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German Pages 248 Year 2022
Monika Albrecht, Anastasía Antonopoúlou (Hg.) Anthropogene Klima- und Umweltkrisen
Lettre
Monika Albrecht (apl. Prof. Dr.) ist Kulturwissenschaftlerin an der Universität Vechta. Ihre Forschungsschwerpunkte sind vergleichende postkoloniale Studien (westlicher, sowjetischer und osmanischer Imperialismus), Memory Studies und die Politik der Erinnerung. Anastasía Antonopoúlou (Prof. Dr.) lehrt am Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und vergleichende Literaturwissenschaft (mit besonderem Schwerpunkt in den deutsch-griechischen Literaturbeziehungen sowie in den intermedialen Beziehungen).
Monika Albrecht, Anastasía Antonopoúlou (Hg.)
Anthropogene Klima- und Umweltkrisen Griechisch-deutsche Beiträge zu Ecocriticism und Environmental Humanities
Gefördert vom DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amtes (AA)
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Inhalt
Einleitung: Griechisch-deutsche Beiträge zu Ecocriticism und Environmental Humanities Monika Albrecht und Anastasia Antonopoulou ...................................... 9
Ökokritische Aspekte in der griechischen Literatur Einführende Betrachtungen Anastasia Antonopoulou ............................................................. 17
Humanities for the Anthropocene? Am Beispiel der Auseinandersetzung mit Dirk C. Flecks Das Tahiti Projekt Monika Albrecht ..................................................................... 39
Die Klimakrise in der Jugendliteratur Am Beispiel von Christoph Scheurings Sturm und Saci Lloyds Umweltroman Euer schönes Leben kotzt mich an! Michael Hofmann .................................................................... 55
Ökokritische Stimmen aus der Sicht eines Kindes Die Umweltfrage in der griechischen Kinderliteratur Konstantina Tsonaka ................................................................ 67
Zwischen Dystopie und Heterotopie Imaginationen des Meeres im zeitgenössischen deutschsprachigen und griechischen Drama Nikolaos-Ioannis Koskinas ........................................................... 85
Ecological concerns in contemporary Modern Greek short fiction Titika Dimitroulia ................................................................... 105
Das poetische Wort als Rettung vor dem Aussterben Überlegungen zu den Novellen Μαύρο Νερό (2019) und Η Θάλασσα (2020) von Michalis Makropoulos Elli Carrano ..........................................................................121
From Nature to Technology On George Lambrakos’ Prose Iordanis Koumasidis ................................................................ 137
»Schlaf, Persephone, in den Armen der Erde« Ein philosophischer Kommentar zu Nikos Gatsosʼ »Der Albtraum der Persephone« Kosmas Raspitsos ....................................................................141
Unsichtbare Zusammenhänge Die Bedeutungslosigkeit des Klimawandels für den fossilen Autoritarismus Manuel Clemens .....................................................................151
Von der Umwelt- und Klimakritik zum Kritischen Humanismus Oliver Kozlarek ...................................................................... 167
»Zur Bildung der Erde sind wir berufen« Zur Aktualität des poetischen Naturverständnisses der Frühromantik Georgios Sagriotis .................................................................. 189
Anthropocene Gaze: Neue Bilder auf die Welt im Zeitalter des Menschen Jonas Nesselhauf ...................................................................203
Gesellschaftsentwürfe in zeitgenössischen griechischen Ökothrillern Am Beispiel von Nikos Komninos und Manolis Palavouzis Sofia Kokkini ........................................................................ 217
»Literatur und Ökologie« – aus der Sicht griechischer Schriftsteller .................................................................... 227
Autorinnen und Autoren .................................................. 241
Einleitung: Griechisch-deutsche Beiträge zu Ecocriticism und Environmental Humanities Monika Albrecht und Anastasia Antonopoulou
Zu den wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Belangen der Gegenwart gehört die Sorge um die vom Klimawandel bedrohte Zukunft. Einmal mehr haben die Hochwasserkatastrophe in Deutschland im Juli 2021, bald danach die verheerenden Brände in Griechenland und der Türkei und im Sommer 2022 erneut Hitzewellen, Dürren und Brandkatastrophen nicht nur in Südeuropa deutlich gemacht, dass der Klimawandel kein Zukunftsszenario, sondern längst da ist und vor keiner Region der Welt halt macht. Daher werden die großen globalen Probleme, die schon vor der Covid-19-Pandemie und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine die öffentlichen Debatten beherrschten, auch unausweichlich immer wieder auf die Tagesordnung kommen: die Verschmutzung der Umwelt und der Meere, das Artensterben und allen voran die anthropogene Veränderung des Klimas. Inzwischen ist das Bewusstsein gewachsen, dass ein Umdenken auf allen Ebenen erforderlich ist. In dieser noch nie dagewesenen Situation stehen auch die Geistes- und Kulturwissenschaften vor neuen Herausforderungen, und auch dort wird seit kurzem darüber nachgedacht, wie sie sich in einer Zeit, in der ›der Mensch‹ dauerhaften Einfluss auf sämtliche Prozesse des Planeten ausübt, neu positionieren können. Stimmen aus Griechenland sind in dem in jüngster Zeit entstandenen, breiten ökokritischen Diskursfeld derzeit jedoch noch unterrepräsentiert – im europäischen Kontext also ausgerechnet aus jener Region, die zusammen mit anderen Mittelmeerländern auch weiterhin am stärksten vom Klimawandel betroffen sein wird. Konkreter: In dem internationalen Feld des Ecocriticism und der Environmental Humanities sind natürlich auch griechische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aktiv, sei es von Griechenland aus oder in den meist anglophonen Forschungs- und Wissenschaftslandschaften. Anders als etwa im Fall von Italien, wo vor kurzem ein Überblicksband Italy and the Environmental Humanities über einschlägige Aktivitäten und aktuelle Ansätze der Italianistik informierte (Iovino, Cesaretti und Past 2018), sind Beiträge aus den griechischen Geistes- und Kulturwissenschaften, die sich speziell mit Griechenland und seiner kulturellen Produktion beschäftigen, allenfalls verstreut zu finden. Ein »Gr/ecocriticism« in dem Sinne, dass globale Fragen in einem lokalen Rahmen reflektiert werden (Zampaki und Harries 2021),
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befindet sich derzeit also noch in den ersten Anfängen. Für ihr Fachgebiet stellte die Neogräzistin Nikoleta Zampaki1 beispielweise kürzlich fest, dass es dort in den letzten Jahren im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern diesbezüglich weniger Fortschritte gab – wobei die pauschale Einschätzung allerdings nicht zutreffe, dass in diesem vermeintlich »rather ›unusual‹ or ›exotic‹ field« gar nichts geschieht (ibid.). Als anschlussfähig für Fragen des Anthropozän hat sich dagegen bereits die Auseinandersetzung mit der Antike erwiesen, etwa indem Aspekte der altgriechischen Religionen und Mythologien durch die Brille zeitgenössischer ökokritischer Ansätze betrachtet werden (z.B. Schliephake 2018; Bosak-Schroeder 2020). In diesem Sinne wählt der Beitrag von Kosmas Raspitsos im vorliegenden Band den Einstieg über das ökokritische Gedicht »Der Albtraum der Persephone« von Nikos Gatsos und seine Vertonung durch Manos Chatzidakis. Im Bereich der modernen Sprachen und Literaturen dagegen erweisen sich aktuelle Einzelinitiativen meist als Beiträge zur internationalen Forschung, wie beispielsweise Alexandra Rassidakis Aufsatz zu Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie (Rassidakis 2017). Auch Domna Pastourmatzis, um noch ein Beispiel zu nennen, die in Griechenland seit Jahrzehnten mit ihrer Forschung zu Science Fiction bekannt ist, hat das Thema Ökokritik in ihre Arbeit aufgenommen (z.B. Pastourmatzis 2014). Vor diesem Hintergrund fand im Jahr 2021 als Kooperation der Universität Vechta und der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen ein Projekt der DAADFörderlinie Hochschuldialog mit Südeuropa mit dem Titel Repräsentationen von anthropogenen Klima- und Umweltkrisen im Vergleich statt, das im Hinblick auf Griechenland als ein erster Beitrag zum Schließen dieser Forschungslücke konzipiert war. Dialog und Wissenstransfer wurden in diesem Kontext insbesondere in jenen Bereichen der Literatur- und Kulturwissenschaften und der Komparatistik initiiert, die sich der Analyse der kulturellen Dimensionen von gesellschaftsrelevanten Themen und ihren Repräsentationen widmen. Die Ausgangsfragen waren zunächst einmal ganz einfache: In welcher Weise haben Kulturschaffende in Griechenland in jüngster Zeit auf die Herausforderungen von Anthropozän und Klimawandel reagiert? Gibt es beispielsweise ökokritische Literatur in Griechenland? Denn im deutschsprachigen ebenso wie im anglophonen Raum hat die öffentliche Auseinandersetzung mit den anthropogenen Veränderungen des Planeten ja etwa seit der Jahrtausendwende eine lebhafte kulturelle Produktion angeregt. Sind im englischsprachigen Raum, um einige bekannte zu nennen, Romane wie Ian McEwans Solar (2010) oder Margaret Atwoods postapokalyptische Trilogie Oryx and Crake (2003), The Year of
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Nikoleta Zampaki hat 2022 an der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen promoviert mit der Arbeit »Η ›βιοκοσμική συνείδηση‹ του ›Ποιητή‹: Φύση και σώμα στο έργο του Walt Whitman και του Άγγελου Σικελιανού. Ερμηνευτική και συγκριτολογική προσέγγιση«. (»Das ›biokosmische Gewissen‹ des ›Dichters‹: Natur und Körper im Werk von Walt Whitman und Angelos Sikelianos. Eine hermeneutische und komparatistische Annäherung«).
Einleitung: Griechisch-deutsche Beiträge zu Ecocriticism und Environmental Humanities
the Flood (2009) und MaddAddam (2013) entstanden, so ist auch im deutschsprachigen ein breites Spektrum zu verzeichnen – etwa von Ökothrillern wie Frank Schätzings Der Schwarm (2004) oder Dirk C. Flecks Maeva-Trilogie, die 2008 mit Das Tahiti Projekt begann und 2011 und 2015 mit zwei Maeva-Romanen fortgesetzt wurde. Hinzu kommen auch hier zahleiche Auseinandersetzungen mit dem Klimawandel von Schriftstellern der Gegenwartsliteratur, die das Thema – wie Ilija Trojanow (EisTau, 2011), Karen Duve (Macht, 2016) oder John von Düffel (Der brennende See, 2020) –, auf je unterschiedliche Weise für sich fruchtbar machen. Auch in Griechenland gibt es literarische Reaktionen unterschiedlicher Genres auf die globale Bedrohung durch anthropogene Umweltveränderungen, etwa die Erzählung Fräulein Unglück (Δεσποινίς Δυστυχία, 2014; als Theaterstück 2018) von Tsimaras Tzanatos, die Novelle Schwarzes Wasser (Μαύρο Νερό, 2019) von Michalis Makropoulos oder den Roman Und wenn morgen kein Tag mehr anbricht? (Κι αν δεν ξημερώσει; 2013) von Maria Kougioumtzi. Auch Romane von Michalis Modinos, Nikos A. Mantis, Nikos Vlandis und Ioanna Bourazopoulou thematisieren Umweltfragen und Zukunftsdystopien. Allerdings wurden diese einschlägigen Texte der neugriechischen Gegenwartsliteratur von den griechischen Literatur- und Kulturwissenschaften bislang kaum zur Kenntnis genommen.2 Entsprechend war einer der Arbeitsbereiche des DAAD-Projekts der Sammlung und Sichtung thematisch relevanter literarischer Texte aus Griechenland gewidmet, die damit als solche sichtbarer gemacht und dem Feld der internationalen ökokritischen Literatur zugeordnet werden sollten. Der Überblicksaufsatz in diesem Band von Anastasia Antonopoulou zieht nach einer ersten allgemeinen Darstellung ökokritischer Aspekte der neugriechischen Literatur der letzten Jahrzehnte eine erste Bilanz und reflektiert Fragen der Produktion dieser Literatur in Griechenland. In Einzeluntersuchungen des vorliegenden Bandes zur griechischen ökokritischen Literatur werden darüber hinaus zum Teil mit komparatistischem Blick auf die entsprechende literarische Produktion in anderen Sprachen erste Forschungsfragen nach möglichen Gemeinsamkeiten gestellt – also etwa die, ob sich in national unterschiedlichen Literaturen vergleichbare Muster herausgebildet haben oder doch verschiedene und welche Gründe dafür jeweils in Frage kommen. Bemerkenswert ist, dass ökokritische Themen in Griechenland früh von der Kinderliteratur aufgegriffen worden sind. Der Beitrag von Konstantina Tsonaka erläutert Charakteristika dieses Genres, gibt einen kurzen Überblick über die gegenwärtige Produktion in Griechenland und stellt exemplarisch einige Titel vor, die es sich zum Ziel machen, ökologisches Bewusstsein bei Kindern zu wecken und zu festigen. Übermäßiger Konsum, Müll und seine Wiederverwertung (bei Kostas Magos und Maria Za2
Zu den wenigen Ausnahmen gehört die Arbeit der an der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen lehrenden Neogräzistin Peggy Karpouzou, wozu auch seit 2022 die Herausgeberschaft (mit Nikoleta Zampaki) der Zeitschrift Journal of Ecohumanism zählt.
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charioudaki), die Verschmutzung der Meere mit dem Fokus auf der Ägäis und dem Mittelmeer allgemein (Kostas Magos und Vangelis Iliopoulos), Wälder, Brandkatastrophen und Artensterben bei Tieren (Vangelis Iliopoulos, Veatriki Kanzola-Sambatakou und Eleni Svoronou-Sokialidi), sind Themen, auf die sich die griechische Kinderliteratur in erster Linie konzentriert. Im Feld der literarischen Produktion für Erwachsene wirft Nikos Koskinas einen komparatistischen Blick auf ein griechisches und ein deutschsprachiges Theaterstück – Fräulein Unglück (Δεσποινίς Δυστυχία, 2018) von Tsimaras Tzanatos und Die Verfassung der Strände (2012) von dem österreichischen Dramatiker Stephan Lack. Beide Werke stellen den maritimen Raum ins Zentrum und setzen sich kritisch mit anthropogenen Umweltveränderungen auseinander. Während Lack bei der Behandlung der Problematik Mensch-Umwelt eine anthropozentrische Perspektive einnimmt, wird das Meer in dem Stück von Tzanatos zum eigentlichen Protagonisten, und die menschlichen Akteure treten zugunsten einer dezentrierten Perspektive eher in den Hintergrund, die die Vielschichtigkeit der weit über den Menschen hinausreichenden Natur widerspiegeln soll. Der Beitrag von Elli Carrano dreht sich um die Novellen Schwarzes Wasser (Μαύρο Νερό, 2019) und Das Meer (Η Θάλασσα, 2020) von Michalis Makropoulos, der sich mit seinem Werk in letzter Zeit konsequent ökologischen Fragen zuwendet. Beide Novellen beschreiben unter Bezugnahmen auf die Johannes-Offenbarung eine postapokalyptische Welt – dystopisch verwüstete Landschaften, Krankheiten, vollständig Verseuchung des Wassers und der Tier- und Pflanzenwelt als Resultat anthropogener Eingriffe –, die Makropoulos mit lyrisch-elegischen Sprache als Ende der Welt darstellt. Iordanis Koumasidis stellt in seinem Beitrag den griechischen Autor Jorgos Lambrakos vor, der sich in seinem essayistischen Werk auch theoretisch mit ökokritischen Fragen auseinandersetzt, und geht der Frage nach Konzeptualisierungen der Natur und der Rolle der Technologie in den Romanen Notizen aus dem Penthouse (Σημειώσεις από το ρετιρέ, 2009) und Blut Maschine (Αίμα μηχανή, 2019), sowie im Erzählband Digitaler Narziss und andere Erzählungen (Ψηφιακός Νάρκισσος και άλλα διηγήματα, 2014) nach. Mit dem Genre Ökothriller in Griechenland beschäftigt sich Sofia Kokkini anhand der Romane Der Funke (Η σπίθα, 2020) von Nikos Komninos sowie Der vierte Reiter (Ο Τέταρτος Καβαλάρης, 2018/19) und Das Jahr ohne Sommer (Έτος χωρίς καλοκαίρι, 2020) von Manolis Palavouzis. Dieser Beitrag arbeitet die politischen und ethischen Dimensionen der analysierten Romane heraus und fragt vor allem nach den darin imaginierten neuen politischen Gesellschaftsentwürfen. Unter Rückgriff auf Ansätze französischer Ökopoetik und anhand von Kurzgeschichten von Dimitris Nollas, Dimosthenis Kourtovik und Jorgos Skambardonis zeichnet Titika Dimitroulia in ihrem Beitrag Aspekte der schöpferischen Vorstellungskraft ökologischer Fiktion in griechischen Erzählkontexten nach. Dabei wird der griechische Diskurs zum Verhältnis ›Mensch-Natur‹ in den breiteren Kontext des zeitgenössischen literarischen Schaffens gestellt und die Beziehung zwischen Diskurs und Natur im Anthropozän hinterfragt. Insgesamt geht es in den literari-
Einleitung: Griechisch-deutsche Beiträge zu Ecocriticism und Environmental Humanities
schen Beiträgen insbesondere um das Erkenntnispotential der Literatur und die gesellschaftliche Relevanz der Auseinandersetzung damit: Texte der griechischen Gegenwartsliteratur, die sich mit anthropogenen Klima- und Umweltkrisen beschäftigen, werden als kulturelle Deutungsformen verstanden, die sich mit den individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Krisen auseinandersetzen und damit den vorherrschenden naturwissenschaftlichen Diskursen und abstrakten Klimamodellen auf anschauliche Weise Einsichten in komplexe ökologische Zusammenhänge entgegenstellen. Wie nehmen literarische Texte aus Griechenland diese Gegenwartsfragen auf, welche fiktiven Realitäten kreieren sie, welche Alternativen zu herrschenden wissenschaftlichen und politischen Ansichten bieten sie an, welche Visionen entwickeln sie? Insbesondere mit Blick auf die beiden letzten Fragen konnten für die Abschlusskonferenz des Projekts im November 2021 fünf griechische Schriftsteller zur Teilnahme an einer Diskussionsrunde gewonnen werden. Ihre Eingangsstatements sind in dem vorliegenden Band im Anhang wiedergegeben. Zur griechischen Kulturproduktion unter dem Vorzeichen des Anthropozän und der Auseinandersetzung mit den veränderten Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt gehören auch künstlerisch-mediale Produktionen. Für den vorliegenden Band hat Jonas Nesselhauf das Thema des internationalen »anthropocene gaze« anhand von exemplarischen (bild)künstlerischen Ausprägungen diskutiert und unter anderem das Werk der griechischen Künstlerin Eva Papamargariti in diesen Kontext gestellt. Seine skeptisch-kritische Frage, die sich als roter Faden durch den Beitrag zieht, ob mediale Künstler irreversible menschliche Eingriffe in die Natur nur ›ästhetisieren‹, lenkt bereits die Aufmerksamkeit auf ein zentrales Problem. Und vor allem wenn er abschließend die Hoffnung zum Ausdruck bringt, »dass diese art engagé die wissenschaftliche Anthropozänforschung ergänzen und letztlich als Interdiskurs auf die Gesellschaft zurückwirken kann«, wird deutlich, dass auch bei künstlerisch-medialen Produktionen im ›Zeitalter des Menschen‹ neue Fragen nach der Rolle der Künste im Raum stehen. Dazu gehören nicht zuletzt kritische Grundsatzfragen wie die, ob sie mit Blick auf die präzedenzlose Gegenwart von Anthropozän und Klimawandel über ihre traditionellen Funktionen der Vermittlung, der Reflexion und der Erkundung der Möglichkeiten ästhetischer Erfahrbarkeiten hinausgehen; ob und wie sich also etwa Literatur und mediale Kunst an dem notwendigen radikalen Umdenken auf allen Ebenen beteiligen; ob sie dies überhaupt leisten wollen und können und ob es wünschenswert ist, dies zu fordern; ob und inwiefern also grundsätzliche Erweiterungen oder Veränderungen der traditionellen Funktionen von Kunst denkbar sind. Solche auch international bislang noch zu wenig thematisierten Grundsatzfragen wurden im Rahmen des DAAD-Projekts immer wieder angesprochen und sind im vorliegenden Band in dem Beitrag von Monika Albrecht (»Humanities for the Anthropocene?«) gebündelt, diskutiert und um verwandte Fragen an die Geisteswissenschaften ergänzt: Welche Möglichkeiten stehen diesen überhaupt zur Ver-
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fügung, wenn beispielsweise selbst ihre traditionellen Untersuchungsgegenstände in dieser Hinsicht ratlos erscheinen? Wenn etwa Warn-Dystopien in Literatur und Film nicht warnen und erst recht nichts bewirken, sondern Teil der Unterhaltungsindustrie geworden sind? Oder genereller, wenn Kunst, Literatur und Film nur zum Nachdenken anregen, daraus jedoch keine Taten folgen? Wenn Kulturschaffende also in Gefahr sind, Komplizen einer »klimapolitischen Untätigkeit« (Mann 2021, 47) zu werden? Angesichts dieses Dilemmas ist beispielsweise in den deutschsprachigen Literaturwissenschaften derzeit eine Hinwendung zu jenen tradierten Positionen zu beobachten, die ›neue Herausforderungen‹ immer schon lediglich als Probleme der Ästhetik, der Form und der artistischen Darstellbarkeit verstanden haben. Doch während viele sich heute wieder auf den Standpunkt zurückziehen, dass es nicht Aufgabe von Literatur und Kunst (und damit auch nicht die ihrer Wissenschaften) sei, die Realität zu verändern, ist im internationalen Kontext ein »sense of urgency, relevance and need for action among a fast growing number of humanists and social scientists« zu beobachten (Adamson 2017, 7). Um die mit Anthropozän und Klimawandel verbundenen globalen Herausforderungen zu meistern, so etwa auch die Schriftstellerin und Umweltschützerin Linda Hogan, müssen wir aufhören mit dem »haggling over singular words or concepts« und »get to work ending the threats to our environments« (Hogan 2017, 31).3 Neben den Belangen griechischer Kulturproduktion thematisierten deutsche und griechische Projektteilnehmer auch sozialwissenschaftliche und philosophische Fragen von Anthropozän und Klimawandel. Aus dieser Sicht gerät besonders der »Teufelskreis aus Überforderung, Apathie und Resignation« in den Blick (Bodden 2022), der sich als ein weiterer hartnäckiger Mechanismus klimapolitischer Untätigkeit erweist. In diesem Sinne diskutiert Manuel Clemens autoritäre Charakterstrukturen in der klassischen Definition durch Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Erich Fromm und zeigt, dass dieses Theorem der Frankfurter Schule nicht nur »in der gegenwärtigen Verschiebung der politischen Tektonik neuer Autoritarismen wieder Aktualität erlangt hat«, sondern dass seine Merkmale unter dem Vorzeichen »Überforderung« auch mit Blick auf die »wissenschafts- und abstraktionsfeindlichen Skeptiker, Ignoranten und Leugner des Klimawandels« fruchtbar gemacht werden können. Er sieht sich darin einig mit der Politikwissenschaftlerin Cara Daggett, die dem Zusammenhang von »Fossil Fuels and Authoritarian Desire« (so der Untertitel ihres Aufsatzes von 2018) nachgegangen ist und dafür die griffige Formel »Petro-masculinity« gefunden hat. So kann er überzeugend darlegen, dass und inwiefern die Hauptcharakteristika des autoritären Charakters im Kontext des
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Hogan betont unter anderem auch, dass es unglaubwürdig sei, »to expect great changes in a time being described in the hope-breaking language of the Anthropocene«, und fügt hinzu, dies sei »a word I would like to disappear from our conversations, except when it is being used in its original geological contexts« (Hogan 2017, 23).
Einleitung: Griechisch-deutsche Beiträge zu Ecocriticism und Environmental Humanities
Klimawandels Züge eines »fossilen Autoritarismus« annehmen können. Auch der Beitrag von Oliver Kozlarek stellt die Aktualitäten der ›alten‹ Kritischen Theorie auch und gerade im Zeitalter ›des Menschen‹ in den Vordergrund und zeigt, dass dieses Raster zur Erklärung der gegenwärtigen Situation und im Hinblick auf Visionen einer menschlicheren Gesellschaft besser geeignet ist als viele der Beiträge und Theorien der Anthropozän-Debatte. Damit sind vor allem solche gemeint, die »anti-, trans-, oder posthumanistische Positionen fördern« und wie etwa Bruno Latour den Humanismus der Aufklärung bekämpfen. Denn der in dem Begriff des Anthropozän implizierte »human turn« der jüngsten Zeit stelle gerade »keine Rückbesinnung auf die Werte der Aufklärung und des Humanismus dar, sondern pervertiert diese, indem er zwar moralistisch an sie anzuschließen scheint, ihnen letztendlich aber ihre tatsächliche Bedeutung vorenthält«. Vor diesem Hintergrund reiht sich Kozlarek in die wachsende Zahl von Kritikern gegenaufklärerischer Tendenzen ein und plädiert für die Entwicklung eines »Kritischen Humanismus« in der Tradition der Kritischen Theorie. Beiträge aus der Philosophie kamen von zwei griechischen Projektteilnehmern, der eingangs schon erwähnte »philosophisch motivierte Kommentar« zu dem Gedicht »Der Albtraum der Persephone« von Nikos Gatsos, der von der Zerstörung des Ortes der antiken Mysterien von Eleusis (Ἐλευσίς) ausgehend die griechische Antike für das Gedicht und die heutige Situation im ›Zeitalter des Menschen‹ fruchtbar macht, und von Giorgios Sagriotis eine kritisch-skeptische Positionierung zu Rekursen auf die Tradition der Frühromantik und den Versuchen, »das naturphilosophische Repertoire der Romantik« im Sinne des heute vieldiskutierten Mensch-Natur-Verhältnisses nutzbar zu machen.
Literatur Adamson, Joni: Introduction: Integrating knowledge, forging new constellations of practice in the environmental humanities. In: Joni Adamson und Michael Davis (Hg.): Humanities for the Environment. Integrating knowledge, forging new constellations of practice. London: Routledge 2017, 3–19. Bodden, Tamara: CFP: Apokalypse und Apathie. Handlungs(un)fähigkeit im Kontext des Klimawandels, Kassel (31.08.2022). In: H-Germanistik, 14. Juli 2022, https://netw orks.h-net.org/node/79435/discussions/10490718/cfp-apokalypse-und-apathie -handlungsunfa%CC%88higkeit-im-kontext-des (15. Juli 2022). Bosak-Schroeder, Clara: Other Natures: Environmental Encounters with Ancient Greek Ethnography. Oakland, CA: University of California Press 2020. Hogan, Linda: Backbone. Holding up our future. In: Joni Adamson und Michael Davis (Hg.): Humanities for the Environment. Integrating knowledge, forging new constellations of practice. London: Routledge 2017, 20–32.
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Monika Albrecht und Anastasia Antonopoulou
Iovino, Serenella, Enrico Cesaretti, und Elena Past (Hg.): Italy and the Environmental Humanities: Landscapes, Natures, Ecologies. Charlottesville, VA: University of Virginia Press 2018. Mann, Michael E.: Propheten der Untätigkeit. Die Propaganda von der technischen Beherrschbarkeit der Klimakrise (Teil I). In: Blätter für deutsche und internationale Politik 8 (2021): 47–60. Pastourmatzi, Domna: Science Fiction Literature. In: Robert Ranisch und Stefan Lorenz Sorgner (Hg.): Post- and Transhumanism: An Introduction. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2014, 271–85. Rassidakis, Alexandra: Zwischen Apokalypse und Paradies. Konzepte ›grüner‹ Religiosität in Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie. In: Claudia Schmitt und Christiane Solte-Gresser (Hg.): Literatur und Ökologie. Neue literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: Aisthesis 2017, 295–310. Schliephake, Christopher: The Environmental Humanities and the Ancient World: Questions and Perspectives. Cambridge: Cambridge University Press 2018. Zampaki, Nikoleta, und Milo Harries: Gr/ecocriticism: A Conversation with Nikoleta Zampaki (Fragesteller: Arcadiana co-Editor Milo Harries). In: Arcadiana: A Blog about Literature, Culture and the Environment, 16. Juli 2021, https://arcadiana.easlc e.eu/2021/07/16/grecocriticism-a-conversation-with-nikoleta-zampaki (14. Juli 2022).
Ökokritische Aspekte in der griechischen Literatur Einführende Betrachtungen Anastasia Antonopoulou
1. Einleitung In Griechenland werden in den letzten Jahren – im Vergleich zu anderen Ländern mit Verspätung – ökokritische Stimmen immer lauter in der Literatur, in der Kunstszene, aber auch im akademischen Bereich. An der Universität der Ägäis auf der Insel Lesbos beispielsweise gibt es schon seit 1984 einen Fachbereich für Environmental Studies, mehrere Masterstudiengänge an griechischen Universitäten haben Ökologie als thematischen Schwerpunkt und nicht zuletzt wurde das laufende Jahr 2022 von der Universität Athen zum Umweltjahr erklärt, im Rahmen dessen verschiedene Aktivitäten wie Tagungen und Workshops stattfanden. Im Bereich der Humanities werden bereits einzelne ökokritische Fragen behandelt, doch liegen bis heute keine Einführungen in die verschiedenen Forschungsschwerpunkte des Ecocriticism am Beispiel der griechischen Literatur vor, wie im deutschen Sprachraum diejenige etwa von Gabriele Dürbeck und Urte Stobbe (2015), die spezifische Ansätze im deutschsprachigen Kontext und in komparatistischer Perspektive vorstellt, oder die von Benjamin Bühler (2016), der neben dem theoretischen und poetologischen auch den literaturgeschichtlichen Aspekt berücksichtigt und damit einen Abriss der ökologischen deutschsprachigen Literaturgeschichte bietet.1 In Griechenland hat sich auch noch kein Bewusstsein dafür etabliert, dass die Literaturwissenschaft im Rahmen der Ökokritik eine wichtige Funktion einnehmen kann, um tradierte Positionen in Bezug auf das Verhältnis von Kultur und Natur in eine neue dynamische Debatte zu bringen (vgl. Zapf 2008, 32ff.). Wichtig bleibt die Tatsache, dass in der zeitgenössischen griechischen Literatur ökologische Fragen immer häufiger und besonders von der neueren Schriftstellergeneration thematisiert werden. Dabei werden zugleich neue Genres und Schreibmodi erprobt, die in Korrelation mit
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Angekündigt aber noch nicht erschienen ist eine Monografie von Anastasia Natsina (Natsina, In Vorbereitung).
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Anastasia Antonopoulou
entsprechenden Entwicklungen der Weltliteratur stehen. Der Literaturkritiker Vangelis Hatzivasileiou (vgl. 2018, 505) vertritt beispielsweise die Ansicht, dass der futuristische Roman der zeitgenössischen griechischen Literatur eine klare und autonome, wenngleich quantitativ begrenzte Tendenz darstellt. Qualitativ dagegen sei er durchaus mit den entsprechenden Entwicklungen der europäischen Literatur vergleichbar. Ich werde im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit die literarische Landschaft der letzten Jahrzehnte in Griechenland in Bezug auf ökologische Themen skizieren. Zunächst jedoch möchte ich einen Roman erwähnen, der schon Anfang der 1960er-Jahre publiziert wurde, nämlich Das Blatt (Το φύλλο, 1961) von Vassilis Vassilikos, dem insbesondere durch seinen Roman Z (1963) weit über Griechenland hinaus bekannt gewordenen Schriftsteller. Der Roman Das Blatt steht am Anfang einer bewussten kritischen Auseinandersetzung der griechischen Literatur mit dem Verhältnis Mensch-Natur und ist eine literarische Kritik an den Entwicklungen der Epoche. Ein Student der Agrarwissenschaft, der mit seiner Familie im 6. Stock eines neuen Mehrfamilienhauses lebt, kultiviert eine Pflanze in seinem Zimmer. Diese wächst und wächst und wird allmählich riesig. Ihre Wurzeln durchdringen die Stockwerke und verursachen Probleme im Gebäude, bis die Bewohner des Hauses die Pflanze zerstören. Geschrieben in einer Epoche, in der man in Griechenland ohne ökologische Sensibilität mit dem Ideal des Wachstums lebte, thematisiert der Roman den »Zusammenstoß von Natur und Zivilisation« (Tziovas 2011, 4f.), indem er kritisch die beschleunigte Urbanisierung und die Errichtung von Wohnblocks in Griechenland in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren beschreibt. Die Erzählung beginnt mit biblischen Anklängen und der parodistischen Analogie zwischen der Erschaffung der Welt und dem Bau des Hochhauses: »Und der Herr sagte: Als erstes erscheine der Bagger« (Vassilikos 1989, 11).2 Die monströsen Gebäude sind Sinnbild der neuen Welt, die alle natürlichen Lebensformen zerstört. Als Gott wird der Ingenieur, der Vertreter der Technologisierung angebetet. Die Pflanze hingegen fungiert als Metapher für die Natur und ihr unnatürliches Wachstum als ihre Rache (vgl. Tziovas 2011). Das Ende des Romans verkündet mit der Zerstörung der Pflanze symbolisch die Niederlage der Natur. Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen stehen innere Vorgänge, z.B. Einsamkeit und Entfremdungsgefühle des Protagonisten. Die Angst vor dem Versuch des Menschen, die Natur zu kontrollieren, zu beherrschen und letztendlich zu zerstören, ist auch das Thema des im selben Jahr veröffentlichten Romans Der Damm (Tο Φράγµα, 1961) von Spyros Plaskovitis. Beide Romane, geschrieben in einer Zeit, als Griechenland seinen Eintritt ins technische Zeitalter und in die rasche Urbanisierung erlebte, können als unheilvolle 2
Die Übersetzungen der griechischen Zitate stammen, wenn nicht anders angegeben, von der Verfasserin.
Ökokritische Aspekte in der griechischen Literatur
Warnungen vor einer rücksichtlosen städtischen Entwicklung oder vor dem technologischen Fortschritt auf Kosten der Natur gelesen werden. In den 1960er-Jahren waren sie jedoch noch eine Ausnahmeerscheinung. In der Regel behandeln die progressiven und die engagierten Literaten und Dichter dieser Zeit eher aktuelle und im engeren Sinne politische Fragen und weniger ökologische. Der Zweite Weltkrieg und vor allem der anschließende traumatische Bürgerkrieg standen im Mittelpunkt des Interesses (vgl. Natsina et al. 2015). Das Gleiche lässt sich auch noch für die griechische Literatur der 1970er- Jahre beobachten. Während in Deutschland z.B. im Rahmen der 68er-Bewegungen ein ökologisches Bewusstsein und eine organisierte Umweltbewegung entstehen, dominieren in Griechenland aufgrund der Militärdiktatur (1967–1974) andere Schwerpunkte.3 Die politische Dichtung stand wieder im Vordergrund, und nur wenige Dichter, wie etwa Nikos Gatsos, thematisierten auch ökologische Fragen.4 Eine systematischere Auseinandersetzung mit ökologischen Fragestellungen beginnt im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mit Werken, die sich im Rahmen der Fantastik bewegen, und wird dann im 21. Jahrhundert vor allem in der Form einer neuen Science-Fiction-Literatur intensiviert. Die jüngste Finanzkrise (2010 bis heute) fungierte als Auslöser für Autoren und Autorinnen, die das Genre der dystopischen SF als geeignetes Mittel betrachteten, um aktuelle soziale Probleme zum Ausdruck zu bringen. Die Romane mehren sich, werden für Literaturpreise nominiert und auch von der Kritik häufig als Reflexion über die andauernde Finanzkrise interpretiert (z.B. die Romane von Nikos Mantis oder Ioanna Bourazopoulou, auf die im vorliegenden Aufsatz noch zurückgekommen wird). Diese Tendenz setzte sich auch während der COVID-19-Pandemie fort; in dieser Zeit erschienen dystopische Erzählungen, in denen Pandemien – ein häufiges Motiv in der SF – im Zentrum stehen (z.B. in den Ökothrillern von Manolis Palavouzis).
2. Griechische Science-Fiction-Literatur Die Science-Fiction-Literatur entwickelte sich in Griechenland in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, obwohl vereinzelte Exemplare des Genres bereits vorher existierten. Sie ist durchweg futuristisch und thematisiert mögliche ökologische, soziale, technologische oder wissenschaftliche Bedrohungen, die die Menschheit meistern muss (vgl. Hatzivasileiou 2018, 503). Wie in der internationalen SF-Literatur triumphiert auch hier die Maschine, während der Natur »eine untergeordnete Rolle zugedacht ist, wenn sie nicht gar durch Kunstnatur ersetzt wird« (Zemanek 2018, 44). So wird die Zukunftslandschaft als totale Verwüstung dargestellt und 3 4
Zur Geschichte der ökologischen Bewegung in Griechenland vgl. Botetzagias 2001. Siehe dazu auch den Beitrag von Kosmas Raspitsos in diesem Band.
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damit eine deutliche Kritik an der Entwicklung der technikdominierten Zivilisation formuliert, in der der Mensch dennoch auf sich allein gestellt ist. Unter diesem Aspekt ist der SF-Roman mit einer soziopolitischen Kritik mit ohnehin überall auf der Welt existierenden Problemen verbunden, die in diesen fiktiven Projektionen apokalyptische Dimension annehmen können (vgl. Hatzivasileiou 2018, 504). Im Bereich der griechischen SF-Literatur dominiert der Schriftsteller Makis Panorios (geb. 1935), der auch Übersetzer, Herausgeber und Theoretiker des Fantastischen ist. Er hat sich um die Verbreitung und Aufwertung dieses Genres verdient gemacht, das lange Zeit als Trivialliteratur galt und entsprechend von der Literaturwissenschaft kaum berücksichtigt wurde.5 Seine eigenen Werke (Die Roboter eines Tages… [Τα ρομπότ μια μέρα…, 1979], Die Katastrophe [Η καταστροφή, 1982], Selbst die Vögel [Ακόμη και τα πουλιά, 1994], Wenn die Nacht kommt [Όταν έρθει η νύχτα, 2015]) sind durch Pessimismus gekennzeichnet und thematisieren die Angst des Menschen angesichts einer übertechnologisierten Welt (Kurtovik 2020, 282). Panorios hat darüber hinaus den Band Griechische Science-Fiction-Erzählungen (Ελληνικά διηγήματα επιστημονικής φαντασίας, 1995) mit Erzählungen des späten 20. Jahrhunderts herausgegeben sowie eine 6-bändige Anthologie zum Thema Die Griechische Erzählung des Fantastischen (Το ελληνικό φανταστικό διήγημα, 1987–2012). Beide Veröffentlichungen sind ein wichtiger Beitrag zur Bekanntmachung des Genres.6 Im Rahmen des Fantastischen bewegen sich auch zwei weitere Autoren der älteren Generation: Triantafyllos Pittas (1912–1997) mit den Erzählsammlungen Die Monster werden kommen (Τα τέρατα θα έρθουν, 1969), Die Bewegung der Nackten (Το κίνημα των γυμνών, 1980) und der Novelle Der Umzug (Η μετακόμιση, 1977) und Tassos Roussos (1934–2015 etwa) mit dem Erzählband Die dreizehnte Landschaft (Το δέκατο τρίτο τοπίο, 1996) oder dem Roman Plutonion (Πλουτώνειο, 2008). Einer international ausgerichteten Generation gehört der Schriftsteller Nikos Panajotopoulos (geb. 1963) an, der Ingenieurwissenschaften studiert und 1999 den Science-Fiction-Roman Das Gen des Zweifels (Το γονίδιο της αμφιβολίας) publiziert hat, der 2002 unter dem Titel Die Erfindung des Zweifels auf Deutsch erschienen ist. Der Roman spielt im Jahr 2064, einer Zeit, in der die Literatur- und Kunstwelt unter dem »Zimmerman-Test« lebt, einer genetischen Methode, die wissenschaftlich feststellt, ob jemand mit dem Gen für künstlerische Kreativität begabt ist oder nicht. Dieser Gentest hat zu einer totalitären Diskriminierung geführt (vgl. Karpouzou 2017, 221).
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Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Domna Pastourmatzi, die mehrere Aufsätze zu griechischer SF-Literatur veröffentlicht hat (siehe z.B. Pastourmatzi 1995,1996 und 1999). An dieser Stelle ist eine vor kurzem auf Englisch erschienene Anthologie mit griechischen SF-Erzählungen zu erwähnen (vgl. Barbini und Verso 2021) mit Erzählungen von Vasso Christou, Kostas Charitos, Ioanna Bourazopoulou, Michalis Manolios, Yiannis Papadopoulos, Kelly Theodorakopoulou, Eugenia Triantafyllou, Lina Theodorou, Dimitra Nikolaidou, Natalia Theodoridou und Stamatis Stamatopoulos.
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Die Kategorien der »Bestätigten« und »Annullierten« gelten absolut und stigmatisieren die damit Bezeichneten. Testverweigerer können nicht mehr publizieren, und die Verlage suchen mithilfe von Agenten nach neuen, »wise babies« genannten Talenten, die mit dem genetischen Zertifikat in der Hand sofort auf die Höhe des Ruhms katapultiert werden. Große Namen werden zu Fall gebracht, Kritiker und Verlagsberater sind nun überflüssig und werden entlassen. Der Schriftsteller James Wright, ein Testverweigerer und die Hauptfigur des Romans, wird gesellschaftlich und beruflich ausgegrenzt und bleibt über seine Identität als Autor bis zu seinem Lebensende im Ungewissen. Obwohl er sich im Krankenhaus vor seinem Tod dem Ζimmerman-Test unterzieht, bleibt diese Ungewissheit auch über das Ende des Romans hinaus bestehen. Der Arzt Dr. Clause, der sowohl die Ergebnisse von Wrights Gentest kennt als auch dessen Romanmanuskript besitzt, erklärt in seinem Vorwort, dass James Wrights Gentest positiv gewesen sei, während diese Aussage in dem von Panagiotopoulos geschriebenen Anhang bezweifelt wird. Panajotopoulos ist stark vom amerikanischen Film und der amerikanischen Literatur beeinflusst und diskutiert mithilfe des Genres der Science-Fiction-Literatur auch den Einfluss moderner Wissenschaft und Technologie auf unser Leben und unsere Kultur. Zugleich problematisiert der in der Zeit des ersten geklonten Schafs Dolly entstandener Roman die Sicht auf das menschliche Subjekt als »Information«, als eine Reihe von in der DNA enthaltenen Daten, die übertragen werden können, und warnt »vor der Gefahr eines genetischen Totalitarismus« (Kurtovik 2020, 286). Ungewissheit als Hauptcharakteristikum von Autorschaft und allgemeiner von menschlicher Subjektivität scheint Widerstand gegen totalisierende technowissenschaftliche Diskurse zu leisten (vgl. Karpouzou 2017, 213). Der Roman wurde von der Kritik als ein Werk bezeichnet, das neue Perspektiven in der griechischen Prosa an der Schwelle zum neuen Jahrhundert eröffnet (vgl. Hatzivasileiou 2000). Zu den Innovationen, die der Roman in die griechische Literatur bringt, gehören – neben der Thematik – die Einführung eines neuen Schreibmodus. Genetische Themen werden aus dem wissenschaftlichen in den literarischen Bereich übertragen. Die Spiralstruktur des DNA-Mechanismus scheint ein wesentliches Strukturprinzip des Romans darzustellen, das durch die Abwechslung der Manuskripte verschiedener Autoren entsteht (vgl. Karpouzou 2017, 218). Panagiotopoulos hat seine Form ausgearbeitet und dabei besondere Sorgfalt auf die Entwicklung des Plots verwendet: Der Leser muss bis zur letzten Zeile gelangen, um den Mythos, dem er folgt, vollständig zu verstehen, und um die verschiedenen Methoden und Techniken, die sich in der Erzählung verdichten, in ihrem ganzen Umfang zu begreifen (vgl. Hatzivasiliou 2018, 510).
