bei Primaten ist, wie bei Säugetieren allgemein, die Aufzucht des Nachwuchses überwiegend eine Aufgabe, die ausschließlich von weiblichen Tieren wahrgenommen wird. In vielen Fällen wird den potenziellen Vätern nicht einmal der Zugang zu den Jungen gewährt. Diese ungleich bedeutendere 7 Funktion der Mutter bei Säugetieren ergibt sich aus der inneren Befruchtung, der Entwicklung der Embryonen im Mutterleib und der nur im weiblichen Geschlecht vorhandenen Fähigkeit, den Nachwuchs durch eine besondere Nährflüssigkeit zu säugen.
Es gibt daher zahlreiche Untersuchungen, die sich mit der Mutter-Kind-Beziehung befassen, z. B. mit den proximaten Mechanismen, welche diese Bindung aufbauen und festigen. Ein besonders gut untersuchtes Forschungsfeld ist der interkulturelle Vergleich von Geburt, Wochenbett und Betreuungspraktiken, wie z. B. Körperkontakt, Stillgewohnheiten, Schlafgewohnheiten (z. B. Lozoff 1983; Schiefenhövel 1991; Schleidt 1994; Siegmund et al. 1994; Trevathan und McKenna 1994; Schiefenhövel und Schiefenhövel 1996; Bensel 2002). Obwohl in modernen Industriegesellschaften heute ein gewisser Trend zur „Anzestralisation“, eine Rückkehr zu ursprünglichen Formen der Säuglingsbetreuung, zu beobachten ist, gibt es dennoch gravierende Unterschiede zwischen traditionalen und industriellen Gesellschaften (Bensel 2002). Dies gilt beispielsweise für • die Häufigkeit des Tragens und des Körperkontakts: Im Gegensatz zu Kindern aus Industriegesellschaften haben Kinder in traditionalen Gesellschaften mehr Körperkontakt, werden schneller beruhigt und benötigen keine Ersatzobjekte wie Kuscheltiere; • die Schlafgewohnheiten: In traditionalen Gesellschaften schlafen Kinder nach Bedarf und teilen sich den Schlafplatz mit der Mutter, während in Industriegesellschaften die Kinder meist getrennt von der Mutter schlafen, und das Einschlafen nach Plan erfolgt; • die Fütterungspraxis: In traditionalen Gesellschaften werden Kinder mit hoher Frequenz gestillt, die Entwöhnung erfolgt spät. In Industriegesellschaften wird früh abgestillt, die Stillfrequenz ist niedrig. Im Gegensatz zu vielen anderen Primatenarten spielen beim Menschen auch die Väter eine wichtige Rolle bei der Aufzucht der Kinder. Väterliches Elterninvestment kann sehr viele Formen annehmen; einige von ihnen sind bei nicht-menschlichen Primaten gar nicht vorhanden. Väter • zeigen liebevolle Zuwendung, • spielen mit ihren Kindern, • versorgen sie mit Nahrung, • schützen und behüten sie • und können ihnen schließlich sogar nicht nur ihren sozialen Status, sondern auch materielle Güter und Wohlstand vererben.
6.2 Verhalten des Menschen
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Grundsätzlich finden wir bei Vätern das gleiche Spektrum an Betreuungs- und Zuwendungsverhalten wie bei Müttern. Allerdings ist die Art des Spielens bei Vätern anders: Väter machen z. B. mehr Bewegungsspiele: bereits Säuglinge werden vom Vater stärker geschaukelt (Schleidt 1994). Die Vergleichbarkeit mit väterlichem Verhalten anderer Primaten ist äußerst problematisch, nicht nur weil einige Formen väterlicher Zuwendung bei nicht-menschlichen Primaten gar nicht auftreten, sondern auch weil es keinen Maßstab für die Äquivalenz von väterlichen Verhaltensweisen gibt (Taub und Mehlman 1992). Es macht zum Beispiel keinen Sinn, einen Affenvater, der eine Stunde mit seinem Kind interagiert, mit einem menschlichen Vater zu vergleichen, der seinem Kind eine Stunde lang aus einem Buch vorliest. Die Qualität und Quantität väterlicher Fürsorge variiert in Abhängigkeit von ökologischen bzw. ökonomischen und soziokulturellen Gegebenheiten ganz erheblich (Katz und Konner 1981). Die größte Nähe zwischen Vater und Kind finden wir in Wildbeuterkulturen, wie den!Kung San, und in Gesellschaften, die Hortikultur in Verbindung mit Fischerei betreiben, wie z. B. in Polynesien. In den industrialisierten Ländern sind in der jüngsten Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg deutliche Veränderungen der Vaterrolle zu beobachten, die mit dem sozialen Wandel, vor allem der Veränderung der Stellung der Frau in der Gesellschaft zusammenhängen. Väterliches Verhalten ist also insgesamt überaus plastisch und reicht von inniger Zuwendung bis hin zu völliger Verweigerung, irgendeine väterliche Aufgabe zu übernehmen. Grundsätzlich hängt das väterliche Elterninvestment nach der gängigen Elterninvestmenttheorie von der Vaterschaftssicherheit ab. Im Gegensatz zum weiblichen Säugetier, dessen verwandtschaftliche Beziehung zu den eigenen Kindern immer einhundert Prozent sicher ist, kann ein männliches Individuum nie sicher sein, dass der Nachwuchs auch sein eigener ist. Wenn Paarungsmuster und soziale Rahmenbedingungen die Vaterschaftssicherheit erhöhen, steigt auch das Potenzial für väterliche Fürsorgebereitschaft, weil das Risiko der „Fehlinvestition“ in ein Kind, das nicht die eigenen Gene weiter verbreitet, sinkt. Ausnahmen werden neuerdings über das Modell vom Paarungsaufwand erklärt: Männchen, die sich um Jungtiere bemühen, versuchen dadurch ihre Paarungschancen mit der Mutter zu erhöhen (Van Schaik und Paul 1996; Voland 2000). Auch beim Menschen gibt es Hinweise darauf, dass die Hypothese vom Paarungsaufwand zutrifft: Anderson et al. (1999) stellten fest, dass die Bereitschaft von Männern, in Kinder oder Stiefkinder zu investieren, davon abhängt, ob die Mutter die aktuelle Partnerin ist. Weder menschliche noch tierliche Eltern behandeln ihre Kinder gleich. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen zu der Frage, welche Formen und welche ultimaten Aspekte für das differentielle Elterninvestment zu finden sind. Als mögliche Ursachen kommen die allgemeinen ökologischen bzw. sozioökonomischen Rahmenbedingungen, das Reproduktionspotenzial der Eltern und das Reproduktionspotenzial der Kinder in Frage. Differentielles Elterninvestment äußerst sich in Bevorzugungen oder Benachteiligungen von Kindern, die unterschiedlichen Alters, unterschiedlichen Geschlechts oder unterschiedlichen Gesundheitszustandes sein können. Solche Bevorzugungen oder Benachteiligungen können verschiedene Formen annehmen: sie reichen von einer unterschiedlichen Zuwendung (z. B. Basu
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et al. 1986; Margulis et al. 1993; Scott und Duncan 1999) über eine bessere oder schlechtere materielle Ausstattung (z. B. Gaulin und Boster 1990; Mace 1996; Borgerhoff Mulder 1998), bis hin zur Kindstötung (z. B. Dickemann 1979; Irwin 1989). Zahlreiche Beschreibungen von differentiellem Elterninvestment lassen sich vor dem Hintergrund der soziobiologischen Theorie plausibel erklären. Aus der Vielzahl der Untersuchungen und Ergebnisse sollen hier einige exemplarisch referiert werden. Nach dem so genannten Trivers-Willard-Prinzip investieren Eltern mehr in Kinder desjenigen Geschlechts, das unter den gegebenen Bedingungen sein Reproduktionspotenzial effektiver ausnutzen kann. In der stark stratifizierten indischen Gesellschaft lässt sich eine sozialschichtabhängige Benachteiligung von Töchtern nachweisen. Söhne der oberen Sozialschicht werden besser ernährt und genießen eine bessere medizinische Versorgung als Töchter; und in der Zeit vor der Kolonisation durch die Engländer wurden viele neugeborene Mädchen getötet (Dickemann 1979; Basu et al. 1986). Mädchen aus der oberen Kaste lassen sich schlechter verheiraten als Söhne, daher wird weniger in Töchter investiert. Bei den Mukogodo in Kenia hingegen werden offensichtlich Mädchen bevorzugt: Cronk (1991) analysierte die Statistiken einer lokalen Arzneimittelausgabestelle und stellte fest, dass zwei Drittel der Mukodogo-Kinder, die medizinisch versorgt wurden, Mädchen waren. Die Töchter haben auf dem Heiratsmarkt bessere Chancen als die Söhne. Diese Bevorzugung drückt sich in einer verschobenen Sexualproportion aus: Bei den unter vierjährigen Kindern kommen auf 100 Mädchen nur 67,3 Jungen. Auch in westlichen Industrienationen ist der Trivers-Willard-Effekt untersucht worden: So stellten Gaulin und Robbins (1991) fest, dass in US-amerikanischen Familien der Anteil von Jungen, die gestillt werden, mit dem Familieneinkommen ansteigt; bei Mädchen hingegen konnte dies nicht beobachtet werden.
6.2.2
Kinderethologie – die Ontogenese menschlichen Verhaltens
Die Kindheit und Jugend sind jene Lebensphasen, in denen Verhaltensweisen heranreifen und erlernt werden. Unter Lernen, das in vielfältigen Formen vorkommt (s. Box 6.4), ist ganz allgemein die Modifikation von Verhalten in Folge von Erfahrungen zu verstehen (Campbell 1997). Dennoch ist ein Verhalten, das mit dem Älterwerden eines Kindes neu auftritt oder sich verändert, nicht zwangsläufig auf Lernvorgänge zurückzuführen. Vielfach müssen neuromuskuläre Reifungsprozesse vorausgehen, damit ein Verhalten entstehen kann. Außerdem sind 7 angeborene Prädispositionen, Reifungsvorgänge und Lernvorgänge bei der Herausbildung von Verhalten häufig eng miteinander verzahnt.