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3. Kritische Utopien und Dystopien Den Begriff der kritischen Dystopie hat Tom Moylan in seinem einflussreichen Buch Demand the Impossible (1986) geprägt, und er wurde dann von anderen Forschern wie Lyman Tower Sargent oder Raffaella Baccolini verwendet. Susanna Layh greift ihn in der Untersuchung der Transformationen der literarischen Utopie und Dystopie im 20. Jahrhundert auf (2014). Layh unterscheidet zwischen Utopien, kritischen Utopien, Antiutopien, (traditionellen) Dystopien und kritischen Dystopien. Im dritten Teil mit dem Titel »Transformationen des Dystopischen« (Layh 2014, 175–204) beschreibt sie verschiedene Abwandlungen des dystopischen Genres, vor allem »[d]ie heimliche Rückkehr des Utopischen in Gestalt der kritischen Dystopie« (ibid., 175). Für Layh zeichnen sich kritische Dystopien durch eine neue Offenheit aus; sie präsentieren keinen hoffnungslos düsteren Ort, von dem die Protagonisten nicht entkommen können, sondern bieten Hoffnungsschimmer, indem sie einen utopischen Impetus bewahren (vgl. ibid., 182). Diese Offenheit manifestiert sich auch in den formalen Merkmalen der Texte, insofern sich kritische Dystopien »durch ein offenes, ambivalentes Ende der Narration« auszeichnen (ibid., 195). Viele von den griechischen dystopischen Romanen der Gegenwart sind als kritische Dystopien in diesem Sinne zu bezeichnen, da sie das Potenzial haben, dystopische Ordnungen zu überwinden. Als erstes Beispiel können die Romane von Nikos Vlantis genannt werden (geb. 1973). Vlantis hat Ingenieurwissenschaften studiert und an der Athener Technischen Hochschule promoviert. Die Erzählzeit seiner Romane bewegt sich zwischen einer absurden Gegenwart und einer unbegreiflichen Zukunft, die als eine posthumane Welt beschrieben wird, in der die Natur völlig von der Technik ersetzt ist. Vlantis beschäftigt sich intensiv mit Fragen der Manipulation der menschlichen Existenz, der Kontrolle von Identität, Subjektivität und Gedächtnis durch die Technologie sowie mit Autorschaft und der Rolle der Literatur in einer posthumanen Welt. Sein Roman Writersland: Die Insel der Autoren (Writersland: Το νησί των συγγραφέων, 2006) spielt im Jahr 2129 und stellt eine zukünftige technologische Dystopie dar. Der größte Teil der Menschheit lebt in Betonstädten, die durch Glaskuppeln vor der verschmutzten Luft geschützt sind, und wird mithilfe elektronischer Technologie unter der Aufsicht der Globalen Antiterror-Agentur – die eigentliche Regierung des Planeten – vollständig kontrolliert. Über die Grenzen dieser Betondiktaturen hinaus gibt es einige verstreute autonome Gemeinschaften, welche von der Globalen Antiterror-Agentur toleriert werden, solange sie die Weltordnung nicht bedrohen. Eine solche ist die Insel Writersland, auf der Schriftsteller aus der ganzen Welt isoliert leben, die als Doppelgänger klassischer Autoren ältere Texte digital reproduzieren und an ihre Zeit anpassen. Die Haupthandlung ist mit einem nicht autorisierten Manuskript mit dem Titel »Alkibiades entfesselt« verwoben, das vom Prometheus-Mythos inspiriert ist und einen Aufstand in einem futuristischen Athen gegen ein techno-faschistisches totalitäres
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Regime erzählt, das dem des Romans sehr ähnlich ist. Die Aufgabe, die Urheberschaft dieses Manuskripts mit dem subversiven und revolutionären Inhalt zu ermitteln, führt zu mysteriösen Morden an mehreren Autoren, bis die Gemeinschaft durch das Eingreifen der Antiterror-Agentur aufgelöst wird. Die anonyme Veröffentlichung des Manuskripts im Internet durch die entkommenen Autoren löst jedoch eine Revolution aus, die alles ins Chaos stürzt, bis schließlich nach Jahren eine neue Ära der Demokratie und des Friedens beginnen kann. Der Roman von Nikos Vlantis steht im Dialog mit klassischen Dystopien der Weltliteratur wie Aldous Huxleys Brave New World, George Orwells 1984 oder Herbert George Wellsʼ Zeitmaschine (vgl. Kurtovik 2006) und integriert Elemente des Cyberpunk. Der Schauplatz der eingebetteten Erzählung mit seinem auffälligen Kontrast zwischen Hightech und heruntergekommenen städtischen Siedlungen scheint direkt aus der Cyberpunk-Fantasie zu stammen (vgl. Kurtovik 2006). Auf kybernetische Dystopien verweisen vor allem die Darstellung der Menschen als digitale Hologramme, die kodiert und dekodiert werden können, und die Reduzierung der menschlichen Subjektivität auf eine Reihe von Daten, die digital durch Ziffern und Codeketten übertragen werden (vgl. Karpouzou 2017, 216). Vlantis entwickelt eine komplexe Erzählung, in der er eine neue literarische Sprache mit häufigen Anleihen aus der Computersprache und mit offensichtlichen kritischen Bezügen zu aktuellen politischen Orientierungen erschafft. Die Beschreibung des Umsturzes der düster und dystopisch dargestellten Zukunft klassifiziert den Roman als kritische Utopie ein. Der Roman Wilde Akropolis (Άγρια Ακρόπολη, 2013) von Nikos A. Mantis (geb. 1976) kann als charakteristisches Beispiel einer kritischen Dystopie gelten. Er wurde von der Zeitschrift anagnostis als bester Roman des Jahres 2013 ausgezeichnet und für den griechischen Staatspreis für Literatur nominiert. Schauplatz des Romans ist das Athen des 22. Jahrhunderts, eine der Großstädte der globalisierten Welt, die von einem Netz kapitalistischer Gesellschaften »ohne Illusionen von politischer Repräsentation und Demokratie« regiert wird (Mantis 2014). Die Technologie ist weit fortgeschritten, hat jede Spur der Natur vollständig beseitigt und beherrscht alles. Die Bevölkerung Athens ist in zwei Kategorien eingeteilt, die Tal, die Produkte des Klonens sind und als Sklaven benutzt werden, und die Sap, die Menschen an sich, bei denen es aber auch eine strenge Hierarchie gibt, die durch genetische Interventionen und Intelligenztests bestimmt wird. »Niemand kann die Prinzipien des Systems, des sogenannten ›genetischen Kapitalismus‹ infrage stellen. Intelligenz- und Leistungstests lassen – wissenschaftlich und dokumentiert – keine Gegenstimme zu.« (Mantis 2014) Der Protagonist ist das Kind einer verbotenen Vereinigung einer Sap-Mutter und eines Tal-Mannes, dem es gelingt, sich als Tal einbürgern zu lassen, um die Privilegien der höheren Klasse zu genießen. Um sein Geheimnis zu bewahren, schreckt er auch vor Mord nicht zurück. Obwohl der Eindruck entsteht, dass bei ihm keine Spur des Menschlichen mehr vorhanden ist, eröffnet sich ihm
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ein Weg, der ihm hilft, einen entscheidenden Teil seines fragmentierten Selbst zurückzugewinnen. Er rettet jemandem das Leben, was bei ihm das Gefühl auslöst, etwas von seinem alten Selbst zu retten. Der dystopische Roman endet mit einem kleinen Schimmer von Optimismus. Selbst in einer völlig seelenlosen Welt bleiben Spuren von Menschlichkeit erhalten (vgl. Kurtovik 2020, 288). Die Kritik erkennt in Mantisʼ Schreiben Einflüsse von Science-Fiction-Film und -Literatur, vor allem aber die psychologische Atmosphäre der ökonomischen Krise, die Griechenland im Entstehungsjahr des Romans besonders hart traf (Dimitroulia 2014a; Kurtovik 2013). Die Romane der griechischen Schriftstellerin Ioanna Bourazopoulou (geb. 1968), etwa einer ihrer ersten Romane Was die Frau von Lot sah (Τι είδε η γυναίκα του Λωτ, 2007),7 können gleichfalls als kritische Dystopien bezeichnet werden. Dieser Roman wählt den Rahmen der postapokalyptischen Narration und beschreibt das Fortbestehen des Lebens nach einer großen geophysikalischen Katastrophe, bei der ein Großteil unserer bekannten Welt zerstört wurde. Nach dem Anstieg des Meersspiegels beim Toten Meer, 40 Jahrhunderte nach der Zerstörung der biblischen Städte Sodom und Gomorra, versanken die nordwestlichen Küsten Afrikas, die gesamte Türkei, der Balkan bis Wien, Italien, die Schweiz, Frankreich bis Paris und der östliche Teil der Iberischen Halbinsel im Meer. In der postpolitischen Realität des Romans wird die Welt vom internationalen Kapital, von Gesellschaften und Konzernen beherrscht. Es handelt sich dabei um ein unsichtbares Unternehmen, das sogenannte Gemeinschaftsunternehmen der 75, das sich die Katastrophe zunutze macht und eine Kolonie im Bereich des Toten Meeres gründet, ein Monopolunternehmen zur Gewinnung eines mysteriösen violetten Salzes, das ein wertvoller Rohstoff der neuen Zeit ist. Beschrieben wird das Leben in dieser Kolonie, das beispielhaft für das neue Leben steht. Und wie in den meisten Dystopien herrscht auch hier eine totalitäre Macht, die die Menschen durch Überwachung, unsichtbare Drohung und psychologischen Druck manipuliert und unterjocht, sodass sie am Ende ohne Willen wie »programmierte Roboter« sind (Bourazopoulou 2007, 462), ohne jede Möglichkeit selbst zu denken und zu handeln. Das Besondere an diesem Roman ist jedoch, dass dieselben willenlos der Macht ausgelieferten Menschen sich am Ende gegen eben diese Macht auflehnen. Das Ende ist offen und bietet den Lesern und den Protagonisten die Möglichkeit der Hoffnung.8 Im Hinblick auf ihren späteren Roman Das Tal des Schlammes (Η κοιλάδα της λάσπης, 2014),9 bei dem auch Öffnungen
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Der Roman wurde mit Literaturpreisen ausgezeichnet und ins Englische, Französische und Bulgarische übersetzt. Die Zeitung The Guardian hat ihn in die Liste der besten Science-Fiction-Romane des Jahres aufgenommen. Zur Interpretation des Romans als kritische Dystopie, siehe Paparousi 2015. Der Roman ist Teil der Trilogie Der Drache vom Prespasee, von der bis heute die beiden ersten Bände erschienen sind: Das Tal des Schlammes und Die Bernstein-Wüste (Κεχριμπαρένια έρημος, 2019).
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zum Optimismus zu finden sind, sagte Ioanna Bourazopoulou: »Mich interessiert immer die Dynamik der Visionen. Ich verteidige unsere Fähigkeit und unser Recht, auch vom Unmöglichen zu träumen und dafür zu kämpfen« (Chartoulari 2015).
4. Thematisierung von ökologischen Fragen im Abenteuerroman und Ökothriller Der Schriftsteller Jorgos Zarkadakis (geb. 1964) ist Ιnformatikingenieur mit einer Dissertation über künstliche Intelligenz und deren Anwendung in der Medizin. In seinen Romanen und Erzählungen dominieren Elemente der Science-Fiction und der Dystopie. Sein Roman Die Geheimnisse der Länder Ohne (Tα μυστικά των χωρών χωρίς, 1996) wurde bei mehreren Literaturblogs als erster griechischer CyberpunkRoman charakterisiert. Alle Geschichten seines Erzählbandes Der Tag als Amerika verschwand (Η μέρα που η Αμερική εξαφανίστηκε, 2002) beschreiben eine »dystopische Zukunft, die von unheilbaren Krankheiten, schädlichen Nahrungsmitteln, einer vergifteten Atmosphäre und totalem geistigen und politischen Verfall völlig erodiert ist« (Panorios 2003). In seinem Roman Der Übergang (Το πέρασμα, 2004) hat der Klimawandel zu einer neuen globalen Eiszeit geführt. Die Überlebenden nennen diese die Kälte. Ein Schriftsteller wird von einer mysteriösen Organisation beauftragt, das Verschwinden eines Wissenschaftlers aufzuklären, der diese klimatischen Entwicklungen wissenschaftlich vorausgesagt hatte und möglicherweise das Wissen besitzt, sie auch wieder rückgängig zu machen. Der fiktive Schriftsteller erzählt von seinen Abenteuern in der Kälte. Innerlich zerrissen wandert er in einer formlosen, von Eis bedeckten Welt umher und gelangt in mythische und fantastische Regionen. In dem Roman überwiegt das abenteuerliche, fantastische und mythische Element und überdeckt die ökologisch-kritische Problematik. Der Roman wurde 2007 ins Italienische übersetzt. Deutlicher werden ökologische Fragestellungen in Nikos Komninosʼ Roman Der Funken (Η σπίθα, 2020) formuliert. Nach dem Studium der Psychologie und Informatik und jahrelanger beruflicher Tätigkeit in den USA und in England publizierte Komninos seinen Roman zunächst in englischer Sprache unter dem Titel Single Spark (2019). Der Roman wurde anschließend ins Griechische übersetzt. Er wurde von der Kritik als Science-Fiction-Thriller bezeichnet, vom Autor selbst als Ökothriller charakterisiert (Komninos 2020a). »Beim Schreiben des Romans«, so Komninos, »ging es mir vor allem darum, eine Lösung für das riesige und sich schnell ausweitende Problem des Klimawandels und der Umweltzerstörung durch menschliche Eingriffe vorzuschlagen« (Komninos 2020b). Im Roman werden die Warnungen zur Rettung des Planeten durch eine der Hauptfiguren formuliert, dem Cambridge Professor Richard Bale, der immer wieder mit wissenschaftlichen Argumenten darauf
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hinweist, dass der Planet keine weitere Generation menschlicher Eingriffe überleben werde. Der Planet nähere sich schon dem Point of no Return, an dem wir ihn nicht mehr retten können. Diese mit der Autorität eines Universitätsprofessors vorgetragenen Positionen gewinnen beim Leser besondere Bedeutung. Die für den Ökothriller charakteristische Erzählstrategie der »Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen auf dem aktuellen Stand der Forschung, verpackt in eine fiktive, spannende Handlung« (Dürbeck 2015, 249), findet sich auch in dem Roman von Komninos, der sich so – wie die meisten Beispiele des Genres – »in einem Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Unterhaltung« (ibid., 245) bewegt. In mehreren Interviews betont der Autor, dass er mit seinem Roman die Leser unterhalten und zugleich informieren und warnen wollte. Die Frage der Verantwortung steht im Mittelpunkt des Romans und betrifft alle Bewohner der Erde: »Eine wirklich nachhaltige Lösung wird es nur geben, wenn wir alle, alle Menschen auf diesem Planeten, individuell Verantwortung übernehmen, unseren ökologischen Fußabdruck zumindest ein wenig zu reduzieren« (Komninos 2020b). Diese Ausgangsthese des Romans stellt den Anlass für eine dichte Handlung dar, die in New York, London, Tel Aviv und Athen spielt. Entsprechend international ist das Personal des Romans, das sich aus Wissenschaftlern aus aller Welt zusammensetzt. Bei ihrem geheimen Versuch, die Welt zu retten, entstehen jedoch wichtige ethische Implikationen, die den freien Willen und die individuelle Verantwortung betreffen.10 Zu seinen literarischen Vorbildern zählt Komninos Frank Schätzings Roman Der Schwarm (2004), den er als den »absoluten Ökothriller« (Komninos 2020c) bezeichnet, und er gibt an, dass er vor dem Schreiben des Romans die Bücher von Yuval Noah Harari systematisch gelesen hat, die vom Zusammenbruch des Ökosystems und vom Ende des Homo sapiens sprechen (Komninos 2020a).11
5. Ökokritische Literatur: Michalis Modinos und Michalis Makropoulos Eine der bekannten Persönlichkeiten im Feld des griechischen ökologischen Romans ist Michalis Modinos (geb. 1950), Ingenieur, Geograf, Umweltwissenschaftler und Aktivist. Er war Herausgeber der Zeitschrift Neue Ökologie (1984–1999) und veröffentlichte Studien und theoretische Bücher zum Thema Umwelt. Im Jahr 2000 gründete er das Nationale Umweltzentrum und arbeitete mit internationalen Organisationen zusammen. Ab 2005 zog er sich von diesen Aktivitäten zurück
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Vgl. dazu den Beitrag von Sofia Kokkini in diesem Band. Gemeint sind die Studien Eine kurze Geschichte der Menschheit und Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen (Harari 2013; 2017).
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und widmete sich der Literatur. Ökologische Fragestellungen bestimmen alle seine bisher veröffentlichten Romane. Dabei entwirft Modinos keine zukünftigen dystopischen Welten. Mit dem Fachwissen seiner wissenschaftlichen Studien und seiner Reisen um die ganze Welt beschreibt er den aktuellen Zustand des Planeten, der bereits in einem alarmierenden und der Reflexion bedürftigen Zustand ist. Die Handlung in seinem Roman Wilder Westen, eine Liebesgeschichte (Άγρια Δύση, μια ερωτική ιστορία, 2013) spielt nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt, »als dem Schauplatz eines gemeinsamen Dramas« (Kurtovik 2020, 310). Der Titel bezieht sich auf den US-Staat Montana, die Heimat der Protagonistin, mit einer parodistischen Anspielung auch auf das Genre des Western, zugleich aber auf Levi Straussʼ Wildes Denken (vgl. Aristinos 2013)12 und auf den Westen als Kultur und Zivilisation, der die Plünderung der Natur zugunsten des technischen Fortschritts angestoßen hat. Das Adjektiv wild im Titel weist darauf hin, dass der Westen weit von der »humanistischen Tiefe der europäischen Ethik entfernt ist« (ibid.).13 Auf dem Altar des technischen Fortschritts und im Namen der Globalisierung opfert der Westen rücksichtslos die Umwelt – »und nun sehen der berühmte ›westliche Rationalismus‹ und die ›anerkannte‹ westliche ›Überlegenheit‹ wie ein falsches Wohlstandsmodell voller Risse und Wunden aus« (Skouzakis 2014). Die Entwicklung als vorherrschende Ideologie und politische Praxis des Westens in der Nachkriegswelt wird freilich in Modinosʼ Roman programmatisch behandelt: Es ist ziemlich einfach zu sehen, wie die Welt so geworden ist. […] Nachdem der Marshallplan Europa erobert hatte, wandte sich die Weltbank der neu geschaffenen »Dritten Welt« zu, den bis dahin »armen Ländern des Planeten«. Entwicklung wurde zu einer exportierbaren Ware. Jeder konnte und jeder musste sich entwickeln. […] Heute können sich die Entwicklungsländer – ein Drittel der Welt – an eine Vielzahl von Organisationen wenden, die sie mit Krediten unterstützen […]. Dies ist das große Entwicklungsprojekt der Nachkriegszeit […], die Anreize aber sind nicht idealistisch […]. Sie [die Weltbank] verleiht Geld, damit die armen Länder Investitionsgüter, Technologie und vor allem Konsumgüter aus den entwickelten Ländern importieren. […] Die Finanzierung der Entwicklung ist billiger als ein brutaler, reiner Kolonialismus und für die Massen in Ost und West, Nord und Süd akzeptabel (Modinos 2013, 415f.).
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Modinos behandelt das Verhältnis »Mensch-Natur« häufig anhand der Konfrontation der Kulturen afrikanischer Gemeinschaften mit dem Westen. Diese Thematik spielt in Wilder Westen eine Rolle, aber auch in seinen Romanen Der blaue Nil (O μεγάλος Αμπάι, 2007) und Goldene Küste (Χρυσή ακτή, 2005). Ähnlich fungiert das Adjektiv wild im Titel des Romans von Nikos Mantis Wilde Akropolis, siehe oben. Durch die Charakterisierung »wild« wird das emblematische Zeichen des Ursprungs der westlichen Kultur relativiert, aufgehoben und ihr Bankrott gezeigt.
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Seine kritische Stellung zur Entwicklung beschreibt Modinos in seiner Studie Die Archäologie der Entwicklung (1996), die als »essayistisches Gegenstück« (Antoniou 2017) zu dem Roman Wilder Westen betrachtet werden kann.14 In der titelgebenden Liebesgeschichte seines Romans Wilder Westen geht es um die Beziehung zwischen einer amerikanischen Expertin für Entwicklungshilfe im Auftrag von internationalen Organisationen und einem griechischen Schriftsteller. Sie beginnt in den 1960er-Jahren auf der griechischen Insel Milos und scheint trotz der Entfernung und der Unterbrechungen die Zeit zu überdauern. Diese Liebesgeschichte dient jedoch eher als Hintergrund, um die global-ökologischen Themen des Romans zu beleuchten. Bei dem scharf formulierten entwicklungskritischen Diskurs, der den Roman durchzieht, wird immer wieder auf die katastrophale Abwertung der Natur und auf den rücksichtlosen Raubbau an ihr Bezug genommen: »Es kann kein ständiges Wachstum der menschlichen Wirtschaft geben, da unsere Welt nicht unbegrenzt ist. Es gibt keine Akkumulation […]. Wachstum ist ein leeres Wort, ein verfluchtes Wort […]. In seinem Namen wird alles getan, zulasten der Natur, der Menschen.« (Modinos 2013, 415f.). Eines der ersten literarischen Vorbilder für Modinos’ Schreiben war Frischs Homo faber. In einem Interview charakterisiert er den Roman des Schweizers als »einen Durchbruch in der modernen Literatur in Bezug auf das Verhältnis des Menschen zur Natur« (Modinos 2014). Frisch kreiert, so Modinos weiter, bereits Mitte der 1950er-Jahre mit dem Ingenieur Walter Faber einen »Helden, der die Ideologie der Technik, die Entzauberung der Welt, den Glauben an den kontinuierlichen Fortschritt und letztendlich die Unterordnung des gesamten Planeten unter dem Triumph der Wissenschaft mit fatalen Folgen verkörpert« (ibid.). Modinos versteht sich als kosmopolitischer Autor: »Ich bringe den Aspekt des Kosmopolitismus in die griechische Literatur zurück. Das gehört zu den Charakteristika meines Werks«, sagt er in einem Interview, und fährt fort: »Das Bestreben, unseren modernen griechischen Staat zu festigen, führte zur Introversion, unsere Literatur behandelt immer wieder ausschließlich griechische Themen. Brennende zeitgenössische internationale Themen wie der Klimawandel können die griechische Literatur nicht unberührt lassen« (Modinos 2019). Im Roman, der auch literarisch-poetische Reflexionen enthält, lässt Modinos den amerikanischen Autor Don DeLillo auftreten, der Folgendes sagt: »Was deine literarische Zukunft betrifft, möchte ich dir keine Geschichte erzählen, indem ich dich auffordere, dich an die Standarddaten zu halten – zum Thema Widerstand, Kleinasiatische Katastrophe
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Aber auch in anderen Romanen, wie z.B. Wiederkehr (Επιστροφή, 2009), in denen u.a. das Verdorren der griechischen Provinz durch die Umsetzung nationaler und regionaler Entwicklungspläne beschrieben wird, oder in der in der Finanzkrise entstandenen Novelle Letzter Ausgang: Stymphalia (Τελευταία έξοδος: Στυμφαλία, 2014), die den Zusammenbruch des griechischen Entwicklungsmodells satirisch darstellt.
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und Polytechnio-Generation und dergleichen –, obwohl ihr damit rechnen müsst, dass viele Mittelmäßige damit leichte Karriere machen werden. Aris Alexandrou mag eine Ausnahme sein – die Kiste ist ein großartiges Buch« (Modinos 2013, 378). Die Novellen Schwarzes Wasser (Μαύρο Νερό, 2019) und Das Meer (Η Θάλασσα, 2020) von Michalis Makropoulos können als griechische Antwort auf die Frage der »notwendigen« Internationalisierung der Literatur sein, wenn man von ökologischen Problemen sprechen will. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf seine Novelle Schwarzes Wasser.15 Es handelt sich um eine dystopische Geschichte, die in der nahen Zukunft – Jahre nach dem Ende einer für Umwelt und Einwohner katastrophalen Ölförderung durch ein Unternehmen mit dem Namen RIPOIL – in einem griechischen Bergdorf in Epirus spielt. Das Wasser, die Pflanzen und die Tiere sind verseucht, die meisten Menschen – vor allem die Frauen – sind erkrankt und gestorben, während einige wenige an ihren angestammten Plätzen ein Leben am Rande der Existenz führen müssen. Unter ihnen sind ein Vater, der einfach »der Vater« genannt wird, und sein mit verkümmerten Gliedmaßen geborener Sohn Christoforos. Beide wollen das Dorf um keinen Preis verlassen. Die Wanderungen des Vaters mit dem Sohn auf dem Rücken in einer postapokalyptischen Landschaft mit verlassenen Häuser- und Kirchenruinen, einer üppigen, aber vergifteten Natur, in der verrostete Überreste (Rohre, Ölquellenpumpen) aus der Epoche der Förderung zu sehen sind, erinnern an Andrej Tarkowskijs Film Stalker, von dem der Autor stark inspiriert ist (vgl. Makropoulos, Anhang). Realer Hintergrund für die Novelle waren die Aktivitäten der letzten Jahre zum Beginn der umweltgefährdenden Kohlenwasserstoffgewinnung in Epirus. Makropoulos, der regelmäßig längere Zeiten in Pogoni, Epirus, verbringt, hat sich frühzeitig öffentlich dagegen ausgesprochen.16 Auf 70 dicht formulierten Seiten bietet der Autor die griechische Variante einer ökokritischen Literatur, in der sich Nuancen des lokalen epirotischen Idioms in einer lebendigen und eleganten Sprache verbinden. Der Kern der Problematik bleibt grenzüberschreitend, die literarischen Mittel jedoch widersetzen sich der Globalisierung. Seine Schreibdiktion in der Novelle Schwarzes Wasser charakterisiert der Autor als »genuin griechisch: Sie folgt der langen Tradition, die unsere Literatur in der kurzen Form hat, steht in ständigem Dialog mit der modernen griechischen
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Vgl. dazu den Beitrag von Elli Carrano in diesem Band und das Statement des Autors im Anhang. Der Autor nahm mit einer Rede an der Eröffnung der als visueller Protest konzipierten Ausstellung und »Epirus Melanoessa« teil, die von der Bürgerinitiative der Insel Lefkas unterstützt wurde. Die Ausstellung mit Werken der Künstler Yannis Falconis und Kostas Zisis gegen die zerstörerische Kohlenwasserstofförderung in Epirus und die Umwandlung der natürlichen Umgebung in eine schwerindustrielle Landschaft wurde im Dezember 2019 in Athen und im Februar 2019 in Lefkas gezeigt.
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Poesie und ist sichtbar oder unsichtbar mit der Tradition des griechischen Volksliedes verbunden und reicht zurück bis zur griechischen Tragödie« (Makropoulos, Anhang).
6. Klimaprobleme und anthropogene Katastrophen als Allegorien Im Mittelpunkt dieses Abschnitts stehen Romane, die ökologische Fragen eher als Hintergrund verwenden, um sich allegorisch auf andere Problematiken zu konzentrieren. Das erste Beispiel ist der dystopische Roman mit dem Titel Sauer Regen (Όξινη βροχή, 2013) von Maria Pauel, der in einem verfallenen Athen der Gegenwart spielt, wo es unaufhörlich regnet. Schon auf den ersten Seiten des Romans beginnt es zu regnen, der Regen wird immer heftiger, wolkenbruchartig, und nimmt am Ende eschatologische Dimensionen an. Nicht nur die unzulänglichen Keller werden wie üblich überflutet, das Wasser zerstört alles, was ihm in den Weg kommt, lässt Gebäude einstürzen, zerstört Wohnhäuser, Geschäfte, Straßen, und ertränkt Menschen. Bilder, die auf eine künftige ökologische Katastrophe verweisen, die aber jedem Leser und jeder Leserin schon vertraut vorkommen. Das bedrohliche Wasser, die Naturkatastrophe, die man nicht eindämmen kann, wirkt zugleich allegorisch und führt das Imaginäre in die Erzählung ein. Eine Allegorie auf das heutige Leben, auf soziale Katastrophen, Auflösung und Verfall. Durch die Geschichte der beiden Protagonisten, zwei einsame Menschen, die zufällig für eine Weile zusammenkommen, zeigt die Autorin mit filmischer Technik die Traurigkeit, den Niedergang, die unvermeidliche Zerstörung des Individuums und der Gesellschaft, die Auflösung der kollektiven und individuellen Identität in der heutigen Athener Gesellschaft (vgl. Dimitroulia 2014b). Ähnliches geschieht auch in dem Roman von Akis Papantonis17 Seichtes Wasser, Schatten (Ρηχό νερό, σκιές, 2019), bei dem das Unglück von Tschernobyl den Rahmen der Narration bildet und die zeitliche und räumliche Ebene des Romans bestimmt, ohne jedoch thematisch im Vordergrund zu stehen. Es schwebt, wie der Autor selbst sagte,18 halbsichtbar im Hintergrund. Im Mittelpunkt des Romans steht das Leben der Mitglieder von vier Familien verschiedener Generationen in der in den 1970erJahren als Wohnort für die Arbeitskräfte des Atomreaktors gegründeten Stadt Prypjat. Der Roman spielt kurz vor und gleich nach dem Unglück und behandelt dabei
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Akis Papantonis wurde 1978 in Athen geboren. Er hat Biologie an der Universität Athen und an der Universität Oxford studiert. Heute ist er Professor an der Georg-August-Universität Göttingen im Bereich Biophysik und Mοlekulare Biowissenschaften. Der Autor war im Rahmen des DAAD-Projekts Gast des ersten digitalen Workshops, der im Juni 2021 stattfand, und hat sich den Fragen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen gestellt.
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das Thema des individuellen und kollektiven Gedächtnisses. Tschernobyl bleibt jedoch in der Erzählung immer anwesend, da die Erzählweise etwas Schattenhaftes und Dunkles hat, obwohl keine realistischen Beschreibungen des Unglücks gegeben werden. Die Beweglosigkeit, das stagnierende seichte Wasser, in dem sich die Protagonisten bewegen, verweisen auf Tod und ein eschatologisches Ende. Auch die Beschreibung der Räume – der traurigen Wohnblocks und der nach der Katastrophe evakuierten Stadt –, die als Bilder der inneren Verwüstung der Protagonisten fungieren, strahlt etwas Unheimliches und Apokalyptisches aus.
7. Griechische Lyrik und Theater Axel Goodbody (2016) unterscheidet drei Perioden in der Geschichte der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert in Bezug auf die Thematisierung der Natur: Naturlyrik, Umweltlyrik, Lyrik im Anthropozän. Das Schema lässt sich auch im Bereich der griechischen Lyrik anwenden. Naturlyrik als Darstellung des Ideals der Einheit des Menschen mit der Natur und mit der Hervorhebung der göttlichen Elemente der Natur herrscht auch im griechischen 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vor, z.B. in der Dichtung von Dionysios Solomos, Kostis Palamas, Angelos Sikelianos und Odysseas Elytis. Ein Beispiel für Umweltlyrik als poetische Anklage der für die geschändete und gefährdete Natur Verantwortlichen bietet in den 1970er- und 1980er-Jahren die Dichtung von Nikos Gatsos, Nikiforos Vrettakos oder Titos Patrikios. Die gegenwärtige Lyrik im sogenannten Zeitalter des Anthropozäns nimmt eine globale Perspektive zum Klimawandel ein und formuliert posthumanistische Einsichten in die gegenseitige Abhängigkeit von Mensch und Natur. Solche Gedichte mit einer Abkehr vom anthropozentrischen Blick auf die Natur finden sich verstreut in Gedichtbänden zeitgenössischer griechischer Dichter wie Argyris Chionis, Manolis Pratikakis, Liana Sakeliou, Sotiris Sarakis u.a.19 Ich beschränke mich hier auf die Vorstellung von zwei Dichtern, die in den letzten Jahren Gedichtsammlungen mit ökologischen Themen veröffentlicht haben: Michalis Gannas und Dinos Siotis. Der Gedichtband Absinthus (Άψινθος, 2012) von Michalis Gannas (geb. 1944) setzt sich mit der Offenbarung des Johannes auseinander, der er seinen Titel verdankt. Absinthus ist der Name des Sterns (dt. Wermut), der auf die Erde fiel und ein Drittel des Trinkwassers vergiftete: »Und viele der Menschen starben durch das Wasser, weil es bitter geworden war« (Offb. 8,11). Aus der Apokalypse übernimmt der Dichter auch
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Vgl. die Anthologie von Dora Menti (2018) mit griechischen Gedichten zum Thema Blumen vom 19. Jahrhundert bis heute. In der von Maria Topali in Deutschland herausgegebenen Anthologie griechischer Lyrik des 21. Jahrhunderts (Topali 2018) finden sich weitere Beispiele für griechische Gedichte mit ökokritischem Inhalt.
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mehrere biblische Bilder, um die eschatologische Perspektive unserer gegenwärtigen dunklen Welt zu beschreiben. Es handelt sich um eine poetische Komposition in zwei Teilen: Im ersten Teil wechseln sich das Gestern und Heute in der Atmosphäre einer bevorstehenden oder bereits eingetretenen Sintflut ab, mit unbetitelten Gedichten auf der rechten Seite und Sätzen aus der Offenbarung auf der linken Seite, auf die der Dichter Bezug nimmt. Gannas steht aber auch in Dialog mit zeitgenössischen Dichtern, wenn er etwa Verse von Jorgis Pavlopoulos’ Gedicht »Wo sind die Vögel« zitiert. Der zweite Teil ist geprägt von der Erinnerung an geliebte Menschen – lebende und verstorbene – in einem persönlichen, bekenntnishaften Ton. Die Sammlung spricht vom Ende der Tage, persönlichen und weltlichen. Existenzielle Angst vor dem Tod wird mit der Angst vor dem Ende der Welt verwoben. Ein Dichter, der seit 2007 systematisch die Umweltkatastrophe in seiner Lyrik thematisiert, ist Dinos Siotis (geb. 1944). Seine Sammlung Feuergedichte (Ποιήματα πυρκαγιάς, 2007)20 erschien gleich nach den verheerenden Bränden auf der Insel Euböa und insbesondere auf der Peloponnes in der Region Zacharo im Jahr 2007. In der Sammlung herrscht das beklemmende Gefühl einer biblischen Umweltkatastrophe. Viele von den Gedichten sind von Gefühlen der Frustration und des Widerstands gegen die Gleichgültigkeit der Politik und der Politiker durchdrungen, in einem Ton, der von Ironie bis zum Sarkasmus reicht. War in Siotisʼ früheren Sammlungen seine Liebe zur Natur offensichtlich, so dominiert nun das albtraumhafte Gefühl der Angst angesichts der Verwirklichung der ökologischen Zerstörung. Seine Gedichte bleiben jedoch auch immer sozialkritisch: der Blick auf die verbrannte und verlassene Naturlandschaft ist zugleich ein Blick auf die ihrer Werte beraubte, verbrannte und verlassene soziale Landschaft (vgl. Zotopoulos 2008). In seinen späteren Sammlungen Wiederaufzuforstende Aschen (Αναδασωτέες στάχτες, 2009), Dauer-Realityspiel mit Semikola (Ριάλιτι διαρκείας με άνω τελείες, 2015) und Im Schatten des Windes (Στη σκιά του ανέμου, 2019) ist die ökologische Thematik vorherrschend. Von der griechischen Kritik wurde diese letzte Sammlung als Lyrik im Anthropozän charakterisiert (vgl. Vousis 2021), eine Bezeichnung, die erst in den letzten beiden Jahren in Griechenland verwendet wird.21 Erwähnt seien noch zwei weitere kürzlich erschienene Sammlungen mit ausgesprochen ökologischer Problematik: Jorgos Gotisʼ Reise im Schatten (Ταξίδι στη σκιά, 2021) und Jorgos Veis’ Felsen (Βράχια, 2020).
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Siehe im Anhang dieses Bandes zwei ins Deutsche übersetzte Gedichte von Dinos Siotis. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die letzte Nummer der griechischen Zeitschrift Farmako (Φάρμακο, Sommer 2022) dem Anthropozän gewidmet ist. Unter mehreren theoretischen Artikeln befindet sich auch eine Sektion mit dem Titel »Lyrik im Anthropozän«, die ausgewählte ins Griechische übersetzte deutsche Gedichte enthält.
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Auch im Bereich des Theaters werden zögernd ökokritische Stimmen laut, sowohl bei der Produktion von neuen dramatischen Texten22 als auch bei innovativen Inszenierungen.23 Es fragt sich jedoch, inwieweit Theatervorstellungen und Performances entstehen, die tatsächlich eine »ökologische Wende« mobilisieren. In diesem Zusammenhang ist Anna Tzakous Geopoetik zu nennen,24 eine Praxis, die sich auf eine verkörperte Erfahrung des Ortes und auf die Interdependenz von Mensch und Umwelt konzentriert, sowie die Arbeit der Choreografin Apostolia Papadamaki, die die erste Unterwasser-Performance mit körperlich gesunden und behinderten Tänzern kreierte. So gibt es also auch in Griechenland, wenngleich sporadisch, Tendenzen, die internationalen Beispielen folgend durch die Mischung verschiedener Formen wie Tanz, Theater und Technologie oder interaktive Installationen und textbasierte Arbeiten, die außerhalb von Theatergebäuden stattfinden, Fragen der Beziehung des Menschen zu seinem natürlichen Lebensraum thematisieren, einen umweltbewussten Ansatz kreieren und durch fantasievolle Wege versuchen, die Logik des Anthropozentrismus umzukehren (vgl. Fragkou 2021).
8. Abschließende Bemerkungen Viele von den oben erwähnten Autoren verstehen die verspätete Erscheinung von futuristischen und ökobezogenen Themen in der griechischen Literatur als einen Ausdruck dessen, was Gregory Jusdanis im Kontext der griechischen Literatur und Kultur als Belated Modernity bezeichnet hat (Jusdanis 1991), d.h. der verspäteten Modernisierung aufgrund der verspäteten Entstehung einer nationalen ästhetischen Kultur und einer autonomen kulturellen Identität in Griechenland. Dies hat die griechische Literatur zu einer ständigen Introversion geführt, zur ständigen Beschäftigung mit nationalbezogenen Themen. Das formuliert am klarsten Michalis Modinos (siehe oben). Nikos Vlantis z.B. findet besonders positiv, »dass es junge Leute gibt, die moderne Bücher schreiben, die sich nicht mehr mit dem Bürgerkrieg, der Diktatur oder der kleinasiatischen Katastrophe beschäftigen« (Vlantis 2004). Auch Nikos Mantis meint, dass in der griechischen Literatur oft alte Themen »recycelt werden«,
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Zum Theater siehe den Beitrag von Nikos Koskinas in diesem Band. Genannt seien hier beispielsweise die Aufführungen der Bühnenbearbeitung von Evgenij Zamjatins Roman Wir (1920), die 2015/16 im Rahmen einer kühnen und innovativen Inszenierung des Ensembles Nullpunkt (Σημείο Μηδέν) auf die Bühne des Athener Theaters »Attis« gebracht wurde, und die Inszenierung der Klimatrilogie paradies fluten/paradies hungern/paradies spielen (2017) des österreichischen Dramatikers Thomas Köck im November 2021 in Athen (Theater Onassis-Stegi) in Anwesenheit des Autors. Vgl. die Homepage der Künstlerin https://annatzakou-geopoetics.com/el/home/
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»byzantinische Geschichten über unsere Vorfahren«, über »Dörfer, denen eine gewisse Heiligkeit zugeschrieben wird«, aber es reiche nicht aus, »heute nur über sie zu sprechen« (Mantis, 2010). Es ist kein Zufall, dass fast alle Autoren und Autorinnen, die sich mit ökologischen und allgemeinen futuristischen Fragen beschäftigen, Naturwissenschaften, Informatik oder Neue Technologien studiert haben, mit den internationalen wissenschaftlichen Entwicklungen besser vertraut sind. Sie beherrschen zugleich die Geheimnisse der Technik und können sie überzeugend in ihren Romanen darstellen. Charakteristisch ist es aber, dass sich viele dieser Autoren, die Zukunftsdystopien darstellen, gleichzeitig auch auf die griechische Antike besinnen, wie z.B. Nikos Vlantis, der sich auf den revolutionären Prometheus bezieht, um eine utopische Revolution zu imaginieren, oder Mantis, der auf die Akropolis Bezug nimmt, um über den Verfall der westlichen Kultur zu sprechen. In seinem Roman Wilde Akropolis steht über dem verschmutzen, globalisierten und dystopischen Athen des 22. Jahrhunderts künstlich beleuchtet das geklonte Monument. Jorgos Lambrakos25 versucht mithilfe der antiken Mythologie die Zukunftswelt zu interpretieren. So siedelt er in seinem letzten Roman Blut Maschine (2019) die mythische Familie der Orestie in einer fernen Zukunft an, in der die Menschen nach dem Ende von zwei weiteren Weltkriegen (einer wegen Überbevölkerung, der andere wegen der globalen Erwärmung) zu Maschinenmenschen mutiert sind. Die alte Geschichte von Liebe, Rache und politischen Interessen, wird als Vorlage verwendet, um den Kampf um die Macht in den Bereichen der Technologie und der Wissenschaft zu beschreiben. Was schließlich die Terminologie zur Beschreibung literarischer Werke angeht, so scheint es unter Schriftstellern, Kritikern und Literaturwissenschaftlern keinen Konsens zu geben. Die Werke selbst lassen sich nicht immer in eindeutige Kategorien einordnen. Charakteristisch für diese neuere Literatur ist, dass die literarischen Gattungen fließend sind und Mischformen entstehen.
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Vgl. den Beitrag von Iordanis Koumasidis in diesem Band sowie das Statement des Autors im Anhang.
Ökokritische Aspekte in der griechischen Literatur
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Humanities for the Anthropocene? Am Beispiel der Auseinandersetzung mit Dirk C. Flecks Das Tahiti Projekt Monika Albrecht
Unter dem Titel »Humanities for the Anthropocene« fanden im Sommer 2021 mindestens zwei unterschiedliche Online-Veranstaltungen statt – im Mai von University College Cork ausgehend und im Juli als Kooperation der Universitäten Victoria in British Columbia und Puget Sound in Washington State. Beide verstehen sich als Netzwerk-Initiativen und als Teil von oder Auftakt zu künftigen größeren Projekten. Auch aus einem früheren Projekt »Humanities for the Environment«, einer großangelegten Allianz zwischen Universitäten in Nordamerika, Europa und Australien (Holm et al. 2015, 978), sind schon ähnliche Veranstaltungen hervorgegangen, 2017 und 2018 dann ebenfalls unter dem Titel »Humanities for the Anthropocene« (Adamson et al. 2021). Im Gegensatz zu früheren Initiativen fällt auf, dass nunmehr die Rolle der Geisteswissenschaften im Hinblick auf den Beitrag diskutiert wird, den sie zur Lösung anthropogener Klima- und Umweltkrisen leisten können. Entsprechend betonen die Ankündigungstexte der »Humanities for the Anthropocene«-Veranstaltungen das Beispiellose und Dringliche der Frage nach der Situation der Geisteswissenschaften in einer Zeit, in der ›der Mensch‹ dauerhaften Einfluss auf sämtliche Prozesse des Planeten ausübt (Ní Dhúill et al. 2021). Wenn davon ausgegangen wird, dass die Umweltkrise bisher nicht dagewesene Auswirkungen auch auf intellektuelle Tätigkeitsfelder hat, geht es tatsächlich um die Notwendigkeit einer grundlegenden Umgestaltung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen und damit um eine Neupositionierung ohne Präzedenz (Pnevmonidou und Imbrigotta 2021). Der Titel »Humanities for the Anthropocene« – anstelle von »in« oder »und« – ist daher bewusst gewählt und soll die Frage forcieren, was es im Zeitalter des Anthropozän bedeuten könnte, auf verantwortungsvolle Weise in den Humanities zu arbeiten (ibid.). Solche Initiativen und Reflexionen gehen tatsächlich über die übliche Rhetorik in den Geisteswissenschaften hinaus, wo ja immer schon irgendwie auf die unterschiedlichsten ›neuen Herausforderungen‹ reagiert und nach ›neuen Antworten‹ auf solche ›neuen Herausforderungen‹ gesucht wurde. Offenbar steht inzwischen
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der Gedanke im Raum, dass sich etwas grundsätzlich ändern muss – das heißt, nicht nur generell in der Lebenswelt und in unserem Mobilitäts- und Konsumverhalten, nicht nur in der Art, wie das Ziel von Wirtschaftswachstum und Fortschritt in vielen Bereichen nach wie vor weitgehend tabuisiert wird, sondern allem Anschein nach nunmehr auch in der Art, wie Wissenschaft betrieben wird. Denn dass so etwas wie ein »Übergang vom fortschrittsüchtigen Wohlstandsstaat zur in sich ruhenden Wohl-Seins-Gesellschaft« eigentlich dringend »nötig« wäre (Ferst 2008b, 695), ist spätestens seit dem Bericht des Club of Rome über Die Grenzen des Wachstums von 1972 (Meadows et al. 1972) bekannt und wird auch kaum noch ernsthaft in Zweifel gezogen. Der Gedanke, dass es genau deshalb auch in den Geisteswissenschaften nicht mehr so weiter gehen kann wie bisher, ist jedoch in dieser Deutlichkeit noch relativ neu. Unübersehbar ist dagegen in jüngster Zeit die Kritik an den äußeren Rahmenbedingungen von Wissenschaften und Kunst, die davon zeugen könnte, dass tatsächlich etwas in Bewegung kommt. So wird beispielsweise die »Klimabilanz von Kunst« (Rauterberg 2021) und von Museen (Timm 2021) heute nicht mehr als normal wahrgenommen und als solche akzeptiert. Kritisiert wird vielmehr eine »Kulturwelt«, die sich vordergründig »ganz entschieden für den Klimaschutz« einsetzt und doch selbst »Treibhausgase in gigantischem Ausmaß [produziert]« (Rauterberg 2919). In den Wissenschaften haben nicht zuletzt die zahlreichen online stattfindenden Konferenzen während der Corona-Pandemie das Bewusstsein für die Klimaschädlichkeit von Kongress- und Vortragsreisen noch einmal verstärkt. Inzwischen stehen überall da, wo es um solche Reisen und ihre Finanzierung geht, einschlägige Überlegungen auf dem Programm, wie dieses Problem zu lösen sei (Joeres 2019). Dass eine breiter werdende Akzeptanz von Handlungsbedarf bei diesen Rahmenbedingungen auch Auswirkungen auf Grundsätze und Prinzipien der Geisteswissenschaften selbst hat, wird bereits deutlich, wenn man in Betracht zieht, dass es »als Ausweis von Erfolg und Exzellenz [gilt], auf internationalen Tagungen vorzutragen« (ibid.). Während diese Rahmenbedingungen für Kunst und Wissenschaft und ihr Zusammenhang mit den anthropogenen Klima- und Umweltkrisen heute zunehmend diskutiert werden, bewegen sich Überlegungen zur Rolle der Humanities im Zeitalter des Anthropozän bislang – über die eingangs erwähnten Initiativen hinaus – meist in vertrautem Gelände. Geisteswissenschaftler halten eingreifende Ambitionen meist für nicht kompatibel mit akademischer Glaubwürdigkeit und zögern deshalb, sich in dieser Weise zu positionieren (Holm et al. 2015, 985). Überhaupt scheint die Mehrzahl der in den Humanities Arbeitenden auch mit ihren traditionellen Rollen zufrieden zu sein, also beispielsweise der Aufgabe, zu einem besseren Verständnis dessen beitragen, was gerade vor sich geht oder in früheren Zeiten vor sich gegangen ist. Wenn dagegen der Gedanke im Raum steht ist, dass Kultur- und Geisteswissenschaften ihren Beitrag zur Lösung von Problemen leisten sollten, dann geht
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es zweifellos um mehr als nur das, was bislang mit der Rhetorik von ›neuen Herausforderungen‹ bewältigt werden konnte. Ob der Klimawandel und seine Folgen, die Zerstörung der Umwelt und das rapide ansteigende Artensterben Auswirkungen auf das haben wird, was die Humanities ausmacht, also auf Ansätze, Theorien, Ziele und Normen und nicht zuletzt auf das Handwerkszeug im Sinne von Problemstellungen und Methoden, ist also ungewiss und derzeit noch nicht abzusehen. Dass radikale Änderungen im Wissenschaftsverständnis grundsätzlich möglich sind – und zwar auch über das Übliche wie etwa Paradigmenwechsel hinaus und im Sinne grundlegender Transformation vormals akzeptierter Standards –, zeigt dagegen das Beispiel postkolonialer Literaturwissenschaft. Weite Teile der in diesem Bereich Arbeitenden haben den Nachweis der unauflöslichen Verstrickung ›westlicher‹ Literatur in koloniale Machtstrukturen und Mentalitäten zu ihrem Hauptarbeitsfeld gemacht (Sorensen 2010, 4–5)1 – mit weitreichenden Konsequenzen: Denn diese Art der Analyse ist nicht ergebnisoffen, sondern basiert auf methodisch fragwürdigen Zirkelschlüssen, insofern ›nachgewiesen‹ wird, was ohnehin als gegeben vorausgesetzt ist, also die Komplizenschaft westlicher Literatur (Albrecht 2021; 2020). Auch andere literaturwissenschaftliche Standards wurden in diesem Feld aufgegeben, vor allem sind Fragen des Literarischen, also der Ästhetik und der literarischen Form aus dem postkolonialen Katalog der Kriterien für Qualität weitgehend entfernt und durch neue Qualitätsstandards ersetzt worden, also beispielweise »depiction of representative minority experience« als solche (Sorensen 2010, x). Die in dieser Weise ideologisch grundierte postkoloniale Literaturwissenschaft findet recht breite Akzeptanz – wenn auch nicht gerade dort, wo auf dem Literarischen bestanden wird –, kann also als Beispiel dafür betrachtet werden, dass politisch-ideologische Ziele in einem akademischen Feld Priorität erhalten können und vermeintlich gesicherte Standards dafür geopfert werden. Hieran anschließend ließen sich heuristische Fragen im Kontext der Umgestaltung geisteswissenschaftlicher Disziplinen stellen – im Hinblick auf die Aufgaben von Literatur also beispielsweise die, ob im Zeitalter des Anthropozän nicht ebenfalls Verschiebungen von Prioritäten nötig wären. Müsste nicht – nach dem Muster der postkolonialen Regelpoetik (Albrecht 2012) – diejenige Literatur im Vordergrund stehen, die erklärten politischen Zielen gerecht wird, in diesem Fall also den 1
Eli Park Sorensen beginnt seine Studie mit der Feststellung: »Until recently, thinking about aesthetics, literariness and literary form within the field of postcolonial studies would have seemed hopelessly reactionary and contradictory. This book analyses some of the reasons for this aversion, while suggesting that postcolonial studies needs to return to a discussion of the literary […].« Auf der Basis dieser Beobachtung geht er davon aus, dass der Zusammenschluss von postkolonialen Denkweisen und Literaturwissenschaft ein Risiko birgt, insofern »one part [postcolonial literariness] may become radically undermined by the other [postcolonial studies]« (Sorensen 2010, x).
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als existentiell wichtig erkannten ökologischen? Angesichts von anthropogenen Klima- und Umweltkrisen könnte beispielweise die Aufwertung und besondere Förderung jener Literatur ein Ziel sein, die – in welcher Weise auch immer – die größtmögliche transformierende Wirkung in der Gesellschaft anstrebt und dadurch den größtmöglichen Beitrag zur Lösung dieser Krisen leistet. Die Konsequenzen einer solchen Priorisierung bei Literatur und Literaturwissenschaft sind allerdings offenkundig – so wie auch die postkoloniale Literaturproduktion oftmals nur gut gemeinte Literatur und große Teile ihrer Wissenschaft vorhersehbare und oberflächliche Analysen hervorgebracht haben (Albrecht 2013, 52). Dennoch bleibt ein Unbehagen, wenn die Idee generell verworfen wird, Literatur und ihre Wissenschaft zumindest auf die Möglichkeiten von Problemlösungen hin zu befragen. Ist nicht jeder, der heutzutage nichts zu den notwendigen Veränderungen beiträgt, Komplize jener »klimapolitischen Untätigkeit«, deren »Anstifter« der Klimatologe Michael Mann inzwischen zur ersten Riege der Mitverantwortlichen für abzusehende Katastrophen zählt (Mann 2021, 47)? Dieses Unbehagen mag der Grund dafür sein, dass in Arbeiten zu ökokritischer Literatur und Climate Fiction Ideen wieder aufleben, die die längste Zeit als überholt betrachtet wurden. Im August 2021 erschien beispielweise ein Aufsatz zum Thema Nature Writing, der eine Frage stellt, die zuletzt in den 1960er Jahren Konjunktur hatte, nämlich: »Ob diese Literatur die Welt verändern kann?« Die Verfasserin fährt fort: »Lange glaubte niemand so recht daran. Doch nun scheint die Überzeugung an Schwung zu gewinnen, dass das Erzählen die Wirklichkeit nicht nur hinterfragen, anders beleuchten und reflektieren, sondern auch entscheidend mitgestalten kann« (Lötscher 2021). Die meisten Schriftsteller der 68er Generation hingegen hatten diese Hoffnung aufgegeben, mit Literatur gesellschaftliche Veränderung zu bewirken, oder diese Hoffnung zumindest in ein realistischeres Programm überführt. Uwe Timm beispielweise hat schon früh darauf bestanden, dass Literatur »zwischen Unterhaltung und Aufklärung« anzusiedeln ist (Timm 1970, 79), und hält sich bis heute daran. Die Frage nach der Wirkung von Literatur ist keine einfache, und nicht ohne Grund gerät die ökokritisch orientierte Literaturwissenschaft regelmäßig in Verlegenheit, wenn das Thema im Raum steht. Dann ist vage die Rede davon, dass diese Literatur zum Nachdenken anregen und für Probleme sensibilisieren soll, oder dass sie geeignet sei, die Leserschaft aufzurütteln – doch Bewusstseinswandel und daraus möglicherweise folgende Verhaltensänderungen sind nur schwer messbar. Mit solchen Aussagen über Literatur im Zeitalter anthropogener Klima- und Umweltkrisen kann man sich zwar auf der richtigen Seite positionieren, womöglich jedoch, um noch einmal Michael Mann zu zitieren, nicht anders als die »Anstifter klimapolitischer Untätigkeit«, denn diese können schließlich auch »behaupten, Lösungen angeboten zu haben – wenngleich keine geeigneten« (Mann 2021, 47). Ich werde diese und andere Fragen am Beispiel eines Romans weiterdiskutieren, der im Horizont der gerade angedachten Verschiebung von Wertkriterien einen
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hohen Rang einnehmen würde, in der Realität jedoch keine Aussichten auf germanistische Weihen im Bereich von Ästhetik und Form hat – Das Tahiti Projekt (2008) des Journalisten und Schriftstellers Dirk Fleck. Der Behauptung, dass ökokritische Literatur, Dystopien oder Ökothriller zum Nachdenken oder Umdenken anregen, steht Dirk Fleck skeptisch gegenüber, in seiner Sicht »fungiert« beispielsweise »die Untergangsliteratur nicht mehr als Warnsystem, sondern ist längst Teil der Unterhaltungsindustrie geworden« (Fleck 2013). Mit dieser Kritik ist er nicht allein, in den letzten Jahren wird immer wieder dazu aufgerufen, sich von den dystopischen Darstellungen in Literatur, Film und Computerspielen zu verabschieden (Bergthaller 2018, 8). Angesichts der Wirkungslosigkeit von Schwarzmalerei wird auch im Bereich der Wissenschaftskommunikation zunehmend über alternative Formen nachgedacht. Die vom Münchener Rachel Carson Center for Environment and Society herausgegebene Zeitschrift Perspectives beispielsweise hat bereits im Jahr 2014 eine Ausgabe mit dem Titel »Beyond Doom and Gloom« veröffentlicht. In der redaktionellen Einleitung dazu hieß es, dass »the way we communicate about the environment is so negative and overwhelming that we are fueling a culture of hopelessness that threatens to seal the planet’s fate« (Kelsey 2014, 5). Als mögliche Alternative wird vorgeschlagen, Geschichten zu erzählen, die Hoffnung geben und zeigen, dass Umweltpolitik keine verlorene Sache ist (ibid., 5–7). Wenn Warn-Dystopien nicht warnen und erst recht nichts bewirken, Leserinnen und Leser es vielleicht sogar »genießen«, wie ein Kritiker glaubt, »wenn die Erde in Endzeit-Szenarien untergeht« (Recktenwald 2009), dann tut Literatur gut daran, »dagegen ›anzuhoffen‹« (Fleck 2013), statt solche Tendenzen zu bedienen und zu verstärken. Mit genau dieser Begründung ist der Roman Das Tahiti Projekt 2009 mit dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichnet worden. Der Roman spielt im Jahr 2022, also von seinem Erscheinen im Jahr 2008 aus betrachtet in einer nahen Zukunft, in der ökologische Katastrophen auf der ganzen Welt rasant zugenommen haben. In »einst gemäßigten Klimazonen der Erde« treten »Tropenstürme« auf, nach »sintflutartigen Sommerregen« kommt es regelmäßig zu »Cholera- und Typhusepidemien«, die »leergefischten Weltmeere« gleichen »riesigen Giftmülldeponien«, und dieses »Horrorszenario«, so der Protagonist, der Hamburger Journalist Cording, ließe sich »beliebig fortschreiben« (Fleck 2008, 15f.): »Jede seiner Reportagereisen bestätigte ihm auf fatale Weise, dass das Urteil für die Menschheit längst gesprochen war: lebenslänglich Treibhaus« (Fleck 2008, 15). Dass Fleck mit seiner Fokussierung auf Energiekonzerne (im Roman »Global Oil«) als Hauptverursacher und Hauptproblem im Übrigen bis heute aktuell ist, zeigt einmal mehr die derzeitige Entwicklung (Buchter 2022). Vor diesem (nicht nur) fiktiven globalen Hintergrund wird das Tahiti Projekt in Szene gesetzt. Das titelgebende Projekt des Romans, ein auf Tahiti umgesetztes alternatives Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell nach ökologischen Gesichtspunkten, ließe sich nach einer Minimaldefinition des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft
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als »Utopie« charakterisieren, nämlich als: »Narrative Entfaltung eines idealen, funktionierenden Gesellschaftsmodells« (Friedrich 2003, 739). In seiner konkreten Ausgestaltung folgt das Modell der Idee des Equilibrismus, der ein »Gleichgewicht zwischen Natur und menschlichem Kulturraum« anstrebt, das »in ein sozio-ökologisches Wirtschaftssystem münden muss, in dem wir Menschen nicht gegen die Natur, sondern mit ihr leben«.2 Der Fiktion nach hat sich die Bevölkerung von Tahiti nach der Unabhängigkeit von Frankreich in demokratischer Abstimmung eben hierzu entschlossen, also »vom puren Überleben ins Leben zurückzufinden«, oder konkreter: eine »radikalökologische Wende« einzuleiten, die »die Menschen aus ihrer Konsumabhängigkeit befreit« und sie »wieder mit der Natur in Einklang bringt, anstatt diese auszuschlachten« (Fleck 2008, 241). Dabei ist gerade nicht an eine Idylle ›zurück zum einfachen Leben‹ zu denken, denn »Tahiti hat sich der modernsten technischen Mittel bedient« (ibid.). Alle Technologien, alternativen Baustoffe und Energieformen dieser ökologischen Wende sind zudem – und das ist das vielleicht Interessanteste an dem Roman – nicht erfunden, sondern nachweislich entweder in der Realität im kleinen Rahmen bereits umgesetzt oder in der Entwicklung. Das galt auch schon für das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell in Ernest Callenbachs Roman Ecotopia aus dem Jahr 1975 (Callenbach 2021, 528), der meist als Namensgeber des Genres Ökotopie und als Vorgänger von Flecks Tahiti Projekt genannt wird. Wenn »Utopien« also, so die gängige Auffassung, »in Raum und Zeit unerreichbare Zustände« entwerfen (Seel 2001, 747; Herv. M.A.), dann ist Das Tahiti Projekt ebenso wenig eine Utopie wie Callenbachs Ecotopia. Denn bei beiden steht gerade die Erreichbarkeit der im Roman dargestellten Zustände im Vordergrund. Callenbachs Roman ist in diesem Sinne als »feet-on-the-ground vision« bezeichnet worden, »not a head-in-the clouds vision« (Margolin 2021, xi), und Flecks Roman zieht mit Hilfe eines Glossars im Anhang ein dichtes Netz von konkreten Realitätsbezügen in die Fiktion ein. Dadurch wird immer wieder daran erinnert, dass es nicht an Möglichkeiten und gegenwärtig schon Machbarem fehlt, nur an dem politischen Willen zur Umsetzung. Bei den im Roman entworfenen ökologischen und gesellschaftlichen Szenarien ließe sich also von einer »realistischen Utopie« sprechen: In Anlehnung an John Rawls hat der Philosoph Martin Seel, dritte Generation Frankfurter Schule, die »realistische Utopie« dahingehend beschrieben, dass sie »ihrem Anspruch nach keine unmögliche, sondern lediglich eine weithin für unmöglich gehaltene Möglichkeit« ist (Seel 2001, 752; Herv. i.O.). Flecks Idee, mit seinem Tahiti Projekt ganz konkrete und reale Alternativen zu entwerfen, wurde von der Literaturkritik vielfach enthusiastisch aufgenommen, am Ende einer Rezension heißt es beispielsweise: »Mehr solche Bücher, mehr, mehr, mehr« (Illmer 2008), in einer anderen, der Roman sei »ein Mut machender Anstoß, 2
Von der Website des von Eric Bihl und Volker Freystedt gegründeten Equilibrismus-Projekts, www.equilibrismus.org (03. Mai 2022).
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die Denkrichtung wenigstens versuchsweise radikal zu wechseln« (Fink 2008), und noch eine andere fordert die Lesegemeinde auf: »Schenkt diese Bücher euren Kindern! Macht ihnen Hoffnung, statt Angst«.3 Nichts von dieser Begeisterung findet sich dagegen in der Auseinandersetzung mit diesem Roman in der Literaturwissenschaft – die einschlägige Kritik betreibt im Gegenteil business as usual, unter anderem mit dem bekannten, immer mit Abwertung verbundenen Verdikt »Exotismus«. Denn während die Feuilletonkritik sich darüber freute, dass der Roman Das Tahiti Projekt »mit farbkräftigen Bildern […] den Mythos Tahiti aufleben« lässt (Siegler 2008) und »in den kräftigen bunten Bildern [leuchtet], die der Name Tahiti immer noch hervorzurufen vermag« (Illmer 2008), ist gerade dies für die Literaturwissenschaft ein Grund, ihn als trivial und klischeehaft abzuwerten. Das geht bis zu der Unterstellung, der Autor habe den Schauplatz deshalb »in die Südsee verlegt«, weil er damit auf eine »gewisse Tradition […] aufspringen« kann: »ist doch die Südsee schon seit dem 18. Jahrhundert der Sehnsuchtsort der Europäer schlechthin«, und zwar »gerade als erotisches Paradies« (Schneider-Özbek 2018, 241). Hier kommt ein schematisches Denken um Tragen, das Signale im Text ausblendet, die solchen hergebrachten Kategorien widersprechen. Ein Beispiel macht deutlich, dass solche Deutungen an dem Roman Das Tahiti Projekt vorbeigehen. Am Ende des vierten und als Übergang zum fünften, »Der Widerstand« genannten Teils, als selbst eine Uno-Vollversammlung nicht in der Lage ist, die Umweltzerstörung skrupelloser Unternehmen zu stoppen, plant der junge Begleiter des Protagonisten eine Mobilisierung der Weltöffentlichkeit via Internet, die »den Stein des Umdenkens ins Rollen bringen« soll – und gerade auf dem strategischen Einsatz von Exotismus basiert: »Der Mythos vom Südseeparadies ist nach wie vor quicklebendig. Nutzen wir ihn doch. Bereichern wir ihn um das, was hier beispielhaft als Lösungsmöglichkeit in Szene gesetzt wurde« (Fleck 2008, 242). Kein Rückfall in Stereotype also, die von der Literaturwissenschaft reflexartig zu dekonstruieren wären, sondern bewusste Remythisierung mit politischen Zielen. Mit Blick auf Das Tahiti Projekt geht das Urteil »Exotismus« auch deshalb ins Leere,4 weil der Roman immer wieder über mögliche Strategien reflektiert – Strategien zur Veränderung als defizitär empfundener Zustände – und den Einsatz von Exotismus zu diesem Zweck ausdrücklich befürwortet. Missverständnisse dieser Art zwischen einem literarischen Text und seiner Rezeption hat Max Frisch in seinem Tagebuch 1946–1949 in einer erhellenden Parodie auf den Punkt gebracht, die auf eine Art schematischen Vorgehens in Feuilletonkritik und Literaturwissenschaft abzielt, wie sie
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Aus einer Rezension aus dem Jahr 2011, die der Autor Dirk Fleck auf seiner Website wiedergibt: https://www.dirkfleck.de/2015/08/03/schenkt-diese-b%C3%BCcher-euren-kindern -macht-ihnen-hoffnung-statt-angst (03. Mai 2022). Es ist jedoch paradoxerweise selbst da zu finden, wo der vermeintliche Exotismus zumindest im Ansatz als »narrative Strategie« erkannt wird (Dürbeck 2015, 254).
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auch im Fall des vermeintlichen Exotismus bei Dirk Fleck zu beobachten ist: »man schneidet eine Kartoffel zurecht, bis sie wie eine Birne aussieht, dann beißt man hinein und empört sich vor aller Öffentlichkeit, daß es nicht nach Birne schmeckt, ganz und gar nicht!« (Frisch 1976, 639). An vielen anderen Beispielen in Das Tahiti Projekt ließe sich zudem zeigen, dass auch der Roman selbst – und nicht nur einige seiner Figuren – eben diese Exotismus-Strategie verfolgt. Der Autor weiß also, was er tut, wenn er Südseeschönheiten auftreten lässt und »Männerphantasie[n]« bedient (Bähr 2008) – dabei aber die strategische Verwendung dieser Versatzstücke immer wieder sichtbar werden lässt, etwa in einer Szene, in der eine Journalistin einem Kollegen gönnerhaft »die Hand auf den Arm« legt und ironisch bemerkt: »Ist sicher nicht leicht, ein Mann zu sein« (Fleck 2008, 146). Mit der Beobachtung, dass Kritik am vermeintlichen »Exotismus« in Das Tahiti Projekt nicht greift, ist die Frage nach dem »Umdenken« in den Geisteswissenschaften jedoch noch nicht wirklich tangiert, auch wenn die herablassende Auseinandersetzung mit diesem Roman als solche viel über den Zustand der ökokritischen Literaturwissenschaft aussagt. Die entscheidende Frage wäre, ob »Exotismus« auch dann akzeptabel wäre, wenn ein ansonsten ökokritisch schlüssiger und einleuchtender Text unbewusst damit arbeitet. Vielleicht ist der Gedanke nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Immerhin ließe sich, ohne literaturwissenschaftliche Standards ganz aufzugeben, zumindest die Aufmerksamkeit anders verteilen und auf das im Zeitalter des Anthropozän Wichtige verschieben. Wenn es sich beispielweise bei der Bezeichnung »Ökothriller« – wie ein Rezensent lapidar bemerkte – im Wesentlichen nur um ein »Verlags-Prädikat« handelt (Ferst 2008a), muss man dann im Detail bestimmen, ob der Roman nun ein Ökothriller ist oder nicht und wenn ja, ob er auch alle Kriterien erfüllt und welche er womöglich auslässt? Ein Anfang in einer anderen Richtung, die angesichts der realen Dringlichkeit der Thematik angemessener wäre, könnte etwa eine Haltung gegenüber Texten sein, wie sie in der Rezension des Tahiti Projekts in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eingenommen wird. Die Rezensentin ist von der »Erzählkunst« des Romans auch nicht überzeugt, wohl jedoch von seinem »ökovisionären Charakter« (Bähr 2008). Oder, wie ein anderer Rezensent vorschlug, der Wert des Romans besteht darin, dass er einen großen Beitrag zu einem »kulturkreativen Ideenkatalog« leistet, der »unbedingt Aufmerksamkeit verdient« (Schilk 2008, 43). Daraus könnte der Gedanke weiterentwickelt werden, dass eine als »Humanities for the Anthropocene« verstandene Literaturwissenschaft die ihren Kategorien inhärenten Werthierarchien kritisch hinterfragen müsste – und sei es nur dadurch, dass sie sie, wie eben angedeutet, durch eine etwas entspanntere Grundhaltung relativiert. In diesem Sinne rufen auch die Verfasserinnen und Verfasser des »Manifesto for Research and Action« aus dem Umfeld einer der eingangs erwähnten Gruppen »Humanities for the Environment« Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler dazu auf, über die Grenzen der traditionellen Kategorien ihres Faches hinaus zu denken und ihre Vor-
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stellungskraft für andere Möglichkeiten zu öffnen: Es gehe darum, »to quicken the imagination of humanists being called upon to think outside the limitations of traditional humanities research protocol« (Holm et al. 2015, 979). Von einem solchen unkonventionellen Zugang scheint zumindest die deutschsprachige Literaturwissenschaft jedoch noch weit entfernt zu sein, zumindest wenn man in Betracht zieht, was derzeit mit Blick auf Literatur als Goldstandard des Ecocriticism und der Environmental Humanities gilt. In einem Artikel in Die Zeit im Oktober 2021 wurde beispielweise an die in der Literaturwissenschaft »häufig geäußerte Klage« erinnert, »der klassische Roman könne dem zeitlichen und räumlichen Ausmaß des Klimawandels nicht mehr gerecht werden«. Der neue Roman von Kim Stanley Robinson dagegen, so referiert der Artikel weiter, antworte mit seinem »experimentellen Schreiben« auf dieses Problem (Probst 2021, 29). Daran lässt sich schon ablesen, dass die Rede von den ›neuen Herausforderungen‹ meist wohl nicht das Anthropozän als »Gegenwartsdiagnose« meint (Horn und Bergthaller 2019, 12), sondern bezüglich der Literatur lediglich seine sprachliche und hinsichtlich ihrer Wissenschaft seine interpretatorische ›Bewältigung‹. Während die einen die Frage neu stellen möchten, ob »Literatur die Welt verändern kann« (Lötscher 2021), ziehen sich andere selbst angesichts der existentiellen Notwendigkeit einer Veränderung auf die bekannte Position zurück, dass dies nicht in die Zuständigkeit der Literatur und damit auch nicht der Literaturwissenschaft fällt. Eine Workshop-Ankündigung aus jüngster Zeit spricht ähnlich von der »Herausforderung« durch das Anthropozän, denn dieses sei »nicht einfach ein ›Thema‹ von Literatur, sondern eine Herausforderung an ihre Form«, und, deutlicher lässt sich die Genugtuung über die Rückkehr zu traditionellen literaturwissenschaftlichen Werten kaum ausdrücken: »Mit dem Anthropozän aktualisiert sich eine formtheoretische Diskussion, die in den letzten Dekaden eher in den Hintergrund getreten ist« (Langer 2021). »Humanities for the Anthropocene« müssen hier entschieden intervenieren und den Blick darauf richten, dass und in welchem Ausmaß die traditionellen Kategorien der literaturwissenschaftlichen Disziplin sich tatsächlich als Vorwand für »klimapolitische Untätigkeit« eignen (Mann 2021, 47). Denn dieser Rückzug auf Probleme der Ästhetik, der Form und der artistischen Darstellbarkeit konterkariert jede Vorstellung einer realen Herausforderung durch das reale Anthropozän. Wenn gefordert wird, »that an aesthetics of the Anthropocene needs to deal with questions of form, not of content or themes« (Horn 2020, 159; Herv. i.O.), ist zudem das Urteil über den Wert literarischer Texte bereits mitgedacht. Diesen kommt dann die Aufgabe zu, poetische und narrative Formen zu entwickeln (ibid., 169), die Problemen gerecht werden, die eine so konditionierte Literaturwissenschaft zuallererst konstruiert. Zudem wird mit der normativen Priorisierung der Form gegenüber dem Inhalt oder gar dem politischen Gehalt wieder einmal einer sehr kleinen Anzahl literarischer Texte der höchste Rang verliehen, während die meisten anderen gleichzeitig in die Gruppe der mittelmäßigen oder trivialen Literatur verwiesen werden.
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Dass zumindest im deutschsprachigen Raum ausgerechnet in einem Bereich der Literaturwissenschaft, in dem vom Anthropozän verursachte reale Phänomene im Mittelpunkt stehen, die Idee, dass auch die Geisteswissenschaften sich im Sinne von »Humanities for the Anthropocene« neu aufstellen müssten, auf so wenig Interesse zu stoßen scheint, gehört zu den Paradoxien des an Paradoxien so reichen Anthropozän-Diskurses. Abschließend soll noch ein kurzer Blick auf einen weiteren großen Bereich des potentiellen Umdenkens und Umgestaltens der Humanities geworfen und die Frage gestellt werden, ob Komplizenschaft mit den Anstiftern klimapolitischer Untätigkeit nicht auch und gerade in der Art und Weise liegt, wie in der Literaturwissenschaft Ideologeme reproduziert werden, die zuallererst zu den Klima- und Umweltkrisen geführt haben, also beispielweise die Ideen von Produktivität und Wachstum. Kann man heute, wenn vom Anthropozän-Konzept die Rede ist, scheinbar unreflektiert mit solchen Standardmustern wie dem operieren, etwas »has proven to be a particularly productive concept in the arts and the humanities« (Horn 2020, 159)? Und dabei das ökonomische Denkgebäude von Wachstum, höheren Umsätzen und letztlich Gewinnmaximierung durch Erzeugung neuer Bedürfnisse affirmativ in einen Kontext einschreiben, in dem gerade dies immer wieder kritisiert wird? Während es in der Wirtschaft seit langem konkrete Bemühungen zum Umdenken in dieser Hinsicht gibt (Faltin 2021) und viele Akteure und Gruppen sich nicht durch die verbreitete klimapolitische Untätigkeit davon abhalten lassen, Initiative zu ergreifen und das Machbare zu machen,5 reproduziert eine dem Anthropozän verpflichtete Literaturwissenschaft das Muster dieses fatalen ProduktivitätsDenkens. Das führt zu der Frage, ob verantwortungsvolle »Humanities for the Anthropocene« nicht ganz anders beginnen müssten, damit nämlich, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass das Anthropozän im Grunde eine Bereicherung für die Geisteswissenschaften darstellt und auch ein gedeihlicher Markt ist für Konferenzen, Forschungsprojekte, Publikationen und Stellen. »Das Anthropozän«, so eine an der dänischen Universität Aaalborg entstandene Magisterarbeit, »zwingt die Wissenschaftskulturen der […] Geisteswissenschaften aus ihren Komfortzonen« (Knudten 2021, 11). Dass der wissenschaftliche Nachwuchs der Selbstdarstellung einschlägiger Forschungsliteratur aufsitzt, ist nicht verwunderlich – die comfort zones verlassen sieht jedoch anders aus. Dazu würde nicht zuletzt gehören, angesichts von anthropogenen Klima- und Umweltkrisen wieder die Frage der gesellschaftlichen Relevanz von Literatur und ihrer Wissenschaft zu stellen. Welche gesellschaftliche Relevanz hätten im Zeitalter des Anthropozän also beispielweise jene von einer elitären Literaturwissenschaft beförderten Texte, die den Anforderungen einer Priorisierung der Form gegenüber dem Inhalt gerecht werden? 5
Die gegenüber der Klimabilanz der Bundesrepublik um 40 % geringere CO2 -Bilanz in Tübingen könnte als ein Beispiel genannt werden (Palmer 2021).
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Die Relevanz von Inhalten und Themen tritt dagegen deutlicher zutage. In diesem Sinne wäre es beispielweise interessant zu betonen, dass Ernest Callenbachs Roman Ecotopia von 1975 nicht nur in die Entstehungszeit grüner Bewegungen in Europa fällt, sondern dass die deutsche Partei »Die Grünen« diesem Text auch viele Inspirationen verdankt (Margolin 2021, xi) – bis hin zu der Tatsache, dass sich in deren Grundsatzprogramm sowohl bei der Kritik an herrschenden Parteien als auch in den eigenen »Zielformulierungen bis in die Wortwahl auffallende Parallelen zu Ökotopia« finden (d’Idler 2007, 120). Wenn ein Text auf diese Weise einen Beitrag zu ›grünen‹ Veränderungen geleistet hat, kann man ihm sicher gesellschaftliche Relevanz zusprechen.
Quellen Callenbach, Ernest: Ecotopia [1975]. In: Ernest Callenbach: The Complete Ecotopia [Ecotopia und Ecotopia Emerging, Neuauflage 2021]. Foreword by Malcolm Margolin. Berkeley, CA: Heyday 2021. Callenbach, Ernest: Afterword to Ecotopia (2004). In: Ders.: The Complete Ecotopia [Ecotopia und Ecotopia Emerging, Neuauflage 2021]. Foreword by Malcolm Margolin. Berkeley, CA: Heyday 2021, 527–530. Fleck, Dirk C., und Brehl, Jens: »Von der Alternativlosigkeit zu den Alternativen« [Interview mit Dirk C. Fleck]. In: EQULIBRISMUS [Website], 26. Juni 2013, https://equilibrismus.org/2013/06/26/von-der-alternativlosigkeit-zu-den -alternativen (03. Mai 2022). Fleck, Dirk C.: Das Tahiti Projekt. München, Zürich: Pendo 2008. Frisch, Max: Tagebuch 1946–1949. In: Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, Bd. II.2 (4).
Literatur Adamson, Joni, et al.: Humanities for the Anthropocene: Developing New Approaches to Knowledge, Engagement and Impact, 2021, https://sustainabilityinnovation.asu.edu/environmental-humanities/plus-alliance (03. Mai 2022). Albrecht, Monika: Comparative Literature and Postcolonial Studies Revisited: Reflections in Light of Recent Transitions in the Fields of Postcolonial Studies. In: Comparative Critical Studies 10:1 (2013): 47–65. Albrecht, Monika: Critical Post-Colonial Studies: Opening Up the Post-Colonial to a Broader Geopolitical View. In: Oxford Research Encyclopedia of Literature. Oxford
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Die Klimakrise in der Jugendliteratur Am Beispiel von Christoph Scheurings Sturm und Saci Lloyds Umweltroman Euer schönes Leben kotzt mich an! Michael Hofmann
Die Klimakrise bedroht das Überleben der Menschen auf unserem Planeten und sie ist trotz aller ›konkurrierenden‹ Krisen (Corona, Ukraine-Krieg) das beherrschende politische Thema unserer Zeit. Dies gilt in besonderem Maße für Jugendliche. Die Bewegung »Fridays for Future« ist auch ein Generationenprojekt, mit dem junge Menschen die älteren kritisieren, deren Lebens- und Wirtschaftsweise in großem Maße fossile Brennstoffe benötigt und mit ihnen das Kima schädigt und den nachfolgenden Generationen eine katastrophale Situation zu hinterlassen scheint. In diesem Zusammenhang ist es plausibel und angemessen, dass sich die Jugendliteratur dieses wichtigen Themas annimmt. Dabei stellt sich die Frage, welche mögliche Funktionen der Literatur in diesem Kontext eine wichtige Rolle spielen können. Der vorliegende Beitrag geht dieser Frage nach. Zunächst stellen wir noch einmal die Gründe für die epochale Bedeutung des Themas zusammen und zeigen, dass das Konzept des Anthropozäns in den Kulturwissenschaften einen Rahmen dafür bietet, die Einwirkungen des Menschen auf die Natur neu zu denken und zu hinterfragen. Danach ist mit einem Blick auf die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur zu fragen, wie und mit welchen Intentionen jugendliterarische Texte sich in diesem Zusammenhang positionieren und wie sie zu einer Verhaltensänderung beitragen können, mit der ein menschenwürdiges Leben auf unserem Planeten bewahrt werden kann.1 Anhand von zwei Textbeispielen zeigen wir, wie Reflexionen über die Klimakrise und ein adäquates menschliches Verhalten in der Jugendliteratur gestaltet werden. Die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur verdeutlicht, dass diese in einer charakteristischen Spannung zwischen pädagogischem Anspruch und literarischer Autonomie steht. Einerseits verbinden Autorinnen und Autoren der Kinder- und Jugendliteratur seit der Aufklärung mit ihren Texten immer einen erzieherischen
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Vgl. zur Kinder- und Jugendliteratur umfassend Gansel 2010 und von Glasenapp und Weinkauff 2017.