Kleinkinder erlernen z. B. je nach Herkunftsbevölkerung sehr verschiedene Muttersprachen, doch die Art des Spracherwerbs folgt trotz der unterschiedlichen Sprachen einem universellen Grundmuster. Das Erlernen der Muttersprache erfolgt in einer sensiblen Phase – in keinem späteren Lebensabschnitt fällt der Spracherwerb so leicht. Insgesamt stellt sich also die Verhaltensontogenese als ein überaus kom-
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489
plexes Geschehen dar, das sich speziell beim Menschen auch noch über einen sehr langen Zeitraum erstreckt, da die subadulte Lebensphase extrem ausgedehnt ist (s. Kap. 4.1.1, 4.1.3). Die Kinderethologie hat eine lange Forschungstradition. In den 1960er Jahren, als die Ethologie und besonders die Humanethologie von der „angeboren-versuserworben-Kontroverse“ geprägt war, konnte Eibl-Eibesfeldt (1984) durch seine Untersuchungen an Kindern, die gehörlos und blind zur Welt gekommen waren, zeigen, dass viele mimische Ausdrucksbewegungen, mit denen unterschiedliche Emotionen signalisiert werden, bei diesen Kindern in gleicher Weise zu beobachten sind wie bei Kindern, deren Wahrnehmung nicht eingeschränkt ist. Lernvorgänge können also nicht Grundlage der universell verständlichen Ausdrucksformen von Gefühlen wie Wut, Trauer oder Freude sein. Die enge Verknüpfung der Kinderethologie mit der Entwicklungspsychologie des Kindes hat eine umfangreiche Literatur zu proximaten Aspekten des kindlichen Verhaltens generiert. In den vergangenen zwanzig Jahren schließlich ist das Forschungsfeld dann um die Untersuchung ultimater Aspekte erweitert worden. Box 6.4: Lernen
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Lernen und Lernvorgänge zu klassifizieren. In der Ethologie wird häufig zwischen Konditionierung, Prägung, Habituation, Sozialisation und höheren Lernleistungen unterschieden (Franck 1997): • Das wohl bekannteste Beispiel für Konditionierung sind die Versuche, die Pawlow bereits um 1900 durchgeführt hat: Er regte bei Hunden durch Einsprühen von pulverisiertem Fleisch in die Schnauze den Speichelfluss an und kombinierte dies mit einem Geräusch. Durch assoziatives Lernen reagierten die Tiere nach einiger Zeit auch dann mit Speichelfluss, wenn nur das Geräusch erklang. Eine ähnliche assoziative Konditionierung ist bei vielen Menschen festzustellen, bei denen sich die Mundschleimhäute zusammenziehen, wenn sie einen anderen Menschen in eine Zitrone beißen sehen. • Auch für die Prägung gibt es ein Beispiel, das geradezu als Klassiker bezeichnet werden kann: Konrad Lorenz nahm kleine Graugansküken unmittelbar nach dem Schlüpfen in seine Obhut. Schon nach 24 Stunden folgten sie ihm und bevorzugten später stets Menschen. Prägung erfordert eine sensible Phase zur Entstehung und ist im Regelfall irreversibel. Der Spracherwerb beim Menschen ist zumindest teilweise ein Prägungsvorgang, und die Kenntnis der sensiblen Phasen ist von großer pädagogischer Bedeutung. • Unter Habituation versteht man das Abgewöhnen einer Reaktion auf einen Reiz, der entweder unwichtig ist oder bei dem das Ereignis nicht eintritt, das normaler Weise mit ihm verbunden ist. So reagieren Tiere nicht mehr auf einen Warnruf, der vor Beutegreifern warnt, wenn mehrfach der tatsächliche Angriff nicht erfolgte (Blinder-Alarm-Effekt). Die Habituation ist ein einfacher Lernvorgang, der auch bei niederen Tieren zu beobachten ist. Doch auch beim Menschen kommt Lernen durch Habituation vor. Bewohner eines Hauses an einer viel befahrenen Straße empfinden die Geräuschkulisse zunächst
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6 Verhaltensbiologie
als unangenehm, reagieren jedoch mit der Zeit immer weniger negativ auf die akustischen Reize. • Mit dem Begriff Sozialisation bezeichnet man die Lernvorgänge sozialer Lebewesen, die auf Interaktionen mit Artgenossen beruhen und die Integration eines Individuums in einen Sozialverband ermöglichen. Soziales Lernen spielt bei höheren Wirbeltieren und besonders bei Primaten eine große Rolle. Massive Störungen der Sozialisation, vor allem in kritischen Phasen, führen zu nachhaltigen Beeinträchtigungen bei den betroffenen Individuen. Bekannt sind die Untersuchungen an Rhesusaffen, die in völliger sozialer Isolation mit einer Stoffattrappe als Mutterersatz aufwuchsen (Harlow und Harlow 1962). Tiere und Menschen, die sozialem Erfahrungsentzug (Deprivation oder Hospitalismus) ausgesetzt waren, zeigen schwerwiegende Verhaltensstörungen wie z. B. Bindungsunfähigkeit, Teilnahmslosigkeit oder Bewegungsstereotypien. Die Sozialisation weist z. B. mit ihrer Abhängigkeit von sensiblen Phasen starke Parallelen mit der Prägung auf, allerdings sind Fehlentwicklungen – im Gegensatz zur Prägung – teilweise reversibel. • Unter dem Begriff höhere Lernleistungen lassen sich verschiedene Arten der Verhaltensmodifikation zusammenfassen, die besonders bei höheren Wirbeltieren zu beobachten sind. Hierzu gehören u. a. Lernen durch Einsicht, Spielen, Beobachtungslernen und Nachahmung. Die Fähigkeit, von Artgenossen z. B. durch Beobachtung und Nachahmung zu lernen, ist eine wichtige Voraussetzung für die Traditionsbildung. Solche höheren Lernleistungen setzen besondere kognitive Leistungen voraus. Ein bekanntes Beispiel für eine höhere Lernleistung mit anschließender Traditionsbildung ist die „Erfindung“ und anschließende Ausbreitung des Kartoffelwaschens bei den Makaken auf der japanischen Insel Koshima. Auch die Lernfähigkeit ist ein arttypisches Merkmal, und Homosapiens ist die Spezies, die zu den komplexesten Lernleistungen fähig ist. Da erlerntes Verhalten viel flexibler ist als angeborenes Verhalten, hat die außergewöhnliche Lernfähigkeit, die der Mensch im Laufe seiner Stammesgeschichte erworben hat, einen erheblichen Beitrag zu seiner Flexibilität und Plastizität beigetragen. Erlerntes Verhalten kann sich im Gegensatz zum angeborenen Verhalten viel schneller ausbreiten und außerdem nicht nur vertikal von Generation zu Generation weitergegeben werden, sondern sich auch horizontal in einer Population ausbreiten. Damit bilden Lernfähigkeit und Lernerfahrung die Grundlage für die kulturelle Evolution. Auch schwierig zu erlernende komplexe Sachverhalte oder Verhaltensstrategien, die in nur selten auftretenden Situationen erforderlich sind, können durch Lernvorgänge in Verbindung mit Tradition auf Dauer zum Bestandteil des Verhaltensrepertoires ganzer Populationen werden. Es herrscht weitgehender Konsens darüber, dass die verlängerte subadulte Lebensphase aus evolutionärer Sicht nötig ist, um eine „langeLehrzeitfürdaserfolgreiche Funktionieren als Erwachsener“ (Chasiotis und Keller 1992, S, 88) zu schaffen. Die Relevanz der frühen Kindheit für die Verhaltensentwicklung wird durch zahlreiche empirische Untersuchungen gestützt (s. z. B. Hassenstein 2001;
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491
Keller 2002). Das Verhalten und die kognitiven Fähigkeiten eines Kindes können als Lernphase für den späteren sozialen Erfolg betrachtet werden. 7 Die wahrscheinliche wichtigste Fähigkeit, die ein Mensch in der frühen Kindheit trainieren und erwerben muss, ist die Fähigkeit zur Errichtung sozialer Netzwerke, die Entwicklung der sozialen Kompetenz.
Letzte haben Grammer et al. (2002, S. 21) in Anlehnung an Hannson et al. (1984) sowie Kugler und Hansson (1988) als eine Eigenschaft des Menschen definiert, „dieeineAnpassungandiekomplexensozialenGefüge,indiewireingebettetsind, darstellt.SozialeKompetenzistdieFähigkeit,sozialeBindungenzuanderenanzuknüpfen,auszubauenundaufrechtzuerhalten“. Die amerikanischen Entwicklungspsychologen Gopnik et al. (2001, zit. nach Haug-Schnabel 2002), haben die Bedeutung von Kindheit und Jugend aus evolutionärer Perspektive sehr anschaulich zusammengefasst: „DieneueEntwicklungsforschungdeutetdaraufhin,dassunser einzigartigerevolutionärerTrick,unserwichtigstesAnpassungsinstrument,unsere besteWaffeimÜberlebenskampfebenunsereverblüffendeFähigkeitist,zulernen, wennwirBabyssind,undzulehren,wennwirerwachsensind.“ Grammer et al. (2002) haben diese Perspektive um eine weitere wichtige Erkenntnis erweitert. Sie haben vorgeschlagen, dass ein Kind durch die Entwicklung und das Erlernen von Verhalten nicht allein den Grundstein für seinen Erfolg im späteren Leben legt, sondern dass die soziale Kompetenz eines Kindes ihm schon im frühen Alter hilft, kritische Phasen zu überleben. Kritische Phasen sind die Geburt, die Entwöhnung und damit verbunden der Übergang aus der relativ stabilen und vorhersagbaren familiären Umgebung in die Gruppe der Gleichaltrigen (engl. peergroup) und die Phase unmittelbar nach der Geburt. Alle drei Phasen sind durch eine erhöhte Sterblichkeit gekennzeichnet. Die Einzelergebnisse aus den zahlreichen kinderethologischen Untersuchungen zu den verschiedensten Aspekten der Verhaltensontogenese hier zu referieren, würde den Rahmen dieses Buches sprengen; es sei daher auf die einschlägige Literatur verwiesen (z. B. Grammer 1995; Hassenstein 2001; Keller 2002).
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Sachverzeichnis