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Anspruch; andererseits steht seit der Romantik das kindliche und jugendliche Individuum mit seinen Ideen, Wünschen und Vorstellungen im Zentrum des Interesses. Die Autonomie und Eigengesetzlichkeit der Literatur gilt auch für die Kinder- und Jugendliteratur, die nicht einfach als Thesenliteratur verstanden werden kann, sondern ihren Rezipienten und Rezipientinnen ein Experimentierfeld vermitteln will, in dessen Rahmen selbständige Reflexionen über das gute Leben und auch über das Verhältnis von Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen und auch von Jugendlichen untereinander eine hohe Bedeutung bekommen. Gerade aktuelle Texte der Jugendliteratur nehmen grundsätzlich Abstand davon, ihre Leser und Leserinnen belehren zu wollen; sie nehmen vielmehr die kindlichen und jugendliche Leserinnen und Leser genau so ernst wie erwachsene und fordern zu eigenständigen Bewertungen und Einschätzungen im Hinblick auf die inhaltlich behandelten Themen heraus. Mit Arbeiten zur Literatur des Anthropozän und zum Ökothriller (Dürbeck und Stobbe 2015) liegen literaturwissenschaftliche Grundlagen vor, mit denen eine Analyse auch kinder- und jugendliterarische Texte möglich wird. Vor diesem Hintergrund entwickelt der vorliegende Beitrag ein Modell zum Thema »Jugendliteratur und Klimawandel« und veranschaulicht es anhand der Romane Sturm von Christoph Scheurin und Euer schönes Leben kotzt mich an! von Sacy Lloyd. Wie dargelegt, ist die Klimakrise auch als ein Generationenkonflikt zu verstehen und »Fridays for Future« kann als eine radikale Jugendbewegung begriffen werden. Schulstreiks verweisen nicht zuletzt darauf, dass sich die Aktivisten und Aktivistinnen ein Lernen für die Eindämmung der Klimakrise wünschen und dass gerade naturwissenschaftliches Wissen und gesellschaftliche Verantwortung in eine enge Beziehung gebracht werden sollen. Die Möglichkeiten der Jugendliteratur liegen in diesem Kontext darin, dass eine Vermittlung abstrakter Bedrohungsszenarien mit lebensweltlichen Bezügen möglich erscheint. Dabei liegt eine besondere Herausforderung darin, dass pessimistische Szenarien und Handlungsperspektiven in einer sinnvollen Weise vermittelt werden. Ein Blick auf die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur zeigt, dass deren Entstehung in der Aufklärung mit einem moralisch-erzieherischen Anspruch verbunden war und dass mit der Neuorientierung seit der Romantik Phantasie, ästhetisches Vergnügen eine wesentliche Bedeutung erhalten und dass literarische Erfahrung als eigenständiges Moment jenseits pädagogischer Bewertung favorisiert wird. Die problemorientierte Kinder- und Jugendliteratur wendet sich seit den 1970er Jahren gegen eine Pädagogik, die Kinder und Jugendliche in einem »Schonraum« halten will, und versucht, alle nur denkbaren gesellschaftlich relevanten Themen zu behandeln. Die bekannten Aporien der Problemorientierung liegen in der Vertreibung des Vergnügens sowie insbesondere in der Spannung zwischen der moralisch-gesellschaftlich bedeutsamen »Botschaft« und dem Beharren auf der Autonomie des Lesenden. Seit den 1970er/1980er Jahren werden avancierte literarische Mittel, die vorher potentiell der »Erwachsenenliteratur« vorbehalten waren,
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vor allem in der Jugendliteratur verwendet: Satire und Ironie, Polyphonie, unzuverlässige Erzähler – all diese avancierten literarischen Mittel finden sich in der Kinder- und Jugendliteratur und sie führen dazu, dass der Rezeptionsprozess eine ähnliche Komplexität aufweist wie in der Literatur für anspruchsvolle erwachsene Leser. In zeitgemäßen Konzepten der Kinder- und Jugendliteratur geht es darum, literarästhetische Erfahrungen in ihrer Eigengesetzlichkeit und Autonomie mit einer Erziehung zur Mündigkeit und Emanzipation zu vermitteln. Und dies kann im Fall der Literatur zur Klimakrise gelingen, wenn etwa Genremuster wie Utopie und Dystopie eine Vermittlung von Phantastik und Gesellschaftskritik gestalten und im Rahmen einer gegebenen Problematik die Phantasie und die Aktivität der literarischen Rezipientinnen und Rezipienten anregen. »Anthropozän« erscheint als ein Krisen-Begriff, mit dem der Einfluss des Menschen auf seine (Um-)Welt in einer umfassenden Weise thematisiert wird: Das Anthropozän bezeichnet den dominanten Einfluss des Menschen auf die geologischen und physikalischen Systeme im planetaren Maßstab und soll das Holozän, die Bezeichnung für die seit ca. 11.700 Jahren andauernde Warmzeit, ablösen. […] Der Anthropozän-Diskurs ist durch v.a. drei Merkmale gekennzeichnet: (a) eine planetarische Perspektive auf die globale Umweltkrise, (b) eine großskalige Zeitdimension und (c) den Fokus auf eine enge Wechselbeziehung zwischen Natur und Kultur (Dürbeck 2015a, 107f.). In diesem Kontext stellen sich heikle Fragen: Untergraben die umfassenden Dimensionen des Anthropozän-Begriffs nicht das Vertrauen in Handlungsmöglichkeiten des einzelnen Menschen? Wird mit dem Konzept nicht von globalen Machtverhältnissen abstrahiert, die wesentlich für die gegenwärtige Klimakrise ursächlich sind? Und wird eventuell sogar eine neoliberal-technokratische Denkweise befördert, die darauf vertraut, das die Kräfte des Marktes technologische Lösungen finden werden, die einerseits ein Leben wie bisher ermöglichen, andererseits aber die schlimmsten Folgen der Klimakrise beheben könnten? Positiv gewendet, geht es aber eher darum, bestimmte konventionelle Konzepte der europäisch dominierten Moderne in Frage zu stellen und grundlegende Konzepte der Kultur- und Humanwissenschaften neu zu formulieren. Folgt man dem indischen Historiker Dipesh Chakrabarty, dann ergeben sich konkret folgende Konsequenzen für ein Umdenken: de[r] Zusammenbruch der seit dem 17. Jahrhundert gezogenen Trennung von Natur und Menschheitsgeschichte; […] die Infragestellung der Errungenschaften von Freiheit als Ergebnis von kultureller und historischer Vielfalt seit der Aufklärung; […] eine notwendige Koppelung der Speziesgeschichte, welche den Menschen in der Tiefenzeit verortet, mit der bestehenden kapitalistisch geprägten Fortschritts-
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geschichte, wodurch […] historisches Verstehen überhaupt an seine Grenzen geführt wird (Dürbeck 2015a, 114; vgl. Chakrabarty 2022, Kapitel 1). Bedenkt man in diesen prekären Perspektiven die Funktion von Literatur und kulturellen Hervorbringungen insgesamt, so kann man postulieren, dass diese dazu beitragen können, den ungewohnten und bedrohlichen Perspektiven der globalen Krise gedanklich und affektiv zu begegnen. »Insofern können kulturelle Produktionen als vielgestaltiges und kritisches Reflexionsmedium des Anthropozäns auftreten« (Dürbeck 2015a, 116). Diese Perspektive wird dadurch unterstützt, dass seit einigen Jahren literarische Formen Konjunktur haben, die als Umweltroman, aber auch als Klimawandelliteratur, Ökocomics und Ökothriller bezeichnet werden können. Diese verwenden neue, auch literarisch relevante Konzepte von Ökologie als Vermittlung von »Natur« und »Kultur« und sie zeigen die Einbettung des menschlichen Lebens in ein Ganzes von Natur und Gesellschaft. So kann Literatur als Medium der Reflexion ökologischer Bedrohungen verstanden werden, wobei eine Verbindung emotionaler und kognitiver Perspektiven festzustellen ist. Die Reflexion des Anthropozän und der aktuellen Klimakrise bringt neue literarische Genres hervor, die den aktuellen gedanklichen Hausforderungen gerecht zu werden suchen. Dabei verbindet sich etwa im Ökothriller wie in der klassischen Science Fiction-Literatur ein auf Spannung angelegter Plot mit einer möglichst umfassenden wissenschaftlichen Präzision und Dokumentation. Im Gegensatz aber zu vielen Texten der Science Fiction, die in einer sehr entfernten Zukunft spielen und häufig nur sehr abstrakte Bezüge zur Gegenwart der Lesenden aufweisen, ist im Ökothriller aufgrund der Krisensituation der Gegenwart ein Bezug zu aktuellen Fragen besonders deutlich erkennbar (vgl. zum Ökothriller umfassend Dürbeck 2015b). Dabei ist ein pessimistischer Grundzug in der aktuellen Literatur festzustellen, der in deutlicher Spannung zu dem von Jugendliteratur allgemein doch immer noch erwarteten möglichen Handlungsbezug steht. Ein ›positiver‹ Ausgang des Handlungszusammenhangs kann deshalb als Beruhigung oder Bewältigungsstrategie verstanden werden. Allgemein lässt sich somit festhalten: »Der Begriff ökologische Kinder- und Jugendliteratur meint […] jene Texte, in denen Umwelt und die ökologische Krise thematisiert und problematisiert werden. Zugleich greifen die Texte Nachhaltigkeit und Verantwortung sowie den ökologischen Diskurs […] auf« (Mikota 2012, 7). Themen wie Umweltschutz, Ökologie, Nachhaltigkeit, Bedrohung/Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts werden zunehmend relevanter und das Ziel der Literatur ist die Konfrontation der Jugendlichen und Erwachsenen mit den dargestellten Themen und ihren möglichen Konsequenzen, wobei sich appellative und warnende Sprechhaltungen erkennen lassen. Die Aufgabe dieser Literatur ließe sich dann so formulieren: »[D]ie Welt in ihrem So-Sein nicht nur zu verstehen,
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sondern sie durch ihr Verständnis in einem zweiten, anschließenden Schritt dann auch zum Besseren zu verändern« (von Glasenapp 2012, 75). Zusammenfassend lässt sich ein literarisches Modell zur Klimawandelliteratur folgendermaßen beschreiben: 1. Literarität a) Erzählen nach Mustern: Adoleszenzroman, Thriller, Dystopie, Bezüge zur Phantastik b) Literarische Erfahrung: Synthese von emotionalen und rationalen Perspektiven c) Lebensweltbezug und Reflexion auf eigene Erfahrungen 2. Bezüge zum außerliterarischen Thema »Klimawandel« d) Einsicht in die Relevanz des Themas für die Entwicklung der Lebenswelt e) Wissenschaftliche Fakten und anthropologische Perspektiven f) Überwindung binärer Muster (Mensch-Natur, Kultur-Natur) 3. Kreatives Antworten (Emanzipation) g) Der Umgang mit bedrohlichen Szenarien h) Reflexion auf individuelle und gesellschaftliche Reaktionen und Handlungsmuster i) Im literarischen Gespräch Austausch von Reaktionen und Perspektiven
Der Plot des 2020 erschienenen Jugendromans Sturm von Christoph Scheuren lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die junge deutsche Tierschützerin Nora wird zu Sozialstunden auf einem kanadischen Fischerboot verurteilt, um dort die Fangquoten des Fischers Johan zu überwachen und für »Ocean Watch«, einen Meeresschutzverein, zu dokumentieren. Der Roman versucht die Verdeutlichung der gegensätzlichen Standpunkte beider Protagonisten bezüglich der Umwelt, Nachhaltigkeit, Fischerei und dem Klimaschutz, indem die radikale Umweltschützerin Nora dem jungen Fischer gegenübergestellt wird. Im Sinne des Plots eines Jugendromans kommt es, als die beiden vor der kanadischen Küste unterwegs sind, zu einem plötzlichen Sturm und einem sich anschließenden Schiffbruch. Dieses dramatische Ereignis bedeutet einen Wendepunkt in dem Handlungsverlauf, weil sich das vorher antagonistische Verhältnis zwischen den beiden zentralen Figuren radikal ändert, sodass sich ein ›emotionaler Sturm‹ (Liebesgeschichte) mit dem naturbedingten Sturm verbindet. Thematisch steht die zentrale Frage: Wie gehen wir als Menschen mit unserer Umwelt/Natur um? im Mittelpunkt des Romandiskurses. Noras Position wird in dem Roman genau beschrieben und stellt für den Anthropozän-Diskurs wie dargelegt charakteristische Fundamentalkritik an der abendländischen Tradition dar, indem sie das Verhältnis des Menschen zur Natur befragt:
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Oder der Auftrag »Macht euch die Erde untertan«. Steht so auch in der Bibel. Das muss man sich einmal vorstellen. Gibt es eine schlimmere Anleitung zum Leben? Da heißt es nicht: »Lebe in Frieden mit deiner Umwelt.« Oder: »Achte und bewahre die Natur und ihre Geschöpfe.« Oder: »Zerstöre nicht das, was dir anvertraut ist.« Von »untertan machen« ist es nicht mehr weit bis herrschen und unterdrücken und versklaven und platt walzen, was einem im Weg steht (Scheuring 2020, 47f.). Und weiter: Für mich ist dieses Untertan-Machen der Grund für die ganze Kaputtheit unserer westlichen Welt. Gar keine Frage. Wegen dieses Satzes existieren Plastik in unseren Ozeanen und die Erwärmung des Klimas und die Abholzung des Regenwaldes und überhaupt alles, was die Erde jeden Tag ein Stückchen weiter zerstört (ibid., 48). Vor diesem Hintergrund kann Nora eigentlich die alltägliche Praxis des Fischers Johan nur ablehnen: »›Das denke ich schon immer‹, antwortete ich, ›dass ich Tiere beschützen muss, weil es nämlich so ist, dass das Schicksal der Tiere mittlerweile in den Händen der Menschen liegt‹« (ibid., 100). Noras Selbstverständnis wird aber dadurch auf die Probe gestellt, dass sie erlebt, wie der junge Fischer Johan zwar einerseits die Fische töten muss, um seinem Beruf nachzugehen, dass er aber andererseits in einer von ihr kaum erwarteten Symbiose mit der Natur und auch mit den Fischen lebt: »Wahrscheinlich ist es das, was die Menschen Jagdfieber nennen. Zum ersten Mal verstehe ich, was Menschen daran so faszinierend finden, und gleichzeitig schäme ich mich dafür, weil es hier um Tiere geht und um die schlimmste Anmaßung der Menschheit. Nämlich dass wir die Herrscher sind über Leben und Tod« (ibid., 188). Johan verteidigt seine Lebensweise und seinen Beruf, indem er darauf verweist, dass ein Kreislauf von Leben und Tod existiert, in den sich eine nachhaltige Fischerei nach seiner Meinung harmonisch einordnet: »Dein Mitgefühl ist ein Scheiß«, sagt er. »Der Unterschied ist, dass du kein Teil der Natur mehr bist. Du und all die anderen Klugscheißer aus den Städten. Ihr denkt, dass ihr die besseren Menschen seid, aber ihr seid es nicht. Ihr rettet mit ungeheurem Aufwand einen eingeschlossenen Wal aus dem Packeis, weil ihr Mitgefühl habt. Aber ihr tötet tausend Wale mit eurem Plastik. Ihr ernährt euch vegan, weil ihr keine Lebewesen mehr umbringen wollt, aber eure Schwermetalle vergiften unsere Gewässer, dass die Lachse und Schwertfische heute so viel Quecksilber in sich tragen, dass ein Mensch sie nur einmal im Monat essen darf. Ihr wärmt die Gelege der Schildkröten und tragt die kleinen über den Strand ins Wasser, aber eure Klimaerwärmung hat schon tausende Arten für immer getötet. Warum meinst du, passiert das? Weil die Menschen Mitgefühl haben? Das ist lächerlich. Es passiert, weil ihr eine Mauer gezogen habt zwischen eurem Handeln und seinen Folgen. Weil ihr keine Verbindung mehr habt zur Natur. Und ihr habt keine Verbindung
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mehr, weil ihr den Tod ausgesperrt habt aus eurem Leben. Ihr kennt das Sterben nicht mehr. Geschweige denn das Töten. Ihr habt noch niemals selbst ein lebendiges Wesen getötet. Ihr könnt das Sterben noch nicht einmal anschauen. Also habt ihr das Töten einfach ausgelagert. An eine anonyme, barbarische, unersättliche Industrie, die es für euch erledigt. Das ist auf den Schlachthöfen genauso wie auf euren Äckern oder auf den Weltmeeren. Es ist eine Industrialisierung der Natur, die die Natur vernichtet« (ibid., 198f.). Johan kritisiert die Distanz zur Natur, aus der heraus die städtisch geprägten Naturschützer ihre Positionen definieren, und stellt heraus, dass er als Fischer in die Natur integriert sei wie die Fische und die anderen Tiere des Ozeans: Nein, ich bin ein Teil der Natur, also töte ich. Und nur, wenn ich ein Teil der Natur bin, habe ich auch das Recht dazu. Nur wenn ich in der Natur lebe, darf ich mich auch verhalten wie die Natur. Ein Mensch, der die Natur versteht, wird Tiere töten, aber die Natur niemals zerstören. Ihr Menschen aus der Stadt seid genau umgekehrt. Ihr tötet kein einziges Huhn mit eurer eigenen Hand. Aber ihr schaut weg bei einer Million geschredderter Küken. Nicht wir zerstören die Natur. Es ist eure Einstellung zu den Tieren (ibid., 200). Und Johan kritisiert das Verdrängen des Todes und des Tötens in den Kulturen der Metropolen: Ihr Menschen aus der Stadt habt zum Tod ein abgrundtief krankes Verhältnis. Ihr habt ihn in die letzte, dreckige Ecke eures Lebens gepackt, wo ihr ihn garantiert nicht mehr ansehen müsst. Und wo er dann auch irgendwann nicht mehr vorkommt. Und genauso benehmt ihr euch. Als wärt ihr alle unsterblich und die Natur wäre es auch und als hätte euer Handeln überhaupt keine Folgen. Ihr zerstört die Natur und euch selbst und begreift es noch nicht einmal. Ihr macht aus unserer wundervollen, lebendigen Natur ein totes Stück Disneyland, weil ihr nicht sehen wollt, dass es ohne Tod keine Schönheit und kein Werden und Vergehen mehr gibt. Wenn ihr nicht lernt, den Tod als einen Teil des Lebens zu akzeptieren, werdet ihr die Natur komplett und für immer zerstören. Das ist die ganze banale Wahrheit‹« (ibid., 228). Das Interessante und Besondere an diesem Roman ist, dass er nicht einseitig die Position des radikalen Klimaschutzes affirmiert, sondern eine starke Gegenposition aufbaut, die sich zwar gegen das industrialisierte Töten von Tieren und die massive Verschmutzung der Meere wendet, dies aber aus einer Position heraus, die den maßvoll Tiere tötenden Menschen als einen Teil eines natürlich-kulturellen Zusammenhangs begreift, in den der Einzelne integriert erscheint. Die Rezeptionsperspektive dieses Umweltromans für Jugendliche ist somit durchaus komplex: Es wird nicht einfach nur im Sinne einer bestimmten politischen oder gesellschaftli-
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chen Position an die Lesenden appelliert, sondern es werden zwei letztlich gleich starke Positionen entwickelt und präsentiert, mit denen sich die Lesenden kritisch auseinandersetzen müssen. So wird die Komplexität der Frage nach den Auswegen aus den Zwängen des Anthropozäns literarisch gestaltet und es wird an die Mündigkeit der Lesenden appelliert, die auch in der Kontroverse zwischen Nora und Johan eine eigene Position entwickeln können und müssen. Jenseits einer einseitigen pädagogischen Belehrung werden Reflexionen angeregt, die nicht nur kognitive Perspektiven eröffnen, sondern auch emotionale Aspekte einschließen. Damit werden auch Toleranz und der Umgang mit unterschiedlichen Meinungen und Positionen vorgeführt und eingeübt. Der zuerst 2008 in englischer Sprache erschienene Jugendroman Euer schönes Leben kotzt mich an! von Saci Lloyd gestaltet das Thema der Klimakrise mit einer komplexen Genremischung, bei der sich Momente der Dystopie mit Perspektiven des Adoleszenzromans verbinden. Gleichzeitig finden sich expressive Passagen, in denen Traumbilder vermittelt werden, die das extreme Ausmaß der drohenden Klimakrise veranschaulichen, wie der folgende Textauszug verdeutlicht: Nebelfetzen um drei Uhr morgens und mein Verstand ist durchgehend geöffnet, wie eine Imbissbude. Mein trübes Fenster verbirgt den Blick auf die Straßen, wo früher die Laternen flackerten. Jetzt ist es dunkel. In meiner Hand sterben die Batterien; Säure verätzt das Fleisch und der Schmerz fällt lachend zu Boden. Die Autos sind tot, ihre Seelen wurden von den Zügen gestohlen, die den leisen Atem durchbrechen. Ra ka da ra. Die Stadt atmet. Sie ringt nach Luft. Sie stirbt und in meinem Zimmer höre ich ihren immer leiser werdenden Beat. Der Nebel fällt und Kälte kriecht mir in die Knochen – ein Folterknecht, der seine Taten vollendet (Lloyd 2016, 54f.). Der Plot des Romans lässt sich folgendermaßen resümieren: Rationierungsmaßnahmen werden nach einem großen Sturm 2015 (also in der nahen Zukunft von 2008, dem Erscheinungsjahr des Romans, gesehen) in London durchgeführt. Es erfolgt eine Überwachung durch den Staat in Form einer Energiekarte. Der Roman besteht aus Tagebucheinträgen der 16-jährigen Laura, in denen sie im Zeitraum eines Jahres die sich zuspitzenden krisenhaften Ereignisse und deren Einflüsse auf sie, ihre Familie, ihre Freunde und den Rest der Gesellschaft schildert. Mehrere Klimakatastrophen (Dürreperioden, Überschwemmungen, Großbrände) ereilen die ganze Welt. Die Klimax der Erzählung bildet eine Überflutung ganz Londons durch Starkregenfälle. Die sich verschärfende Extremsituation trifft auf eine Jugendliche, die sich im Rahmen ihrer pubertären Entwicklung in Opposition zu ihren Eltern, aber auch zu ihrer Schwester befindet. Lauras Vater versucht, die von der Regierung beschlossenen Rationierungsmaßnahmen in der Familie durchzusetzen: »Dad wollte, dass wir uns heute Abend wieder alle zusammensetzen, um so ein grässliches Online-Formular der Regierung auszufüllen, mit dem festgestellt werden soll, wie viel
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CO2 unsere Familie verbrauchen darf. Das ist schon krass« (ibid., 13). Gleichzeitig entwickeln sich illegale Aktivitäten, mit denen versucht wird, die staatlichen Maßnahmen zu umgehen: »Auf dem Schulhof gibt es jetzt einen Schwarzmarkt. […] Es geht nicht mehr um Geld, es geht darum, den Verbrauch auf der Karte niedrig zu halten« (ibid., 51). Lauras Familie bekommt eine Mahnung der Behörde, die Fehlverhalten festgestellt hat: […] aber hier geht es um einen eklatanten Verstoß gegen die Rationierungsvorschriften. Kim [Lauras Schwester] hat ihre gesamten zweihundert Monatspunkte nur für Flugreisen ausgegeben und hat nun ein Defizit von hundertfünfzig Punkten, was ihren Energieverbrauch in London angeht. Wir können es nicht zulassen, dass Sie sich mit dem Geld von Ihren Energieschulden freikaufen. Sie müssen die Energie zurückzahlen (ibid., 71). Die Maßnahmen der Regierung sollen dazu beitragen, die Folgen der krisenhaften Entwickungen zu minimieren. Dabei wird deutlich, dass die einsetzende Katastrophe mit der Haltung der Menschen gegenüber der Natur zusammenhängt und dass sich in der Krise eine gewisse Wiederannäherung an die Natur vollzieht. So notiert Laura: »Und noch was, als ich in Westminster aus dem Bus stieg, hörte ich in einem Baum einen Vogel singen« (ibid., 111). Neue Einsichten und auch neue Formen von Engagement bilden sich, mit denen ansatzweise einer Umkehr möglich scheint: Alle schuften wie verrückt, weil etliche Familien immer noch nicht wieder nach Hause zurückkehren konnten. […] Tracey Leader raste mit ihrem Jeep die Straße hinunter. […] Und dann machte die Mausfrau – ausgerechnet – einen Schritt nach vorn. […] ›Schluss mit dem Jeep, Schluss mit dem Schwarzmarkt […].‹ Die Mausfrau schob sich an Tracey vorbei, hob ihren Arm und schlug mit dem Hammer auf die Haube des Jeep (ibid., 342f.). Das Erlebnis der Krise führt bei den Betroffenen zu einer Haltung, die über die Zwangsmaßnahmen hinaus eine neue Nähe zur Natur und einen Widerstand gegen problematische Verhaltensmuster möglich erscheinen lässt. Indem die Konsequenzen der Klimakrise in der Fiktion des Romans veranschaulicht werden, wird deren Intensität deutlich, und gleichzeitig werden in dem Roman Handlungsperspektiven demonstriert, die einen ›alternativen‹ Zugang zur Natur und zur Umwelt der Menschen verdeutlichen. So wird einerseits die Brisanz der Krise deutlich und andererseits entsteht eine konstruktive Dimension, die zumindest in Ansätzen einen konkreten Ausweg aus der Krise sichtbar werden lässt. Die folgende Passage zeigt, wie wissenschaftliche Daten in den Romandiskurs integriert werden, um den Bezug zu den empirischen Debatten der außerliterarischen Wirklichkeit zu eröffnen:
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In Europa schneit es wieder heftig. Ein paar von uns haben im College im Medienraum Sky TV angeschaut. Es ist surreal zu beobachten, wie sich weiße Menschen an Orten, an denen man sonst Urlaub macht, in irgendwelchen Unterständen weinend und schutzsuchend zusammenkauern. »Hat das noch irgendwas mit globaler Erwärmung zu tun?«, fragte Adi. »Nein, Mann, es wird immer kälter und kälter. Selbst der Golfstrom ist in den letzten zehn Jahren ein Grad kälter geworden«, sagte Nathan Giles. »Na und? Was ist schon ein Grad?" »Kennst du den Unterschied zwischen uns und der letzten Eiszeit? Das sind nur fünf lausige Grad, Mann. Fünf Grad zwischen uns und dem Mammut, mein Freund« (ibid., 64). Die Form des Tagebuchs ermöglicht es, in den Roman alltägliche Begebenheiten aufzunehmen, die nicht mit dem Plot der Familie Lauras zu tun haben, dafür aber die allgemeine Situation der sich zuspitzenden Krise verdeutlichen: Mittwoch, 25. März Auf der Autobahn M1 fand ein Kampf um Benzin statt. Im Augenblick rollen bei Watford Panzer über den Seitenstreifen auf eine Reihe von LKWs zu. Überall gibt es Panikkäufe. Alle Läden sind gerammelt voll mit Leuten, die Ananaskonserven umklammert halten. Als ich nach Hause kam, quoll die Küche vor Lebensmitteln über und Dad hatte ein blaues Auge. Ich starrte ihn an. »Was ist passiert?« »Keine Sorge, Süße. Ich hab Essen für uns besorgt, das ist die Hauptsache.« »Aber Dad, jetzt machst du genau das, was alle anderen machen.« »Ist mir egal«, murmelte er und stopfte Marmeladengläser in einen Schrank. »So wie es im Moment aussieht, können wir es uns nicht mehr leisten, nett zu sein« (ibid., 87). Während in dieser Passage wieder die negativen Auswirkungen der sich zuspitzenden Klimakrise auf die Menschen geschildert werden, zeigt sich der konstruktive Charakter des Romans darin, dass Laura und ihr Vater sich zu einem späteren Zeitpunkt darüber freuen, dass eine demokratische Entscheidung zustande gekommen ist, mit der die einschränkenden Maßnahmen eine Legitimation bekommen: Freitag, 16. Okt. Morgen früh um 6 beginnen in ganz Europa die Wahlen und dauern zwei ganze Tage. Laut Prognose werden 47 % für eine Rationierung stimmen. Samstag, 17. Okt. Ich bin zu Arthur gegangen, um die Wahl im Fernsehen zu verfolgen. Millio-
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nen Menschen haben stundenlang vor den Wahllokalen Schlange gestanden. Gegen Abend hieß es, dass die Nein-Stimmen mit 5 % vorn liegen. »Aber sie müssen mit Ja stimmen!«, rief ich. ›Die Leute können doch nicht derartig bescheuert sein!« Arthur schüttelte den Kopf. »Doch, können sie.« […] Montag, 19. Okt. Dad rüttelte mich aus dem Schlaf. »Laura, wir haben gewonnen! Mit zwei Prozent. Europa hat die Rationierung!« Gott, es ist ein supergutes Gefühl, kein Freak mehr zu sein« (ibid., 276f.). Es lässt sich erkennen, dass Lloyds Roman das Problem der Dystopie, das darin besteht, dass ein Handlungszusammenhang aufgebaut wird, in dem menschliches Handeln geradezu obsolet erscheint, so bearbeitet, dass sich trotz der düsteren Perspektiven Ansätze für ein rettendes Handeln ergeben. Gleichzeitig wird der Romandiskurs für die jugendlichen Leserinnen und Leser dadurch plausibel gemacht, dass in psychologischer Perspektive typische Aspekte des Adoleszenzromans in die Handlung integriert werden. Dadurch ergeben sich in der durchweg düsteren und befremdlichen Handlung Identifikationsmöglichkeiten und auch komischgroteske Perspektiven werden vermittelt, die sich auch in dem deutschen Titel des Romans andeuten. Fazit: Die beiden vorgestellten Romane zeigen die vielfältigen Möglichkeiten der Jugendliteratur im Umgang mit dem brisanten Thema der aktuellen Klimakrise. Während der Roman Sturm eine spannende Handlung bietet und unterschiedliche Zugänge des Menschen zur Natur in den Konstellationen der durch die Klimakrise geprägten Gegenwart bietet, vermittelt der Roman Euer schönes Leben kotzt mich an! in der für die Ökoliteratur typischen Dystopie das Bild einer nahen Zukunft, in der die aktuell bereits in Ansätzen spürbare Klimakrise anschaulich erfahrbar wird und extrem negative Auswirkungen deutlich werden. Gleichzeitig werden Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt und die Notwendigkeit eines veränderten Verhältnisses der Menschen zur Natur beschworen. So kann die Kinder- und Jugendliteratur zur Klimakrise mit spezifisch literarischen Mitteln durchaus ihre literarische Autonomie bewahren und gleichzeitig das Bewusstsein für ein Umdenken und ein aktives Handeln im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten schärfen.
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Quellen Lloyd, Saci: Euer schönes Leben kotzt mich an! Ein Umweltroman. Aus dem Englischen von Barbara Abedi. Würzburg: Arena 2009. Scheuring, Christoph: Sturm. Bamberg: Magellan 2020.
Literatur Chakrabarty, Dipesh: Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter. Aus dem Englischen von Christine Pries. Berlin: Suhrkamp 2022. Dürbeck, Gabriele: Das Anthropozän in geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. In: Dies. und Urte Stobbe (Hg.): Ecocriticism: Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2015a, 107–119. Dürbeck, Gabriele: Ökothriller. In: Dies., und Urte Stobbe (Hg.): Ecocriticism. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2015b, 245–257. Dürbeck, Gabriele; Stobbe, Urte (Hg.): Ecocriticism: Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2015. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 4., überabeitete Auflage: Berlin: Cornehlsen-Scriptor 2010. Glasenapp, Gabriele von, und Gina Weinkauff: Kinder- und Jugendliteratur. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Paderborn: Schöningh (utb) 2017. Glasenapp, Gabriele von: Apocalypse now! Formen und Funktionen von Utopien und Dystopien in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Hans-Heino Ewers, Gabriele von Glasenapp, Claudia Maria Pecher (Hg.): Lesen für die Umwelt. Natur, Umwelt und Umweltschutz in der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 41. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2013, 72–83. Mikota, Jana: This Land is Your Land: Kindliche und jugendliche Umweltschützer in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Interjuli – Internationale Kinder- und Jugendliteraturforschung 1 (2012): 6–26.
Ökokritische Stimmen aus der Sicht eines Kindes Die Umweltfrage in der griechischen Kinderliteratur Konstantina Tsonaka
1. Von Ernst Haeckel zu den ökokritischen Stimmen im gegenwärtigen Griechenland In einer Fußnote im ersten Band der Studie Generelle Morphologie der Organismen (1866) des Jenaer Zoologen Ernst Haeckel erscheint der Begriff »Oecologie« zum ersten Mal anstelle von »Biologie« (Haeckel 1866a, 8, Αnm. 1), während er im zweiten Band konkreter definiert wird: »Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ›Existenz-Bedingungen rechnen können […]« (Haeckel 1866b, 286; Herv. i. O.)1 . Angesichts der heutigen ökologischen Umweltkrisen erscheint es erschreckend, dass diese Einsicht erst über hundertfünfzig Jahre alt ist. Es stellt sich mit Recht die Frage, so Cornelius Castoriadis in seiner am 27.02.1980 in der belgischen Stadt Louvain-la-Neuve stattgefundenen Diskussion über die Ökologie,2 wie weit das Recht jedes Menschen, jeder Gruppe, jeder 1
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Zwei Jahre später schlägt er eine dritte Definition vor, welche die biogeografische Tradition mit der Ökonomie der Natur verbindet, und 1869 ergänzt er während eines Vortrags an der Universität Jena den Terminus, den er 1894 nochmals erweitert (vgl. Acot 1991, 42–44). Seit dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts entstanden aus dieser anfangs reinen Pflanzen- und Tierwissenschaft die Humanökologie und die Landschaftsökologie mit Schwerpunkt auf dem Einfluss des Menschen auf seine natürliche Umwelt (vgl. Goodbody 1998, 17). Vgl. Castoriadis et al. 1981. Dieser Band enthält Vorträge von Cornelius Castoriadis, dem französisch-griechischen Philosophen und Politikwissenschaftler, und Daniel Cohn-Bendit, dem deutsch-französischen Publizisten und Politiker vom Bündnis 90/Die Grünen, zu folgenden Fragen: Wo steht die ökologische Bewegung heute? Welche Beziehungen bestehen zwischen den aufgeworfenen Fragen und den umfassenderen sozialen und politischen Problemen unserer Zeit? Lässt sich der Kampf gegen das Aussterben der Natur vom Kampf für eine radikale Transformation von Gesellschaft und Kultur trennen? Wie stehen die Menschen heute zum etablierten Lebensstil und seiner Krise? Der Band enthält auch die anschließenden Diskussionen mit den zahlreichen Zuhörern.
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Gesellschaft, jeder Nation gehen kann, nach eigenem Wunsch zu handeln, da wir wissen – was schon immer so war, aber die Ökologie erinnert uns daran –, dass wir uns alle auf demselben planetarischen Boot befinden, und dass das Handeln eines jeden uns alle betrifft. Die Sache der Autonomie der Gesellschaft ist zugleich die Sache der Selbsteinschränkung der Gesellschaft. Wir behalten unsere Verantwortung, unser Urteil, unser Denken und unser Handeln, doch wir erkennen deren Grenzen (vgl. Castoriadis et al. 1981, 40–42). Das menschliche Handeln geht aber längst über diese Grenzen hinaus. Mit der Entwicklung der modernen Technik hat der Mensch Änderungen seiner Umwelt von lange nicht erkanntem Ausmaß verursacht, sodass Risiken für das Leben auf der Erde entstanden sind. Die Ökologie fasst die Welt als Ensemble integrierter Systeme auf, in denen alles voneinander abhängig ist (vgl. Goodbody 1998, 17), doch kein System, auch nicht das perfekteste, ist unsterblich, und ein Organismus stirbt, so der französische Soziologe und Philosoph Edgar Morin in seiner Ökologisierung der Skepsis,3 wenn Gift seinen wunden Punkt befällt. Es geht um seine Achillesverse. Μorin führt als Beispiel die Biosphäre an, die, obschon sie nicht so fragil ist, wie allgemein angenommen wird, als lebendiges Wesen durch die anthropogene Tätigkeit tödlich verletzt werden kann (vgl. Morin 1990, 16). Aber was geht uns Menschen die Biosphäre an? Die geflüchteten Amseln? Die zu Asche verbrannten griechischen Wälder? Die Ägäis ohne Wasser? Die Müllhalden? Warum sind wir Menschen traurig, wenn irgendwo in der Welt eine Vogelart ausstirbt, die wir höchstwahrscheinlich nie sehen oder hören würden? (vgl. Spaemann 1986, 194). Wie steht die Kinderliteratur zur (Un-)Erschöpflichkeit der Ressourcen? Zu den anthropogenen Umweltkrisen? Wie stehen die Kinder zum Klimawandel? Was sagen sie wohl? Unsere Erde sieht nicht gut aus! Dann wurden alle [Kinder, Anm. K.T.] auf den Planeten aufmerksam. – Hast Recht, und ihre Temperatur ist gestiegen. Tatsächlich hatte die Erde Fieber. Ihre Temperatur war um 2 Grad höher, und diese Krankheit nennt man in der Sprache der Planeten »Klimawandel«. […] – Meine Mama ruft den Arzt an, wenn ich krank bin. – Kinderärzte gibt es! Gibt es auch Planetenärzte? (Iliopoulos 2009a)4
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Den Begriff »Ökologisierung der Skepsis« oder »Ökologisierte Skepsis« führte der französische Soziologe Edgar Morin in seinem Beitrag »La pensée écologisée. Pour une nouvelle conscience planétaire« in Le monde Diplomatique (Oktober 1989) ein. Εine Reihe von Begriffen, die mit der Ökologisierung der Skepsis verbunden sind, begründet er in seiner Studie La Methode. 2. La vie de la vie von 1980 (Morin 1990; vgl. Papadatos 1995, 113, Anm. 18). Da noch keines der Kinderbücher ins Deutsche übersetzt worden ist, stammt die Übersetzung der Titel und der Zitate von der Verfasserin. Verweise ohne Seitenangabe sind der Tatsache geschuldet, dass die meisten Kinderbücher nicht paginiert sind. Ebenfalls von der Verfasserin stammt die Übersetzung der griechischsprachigen Sekundärliteratur.
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Dies fragen sich die Kinder im Buch von Vangelis Iliopoulos Kinder in Aktion! Es ist an der Zeit, die Erde zu retten (Παιδιά σε δράση! Η ώρα να σώσουμε τη Γη έχει φτάσει). Der folgende Beitrag behandelt die Fragen, inwiefern die griechische Kinderliteratur die Umweltkrise widerspiegelt, wie sie bestimmte Themenbereiche aufklärt und welche Rolle sie im ökologischen Diskurs und insbesondere bei der Gestaltung einer umweltbewussteren Haltung spielt. Anhand von acht Kinderbüchern von fünf Kinderbuchautoren der neuen Generation soll die Auseinandersetzung mit drei sich überschneidenden Teilbereichen der dort in »Stimmen« kondensierten Umweltfrage dokumentiert werden, nämlich mit den verzweifelten Stimmen aus einer Müllhalde, mit den tonlosen Stimmen vom Meeresgrund und mit den brennenden Stimmen des Waldes. Nichts wird beschönigt, keine Zeit wird für Feen und Prinzen verschwendet, in der Natur herrscht die Eile als Bezugshintergrund und zugleich als Hauptdarsteller. Jede der hier zu behandelnden Geschichten beschreibt ein Ökoproblem, das anschließend immer von den Kindern, den Tieren und der Natur selbst gelöst wird. Die meisten hier zu untersuchenden Kinderbücher enthalten auch einen vielseitigen umweltbezogenen Anhang mit Erklärungen und Informationen, Wortschatzübungen, Spielen, Rätseln und Malvorschlägen mit Ausnahmen die Bücher Das Geheimnis des Meeres (Το μυστικό της θάλασσας, 2005) von Kostas Magos und Der Wald, der floh (Το δάσος που το ʼσκασε, 2002) von Veatriki Kanzola-Sambatakou, in denen die ökokritischen Stimmen ohne vertiefende Übungen auskommen. Erzählende Tiere und im Falle der hiesigen Literatur sprechende Wälder, zur Tat greifende Meere und Meerjungfrauen sind aus der Kinderliteratur, aus Märchen und Fabeln, aus Romanen und Erzählungen bekannt, in denen sie die Rolle des Erzählers oder des Hauptdarstellers übernehmen. Tiere ermöglichen eine Begegnung außerhalb des Textes, da sie in unserem Bewusstsein als Inhaber von Rechten und Bedürfnissen präsent werden (vgl. Klatt 2018, 231f. u. 245). Der non-human narrator, oft in der Rolle des Protagonisten, was ihm eine besondere Authentizität verleiht, zeigt auf spezifischer Weise das problematische Verhältnis zwischen den Menschen und anderen Lebewesen auf. Im Umgang mit literarischen Texten entstehen durch die erzählenden Tiere spezifische Lernprozesse, wobei subjektive Involviertheit und genaue Wahrnehmung miteinander ins Spiel gebracht werden. Das Tier als Empathie- und Identifikationsfigur involviert die Leserinnen und Leser stärker in das Geschehen im Vergleich zu einem Sachtext. Das lesende Kind positioniert sich und wird zu einem komplexen nachhaltig wirkenden Lernprozess angeregt (vgl. Wanning und Kramer 2018, 405–407). Nach dem politischen Übergang von der Diktatur zur Demokratie (1974) und den neu gestalteten soziopolitischen Verhältnissen im Bildungswesen begann die Kinderliteratur in Griechenland, sich auf drängende soziale Fragen auszurichten. Dabei war die Ökologie mit spezieller Thematik, steigender Verkaufstendenz bei den Verlagen und Expandierung auf alle Genres stärker vertreten als andere soziale The-
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men. Immer mehr Schriftsteller widmeten der Ökologie eine ganze Reihe und immer mehr Verlage – etwa Kastaniotis, Kedros, Patakis, Nea Sinora u.a. – etablierten ökologische literarische Kinderbuchreihen (vgl. Papadatos 1995, 104–106, mit Anm. 8). Die meisten Tatorte der Umweltkrisen sind bei allen Genres5 der Wald und die Stadt. Das überrascht nicht, denn die Zerstörung der Waldökosysteme ist ein im Wortsinne brennendes Thema in Griechenland, reflektiert durch die ästhetischen Filter der Schriftsteller (vgl. ibid., 108f.).
2. Stimmen aus dem Land des Mülls 2.1 Kostas Magos: Müllistan (Σκουπιδιστάν, 2007) Kostas Magos6 »liebt Reisen, doch er brauchte nicht viel zu reisen, um das ›Müllistan‹ zu erreichen. Er lebt in Athen«. Diese Anspielung auf den zügellosen Konsum gleich auf der Innenseite des Umschlags anstelle biografischer Daten des Autors führt die Leserinnen und Leser direkt in die aus den Fugen geratene Umweltkrise, ergänzt vom Titel des Buches, der Widmung des Autors an die an »ihrem alten Spielzeug herumbastelnden Kinder« und der Illustration des Umschlags, auf dem der König von Müllistan von Albträumen gequält wird. [Er] konnte nicht mehr schlafen, da er wusste, dass sein Land das dreckigste Land der Welt war. […] Auch wenn er es schaffte, sich für ein paar Minuten dem Schlaf hinzugeben, quälten ihn seltsame Träume. Er sah, dass sich die Mülltonnen in abscheuliche Monster verwandelten und ihn jagten. Er sah, dass sich die Müllhalde ausbreitete und sein ganzes Land bedeckte. Zum Schluss sah er Könige anderer ferner Länder, die ihn einluden, um ihm den wenig schmeichelhaften Titel »Stinker der Große« zu geben! (Magos 2007, 11)
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In allen Genres der Kinder- und Jugendliteratur gibt es für jedes Alter entsprechende Werke, wobei die Kurzgeschichten und die Märchen nach Angaben des Zyklus des Griechischen Kinderbuches, der griechischen Abteilung der Internationalen Organisation für Kinder- und Jugendbücher, des sogenannten International Board on Books for Young People (IBBY), gegründet 1963 in Athen, ganz oben auf der Liste stehen. Aufgelistet werden Romane für Kinder, Gedichte, Erzählungen, dramatisierte Geschichten, Märchen und Kurzgeschichten. Auf Platz eins stehen die Märchen mit 37 % und die Kurzgeschichten mit 38 % (vgl. Papadatos 1995, 106–108). Das erste Kinderbuch von Kostas Magos, Eine Nacht auf der Müllhalde (Μια νύχτα στη χωματερή), behandelt schon 1999 die Wiederverwertung. Vom selben Autor stammt das Buch Der Wald des hölzernen Spitzers (Το δάσος της ξύλινης ξύστρας, 2007), eine Hymne an den Duft und die Geräusche des Zedernwaldes. Sein Buch Der Schatz von Giorgis (Ο θησαυρός του Γιωργή, 2018) behandelt das Aussterben der wilden Orchidee und wurde auch ins Türkische übersetzt.
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Schon auf der ersten Seite dominiert der Müll: Sie wussten nicht wohin mit ihrem Müll, die Einwohner von Müllistan. Obwohl sie den Müll in Tüten und in Mülltonnen sammelten, obwohl die Müllabfuhr zweimal am Tag kam und obwohl die Straßenkehrer in Schichten von morgens bis abends und von abends bis morgens arbeiteten, änderte sich das Bild nicht. Müllistan war ein Land voller Müll. Straßen, Plätze, Märkte, Parkanlagen, Wälder und Strände quollen über. Die Mülltonnen an jeder Ecke von Müllistan waren nie leer. Die Müllabfuhr leerte sie und – schwups – waren sie wieder voll! Mülltonnen und Tüten füllten die Hinterhöfe, die Balkone und die Abstellräume der Häuser in Müllistan (ibid., 9f.). Die Illustration der Maske tragenden Bürger aus dem Jahr 2007, heute wegen der Coronapandemie aus anderem Grund geläufig, stellt die Einwohner von Müllistan dar, die unabhängig von Alter und Beruf in ihrer Verzweiflung die Maske zum unabdingbaren Teil ihres Lebens gemacht haben. Ihre Nase ständig bedeckt haltend, standen sie täglich in der Schlange vor dem Palast, um sich beim König zu beklagen. Jener, im entlegensten Saal des Palastes versteckt, da, wo der Gestank des Mülls nicht eindringen konnte, tagte mit seinen weisen Beratern und versuchte eine Lösung zu finden (ibid., 12). Das Ziel des Autors ist nicht der Kampf für die Abschaffung des Mülls, sondern die Bewusstmachung der übertrieben großen Müllproduktion. Am Beispiel von drei zu lösenden Aufgaben, die auf das zügellose Konsumverhalten verweisen, soll nicht nur zur Sensibilisierung hinsichtlich der Umweltkrise beigetragen, sondern auch ein Ansatzpunkt zum Umdenken und Handeln geboten werden. Diese Aufgaben – formuliert von einem Herrn Naturweis, der ein altes Rad fährt, sein eigenes Gemüse züchtet, in einem steinernen Häuschen am Rande der Stadt lebt (vgl. ibid., 22) und sogar Zeit für ein Haustier hat – reimen sich im Griechischen und werden in der ersten Person Plural eines gemeinschaftsstiftenden »wir« formuliert: »Wenig ist genug, um ein gutes Leben zu führen. Das, was nur einmal lebt, sollten wir bewahren. Wir dürfen nicht wegwerfen, was wiederverwendet werden kann« (ibid., 29). Gelöst werden die Aufgaben von den Kindern.
2.2 Maria Zacharioudaki: Frau Wiederverwertung und das Abenteuer des Mülls (Η κ. Ανακύκλωση και η περιπέτεια των σκουπιδιών, 2013) Im Mittelpunkt von Maria Zacharioudakis Frau Wiederverwertung und das Abenteuer des Mülls, erschienen in der Kinderbuchreihe Wir und die Natur, stehen die Herausbildung von umweltverträglichem Verhalten schon im Vorschulalter, die Beziehung des Menschen zum Konsum und zugleich mögliche Alternativen zur Erhaltung des
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ökologischen Gleichgewichts auf unserem Planeten. Die Umwelt anders zu betrachten – das ist das Ziel der Autorin. »Es war am heißesten Sommertag und auf der Müllhalde am Rande der Stadt herrschte großer Aufruhr. Der ganze Müll hat sich auf dem Marktplatz versammelt, um herauszufinden, was los war!« (Zacharioudaki 2013, 9) Eine gewisse Frau Wiederverwertung kommt sie abholen, sagt der Vorsitzende der Abfälle, eine glänzende Flasche, wobei er versuchte, seinen Schrecken zu verbergen (vgl. ibid., 10). »›Was ist das? Was machen wir? […] Wir sollen packen und losgehen, die Menschen sind schlecht‹, sagte Hippokrates, der Stiefel« (ibid., 11). Drei Volontäre, nämlich eine weitgereiste Büchse, ein Schreibblock mit Kinderzeichnungen und eine Parfümflasche (vgl. ibid., 14f.) brechen auf, um herauszufinden, wer Frau Wiederverwertung ist, denn sowohl auf der Müllhalde als auch in der Stadt seien sie in höchster Lebensgefahr, bis ein kleiner Junge den drei Protagonisten genau erklärt, dass bzw. wie sie alle wiedergeboren werden: Fürchtet euch nicht, meine Freunde, niemand tut euch was an […]. [W]as die Wiederverwertung betrifft, von der ihr euch so fürchtet, irrt ihr euch ganz und gar. Um die Wiederverwertung zu verstehen, denkt an einen Kreis; der Kreis kommt nie an ein Ende, wie zum Beispiel der Lebenskreis eines Baumes, der mit der Sonne groß wird und wächst, indem er uns seinen Schatten und seine Früchte schenkt. Doch es kommt der Tag, an dem er altert und zur Erde zurückkehrt. Auf diese Weise trägt er dazu bei, dass neue Bäume geboren werden. So startet ihr mit unserer Hilfe und speziellen Maschinen einen neuen Lebenskreis. Ihr werdet nützlich und neu und ihr hinterlasst uns so einen tipptopp sauberen Planeten (ibid., 33). Voller Freude kehren die Reisenden auf die Müllhalde zurück und erzählen allen die Geschichte ihrer bevorstehenden Wiederverwertung. Am nächsten Morgen findet der Müll ein Zuhause in den nagelneuen Mülltonnen, natürlich nach Material getrennt. Anhand der Blech-, Glas- und Papierfiguren stehen Kritik an dem zügellosen Konsumieren und Infragestellung des ständig wachsenden materialistischen Lebensstils sowie Ablehnung der gewinnorientierten Konsumgesellschaft für Kostas Magos und Maria Zacharioudaki im Zentrum.
3. Stimmen aus der Ägäis 3.1 Kostas Magos: Das Geheimnis des Meeres (Το μυστικό της θάλασσας, 2005) Erst auf der vorletzten Seite des Buches Das Geheimnis des Meeres, ausgezeichnet mit dem Preis des »Zyklus des Griechischen Kinderbuches«, erfahren die Leserinnen und Leser von der Beziehung des Autors zum Meer. In diesem kurzen autobiogra-
Ökokritische Stimmen aus der Sicht eines Kindes
fischen, unbetitelten Anhang am Ende des Buches steht, das Geheimnis des Meeres sei das erste, was Kostas Magos erkunden wollte, da er auf Lesvos geboren ist und seine Kindheit in einem Haus am Meer verbrachte. Als er älter wurde, entschied er sich für den Beruf des Lehrers, um die Freude der Kinder zu teilen, wenn sie die Rätsel der Welt entdecken (vgl. Magos 2005, Anhang). Magos enthüllt aus der Perspektive des kleinen Pandelis die Wahrheit des Meeres, eine Wahrheit, die sich den Einwohnern dieser griechischen Insel,7 einem Fischer, einem Kapitän, einem Seemann, einem Priester, einer Ärztin, einem Koch und sogar den Möwen auf jeweils verschiedene Weise offenbart: »Das Geheimnis des Meeres ist die Einsamkeit«, erwidert sein Vater seufzend und stellt den Kaffeekocher auf das Feuer. […] »Das Geheimnis des Meeres sind die Farben«, erwidert seine Mutter, die die schönsten Stickereien auf der Insel fertigt. […] »Das, was du fragst, wissen nur die Meerjungfrauen«, sagt lachend der Lehrer und schenkt ihm ein Buch mit Seegeschichten. […] »Ach, das Geheimnis des Meeres [sagt die Frau des Fischers, Anm. K.T.] sind die Winde und die Wogen, die Stürme und die Schiffbrüche« und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht (ibid.). Wenn sich der Junge an die Vögel, den Leuchtturm und an die Ägäis wendet, geht er noch einen Schritt weiter auf der Suche nach der Wahrheit. Magos lässt nur erahnen, was das Meer ist, das gleich einem Kunstwerk für jedes einzelne Individuum etwas anderes bedeutet. Es ist eine existenzielle Frage. Pandelis fragt nicht mehr, er schreit. Er braucht das Meer. »Hey, Meer, was ist dein wahres Geheimnis?« (ibid.) Die Beziehung zu Bereichen der belebten Umwelt ist je nach Region unterschiedlich (vgl. Tabbert 1995, 150). In Griechenland spielt das Mittelmeer die wichtigste Rolle.