1950er-Jahre-Syndrom, 224 A Aasfressermodell, 59 AB0-System, 175 Abdominale, 428, 429 Abhängigkeitsquotient, 261 Aborigines, 54 Abort, 172, 332, 405, 409, 411 Abstand, genetischer, 182 Acetylcholin, 335, 336 Acheuléen-Industrie, 42 Achondroplasie, 318, 418 Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS), 218, 228, 234, 238, 243–248 Activin, 392, 394 Adaptation, 7, 23, 47, 50, 61, 65, 105, 157, 175, 199, 201, 203, 205–209, 213–216, 219, 221, 247, 258, 308, 321 an die Umwelt, 199 an Höhenlagen, 214 an Kälte, 203, 205 an Wärme, 203, 206 demografische, 200 des Verhaltens, 61, 62, 65, 199, 200, 209, 215 genetische s. Populationsgenetik ontogenetische, 199 Adipositas, 194, 206, 222, 238 Adoleszentensterilität, 322 Adoleszenz, 312, 315, 320, Adrenarche, 313, 322, 366, 369 Aegyptopithecus, 24 Afar-Region, 28, 35 African Replacement Model, 50 Afro-European Hybridization Model, 53 Afropithecus, 24, 25
AIDS, 218, 240, 243–247 Akklimatisation, 199, 213, 216 Akromiale, 428, 435 Akrosomreaktion, 400 Aktivität, sexuelle, 312, 328, 371–373, 375, 377, 385, 417 Aktivitätsmuster, 80, 100, 108, 161, 204–206 Akzeleration, säkulare s. säkularer Trend AL 288-1, 35 Albumin, 160, 220 Alkalose, respiratorische, 215 Allel, 158, 163, 165, 168, 177, 180, 326, 365 abstammungsidentisches, 178 autosomales, 167 defektes, 196 dominantes, 167, 216 Fixierung, 181 rezessives, 169, 178, 197 seltenes, 166, 170, 450 Allelfrequenz, 167, 169–171, 177–179, 181, 194, 218, 450 Allen’sche Regel, 209 Allia Bay, 34 Allometrie negative, 314 ontogenetische, 315 positive, 314 Alter biologisches, 273, 283, 302, 307, 309, 324–326 chronologisches, 127, 130, 309, 324, 326, 472 väterliches, 418 Altern, s. Alterung Alternstheorie, 278, 279, 326, 340, 350 stochastische, 342 Altersbestimmung, 127, 130, 443, 448, 450, 471–475 bei Erwachsenen, 123 bei Jugendlichen, 95
G. Grupe et al., Anthropologie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-25153-5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
551
552 bei Kindern, 95 beim Lebenden, 471 Altersdiagnose forensische, 448 morphologische, 448 odontologische, 448 Altersflecken, 329, 342 Altersgrenze forensisch relevante, 471 strafrechtlich relevante, 471, 472 Altersgruppe, s. Altersklasse Altersindex, 327 Altersklasse, anthropologische, 101, 309 Altersschätzung, auf Bildmaterial, 474 Alterssterblichkeit, 132 Altersstruktur, 231, 255, 261, 265, 273, 274 Altersverteilung, 120, 127, 129–131, 262, 275 Altersweitsichtigkeit, 330 Alterung biologische, 278, 283, 333 demografische, 231, 234, 273, 302 deterministische Theorie, 344 soziale, 283 Alterungsprozess, 152, 273, 278, 326, 333, 346, 373, 466 physiologischer, 423, 472 altrizial, 18, 67 Altrizialität, sekundäre, 18, 67, 308, 322 Altruismus, 482 reziproker, 483 Altweltaffen, s. Catarrhini Alveole (Zahnfach), 37, 91, 94 Alzheimer-Krankheit, 184, 331, 333–336, 345, 347 Ameloblast, 92, 93 Amelogenin, 93 Amerika, Besiedlungsgeschichte, 54, 55, 74, 156, 188, 190 Aminosäure, 81, 83, 109, 110, 141, 146, 181, 182, 184, 192, 195, 220, 349, 355, 449 Analyse allometrische, 314 anthropologische, 122, 123, 452 archäometrische, 135 evolutionsbiologische, 479 funktionsmorphologische, 60 mechanistische, 432 molekulargenetische, 157 morphognostische, 461 morphometrische, 462 paläopathologische, 115 Anämie, hämolytische, 172–174
Sachverzeichnis Androgen-Rezeptor-Gen, 361, 365 Androgen-Rezeptor-Protein, 361 Androgendefizit, 376, 414, 415 Androgene, 288, 313, 316, 317, 332, 356, 366–369, 374, 376, 392–394, 412–414 Androgenmangelsyndrom, 415, 416 Angeboren-versus-erworben-Kontroverse, 478 Angelman-Syndrom, 194 Animalkulisten, 392 Anomalien, chromosomale, 191, 344, 358, 407, 408 Anpassung, s. Adaptation Anthropologie angewandte, 419–475 biologische, 302 forensische, 302, 442 historische, 77 prähistorische, 72–161, 443 Anthropometer, 429, 430 Anthropometrie, 420, 427, 430, 442 klassische, 420, 428, 430 anthropomorph, 482 Anti-Mullerian-Hormone, 357, 361 Antioxidantien, 342 apikal, 95 APO-E Lipoprotein, 339, 347, 348 Apophyse, 101 Apoplexie, s. Schlaganfall Apoptose, 85, 184, 213 Arago, 46 Aramis in Äthiopien, 31 Arbeits- und Wohnumwelt, 419 Arbeitsplatz, Bedienelemente, 432 Arbeitswissenschaft, 420 Archäometrie, 137 Arche-Noah-Modell, 50 Ardipithecus, 24, 32 Ardipithecus kaddaba, 27, 33 Ardipithecus ramidus, 27, 31, 32, 62, 65, 70 Art, evolutionäre, 30 Artbegriff, 29, 30 Arterhaltung, 338, 478 Arteriosklerose, 333, 335, 337, 343, 347, 406, 407 Arthritis, 221, 336 Artkonzept, 29, 30 Asien, 24, 27, 46, 50, 55, 74, 157, 170, 171, 185, 187, 195, 201, 205, 206, 221, 230, 246, 275 Asparaginsäure, 449, 471 Assimilation Model, 53 Asylverfahrensgesetz, 471
Sachverzeichnis Atapuerca, 45, 46 Äthiopien, 28, 31, 35, 41, 42, 44, 46, 53, 216, 220 Atresie, 363, 393, 394 Aurignacien, 42, 72, 188 Ausdrucksbewegungen, mimische, 489 Ausländergesetz, 471 Australien, Besiedlung, 51, 54, 74, 170, 186 Australopithecinen, 27, 31, 33–36, 39, 41, 63, 66, 142 Australopithecinenradiation, 33 Australopithecus, 24, 31–33, 40, 49, 69, 184 Australopithecus afarensis, 27, 29, 32, 34, 37, 41, 63 africanus, 27, 34, 35, 39 anamensis, 27, 34 bahrelghazali, 27, 34, 36 boisei, 27 garhi, 27, 34, 35 habilis, 27, 29, 43, 66 rudolfensis, 27, 29, 39, 43, 66, 68 sediba, 27, 34, 36 Autapomorphien, 62 Autoimmunkrankheit, 335 Autokatalyse-Modell, 57, 66 Autosom, 163, 194, 378 Auxologie, 307, 475 B Bakterien, 97, 98, 111, 159, 171, 218, 219, 404, 406, 407 Baringo-Distrikt, 31 basic multicellular unit, 90 Bayes-Theorem, 198 Befruchtungsmembran, 398, 400 Beratung, genetische, 191, 197, 198 Bergmann’sche Regel, 209 Bering-Landbrücke, 55 Bestattung, 48, 54, 74, 76, 77, 83, 96, 98, 100, 114, 117, 118, 121, 122, 136, 159, 161 Betreuungs- und Zuwendungsverhalten, 487 Bettdecke, Wärmeisolationseigenschaften, 439 Betthöhle, Mikroklima, 439 Bevölkerung, s. auch Population, 50, 75, 79, 111, 117, 121, 156, 179 Altersstruktur, 234, 255, 262 Alterszusammensetzung, 261, 275 autochthone, 171, 179, 190, 201, 209 Geschlechtsstruktur, 255 Migration, 272 prähistorische, 113, 115, 120, 137 schrumpfende, 258
553 stabile, 136, 258, 281 stationäre, 135, 136, 258, 271 Bevölkerungsaufbau, 260 Bevölkerungsbestand, 226, 248, 255 Bevölkerungsbiologie, 163, 302 Bevölkerungsdichte, 218, 249 Bevölkerungsdynamik, 114, 115, 134, 233, 247, 254, 299 Bevölkerungsentwicklung, 230, 253, 286, 330 Bevölkerungsexpansion, 188, 189 Bevölkerungsexplosion, 252, 281 Bevölkerungsfortschreibung, 255, 270 Bevölkerungsgröße, 134, 232, 255 Bevölkerungskontrolle, 301, 303 Bevölkerungsmischung, 179 Bevölkerungspolitik, 247, 252, 301, 303 Bevölkerungsprognose, 301 Bevölkerungsprojektion, 301 Bevölkerungspyramide, 135, 226, 234, 245, 262 Bevölkerungsreproduktion, 136, 292, 294 Bevölkerungsrückgang, 226, 296 Bevölkerungssoziologie, 287 Bevölkerungsstruktur, 114, 115, 124, 226, 260, 263, 297 Bevölkerungsverteilung, 260 Bevölkerungswissenschaft, 251, 252 Bewegungsablauf, 432, 434, 435 komplexer, 435 Bewegungsbahn, 430, 432 Bewegungskurve, 432, 433 Bewegungsmaß, 427, 432 Bewegungsraum, 432 Bewegungsstereotypie, 490 Bewegungsunruhe, 438 Bewegungswinkel, 434 Bezahnung, 33, 37 megadonte, 37 Bildbegutachtung, vergleichendmorphologische, 443, 458 Bildgebung, 430, 431 Bilzingsleben, 46 Bindegewebe, 81, 85, 86, 91, 330, 343, 397, 402 Bindegewebszellen, s. Fibroblasten Biodemographie, 250 Biomechanik, 48, 81, 86, 90, 427 Biomorphose der Generationenfolge, 422 Biopurification, 152 Biospezies, 30, 156, 165, 198 Bipedie, 12, 26, 30–36, 63, 65, 68, 72, 323 adaptive Vorteile, 64 fakultative, 31, 64 habituelle, 22, 64, 183
554 Blastomer, 400 Blastozyste, 401 Blei, 147, 151, 409 Bleiisotope, 151 Blutdruck, 199, 328 Blutgruppen, 116, 164, 170–172, 181, 187, 200, 242 Blutgruppeninkompatibilität, 172 Blutzucker, 199, 328 Bodenleben, 64 Body Mass Index, 221, 328 Bodyscanning, 430 Bogengänge des Innenohrs, 64 Bohr-Effekt, 216 bone lining cell, 84 bone morphogenetic proteins, 83 bone remodeling, 85, 90 Bouri, 44 Boxgrove, 46 Brocasches Zentrum, 20 Bronzezeit, 77, 122, 131, 132 Brustkrebs, 333, 334, 339 Burn-out-Theorie, 349 C Calcitonin, 211 Calcium, 80–85, 96, 110, 147, 148, 152, 211, 214, 336 Caliper, 429 Caninus, 95, 96, 309 Carnivora, 4, 18, 67 Catarrhini, 5, 8 catch-up growth, 319 Cercopithecoidea, 5, 8, 24 Chaperon, 346 Chesowanja, 42 China, 42, 44, 45, 54, 226 Chiromyiformes, 5, 7 Cholesterin, 161, 328, 346, 347 Chondrozyt, 86 chopper tools, 41 Chorea Huntington, 192, 339 Chromosom, 54, 156, 163, 164, 170, 172, 175, 181, 187, 190, 192, 194–197, 213, 318, 332, 337, 347, 355, 356, 360–362, 370, 400 Chromosomenaberration, 318, 359, 403, 406, 407 Chronospezies, 30 Clincer, 99 Clovis-Kultur, 55 CNVs, 164 cold induced vasodilation (CIVD), 204
Sachverzeichnis Commission Européenne de Normalisation (CEN), 419 Computersuperposition, 454 Corpus luteum, 368, 394, 399, 404 Corticoide, 334 Coxale, 428 Crista sagittalis, 37, 38 Cumulus oophorus, 398, 400 Cystische Fibrose, 191, 194, 195 D Daktyloskopie, 447 Dali, 51, 52, 54 Datensammlung, anthropometrische, 425–427 Datierung, paläogenetische, 23 Daubert-Standard, 444 Dauerzähne, s. Dentes permanentes DAX-1-Gen, 356, 361 7-Dehydrocholesterol (7DHC), 209 Dehydroepiandrosteron (DHEA), 366, 368, 414 Dehydroepiandrosteronsulfat (DHEAS), 366, 368, 414 Dekomposition, 96–98, 107, 122, 138, 146, 153, 155, 447 Deltoidale, 428 Demenz, 192, 197, 333, 335 Demografie, 116, 124, 130, 191, 248, 258, 273, 353, 485 epidemiologische, 250 formale, 120, 127 historische, 119, 254 medizinische, 250 Denisova, 156, 157 Dentes decidui, 95 decidui, 92, 93, 96, 309 permanentes, 95 Dentin, 82, 91, 94, 103, 111, 449 Deprivation, 318, 490 Desmodont, 91, 94, 95, 104, 112 Deutsches Institut für Normung (DIN), 419 Diabetes, 112, 183, 221, 222, 336, 343, 407, 417 Diagenese, 97, 123, 146, 155 Diagnose, pränatale, 197, 198 Diaphyse, 89, 101 Differenzierung, sexuelle, 353–355, 357–359, 362, 368, 370, 377, 403, 404, 406 fetale, 358 Störungen, 358, 362 Diffusion Wave Model, 53