3.2 Vangelis Iliopoulos: Das Mittelmeer bin ich und ich bin nicht mehr da (Η Mεσόγειος είμαι εγώ και δεν είμαι πια εδώ, 2008a) In der Geschichte von V. Iliopoulos Das Mittelmeer bin ich und ich bin nicht mehr da haben die Völker das Mittelmeer lange Zeit »als Mutter geehrt, als Göttin respektiert, als kleines Mädel betreut« (Iliopoulos 2008a). Im Laufe der Zeit haben sie jedoch vergessen, das Meer zu ehren, zu respektieren, zu betreuen, denn sie glaubten, es sei ganz selbstverständlich für sie da. So schlägt der allmächtige Ozean dem Mittel-
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Es geht, so Kostas Magos in einem persönlichen Gespräch mit der Verfasserin, um die griechische Insel Gavdos, den südlichsten Punkt Europas, wo der Autor einige Monate verbrachte und die einzige Schülerin der dortigen Grundschule kennenlernte. Im Winter wohnen nur sehr wenige Menschen auf der Insel.
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meer vor, einen anderen Ort zu wählen. Und das Mittelmeer ist bei Iliopoulos8 eines Tages nicht mehr da. Ihr fischt zu viel – So eine Katastrophe! Wie soll ich die Verschmutzung aushalten? Zugrunde gehe ich hier! Das Mittelmeer bin ich Und ich bin NICHT mehr da! Und wenn euch ein Fremder fragt, Und wenn jemand nach mir sucht, Sagt ihm, ich bin weg, Und niemand wird mich ausfindig machen. Ich such auf der Erde Nach einem neuen Ort, Einem idealen Ort Mit Menschen mit Verstand. […] (Iliopoulos 2008a) Die zornige Stimme des Meeres in diesem ersten Gedicht schildert die Überfischung und Verschmutzung, das zweite Gedicht, eine traurige Stimme voller Todesangst seitens der Meereswesen, sehnt sich nach dem Meer und der Kultur und das dritte, eine hoffnungsvolle Stimme, heitert die Seelen gleich nach dem ersten Aussagesatz »Das Mittelmeer ist da« (ibid.) auf. »Die ökologische Krise der Gegenwart besteht weniger darin, daß wir uns von technisch nicht lösbaren Problemen konfrontiert sehen, als daß uns die praktizierbaren Lösungen zwingen, gewohnte Lebensweisen zu ändern und das gegenwärtig verbreitete Naturverständnis zu modifizieren«, bemerkt Goodbody (1998, 25). Und es sind gerade die jungen Leserinnen und Leser, die
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Zu dieser Kinderreihe mit dem Titel Ökologeme gehören acht Bücher von Iliopoulos, die ein weites Spektrum der Umweltprobleme behandeln und oft auch als Theater- bzw. Puppenspiel aufgeführt werden können bzw. bereits aufgeführt wurden. Laut Iliopoulos geht es dabei um Eco tales, Erzählungen bzw. Märchen über das Ökosystem, die durch Prosa, Lyrik – zu jeder Geschichte gehören drei Gedichte – und informative Seiten das Ökoproblem holistisch darstellen. Das achte Buch wird ergänzt durch eine CD, welche die Vertonungen aller Gedichte enthält. Der Autor stellt zudem eine Landkarte mit griechischen Nationalparks und mit zehn Geboten, in denen es um das richtige ökologische Verhalten geht, und informative Links zur Verfügung, die sich auf Umweltorganisationen beziehen, die in Griechenland tätig sind.
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ihr Naturverständnis ändern. Die Geschichte schließt mit dem Satz: »Die Menschen vergessen schnell… Und Ihr?« (Iliopoulos 2008a)
3.3 Vangelis Iliopoulos: Wie soll die kleine Meerjungfrau auf der Müllinsel leben? (Η Μικρή Γοργόνα πώς να ζήσει στο Σκουπιδονήσι;, 2009b) »Weit draußen im Meer ist das Wasser so blau, wie die Blätter der schönsten Kornblume, und so klar, wie das reinste Glas […]« (Andersen 2013, 195). Mit diesem Satz aus der kleinen Meerjungfrau von Hans Christian Andersen beginnt auch die Geschichte der heutigen Meerjungfrau, die sich traditionsgemäß auf den großen Meeresball vorbereitet. Der Schmuck für diesen Ball besteht bei Andersen aus Muschelperlen und Korallen, doch die heutige Meerjungfrau, die auf einem Felsen nicht weit weg von der Küste wohnt, kann keine Meeresschätze entdecken, denn ihr Wohnort, der Fels, hat sich in eine Müllinsel verwandelt. Sie wählt also aus dem Müll ihren Schmuck und singt kurz vor dem Meeresball: Eine kleine Packung Milch Eine Serviette Eine Plastikflasche Ein hölzerner Tennisschläger. Müll meine Balltracht Das gibt es auf meiner Insel Müll vom Meeresgrund Niemand kümmert sich darum. Eine Plastiktüte Das Packpapier vom Fetakäse Eine leere Batterie Zwei hölzerne Pakete. […] (Iliopoulos 2009b). Am Beispiel des Schmucks der kleinen Meerjungfrau kritisiert der Autor die Konsumgesellschaft scharf, indem er beschreibt, wie der Müll in den Meeren landet und wie er zum traurigen Schmuck der zeitgenössischen Meerjungfrau wird. Diese Kaufsucht erläutert Iliopoulos in seiner Meerjungfrau: »Da kam die Mama mit ihren Rieseneinkaufslisten schwitzend an! – ›Hier bist du, mein Junge. Ich vergaß, wir müssen Batterien, ein Handy, einen Computer, einen Drucker kaufen. Unsere sind schon alt‹« (ibid.).
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Castoriadis erwähnt im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen des Menschen: »Es gibt keine natürlichen Bedürfnisse. Jede Gesellschaft schafft eine Gesamtheit von Bedürfnissen für ihre Mitglieder und sie bringt ihnen bei, dass sich das Leben lohnt, nur wenn diese Bedürfnisse erfüllt werden« (Castoriadis et al. 1981, 26). Und er fährt fort: Die Energiekrise versteht sich nur als Krise in Bezug auf das heutige Gesellschaftsmodell. Es ist diese Gesellschaft, die jedes Jahr 10 % mehr Erdöl bzw. mehr Energie braucht, um weiter existieren zu können. Das bedeutet, dass die Energiekrise mit anderen Worten eine Krise dieser Gesellschaft ist (ibid., 29; Herv. i.O.). Müll und Wiederverwertung, Konsumieren bzw. Leben (»ich konsumiere, also lebe ich«), sind Folgen unserer Industrie- und Konsumgesellschaft und des etablierten Lebensstils.
4. Waldstimmen 4.1 Eleni Svoronou-Sokialidi: Zurück in meinen Wald (Πίσω στο δάσος μου, 2008) Was verstehen die Kinder, insbesondere die Stadtkinder, unter dem Wort Wald? Für Rotkäppchen und Dornröschen scheint der Wald bei Svoronou-Sokialidi ein fremder Ort zu sein. »Ist das ein Wald? Dass ich nicht lache! Hier gibt es keine Wölfe…«, sagt Rotkäppchen. »Weder Schlösser noch Drachen«, erwidert Dornröschen (Svoronou-Sokialidi 2008, 11). Die im Buch zu vergleichenden Bilder beflügeln die Fantasie der Kinder und laden sie ein, sich mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen, angefangen mit so etwas Einfachem wie mit der passenden Waldbekleidung, dem Wandersack und dem richtigen Schuhwerk (vgl. ibid., 6f.), alles fremde Begriffe für die in den griechischen Städten lebenden Kinder. Im Vorwort ihres Buches macht die Autorin die Erwachsenen darauf aufmerksam, dass im Sommer 2007 über 2,5 Millionen Hektar Wald verbrannten und dass nicht nur der Klimawandel daran schuld ist, sondern vor allem ein schiefes bzw. groteskes Entwicklungsmodell und ein Wertesystem, welche die Bedeutung des Baumes, einst heiliger Wohnsitz der Nymphen und der Elfen und heute wertvolle Sauerstoffquelle und Dekontaminationsmittel für die Atmosphäre, missachten. Durch die Kinderreihe Ökoabenteuer soll den Kindern mithilfe der Mythen, der Abenteuer, des Humors und des Spiels die Liebe zur Natur vermittelt und ein anderes Werte- und Haltungssystem beigebracht werden (vgl. ibid., 3). Das Buch mit seiner differenzierten Annäherung durch kurze Dialoge und umweltbezogene, abwechslungsreiche Schreibübungen dient der Wiederherstellung der verlorenen
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Beziehung zwischen den alltäglichen Gewohnheiten der Kinder und dem Schutz der Natur.
4.2 Vangelis Iliopoulos: Die Amsel fordert, dass der Wald gerettet wird (Ο κότσυφας απαιτεί το δάσος να σωθεί, 2008b) »Sag allen Vögeln, sie sollen aufhören zu zwitschern.« […] Und die Vögel hörten auf zu zwitschern. […] Die Tierärzte sagten, es handelt sich um eine ansteckende Krankheit. Die Ornithologen behaupteten, es sei wohl der Klimawandel, der sie beeinflusst habe. Die Journalisten, die Untersuchungen vornahmen, sprachen von einem Futter, das ihrer Stimme schade. Die Omas sagten, dies sei kein gutes Zeichen, es komme eine große Katastrophe. Noch eine? Sahen sie denn nicht, dass die Katastrophe schon längst da war? (Iliopoulos 2008b) Iliopoulos schreibt gleich nach den Waldbränden im Jahr 2007 in Griechenland sein erstes Buch der Kinderbuchreihe Ökologeme, die Geschichte der Amsel. Um den auf dem Umschlag abgebildeten Baum steht: »Für Kinder, die die Natur und die Umwelt lieben, für Bürger der Zukunft mit ökologischem Bewusstsein.« Die kleine Amsel hat im Sommer, als sich der große Brand ausbreitete, der ihren Wald zerstörte, den Wald verlassen, um sich zu retten! Jede Lebensform verschwand. Viele Tiere verbrannten, während andere zusammen mit all den Vögeln vor dem Feuer davoneilten. Erst im Frühling kehrten sie mutlos und verängstigt zurück, als das erste Gras wieder keimte! Es war auch Frühling, als die Amsel zusammen mit ihren Amselchen in ihr gewohntes Umfeld zurückkehrte. Die kleinen Amselkinder wurden in den Bäumen der Stadt geboren und sie wussten deshalb nicht, was ein Wald ist. Die Amsel kam aus Nostalgie zurück, festentschlossen, bei der Wiederauferstehung des Waldes zu helfen (ibid.). Schon das erste doppelseitige Bild mit den flüchtenden Waldtieren schockiert die jungen Leser und Leserinnen. Mit aufgerissenen Augen versuchen die Waldbewohner, dem brennenden Wald, ihrem Zuhause, zu entfliehen. Die Farben sind die des Brandes, des Todes. Die Amsel leiht dem Wald ihre Stimme, es ist aber niemand mehr da, der diese vernehmen kann. Sie irrte also in den Ästen der verbrannten Bäume umher und sang mit trauriger, leiser Stimme: Alles schwarz Und Schweigen Hier einst Gab es Leben Hier einst Gab es Lieder Farben und Blumen
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Nun weinst du Und bist traurig Bist wohl schuld Merk dir das Bist wohl schuld Dass du nicht daran gedacht hast Dass der Wald zu Asche verbrennen kann Komm schon Mit uns zusammen Pflanzen wir Das Leben erneut Pflanzen wir Bäume wieder Schwarz soll der Berghang nie wieder sein Komm schon Mit uns zusammen Der Wald muss gerettet werden Komm und alles kann wohl Wieder seinen Anfang nehmen! (ibid.) Tiere und Vögel, hier das Beispiel der Amselfamilie, gehören seit den Waldbränden in Griechenland zu den Bewohnern der Städte. Füchse, Hirsche, sogar Wildschweine stehen immer wieder in den Schlagzeilen der griechischen Presse und überraschen in den letzten Jahren kaum jemanden mehr. Das erste unbetitelte Gedicht der Amsel informiert und sucht nach Verantwortlichen, es gibt aber zugleich Hoffnung auf den Neubeginn. – Für wen singst du? hörte sie eine Stimme sprechen. Komisch! Wer sprach zu ihr? [Ihr Gesprächspartner war ein kleines weißes erst gekeimtes Mohnblümchen, Anm. K.T.] […] – Wieso bist du weiß? Sind Mohnblumen nicht alle rot? – Nein. Rot sind sie, wenn sie glücklich sind, wenn sie auf Wiesen groß werden, wenn sie ohne Sorgen leben! Ich, hier geboren, bin voller Trauer. Trauer um den verbrannten Wald. Als ich dir aber zuhörte, da fragte ich mich: Für wen singst du? Wer ist deiner Meinung nach schuld? – Ich singe für mich, da ich wohl auch schuld bin! Ich singe für alle Geschöpfe, die im Wald lebten und nie auf die Idee kamen, dass so eine Katastrophe passieren könnte! Ich singe natürlich, falls uns auch ein Mensch zuhört (ibid.).
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Das zweite Gedicht mit dem Titel »Gemeinsam aufforsten« drängt zur Initiative, während das dritte, von der jungen Generation der Amseln gesungen, ein Loblied auf den Wald ist. Es kommt endlich der Moment, in dem das Rotkehlchen der Mohnblume ins Ohr flüstert: »›Der Wald wird gerettet!‹ Da wird die weiße seltsame Mohnblume … ROT. Vor Freude« (ibid., Herv. i.O.).
4.3 Veatriki Kanzola-Sambatakou: Der Wald, der floh (Το δάσος που το ʼσκασε, 2002)9 »Es war einmal niemand, denn alle waren weg.« (Kanzola-Sambatakou 2002, 7) Tiere und Vögel fliehen in Panik, denn der Bürgermeister der nahen Lärmstadt hat vor, in die Natur zu ziehen. Der Anspruch auf die Natur, so Morin, ist einer der persönlichsten und tiefsten Ansprüche und er kommt vorwiegend in urbaner Umgebung ans Licht, wo die Herrschaft der Technik, die Bürokratisierung, die Zeitmessung des Lebens, die Industrialisierung in zunehmendem Maße ansteigen (vgl. Morin 1990, 4). Der Bürgermeister will allerdings bei Kanzola-Sambatakou nicht als Naturliebhaber ausbrechen, er will den Wald ökonomisch nutzen und verspricht seinen Wählern neues Bauland. Diese »Schwärmerei für die Natur kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte. Die Natur schlechthin ist aber ebenfalls unbewohnbar«. (Brecht 1995, 116; Herv. i.O.) Unbewohnbar sogar für die ewigen Bäume. Tiere und Vögel sind schon weg. Die Bäume müssen auch fliehen. Wohin aber? Und wie? So fest verwurzelt, wie sie seit Jahrhunderten dastehen. Der Hügel gegenüber dem Wald ist nach den letzten Bränden kahl. »Bist du verrückt? Hast du nicht gesehen, wie die Erde schon in Bauland aufgeteilt ist wie ein Baklava? Willst du, dass wir auch zu Asche verbrennen?« (Kanzola-Sambatakou 2002, 16) Und das Wunder geschieht. Die Bäume können sich selbst entwurzeln. »Wir können auch laufen […]. Nun sind wir nicht mehr gezwungen, tatenlos dazustehen und darauf zu warten, dass die Menschen uns ausrotten […]!« Es würde ihnen leichtfallen, herauszufinden, wo die Stadt lag. Sie müssten nur dem Müll folgen. Denn, egal wohin der Mensch geht, er hinterlässt Spuren (ibid., 14). Die Bäume, zusammen mit den Kindern der Lärmstadt »Ästchen und Händchen haltend« (ibid., 20), retten den Wald. Die wortwörtliche Entwurzelung der Bäume von ihrem Geburtsort ist in ihrer Tragik die Rettung. Die Wurzel- und die Baummetapher, ein regelrechter Topos in der Exilliteratur, wird anhand der sonst unbeweglichen, fest verwurzelten Bäume exemplarisch dargestellt.
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Im Jahr 2002 wurde die Autorin für dieses Kinderbuch mit dem ersten Preis ökologischer Märchen vom Minoas Verlag und dem World Wildlife Fund (WWF) ausgezeichnet.
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5. Zur Notwendigkeit eines neu etablierten Naturverständnisses Wie schon aufgezeigt wurde, ist das Ziel der ökologisch engagierten Kinderliteratur nicht objektiv zu informieren, sondern die Leserinnen und Leser durch Einbildungskraft und sprachliche Intensität zum Handeln zu ermächtigen und ihre Energien zu mobilisieren (vgl. Goodbody 1998, 21). Die Entwicklungspsychologie hat nachgewiesen, in welchem Maße in der Kindheit erworbene Werthaltungen das spätere Handeln bestimmen. Deshalb dürfen wir damit rechnen, dass auch die ökologische Kinderliteratur durch einprägsame Szenen das Naturverhältnis der jungen Leserinnen und Leser nachhaltig beeinflusst (vgl. Lindenpütz 1999, 238), nämlich durch Meerjungfrauen ohne Balltracht, durch Wälder ohne Bäume, durch Bäume ohne Vögel, durch Vögel ohne Stimme, durch Meere ohne Wasser – man könnte die Liste ewig weiterführen. Es gibt […] keine Einbahnstraße zwischen Theorie und Alltagspraxis, zwischen Wissenschaft und Literatur. […] Der Austausch von Bildern und Leitvorstellungen findet in beiden Richtungen statt. Und so darf auch ökologische Kinderliteratur nie allein daran gemessen werden, ob sie wissenschaftliche Erkenntnis korrekt transportiert […]. Vielmehr ist auch umgekehrt von literarischen Bildern und Modellen ein Einfluß auf das spätere Welt- und Wissenschaftsverständnis der Rezipienten zu erwarten. Kinderliteratur ist nicht die »Magd« ökologischer Theorien, sondern frei […] zu schaffen (ibid., 234f.). Die Leserinnen und Leser – zusammen mit anderen nicht menschlichen Figuren, mit den Vögeln, den Tieren, den Bäumen, dem Mond, den Winden, dem Meer usw. – scheinen wegen ihrer Unschuld und des Mangels an hinterhältigen Beweggründen sensibilisierter zu sein. In den meisten Büchern sind es die Kinder, die von der Natur selbst auf das Problem hingewiesen werden (vgl. Kouraki und Vorylla 2014, 226; vgl. auch Papadatos 1995, 111f.), während die Erwachsenen von den Kindern dazu veranlasst werden, zur Verwirklichung der erwünschten Lösung beizutragen (vgl. Kouraki und Vorylla 2014, 226f.). Es werden im literarischen Text Strategien der Verzerrung und Übertreibung verwendet, die im Gegensatz zu einer pragmatischen, wissenschaftlichen oder politischen Analyse zur Wahrheitssuche führen (vgl. Goodbody 1998, 21). »Das ökologische Epistem stellt […] eine Erweiterung, nicht eine Ersetzung der literatur- und kulturwissenschaftlichen Hermeneutik dar, und die Beschreibung ästhetischer Strukturen mit Hilfe ökologischer Begriffe beabsichtigt eine Ergänzung und transdisziplinäre Öffnung, keine Ablösung von Poetik und Ästhetik« (Zapf 2002, 53). Dem französischen Soziologen Edgar Morin zufolge entspringt der wahre Respekt vor dem menschlichen Leben aus dem tiefen Respekt vor der Natur (vgl. Morin 1990, 14). Eine holistische Haltung ist also eine dringend zu erreichende Lebenswei-
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se. Diesem Ziel dienen bei allen hier behandelten Kinderbüchern die Motivation der Handelnden, das freiwillige Engagement, ihr Urteil, die Solidarität, die Überwindung der Hindernisse und die Auseinandersetzung der Leserinnen und Leser mit zusätzlichem sich im Buch befindenden Material. Wir sollten das Interesse an der Natur nicht nur als literarische Sehnsucht, sondern auch als eine literarische Vernunft wecken, da das Prinzip Hoffnung durch das Prinzip Verantwortung ergänzt werden muss (vgl. Tabbert 1995, 151). Die soziale Wirklichkeit fordert eine Verantwortung der Kunst. Kurzzeitige Informationsvermittlung mit Abschreckung genügt nicht; sensible Ästhetik, die auf Langzeitwirkung angelegt ist, lässt hingegen hoffen (vgl. Schneider 1995, 161). Die Vielschichtigkeit der ökologischen Themen erfordert vom Autor das Verfahren der Komplexitätsreduktion. Durch realitätsnahe Einblicke in die Ökoprobleme der eigenen Lebenswelt oder einen Überblick über den ökologischen Problemkomplex in Form einer Parabel oder einer Allegorie fordert der Autor seine Rezipienten auf, sich selbstständig ökologisch zu engagieren (vgl. Lindenpütz 1999, 232). Dieser Prozess trägt zum Bewusstseinswechsel bei. In diesem Sinne spielt die Ökoliteratur bei der Bildung eines Staatsbürgers eine wichtige Rolle, da ihre Themenbereiche wie Müllverwaltung, Energie, Waldökosysteme, Konsum usw. die Kinder dazu führen, das Sein zu bilden, die Tat zu fördern, die Rechte und die Pflichten wahrzunehmen, indem sie dadurch ihr unmittelbares Verhältnis, sei es lokal oder global, zur Umwelt entwickeln. Dabei geht es um die πολιτειότητα,10 die Staatsbürgerschaft, die auf dem Zugehörigkeitsgefühl des Ich (Sein), auf der aktiven Mitwirkung (Tun), auf dem Recht jedes Einzelnen (Können) und auf den Pflichten der Gemeinde gegenüber (Müssen) beruht (vgl. Kouraki und Vorylla 2014, 219f.; vgl. auch Drake 2001, 120ff.). Es muss die Einsicht gewonnen werden, dass der technologische Fortschritt allein die Welt nicht von diesen Katastrophen heilen kann, geschweige denn von den großen Problemen, die unseren Planeten und die Biosphäre bedrohen. Erst durch eine gewaltige Neuausrichtung unserer Beziehung zu den Menschen, zu den anderen Lebewesen, zur Natur wird die rettende Reaktion hergestellt. Ein ökologisches Bewusstsein der Solidarität muss die konkurrierende, aggressive Mentalität, die nun die globalen Beziehungen steuert, ersetzen (vgl. Morin 1990, 3). Und gerade dieses Bewusstsein beruht u.a. auch auf den Grundbedürfnissen des Menschen, nämlich nicht nur auf dem Vorhandenen und schon Existierenden, sondern auch auf der Hoffnung.
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Der Terminus bezieht sich auf die Staatsbürgerschaft (citizenship) und, je nach Land, auf die Rechte und Pflichten und steht auch mit der Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben in enger Verbindung. Vgl. Reichel 2011, 17f.
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Die Reduktion der Welt auf das, was wir im Augenblick wahrzunehmen und zu genießen vermögen, würde jeden Genuß zerstören; denn zu diesem gehört ein Hintergrund der »Unerschöpflichkeit«. Zu wissen, daß das Wißbare und Sichtbare immer mehr ist als das aktuell Gewußte und Gesehene, ist eine Bedingung dafür, daß der Mensch in der Welt heimisch sein kann (Spaemann 1986, 194; Herv. i. O.). Der Mythos der Unerschöpflichkeit der Natur ist heute überholt. Doch die Idee der Unerschöpflichkeit der Natur ist ein Grundprinzip, Spaemann nennt es »Bedingung« (ibid.), für das psychische Gleichgewicht des Menschen. Den einzig wahren Weg zur Erlangung eines ganzheitlichen Naturverständnisses gibt es nicht, es gibt allerdings viele verschiedene Wege. Die Bildung eines ökologischen Bewusstseins mithilfe der Literatur bietet sich an, denn die jungen Leserinnen und Leser müssen nicht alle diese Wege beschreiten, sondern antizipieren sie mit ihrer Fantasie, vergleichen und erwerben so den erwünschten Vielheitsblick, der die Voraussetzung für die Zukunftsbewältigung in hochdifferenzierten Gesellschaften ist. Gerade die Perspektivenvielfalt der ökologischen Kinderliteratur ist geeignet, die Flexibilität des Denkens zu schulen und den Wirklichkeitsreichtum schätzen zu lernen (vgl. Lindenpütz 1999, 220). Letzten Endes gibt es einen »Planetenarzt« (Iliopoulos 2009a), personifiziert durch die Faszination, die die Literatur auf die Kinder ausübt. Durch Konsens, durch differenzierte Sichtweisen und vielfältige Perspektiven, durch eine Relektüre der Natur können das »geflügelte Werkzeug«, »das Wort« (vgl. Schiller 1876, 11) und die Wissenschaft gemeinsam die Menschen aus ihrer eigenen Müllhalde befreien. Und mit diesem »Wort« schafft die Kinderliteratur durch die ästhetische Sensibilisierung die Voraussetzungen für den Weg von der Umweltkrise zur Umweltwende. »Was sind das für Zeiten, wo | Εin Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist« (Brecht 1967, 723), schrieb Bertolt Brecht in seinem großen Exilgedicht An die Nachgeborenen (ibid., 722–725). Und Walter Helmut Fritz schrieb: Inzwischen ist es fast zu einem Verbrechen geworden, nicht über Bäume zu sprechen, ihre Wurzeln, den Wind, die Vögel, die sich in ihnen niederlassen, den Frieden, an den sie uns erinnern (Fritz 1976, 64; Herv. K.T.).
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Zwischen Dystopie und Heterotopie Imaginationen des Meeres im zeitgenössischen deutschsprachigen und griechischen Drama Nikolaos-Ioannis Koskinas
1. Einleitung Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht (Foucault 1977, 171). Diese vielzitierten Worte aus Michel Foucaults Der Wille zum Wissen beschreiben einen markanten Wendepunkt in der Geschichte von Politik und Macht, eine historische Zäsur (vgl. Foucault 1977, 169f.). Der »Eintritt des Lebens in die Geschichte« (ibid., 169) stellt für Foucault einen neuen Typus der Macht dar. Während sich die Souveränitätsmacht des Ancien Régime durch das Recht, sterben oder leben zu lassen (vgl. ibid., 165), auszeichnete, kam es laut Foucault in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer wichtigen Machttransformation, die in der Politisierung des Biologischen bestand. Die politische Macht übernahm die Verwaltung des Lebens, und deren grundlegende Aufgabe besteht seitdem in der Sicherung und vor allem in der Steigerung und ökonomischen Produktivmachung der Lebensprozesse. Ziel dieser neuen »Lebensmacht«, die Foucault Biopolitik nennt, ist die Entstehung der »Normalisierungsgesellschaft« durch die kollektive Regulierung der Bevölkerung: »Die Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Biopolitik der Bevölkerung« (ibid., 166). Durch disziplinarische und regulatorische Mechanismen, die von der gewaltsamen souveränen Machtlogik abweichen,
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kommt es im Endeffekt zur freiwilligen Unterwerfung der Staatsbürger unter die herrschende Ordnung, die sie als »normal« und unausweichlich wahrnehmen. Eine Macht […], die das Leben zu sichern hat, bedarf fortlaufender, regulierender und korrigierender Mechanismen. […] Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet. […] Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie (ibid., 162). Für Foucault ist das biologische Leben eine zentrale Kategorie der Moderne. Mit der Biopolitik begann das Biologische zum ersten Mal eine so wichtige Rolle in der Politik zu spielen. An dieser »biologischen Modernitätsschwelle« (ibid., 166) trat der Mensch nicht als politisches Wesen, sondern als Spezies in den Vordergrund, was die Umkehrung der aristotelischen Politikdefinition zur Folge hatte, die auf der klaren Unterscheidung zwischen dem biologischen (zoe) und dem politischen (bios) Leben basiert. Im Erdzeitalter des Menschen, im Anthropozän, scheint die Frage nach der »Macht über das Leben« aktueller denn je. Biopolitische Strategien beeinflussen und manipulieren inzwischen jegliche Form von Leben auf dem gesamten Planeten. Um die menschlichen Lebens- und Produktionsverhältnisse zu verbessern, hat sich die Biopolitik nicht ausschließlich auf die menschliche Bevölkerung beschränken können, sondern musste auch in die Natur und die Umwelt eingreifen. Alle diese anthropogenen Eingriffe, von der Agrartechnologie und Viehzucht bis zur Molekularbiologie und Gentechnik, hatten schwerwiegende Auswirkungen auf das Erdsystem. Es scheint, als hätte Foucault die politischen Herausforderungen des Anthropozäns vorweggenommen (Horn und Bergthaller 2020, 115). Denn es ist die herrschende politische und wirtschaftliche Ordnung, die den Menschen von einem Tier unter Tieren zu einem wichtigen geologischen Einflussfaktor gemacht hat, was zu einer grundlegenden Veränderung der Lebensbedingungen auf dem ganzen Planeten führte (vgl. ibid.). Auch in kulturellen Kontexten stellt das Anthropozän eine große intellektuelle Herausforderung dar. In diesem Sinne dient der Terminus neben der Benennung einer neuen geochronologischen Epoche oft als praktische Kurzform für die vielfältigen und komplexen Aspekte der globalen ökologischen Krise, vom Klimawandel bis zur Ozeanversauerung, und stellt die herrschende Ordnung radikal infrage, denn diese Ordnung gefährdet die ökologischen Grundlagen ihrer eigenen Existenz. Daraus entsteht ein ethischer Imperativ, der nicht nur mehr Umweltbewusstsein, sondern eine fundamentale Transformation des Politischen und der Machtausübung erfordert, sei es die von Staaten, Großunternehmen oder einzelnen Bürgern.
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Es ist also nicht überraschend, wenn das Anthropozän und die damit verbundenen Anforderungen an das Denken und Handeln der Menschen auch in der Kunst und Literatur der Gegenwart sehr präsent sind. Die große Mehrheit der literarischen Reaktionen auf anthropogene Umweltveränderungen und deren unberechenbare Folgen sind weltweit Romane, die man oft als »cli-fi« (climate change fiction) bezeichnet. Viele dieser Texte ziehen die streng anthropozentrische Auffassung von der Natur als einer unerschöpflichen Ressource grundlegend in Zweifel. Das Thema Anthropozän ist längst auch im Theater angekommen, in Griechenland vornehmlich in der Form des ecodrama. Unter ecodrama (auch: green theatre, environmental theatre, sustainable theatre) versteht man Stücke, die die Verbindung zwischen der humanen und der nicht humanen Welt herausstreichen oder sich direkt mit Umweltthemen befassen und darauf abzielen, dass die Zuschauer das Theater mit einem tieferen ökologischen Bewusstsein verlassen. Beispiele hierfür sind die Stücke Το χτικιό της πόλης (Die todkranke Stadt, 2007) von Giannis Tzikas und O Κατακλυσμός (Die Sintflut, 2019) von Dimitris Lentzos. Die Lage in Deutschland könnte man mit dem programmatischen Titel der Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft im Deutschen Theater Berlin 2016 zusammenfassen: »was tun. politisches handeln jetzt«. In erster Linie erscheinen im deutschsprachigen Raum dokumentarische Theaterproduktionen wie SCHICHT C – Eine Stadt und die Energie (2008), Oder Bruch (2012) von Tobias Rausch oder Weltklimakonferenz (2015) von der Gruppe »Rimini Protokoll«. In solchen Produktionen wird überwiegend mit Augenzeugenberichten gearbeitet, und die Zuschauer selbst werden oft zu Darstellern des Stücks. Neben diesen Arbeiten gibt es auch einige spannende Versuche, bewusst auf die anthropozentrische Perspektive zu verzichten und die Natur selbst zum Akteur zu machen. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist das physiozentrisch orientierte botanische Langzeittheaterprojekt Die Welt ohne uns von Tobias Rausch. Sowohl im griechischen als auch im deutschen Theater steht das Dokumentarische, das Faktische im Mittelpunkt. Für unsere Fragestellung sind jedoch die wenigen Dramen von Belang, die anthropogene Umweltveränderungen durch Schaffung neuer Geschichten auf der Bühne thematisieren, also reine Fiktionsdramen. Denn bei solchen Theaterstücken ist es nicht der geschilderte Fall, der die Bedeutung des Textes ausmacht, sondern die Fragestellung, die über den Fall hinausgeht und die Grundlagen der bestehenden Ordnung betrifft. Es bleibt also zu untersuchen, welche Fragen diese Werke aufwerfen, welche Kritik an gesellschaftlichen Zuständen sie enthalten, ob sie verbindliche Antworten geben wollen, ob sie alternative Denk- und Handlungsmöglichkeiten eröffnen bzw. Gegenentwürfe zur Lebenswirklichkeit der Zuschauer anbieten. In der vorliegenden Arbeit werden zwei solche Dramen auf ihren utopischen Gehalt bzw. ihr utopisches Potenzial hin untersucht: ein Werk aus Griechenland, Tsimaras Tzanatosʼ Fräulein Unglück, und ein Stück aus
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dem deutschsprachigen Raum, Die Verfassung der Strände des österreichischen Dramatikers Stephan Lack. Utopien sind stets »Indikatoren für ›Krisen‹ und zugleich reagieren sie darauf« (Vosskamp 2013, 29). Es ist eine Tatsache, dass das Ende der »großen Erzählungen« (François Lyotard) keinesfalls auch zum Ende der utopischen Zukunftskonstruktionen geführt hat. Ganz im Gegenteil: Utopie, in den verschiedensten Formen, bleibt konstituierender Bestandteil der modernen Kunst. Auf der anderen Seite hat sich der »apokalyptische Ton«, den Jacques Derrida in den 1980er-Jahren in der Philosophie diagnostizierte, gegenwärtig in der gesamten Kunstlandschaft verbreitet: von der Literatur bis zum Mainstreamkino und vom philosophischen Essay bis zu den Computerspielen. In der zeitgenössischen Literatur werden die meisten Zukunftsentwürfe durch die Spannung von Wunsch- und Schreckbildern, durch ein dauerndes Oszillieren zwischen Utopischem und Apokalyptischem bzw. Dystopischem gekennzeichnet (vgl. Vosskamp 2013, 17). Auf den ersten Blick scheint das paradox, denn Utopie und Dystopie werden häufig antithetisch verwendet. Doch das ist eine Vereinfachung, denn ihre Ziele sind gar nicht so unterschiedlich. Die Voraussetzung für jede Form philosophischer, anthropologischer, gesellschaftlicher und künstlerischer Utopie oder Dystopie ist Möglichkeitsdenken (ibid., 13). Bereits in Aristoteles’ Ethika Nikomacheia wird die dynamis, die Möglichkeit, dass eine Sache oder ein Wesen etwas wird oder tut, der energeia, der anschließenden Verwirklichung der Möglichkeit, gegenübergestellt. Der Streit um die Möglichkeit ist prägend sowohl in der mittelalterlichen Philosophie als auch in der Neuzeit (Abälard, Descartes, Leibniz). Im 20. Jahrhundert geht Ernst Bloch von einem dialektisch gedachten Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit aus, welches er wie folgt schildert: »Das bereits Wirkliche ist von einem Meer von Möglichkeiten umgeben, und immer wieder, immer noch steigt aus diesem Meer ein neues Stück Wirklichkeit auf« (Bloch 1982, 234). Bloch entwickelt eine »Ontologie des Noch-Nicht-Seins« und verbindet sie mit dem bei ihm zentralen Begriff der konkreten Utopie: »Die reale Möglichkeit wohnt derart in keiner fertig gemachten Ontologie des Seins des bisher Seienden, sondern in der stets neu zu begründenden Ontologie des Seins des Noch-Nicht-Seienden, wie sie Zukunft selbst noch in der Vergangenheit entdeckt« (Bloch 1959, 274). Dieses »Noch-Nicht-Seiende« stellt ein wesentliches Moment sowohl bei Utopien als auch bei Dystopien dar. Beide beziehen sich implizit oder explizit kritisch auf die jeweilige Situation, in der sie entstehen, und stellen alternative Zukunftsprojektionen dar. Wie Vosskamp ausführt, sei Voraussetzung dabei die zentrale Differenz zwischen der je vorgefundenen gelebten Wirklichkeit und einer diese Wirklichkeit negierenden imaginären Welt (Vosskamp 2013, 22). Im Fall der Utopie ist diese alternative virtuelle Welt wünschenswert, im Fall der Dystopie hingegen nicht. Entscheidend ist jedoch, dass »in beiden Fällen die Zwänge des Hier und Jetzt in den
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Hintergrund treten und durch den Prozess des kritischen Vergleichens den Blick der Rezipienten freigeben auf das Andere, auf das, was nicht ist« (Leiss 2013, 210), und zwar unabhängig davon, ob dieses Andere, die imaginäre Welt, als soziales Ideal oder als dessen dystopische Inversion konzipiert ist. Selbst die pessimistischste Dystopie enthält den Begriff der Warnung, der wiederum oft Hoffnung artikulieren kann, die durch die Entscheidung erzeugt wird, eine pessimistische Zukunft abzuwenden. Die Dystopie ist sozusagen eine »oppositionelle Stimme«, die dazu beiträgt, dass die Utopie nicht »schal« wird (Booker 1994, 176). Die beiden in dieser Studie untersuchten dramatischen Werke entwerfen warnende Zukunftsimaginationen. Dabei wird in erster Linie die besondere Materialität des Meeres und der thalassischen Natur im Allgemeinen als ein konstitutiver und lebenserhaltender Bestandteil der Biosphäre ästhetisch verarbeitet. Das Meer stellt seit den antiken Mythen und Epen, aber auch seit der Psychoanalyse und Traumdeutung Freuds, einen wichtigen Topos der westlichen Kultur, einen Raum kultureller Projektionen und Verdichtungen dar. In kulturellen Imaginationen stehen oft die maritimen Merkmale der »Verflechtung«, »Fluidität« und »Grenzauflösung« im Mittelpunkt (Gradinari 2020, 13). Auf der einen Seite hat das Meer wegen seiner unkontrollierbaren Materialität einen dynamisch reinigenden, einen kathartischen Charakter, andererseits steht es für das Unbewusste, oft auch für das Unheimliche im Sinne Freuds. Angesichts drängender ökologischer und migrations- bzw. grenzpolitischer Probleme wird schließlich das Meer als transkultureller Gedächtnisraum zunehmend als wichtiger Akteur unserer globalisierten Gegenwart wahrgenommen.
2. »Wo einmal Land war, ist nur noch Wasser« – Stephan Lack: Die Verfassung der Strände Die Verfassung der Strände besteht aus fünf autonomen Szenen oder »Bildern«. Wie in einem expressionistischen »Stationendrama« steht jedes einzelne »Bild« für sich, die Szenen können laut Regieanweisung auch getrennt voneinander inszeniert werden. Es gibt allerdings so etwas wie eine logische Abfolge. Der gemeinsame Nenner in allen Szenen ist der maritime Raum. Das Meer ist im Stück von einer Aura des Unheimlichen, Unbegreiflichen und Unberechenbaren umgeben.1 1
Lack wählt für die Titel seiner fünf »Bilder« die Titel von Filmen und TV-Serien, die alle das Meer thematisieren: So könnte die erste Szene Deep Black Sea den Filmtitel Deep Blue Sea (1999) adaptieren bzw. auf den Untergang der Ölplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko 2010 verweisen. Die Szenen Baywatch und Loveboat übernehmen die Titel der gleichnamigen TV-Serien (1989–1999 und 1977–1986), während die Szene 2012 auf den Katastrophenfilm von 2009 (Regie: Roland Emmerich) und die abschließende Szene Waterworld auf den dystopischen Endzeitfilm von 1995 (Regie: Kevin Reynolds/Kevin Costner) anspielen.
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Stephan Lack stellt die »Verfassung« der Strände und aktuelle Probleme des Anthropozäns und der Globalisierung mit wortspielerischer Ambiguität und oft bitterem Humor dar. Wasser- und Energiekrise, Klimawandel, Tourismusindustrie und Urlaubsimperialismus, Piraterie bis hin zu einer Ölkatastrophe und einem atomaren Unglück bilden im Stück Indikatoren einer »übergeordneten Metakrise, die die Überlebensbedingungen des Erdsystems in Frage stellt« (Leggewie und Welzer 2011, 20). Eine wichtige Frage, die sich hier stellt, ist, ob im Stück auch Alternativen angeboten werden. Sind die anthropogenen Umweltveränderungen unumkehrbar oder wird im Text eine diese Metakrise überwindende imaginäre Welt im Sinne eines »Noch-Nicht-Seienden« angedeutet? Im Folgenden wird versucht zu zeigen, dass es sich bei Lacks Drama um eine Dystopie handelt, um ein alternatives virtuelles Schreckbild, das auf die anthropogenen Umweltveränderungen der Gegenwart aufmerksam machen und vor deren möglichen Folgen warnen will. Im ersten »Bild« Deep Black Sea versuchen die Vorsitzenden eines Ölkonzerns eine Umweltkatastrophe zu bagatellisieren und lehnen jegliche Verantwortung für ihre konkreten Umweltsünden ab. Mit Verve und Suggestivkraft führt Stephan Lack die floskelhafte Krisenrhetorik der Ökonomie, deren Verschleierungstaktik und Beschwichtigungspropaganda ad absurdum: »Wir haben ja versucht, die Natur zu schützen, aber sie wollte uns nicht lassen. Die Natur wollte unter keine Käseglocke. […] Da hätten wir uns besser an den Taucher, oder an den Tauchroboter gehalten, aber die See macht uns einfach einen Strich durch sämtliche Lyrik« (Lack 2012, 5).2 Die Natur selbst wird von den Vertretern des Ölkonzerns für allein schuldig für das herankommende Umwelthorrorszenario gehalten, denn sie wolle nicht kooperieren: »Die Natur schweigt und liegt auf der faulen Haut, und lässt sich von uns den wunden Rücken massieren. Mit Massageöl im Wert von Milliarden, bravo. Quasi eine Wellnesskur. Und Sie sprechen immer noch von einer Umweltkatastrophe?« (VS, 9) Das Dystopische wird hier auch durch absurden Humor, Ironie, Wortspiele und eine irreführende, verletzende Sprache erzeugt. In rascher Abfolge reiht Lack ein anstößiges oder doppeldeutiges Wort an das andere:
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Auffallend ist auch, dass Lacks »Bilder« den Inhalt der genannten Filme bzw. Serien zum Teil aufgreifen: In der ersten Szene die Umweltkatastrophe in Form einer Ölpest mit den Machenschaften des Ölkonzerns, in der zweiten Szene den Tourismus und die Strände mit den Urlaubern. Szene 3 adaptiert das Verhalten skrupelloser Konzerne und der Medien, die trotz der Ausweglosigkeit der Situation, im Film dargestellt anhand von sintflutartigen Überschwemmungen, die fast den ganzen Planeten zerstören, weitermachen wie bisher. In Szene 4 spielt Lack mit dem Motiv des Kreuzfahrtschiffs, das die Weltmeere bereist. Die letzte Szene übernimmt das Motiv des nach einer Flutkatastrophe vollständig von Wasser bedeckten Planeten. Im Folgenden werden alle Verweise auf dieses Werk mit der Sigle VS und Seitenzahl in Klammern nachgewiesen.
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Lecken Sie mich ruhig, spricht das Meer, denn es ist ein derart versautes Luder. Lecken Sie mich, aber geben Sie mir nicht die Schuld, wenn Ihre Zunge anschließend ganz schwarz ist, denn ich habe mich ordentlich von Ihnen besudeln lassen, als Sie es das letzte Mal auf mir getrieben haben, auf einer Ihrer Spritztouren (VS, 4). Alles in allem erweckt diese erste Szene beim Zuschauer ein starkes Gefühl der Ausweglosigkeit: Wir geben Ihnen jetzt also eine Minute, nein, nichts zu danken, wir machen das gerne. Hier die Minute, die gehört Ihnen, über die verfügen Sie jetzt frei, schenken Sie sie der Umwelt, ganz wie Sie wollen. Also bitte, eine Schweigeminute für die Natur, ab jetzt (VS, 10). Das zweite »Bild« trägt den Titel Baywatch und thematisiert das Meer als Verkehrsund Urlaubsraum. Maritime Räume wie Insel, Küste, Strand, Wellen werden hier als Orte der Bedrohung konzipiert. In den Urlaubsländern legt sich nur der »Anschein einer Sonne« (VS, 12) über das Land, das Meer will oder kann auch nicht kooperieren, was zur radikalen »Auslöschung des Urlaubgefühls« (VS, 14) führt; die Küsten leeren sich. Die krisengeschüttelte Weltsicht, die man jetzt im Meer nicht länger ertränken kann, wie einen Shot im Bierglas, denn es würde sie wieder quicklebendig ausspucken, dieses Meer, das nicht mehr kooperieren will. Es will oder kann nicht kooperieren? Dies ist die Frage. Auf jeden Fall ist den Badegästen das Meer quasi versalzen (VS, 14). Die westliche Kitsch-Utopie des Urlaubsparadieses wird zur Dystopie. Dystopien richten sich in der Kombination mit satirischen Wirklichkeitsdiagnosen oft gegen utopische Vorbilder. Zum einen übt Lack eine vehemente Kritik an den Perversionen des Urlaubsimperialismus, an den »alltagsgestressten Westurlauber[n], die die Tischrechnung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds übernehmen« (VS, 17), an »diese[r] All-Inclusive-Verantwortungsscheiße für Wirtschaftsfuzzis und Neureichkriminelle« (VS, 17), dieser »Wir-sitzen-alle-im-selbenWohlstandsboot-Mitverantwortungsscheiße« (VS, 17) und an der »Zubetonierung« der Küsten: »Die Sonne geht hier tatsächlich im Meer unter, aber nicht dem aus Wasser, sondern aus Beton« (VS, 16). Zum anderen wird die Küste selbst zu einem dystopischen Ort, »an dem jeder Ursprung ausgelöscht wird«. »An der Küste verschwinden [die] Grenzen zwischen dem Festland und dem Meer« und »[d]ie Küste, die selbst leer ist, zeugt von der Entwurzelung, die nicht in Bildern zu verfestigen ist« (Gradinari 2020, 23). Situiert in der Mitte des Stücks bildet das dritte »Bild« 2012 den dramatischen Höhepunkt. Man stellt hier eine Dramenarchitektur fest, welche interessanterwei-
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se an die Spannungspyramide Gustav Freytags erinnert. In einer tragikomischen Anspielung auf die antike Tragödie wird somit auf absurde Weise die Ausweglosigkeit der aktuellen destruktiven Lage hervorgehoben. Biopolitik und deren zerstörerische Folgen stehen in dieser dritten Szene im Mittelpunkt. Skrupellose Konzerne und Technokraten, Politiker und Medien sind in einem Mechanismus verstrickt, der Machttechniken einsetzt, die nicht auf den Einzelnen, sondern auf die gesamte Bevölkerung zielen und sich auf das Leben richten. Ihre Absicht ist, nach der Sicherung des Lebens dieses auf eine bestimmte Art und Weise zu organisieren, so dass eine »Normalisierungsgesellschaft« im Sinne Foucaults entsteht. Nach einer an das Fukushima-Unglück erinnernden nuklearen Katastrophe bitten mehrere Moderatoren in einem Fernsehstudio »mit gesenkten Häuptern« (VS, 19) um Verzeihung. Doch in ihrem Reden und Handeln liegt nichts als Heuchelei. In Verbindung mit dem ersten »Bild« wird hier gezeigt, wie politische Akteure, Massenmedien und Unternehmen es schaffen, durch Framing, also »den aktiven Prozess des selektiven Hervorhebens von Informationen und Positionen« (Matthes 2014, 10f.), das Verhalten des Empfängers unterschiedlich zu beeinflussen. Frames sind »strategisch gefärbte Blickwinkel auf politische Themen, die gewisse Informationen in den Vordergrund rücken und andere außen vor lassen« (ibid., 12). »Das strategische Ziel der Kommunikatoren ist es, den eigenen Frame […] zu vermitteln und in der öffentlichen Diskussion zu etablieren« (ibid., 13). Ein unsagbarer humanitärer und ökologischer Unfall wird durch einen gesteuerten Prozess selektiert aufbereitet, sodass eine bestimmte Interpretation bzw. moralische Bewertung im Sinne des Framing-Erstellers hervorgehoben wird. Wie bei Foucault steht Macht im Stück in einem engen Zusammenhang zu Wissen. Und so ist Vergessen und Verdrängen einer der wichtigsten Manipulations- und Abwehrmechanismen der spätkapitalistischen Gesellschaft in Krisensituationen. Wir möchten ausdrücklich betonen, dass wir mit allen uns zu Verfügung stehenden Mitteln ab jetzt dafür sorgen wollen, dass nichts mehr an die Öffentlichkeit gelangt. Wir werden um jeden Preis versuchen, die Öffentlichkeit ab nun außen vor zu lassen. Es liegt nicht in unserem Interesse, Sie weiterhin mit den Ausmaßen unserer Schuld zu belästigen (VS, 20). Das Groteske und zugleich Dystopische kulminieren in dem absurden Versuch der Vertreter der Macht, die Bevölkerung mit einem Reisegutschein zu manipulieren. Unter dem Motto »unbewohnbar ist nicht gleich unbereisbar« (VS, 21), das man als einen Schlüsselsatz des Dramas bezeichnen könnte, wird allen Zuschauern eine »Traumreise« (VS, 21) direkt zum »Kern des Geschehens« (VS, 21), in die nun komplett ruinierte Lage des Unglücks angeboten. Es erwarten Sie aufopferndes Service, wildromantische verfallene Dörfer, strahlendes Wetter und vor allem menschenleere Strände. Meiler für Meiler weiter
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Strand. Seien Sie die letzten Gäste vor deren Zubetonierung. Genießen Sie die stoische Ruhe vor Ort. Seien Sie unsere ersten letzten Gäste. Seien Sie ein Abenteurer, seien Sie ein Held. (VS, 21). Interessanterweise bedient sich Lack an dieser Stelle eines Verfremdungseffekts im Sinne Brechts: »Meinetwegen können Sie auch das ganze Theater mitnehmen« (VS, 21). Die »vierte Wand« wird durchbrochen, die Schauspieler sprechen die Zuschauer direkt an, sodass diese sich als betroffen wahrnehmen. Man wird zum Nachdenken angeregt; die dargestellte Situation könnte bald Wirklichkeit werden, man muss reagieren. Im Text gibt es indessen keinen Verweis auf eine fundamental andere Biopolitik, die den Menschen zu einem echten Symbionten der Erde machen würde, die das Leben nicht unterdrücken oder kontrollieren, sondern zu seiner wahren Entfaltung beitragen würde. Wie üblich in dystopischen Geschichten macht der Autor mithilfe eines pessimistischen Zukunftsbildes auf bedenkliche gesellschaftliche Entwicklungen der Gegenwart aufmerksam und warnt vor deren Folgen. Während das vierte »Bild«, welches den provokativen Titel Loveboat trägt, einen surrealen Akt der Piraterie in internationalen Gewässern zeigt, bei dem die Passagiere begreifen, dass sie ständig auf See unterwegs sind, da es eigentlich kein Land mehr gibt, während also die Dystopie hier zum »Nichtland« wird, kommt es in der fünften und letzten Szene Waterworld zur Eskalation der Situation, zur Katastrophe, um noch einmal auf die Spannungspyramide Freytags zu verweisen, wobei hier jedoch von Einfühlung oder Katharsis keine Rede sein kann. In diesem letzten »Bild« wird die Dystopie vollendet. Eine Soldatentruppe für Katastropheneinsätze sitzt seit vierzehn Jahren, abgeschnitten von der Außenwelt, auf einem Felsen fest. Alles ist überflutet: »Wo einmal Land war, ist nur noch Wasser« (VS, 30). Wie in den meisten Dystopien wird die Natur selbst als »katastrophisch« betrachtet. Der Feind ist keine sichtbare Front. Der »Feind« (VS, 29) ist das Wasser, das personifiziert wird und Racheabsichten hegen soll: »Dem Wasser werden Eigenschaften zugesprochen, wie man sie beispielsweise von einem militärischen Gegner erwarten könnte« (VS, 29). Das Wasser als Nemesis, könnte man sagen. Der unsichtbare Feind scheint unbesiegbar zu sein, denn man kann ihn nicht mit den bekannten Mitteln bekämpfen. Das ewige Plätschern des Wassers und die unaufhörlichen Wellengeräusche treiben die Soldaten allmählich in den Wahnsinn. Manchen von ihnen sind durch die ständige Berührung mit dem Wasser sogar Kiemen gewachsen. Das Stück endet mit folgenden Worten: Diese Insel wird mein Grab, aber das macht mir keine Angst. Vielmehr fürchte ich mich davor, dass sie mich ins Meer werfen werden, sobald ich tot bin. […] Nicht mal als ein Toter werde ich mich in die Erde legen können. Ich weiß, im Meer lässt sich kein Frieden finden. Ich werde sterben und dann gehe ich ins Wasser. Ich werde treiben, ich werde vergehen. Und verfolgt mich ein Gott im dunklen
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Meere, so will ich’s dulden, mein Herz im Busen ist längst zum Leiden gehärtet; denn ich habe schon vieles erlebt, schon vieles erduldet, Schrecken des Meers und des Kriegs; so mag auch dieses geschehen! (VS, 31) In einer Welt, die nur bipolares Denken kennt, erscheinen Natur und Mensch als Gegensatzpaar. Aber das muss sich ändern, und zwar sofort. Das ist der Appel dieses äußerst polyvalenten Textes, der mit vielen Ebenen arbeitet. Fassen wir alles in einem kurzen Fazit zusammen: Das Stück Die Verfassung der Strände ist ein repräsentatives Beispiel zeitgenössischer kultureller Anliegen im Hinblick auf das Anthropozän. Lack wagt einen warnenden, aber auch unterhaltsamen Blick in die Tiefen des Weltuntergangs. Auch wenn Lacks Zukunftsimagination keine wünschenswerte Alternative darstellt, dient dabei das Spannungsverhältnis zwischen der als destruktiv empfundenen gelebten Wirklichkeit und einer diese negierenden imaginären Welt als eine wichtige oppositionelle Stimme, die die bestehende Ordnung radikal infrage stellt und dem Zuschauer die Möglichkeit bietet, im kritischen Vergleich den Blick zu schärfen für das Andere, das Noch-Nicht-Seiende.
3. »Ich bin die Folge, ich bin nicht die Ursache« – Tsimaras Tzanatos: Fräulein Unglück Tsimaras Tzanatos’ Fräulein Unglück wurde ebenfalls 2012 verfasst, erschien zunächst als Erzählung und wurde dann 2018 vom Autor selbst für die Bühne adaptiert. Es ist ein schlichter, doch sehr poetischer Text, mit vielen surrealen Zügen und viel Humor. Der Autor thematisiert die Zeit, in der wir leben, auf einer breiten Ebene und zeigt auch, wie sich diverse Folgen im Mikrokosmos des Einzelnen widerspiegeln. Es ist eine Zeit des extremen Isolationismus, der Traurigkeit und des immensen Unglücks. Das Unglück wird im Stück personifiziert, es nimmt die Gestalt einer Frau an. Die Handlung ist eher lose. Der Protagonist, X., der als Journalist in der griechischen Metropole des 21. Jahrhunderts arbeitet und an Krebs stirbt, erlebt den absurden Zusammenbruch der Welt. X. pflegt eine besondere Beziehung zu einer Gestalt, die aus einer anderen Welt zu stammen scheint, dem rätselhaften Fräulein Unglück, das mit den Menschen verkehrt und Spuren hinterlässt. Ihre Spuren sind eng mit dem Meer verbunden. Algen hängen an ihren Zähnen und sie riecht stark nach Fisch. Wo sie sich befindet, hinterlässt sie große Wasserflecken. Obwohl ihr Erscheinen stets von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet wird, spürt der Protagonist jedes Mal, wenn er ihr begegnet, eine unerklärliche, metaphysische Erleichterung. Man könnte das Stück als einen apokalyptischen Text über das Weltende interpretieren, über die ultimative ökologische Katastrophe, die sich im realen Leben oder im Kopf eines normalen Menschen abspielt. Doch, und das ist meine These, der Text
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lässt sich nicht so sehr im Modus der Dystopie, sondern eher in dem der Heterotopie lesen. Neben der Dystopie ist die Heterotopie eine weitere Möglichkeit utopischen Denkens und Schreibens der Gegenwart. Der Begriff ist auf Michel Foucault und seine Analysen von Macht und Wissen zurückzuführen. Es gibt zum einen die Utopien. Die Utopien sind die Plazierungen ohne wirklichen Ort. […] Perfektionierung der Gesellschaft oder Kehrseite der Gesellschaft: jedenfalls sind die Utopien wesentlich unwirkliche Räume. Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien (Foucault 1992, 38f.). Utopien erlauben ein zukunftsorientiertes fiktionales Probehandeln, indem sie die bekannte und als problematisch empfundene gesellschaftliche Wirklichkeit mit einem imaginären Anderen kontrastieren, mit einem »Nichtort«, der die bestehende Gesellschaftsordnung negiert. Ein Hauptmerkmal sowie häufiger Kritikpunkt an der Utopie ist die alternativlose Antwort auf gesellschaftliche Fragestellungen, das Versprechen endgültiger Lösungen. Aus diesem Grund stellt sie – explizit oder implizit – ein Ideal dar (vgl. Leiss 2013, 218), was übrigens auch bei Dystopien der Fall ist, denen durch Negation immer ein implizites Ideal eingeschrieben ist (ibid., 220). Letzterer Aspekt hat zusammen mit der zeitlichen Unbestimmtheit ihrer Verwirklichung oft Zweifel an der Realisierbarkeit der utopischen Vision zur Folge. Mit anderen Worten: Es besteht die Notwendigkeit einer Erweiterung des Utopiebegriffs, der die Fähigkeit beschreibt, sich Unvorstellbares vorzustellen, der aber auch im »Hier und Jetzt« verortet ist. Diese »Lücke im System« erfüllen Foucaults Heterotopien. Heterotopien seien »Gegenräume«, »die vollkommen anderen Räume« (Foucault 2013, 11), aber auch tatsächlich »lokalisierte Utopien« (ibid., 10). Die Heterotopie vermag an einen einzigen Ort mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind (vgl. Foucault 1992, 42). Eine Heterotopie par excellence ist z.B. laut Foucault das Theater. Die elementare Funktion des Theaters sei gerade die Bildung unterschiedlicher Räume und Zeiten (Heterochronie) innerhalb eines gegebenen (und realen) Raumes und einer gegebenen Zeit. Als Ort andersgearteter Kreativität ist der Heterotopie ein gesellschaftskritisches Moment inhärent. Heterotopien bieten durch ihr Anderssein die Möglichkeit zur Reflexion und Problematisierung gegebener Normen, aber auch zur Negation oder Umkehrung dieser Normen. Heterotopien können mit den Mitteln der
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herrschenden Ordnung nicht begriffen werden, sie existieren jenseits der sozialen »Normalität«. Während »die Utopien trösten« (Foucault 2012, 20), versteht Foucault unter »Heterotopie« eine besonders beunruhigende Art der Unordnung bzw. der Nichtordnung, in der alle vertraute Kohärenz zerstört wird. Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heimlich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die gemeinsamen Namen zerbrechen oder sie verzahnen, weil sie im Voraus die »Syntax« zerstören, und nicht nur die, die die Sätze konstruiert, sondern die weniger manifeste, die die Wörter und Sachen (die einen vor und neben den anderen) »zusammenhalten« läßt (ibid.). Im Gegensatz zu den Utopien, die der bestehenden Sprachlogik folgen, heben Heterotopien die bekannte Sprachordnung aus den Angeln, sodass eine neue, durchaus unverständliche »Syntax« entsteht. Eine Heterotopie ist eine Struktur, die durch das Aufeinandertreffen des Inkommensurablen gekennzeichnet ist, ein die herrschende dualistische Ordnung aufstörender Diskurstyp, der mit den Mitteln der vertrauten und bekannten Diskurse nicht erfasst werden kann. An die Stelle der einen Wahrheit und des einen aus ihr ableitbaren Ideals tritt in Heterotopien eine Pluralität von Wahrheiten (vgl. Leiss 2013, 219). Um es in einem Satz zu sagen: Foucault geht es nicht um eine Abschaffung des utopischen Denkens, sondern um dessen Umfunktionierung. Heterotopien verweisen auf die Aporien des klassischen utopischen Denkens, ohne die prinzipielle Notwendigkeit dieses Denkens und dessen gesellschaftskritische Funktion infrage zu stellen (vgl. ibid., 221). Wenn man diese Formel auf die Literatur und die Kunst im Allgemeinen überträgt, meint Heterotopie im Gegensatz zu Utopien nicht mehr eine ideale (fiktionale) Zukunftsvision, sondern ein echtes Anderssein, eine »Narration«, die sich an bereits vorhandenen (aber noch nicht durchgesetzten) gesellschaftlichen Gestaltungsweisen orientiert und diese mit Elementen des Fiktionalen kombiniert. Sowohl im Bereich des Realen als auch im Bereich der Ideen gilt das Meer oft als eine Heterotopie, ein »anderer« Ort mit einer besonderen transformativen Kraft, ein Ort der Verflechtung und der Grenzauflösung. Als »Schwellen- und Übergangsraum ohne Grenze und Besitz« sowie als »Ursprungsraum des Lebens« verweigert sich das Meer jeglicher Ideologisierung und erlaubt die Stiftung neuer Anfänge (Gradinari 2020, 18, vgl. auch 21). Das Meer »entzieht sich jeder Fixierung und Erfassung«, es »bleibt ein vorwiegend mythischer ›Zwischenraum‹« (ibid., 11). Aus dieser konstitutiven »Ungreifbarkeit speist sich sowohl die Faszination für das Meer als auch die Furcht vor ihm« (ibid., 13). In Fräulein Unglück wird das Meer als Symbol der Unendlichkeit dargestellt, die man nicht kontrollieren und begrenzen kann, wobei dieses Strukturelement sowohl die Quelle des Lebens als auch der Träger der endgültigen Zerstörung ist. Das Er-
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scheinen des Meeres wird zunächst, genau wie im Drama von Stephan Lack, von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet, wie es Freud formuliert hat: Ein Gefühl der Gefahr, das mit einer verdrängten Erinnerung verbunden ist, und sich auf absurde Weise als unmittelbare Bedrohung manifestiert, um das Bewusstsein der Fragilität anthropozentrischer Determinierungen wachzuhalten. Fische fallen vom Himmel, große Boulevards verwandeln sich in ein Meer, riesige Schwertfische bleiben in geparkten Autos stecken, und dann die Eskalation des apokalyptischen Untergangsszenarios: Hunderttausende unerklärte Todesfälle, Menschen werden in die Wolken gehoben, verflüssigen sich und fallen wie Regentropfen zur Erde. Χ.: Allmählich hatten die Menschen begonnen, ihre Schwerkraft zu verlieren. Aus irgendeinem Grund, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht geklärt war. […] Frau: Sie sind aufgestiegen. Wie Luftballons. Und um nicht aufzusteigen, begannen sie, sich zu fesseln. […] Χ.: An etwas Stabiles. Um stabil zu sein. In ihrem Leben. Y.: Aber sie waren es nicht. Es gibt nichts Stabiles im Leben. Auch nicht in der Welt. […] Frau: Ganze Salontische fuhren mit darauf festgeschnallten Menschen über den Horizont. Schlafzimmer mit Nachttischen und oben die schlafenden Ahnungslosen. Babys mit ihren Kinderbetten. Chefredakteur: Wie Sie wissen, besteht der menschliche Körper aus Flüssigkeiten. Y.: Der Mensch ist fließend.
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Chefredakteur (an das Publikum): Denken Sie an die Wolken… […] Höchstwahrscheinlich… passiert uns … was mit Wolken passiert, sie … (Pause) werden verflüssigt…! Frau: Wir werden verflüssigt? Chefredakteur: Ja. Wir werden verflüssigt… Frau: Und…? Chefredakteur: Und fallen… Grossmutter: FALLEN WIR? Frau: …wie Regen? Grossmutter: WIR SIND MENSCHEN… Mann: Wenn… wir fallen, sterben wir…! […]
Chefredakteur:
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Plötzlich setzte ein sintflutartiger Regen ein. Und es begann zu regnen, Wasser und Menschen.3 (Tzanatos 2018, 17–21)4 Wie Karl Heinz Bohrer einst konstatierte, ist die zentrale Kategorie der Moderne der Abschied von der Natur. Das moderne Subjekt ist von seinem ursprünglichen Einssein mit der Natur vertrieben worden, es lebt nach der Natur (Bohrer 1988, 210). Und laut Adorno und Horkheimer versuchte die Aufklärung im Namen der instrumentellen Vernunft, die Natur ad infinitum zu beherrschen. Der Preis dieses Abschieds von der Natur, dieses Abschneidens »des Bewusstseins seiner selbst als Natur«, war die Selbstvernichtung des Subjekts, die Versachlichung der Seele. Das geschichtlichgesellschaftlich-politische Dasein ist nicht mehr komplementär zur Naturordnung, sondern mit dieser ganz inkommensurabel. Davon legt der Text deutlich Zeugnis ab: »Ich bin das Ergebnis, ich bin nicht die Ursache« (FU, 63), stellt das Fräulein Unglück fest. Die Melancholie des Menschen, um im freudschen Duktus zu sprechen, der seine lebensspendende Verbindung zur Natur unwiderruflich verloren hat, ist freilich ein Topos im Werk. Doch das Stück bleibt nicht in diesem dualistischen Denken gefangen. Die Wichtigkeit dieses Textes und zugleich der größte Unterschied zum Stück von Stephan Lack besteht darin, dass das Meer als ein heterotopischer Ort, als Zum-Raum-gewordene-Utopie dient. Als Topologie radikaler Andersheit kann das Meer das Aufeinandertreffen des Inkommensurablen erlauben. Der maritime Raum »in seiner eigenen Materialität, aus der das planetarische Leben hervorgegangen ist und die einen konstitutiven und lebenserhaltenden Bestandteil der Biosphäre darstellt« (Gradinari 2020, 12f.), übersteigt die menschliche Geschichte und die Berührung mit diesem Raum konfrontiert den Menschen mit den Grenzen seiner eigenen Reflexion und zugleich mit der Logik eines prinzipiell anderen Denkens. Grossmutter: »Wasser hat keinen Sinn…« […] »…keinen Sinn… alles Wasser…« (FU, 29–30) Die Schlüsselfrage, die Tzanatos an den Zuschauer richtet, ist: Was bedeutet die Natur für das Menschsein? Und es scheint ihm wichtiger zu sein, diese Frage zu stellen, als eine endgültige Antwort darauf zu geben. Im Stück kommt es zu einem Konflikt zwischen zwei Ordnungen, die inkommensurabel sind, der bestehenden politischen Ordnung im Zeitalter des Anthropozäns, die das Erdsystem u.a. durch ihre biopolitischen Taktiken in Gefahr gebracht hat, und der außermenschlichen Naturordnung, die zunächst als das Unheimliche par excellence, als Träger einer biblischen Apokalypse dargestellt wird.
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Alle deutschen Übersetzungen vom Verfasser, wenn nicht anders angegeben. Das Stück wird im Folgenden mit der Sigle FU und der Seitenzahl zitiert.
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Das wichtigste Merkmal einer Heterotopie ist jedoch, dass sie nicht mit den Mitteln der herrschenden Ordnung zu begreifen ist, dass sie die Möglichkeit zur Reflexion und Problematisierung gegebener Normen bis hin zu deren Negation bietet. Natur und Mensch sind kein antithetisches Paar, der Mensch ist Natur, aber es gab die Natur und das Meer lange vor jeder Berührung durch den Menschen, und es wird sie vermutlich ewig geben, auch nach dem Verschwinden unserer Spezies, vorausgesetzt, wir tun nicht alles dafür, dass die Welt mit uns untergeht. Und damit muss man sich abfinden. Grossmutter: Wir sind schwächer als die Welt. Das ist die große Stärke des Menschen. Seine Schwäche zu erkennen. Die Welt wird nicht vom Menschen besiegt. Die Welt gewinnt immer. Y.: Ist die Welt stark? Grossmutter: Wie die Welt! (FU, 32) Obwohl das Stück zunächst den Anschein erweckt, die Trennung von Mensch und Natur wäre unüberwindbar, besteht in den Figuren von X. und Fräulein Unglück eine direkte Verbindung zwischen den beiden »Welten«. X. ist die einzige Figur im Stück, die sich zu Fräulein Unglück so hingezogen fühlt. Nur er fühlt sich so innig mit ihr verbunden, dass das nasse Element das Einzige ist, was ihm Erleichterung verschafft. Die Natur erinnert den Protagonisten an den Ursprung. X. wünscht sich, kurz bevor er stirbt, in diese ursprüngliche Heimat zurückzukehren. »Wir kommen definitiv aus dem Meer, sagte meine Großmutter immer, anders ist es nicht zu erklären, dass die Tränen so salzig sind« (FU, 30), erinnert er sich. Und das spannende Ende regt den Zuschauer zum Nachdenken an, indem es die anthropozentrische Perspektive auf die Historie erschüttert: Wie wäre es, wenn wir dorthin zurückkehren, wo wir hergekommen sind? EPILOG Fünf Monate später fand meine Mutter ein Baby vor ihrer Haustür. Einen Jungen. Er sah genauso aus wie ich. Sie hielt ihn und hob ihn hoch, als wäre er ich. Nur eine Frau half ihr, ihn aufzuziehen.
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Ihr Name war Unglück. Das habe ich gehört. Ich bin mir aber nicht sicher. Weil ich nicht am Leben bin. Jetzt nicht mehr.
Ein blaues Licht zeigt Fräulein Unglück für ein paar Sekunden auf der Bühne. Sie hält ein Kind an der Hand. Das Kind im Anzug, an X. erinnernd. Sie stehen still und schauen das Publikum an. (DUNKELHEIT) ENDE (FU, 65–66) Befragt man das Stück auf dessen utopisches Potenzial, so kann man feststellen, dass der Autor keine tröstende und wünschenswerte fiktionale Zukunftsvision konzipiert, die konkrete und endgültige Antworten auf die im Stück aufgeworfenen Fragen bietet. Im Gegensatz zu den traditionellen Utopien, aber auch zu den Dystopien, tritt in einer Heterotopie an die Stelle der einen Wahrheit, des einen Ideals, eine Pluralität von Wahrheiten. Sogar die zentrale Frage des Stückes, ob die Welt untergegangen ist oder bloß unsere Welt, die Welt des Protagonisten, bleibt offen. Auch nach dem Ende der Vorstellung ist es dem Publikum unmöglich, einzelne Feststellungen, Beobachtungen und Deutungsversuche in ein übergeordnetes System der Dinge einzuordnen. Ganz im Sinne Brechts ist es die Funktion eines solchen Dramas, über den Theaterabend hinauszustreben, aber es bleibt immer offen. Der Autor will auf Widersprüche des gesellschaftlichen Lebens hinweisen und deutet Voraussetzungen an, unter denen die Veränderung möglich sein könnte, er liefert aber keine fertigen, verbindlichen Lösungen. Der Zuschauer wird auf diese Weise zum kritischen Betrachter, der das Dargestellte als Vorschlag, als Anregung zum Nachdenken wahrnehmen soll.
4. Fazit Beide Werke, die im Rahmen dieser Studie untersucht wurden, setzen sich mit aktuellen Problemen und Anforderungen des Anthropozäns auseinander und unterziehen die herrschende politische und ökonomische Ordnung einer scharfen Kritik. Im Modus der Dystopie stellt Stephan Lack den maritimen Raum als eine eigenwillige, temperamentvolle, ja oft unberechenbare und potenziell gefährliche Kraft dar und warnt vor den unvorhersehbaren zukünftigen Folgen von anthropogenen Umweltveränderungen. Doch die Perspektive in seinem Stück ist betont anthropozentrisch.
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Die Verfassung der Strände verbleibt in der Tradition der Sci-Fi-Dystopien der letzten Jahrzehnte, in denen die Natur mehr oder weniger als »setting« benutzt wird, um sich mit dem Thema der Entfremdung des Menschen von der Natur auseinanderzusetzen (vgl. Horn und Bergthaller 2020, 108). Der Schwerpunkt im Stück liegt auf der psychologischen Entwicklung von bestimmten Figuren, die je ein bestimmtes soziales Milieu verkörpern (technokratische Elite, westliche Bourgeoise usw.) und als von der Natur entfremdet dargestellt werden. Tsimaras Tzanatos wählt in Fräulein Unglück einen diametral entgegengesetzten Weg. In seinem Stück ist das Meer der eigentliche Protagonist. Die menschlichen Akteure und ihre Innenwelt treten in den Hintergrund, sie verlieren an Bedeutung zugunsten einer dezentrierten, facettenreichen Perspektive, die ihrerseits die Vielschichtigkeit der weit über den Menschen hinausreichenden Natur widerspiegelt. Die von Tzanatos gezeigte Welt kann nicht mit den Mitteln der vertrauten Diskurse begriffen werden, sie ist ein Ort andersgearteter Kreativität, der die vertraute »Syntax« zerstört, eine Welt der Kontinuitäten und der Verflechtungen, nicht der Trennung zwischen der alles regelnden menschlichen Spezies und dem passiven Nichthumanen, eben eine Welt, die die intellektuellen Herausforderungen des Anthropozäns annimmt.
Quellen Lack, Stephan: Die Verfassung der Strände. Wien: Thomas Sessler 2012 (Manuskript); Uraufführung: 27.4.2012, Regie: Marie Bue. Tzanatos, Tsimaras: Fräulein Unglück. Athen 2017 (Manuskript); Uraufführung: 25.4.2018, Regie: Chrysa Kapsouli.
Literatur Bloch, Ernst: Gesamtausgabe, Bd. 5.1/2: Das Prinzip Hoffnung. Durchgesehene Ausgabe. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1959. Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982. Bohrer, Karl Heinz: Nach der Natur. Ansicht einer Moderne jenseits der Utopie. In: Ders.: Nach der Natur: über Politik und Ästhetik. München: Hanser 1988, 209–229. Booker, M. Keith: The Dystopian Impulse in Modern Literature: Fiction as Social Criticism. London: Greenwood Press 1994. Foucault, Michel: Andere Räume. In: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1992, 34–46.
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Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2012. Gradinari, Irina: Memory Meets Sea. Einleitung. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11:2 (2020) Schwerpunktthema: Das Meer als Raum transkultureller Erinnerungen: 11–34. Horn, Eva, und Hannes Bergthaller: The Anthropocene Key Issues for the Humanities. New York: Routledge 2020. Leggewie, Claus, und Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. Frankfurt a.M.: Fischer 2011. Leiss, Judith: Gattungsgeschichte als Spirale. In: Wilhelm Vosskamp, Günter Blamberger und Martin Roussel (Hg.): Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. Paderborn: Wilhelm Fink 2013, 207–221. Matthes, Jörg: Framing. Baden-Baden: Nomos 2014. Vosskamp, Wilhelm: Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. Einleitung. In: Wilhelm Vosskamp, Günter Blamberger und Martin Roussel (Hg.): Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. Paderborn: Wilhelm Fink 2013, 13–30.
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Ecological concerns in contemporary Modern Greek short fiction Titika Dimitroulia Someday trees will hate humans’ ingratitude and will stop to produce shadow, rustles, and oxygen. (Argyris Chionis)
1. Introduction The present study aims to explore the representation of environment, both natural and human-built (Buell 2001, 7–8; Armbruster and Wallace 2001, 4), in contemporary Modern Greek literature, considering, along with the theorists of cultural ecology, literature as a key practice in cultural economy, a locus of revitalization of language, perception, and imagination (Zapf 2016). The complex bond between humans and their surroundings has always been present in literary imagination and creation in all linguistic and cultural spaces and literary texts have shaped the perceptions of the interaction of humans with the environment.1 The object of my study is not to present a summary of contemporary Modern Greek environmental imagination as instantiated in and modeled by literature. I will only attempt to trace some of its aspects in the particular genre of short fiction and in a particular period, that is from the fall of the Greek military dictatorship (1974) to of the recent economic crisis (2014) through a small corpus of texts. Amitav Ghosh’s claim that »climate change proves to be extremely resistant to all sort of cultural practices« (Ghosh 2016, 10), seems to be also true for Modern Greek literature. For historical and political reasons, ecological crisis in its current, global 1
Cf. Lawrence Buell’s broad definition of ecocritical’s research scope, including all cultural texts of all time: »Insofar as human beings are biohistorical creatures constructing themselves in interaction with surroundings they cannot not inhabit, all their artifacts may be expected to bear traces of that. It makes sense that the reach of ecocriticism —the omnibus term by which the new polyform literature and environment studies movement has come to be labeled, especially in the United States—should extend from the oldest surviving texts to works of the present moment.« (Buell 2001, 2–3; emphasis T. D.)
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dimension has only been explored in fiction and poetry recently. On the contrary, an early ›environmental‹ Modern Greek literature, addressing the human-environment relation from various perspectives, including ecological disasters, can be retrospectively identified since the ’90s, mainly in short fiction. I will examine the specific conditions in which contemporary Modern Greek environmental literary imagination is informed and its instantiations in the selected texts, against the background of globalization and postmodernity, intertwined with the global ecological crisis, the enhanced ecological awareness, and the subsequent inception of ecocriticism. Ecocriticism appeared as a structured initiative in the ’90s, mainly in American academia and the English-speaking research community (for an overview of this early period, see Glotfelty and Fromm 1996), with the first ecocritical texts having been published in the ’70s (Meeker 1974; Rueckert 1978). The movement had a marked political and activist orientation. Lawrence Buell, one of the pioneers of the field, defined it as »the study of the relation between literature and environment conducted in a spirit of commitment to environmentalist praxis« (Buell 1995, 430, emphasis T. D.). Already in 2001, however, he had come to admit that his »activist stipulation may no longer apply« and Cheryll Glotfelty’s more inclusive definition of the rapidly burgeoning ecocritical trend, as »the study of the relationship between literature and the physical environment« (Glotfelty 1996, xviii), could better describe the field (Buell 2001, 267, note 4).2 Since then, ecocriticism has experienced many transformations, conceptualized as subsequent or juxtaposed waves (for an overview, see Posthumous 2017; Garrard 2014), and expanded in various cultural and linguistic spaces, in which new approaches have been developed, in dialogue and often in opposition with the dominant and institutionalized American school as well as with other disciplines, in the field of environmental humanities (Goodbody, Flys Junquera and Oppermann 2020; Posthumous 2017). This is how ecocriticism came to be perceived as »an eclectic, pluriform, and cross-disciplinary initiative that aims to explore the environmental dimensions of literature and other creative media in a spirit of environmental concern not limited to any one method or commitment« (Buell, Heise and Thornber 2011, 418). In this spirit of environmental concern, I try to identify the place of environment as well as of the actual, global ecological crisis in four short stories by three established Modern Greek writers, Dimosthenis Kourtovik, Dimitris Nollas and Yorgos Skabardonis. All stories have been published between 1995 and 2014 and were selected on the basis of generic, thematic and aesthetic criteria, which will be also applied in their study. In line with French ecopoetics, I consider aesthetics as a key issue in ecocriticism, along with moral aspects and politics (Blanc, Chartier and Pughe 2
Nevertheless, Glotfelty’s definition of ecocriticism was also deeply political, as it stressed ecocriticm’s similarities with feminist and Marxist critical approaches (Glotfelty 1996, xix).
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2008), and »examine the particular and the situated« (Goodbody, Flys Junquera and Oppermann 2020, 2) in its relationship with the universal.
2. Genre(s), authors, texts In my study I focus on short fiction, conceptualizing genre as an open, flexible, hierarchical system, containing various sub-systems, according to Michał Głowiński. Socio-historically and culturally constructed, genres determine »in a specific way the literary practices on both production and reception level« (Głowiński 1989, 85). The genre of Modern Greek short fiction has a long and rich literary history (see for an overview Politou-Marmarinou and Denisi 2009). Its literary tradition has been revitalized, reshaped, and enriched after 1974, following interaction with foreign paradigms as well as with other literary genres such as poetry and drama. While some key short stories of Modern Greek literature in the 19th and early 20th century by authors such as Vizyinos and Papadiamantis were very long, short fiction production after 1974 embraced in general but still not exclusively the short form – see for instance the short stories of Christos Ikonomou Good willcome from sea (2019). After ’80s, short fiction became a privileged area for both thematic and formal experimentation and innovation, explored by young and established authors, although it remained commercially marginal compared to the dominant novel. Its central position in the Modern Greek small-scale literary production has been and still is therefore incontestable. As the literary critic Alexis Ziras points out, it constitutes during the last decades of the 20th century» the main ark for the safekeeping and the safeguarding of literary narration« (Ziras 2009, 440). On that account, it is not a surprise that Modern Greek short fiction not only did it address environmental issues very early, but it did so in complex, subtle, elaborated, and aesthetically sound texts as well. All three selected writers have published short fiction extensively. Dimosthenis Kourtovik (1948) has studied biology and anthropology in Greece, Germany, and Poland and, after trying various jobs, he worked mainly as a translator and literary critic. He has written many novels and essays, but short fiction holds an important place in his work. He often uses popular genres, such as crime, science and adventure fiction and post-modernist techniques to undermine the realism of his ironic, open-ended stories, which always investigate hot social and political issues. Dimitris Nollas (1940) has studied law and sociology in Greece and Germany without graduating, due to economic problems. He has lived for many years in Europe and Latin America and has worked as a scenarist and director in radio, TV, and cinema. He opts for brevity in all his fiction and nonfiction works, including his novels. He explores systematically the fluid human identity in an equally fluid world through minimalist and often enigmatic stories, which depart from everyday life and open-
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up to major moral and political issues (cf. Dimitroulia 2016). Yorgos Skabardonis (1953) has studied French literature and he has been a key collaborator and director of several magazines and newspapers of Thessaloniki, where he lives, as well as director of the national Radio TV channel of Thessaloniki. He has also written screenplays for various television documentaries and films. He is a representative of the literary School of Thessaloniki, and short fiction is at the heart of his work, although he has also published lengthy novels. In his short fiction, he systematically creates complex universes, where human and nonhuman, natural and human-built environment are inextricably interlinked, for better or worse. Skabardonis and Nollas integrated a reflection on the affinities between human and non-human in their stories already in the ’80s. Skabardonis will explore these later much more systematically, with specific focus on animals. Kourtovik, on the other hand, is the first to have introduced, with his short story »Physalia Κalliauchen«, the global ecological crisis in contemporary fiction. »Physalia Κalliauchen« (Φυσαλία η καλλιαύχην, hereafter »Physalia«) was first published in the collective volume Greek Science Fiction Short Stories (1995), and republished in Kourtovik’s short stories collection Post Summer Delights (Λαχανόρυζο του Σταυρού, 2012).3 It presents a sea pollution story: pollution causes the rapid reproduction and terrible proliferation of an exotic, lethal genre of jellyfish, killing many humans and ravaging the marine ecosystem, before disappearing as suddenly as it appeared. Kourtovik has assigned a poetic name to his imaginary jellyfish, »Physalia Κalliauchen«, constructed following the norms of binomial nomenclature in biology and meaning a jellyfish with a beautiful neck. Dimitris Nollas first short story, »Kafes’ Road« (Ο δρόμος του Kαφέ, hereafter »Kafes«) was first published in 2000 in the literary journal of Thessaloniki Entefktirion and republished in the short stories collection The Ancient Enemy (Ο παλαιός εχθρός, 2004). It presents the itinerary of an old man named Kafes, an ordinary man who was planning to join the communist soldiers during the civil war, and found himself instead in Marseille, where he stayed for years. He returned to Greece to live the rest of his life with his wife in a four-story building, constructed illegally by his father-inlaw over the edge of a stream. Kafes intervened to the building’s footings while rearranging its cave to store wine for a prospective business. After a long period of extreme drought, during a sudden cloudburst the stream overflowed, cut the building in two pieces, and swept it away along with Kafes and a friend of his. The second story by Nollas, »Gilded Paradise« (Παράδεισος από χρυσάφι, hereafter »Paradise«), was first published in the newspaper Ta Nea in September 2009 and was subsequently
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The English title was suggested by the author himself. The original title contains two culture-bound elements, a dish and a feast name, impossible to be accurately and briefly translated in a title.
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included in the collection On Site (Στον τόπο, 2012).4 A group of men, who had already collaborated in the past in tourism business, destroying places of rare natural beauty, met again to discuss their next plan in a house built at the heart of the ›garden of Eden‹ they wished to rearrange. The house was blown up, bullet casings were spread all over and nothing was left from their bodies. The only witness to the events was a terrified shepherd, who insisted that he had seen many furious supernatural creatures attacking the band of friends, howling swears and repeating the battle cry ›mene, tekel‹ – part of the Aramaic phrase »mene, mene, tekel, upharsin«, found in chapter five of the »Book of Daniel«, the story of Balthasar and the handwriting on the wall, which the shepherd obviously did not know. The police considered him either fool or drunk and the case remained unsolved. Yorgos Skabardonis’ story, »Autolycus« (Ο αυτόλυκος),5 was included in his collection November (Νοέμβριος, 2014).6 Autolycus is an Ancient Greek name assigned to various mythical heroes. The most known among them is Ulysses’ grandfather, a son of Mercury, an expert thief and a powerful magician, who had the mythical helmet which rendered the wearer invisible in his possession and then he bestowed to his grandson. Autolycus, transformed here into a common noun, means literally ›the wolf itself‹. This story presents a man, alone in a hotel up in the mountains in the winter, who identifies himself with a wolf he hears howling very near. Firstly, »he enters in him« and describes his movements and feelings, gives him (his) voice, he observes him mentally roaming in his wild, natural habitat. Except of ›the wolf itself‹, the word autolycus comes to mean here ›me the wolf‹, in a very particular werewolf story. Three of the stories, both Nollas’ texts and Kourtovik’s »Physalia«, present a chronicle of human-generated environmental disasters. To be more accurate, Nollas »Paradise« presents an aborted, temporarily at least, disaster, letting us though imagine all other disasters that have taken place overtime contributing to the deregulation of the ecosystem, as described in »Physalia«. These three stories seem the most committed to ›environmental praxis‹ as Buell asked for, from a moral and political perspective. However, they draw from completely different traditions and paradigms, which shape their aesthetic and stylistic choices. While Nollas is 4
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All titles have multiple meanings, which cannot be rendered in translation. Kafes is a name and the Greek word for coffee. »Gilded paradise« can be understood either as Eden’s Garden or as paradisiac place that can make people rich. »On site« plays with the literal meaning of the phrase, on site, and its idiomatic one, instantly killed. Only one of them could be rendered in translation. The title is a neologism, as the common name autolycus does not exist in Greek. I preferred the proper name in the translation of the title for its connotations. Cf. Autolycus in Shakespeare’s The Winter Tale. Since 2000, Yorgos Skabardonis does not give any more data on the first publication of his stories.
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in dialogue with pastoral, folk tales and poetry, Kourtovik explores the tradition of science fiction in Greek and broader Mediterranean settings.
3. Texts and worlds 3.1 The world and the text In a study aiming at establishing a French version of ecocriticism rooted in cultural ecology along the lines of a comparatist approach, Stéphanie Posthumous argues that »instead of addressing exclusively the local or passing too quicky from local to global, we can depart from [similar] socio-historically situated examples and construct some versions of ecocriticism that remain rooted in the cultural level«, based on »the close reading of texts in their original language so that the cultural differences can be identified« (Posthumous 2017, translation T.D.). This approach, to which I adhere, is in line with the broad orientation of the European ›branch‹ of ecocriticism, which, while influenced by the American school of thought, seeks »to throw light on the interconnections between cultures, physical environments and histories« (Goodbody, Flys Junquera and Oppermann 2020, 2). History determines also the emergence of environmental imagination and concerns. For instance, Fredric Jameson argues that in postmodernity, after the completion of the modernization process, »nature is gone for good« and »›culture‹ has become a veritable ›second nature‹« (Jameson 1991, ix).7 The time when, according to Jameson, the postmodern era starts in the West, that is, after the multiple, global crises of 1973 (ibid., xx), is the time when the »Modern Greek Thirty Years’ War«, as defined by the writer Alexandros Kotzias, came to an end in Greece. This long period of conflict with its various episodes, wich started with the Greek civil war after WWII, created the deep political schism that divided Greek society and determined its socio-cultural development, led to the dictatorship, and for long after its fall has been haunting the cultural memory and literary imagination. Democracy was the key issue in the Greek public sphere for long after the end of the conflict, and ecological crisis was not high in the political, economic, and cultural agenda. That explains the relative delay with which ecology issues and ecological crisis appear in Modern Greek literature. Socio-cultural parameters also explain why ecocriticism finds only at present its way in Modern Greek literary studies.8
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Cf. Karl Marx defining as second nature the human informed nature, which becomes »one of the organs’ of man’s activity« (quoted in Buell 2001, 3 and note 7); and Bill McKibben discourse on the end of nature (ibid.). See for example the present volume; some relative initiatives of the Cultural Analysis Network »Greek Studies Now«, https://gc.fairead.net/main.