Sachverzeichnis Dihydrotestosteron (DHT), 358, 362, 368, 374, 376 1,25-Dihydroxycholecalciferol, s. Vitamin D DIN 33 402-1, 420 33 402-2, 420 33 402-3, 420 33 419, 426, 427 EN 547 (1-3), 420 Diskriminanzfunktion, 105 Diskriminationslernen, 67 Disposable-soma-Theorie, 344 DNA, 22, 138, 159, 160, 163, 165, 182, 213, 316, 342, 400, 444, 457 Analytik, 158, 447, 448, 457 Kern-, 343 konservierte, 154, 158 mitochondriale, 50, 54, 156, 158, 182, 186, 189, 196, 343, 400 Polymorphismen, 167, 200 rekombinierende, 186 Sequenz, 23, 157, 163, 165, 178 splicing, 165 Typisierung, 450 Dopamin, 336 dorsal, 13, 429 Drift, genetische, 48, 176, 181, 190, 198 Druckverteilung, 438 Dryopithecus, 24 Dryopithecus-Muster, 25 Duchenne-Muskeldystrophie, 196, 332 Ductus deferentes, 395 Duffy Blutgruppensystem, 169, 174, 242 Dysplasie, diastrophische, 177
E Eckzahn, s. Caninus Egoismus, 482 Eignung, s. Fitness Eileiter (Tuben), 362, 363, 394, 398–401, 404 Einnischung, ökologische, 33, 65, 138 Einzeller, 218, 391 Eisenzeit, 77 Eizelle, 194, 354, 355, 357, 369, 378, 389, 390, 393–395, 398, 399–401, 404, 408, 409, 413 Lebensphase, 354 Ejakularche, 312, 366, 369 Elastose, 329 Eltern-Kind-Beziehungen, 485 Elternaufwand, s. Elterninvestment
555 Elterninvestment, 16, 17, 379, 380, 387, 484, 485 differentielles, 331, 487 väterliches, 486 Elterninvestmenttheorie, 487 Elternstrategien, 484, 486 Embryo, 6, 86, 92, 197, 308, 316, 332, 353, 355–357, 361–363, 374, 378, 390, 393, 400–402, 408, 409, 486 Embryoblast, 401 Encephalisation, 15, 16, 24, 183, 184 Endemie, endemisch, 51, 171, 199, 238, 241–243, 272 England, 46, 57, 189, 284, 391, 445, 488 Entwicklungspsychologie, 489 Entwöhnung, 111, 143, 153, 320, 321, 349, 486, 491 Enzym, 84, 98, 110, 140, 152, 160, 164, 167, 170, 174, 195, 196, 200, 206, 213, 218, 242, 329, 342, 346, 349, 358, 362, 363, 374, 397, 400, 402 Enzympolymorphismus, 187 Eozän, 24 Epidemie, 170, 217–219, 238 Epidemiologie, 109, 159, 163, 198, 237–239, 246, 333 Epidermis, 209, 212 Epiphyse, 89, 101, 472 Epiphysenfuge, 89, 101, 369 Ergonomie, 420, 428, 440 Erkrankung alimentäre, 109, 111 autosomal-dominante, 192, 193 autosomal-rezessive, 192, 193, 195 degenerative, 107, 108 der Zähne, 104, 111 systemische, 407 X-chromosomal gebundene, 192, 194, 196 Ernährung, 25, 32, 33, 37, 63, 66, 70, 80, 86, 110, 141, 152, 161, 204, 209, 214, 219, 221, 229, 236, 247, 286, 312, 319, 330, 345, 364, 412, 455, 466 Ernährungsstrategien, 56–59 Erstgeburtsalter, 291, 298, 299 Erwachsene, 44, 68, 74, 90, 91, 94, 101, 105, 120, 125, 131, 172, 204, 207, 221, 312, 315, 319, 321, 389, 448, 473, 490 Erwachsenenalter, 17, 81, 102, 128, 131, 192, 213, 222, 271, 309, 312, 319, 325, 331, 337, 409, 411, 415, 426 Erythropoietin, 215 Erythrozyten, 170, 173–175, 242
556 Ethologie, 22, 488, 489 klassische, 477–480 Eurasien, 25, 43, 45, 51, 185, 187 Europa, Besiedlungsgeschichte, 24, 27, 45–48, 54, 73, 76, 109, 117, 156, 171, 187, 230 Europäisches Komitee für Normung, 419 Eva-Theorie, 50 Evolution der Kulturfähigkeit, 67 konvergente, 215 kulturelle, 75, 490 neutrale molekulare, 181, 198 Evolutionsökologie, 22, 45, 69, 289 Evolutionspsychologie, 479 Exon, 157, 165, 184 expensive-tissue hypothesis, 321 Expressivität, genetische, 192
F Fähigkeiten, kognitive, 16, 19, 41, 311, 321 Fahrerarbeitsplatz, 435 Fahrzeuginnenraum, Gestaltung, 424 Faktoren extrinsische, 278, 286, 324, 330 genetische, 336 intrinsische, 278, 285, 286 limitierende, 199, 200, 325 Favismus, 174 Fehlernährung, 95, 109, 219, 220, 236 Fehlschluss, naturalistischer, 480 Fekundität, 353, 370, 383, 410, 417 Feminisierung, testikuläre, 361 Fernwaffen, 42, 73 Fertilisation, 355, 394, 398, 401 Fertilität, 73, 113, 118, 136, 216, 228, 231, 248, 249, 263, 271, 275, 282, 289–295, 301, 322, 351, 352, 371, 380, 389, 409, 485 evolutionsbiologische Aspekte, 377 natürliche, 250, 353 soziale Determinanten, 295 Störfaktoren, 402 und Altersdifferenz, 295, 389 Fettgewebe, geschlechtstypische Verteilung, 422 Fettsäuren, 160, 222 Fetus/Fötus, 175, 211, 409, 444 Feuerbenutzung, 41, 42 Fibroblasten, 316, 318, 337, 348 Fibronectin, 82 Fingerabdruck, genetischer, 157, 167
Sachverzeichnis First Family, 35 fission-fusion society, 19 Fitness, 169, 244, 338, 339, 482 Darwin-Fitness, 483 direkte, 482, 483 Gesamtfitness, 18 indirekte, 483 reproduktive, 172, 388 Fitnessmaximierung, 387 genegoistische, 481, 484 Flaschenhalseffekt, 177, 185 Fleischverzehr, 67, 70, 409 Folivorie, 25 Follikelapparat, 357, 390 Follikelsprung, 399 Follikelstimulierendes Hormon (FSH), 317, 405, 409, 414 Foramen magnum, 13, 26 mentale accessorium, 106 nutritium, 88 Fortbewegung, suspensorische, 25 Fortpflanzung, s. auch Reproduktion, 80, 169, 195, 242, 251, 271, 294, 334, 339, 351, 370, 378, 413, 482 asexuelle, 377, 378 biparentale, 378 sexuelle, 163, 352, 377, 378, 380 Fortpflanzungsbiologie, 351, 353 Fortpflanzungserfolg, 339, 352, 379, 386, 481, 484 und Altersdifferenz zwischen den Ehepartnern, 389 und elterliches Investment, 387 und sozialer Status, 386 und väterlicher Status, 386 Fortpflanzungsfähigkeit, 413 Fortpflanzungsgemeinschaft, 29, 351 Fortpflanzungsverhalten, 258, 478 Fossil, 10, 22, 25–27, 30 fossil fuel effect, 142 Fossilisation, 96 Fotoidentifikation, 463, 471 Fragiles X-Syndrom, 192, 196 Fraktionierungsfaktor, 141 Fraktur, 107, 211, 336, 416, 447 Frankfurter Horizontale, 429 Frankreich, 46, 54, 72, 238, 284, 291, 303 Fruchtbarer Halbmond, 76, 116, 119, 234 Fruchtbarkeit, s. auch Fertilität, 30, 136, 168, 172, 226, 261, 271, 299, 350, 379, 408 Fruchtbarkeitsrate, 136, 231, 271, 272, 299 Früchtefressen, 8, 25
Sachverzeichnis FSH-Rezeptoren, 390, 392 Funktionsmorphologie, 26, 35, 60 Fürsorge, väterliche, 380, 487 Fürsorgeaufwand, 379, 380, 484 Fußabdrücke von Laetoli, 34, 63 Fußwinkel, 434 G G6PD-Mangel, 174 Gamet, 164, 167–169, 176, 355, 378, 394, 403, 410 Gang, aufrechter, s. Bipedie Gebiss, 7, 24, 30, 95, 101, 106, 112, 309, 311, 320, 337, 448, 472 Gebrauchstauglichkeit, 427, 441 Geburt, 8, 17, 18, 67, 119, 124, 132, 142, 194, 222, 228, 230, 232, 234, 248, 251, 255, 257, 261, 265, 279, 296, 308, 311, 352, 353, 363, 387, 402, 412, 486 Geburtenkontrolle, 217, 304, 305, 388 Geburtenrate, 117, 136, 137, 216, 226, 233, 234, 251, 258, 262, 271, 272, 281, 290, 297, 303, 352 Geburtenrückgang, 226, 290, 298, 387 Geburtenzahl, 226, 235, 236, 252, 263, 303 Geburtshilfe, 68 Geburtskanal, 68 Geburtskohorte, 257, 288, 293, 295, 331, 387 Geburtsvorgang, 15, 68, 104, 175 Gefangenen-Dilemma, 483 Geflechtknochen, 88 Gehirn, 6, 7, 15, 17, 33, 45, 63, 68, 184, 196, 207, 220, 222, 307, 312, 315, 334, 373, 410, 435 assoziativer Cortex, 15 Leistungsfähigkeit, 63, 321, 418 Gehirnentwicklung, 15, 56, 63, 68, 71, 184, 321 Gehirngewicht, 15, 16 Gehirnvolumen, 15, 37, 66 Gelenk, 89, 101, 106, 107, 211, 336, 343, 428, 430, 432, 434, 440 kompensatorische Bewegungen, 435 Gelenkbewegungen, isolierte, 434 Gelenkbewegungsbahnen, 430, 432 Gelenkdrehpunkte, 430 Gelenkfunktion, altersabhängige Unterschiede, 434 Gen, 83, 164, 165, 174, 177, 178, 181, 184, 191, 192, 195, 196, 242, 316, 332, 336, 339, 340, 346, 347, 350, 355, 356, 360–362, 385, 479, 481, 484
557 Genderforschung, 484 Genezareth, 53 Genfluss, 46, 48, 51–53, 156, 166, 180, 249, 319 Genfrequenz, 167, 173, 197, 339, 348 Genitalien, 355, 358, 361, 378, 474 Genom, menschliches, 163–165, 183, 184, 340 Genotyp, 166, 169, 175, 178, 222, 351, 361 Genpool, 53, 118, 165–170, 176, 181, 188, 198, 243, 481, 484 Georgien, 44, 330 Geräte, lithische, 41, 60, 71 Geröllgeräte, 39, 41, 66 Gerontologie, 325, 333 Gesamtfitness, 18 Geschlecht, 30, 79, 100, 104, 113, 121, 127, 161, 177, 248, 255, 261, 312, 315, 354, 363, 384, 484, 488 Geschlechter, 105, 107, 131, 190, 286, 322, 357, 361, 368, 377 Geschlechterverhältnis, 17 primäres, 332 sekundäres, 332 Geschlechtsbestimmung, 104 forensische, 446–449 molekulare, 157, 332 morphologische, 105, 114, 157, 448 Geschlechtsdetermination, 355 Geschlechtsdimorphismus, 34, 104, 105, 314, 322, 448, 485 Geschlechtsidentität, 355, 363 Geschlechtskrankheit, 239, 361 Geschlechtsmerkmale primäre, 317 sekundäre, 310, 312, 317, 366, 382, 406 Geschlechtsorgane, sekundäre, 310 Geschlechtsreife, 7, 17, 69, 357, 363, 390, 413, 423 Geschlechtsunterschiede, 279, 336, 355, 392, 424 Geschlechtsverkehr, 353, 354, 371, 375, 403 Geschwistertötung, s. Siblizid Gesellschaften, 19, 58, 220, 250, 261, 295, 382, 388, 410, 483, 487 industrielle, 252, 281, 331, 387, 486 kinderlose, 289 patriarchale, 57 prähistorische, 121 traditionale, 486 urbane, 77 vorindustrielle, 386 Gesicht, 32, 38, 47, 48, 181, 363, 380, 382, 452, 455, 460, 465, 467 Gesichtsgestaltung, zeichnerische, 452
558 Gesichtsrekonstruktion, 451, 452 computergestützte, 454 plastische, 452, 454 Gesichtssinn, 7 Gesichtssymmetrie, 383 Gesichtsweichteilrekonstruktion, 444, 451, 453, 455 Gestaltwandel, 310, 313, 314 Gesundheitswesen, s. Public Health Gibbon, 5, 8–10, 12, 17, 18, 25 Gingiva, 91, 95 Gleitzirkel, 429 Gloger’sche Regel, 212 Glucose, 213, 216, 220, 349 Glutamin, 172, 192 Glycin, 81 Glycoprotein ZP3, 400 Glykosylierung, 343, 350 GnRH-Produktion, 415 GnRH-Pulsgenerator, 367 Gompertz-Verteilung, 284, 326 Gonadarche, 366, 367 Gonaden, 317, 318, 355–361, 366, 368, 371, 373, 390 Gonadotropin, 317, 367, 368, 390, 412, 413, 415 gonadotropin releasing hormone (GnRH), 317, 367, 405 Gonosom, 163–165, 361 Gorilla, 3, 5, 6, 8, 11, 12, 18, 25, 40, 62, 164 Gorilla gorilla, 9, 70 Gorillini, 26 Graaf-Follikel, 392, 393, 399 Grabungstechnik, 123 Gran Dolina, 45 Granulosazellen, 390, 392, 393, 399, 400, 414 Gravettien, 72, 73 Grazilisationsprozess, 105 Greifraum, 420 Greifweite, 420, 429, 432, 433 Greifweitenkurven, 432 Griechenland, 24, 46, 120, 172, 225 Griffe, 437 Griphopithecus, 24 Großmutter-Hypothese, 18, 331 growth factors (GF), 316, 318, 346 growth hormone (GH), 316, 346 growth hormone-releasing hormone (GHRH), 316 Gründereffekt, 177, 190, 191, 195, 198 Grundumsatz, 15, 204, 205, 315 Gruppe, monophylethische, 4, 8, 10 Gruppenselektion, 59, 478 Gutachten, anthropologisch-forensisches, 451
Sachverzeichnis H Habituation, 489 Hadar, 41 Haifa, 53 Hämatokrit, 328 Hämoglobin, 23, 164, 172, 184, 214–216, 242, 343 Hämophilie, 192, 196 handy man, 39 Haplorrhini, 4–7 Haplotyp, 165, 174, 175, 183, 185, 187–190, 195 Hardy-Weinberg-Gesetz, 167, 168, 178, 180, 195, 197, 198 Hautfarbe, 200–202, 212 Hautkrebs, 212 Hautleisten, 6, 8, 470 Havers-Kanal, 88, 89, 91, 97, 102 Havers-System, 88 Hayflick-Limit, 348 Heidelberg, 46 Helminthen, 218 Hemizygotie, 165, 174, 192, 194 Heparinsulfat-Proteoglykan, 334 herbivor-polyphag, 67 Herkunft, ethnische, 249, 260, 450 Herkunftsbestimmung, 147 Hermaphroditen, 361 Hermaphroditismus verus, 361, 362 Herto, 53 Herz-Kreislauf-Erkrankung, 234, 288, 333–335, 339, 383 Herz-Kreislauf-System, 221, 334, 418 Herztod, 308 Heteroplasmie, 196 Heterozygoten-Nachteil, 175 Heterozygoten-Vorteil, 170, 173, 174, 218 Heterozygotie, 158, 165, 166, 169, 170, 192, 319 Hilarzellen, 414 Hirnschädelvolumen, 32, 34, 35, 38–40, 44, 47, 49, 50 Hirntod, 308 Histogenese, kausale, 86, 90, 91 Hitzschlag, 207 HIV, s. AIDS HLA-Polymorphismen, 174, 218 HLA-System, 164 Hochaltrigkeit, 276 Höhenkrankheit, 214, 215 Holozän, 24, 105 Hominidae, hominid, 5, 8–10, 18, 19, 25, 26, 28, 62, 65, 67, 70, 175, 185 Hominidenevolution, 10, 18
Sachverzeichnis Homininae, hominin, 5, 9, 13, 22–43, 49, 50, 54, 60, 71, 156, 170 Hominini, 61, 62, 64, 70, 71 Hominisationsmodell, 59–62, 69–71 Hominisationsszenarien, 56, 66 Hominoidea, 5, 7–9, 12, 17, 18, 20, 23–25, 31, 64, 379 Hominoidea, 10, 16, 18–21, 24, 25, 30–34, 41, 56, 60–62, 66–68, 170, 182, 321, 480 Homo antecessor, 27, 38, 39, 45, 46 erectus, 27, 38–46, 49, 50, 54, 55, 64, 186 ergaster, 38–40, 42–46, 51, 52, 68 floresiensis, 27, 45, 49, 50 georgicus, 27, 38, 39, 44, 45 habilis, 19, 27, 29, 38–42, 44, 45 heidelbergensis, 27, 38, 45, 46, 157 neanderthalensis, 23, 38, 39, 42, 43, 45–50, 54, 105, 156, 189 rudolfensis, 28, 29, 38–41 sapiens, 3, 4, 6, 8, 23, 24, 26, 27, 33, 38, 39, 42, 45–50, 52–56, 68, 72, 76, 156, 163, 169, 176, 183–186, 189, 198, 200, 248, 320, 321, 490 archaischer, 54 idaltu, 27, 53 neanderthalensis, 39, 46 Homöobox, 316 Homöostase, 84, 199, 312, 325 Homozygotie, 165, 169, 170, 172, 178, 197, 347, 385 Hospitalismus, 490 Human Genome Project, 165 Humanethologie, 489 Humansoziobiologie, 480 Hutchinson-Gilford-Syndrom, s. Progeria infantilis Hyaluronidase, 400 Hydroxylapatit, 80, 81 Hydroxyprolin, 81 Hylobates, s. Gibbon Hylobatidae, 5, 8, 9, 25, 70 Hypokinese, 336 Hypophyse, 207, 316, 317, 334, 367, 368, 370, 371, 377, 390, 392–395, 403–406, 409–413, 415 Hypothalamus, 203, 316, 317, 334, 363, 364, 367, 368, 370, 404, 405, 410 Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse, 371, 394, 395, 403, 404, 409, 411, 415 Hypothalamus-Hypophysen-System, 367 Hypothermie, 203–205 Hypoxie, hypobare, 214, 216
559 I Identifikation, 138, 146, 155, 157, 160, 372, 444, 446, 448, 450, 463, 470, 474 Identifizierung unbekannter menschlicher Leichenfunde, 442, 443 Identitätsprüfung, morphologische, 456, 460–462, 465, 470 Identitätswahrscheinlichkeit, 461, 464 IGF 1, 316, 317, 346, 367–369, 392, 393 2, 317, 392, 394 Immunantwort, Immunregulation, 171, 241, 332–334, 349 Immunsystem, 191, 221, 243, 333, 334, 345, 385, 397, 405 Implantation, 389, 398, 401 Imprinting, genetisches, 194 Incisivus, 96, 309 Individualentwicklung, 68, 69, 249, 302, 307, 413, 478, 485 Industrialisierung, 77, 222–224, 226, 235, 251 Industrieanthropologie, 302, 419 Industrieanthropologie, methodisches Basisinventar, 427 Infantizid, 137, 478, 482 Infektionserkrankungen, 108, 112, 159, 219, 225, 318 Infertilität, 359, 383, 402, 403, 407, 410 von Frauen, körperliche Faktoren, 403 von Männern, körperliche Faktoren, 405 Prävalenz, 402 Influenza, 218, 219, 240 Inhibin, 393, 394 Insectivora, 4, 67 Inselmodell, 179 Instinkt, 478 Insulin, 181, 182, 222, 316, 343, 346, 349 insulin-like growth factor (IGF), 316, 346, 368, 369, 392–394 Intelligenz, instrumentelle, 56, 57, 66 Interesse, sexuelles, 371–376 Intergeburtenabstand, 17, 18 International Standards Organisation (ISO), 419, 426, 441 ISO 15 537, 427 interspersed repeat, 164 Interstitium, 81, 83, 85, 356, 395, 397 Intestinaltrakt, 213, 220, 321 Intron, 165, 182 Inuit, 171, 205, 209, 214, 219 Investment elterliches, s. Elterninvestment in Nachkommen, 17, 293, 338–341, 374, 423, 425, 427–429 Involution, 423, 424
560 Inzidenz, 238, 239, 241, 327, 416 Inzuchtkoeffizient, 178 Isolatbevölkerung, 124, 136, 272 isolated GH deficiency (IGHD), 318 Isotope, stabile, 67, 114, 121, 135, 139, 140, 146, 147, 151, 451 Isotopeneffekte, kinetische, 160 Isotopenfraktionierung, 140, 145, 147 Israel, 47, 48, 53
J Jagd, 42, 66, 71 Jagdmodell, 57, 69 Jäger und Sammler, s. Wildbeuter Java, 44 Jugend, jugendlich, 15–17, 22, 45, 146, 488, 491 Jugendalter, 101, 108, 192, 222, 312 Jugendliche, 101, 105, 125, 307, 309, 320, 332, 353, 364, 426, 448, 471 magersüchtige, 370 Jugendstrafrecht, 471 Jungpaläolithikum, 42, 72, 73, 75, 76, 161
K Kanapoi, 34 Kandelaber-Modell, 50, 52 Kardiovaskuläres System, s. Herz-Kreislauf-System Karies, 111, 112 Kauapparat, 35, 94 Kaukasus, 44 Kaumuskulatur, 33, 37, 48, 184, 453 Kebara, 48 Keimzellen, 356, 378, 394, 395, 405, 407, 484 Entdeckungsgeschichte, 389, 390 primordiale, 414 Kenia, 28, 31, 36, 38–42, 488 Kenngrößen, statistische, 425 Kenyanthropus platyops, 27, 29, 38 rudolfensis, 29 Kenyapithecus, 24, 25 Kernfamilie, monogame, 59, 70 Khoi San, 185, 187, 207 Kieler Puppe, 439 Killeraffe, 57 Kinase, 346, 349 Kinderdefizit, 122 Kinderethologie, 488 Kinderlosigkeit, 295, 296, 402, 411
Sachverzeichnis Kindersterblichkeit, 123, 131, 170, 232, 233, 242, 246, 247, 251, 274, 280, 295, 305 Kindesalter, 110, 129, 195, 211, 213, 220, 222, 315, 331, 332, 336 Kindestötung, s. Infantizid Kindheit, 16, 146, 149, 195, 308, 310, 311, 318, 322, 363, 366, 488, 491 frühe, 101, 149, 172, 286, 309, 311, 490 verlängerte, 15, 18, 22, 320, 323, 351 Kladogenese, 4, 34, 50 Kleinkind, 21, 105, 111, 117, 122, 125, 126, 153, 202, 221, 241, 310, 320–322, 351, 365, 380, 435, 488 Kleinwuchs, 49, 216, 316–318, 360 Klettern, 31 Klima, eiszeitliches, 47, 74 Klimakterium, 413, 414, 416 Klimaökologie, klimaökologisch, 64 Klinefelter-Syndrom, 407, 417 Kniewinkel, 434 KNM-ER 1470, 38, 40, 68 1813, 40 KNM-WT 15000, 45, 68 40000, 38 Knochen, 25, 26, 31–35, 41, 42, 47, 49, 56, 66, 72, 74, 75, 78, 80, 88–91, 93, 95, 97–99, 101–105, 107–111, 122, 145, 147–150, 155, 211, 315, 316, 336, 360, 416, 451 Zusammensetzung, 80, 82, 84, 86 Knochenabbau, 83–85, 90, 91, 111, 123 Knochenanalyse makroskopische, 446 mikroskopische, 446 Knochenaufbau, 80, 82, 85 Knochenbau, trajektorieller, 90 Knochendichte, 333 Knochenmanschette, perichondrale, 86, 88 Knochenmaß, 422 Knochenmineral, 81, 84, 85, 99, 152, 153 Kohlenstoff, 99, 139–141, 451 Kohlenstoffisotope, 141, 144 Kohortenanalyse, 257 Kollagen, 80, 81–84, 93–95, 97, 110, 138, 139, 141–147, 154, 161, 329, 343, 447 Komfort, subjektiver, 428, 437 Komfortempfinden, 428 Komfortwinkel, 435 Kommunikation, 18, 20, 21, 61, 178, 179, 368, 370, 378, 380, 410 sprachliche, 48
Sachverzeichnis Kompakta, 89, 97, 102 Kompetenz, soziale, 16, 320, 491 Konditionierung, 489 Konduktion, 203 Kontaktfläche, 215, 428, 437 Kontaktflächenmessungen, 436 Konvektion, 203 Konzeptmodell, 62 Koobi Fora, 38, 40 Kooperation, 58, 61, 70, 443, 471, 475, 483 Koprolithen, 55, 75 Körperendhöhe, 312, 313, 316, 319, 320, 322, 351 Körperfett, 204, 220, 315, 320, 361, 364, 382, 383, 412 Körperform, 205, 206, 208, 307, 427, 431 Körpergewicht, 6, 12, 14–16, 67, 69, 204, 207, 221, 312, 315, 379, 382, 411, 412, 420, 423, 435, 472 Körperhaltung, standardisierte, 428, 435 Körperhöhe, 37, 38, 44, 45, 47, 68, 100, 105, 209, 313, 314, 318, 319, 328, 382, 420, 422, 429, 435, 446, 463, 465, 467, 472 Körperkern, 145, 203–207, 209 Körpermaß, 312, 320, 420, 422–425, 427–430, 462 Körpermessdaten, 421, 422, 424, 428, 436 geographische Variabilität, 421 Körperproportionen, s. Proportion Körperschale, 203, 204, 206 Körpersitzbreite, 421, 422, 429 Körpertemperatur, 145, 203, 210, 220, 349, 439 Körperwinkel, 434 Körperwinkelketten, 420, 428, 434–436 Korrelationskoeffizient, 425 Korrelationsmatrix, 425 Kortikalis, 89, 90, 108 Kosten biografische, 294, 297 energetische, 17 metabolische, 67 ökonomische, 294 Kraniometrie, 78 Krankheitsbelastung, s. Morbidität Kultur, 1, 15, 16, 19, 20, 22, 42, 54, 68, 72, 75, 76, 84, 107, 199, 200, 204–210, 216, 223, 232, 244, 247, 253, 260, 272, 279, 320, 323, 337, 348, 364, 371, 379, 380, 383, 386, 442, 480, 485, 487 osteodontokeratische, 56, 57 Kulturfähigkeit, 19, 20, 56, 58, 67