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Political and sociocultural parameters, related to Greece’s position as a semi-periphery country in Wallerstein’s model (1976 and 1997) and to its turbulent political history, form the general background against which imagination has been and continues to be informed in both Modern Greek public sphere and literature. Sociocultural differences on regional level, may also be thought to have an impact, along with many other factors, on literary imagination and production: a particular environmental imagination, »an awakened sense of physical location and of belonging to some sort of place-based community« (Buell 2001, 56), can be identified in writings by older and younger writers and poets originating from and/or living in Northern and more recently Central Greece, represented in our corpus by Yorgos Skabardonis. While admitting the importance of these parameters for a macro-study of literature in culture, I cannot ignore the question of the complex relationship between the world and the text, of the referentiality or non-referentiality/auto-referentiality of literature, which has been at the heart of hot debates in literary theory in general and in ecocriticism in particular.9 For instance, Buell’s notion of ‘mimesis’ has been harshly criticized by post-modernist theorists such as Dana Phillips as the foundation of a naïve and even dangerous neorealism (1999, 2003), which »presumes the sameness of the representation and the represented object« (1999, 593). Although I cannot delve here into this debate, I also cannot avoid taking a stance. Therefore, I adopt Jean Bessière’s position that »the literary work establishes the reality as alterity« (2003, 74), arguing that »reality remains always the question in all representations, in all sorts of realism, and the assertion of antirealism itself does not erase this question«; […] realism and antirealism form a paradoxical continuum: they are both modalities which address recurringly the questioning generated by the admission of the reality« (ibid., 68–69, translation T.D.).
3.2 The world of the text 3.2.1 Longing for utopia All the stories in our corpus are taking place in inhabited cultural landscapes and none of them addresses wilderness, as »nature in a state uncontaminated by civilization« (Garrard 2004, 59) – the very existence of which is contested by William Cronon, who argues that wilderness is a human creation, reflecting the values of the culture that has created it (Cronon 1996). Studying Skabardonis’ »Autolycus« through the lens of this debate, we cannot but accept that wilderness is in his story a reminiscence, a presence in absentia, and
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For the broader debate on the nature of nature and the opposition between subjectivism and objectivism, see Gavillon 2008; for an interesting, intermediary approach, see Kathryn Hayles’ constrained constructivism (1995).
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the wolf is a (culturally, interculturally and intertextually shaped) symbol of (dangerous) wilderness and freedom. His howl merging with the voice of the lonely man enjoying the mountain from the safety of his hotel room and reflecting on wilderness and culture, animal and human condition, underlines the cultural/literary construction of the eclipsed wilderness, as engraved in both the authors’ and the reader’s imagination. The wolf itself is a symbol and a potentiality, incarnating the cultural construction of wilderness. If all that is true, it is also true that the construction of the wolf in this twopages story does not reflect an arrogant human attitude towards the nonhuman, but a deep respect, expressed by a complex textual structure. Using the noun autolycus, Skabardonis underlines the relationship established between the human and the nonhuman, the self and the wolf, the extraordinary werewolf created in his story. He also constructs a mythical network, which comments upon the historicity of the relation between the animal and the human, the wild and the domestic animal in comparison to which the wild one is defined, the wolf and the dog. The very name of Autolycus reminds us in fact of both animals. While the word means the ‘wolf itself’, the helmet stolen by Odysseus grandfather was made by dog skin (κυνέη). And when Odysseus wears it during a dangerous mission during the Trojan war, the Trojan enemy, Dolon, wears accordingly a skin of wolf (λυκέη). But this magical helmet is also considered to be the symbol of Hades, the god of the dead, referring to the invisibility either of gods, or of death, as an intertextual response to the recurring reference to the wolf-human’s death in the story. Skabardonis uses the first-person narration to speak about the present of the man imagining the animal; and the third-person narration to (re)create the animal, which roams in a wild situated inside civilization. But he carefully omits the grammatical person in the reflection on freedom, loneliness, and slavery, so that it can be assigned to both the human and the nonhuman, to the narrator and his creation. The human is present in the enunciation of the question about the sheepfolds, formulated as a verse of folk song. The description of the wolf can also be perceived as the description of the human, of the narrator and the author himself, defending his freedom at all costs. The utopia of wilderness turns to be through writing a heterotopia, which resolves in its poetic construction the opposition between culture and nature, between human and nonhuman. Skabardonis text is not activist, nor even admonitory: it establishes a possibility of communication and interaction between nature and the man through language, exactly because, in his text, man does not consider himself as the lord or the master of nature, but as a part thereof, as nature, as primordial wild nature proper. Environmental and existential concerns meet here with a reflection on the invisible power of discourse and writing, making this very short story an essay on the human-nonhuman interaction in the world and the modalities of its re-creation.
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From a different perspective, Nollas describes in »Paradise« the land that the band of friends wished to immolate to the unregulated tourist development as a Garden of Eden, that is a utopia transformed into heterotopia. Human and nonhuman used to live there in beauty and harmony, until the land was stolen from its lord(s) and guardian(s), thanks to whom it was belonging to all: property was defined in biblical terms. When this sense of property changed, the disaster, conceptualized as hybris, could not be avoided. So was the punishment, which could not emanate from the corrupted or simply weak humans, but from God(s). The supernatural creatures howling biblical verses while killing the trespassers of the holy garden instantiated the divine will. The biblical element is more than evident in the description of the coveted land and underlined by the reference to the story of Balthasar and the communal sense of property, recurring in the shepherd’s narration. But the concept of this contemporary environmental catastrophe is constructed by Nollas upon the literary model of the pastoral, as originally reshaped in the Modern Greek romantic-realistic genre of ›study of manners‹ and, in particular, in the short stories by Alexandros Papadiamantis. Papadiamantis’ fiction is based on the romantic conception that nature is sacred, and man can be happy only when he lives in it, away from civilization. His attitude towards nature is shaped by a deep religiousness. In his short story »The Dream in the Wave« (Όνειρο στο κύμα), Papadiamantis mentions the Book of Deuteronomy, referring implicitly to the following passage: »When thou comest into thy neighbour’s vineyard, then thou mayest eat grapes thy fill at thine own pleasure; but thou shalt not put any in thy vessel. When thou comest into the standing corn of thy neighbour, then thou mayest pluck the ears with thine hand; but thou shalt not move a sickle unto thy neighbour’s standing corn (23, 25–26, King James version). This is the sense of property in Nollas’ story, and this is why the shepherd says that everything has happened because »the lord of the land had changed«. In fact, it is not the only genre with which Nollas comes in dialogue in this story. The punishment of hybris is described in terms of supernatural folk tale. The creatures seeking revenge for nature’s destruction are described as a sort of Greek kallikantzaros, malevolent goblins who live underground, dreaming of destroying the Earth by sawing –incessantly- the trunk of the world tree. With the marked difference that Nollas’ kallikantzaros come to defend Earth and therefore take the shape of ugly, powerful, benevolent elves. In this transformation lies the real utopian dimension of the text, oriented to a happy future: there will be a time when crimes against Earth will be impossible to commit and even their planning will be severely punished. As Evi Zemanek argues, genres are modified according to their esthetic and ethical dynamics, but also in response to environmental changes and crises in various local, cultural settings (2019). She mentions various genres such as the idyll, the robinsonade and nature writing, which reappear in the context of actual ecological
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literature, and studies specifically the popular in 19th century Germany Dorfgeschichte and Dorfroman (ibid.). »Paradise« seems to confirm her assumption, as an example of genre revival in ecological literature in the Modern Greek literary field. If writing permits the modeling of human interaction with the environment, to reinvent nature and establish it in the center of the society (Blanc, Chartier and Pughe 2008), then both Skabardonis’ and Nollas’ stories are important for the shaping of the collective environmental imagination, as they establish in and through language conditions of possibility in the Foucauldian sense. They invite readers to construct ›heterocosms‹ (Hutcheon 1987) through their stories and reestablish the human-nature relation at the heart of the humanity. But, on top of that, Nollas’ text can be considered as an activist text. The elves exist only in fairytales; therefore, the text calls for immediate human action for the protection of the environment.
3.2.2 Dystopias Gordin, Tille and Prakash claim that »utopias and dystopias are histories of the present« (2010, 1). They define dystopia not as a mere flip of utopia, but as a utopia that has gone wrong (ibid.), arguing that »every utopia always comes with its implied dystopia«. Still, dystopia is much more frequent than utopia in our time and »places us directly in a dark and depressing reality, conjuring up a terrifying future if we do not recognize and treat its symptoms in the here and now« (ibid., 2). Their reasoning seems to be confirmed by the study of our corpus, with specific reference to environment. Nollas’ »Kafes« and Kourtovik’s »Physalia« are the dystopias which come with the utopia presented in »Autolycus« and »Paradise«, the possibility of a different, organic relationship with nature, as the foundation of society and the future of humanity, and the prevention of (more) environmental disasters. They place the reader in a dark, depressing reality and conjure, although with no great success as the real reality shows, a terrifying future – which, thirty years later, seems to have already arrived. Urban sprawl and human lack of environmental conscience – which is part of a broader lack of contact with the world and the self-, as depicted in »Kafes«, has repeatedly caused real floods also in (Greek) built-up areas, resulting too many deaths. Mediterranean Sea is full of dangerous jellyfishes that do not, for the moment at least, kill people, but their very existence is explained by the marine ecosystem’s deregulation, which can lead to apocalyptic catastrophes in the future. »Kafes’ Road« addresses human-induced changes to the environment in builtup areas. The urban sprawl, Kafes’ plans and everyday life, his interventions to the building and nature’s answer, which can again be perceived as a punishment, the ensued disaster, are described with ironic details. Νature’s divine revenge, and the transformation of wine into blood are described poetically; and the similes on which a great part of irony lies reintroduce nature from another point of view in Kafes
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death: »the massive volumes of rain felt with a crash of heaven falling on humans’ heads, destroyed utterly the foundations of the house, and cut the footings as if they were tender cucumbers…«; »the building opened up as a watermelon…« (Translation T.D.). The last paragraph of the text, the moral of the story, comments on both the concrete disaster, Kafes’ and his father-in-law responsibility and the collective and intergenerational human responsibility regarding nature. The whole reasoning is based on an intertextual reference to Cavafy’s poem »But the Wise Perceive Things about to Happen« (1992), central for the reading of text. The poem makes a distinction between ordinary people, who know the present, gods, who know the future, and the wise, who are able to foresee the future and act. Ordinary people know what’s happening now, the gods know future things because they alone are totally enlightened. Of what’s to come the wise perceive things about to happen. Sometimes during moments of intense study their hearing’s troubled: the hidden sound of things approaching reaches them, and they listen reverently, while in the street outside the people hear nothing whatsoever. Kafes is one of those who »hear nothing whatsoever«. He has been like this in his whole life, unable to have a homeland, to cherish a place, to be in the right place at the right time, to find his place in the world. The road is not only the road on which the house is built, but also his life itinerary, marked by an absolute lack of connection with the environment and the self. But Kafes is only one of the many who do not realize the impact of their interventions to the environment, acting since long as »geological agents, changing the most basic physical processes of the earth« (Oreskes 2007, 93). The (still) restricted catastrophe presented in the story is a result of people’s blindness and avidity, as the simile presenting the building as »bottomless barrel or greediness« suggests. But it is also the fault of the administration and the politicians, who remain completely indifferent as regards these interventions. Even more they look forward to the disasters so that they can accomplish their plans for more, expensive projects, which alter deeply the environment and forebode »different and eventually more terrible future disasters« – what makes them the main but not the only culprits. There is a climax of responsibility in the story, and nobody is innocent. The whole community is guilty, there is a collective environmental guilt and Kafes’ history is just a banal example of the crime. Addressing different target groups, as defined in Cavafy’s poem, Nollas’s story is admonitory, a call for awareness: in order to avoid
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the terrifying future, the real dystopia that could come as a result of the systematic, geological interventions against nature; to reduce the impact of the existing alterations; to be sensible to the rhythms of nature and, by extension, of life itself. »Physalia« departs from and broadens Nollas’ reasoning in both »Kafes« and »Paradise«. Using different narrative techniques, namely the entrenchment of a story within a story, a complex mise an abyme, Kourtovik describes another horrible but still restricted disaster, due to the lack of environmental awareness, the unregulated tourist development of an island, chance, species extinction, mere biological processes. The disruption of the marine ecosystem which modifies the marine fauna, along with pollution, allows an exotic jellyfish, a sort of sea-wasp, brought accidentally by a ship, to be established in the Greek seas, killing people and marine life, and damaging the tourist ›industry‹, in the name of which environment is constantly destroyed. This is the story that a drunk geneticist working for the Greek Oceanographic Institute tells his friends in a bar of an island, where jellyfishes have just emerged – hopefully harmless ones. A horrible story, exposing not the facts, but some of them, because the sea-wasp event is classified information. Much remains unsaid. Even the name of the island is not mentioned. The jellyfish and its ravages are described clinically, with an accurate scientific terminology. The various digressions, on the psychological response to extraordinary events, experiments that went wrong, the reluctance of people to accept the truth and even more to act, open-up new dimensions in the explanation of the disaster. The implicit and the unsaid create an atmosphere of ecological thriller. This story is the first to address the current ecological crisis, in terms of dystopia. Or rather, of dystopias. The local is framed by the global, by the other stories about abnormal biological mutations and ecological catastrophes far away from the Mediterranean Sea. And the worse, the dystopia as a result of lack of awareness is doubled by the suspicion that explicit political decisions may have been the primary source of the disaster. The pollution may not be a coincidence nor generated by the intense human activity, as a result of lack of measures for the protection of the marine environment; but it may be the result of some much darker plans of scientists and politicians, who are ready to destroy environment and therefore life on Earth either for money or for political reasons. Kourtovik knows very well the tradition of science-fiction, which does not have a long history in Greece, and he introduces features of the genre in Modern Greek environmental literature. He also has the scientific knowledge which permits him to build a very coherent story, with thrilling details, where locality effectively fades out: the text, remaining local, is situated from the beginning, due to its genre and Kurtovik’s indeterminacy choice, in the global science-fiction, which is henceforth part of the ecocritical research area, although there is still no consensus on its literariness (Ghosh 2016).
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From a very different perspective, »Fhysalia« meets »Kafes«. Again, the guilt is collective. Again, people are deaf to the sound of things approaching. Again, politics and not ordinary people may cause the worse catastrophes. With the marked difference that in Kourtovik’s story the catastrophe is much more global, the whole ecosystem, and not only humans, is affected; and there is no moral. Only terror. Suspicions. And open questions.
4. Concluding remarks The four short stories express some aspects of an early Modern Greek literary environmental imagination, which have been more than important for the establishment of an environmental code of ethics in both literature and in public sphere. They are also important as they explore the poetic means with which this code can shape sensibility and model the human-nature interaction. They are part of a much larger corpus of contemporary Modern Greek short fiction, which explores the nature-culture and human-nonhuman relationship from various perspectives, mainly in the 21th century. In the second decade of the century, the debt crisis prevailed in the public discourse as well as in literature. Still, environmental literature seems to find its way in Greece and to address, slowly but steadily, the global ecological crisis. A debate on the genres of eco-lit written in Greek should be one of the priorities of the emerging ecocriticism, along with the relation between the local and the global in environmental texts. In my analysis, I have followed the line traced by Patrick Murphy, when he claims that to achieve its goals and remain honest to the literature it seeks to study, ecocriticism should remain […] localist, rather than global, in its grounding orientation. […]. While there are issues requiring a global perspective and there are phenomena truly global in scope, the local and the particular can never be forgotten. Being localist in orientation would mean being always attentive to particular and specific places, entities, and events, even when addressing the global implications of ecological change (Murphy 2009, 1). I considered the local as informed by socio-cultural and literary parameters, persuaded though that locality cannot but enrich globality and contemporary Modern Greek ecological literature can be studied along with other national and/or regional literatures, enriching the global paradigm and informing the global environmental imagination and sensibility.
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Das poetische Wort als Rettung vor dem Aussterben Überlegungen zu den Novellen Μαύρο Νερό (2019) und Η Θάλασσα (2020) von Michalis Makropoulos Elli Carrano
»Wir werden… niemals gewesen sein« (Anders 1989, 338; Herv. i. O.) – so lautet eine lapidare Aussage des jüdisch-österreichischen Philosophen, Dichters und Schriftstellers Günther Anders. Von einem Interviewer nach seiner Noah-Geschichte aus der Zeit der atomaren Bedrohung gefragt, erklärte er: »Deshalb nicht, […] weil es morgen niemanden geben wird, der […] [diesen Satz, Anm.E.C.] aussprechen könnte; weil es morgen niemanden geben wird« (ibid.). Die Wahl des grammatikalischen Tempus Futur II (»werden… niemals gewesen sein«) verweist in eine postkatastrophale bzw. postapokalyptische Zeit und verbindet sich zu dem, was die Literaturkritikerin und Essayistin Carla Benedetti in ihrem Essay La letteratura ci salverà dall’estinzione [Die Literatur wird uns vor dem Aussterben retten]1 »spaesamento temporale« (»zeitliche Desorientierung«, Benedetti 2021, 37) nennt, nämlich zu jener Fähigkeit des Menschen, sich in einen »Zeitakrobaten« zu verwandeln, das heißt, sich selbst und die eigene Zeit aus dem Blickwinkel »der Morgigen« (Anders 1989, 338) zu beobachten. In diesem Zusammenhang gewinnt das Personalpronomen »wir« besonders an Bedeutung, da es eine Gemeinsamkeit voraussetzt, die, so Ulrich Beck, »den gleichzeitig auf die Spitze getriebenen Individualismus der Moderne in sein extremstes Gegenteil verkehr[t]« (Beck 2016, 8). Benedetti bezieht sich auf Günther Anders und kritisiert, dass es zwar an Wissen und besorgten Stimmen nicht fehlt, wohl aber an adäquatem Bewusstsein und Handeln sowohl auf individueller als auch auf politisch-institutioneller Ebene. Wir sind die ersten Generationen, die mit der Aussicht auf ein mögliches Aussterben der Arten leben. Eine solche Erfahrung, die nie zuvor von einem anderen Menschen in einer anderen historischen Epoche gemacht wurde, die also nie von einem Philosophen, Psychologen, Historiker, Künstler, Dichter, Romancier,
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Anthropologen oder Wissenschaftler ausgearbeitet wurde, sollte ein Erdbeben in den Köpfen der Menschen von heute auslösen […], sollte ihre Gefühle erschüttern […]. Warum geschieht dies nicht? (Benedetti 2021, 8)2 Wenn Wissen nicht greift (ibid., 18), soll Benedetti zufolge die Literatur, in einem weiteren Sinne auch als Dichtung, Kunst und Philosophie verstanden, die Aufgabe übernehmen, die Menschheit aus ihrem geistig-kulturellen Stillstand herauszuführen. Diese »Metamorphose« (ibid., 13) werde einerseits mittels des direkten Ansprechens des Gefühls möglich und andererseits durch eine neue, zwar relativierte, aber wohl erweiterte Auffassung des Menschlichen als Überwindung des modernen Anthropozentrismus westlicher Prägung (ibid., 20). Das Anthropozän ist nicht nur ein Name, sondern auch eine alternative Sicht auf jene Menschheit, die die Moderne dominiert hat, und relativiert deren Abstraktionen und anthropozentrische Sichtweise, was eine positive korrigierende Wirkung hat. Sie führt in das Denken, das Erzählen und die Kunst die Tiefenzeit der Erde und des Kosmos wieder ein, von der die moderne Geschichtsauffassung annahm, sie außer Acht lassen zu können; sie zwingt uns zur Auseinandersetzung mit der Komplexität der Zusammenhänge, die das Umfeld des Lebens auf dem Planeten bilden, weit über wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge und weit über den Menschen hinaus (ibid., 128). Benedetti verwendet in dieser Hinsicht den Ausdruck »cantiere umanistico dell’Antropocene« (»humanistische Baustelle des Anthropozäns«, ibid., 19), mit einem Bezug sowohl auf die großen Werke der Vergangenheit als auch auf nicht westliche Literaturen. In ihrem Beispiel zur Ilias bemerkt sie, dass »die Erde und die Gewässer und die anderen Elemente der Natur […] noch mit einer Handlungsfähigkeit ausgestattet [sind]« (ibid., 20), die es in der heutigen Zeit nicht mehr gibt, da die Natur auf einen bloßen Hintergrund für das menschliche Handeln reduziert worden ist. Benedetti bezieht sich auch auf den nigerianischen Schriftsteller Chinua Achebe, in dessen Roman Arrow of God (1964) die menschliche Hauptfigur nicht viel Raum einnimmt, sondern der Gemeinschaft und den nicht menschlichen Kräften der Natur untergeordnet ist (ibid., 104f.).
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Berücksichtigt man den Krieg in der Ukraine und die damit verbundene Wiederkehr der atomaren Bedrohung, wird eine solche Frage noch dringlicher. Zygmunt Bauman bringt die Vorstellung der Gleichgültigkeit des Einzelnen gegenüber der eigenen Umwelt in der Metapher des Jägers zum Ausdruck: »Nun könnte ihnen [den Jägern, Anm.E.C.] ja in den Sinn kommen, dass es irgendwann in ferner und unbestimmter Zukunft keine unberührten Wälder mehr geben könnte; aber selbst wenn ihnen der Gedanke käme, würden sie das nicht als drängendes Problem betrachten – und ganz sicher nicht als ihr Problem.« (Bauman 2008, 147; Herv. i.O.).
Das poetische Wort als Rettung vor dem Aussterben
Die zentrale Frage des vorliegenden Beitrags ist, inwiefern die Novellen Schwarzes Wasser (Μαύρο Νερό, 2019) und Das Meer (Η Θάλασσα, 2020) von Michalis Makropoulos die Dringlichkeit der Klimakatastrophe und die Gefahr eines aufkommenden Aussterbens der Menschheit darstellen,3 also das, was dem indischen Schriftsteller Amitav Ghosh zufolge für »das Undenkbare« steht (Ghosh 2016, zit.n. Benedetti 2021, 87). Wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise,4 können beide Werke als postapokalyptisches Narrativ angesehen werden, die Handlung spielt nämlich in jenem »Übermorgen« (Benedetti 2021, 34), in dem sich die Prophezeiung der Katastrophe schon erfüllt hat. Daher wird die Gegenwart in die entfernte Vergangenheit verlagert und bekommt die Form einer endgültig verlorenen Normalität. Das Gedächtnis wird in beiden Novellen durch Gegensatzbilder des »Vorher« und des »Jetzt« wiedergegeben. Von den ersten Seiten an bekommt der Leser in Schwarzes Wasser den Eindruck, sich in einem Geisterdorf zu befinden, durch dessen menschenleere Straßen ein paar vergessene, leblose, vorzeitig alt gewordene Menschen gehen. Er [der Vater, Anm.E.C.] nahm den Bus um acht Uhr morgens und war gegen Mittag zurück. Es waren immer nur wenige Fahrgäste; aus allen Dörfern füllten sich, wenn überhaupt, nur ein Drittel der Sitze: alte Männer oder Dorfbewohner, die wie er selbst alt aussahen, auch wenn sie es nicht waren. Von den zweihundertfünfzig Einwohnern, die das Dorf einst gehabt hatte, waren noch zwölf übrig – zwei davon waren er und Christophoros [sein Sohn, Anm.E.C.], und die anderen zehn lagen verstreut in den stummen, geschlossenen Häusern und kritzelten hier und da mit dickem Bleistift aus ihren Schornsteinen in den schweren Himmel. Die wenigen Häuser des Dorfes, die noch bewohnt waren, verkehrten nicht miteinander in der Wildnis, sondern jedes schien allein zu sein, als wären keine Menschen und nichts in der Nähe. In Wirklichkeit gab es kein Dorf mehr, sondern nur noch vergessene Menschen. Solange es das Kafeneio gab, hatten sie ein 3
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Benedetti unterscheidet zwischen »parola profetica assertiva« (»behauptendes prophetisches Wort«) und »parola profetica suscitatrice« (»erweckendes prophetisches Wort«). Im ersten Fall kündigt die Prophezeiung lediglich ein zukünftiges Ereignis an, hingegen zeigt »parola profetica suscitatrice« nicht nur auf, was kommen wird, sondern zielt darauf ab, die Kräfte freizusetzen, die es abwenden könnten (Benedetti 2021, 53). Im Rahmen eines Workshops im November 2021 im historischen Gebäude der Universität Athen und beim anschließenden Gespräch mit den Teilnehmern erläuterte der Autor als autobiografischen Hintergrund die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen die beiden Werke entstanden sind. Während die Novelle Schwarzes Wasser in einem Zustand tiefer emotionaler Anspannung geschrieben wurde – einerseits angesichts der Brandkatastrophe, die im Juli 2018 in der attischen Region Mati ausbrach und 103 Menschen das Leben kostete, und andererseits angesichts der Probebohrung nach Erdöl in der Region Pogoni in Epirus, dem mutmaßlichen Ort der Handlung –, wurde die Novelle Das Meer in einer viel ruhigeren Situation unter dem Einfluss der Filme Andrej Tarkovskijs geschrieben.
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Zentrum, einen Ort, an dem sie sich trafen; aber Lakis Pontos, der Besitzer, wurde auch krank und starb. Es gab niemanden sonst, der sie am Laufen gehalten hätte (Makropoulos 2019, 12).5 Ebenso leblos sieht der See Limnopoula aus, an dem »es früher Fischer gegeben haben soll, aber jetzt hatten sie nichts mehr zu fischen« (SW, 15). Das Leben der Vergangenheit wird dem Tod und der Vernachlässigung in der Gegenwart gegenübergestellt. Dem Gedächtnis als einziger Lebensquelle wird daher eine magische Kraft übertragen, was die folgende Passage in Bezug auf die verlassenen Häuser illustriert. Als die Hand mit der Berührung der Erinnerung den kalten Stein betastete, wärmten die Geister ihn mit ihrem toten Atem. Die alten Hölzer wurden wieder zu Zargen und Dachbalken, mit dem Rückschlag der Zeit wurde der Kamin vom Sand und den Ästen befreit, ein Feuer brannte wieder und die Schatten der Toten kreischten an den Wänden. Sie liehen sich eine Stimme vom Wind und stritten, versöhnten sich, trauerten, freuten sich. Mit dem Mörtel des Gedächtnisses setzten die Schatten der Toten einen Stein auf den anderen, und die Ruinen wurden wieder zu Häusern (SW, 29f.). Der Widerspruch in diesen beiden Passagen ist offensichtlich: Die Toten, die paradoxerweise einen warmen Atem haben, scheinen lebendiger zu sein als die wirklich Lebenden, die eben als »vergessene Menschen« durch die Straßen gehen. Aufgrund der industriellen Ausbeutung und der daraus folgenden Vergiftung der umgebenden Gewässer muss das Dorf evakuiert werden, die Einwohner bekommen vom Staat ein neues Haus in einem anderen Dorf als Entschädigung. Trotzdem scheinen selbst diesen alten, verlassenen Häusern noch eine Seele zu haben, und sie werden durch die Allgegenwärtigkeit der Erinnerung wieder lebendig. Hingegen sind die Trennung von der eigenen Umgebung und der Umzug in die neuen, aber gedächtnisleeren Häuser für die verbliebenen Bewohner schlimmer als der Tod. Das Gedächtnis als treibende Kraft in der finsteren Zeit des »Übermorgen« kennzeichnet auch die Novelle Das Meer. Sie beginnt mit der detaillierten Beschreibung einer Szene aus der Kindheit der Protagonistin, die aber bald durch den folgenden Satz abrupt abgebrochen wird: »Das alles war vorher« (Makropoulos 2020, 16).6 Von da an stellt sich die Erzählung als eine Collage von Szenen aus der Gegenwart und Erinnerungen aus der fernen und näheren Vergangenheit dar. Ihre zeitliche Struktur wird an zwei Stellen im Text illustriert.
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Übersetzungen aus dem Griechischen E.C. Im Folgenden wird die Novelle Schwarzes Wasser mit der Abkürzung SW und der Seitenzahl zitiert. Im Folgenden wird die Novelle Das Meer mit der Abkürzung DM und der Seitenzahl zitiert.
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Die Zeit ist keine Gerade. Ihre Augenblicke sind wie die kleinen Steine, die ich als Kind auf der Anhöhe sitzend aufhob, sie in meiner Hand wog und dann ins Gras warf (DM, 53). Jedes einzelne Bild schließt mein ganzes Selbst in sich ein, so wie das Herz des Baumes den ganzen Baum in sich einschließt. Ich bin die Hände meiner Mutter, die den Pfirsich schälen; ich bin der Hund, der mich anbellt; ich bin die Eidechse, die zwischen den Steinen in der zerstörten Scheune schleicht; ich bin die Granne, die sich in meinem mädchenhaften Haar verheddert. Es gibt keine Möglichkeit, das alles zusammenzufassen. Nur als verstreute, getrennte Bilder können sie existieren. Wenn ich sie in eine Reihe stellen würde, ginge ihre Wahrheit verloren und ich würde nicht mehr in ihnen existieren. Ich habe darüber nachgedacht, den Rest meiner Geschichte, seit Joanna und ich die unterirdische Stadt verlassen haben, Episode für Episode zu erzählen, aber dann wäre es nicht meine Geschichte, sondern die eines anderen (DM, 47). In der unterirdischen Stadt, wo die namenlose Protagonistin7 nach dem Hochwasser und der darauf folgenden Verwüstung der Erde lebt, wird die Erinnerung durch Kinofilme geweckt. Die »normale« Welt von früher, die in den Filmen vorgestellt wird, steht dem früheren Leben der Protagonistin besonders nah. Als ich hier zum ersten Mal ins Kino ging, waren die Bilder auf der Leinwand zusammen mit meiner Arbeit in den Gewächshäusern für mich das, was am nächsten an dem war, was es gab und nicht mehr gibt. In den Filmen hatten manche Szenen so viel Kraft wie die Erinnerungen an Dinge, die ich erlebt hatte. Als ich sie sah, wurde meine Erinnerung durch die Bilder lebendig, die sich ein Fremder ausgedacht und geschaffen hatte (DM, 22).8 Die Erinnerung scheint hier, genauso wie in Schwarzes Wasser, das einzige Mittel zu sein, um Glücksvorstellungen und dabei auch die Bitterkeit des endgültigen Verlusts zu erfahren. Um jenes utopische Denken zu beschreiben, das nicht mehr in der Zukunft liegt, sondern sich ausschließlich vergangenen Vorstellungen zuwendet, spricht Zygmunt Bauman vom »Ende der Utopien« in traditioneller Hinsicht (Bauman 2008, 146) bzw. von »Retrotopien« als »Visionen, die sich anders als ihre
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Interessanterweise haben die Hauptfiguren beider Novellen keine Namen. In Schwarzes Wasser wird der Protagonist als »der Vater« bezeichnet, was in Verbindung mit dem Namen seines Sohnes Christophoros die biblische Analogie Gott-Vater und Christus-Sohn hervorrufen soll (aus dem Gespräch mit dem Autor). Auch die Darstellung der Realität im Fernsehen spielt in der gesamten Erzählung eine sehr wichtige Rolle. Die bevorstehende Zerstörung des Planeten wird zunächst in den Nachrichten angekündigt und beschrieben, welche die letzten Momente der Normalität in einer Art Countdown bis zuletzt begleiten.
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Vorläufer […] aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit speisen« (Bauman 2017, 13). Der Erwartungshorizont im Sinne Reinhart Kosellecks wird auf der Ebene sowohl der individuellen als auch der kollektiven Wahrnehmung derart entkräftet, dass sich die Zukunft in erster Linie als dystopisches Szenario darstellt. Statt in eine ungewisse und allzu offensichtlich nicht vertrauenswürdige Zukunft investierte man alle Hoffnungen auf gesellschaftliche Verbesserungen nunmehr in ein halbvergessenes Gestern, an dem man vor allem dessen vermeintliche Stabilität und folglich Vertrauenswürdigkeit schätzenswert fand. Durch diese Kehrtwende wird die Zukunft, vormals natürliches Habitat der Hoffnung und berechtigter Erwartungen, zum Schreckensszenario drohender Alpträume […] (ibid., 14). Der schon fragile realitätsnahe Rahmen in der Erzählung Das Meer, der die extremen klimatischen Phänomene zu fassen versucht, zerbricht endgültig in dem Moment, als der Leser von der Erscheinung eines uralten Meteoriten erfährt, der jahrhundertlang unter dem Eis gelegen hat. Der Meteorit löst eine Epidemie aus: Kurz nach der Entdeckung des Meteoriten brach die Epidemie aus, und die Mitarbeiter, die die Zusammensetzung, das Alter und die mögliche Herkunft des Meteoriten untersuchen sollten, gehörten zu den ersten Opfern. Sie sagten, es sei ein Virus, denn sie wussten nicht, wie sie das Ding nennen sollten, das mit dem Meteoriten auf die Erde gekommen war und dann im Eis schlummernd darauf wartete, dass es schmolz. Die Epidemie breitete sich blitzschnell aus. Sie hatte keine sichtbaren Symptome – das Fehlen einer Diagnose war der einzige Hinweis darauf, dass sich jemand mit dieser »Meteoriten-Krankheit« angesteckt hatte. Wenn er an einer bekannten Ursache starb, war der Tod nicht damit verbunden. Niemand wusste, aus welchem Grund die meisten Menschen starben, aber es gab auch einige, die nicht starben (DM, 36). Die Unwissenheit und die Ohnmacht werden durch die Worte eines Mannes, wahrscheinlich eines Arztes, übertragen, der in der Schule des Dorfes eine Rede hält, um die Bewohner über die neue Krankheit zu informieren. Wir sind dem Virus gegenüber so eingestellt wie die primitiven Menschen gegenüber der Sonne und dem Mond. Wir wissen, was da ist, weil wir seine Folgen sehen, aber wir wissen nichts darüber und können nur spekulieren. Die Wörter der Medizin und der Genetik – Virus, Mutation – sind nur unsere Zaubersprüche, so wie die Wörter, die jene Menschen für das, was sie nicht verstanden, zu Zaubersprüchen machten (DM, 39). Mittels der Erfindung des Meteoriten, der nicht aus dem Weltraum kommt, sondern seit Jahrhunderten in der Erde steckt, und dessen katastrophaler Wirkung, die ihre Ursache in den Eingriffen des Menschen in die Natur hat, gelingt es Makropou-
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los, in die unendlich lange Tiefenzeit der Erde einzutauchen. Diese Darstellung des Menschen lässt sich mit dem verbinden, was Carla Benedetti als »spaesamento temporale« (»zeitliche Desorientierung«) bezeichnet, in der das menschliche Leben nur noch als ein Hauch empfunden wird (Benedetti 2021, 38). In diesem Zusammenhang wird sich der Mensch im Zeitalter des Anthropozäns, der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung zum Trotz, wie in der heutigen Zeit der Coronapandemie, seiner Machtlosigkeit bewusst.9 Die Krankheit wird in beiden Novellen unterschiedlich dargestellt: In Das Meer erscheint sie als rascher, symptomloser Tod, während sie in Schwarzes Wasser den ganzen Erzählungsprozess begleitet. In Letzterer fängt sie sogar mit einem Großbuchstaben an, als ob sie ein Eigenname wäre10 (SW, 16). Anastasia, die Mutter von Christophoros, die nun als »ein Phantom der Erinnerung« (SW, 16) erscheint, war wie die meisten Frauen im Dorf infolge der Vergiftung der Gewässer bzw. der Pflanzen- und Tierwelt an der »Krankheit« gestorben: Schon bei der Empfängnis war sie krank und das Baby, dessen Beine und rechte Hand verkümmert waren, war das erste sichtbare Zeugnis ihrer Krankheit. Die Krankheitsmetaphorik lässt sich im Werk in vielerlei Hinsicht deuten. An erster Stelle ist das kleine Kind, das von Geburt an krank ist, der konkrete Beweis dafür, welchen Preis die nächsten Generationen zahlen werden, wenn die Zerstörung des Planeten nicht aufgehalten wird. In diesem Sinne heißt es auch bei Benedetti: Die heutigen Lebewesen – oder ein Teil von ihnen, da wir nicht alle gleichermaßen verantwortlich sind – verändern die Biosphäre, erodieren die über Milliarden von Jahren angesammelten Reserven des Planeten, verbrauchen Polareis, Wälder, Erdöl, vernichten Fauna und Flora und verurteilen damit künftige Generationen zu schrecklichen Qualen. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Ausrottungen und Grausamkeiten. Aber noch nie war es so, dass ein Völkermord an den Lebenden von morgen ausgeübt wird. Dies ist die absolut »unmenschlichste« Neuerung unserer Zeit, die die heutige Untätigkeit noch grausamer und unerträglicher macht, das, was nicht getan wird, solange noch Zeit ist (Benedetti 2021, 4f.). Der Name der verstorbenen Mutter selbst kann auch im metaphorischen Sinne gelesen werden. »Anastasia« kommt von dem altgriechischen Verb ἀνίστημι (»auferstehen«): In der Novelle ist aber die »Auferstehung« (Ανάσταση) schon tot. Darüber
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Interessant dabei ist, dass die Novelle Das Meer kurz vor der Pandemie von 2020 geschrieben wurde. In dieser Hinsicht könnte man die Novelle fast als »prophetisch« bezeichnen (aus dem Gespräch mit dem Autor). Im Unterschied zum Deutschen werden die Substantive im Griechischen mit Kleinbuchstaben geschrieben. Im Text von Makropoulos kommt das Wort »Krankheit« großgeschrieben als Αρρώστια vor, was auf einen Eigennamen verweist.
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hinaus bietet die soziale Konnotation der Krankheit in Schwarzes Wasser einen weiteren Punkt zum Nachdenken. Die Dorfbewohner weigern sich, ihr Land zu verlassen, obwohl der Staat einen immer stärkeren Druck auf sie ausübt, damit sie in die neuen Häuser in ein nahes Dorf umziehen. Indem man das vergiftete Wasser trinkt und das vergiftete Wildfleisch verzehrt, verbindet man sich mit seiner Umgebung, auch wenn dies bedeutet, dass man bald sterben wird. Der Protest konkretisiert sich also in Form eines langsamen Selbstmordes, ein wahrscheinliches, doch plausibles Zeichen für die Erkenntnis der eigenen Ohnmacht gegenüber dem System. Das Fleisch des kranken Tieres tötete langsamer als der Hunger (SW, 58). Das Essen war gekocht, und der Vater fragte sie [Sofia, Anm.E.C.11 ] nicht, wie sie sicher sein konnte, dass in der Köstlichkeit nicht der Tod lauerte – er aß einfach, bis er es nicht mehr ertragen konnte, noch einen Bissen in den Mund zu nehmen (SW, 75). Der Mensch tritt auf diese Weise seinem eigenen Schicksal entgegen, da man trotz der Gewissheit des Scheiterns der prophezeiten Zukunft gegenüber eine aktive Position einnimmt. In Schwarzes Wasser wird kein Weg in Richtung einer besseren – oder überhaupt irgendeiner – Zukunft eröffnet, nicht einmal als entfernte Aussicht. Christus selbst erscheint als ein kranker Junge, der nie geheilt werden wird. Benedetti verweist im Hinblick auf die christliche Apokalypse und das ihr innewohnende Heilsversprechen auf das Konzept der »apocalisse senza escaton«, der »Apokalypse ohne Eschatologie«, des italienischen Anthropologen Ernesto De Martino. Doch was geschieht, wenn das Reich Gottes nicht auf die Erde kommt? Was geschieht mit dem zweiten Unterscheidungsmerkmal der Apokalypse [der Erlösung, die nach dem Ende kommen wird, Anm.E.C.], wenn man sich in einer säkularisierten Welt wie der unseren befindet, in der es keine religiös begründete Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod gibt, oder wenn die revolutionären Hoffnungen fallen und keine Erlösung zu erwarten ist? Die apokalyptische Form, in der das Ende und die Erlösung untrennbar miteinander verbunden sind, erfährt in diesem Fall eine Verzerrung, fast eine Umkehrung der Vorzeichen, bis hin zu einem düsteren, lähmenden, manchmal sogar pathologischen Ergebnis. Die Katastrophe am Ende ist nicht mehr das Vorspiel zu irgendeiner Art von Erlösung. Es ist die »apocalisse senza escaton«, von der Ernesto De Martino in seiner jüngsten Studie über kulturelle Apokalypsen […] spricht (Benedetti 2021, 55).
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Sofia ist die letzte verbliebene Einwohnerin im Dorf Dolo in der Provinz Pogoni. Dorthin werden Vater und Sohn am Fest des heiligen Christophoros fahren. Ebenso wie der Vater sieht Sofia vorzeitig alt aus, »voller Risse auf der Stirn« (SW, 75).
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Das »Undenkbare«, das die ökologische Zerstörung kennzeichnet, wird in beiden Novellen durch die Sprachlosigkeit wiedergegeben. In der unterirdischen Stadt in Das Meer spricht man selten miteinander und fast nie über sich selbst und sein voriges Leben. Der Logos als eine Art der Verarbeitung vergangener und gegenwärtiger Ereignisse kommt erst später in der Novelle vor und mündet in die Entscheidung der Protagonistin und deren Freundin und Geliebten, die Unterwelt zu verlassen. Auch in Schwarzes Wasser erscheinen die meisten Wörter als »nutzlos und unbrauchbar« (SW, 13), weil die Leute selbst vergessen hatten, »wie man spricht, wenn viele dabei waren« (SW, 27). Die Grenze der Sprache wird hier durch eine Reihe von paradoxen Bildern codiert, wie etwa die »Glocke«, die »stumm blieb« (SW, 28), »die zerbrochenen Bretter«, die »lautlos unter den Schritten knarrten« (SW, 29), der »tote Atem« der Gespenster (SW, 29), der »lebendige tote Dorfbewohner« (SW, 31) sowie durch die Synästhesie »stumme Hände« (SW, 13). Dort, wo es den menschlichen Worten misslingt, die Absurdität der Katastrophe zu fassen, übernehmen Psalmen und altgriechische Zitate aus der Bibel die Aufgabe, dem Unsagbaren eine Stimme zu geben. Die Spiritualität bildet eines der wichtigsten Leitmotive in der Novelle und wird beispielweise durch nächtliche Bilder von halbzerstörten Kapellen im Kerzenlicht und Gespensterschatten dargestellt. Diese Spiritualität kennzeichnet auch die realen, konkreten Beschreibungen der Umweltzerstörung und verleiht ihnen einen fast halluzinatorischen Charakter.12 Sie standen dort, wo die Bäume endeten, am Rande der großen Narbe, die sich in der bewaldeten Landschaft auftat. In der Mitte stand die rostige Bohrpumpe, daneben die Kapelle der Agia Sotira, die ohne die Eichen, die sie einst umgaben und schützten, in der vernarbten Erde neben dem stählernen Götzenbild fehl am Platz stand. Wie eine Schar von Anbetern dieser Gottheit standen jenseits davon, wo der Wald wieder anfängt, ähnlich rostige, alte Lastwagen und Tankwagen […]. [A]ls die Bohrungen eingestellt wurden, eroberte sich der Wald das Land zurück, und zurück blieben nur Narben wie die in Agia Sotira, die klaffenden Wunden der neuen, aber bereits rissigen Straßen und die rostigen Rohrleitungen und Abwassertanks, von denen viele umgestürzt waren und in denen keine Tiere mehr verrotteten, und aus den Löchern, die in den Rohrleitungen entstanden waren, wuchsen Büsche. Uralte Relikte warteten bereits in den dichten Bäumen auf den zukünftigen Archäologen […] (SW, 20).13 Er [der Vater, Anm.E.C.] wartete geduldig; er wusste, dass früher oder später ein Tier herunterkommen würde, um seinen Durst in dem Wasser zu stillen, das 12 13
Der Surrealismus befindet sich laut Makropoulos innerhalb der Realität und lässt sich daher als real deuten (aus dem Gespräch mit dem Autor). Der Name der heiligen Sotira ist die Variante des Namens Sotiria (im Deutschen »Rettung«), die hier allerdings keine Rettung mehr bieten kann.