561 Kulturrevolution, 67 Kulturstufen, 72, 76, 118 Kulturtradition, bei Schimpansen, 60 Kulturwissenschaften, 1, 22, 71, 78, 80, 138, 139, 441, 477 Kunst, 48, 56, 73, 74, 387, 454 Kupferzeit, 76 Kwashiorkor, 220 Kypholordosometrie, 436
L Laetoli, 34, 63 Laktase, 158, 213 Laktasepersistenz, 158, 169, 214 Laktose, 213 Laktoseintoleranz, 213 Laktosetoleranz, 158, 213, 214, 221 Lamellenknochen, 88 Lateralisation der Sprachzentren, 20, 41 Lautsprache, symbolbegriffliche, 56 Le Moustier, 42 Lebensalter biologisches, 324, 327, 472 chronologisches, 324, 327 Lebensbedingungen, 102, 105, 113, 123, 125, 126, 128, 130, 225, 229, 232–237, 240, 244, 274, 277, 279, 287, 298–301, 319, 324, 333, 337, 351, 365, 451 Lebensdauer, 17, 69, 82, 84, 91, 94, 139, 278, 321, 331, 341–343, 345 Lebenserwartung, 17, 18, 119, 120, 124, 131, 136, 137, 222, 228, 231–235, 243, 246, 265, 267–271, 276–280, 299–302, 324, 326, 330, 333, 334, 336, 337, 347 Geschlechtsunterschied, 279 Lebenslauf, 15–18, 39, 69, 115, 233, 249, 287, 295, 296, 321, 324–327, 444, 445, 451, 466, 481 Lebenslaufdaten, individuelle, 442 Lebensspanne, 16, 125, 302, 311, 312, 321, 324–327, 330, 334, 336, 338, 340–342, 344, 345, 348, 349, 352, 480, 485 Lebensweise, arboreale, 61 Lebenszyklus, 307 Leiche, 98, 442, 443, 445–447, 451, 452, 455, 475 Leichenbrand, 98–100 Leichenschatten, 96, 123 Leichenverbrennung, 74, 77, 96, 122, 161, 447
562 Lemuriformes, 4, 5, 7 Lepra, 108, 109, 175, 218, 239, 240 Lernen, 20, 21, 60, 296, 308, 320, 323, 385, 488–490 assoziatives, 489 Lernleistungen, höhere, 489, 490 Leydig-Zellen, 357, 358, 367, 368, 394, 395, 397, 411 Libido, 354, 371–375, 408, 409, 413, 416, 417 Life-History, 16, 17, 115, 232 Lipide, 335, 342, 398 Lipofuscin, 329, 342 Lokomotion, 12, 26, 64, 65, 91 bipede, s. Bipedie fakultativ suspensorische, 35 Lokomotionsapparat, der Australopithecinen, 64 longevity assurance gene 1 (lag-1), 346 Longitudinalstudie, 312, 313 Lorisiformes, 5, 7 Lucky-Mother-Hypothese, 50 Lucy, 35 Lunge, 109, 207, 215, 328, 347 Luteinisierendes Hormon (LH), 317, 367, 368, 392, 395, 405 Luteolyse, 394 Lymphozyten, 334, 349 Lysosomen, 329 Lysozyme, 218 M Magdalénien, 72 Mahlzähne s. Molaren Major Histocompatibility Complex (MHC), 164, 385 Makapansgat, 59 Makrophagen, 84, 334 Malaria, 107, 172–174, 218, 220, 234, 238–243 Malawi, 40 Malthus, Thomas Robert, 225, 251, 252 Mangelernährung, 67, 220–222, 318, 451 Manikin, 439 Marasmus, 220 Maskulinisierung, 358, 360, 363, 414 Maßband, 429, 430 Maßdefinitionen, 420 Maße, dynamische, 248, 432 matching probability, 157 Materialeigenschaften, 428, 437, 438 Matratze, 427, 428, 437, 438 Matrixvesikel, 83, 85 Mauer, bei Heidelberg, 46, 47
Sachverzeichnis maximum life span potential (MLP), 330 Meadowcroft, Pennsylvania, 55 mechanostat, 90 Medianalter, 228, 231, 262, 275 Melanin, 212, 213 Melanosom, 212 Melanozyt, 212 Menarche, 249, 271, 312, 315, 319, 322, 361, 363–367, 411, 412, 475 Mendel-Population, 166 Menopause, 18, 249, 271, 334, 336, 352, 390, 411, 413–415 Mensch-Maschine-Schnittstelle, 426 Menschenaffen, s. Hominoidea Menschmodelle, 427, 428, 439, 440 Menstruation, 217, 312, 315, 360, 371, 372, 382, 384, 388, 404, 412, 413 Merkmale abgeleitete, s. apomorphe apomorphe, 4, 64, 68 kraniodentale, 39, 66 plesiomorphe, 4 ursprüngliche, s. plesiomorphe Merkmalsfrequenz, epigenetische, 450 Merkmalskontinuität, 51, 52 Merkmalsmosaik, 31, 32, 37, 38, 40, 49, 64 Mesolithikum, 75, 76 Messgeräte, 428 Messmethodik, 428 Messpunkt, 428, 430, 431, 435, 440 anthropometrischer, 429 definierter, 428 Messsystem kamerabasiertes, 430 laserbasiertes, 430 Messtechnik, Probleme, 432 Messverfahren, berührungsloses, 427 Metaphyse, 89 mid-growth spurt, 311, 313, 322, 366 Migration, 121, 135, 138, 146, 162, 178, 179, 181, 198, 228, 242, 248, 257, 272, 273, 289, 301, 304, 424, 425, 464, 471 Mikroglia, 334 Mikroklima, 204, 427, 428, 437–439 Milchzähne, s. Dentes decidui, 30, 81, 83, 84, 272 Milieutheorie, 478 Mineralisation, 81, 83, 101, 103, 112, 416, 448, 472 mini growth spurts, 318 Miozän, 23–25, 30 Mittelalter, 77, 83, 97, 102, 109, 143, 153, 161, 225, 274, 386
Sachverzeichnis Mittelpaläolithikum, 42 Modellbevölkerung, 124, 126, 129, 130, 133 Modellorganismen, 325, 340, 344, 347, 349 Modjokerto, 44 Molar, 25, 33, 37, 53, 93, 95, 96, 101, 149, 309, 473 Monogamie, 19, 59, 70, 388 Monte Verde in Chile, 55 Moorleichen, 75, 78, 97 Morbidität, 106, 109, 138, 209, 237, 248, 327, 334 Morbus haemolyticus neonatorum, 175 Morphospezies, 29, 30 Mortalität, 17, 108, 115, 117, 118, 130, 135, 136, 240, 248, 249, 263, 265, 266, 271, 301, 304, 335, 383 Mortalitätsrate, 132, 211, 246, 258, 267, 283–285 Mortalitätsrisiko, 209, 220, 270, 311, 334, 339 mortality rate doubling time (MRDT), 285 Morula, 401 Mostly Out-of-Africa Model, 53 Moustérien, 42, 74 Mukoviscidose, 194, 195 Müller’sche Gänge, 357, 358, 404 Multimorbidität, 334, 340 Multiregionale Hypothese, 50, 51 Mumie, 75, 78, 97 Muskelatrophie, 220, 333 Muskelfibrillen, 330 Muskelzellen, 330 Muskulatur, 14, 33, 37, 48, 184, 203, 220, 221, 323, 382, 410, 416, 453, 454 Mutation, 23, 50, 155, 164–167, 169, 174, 176, 181, 184, 187, 188, 191, 195–198, 212, 318, 332, 337–339, 344, 346, 350, 364, 370, 378, 409, 417 Mutationsakkumulation, Theorie der, 339 Mutationsrate, 23, 164, 166, 169, 181, 197, 417 Mutter, 18, 68, 117, 142, 172, 175, 196–198, 211, 225, 233, 242, 260, 261, 272, 291–299, 322, 331, 341, 352, 380, 389, 403, 409, 411, 418, 486, 487 Mutter-Kind-Beziehung, 486 Muttermilch, 111, 143, 153, 212, 213, 217, 311, 320, 321 Müttersterblichkeit, 232, 234, 280 N Naher Osten, 42, 46, 188 Nahrungsnetz, 142, 144, 162
563 Nahrungsspezialisierung, 219 Nahrungsteilung, 58, 61 Nahrungsteilungsmodell, 59, 69 Nariokotome, Junge von, 44 Natur-Kultur-Antinomie, 480 Naturphilosophie, 252 Neandertaler, s. Homo neanderthalensis Nebenhoden, 357, 358, 361, 395, 397, 398, 405, 408, 409 Nebennierenrinde, 313, 329, 366–368, 374, 410, 414 Neolithikum, 76, 105, 116–119, 195, 223, 234 neonat, s. Neugeborene Neonatallinie, 94, 153 Neonatalperiode, 311 Nervensystem, sympathisches, 204 Neugeborene, 16, 18, 68, 126, 131, 153, 157, 175, 195, 196, 204, 213, 216, 220, 233, 253, 265, 270, 274, 308, 310, 314, 322, 355, 380, 423, 488 Neugeborenensterblichkeit, 216 Neuguinea, 54, 186, 187, 348 Neuweltaffen, s. Platyrrhini Neuzeit, 75, 77, 129, 161 Ngandong, 44, 51, 52 Nikotinkonsum, 410, 411 non-collagenous protein (NCP), 81–83, 160 non-insulin dependent diabetes mellitus (NIDDM), 222 Norepinephrin, 204 Normen, 16, 232, 295, 366, 419, 420, 426 Normung, 419 Nussknackermensch, 37 Nutzerpopulation, 419, 421, 427 O Obduktion, rechtsmedizinische, 443, 451 Oberflächen/Volumen-Verhältnis, 47, 204–206, 208, 209 Objekt-Subjekt-Identität, 57, 60 Odontoblast, 92, 94, 155 Odontostomatologie, forensische, 447 Ohr-Augen-Ebene, s. Frankfurter Horizontale Ökologie, 62, 139, 199, 258, 477–479, 481 Ökosysteme, anthropogene, 139, 223, 225, 247 Oldowan-Industrie, 41 Olduvaischlucht, 28, 37, 39, 42 Olecranale, 428 Oligozän, 24 Omnivorie, 18, 32, 66, 142, 147, 219 Omo, 37, 41 I, 53 II, 53
564 Ontogenese, 16, 17, 307, 310, 314, 320, 338, 351, 355, 432, 488, 491 Oogonien, 356–358, 390 Oozyten, 357, 390, 399, 413 Orang Utan, 5, 8, 9, 11, 18, 19, 24, 25, 60 Oreopithecus, 25 Organisation soziale, 61, 63, 69–72, 82 zerebrale, 63 Orrorin tugenensis, 25, 27, 31 Ossifikation desmale, 86 enchondrale, 86, 88 perichondrale, 86 Ostafrika, 27, 34, 36, 37, 39, 41, 43, 187, 230, 245 Ostafrikanischer Grabenbruch, 31, 36 Osteoblast, 82–86, 88, 90, 91 Osteocalcin, 82 Osteoclast, 83–85, 90, 91, 110 Osteoid, 81, 83, 84, 86, 211 Osteologie, 78–80, 105, 442 Osteomalazie, 211 Osteometrie, 105 Osteon, 83, 88, 89, 97, 102, 103 Osteonectin, 82 Osteoporose, 85, 90, 108, 333, 334, 336, 337, 416 Osteozyt, 83–85, 91, 94 Östradiol, 368, 371, 372, 391, 393, 414 Östrogen, 85, 90, 217, 316, 317, 333, 334, 336, 339, 361, 366–370, 372, 383, 392, 393, 399, 403, 409–415 sexuelle Reaktion, 372 Östrogenproduktion, 361, 368, 392, 414 Östrogensubstitution, Sexualverhalten, 373, 374 Ouranopithecus, 24, 25 Out-of-Africa-Hypothese, 50, 51, 53, 190 Ovar, 317, 354, 357, 358, 363, 366–369, 390, 392, 393, 399, 403, 404, 411, 413–415 Ovisten, 392 Ovulation, 369, 371, 372, 385, 390, 393, 399, 403, 404, 410 P Paarbindungsmodell, 56, 59, 69, 70 Paarung, assortative, 177, 178, 198, 319 Paarungsaufwand, 487 Paarungsmuster, 59, 70, 487 Paarungsstrategie, 59 Paarungssystem, 19, 59
Sachverzeichnis Paarungsverhalten, 69 Paläodemographie, 113 Paläoepidemiologie, 159 Paläogenetik, 23, 117 Paläolithikum, 42, 72–76, 105, 116, 161, 188 Paläopathologie, 106, 160 Paläopopulationsgenetik, 116, 154, 155, 158, 159 Paläothermometer, 145 Paläozän, 24 Pan, s. auch Schimpanse Pan paniscus, 10, 62 Pan troglodytes, 10, 62 Pandemie, 238 Panini, 25, 26, 30, 61 Panmixie, 165, 167, 168 Paradigmenwechsel, 119, 323, 479 Parameter, demografischer, 113, 123, 125, 127, 134, 231, 248, 259, 289 Paranthropus, 26, 27, 33, 35–37, 156 aethiopicus, 27, 36 boisei, 27, 37, 39, 43 crassidens, 37 robustus, 27, 35, 37 Parathormon, 84, 110, 211 Parodontopathie, 111, 112 Partnerwahl, 165, 167, 177, 179, 295, 338, 380, 382–386, 485 Partnerwahlstrategien, 385, 386 Patellare, 428 Pathologie, forensische, 447 Pavian, 61 peak height velocity (PHV), 313 Pebble-tools, 66 Pendejo-Höhle in New Mexico, 55 Penetranz, genetische, 192 perinatal, 132, 264, 265, 331 Periodenanalyse, 257, 258 Perzentile, 420, 421, 435, 439, 440, 475 Pest, 107, 108, 144, 159, 171, 218, 239, 291 Petralona, 46 pH-Wert, 83, 97, 98, 111, 151, 199, 216, 223 Phänotyp, 83, 163, 166, 169, 172, 175, 177, 192, 197, 199, 201, 202, 213, 214, 316, 320, 326, 340, 351, 355, 358, 359–361, 363, 443, 467, 481 Phase, sensible, 488 Phenylalanin, 195 Phenylketonurie (PKU), 195 Phosphatase, alkalische, 83, 160 Phrenologie, 78 Phylogeographie, 190, 198 Pigmentierung, 212, 213, 473, 474 Plasmodium falciparum, 172–174, 218
Sachverzeichnis Platyrrhini, 5, 8, 24, 170 Plazenta, 6, 153, 175, 242, 402 epitheliochoriale, 6 hämochoriale, 6 Plazentalia, 67 Pleiotropie, antagonistische, 339 Pleistozän, 24, 25, 56, 63, 105, 118, 176 Pliozän, 24, 30, 33 Pocken, 171, 172, 218, 239, 240 Polyandrie, 19 Polygamie, fakultative, 70, 386 Polygynie, 19, 380 Polymorphismus, 158, 166, 170, 213, 214 Polymorphismus, balancierter, 172 Polyzytämie, 215, 216 Pongidae, 8, 25 Ponginae, 5, 9, 23–25 Pongo pygmaeus, 70 Pongo, s. Orang Utan Population, 17, 20, 23, 30, 49–51, 53, 54, 60, 61, 73–75, 77, 79, 80, 84, 104, 106, 111, 113, 115–120, 124, 127, 128, 130, 134, 136, 139, 142, 146, 152–161, 163, 200–205, 209, 212–214, 217–223, 237–239, 243, 246–251, 258, 262, 266, 272, 284, 312, 321, 323, 327, 352, 362, 382, 383, 415, 419, 425, 431, 463, 473, 481, 490 Definition, 201 heterogene, 180 ideale, 167 Populationsdichte, 139, 176 Populationsentwicklung, 168, 225 Populationsgenetik, 116, 155, 163 Populationsgröße, effektive, 118, 176, 185 Populationskonzept, 79, 201 Populationswachstum, 124, 135, 216, 225–233, 243, 252, 282, 304 Porphyria variegata, 177 Prader-Willi-Syndrom, 194 Prägung, 358, 489, 490 Präimplantationsdiagnostik, 197 Prämolar, 8, 36, 37, 95, 96, 104, 309 Prävalenz, 238, 243, 244, 246, 288, 335, 402 Primärfollikel, 357, 390 Primary African Origin Model, 52 Primaten, 3–7, 10, 12, 15, 16, 18, 20–24, 41, 48, 61, 64–71, 74, 170, 182, 200, 202, 203, 243, 307, 312, 320–323, 335, 345, 351, 379, 485–487, 490 fossile, 24 Merkmale, 4, 6 Ordnung/Systematik, 3–5
565 Primordialfollikel, 357, 360, 390, 403, 408, 411, 413 Proconsul, 24, 25 Produktivität, einer Spezies, 307 Produktprüfung, 427 Progeria infantilis, 336, 337, 348 Progesteron, 317, 368–371, 374, 394, 399, 403, 404, 413 Sexualverhalten, 371 Prognathie, alveolare, 37 Prolin, 81, 93, 109, 110 Pronation, 434 Pronucleus, weiblicher, 398, 400 Proportion, 14, 26, 35, 36, 43, 44, 49, 100, 105, 125, 128, 200, 201, 208, 209, 261, 308, 310, 313, 314, 319, 332, 360, 378, 424, 437, 462, 463, 465–467, 472, 474, 475 Proportionsverschiebungen, Körperbau, 319 Prostaglandine, 333, 397 Prostata, 357, 397, 416 Protein-error-Theorie, 350 Protein-Kalorie-Mangel, 220 Proteine, nicht-kollagene, s. NCP Proteinmangel, 220 Protogynie, 362 proximal, 102, 428, 472 proximat, 217, 326, 340, 344, 353, 354, 478, 486, 489 Pseudogene, 182 Pubarche, 366, 367, 369 Pubertas praecox, 370 tarda, 366, 370 Pubertät, 102, 271, 310, 312–314, 317, 322, 353, 357, 361, 363–370, 373, 375, 383, 386, 390, 394, 405, 407, 412, 417, 418 Beginn, 364 Pubertätsentwicklung, Störungen, 370 Pubertätsgynäkomastie, 369 Public Health, 237, 266 Pulpa, 91, 92, 94 Puls, 328, 367, 404, 410, 415, 416
Q Qafzeh-Höhle, 53 Qualitätssicherung, forensische Diagnostik, 472 Querschnittstudie, 312
566 R Rachitis, 110, 211 Radiale, 428, 435 Radiation der Hominini, 24, 33, 65 der Hominoidea, 23 Radikale, freie, 342, 343, 348–350 RAMSIS, 439 Rapamycin, 345, 349 Rasse, 79, 200–202, 247, 253, 254 Rassenpolitik, 252 Rassismus, 200, 202 Rate-of-living-Theorie, 350 Raumklima, 438, 439 Razemisierung der Asparaginsäure, 449, 471 Reaktionsnorm, 199 5α-Reduktase-Mangel, 362 Referenzmodell, 61, 62 analoges, 61 homologes, 61 Referenzpopulation, 120, 127, 128, 130, 327, 474 Regional Coalescence Model, 52 Reichweite, 420, 432 Reifung, 16, 18, 83, 88, 93, 102, 128, 181, 216, 307, 351, 366–368, 371, 390, 394, 395, 398, 403–405, 411, 414, 426, 448, 472–475, 488 sexuelle, 316, 353, 363, 370, 473 Reifungszeichen, sexuelle, 473, 474 Replacement-Hypothese, 50 Repräsentanzschätzung, 124, 125 Reproduktion s. auch Fortpflanzung, 16, 30, 32, 69, 142, 153, 169, 179, 217, 221, 294, 297, 307, 321, 338, 350, 353–355, 378, 379, 385, 386, 402, 414, 483–485 Reproduktionspotenzial, 487, 488 Reproduktionsrate, 136 Reproduktionsstrategie Frauen, 379, 389, 484 Männer, 380, 389 Reproduktionsverhalten, 70, 153, 297, 352, 384 Reservekapazität, 329, 339 Ressourcen, 16, 65, 72, 118, 147, 199, 200, 206, 223, 225, 229, 232, 236, 251, 273, 283, 286, 304, 307, 321, 338, 352, 379, 380, 386, 389, 478, 482 Ressourcenkonkurrenz, 418 restriction length fragment polymorphism (RFLP), 164 Rete Testis, 395, 397
Sachverzeichnis Retzius-Streifen, 94 Revolution, demografische, 124 Rhesus-Faktor, 175 Rhesus-System, 164, 174 Römerzeit, 77 Röntgenuntersuchung, forensische Altersbestimmung am Lebenden, 473 Rostocker Manifest, 127 Rot-Grün-Blindheit, 332
S Sahelanthropus tchadensis, 25, 31, 32, 36 Saint Acheul, 42 Samentierchen, 391 Sammlerin, 58 Sammlungen, anthropologische, 78–80 Sammlungs-Trennungs-Gesellschaft, s. fission-fusion-society Sauerstoff, 97, 99, 110, 139, 145, 215, 342, 451 Sauerstoffisotope, 144, 146 Sauerstoffpartialdruck, 199, 214 Säugetierei, 392 Säugling, 67, 117, 122, 125, 126, 143, 153, 242, 274, 310, 320, 321, 380, 486 Säuglingssterblichkeit, 125, 129, 131, 232–234, 263–266, 274, 300 Schimpanse, 3, 5, 8, 9, 10, 12–22, 24, 25, 31, 56, 60–62, 164, 183–185, 189, 202, 243, 315, 321 Schlafverhalten, 439 Schlaganfall, 334, 335 Schmelzhypoplasie, transversale, 94, 112, 113 Schmelzorgan, 92 Schmelzprismen, 94 Schnittstelle Mensch/körperunterstützendesSystem, 420, 427, 437, 438 Schwangerschaft, 17, 132, 142, 175, 197, 220, 232, 234, 296, 331, 332, 352–354, 356, 357, 370, 379, 380, 383, 388, 390, 394, 395, 399, 402, 404, 405, 409, 410, 444, 451 Schwarzer Schädel, 36 Schwefel, 139, 140, 147 Schwefelisotope, 139 Schweiß, 145, 195, 203, 207, 208, 384, 385, 439 Schwestergruppe, 4, 7 Schwitzen, 145, 206–208, 428, 438, 439 Sekundärfollikel, 390, 392
Sachverzeichnis Selektion, 60, 121, 123, 167, 169, 170, 172, 175, 180, 181, 198, 206, 217, 243, 244, 249, 270, 323, 338, 463, 479, 481 dichteabhängige, 175 frequenzabhängige, 175 intersexuelle, 379, 484 intrasexuelle, 379, 484 sexuelle, 379, 388, 484 Selektionsdruck, 18, 60, 65, 167, 174, 181, 183, 184, 242, 320, 338 Selektionsnachteil, 171, 212 Selektionsvorteil, 12, 58, 107, 109, 171, 172, 175, 195, 206, 208, 212, 218, 317, 322, 338, 478 Seneszenz, 283–285, 312, 323–325, 339, 344, 350 Senilität, 325 Sertoli-Zellen, 357, 358, 368, 394, 395, 397, 407, 409 Serumprotein, 81, 190, 164, 167, 220, 398 Sex Determining Region Y (SRY), 355 sex reversal, 360, 361 Sexualdimorphismus, s. auch Geschlechtsdimorphismus, 19, 32, 35, 37, 40, 70, 378, 379, 422, 431 Sexualhormon, 316, 332, 334, 339, 353, 366, 368, 370–374, 376, 377, 390, 394, 395, 409, 413–415 Sexualität, 372–374, 376, 377 Sexualproportion, s. auch Geschlechterverhältnis, 261, 488 Sexualverhalten, 240, 246, 370, 371–376 und Hodenunterfunktion, 375 und Testosteronsubstitution, 374, 375 short tandem repeats (STR), 157, 164 SHOX Gene, 316 Siblizid, 478 Sichelzellanämie, 164, 172, 173, 242 Siebung, 177 Siedlungsbevölkerung, 126, 128, 134 single nucleotide polymorphism (SNP), 164 Single-stressor-Modell, 200, 221 Sitzbreite, 421–423, 425, 429 Sitzdruckverteilung, 438 Sitzhaltung, 436, 438 Sitzhöhe, 422–425 Sitzriese, 425 Sivapithecus, 24, 25 Skelett, 13, 25, 26, 32–36, 44–46, 53–55, 63, 68, 74, 81, 86, 87, 89, 90, 95, 96, 154, 211, 220, 309, 317, 336, 366, 411, 428, 430, 440, 471
567 Skelettfund, 46, 54, 74–80, 95, 96, 98, 100, 111, 113, 114, 131, 138, 142, 145, 148, 151–154, 157–162 Skelettkollektiv, 105, 111, 121, 122, 158 Skhul-Höhle, 53, 54 Solutréen, 72 Somatic-mutation-Theorie, 344, 350 Somatostatin, 316 Somatotropin, s. growth hormone Sonderbestattung, 121, 122 Sonderstellung des Menschen, 10, 12, 22 Sonnenbrand, 207, 213 Sozialisation, 489, 490 Sozialsystem, 18, 480 Sozialverhalten, 70, 478, 479 Soziobiologie, 297, 477, 479–482 Spanien, 45–47, 151, 291 Spermatogenese, 194, 359, 368, 371, 394, 395, 407–409 Spermatogonien, 356, 357, 363, 394, 395, 408, 417 Spermatozoen, 317, 353, 354, 359, 378, 394, 395, 397–400, 405, 408, 409, 411, 417, 418 Spermatozoon, artspezifische Bindung, 395 Spermien, 168, 363, 390, 392, 394, 395, 398–400, 404–406, 408, 410, 411 Überlebenszeit, 398 Spermienselektion, 399 Spermiogenese, 394, 410, 411 Spermium, 354, 355, 377, 389, 398, 400, 408 hyperaktivierte Motilität, 400 Kapazitation, 398–400 Sphyrion, 428 Spiegelneurone, 21 Spiel, 21 Spieltheorie, 483 Spongiosa, 89–91, 102 Sprache, 15, 20–22, 61, 177, 183, 414, 482 Spracherwerb, 488, 489 Sprachfähigkeit, 20, 48 Sprachlateralisation, 41 Sprachzentren, 20, 22 Spurenelemente, 85, 109, 147, 152, 153, 349 SRY-Gen, 355–357, 360–362 Stammbaum, 29, 186, 187, 192–194, 197, 198 Stammesgeschichte, 22, 155, 183, 191, 213, 219, 453, 490 Status, sozialer, 386, 388, 486 Steinwerkzeuge, 36, 41, 42, 49, 50, 57, 58, 65, 66, 72, 76, 160 Stellung der Frau in der Gesellschaft, 487
568 Sterbealter, Diagnose, 90, 95, 101, 104, 115, 120 Sterbealtersverteilung, 128–130, 135, 136 Sterbemaximum, 123 Sterberate, 48, 115, 117, 125, 132, 171, 172, 226, 230, 252, 258, 262, 265, 266, 272, 277, 278, 281–285, 300, 326, 334 Sterberisiko, 125, 126, 131, 132, 233, 260, 264, 265, 274, 275, 278, 288, 325, 331, 344 Sterbetafel, 120, 124, 130–136, 254, 258, 266–268, 270, 271, 276, 284, 300, 330, 334 Sterbewahrscheinlichkeit, 123, 126, 129, 131–133, 263, 267–270, 274, 283, 285, 330 Sterblichkeit, s. auch Mortalität, 113, 115, 117, 125, 130, 133, 136, 143, 170, 216, 218, 226, 230, 233–236, 242, 249–251, 257, 263–267, 270, 274–276, 280–289, 299–301, 324, 332–334, 491 Steroide, 160, 161, 209, 368, 395, 401, 404 Stichprobe, 134, 158, 180, 255, 257, 270, 327, 365, 372, 377, 380, 388, 389, 425, 430, 434, 439, 463, 474 repräsentative, 256, 425–427 Zusammensetzung, 327 Stickstoff, 139, 140, 142, 143, 451 Stickstoffisotope, 143 Stilldauer, 117, 142, 318 Stillen, 242, 311, 321, 354, 383, 403, 404 Stoffwechsel, 84, 109, 112, 141, 147, 164, 177, 182, 195, 203, 204–207, 215, 220, 307, 308, 314, 329, 333, 346, 350, 399, 418 Stoffwechselrate, 182, 204, 220, 314 Strafgesetz, 471 strafmündig, 443, 471 Strahlung Infrarot-, 203, 209 ionisierende, 408, 409 ulteviolette (UV), 199, 209 Strategie „Tit for Tat“, 483 Elternstrategie, 484, 486 Fortpflanzungsstrategie, 388 K-Strategie, 485 Lebenslaufstrategie, 481 r-Strategie, 232, 485 Verhaltensstrategie, 250, 353, 482, 483, 485, 490 Strepsirrhini, 4–8
Sachverzeichnis Stromazellen, 83, 414 Strontium, 147–153, 451 Strontiumisotope, 148–150 Struktur, soziale, 32, 56, 62, 69–71, 119, 287, 303 Stylion radiale, 428 ulnare, 428, 435 Südafrika, 27, 36–38, 59, 177, 185 Südostasien, 24, 54, 185, 187, 246, 247, 281, 446 Sulcus calcarinus, 6 Superfemales, 360 Superoxid-Dismutase, 342 Superpositionsverfahren, 455, 465 Supination, 434 Süssmilch, Peter, 225, 251 Sylvische Furche, 6, 20 Symbolsprache, 20, 21 Symptom, vasomotorisches, 416 Syphilis, 108, 171, 239 System, körperunterstützendes, 427, 428, 436–438 Systematik biologische, 4, 29 phylogenetische, 4, 9, 25, 30 T Tabellenwerke, statistische, 426, 439 Tansania, 28, 41, 63, 383 Taphonomie, 96, 114 Tarsiiformes, 4, 5, 7 Tasmanien, 54 Tasterzirkel, 429 Taung, Kind von, 33, 35 Tay-Sachs-Krankheit, 177 Telarche, 367, 368 Telomerase, 349 Telomere, 337, 348, 349 Temperatur, 43, 98, 99, 110, 145, 182, 199, 200, 203–207, 220, 349, 411, 438 terrestrisch, 12, 61, 64, 143, 147 Testis-Determinierender Faktor (TDF), 355, 361 Testosteron, 288, 317, 354, 357–363, 366–369, 371–377, 392–395, 405, 406, 409, 411, 412, 414–417 Testosteron-Mangel-Syndrom, 414 Testosteronproduktion, 358, 374, 376, 394, 395, 405, 407, 409, 412 Testosteronspiegel, 357, 360, 361, 372, 373, 375–377, 383, 415, 416 Theka-Zellen, 392, 393
Sachverzeichnis Thermogenese, zitterfreie, 204, 205 Thermografie, 437 Thermoregulation, 64, 65, 145, 203, 205, 317, 437, 439 Thomson’s Regel, 209 thrifty genotype, 222 Thüringen, 46, 298 Thyroxin, 316 Tibiale, 428 Tier-Mensch-Dichotomie, 60 Tod biologischer, s. Hirntod klinischer, s. Herztod Todesursache, 100, 115, 161, 175, 234, 239, 243, 274, 279, 283, 285, 304, 331, 332, 334, 348 Tomes-Fortsatz, 92 Traditionsbildung, 67, 490 Tragfähigkeit der Erde, 225, 251 Transferrin, 158, 160, 164, 181 Transformationstheorie, 281, 282 Transpiration, s. Schwitzen Transvaal, 35 Traufbestattungen, 122 Trend, säkularer, 319, 320, 351, 364, 365 Tricalciumphosphat, 99 Trinil, 44 Trisomie, 21, 191, 342, 418 Trivers-Willard-Prinzip, 488 Trophiestufe, 142, 143, 147, 152 Trophoblast, 401 Tschad, 31, 36, 221, 231, 234 Tuberkulose, 108, 109, 218, 234, 239, 240, 244, 451 Tubuli seminiferi, 395, 397 Turkana Boy, 44, 45 Turkanasee, 28, 38, 43 Typologie, 79, 164, 200, 202 Typologiekonzept, 79, 200 U Überaugenwulst, 38, 43, 46 Überbevölkerung, 220, 223, 224, 251, 252 Übergang, demografischer, 118, 226, 263, 281, 282, 287, 305 Überlebenskapazität, 324, 330 Überlebensvorteil, 48, 339 Überlebenswahrscheinlichkeit, 130, 132, 268, 269, 283, 285, 323, 481, 484 Überlebenswert, 479 Übertragungsraten-Hypothese, 243 Uhr, molekulare, 10, 23, 169, 182, 198 Ullrich-Turner-Syndrom, 360
569 ultimat, 113, 217, 326, 338, 344, 478, 479, 482, 487, 489 Umgebung, körpernahe, 427 Umweltforschung, historische, 225 Umweltstressoren, 199, 200, 217, 219, 220 Unfallschutz, 419 Ungarn, 46, 189, 292, 389 Ungleichheit, soziale, 286 Uniformitätsprinzip, 115 Unterschenkellänge, 422, 424, 425 Untersuchung körperliche, 459, 472 zahnärztliche, 472 UR 501, 40 Ur-Eva, 156, 185 Urbanisierung, 223, 235, 237, 247 Urgeschlechtszellen, 356 Urgonaden, 356–358 Usbekistan, 47 V Variabiliät, intraspezifische, 40 variable number of tandem repeats (VNTR), 164 Vasodilatation, 204–206, 208 Vasokonstriktion, 204, 205 Vater, 59, 164, 172, 175, 183, 194, 261, 294, 328, 341, 352, 359, 365, 377, 380–382, 386, 389, 417, 418, 443, 486, 487 Vaterrolle, 294, 487 Vaterschaftsdiagnose, morphologische, 443 Vaterschaftssicherheit, 379–381, 487 Ventilation, 208, 215, 216 Verbreitung, demische, 243 Vergleich, interkultureller, 486 Verhalten, 16, 18, 61, 67, 75, 89, 140, 161, 199, 202, 307, 312, 323, 370–378, 477, 478, 480 evolutionäre Geschichte, 478 funktionale Aspekte, 481 generatives, 233, 250, 352, 387, 485 kulturelles, 16, 480 menschliches, kulturelle Überformung, 480 menschliches, Plastizität, 480, 490 Modifikation, 307, 488, 490 Ontogenese, 488, 491 Prädispositionen, 488 Selektionsvorteil, 478 sexuelles, 240, 246, 370–378 Sozialverhalten, 69, 70, 479 väterliches, 365, 487 Werkzeugverhalten, 60
570 Verhaltensanpassung, 199, 200, 204–209, 215, 216, 247 Verhaltensbiologie, 62, 247, 289, 419, 442, 477 Verhaltensforschung, vergleichende, 337, 477 Verhaltensökologie, 62, 70, 249, 477, 479 Verhaltensstrategien, 250, 353, 482, 485, 490 Verlangen, sexuelles, 371, 372 Verstädterung, s. auch Urbanisierung, 234, 235 Verstellmöglichkeiten industriell gefertigte Güter, 421 Vértesszöllös, 46 Verwandtenehe, 177, 178, 198 Verwandtenselektion, 483 Verwandtschaftsanalyse, 155 Verwandtschaftskoeffizient, 178, 482 Vindija-Höhle, 156 Virchow, Rudolf, 286 Viren, 217, 218, 244, 406, 407 virgin soil syndrome, 218 Vitalität, 327, 414 Vitalkapazität, 328 Vitamin C, 109–111, 342 D, 84, 110, 111, 209, 212 E, 342 Vokalsprache, 20, 22 Völkerwanderungszeit, 77 Volkmann-Kanal, 89 Vulnerabilität, 330, 332, 338 W Wachstum, 7, 16–18, 63, 67, 69, 74, 89, 92, 97, 101, 124, 211, 216, 220, 226, 228, 236, 247, 282, 307, 318, 334, 351, 369, 400 allometrisches, 313, 314, 319, 351 isometrisches, 314 postnatales, 308, 311, 316 Wachstums- und Reifungsmuster, 318, 320, 322, 426 Wachstumshormon, s. growth hormone Wachstumsrate einer Bevölkerung, 135, 224, 230, 243 individuelle, 311, 313 Wachstumsretardation, 220, 221, 319, 336 Wachstumsschub, puberaler, 68, 102, 313, 317, 367, 369 Wachstumsstandard, 318 Wahlund-Effekt, 180 Wandel, demografischer, 272, 287, 289, 298 Wanderungsbilanz, 135, 273, 298 Wasserstoff, 97, 139, 140, 147
Sachverzeichnis Wasserstoffisotope, 146 wear and tear-Theorie, 343, 344, 350 Weichteildicken, altersstandardisierte, 452 Weichteilmaß, 422, 430 Weltbevölkerung, 169, 224–231, 234–236, 241, 247, 251, 259, 266, 275, 304 Welternährung, 224 Werkzeug, 19, 20, 41, 47, 56, 60, 66, 77, 112, 133, 321 Gebrauch, 19, 41, 56 Herstellung, 19, 32, 39, 42, 43, 65, 72 Verhalten, 19, 20, 60 Werner-Syndrom, 337, 348 Wernickesches Zentrum, 20 Wildbeuter, 61 Wildbeuterkulturen, 58, 72, 217, 218, 223, 321, 487 Willandra Lake, 55 Winkelketten, 420, 428, 434–436 Wirbelsäulenkontur, 436 Wirkursache s. proximat Wolff’sche Gänge, 357, 358, 361 Wolff’sches Gesetz, 90 World Health Organisation (WHO), 237, 240, 241, 265, 304, 318, 402 Wright-Effekt, 176 Wurfgröße, 7, 8, 17, 308, 485 Wurzelhaut, s. Desmodont Wurzelzement, 82, 89, 91, 94 X X-Chromosom, 164, 185, 190, 192, 194, 196, 197, 318, 331, 332, 355, 356, 359–361, 365 Inaktivierung, 332 XYY-Männer, 359 Y Y-Chromosom, 157, 163, 164, 183–186, 190, 191, 316, 355, 358–361, 407 Polymorphismen, 190, 191 Z Zahn, 20, 26, 30–38, 49, 54, 56, 67, 74, 75, 80, 91–96, 106, 109–111, 148, 149, 343, 344 Zahnbein, 91 Zahnbogen, 34, 35 Zahndurchbruch, 95, 101, 103, 448, 472 Aufbau, 91 Entwicklung, 91
Sachverzeichnis Zahnfleisch, 91 Zahnfollikel, 92 Zahnhals, 95 Zahnhalteapparat, 91, 92, 104, 111, 112 Zahnkeim, 92 Zahnmorphologie, 25, 32, 33, 36, 44 Zahnpapille, 92 Zahnschmelz, 26, 30, 34, 38, 67, 82, 91, 93, 111, 146, 153, 450 Zahnwechsel, 95, 101, 112, 307 Zahnzement, Zuwachsringe, 89, 94, 95, 102, 103, 451 Zeichenschablonen, 439 Zeitverständnis, 56 Zellteilung, 316, 330, 337, 345, 348, 349, 377, 395, 417 Zementoblast, 94, 95
571 Zerebralisation, 15, 63, 67, 71 Zervikalmukus, 399 Zeugungsfähigkeit, 353, 405, 411, 417 Zhoukoudian, 42, 44, 51, 52 Zinjanthropus boisei, 27 Zittern, 203–205, 336 Zona pellucida, 398, 400, 401 Zona-Rezeptor, 395, 400 Zoonose, 107, 117, 218, 219 Zufallspaarung, 165, 167, 180 Zuordnung, taxonomische, 26, 29, 71 Zweckursache, s. ultimat Zygote, 167–169, 176, 194, 354, 377, 389, 398, 400, 403 Zyklus Störungen, 315, 410, 412 weiblicher, 352, 369, 371, 374, 384, 390