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mit seinem gurgelnden Geräusch täuschte. Fünfzig Meter daneben lag der alte Stausee, über dem die Buchstaben von RIPOIL halb verblasst waren […]. Im Metall waren Löcher entstanden, eine dicke Schicht verrottender Blätter war zu Humus geworden, und der alte Tank war voller Leben: Insekten, Nagetiere, Vögel, die ein- und ausflogen. Der Platanenwald am Fluss hatte den metallenen Fremden herablassend aufgenommen, hatte ihn umringt und beschattet, und Äste lehnten sich an ihn und durchbohrten ihn (SW, 57).14 Die Landschaft der geologischen Ära des Anthropozäns stellt sich als Hybrid von natürlicher und industrieller Landschaft mit zwei unterschiedlichen Zeitlichkeiten dar: Auf der einen Seite die langsamen, ewigen Rhythmen der Natur und auf der anderen die rasche Geschwindigkeit des industriellen Fortschritts, der gewaltsam die ewigen natürlichen Rhythmen beschleunigt. Die Erschütterung der Rhythmen des Systems Natur durch die soziale Beschleunigung der kapitalistischen Logik lässt sich im Kontext der dreifachen Trennung von Fritz Reheis beschreiben, der zwischen den drei Hauptsystemen von Natur, Kultur/Gesellschaft und Individuum unterscheidet (Reheis 1996, 154).15 Das Zusammenprallen der beiden unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Natur und industriellem Fortschritt wird in der Novelle durch das Bild der Erstarrung wiedergegeben, die hybride Landschaft sieht hier wie ein Stillleben aus, obwohl die Natur die industriellen Überreste durch die unablässige Mikrobewegung von Insekten und kleinen Tieren langsam verschlingt. Beschleunigung und Langsamkeit scheinen sich in jener »geschichtslosen Augenblicklichkeit« zu treffen (Virilio 2015a, 49), von der Paul Virilio in Bezug auf die 14
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Hier bietet sich ein weiterer Interpretationsansatz an: RIPOIL – RIP, requiescat in pace. Der von Menschen geschaffene Staudamm, der nun in Frieden ruht, bzw. der von Menschen geführte Energiekonzern RIPOIL, der mit seinen Machenschaften Mitschuld an der Zerstörung der Umwelt hatte und die zukünftigen Generationen sterben und somit »in Frieden ruhen« lässt. Das System »Natur« besteht aus der Luft, dem Wasser, den Steinen und insgesamt den Lebewesen, das System »Kultur/Gesellschaft« aus den Subsystemen der Wirtschaft, der Politik, der Kunst, der Wissenschaft, der Religion, der Erziehung usw. und das System »Individuum« besteht zuletzt aus dem eigenen Körper und der Psyche (Reheis 1996, 41). Reheis zufolge hat jedes System seine Eigenzeiten: Die längsten Rhythmen gibt es im System Natur, wo die Veränderungen langsamer stattfinden, wohingegen in den beiden anderen Systemen die Veränderungen in einem zunehmend schnelleren Tempo erfolgen. Der ständige gegenseitige Einfluss der drei Systeme (ibid., 50) kann Desynchronisationsprozesse auslösen, die fatale Folgen haben können, wie etwa im Falle der Ökokatastrophen. Genau in dieser »Desynchronisation von Prozessen, Systemen und Perspektiven infolge einseitiger Beschleunigung« (Rosa 2016, 44; Herv. i. O.) erkennt Hartmut Rosa die negative Seite der sozialen Beschleunigung. Darüber hinaus spricht Reheis von »Elastizität« bzw. von der Fähigkeit jedes Systems, die eigenen Schäden zu reparieren bzw. sich jedweden Veränderungen anzupassen. Alle drei Systeme seien also »elastisch« (Reheis 1996, 50, 57ff.). Die Frage laute vielmehr, bis zu welchem Punkt solche Elastizität auf die Probe gestellt werden kann bzw. inwiefern sich jedes System biegen lasse.
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Desynchronisation unter den verschiedenen sozialen Subsystemen spricht, die zur »Lähmung oder eher Tetraplegie des gesellschaftlichen Körpers [führt], der zwar ständig in Bewegung, doch in jedem seiner Gliedmaßen erstarrt ist […]« (Virilio 2015b, 27). [D]ie Verschmutzung der Zeitdistanzen kommt heute zur Verschmutzung der Substanzen des Wassers, der Luft, der Fauna und Flora hinzu, sodass die aktuelle Herrschaft der Echtzeit […] des Austauschs über den Realraum […] der Kontinente in den Stillstand […] mündet, genauer gesagt, in das »Trägheitsmoment« […] der interaktiven Verknüpfung, das schon bald den »immobilen Stillstand« der Orte einer gleichwohl jahrhundertealten Sesshaftigkeit ablösen wird (Virilio 2015b, 30; Herv. i. O.). In der letzten Szene von Schwarzes Wasser reitet der körperlich behinderte Christophoros ein Pferd und fühlt sich, als ob er fliegen könnte. In derselben Nacht schlafen Sofia und der Protagonist zusammen, nachdem sie ihm anvertraut hat, dass sie krank ist: »›Ich bin krank‹, sagte sie ihm leise. Und dann: ›Solange es noch geht…‹« (SW, 76). Der Geschlechtsverkehr als Fortpflanzung bzw. als Quelle neuen Lebens scheitert in der Novelle, dagegen wird er zu einem reinen Akt des Überlebens im Hier und Jetzt. Ähnlich wirken die wiederholten Tätigkeiten in beiden Novellen, die dem Leben »Ordnung und Sinn« (SW, 15) geben: Das Säubern der Straße von Steinen, das Salzen des Filters an der Zapfstelle (SW, 18) haben keine Bedeutung mehr, außer in ihrer Wiederholung. Die Routine erscheint in Schwarzes Wasser als »ein Gebet an einen Gott« (SW, 17), an den der Protagonist nicht mehr glaubt. In Das Meer erlaubt die Wiederholung von Handlungen der Protagonistin, sich angesichts einer finsteren Zukunft an der Gegenwart festzuhalten. Ich hatte ein seltsames Gefühl; jeder Spaziergang kam mir wie ein kleiner Abschied vor. Ich blieb lange stehen und betrachtete die verfallene Scheune, als ob ich sie bis ins kleinste Detail in meiner Erinnerung festhalten wollte. Das ist es, was ich wollte. Alles war damals wichtig, als Wahrzeichen meiner Kindheit […]: Diese schwarzweiße Hündin, die jedes Mal bellte, wenn ich sie fragte: »Hast du mich denn nicht endlich erkannt?« Sie hatte mich erkannt, aber sie tat, was ich tat: Sie wiederholte, was sie beim letzten Mal und bei allen anderen Malen getan hatte, um sicher zu gehen, dass sie sich nicht verirren würde, vielleicht, weil sie das Gefühl hatte, dass sie sich irgendwann verirren würde. Jedes Mal, wenn ich bei ihr vorbeikam, bellte sie mich an, scheinbar wütend, aber in Wirklichkeit erleichtert, und ich hörte ihr mit der gleichen Erleichterung zu, weil ich spürte, dass auch dieses Mal ein Aufschub gegeben worden war (DM, 36f.). Der verzweifelte Versuch, durch obsessiv wiederholte Handlungen den Augenblick einzufrieren, verweist auf jenes Paradox des Futurismus, das Virilio am Anfang seines Essays Der große Beschleuniger nennt: »Jeden Augenblick so leben, als wäre er der
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letzte« (Virilio 2015b, 15).16 Die Dekonstruktion der zeitlichen Kontinuität führt zu einem »fatalen Stillstand« (ibid., 28), der in der Novelle durch extrem detaillierte Beschreibungen übertragen wird. Im ersten Kapitel findet die Protagonistin als kleines Mädchen inmitten der Berglandschaft einen kleinen Stein, der eine eigenartige Form hat: Er ist einem Schneckenhaus ähnlich, »aber gestreift, wie das Horn eines Bocks« (DM, 19). Später wird sie von ihrem Lehrer erfahren, worum es sich dabei handelt. »Das ist ein Ammonit«, sagte er, »ein prähistorisches Meerestier. Was macht es hier oben in den Bergen, zweihundert Kilometer vom Meer entfernt?« Im Gegensatz zu den knochigen Fischen mit dem trüben Auge, die mir nie etwas über das Meer erzählten, egal wie oft ich sie ansah oder wie oft ich sie entgrätete und ihr weiches Fleisch aß, schien mir dieser Stein, der dort nichts zu suchen hatte, aber gefunden wurde, eine Botschaft des Meeres zu sein, die ich nach Millionen von Jahren finden sollte (DM, 20). Die Gegenwart des Ammoniten in den Bergen führt zu einer uralten, vormenschlichen Zeit zurück, als die Erde eine vollkommen andere Gestalt hatte. Der Ammonit verbindet sich in mysteriöser Weise mit dem uralten, geheimnisvollen, tödlichen Meteoriten, der ebenso aus dem Wasser auftaucht: Die beiden haben die gleiche Form, als ob der Ammonit die Miniaturausgabe des Meteoriten wäre. Das Wasser bzw. das Meer stellen in der Novelle von Anfang an das zentrale Leitmotiv dar und nehmen einen mystischen, rätselhaften Charakter an. In ihrem kleinen Bergdorf lebend, hat die Protagonistin das Meer nie gesehen, aber sie hat immer davon geträumt. Die Hitze machte es schwierig, nachts zu schlafen – zum Glück hatte ich mein Meer, das mir in der Dunkelheit Gesellschaft leistete. Es reichte bis zum Fußende des Bettes, und wenn ich mich auf die Seite drehte und die Hand ausstreckte, konnte ich das Wasser an meinen Fingerspitzen spüren, was mich gleichzeitig beruhigte und erschreckte; aber ich lag einfach auf dem Rücken und lauschte seinem unruhigen Plätschern (DM, 17). In ihrer Fantasie wird das Meer zu etwas Außerordentlichem, wobei sich Begehren und Angst vor dem Unbekannten vermischen. In ihrem späteren Leben wird die junge Frau eine Liebesbeziehung mit Joanna haben, die aus einem Dorf am Meer kommt. Das religiöse Wesen des Wassers tritt deutlich zutage, als es in der Zeit vor der Verwüstung der Erde und der Zeit danach in der Form von pausenlosem Starkregen vom Himmel kommt – eine Art göttliche Gerechtigkeit, die sich wohl mit der 16
Interessant dabei ist die Frage Virilios: »Ist die Augenblicklichkeit für die Materialisten des geeinten Markts das geworden, was die Ewigkeit für die Spiritualisten war?« (ibid., 69; Herv. i. O.)
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biblischen Sintflut verbinden lässt. Die Novelle beginnt mit einem altgriechischen Zitat aus der Offenbarung des Johannes: »Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr« (Offenbarung 21,1). Die gleichen Worte werden auf den letzten Seiten der Novelle von Joanna in neugriechischer Sprache wiederholt, nachdem sie von einem gesichtslosen Mann geträumt hat, der die Apokalypse auf Altgriechisch zitiert. Der heilige Johannes wird in der Novelle von einer Frau verkörpert, die seinen Namen trägt. Im Gegensatz zu den Frauen in Schwarzes Wasser, die als Erste erkranken und sterben, werden die weiblichen Charaktere in Das Meer als Sieger dargestellt. Während die männlichen Figuren kein Gesicht haben – nicht einmal der heilige Johannes oder der Vater, der vielmehr als eine blasse Vorstellung aus der Erinnerung auftaucht, werden die Gesten der Mutter auch viele Jahre später noch im kleinsten Detail beschrieben. Darüber hinaus ist die Liebe ausschließlich weiblich und den beiden Frauen gelingt es, sich zu retten und ein neues gemeinsames Leben zu beginnen. Die Novelle Das Meer lässt sich als Erzählung eines postapokalyptischen Existenzialismus deuten.17 Jedenfalls retten sich die Überlebenden nicht aufgrund ihres Handelns wie in Schwarzes Wasser – wo aber keine wirkliche Rettung vorhanden ist –, sondern wegen einer zufälligen biogenetischen Besonderheit: der Mutation von sechs Genen, die irgendwie mit der Entstehung der Kiemen und des Rachens zusammenhängt. Die davon betroffenen »Mutanten« unternehmen eine Reise zu den unterirdischen, künstlich beleuchteten Städten, die Zuflucht vor der Verwüstung des Planeten bieten. Trotz dieser natürlichen Selektion bilden die Überlebenden keine Elite, da sie verurteilt sind, in einer unnatürlichen Umwelt zu leben – oder besser: zu überleben. Die zweite Hälfte der Novelle ist der Reise der beiden Frauen aus der Unterwelt zum Meer gewidmet. Dort hat sich eine kleine Gemeinde von 21 Leuten angesiedelt, die die Frauen herzlich begrüßen. Ihre Begegnung wird folgendermaßen beschrieben: Wir marschierten dicht am Wasser entlang und legten uns bei Einbruch der Nacht an einer geschützten Stelle zwischen den Felsen nieder. Zwei Tage lang marschierten wir so, und am Morgen des dritten Tages sahen wir einen Glockenturm, der halb aus den Wellen ragte, aber das war es nicht, was uns aufschrecken ließ – auf unserem Weg hatten wir andere Spuren von verlorenen Küstendörfern gesehen. Doch unter uns waren drei Kinder. Sie hatten uns nicht gesehen. Sie tauchten ins Wasser und kamen erst nach langer Zeit wieder heraus. Ich war noch nie geschwommen, aber Joanna, die am Meer aufgewachsen war, sagte mir, sie könne sich an niemanden erinnern, der so lange tauchen konnte, ohne Luft zu holen (DM, 70).
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Aus dem Gespräch mit dem Autor.
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Die prophezeite neue Welt des Johannesevangeliums wird von Makropoulos als Rückkehr in die Essenzialität des Wassers bzw. des Meeres dargestellt, also dorthin, wo das gesamte Leben auf der Erde seinen Ursprung genommen hatte. Die Mutation selbst hängt, wie bereits erwähnt, mit der Entstehung der Kiemen zusammen: Der menschliche Embryo bildet in der Anfangsphase seiner Entwicklung während der Schwangerschaft Kiemenbögen, die sich später wieder zurückbilden. Darüber hinaus ist das Genus von »Meer« im Griechischen weiblich (»thalassa«), weshalb eine solche Rückkehr als utopische Rückkehr in den Mutterleib bzw. in einen pränatalen Zustand gedeutet werden könnte. Mit dieser Lesart würde dem innovativen Charakter der Erzählung jedoch jenes traditionelle Denkmuster hinzugefügt, das im Weiblichen immer schon ein Synonym für das Elementare bzw. das Biologische gesehen hat. Die genetische Mutation des Rachens zu Kiemen bringt den neuen Menschen in die Nähe von Amöben und Fischen. In Das Meer findet sich eine literarische Entsprechung dessen, was Carla Benedetti als Antwort auf die Frage vorschlägt, ob die Literatur vor dem Aussterben retten kann. Diese Rettung käme nämlich aus einer breiteren Auffassung des Menschlichen als Teil der geologisch-kosmischen Geschichte, wobei sich der Mensch nicht als naturfeindliche Entität, sondern als »terrestre« (»Erdbewohner«) versteht (Benedetti 2021, 132).18 Unser Erdendasein ist unsere erste und offensichtlichste Identität, aber auch die uns am weitesten entfernte. Jeder vergisst es. Die Politik beseitigt sie, wenn sie an kleine und partielle Identitäten, nationale, religiöse, kulturelle, ethnische, rassische appelliert… Die blinde wirtschaftliche Logik, die das gegenwärtige Produktionssystem leitet, löscht sie sogar aus ihren Berechnungen aus, indem sie über Wachstum nachdenkt, ohne die Grenzen der Erde zu berücksichtigen. Sich als Erdbewohner zu erkennen, ist daher ein Mittel, um diesem wahnsinnigen Abdriften entgegenzuwirken. Während kleine Identitäten zu Konflikten führen, macht diese Identität als Erdbewohner uns bewusst, wie sehr die Schicksale aller Lebewesen miteinander verbunden sind, und eröffnet uns eine Solidarität im »gemeinsamen Schicksal« […]. Unsere Beziehung zum Planeten ist auch aus vielen philosophischen und kulturellen Abhandlungen der letzten Jahrhunderte herausgenommen worden. Selbst in der Art und Weise, wie Geschichten erzählt werden, in den Romanen, die im Westen am populärsten sind, verschwindet unser Zustand als Erdbewohner oft. […] Die Erkenntnis, dass wir Erdenmenschen sind, zwingt uns dazu, die Grammatik unseres Weltverständnisses radikal zu
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Den Ausgang aus der Sackgasse, in der die Menschheit sich befindet, sieht Makropoulos in den folgenden fünf »P«: »Poiesis, Politis, Polis, Perivallon, Politismos« (»Poesie, Bürger, Polis, Umwelt, Zivilisation«, aus dem Gespräch mit dem Autor).
Das poetische Wort als Rettung vor dem Aussterben
überdenken, die Grenzen unserer Sichtweise, die uns zu dieser Entwicklung geführt haben, zu überdenken und andere, bisher ungeahnte Möglichkeiten für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation zu erahnen. […] Erdlinge ist ein Wort, das eine erregende Kraft an sich hat. […] Es ist die Saat, um eine Struktur des Denkens und der Sensibilität wachsen zu lassen, die dem Ausmaß der planetarischen Gefahr angemessen ist. Ein erster Schritt auf dem Weg zur Metamorphose, die auf uns wartet (ibid., 135). Sich als »terrestre« zu erkennen, stellt Benedetti als den ersten Schritt auf dem Weg zu jener Verwandlung dar, die in der Lage ist, die Menschheit vor dem Aussterben zu retten. Dies würde auch die Literatur betreffen, wenn man mit Giacomo Leopardi das »genio« (»Genie«) darin sieht, nämlich jene »belebende Kraft«, welche die großen Werke der Literatur nicht nur ästhetisch, sondern auch ethisch kennzeichnet (ibid., 115ff.). Am Ende der Novelle Das Meer springt die junge Frau ins Wasser und findet auf dem Grund einen Schlüssel: Ist das der Schlüssel ihres neuen Zuhauses oder gar der Schlüssel des versprochenen christlichen Paradieses? Mit der folgenden Passage endet die Erzählung: Bis ich eines Morgens die Hüllen fallen ließ und eintauchte. Es war jetzt Winter und das Wasser war kalt, aber der Tag war sonnig und windstill. Ein paar Wolken standen noch am Himmel und die Strahlen schienen fast bis zum Grund, wo man verstreute Trümmer und Fischschwärme schwimmen sah – jeder Fisch ein silberner Schimmer. Panik ergriff mich für einen Moment, ich dachte, ich würde ertrinken. Aber meine Arme und Beine machten Bewegungen, die mir nie beigebracht worden waren. Ich wagte es nicht, tief hinabzusteigen, aber von Tag zu Tag konnte ich den Atem immer länger anhalten. Bis ich eines Morgens den Grund erreichte, wo sich die Spalte eines Hauses befand, und wie um etwas zu beweisen – wem? Joanna? Mir? –, schloss ich meine Hand um etwas und stieg wieder an die Oberfläche. Ich kam zitternd auf den Felsen, saß tropfend da und öffnete meine Faust. In meiner Hand hielt ich einen rostigen Schlüssel (DM, 72f.).
Quellen Makropoulos, Michalis (Μιχάλης Μακρόπουλος): Μαύρο νερό (Schwarzes Wasser). Athen: Κίχλη 2019. Makropoulos, Michalis (Μιχάλης Μακρόπουλος): Η θάλασσα (Das Meer). Athen: Κίχλη 2020.
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Elli Carrano
Literatur Anders, Günther: Noch nicht einmal »nur gewesen«. In: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 175:3 (1989): 338, https://docplayer.org/36977 617-Editorial-335-guenther-anders-noch-nicht-einmal-nur-gewesen-338-eric h-wulff-requiem-fuer-einen-vietnamesischen-freund-339.html (6. Juli 2022). Bauman, Zygmunt: Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit. Hamburg: Hamburger Edition 2008. Bauman, Zygmunt: Retrotopia. Berlin: Suhrkamp 2017. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016. Benedetti, Carla: La letteratura ci salverá dall’estinzione. Torino: Einaudi 2021. Ghosh, Amitav: The Great Derangement: Climate Change and the Unthinkable. Chicago and London: The University of Chicago Press 2016. Reheis, Fritz: Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016. Virilio, Paul: Der große Beschleuniger. Wien: Passagen Verlag 2015b. Virilio, Paul: Rasender Stillstand. Frankfurt a.M.: Fischer 2015a.
From Nature to Technology On George Lambrakos’ Prose Iordanis Koumasidis
In this paper we will explore conceptualizations of nature and the role of technology in the prose of George Lambrakos, a contemporary Greek novelist, poet, translator, and reviewer (born in Athens in 1977), focusing particularly on the novels Notes from the Penthouse (2009), Digital Narcissus and other stories (2014), and The Blood and the machine (2019). We will follow Lambrakos’ progression from a novel about an urban hermit (2009) to a short stories collection which focuses on technology and the internet (2014) and then to a social fantasy novel (a form of science fiction, 2019). We will try to explain how nature and technology meet and collide in this kind of novel that lies on the border between dystopia and science fiction. Finally, we will discuss the possible classification of these novels as postmodern literature. First of all, we should note that science fiction as a genre (and generally all the kinds of fiction which include dystopias or utopias) has a limited impact on Greece’s reading audience, a conclusion arrived at in a critical essay by the writer himself (Lambrakos 2018). Some exceptions (like some novels of Christos Asteriou, Dionysis Marinos, Vangelis Bekas, or Michalis Makropoulos) seem to exist just to confirm the rule. If we have to recall some genuine writers of science fiction in Greece, we will discover that they are very few (for example, Nikos Vlantis, Makis Panorios, Michalis Manolios, Konstantinos Charitos).1 Therefore, it is obviously hard to write science fiction or dystopias nowadays in Greece, which emphasizes the importance of these particular fictions. Lambrakos’ first novel Notes from the Penthouse (Αναμνήσεις από το ρετιρέ, 2009), is a novel about an urban hermit and simultaneously a postmodern thriller. A young man, Manolis Alexandrakis, is isolated in a penthouse, with mysterious intentions. The only communication he has with the outside world is through the internet. Lambrakos’ hero seems to be a kind of misanthropist with a propensity to nihilism; however, this attitude is not expressed aggressively but self-destructively. 1
Under my supervision, Spyridon Kalantzis is currently mapping in his master’s thesis tensions in the science fiction and fantasy literature of Greek authors. See Kalantzis 2022; see also Paschos 2020.
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The hero, absolutely an antihero figure, also becomes himself a tool where individualism or anti-sentimentalism meets technocracy. We can find a manifestation of a new philosophical (or anti-philosophical) perception in the text, one of a wired post-materialism. This manifestation is certainly electronic and anti-didactic. A post-human existence (or semi-existence) is already here, mainly provided by his absence, his disappearance, his disembodiment, his electronification. He emerges simultaneously with the delusion that if man is annihilated, the world will be annihilated too because these two comprise the primitive monads. Alternatively, we could assume that this text can be characterized as a »literary declaration of a post-solipsism« as the main hero reminds us of the majority of Michel Houellebecq heroes. While some theatrical plays and a poetry collection have intervened, – followed by Undergrounding or Basementation2 (Υπογείωση), a neologism which concerns desperation, violence, and the problems of modern rationalism, a word derived from the Greek poet Argyris Chionis –, Lambrakos published in 2014 the book Digital Narcissus and other stories (Ψηφιακός Νάρκισσος και άλλα διηγήματα). It is a short story collection which focuses on the man in the Digital Age, a case study about literature which concerns the transformation of human nature into something else; people addicted to internet use, cyborgs, through the mediation of technology which changes our relationship with the Real and Imaginary – here we could refer extensively to Jean Baudrillard’s work about surface and debt, simulacrum and simulacra, etc. (Baudrillard 1981). Solitude and desperation again are channeled through cyberspace to a postmodern digital world where borders between real and fake are always confused. In this sense, it would be easy to think about what nature and especially human nature could be. Is cyberspace, a technical achievement, the new man’s playground or is it a voluntary dystopia? The fact that the writer often uses humor (a kind of black humor similar to Charlie Brooker’s in Black Mirror) does not reduce the pessimist character of this question. I quote from the writer’s interview: Cyberlife has not yet a self-existent beingness. Virtual life goes on to rest on real life. In Digital Narcissus I attempt to disclose the coexistence of real and virtual, through a literature form, reflective touches and a lot of satire. To disclose the dialectics between Homo sapiens and Homo technologicus, the postmodern occurs inside the timeless Being (Lambrakos and Marinos 2014). Lambrakos’ latest novel The Blood and the Machine (Αίμα μηχανή, 2019) lies within the genre of a science or social fantasy fiction. It is a futurist, dystopian fiction, which plays a game with the duplicity of men and machines. To this strict hierarchically structured society described in the book, power is diffused in several, often implicit ways. However, any apparently flawless orderliness carries some weakness; in this
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We prefer the second rendering.
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case, on the one hand, the vulnerability of power gives rise to plot, on the other hand, it reinforces the social and political tension of the fiction. The crucial point to unlocking this novel is the continuous allusions to parody; I suggest that this is the author’s conscious choice with a view to a playful style of expression. The existence of these parodic elements is often enjoyable as it reinforces the humorous aspects of the text (as the author also did in Digital Narcissus). We have little interest in whether this parody is only textual or constitutes a parody of genre (or, any deviations of this) as the author himself as a defender of science/social fantasy has the right to do both. Moreover, the characters are successfully structured, just because they are not clearly human. I think it would be a magnificent failure of this novel which uses hybridity if characters were obviously just humans or obviously just lifeless machines. I think another main, related discussion that emerges from the novel The Blood and the Machine (at the same time, from the whole prose of Lambrakos) concerns its clearly postmodern style. Beyond the discussion about whether science fiction itself is postmodern, a term often used like a garbage bin in which we stack what we do not understand, what seems unclassified or what comes before the current period, the novel The Blood and the Machine is a postmodern narrative mainly for two reasons. First, because chapters are interrupted by intercalary questionnaires which are addressed to the reader and provide him/her with unorthodox, transgressive options (something like multiple choice beyond right and wrong) which have no effect on the plot. The second reason is the multiple, synecdoche finishes. It is clear that nature and technology meet and collide with each other in the body of this kind of novel, which lies on the border between dystopias and science fiction. Here, nature could be meant in two ways; nature as natural environment (closely connected to former literature approaches like romanticism, for example) and nature as the human essence, the human constitution. There is certainly no objection that technology has dominated the first concept of nature and is on the way to alienate the second. And this kind of literature represents questions of our times better than any other, formulating them through a kind of modern dystopia. Literature has the power not simply to represent social/political questions, but to express them strongly, often before these questions emerge for public discussion – for example science fiction talks about moral issues which were discussed only within the field of science. In this sense, literature is clearly an act which enforces a personal conscience without presupposing political statements. Finally, I would like to say that dystopias nowadays seem realistic spaces. Futuristic times are nothing if not the present times.
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Sources Lambrakos, George (Γιώργος Λαμπράκος): Αναμνήσεις από το ρετιρέ (Notes from the Penthouse). Athens: Γαβριηλίδης 2009. Lambrakos, George (Γιώργος Λαμπράκος): Ψηφιακός Νάρκισσος και άλλα διηγήματα (Digital Narcissus and other stories). Athens: Γαβριηλίδης 2014. Lambrakos, George (Γιώργος Λαμπράκος): Αίμα μηχανή (The Blood and the Machine). Athens: Γαβριηλίδης 2019.
Bibliography Baudrillard, Jean: Simulacres and Simulations. Paris: Galilée 1981. Kalantzis, Spyridon: Greek Literature of Fantasy at First Decade of 21th Century at Greece. A Review of Tensions and Authors. Athens: Hellenic Open University 2022 (unpublished MA thesis). Lambrakos, George (Γιώργος Λαμπράκος): Προσοχή! Επιστημονική Φαντασία! (Attention! Science Fiction!). In : The Books Journal – Γράμματα, Τέχνες, Ιδέες, Πολιτική 89 (2018) : 38–43, https ://booksjournal.gr/teyxi/2763-%CF%84%CE%B5%CF%8D %CF%87%CE%BF%CF%82-89 (June 4, 2022). Lambrakos, George and Dionysis Marinos (Γιώργος Λαμπράκος και Διονύσης Μαρίνος): Αυτός ο κόσμος, ο τεχνολογικός, ο μέγας. Συνέντευξη (This World, the Technological World, the Great World. Interview). In: fractal – Η γεωμετρία των ιδεών, October 29, 2014, https://www.fractalart.gr/giorgos-lamprakos/ (April 20, 2022). Paschos, Antonis (Αντώνης Πάσχος): Ελληνική επιστημονική φαντασία εν έτει 2020 (Greek Science Fiction in 2020). In: fractal – Η γεωμετρία των ιδεών, October 21, 2020, https://www.fractalart.gr/michalis-makropoylos-kostas-charitos (June 4, 2022).
»Schlaf, Persephone, in den Armen der Erde« Ein philosophischer Kommentar zu Nikos Gatsosʼ »Der Albtraum der Persephone« Kosmas Raspitsos
1. Ein Protest Im Jahr 1976 erschien die Liedersammlung Ta paraloga (Τα παράλογα – Die absurden Lieder) des berühmten griechischen Komponisten Manos Chatzidakis mit Texten des Dichters Nikos Gatsos. Die Lieder der Sammlung werden von einigen der bekanntesten und wichtigsten Künstler Griechenlands im 20. Jahrhundert gesungen, wie Mikis Theodorakis, Melina Merkouri, Maria Farantouri, Dionysis Savopoulos und andere. Es handelt sich dabei um eines der schönsten Beispiele eines besonderen kulturellen Phänomens, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Griechenland florierte, nämlich der Verbreitung von großer Poesie durch Vertonung in der Volksmusik. Aus diesem Liedzyklus gehört »Der Albtraum der Persephone« zu den beliebtesten vertonten Dichtungen der neugriechischen Literatur- und Musikgeschichte überhaupt1 . Das Lied erzählt die brutale Industrialisierung der Region von Elefsina (Ελευσίνα), des einstmaligen Ortes der antiken Mysterien von Eleusis (Ἐλευσίς), und es ist sicherlich einer der ersten künstlerischen Proteste gegen die Umweltzerstörung und gegen die Deformation der Landschaft im Griechenland der Nachkriegszeit, auf jeden Fall das erste Lied überhaupt, das sich, und zudem mit einer solchen Resonanz, auf die Umweltproblematik bezieht.2 Die 1
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Nikos Gatsos (Νίκος Γκάτσος), »O εφιάλτης της Περσεφόνης«, in der bekanntesten, vonMaria Farantouri gesungenen Version: https://www.youtube.com/watch?v=lImBKj9KV0k (26. Mai 2022). Vgl. auch Schah 2017, 13f. Frühere Literatur thematisierte den Übergang von einer hauptsächlich agrarischen und traditionellen Gesellschaft zu einer modernisierten und industrialisierten, vor allem die Folgen der Massenübersiedlung der griechischen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg und
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Absurden Lieder von Chatzidakis und Gatsos erscheinen zwei Jahre nach dem Fall der siebenjährigen Diktatur (1967–1974) und vier Jahre, nachdem Chatzidakis aus den USA zurück nach Griechenland gekommen ist. Ab 1975 beginnt für den Komponisten eine Zeit des intensiven und zielbewussten Engagements im öffentlichen kulturellen Leben Griechenlands. Chatzidakis übernimmt offizielle Ämter: Er wird u.a. stellvertretender Direktor der Staatsoper (Λυρική Σκηνή), Direktor des Staatlichen Rundfunks und Fernsehens (ΕΡΤ), allerdings nur für ein Jahr, er gründet ein neues staatliches Rundfunkprogramm, das Dritte Programm (Τρίτο Πρόγραμμα), das Musikensemble Orchester der Farben (Ορχήστρα των Χρωμάτων), die Plattenfirma Sirius und organisiert zahlreiche Festivals und Bildungsveranstaltungen überall in Griechenland, wie z.B. die Festspiele auf Kreta und Korfu u.v.a.3 Er unterstützt viele junge talentierte Künstler, nicht nur aus der Musikbranche, und wird allmählich mit seinem unnachgiebigen Bestehen auf Qualität zu einer Ikone und Bezugspunkt im neugriechischen kulturellen Leben, was ihn auch sehr oft zu einem Angriffspol von vielen Seiten der damals in Griechenland herrschenden populistischen Szene machte, besonders da Chatzidakis sich oft kritisch und ohne Hemmungen über die aktuelle zeitgenössische politische und kulturelle Situation in Griechenland äußerte. Die Absurden Lieder lassen sich sowohl vor dem Hintergrund der politisch hochgradig aufgeladenen Wendezeit als auch in den Kontext dieses persönlichen Engagements einordnen.4 Der Komponist befindet sich in seiner künstlerischen Reife und hat jetzt nichts mehr zu beweisen. Er ist tief besorgt über die kulturellen Perspektiven der griechischen Gesellschaft: Auf der einen Seite war der Zugang zu den internationalen künstlerischen und allgemeinen kulturellen Entwicklungen nach der »Wiedergeburt« der frühen 60er-Jahre jetzt durch die Isolierung der Diktatur schwer behindert oder in vielen Fällen abrupt und gewaltsam unterbrochen. Andererseits wurde der in Griechenland vielfach als natürlich empfundene Kontakt zur Tradition eben durch den nationalistischen Kitsch der Junta empfindlich gestört. Chatzidakis ist ein Verehrer und Erneuerer der Tradition und selbst gleichzeitig ein Künstler von Weltrang und in enger Verbindung mit der internationalen Szene. Er versteht den Zeitgeist sehr gut und übernimmt Verantwortung. Der Albtraum von Persephone zeigt eben sein und des Dichters Gatsos kulturell-politisches Engagement und vor allem ihr Ethos. Der Albtraum der Persephone ist zuallererst Protest.
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dem darauffolgenden Bürgerkrieg (1946–1949) in die damals einzige Großstadt Athen. Die Umwelt ist jedoch (mit wenigen Ausnahmen, z.B. Vassilis Vassilikos, Das Blatt) noch kein Thema. Dieses Phänomen ist u.a. auch auf die sehr späte und eigentlich eher begrenzte Industrialisierung Griechenlands zurückzuführen. Zur Biografie von Manos Chatzidakis siehe Papachristopoulos 2017. Vgl. Hatzigalanou 2015.
»Schlaf, Persephone, in den Armen der Erde«
2. Die Erfüllung des Albtraums Die skrupellose Ausnutzung und Deformation der seit Jahrtausenden unveränderten griechischen Landschaft5 im Namen eines lange ersehnten Wachstums nach der Verwüstung des Zweiten Weltkriegs setzte schon in den 1950er-Jahren ein und ist bis zur ersten großen Ölkrise nie unterbrochen worden. Tatsächlich erreichte Griechenland zwischen 1950 und 1973 eine Wachstumsrate von durchschnittlich 7 %, die zweithöchste weltweit nach Japan. Viele vergessen heute dieses griechische »Wirtschaftswunder«.6 Die griechische Gesellschaft transformierte sich rasch und ungebremst zu einer neureichen Konsumgesellschaft. Besonders während der Diktatur, aber auch danach, begünstigte die Politik Investitionen im Industriesektor. Dazu zählt auch der Bau von riesigen Industrieanlagen in der Umgebung Athens. Ein bis in die 1950er-Jahre durch Armut und die politischen Verfolgungen der Nachkriegszeit und der Diktatur geprägtes Land mit einer Gesellschaft, die wie schizophren zwischen Ost und West pendelte, zwischen patriarchalisch-religiösen und emanzipiert-modernen Vorstellungen, wollte seine unterdrückten Wünsche und Hoffnungen auf sättigenden Konsum realisieren. Vorbehaltlos akzeptierte man diesen Kurs ohne besondere Rücksicht auf die Umwelt. Die Industrialisierung der Region Elefsina zählt zu den frühesten in Griechenland überhaupt. Schon in den 1880er-Jahren erscheinen dort vor allem Seifenfabriken und andere kleine industrielle Anlagen. Die Lage scheint ideal zu sein: ein weiträumiger und immer ruhiger Hafen, die Nähe zur Hauptstadt Athen und zu dem anderen großen Industriehafen von Piräus, ein weites Gelände ohne große Siedlungen und eher billig zu kaufen oder zu enteignen. Durch die Eisenbahn, die seit 1885 in Betrieb ist, gibt es auch eine gute Verkehrsverbindung nach Athen. Die Gründung von »Titan«, der ersten industriellen Zementanlage Griechenlands, im Jahr 1902, steht für den ersten bedeutenden Eingriff in die Landschaft in dieser Umgebung. Die Umweltbelastung wird schon in den 1930er-Jahren spürbar. Zwar protestierte der Stadtrat von Elefsina mit einem Schreiben vom 28. Juni 1938 an die zentrale
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Cornelius Castoriadis sagte in einem Interview im griechischen Fernsehen, dass ein Ort (Griechenland), der seit Jahrtausenden unverändert geblieben war, innerhalb von ein paar Jahrzehnten durch Modernisierung und Industrialisierung »völlig zertrümmert« wurde (Castoriadis 1984). Zu dem sogenannten »griechischen Wunder« vgl. u.a. Allison und Nicolaïdis 1997, 42f.: »[D]uring the protracted growth phase of 1960 to 1973 (the period hailed by many as the ›Greek economic miracle‹) gross domestic product grew at an average annual rate of 7.7 percent, but export of goods and services grew at the much higher average rate of 12.6 percent. Parenthetically, both rates were the highest in Europe at the time, and the second highest among all OECD countries, after Japan.« Allgemeiner zur wirtschaftlichen Entwicklung Griechenlands zwischen den 50er- und 70er-Jahren vgl. Kostis 2013, 754ff.
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Regierung, dies wurde jedoch damals, in der Zeit der Metaxas-Diktatur, nicht berücksichtigt (vgl. Stadtverwaltung Elefsina). 1953 kommt die größte Stahlindustrie Griechenlands nach Elefsina, die »Chalyvourgiki« (Χαλυβουργική), und 1969, also in der Zeit der siebenjährigen Diktatur, entstehen die Werften von Elefsina und noch eine ganze Reihe kleinerer Fabriken. Der Bau der ersten Ölraffinerie beginnt 1972 aufgrund einer »vorläufigen Bewilligung« der Junta. Die Zwangsenteignung der gesamten Siedlung Elefsinia, 200 Hektar Land und 90 Hektar Meer findet statt. Im Jahr 1975, direkt nach der Diktatur, wird die Anlage permanent genehmigt und 1979 die erste Erweiterung beschlossen, die jedoch an der Mobilisierung der Bewohner der Region scheitert. Es handelt sich dabei um die größte Ölraffinerie Griechenlands und um einen der bedeutendsten Energiekonzern Südosteuropas (vgl. ELEFSINA Culture Guide). Die weitere Umgebung von Elefsina wird definitiv zur größten Industrielandschaft Griechenlands. Seit den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren mussten die meisten Industrien jedoch angesichts der Globalisierung und Deindustrialisierung schließen. Heute ist Elefsina eine der größten Stätten für industrielle Archäologie im südlichen Europa. Der Albtraum der Persephone erfüllte sich.
3. Entsakralisierung Der Versuch eines philosophisch motivierten Kommentars zu dem Gedicht kann zunächst probeweise in der These zusammengefasst werden: Der Protest des »Albtraums der Persephone« zeigt emphatisch die brutale Entsakralisierung des Kosmos im Zeitalter einer mittels Technik vollständigen Ausbeutung der Natur aufgrund der Habsucht des Menschen. Die Entsakralisierung beginnt jedoch schon in der Antike. Ein Beispiel enthält die Hymne an die Demeter aus der Sammlung der sogenannten Homerischen Hymnen aus dem sechsten Jahrhundert v. Chr.7 Diese Hymne bezieht sich auf die Rituale, die mit der Entstehung der Mysterien von Eleusis zusammenhängen, und verbindet die Entführung von Persephone mit der Gründung der Mysterien durch die Göttin Demeter. In der Hymne wird erzählt, wie Demeter, nachdem sie von dem allwissenden Gott Helios von der Entführung ihrer Tochter Persephone erfahren hat, sich entscheidet, aus Zorn Zeus gegenüber nicht mehr auf den Olymp zurückzukehren. Sie verhüllt ihr Gesicht mit einem Schleier und gelangt nach Eleusis. Im Palast des Königs Keleos übernimmt sie die Aufgabe, seinen letztgeborenen Sohn zu säugen. Die Göttin möchte das Kind zu einem Gott machen, sie reibt es mit Ambrosia ein und hält es jede Nacht in das Feuer, damit er ewig jung bleibt und unsterblich wird. Aber eines Nachts entdeckt die Mutter des Jungen, Metaneira, dieses sakrale Ritual, stört es mit ihrem Schreien und begeht somit ein Sakrileg. Demeter ruft
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Zum altgriechischen Text s. Homerische Hymne Εἲς Δημήτραν (Perseus Digital Library).
»Schlaf, Persephone, in den Armen der Erde«
aus: »O Ihr unwissenden und gefühlslosen Menschen, die ihr weder euer Schicksal der Stunde noch des Unglücks zu sehen wisst« (Vers 256). Der Junge Demophon kann dem Tod nicht mehr entgehen. Demeter enthüllt sich und erscheint in ihrer ganzen Pracht. Damit das Sakrilegium berichtigt wird, fordert die Göttin, dass ein Altar und ein großer Tempel errichtet werden, in dem sie selbst die Menschen ihre Rituale lehren wird. Das ist der Ursprungsmythos der Mysterien in Eleusis (vgl. Eliade, Bd. I, 1978, 268ff.). Es ist erstaunlich, dass dieser Mythos von Demeter und Persephone in der Volksfantasie der Griechen auch nach der Antike und sogar bis ins 20. Jahrhundert lebendig bleibt, vor allem in christlichen oder untergründig paganistischen Varianten.8 Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts existierte in Eleusis eine antike Statue der Götting Demeter und wurde von den Bauern des Dorfes in der Hoffnung auf Fruchtbarkeit der Erde mit Blumen geschmückt. Diese Statue wurde trotz des bewaffneten Widerstands der Einheimischen 1820 von dem Engländer E.D. Clarke gestohlen – wie auch andere prominente Marmorskulpturen wie die des ParthenonTempels aus dieser Zeit – und der Universität Cambridge geschenkt. Eine andere Variante, die Legende von der sogenannten heiligen Demetra (nach dem christlichen heiligen Demetrios), hörte man in Eleusis bis ins 20. Jahrhundert: Sie erzählt von einer alten Frau aus Athen. Ein »Türke« soll ihr die Tochter gestohlen haben, aber einem tapferen griechischen Jungen, einem Pallikar, gelang es, sie zu befreien.9 Neue Varianten des Mythos entstanden auch im 20. Jahrhundert und die spektakulärste davon dokumentiert auch der Religionswissenschaftler Mircea Eliade in seiner berühmten Geschichte der religiösen Ideen. Das letzte Kapitel des zweiten Bandes trägt den Titel »Die Götterdämmerung« und handelt von dem Ende des Heidentums in der Spätantike. Als »offizielles« Ende wird sogar die Brandschatzung des Heiligtums von Eleusis im Jahr 396 n.Chr. erwähnt. Der antike Kult ist aber eigentlich nie völlig verschwunden; Eliade zitiert eine Episode, die 1940 in den Zeitungsberichten in Athen ausgiebig dokumentiert wurde (vgl. Melas 1940): Die bewegendste Episode der christlichen Mythologie der Demeter ereignete sich Anfang Februar 1940; sie wurde von der athenischen Presse ausführlich berichtet 8 9
Zum Folgenden vgl. Eliade 1979, Bd. II, 351ff. Vgl. Lawson, 1910, 79–98, bes. 79f.: »But at Eleusis, the old home of Demeter’s most sacred rites, the people, it seems, would not brook the substitution of a male saint for their goddess, and yielded to ecclesiastical influence only so far as to create for themselves a saint Demetra (Η Αγία Δήμητρα) entirely unknown elsewhere and never canonised. Further, in open defiance of an iconoclastic Church, they retained an old statue of Demeter, and merely prefixing the title ›saint‹ to the name of their cherished goddess, continued to worship her as before. The statue was regularly crowned with garlands of flowers in the avowed hope of obtaining good harvests, and without doubt prayer was made before it as now before the pictures of canonical saints.«
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und diskutiert. An einer der Haltestellen des Autobusses Athen-Korinth stieg eine Alte zu, »mager und ausgemergelt, aber mit großen, sehr lebhaften Augen«. Da sie kein Geld hatte, um den Fahrschein zu bezahlen, ließ sie der Kontrolleur an der nächsten Station aussteigen; es war genau die Station Eleusis. Aber dem Fahrer gelang es nicht, den Autobus wieder in Marsch zu setzen; schließlich beschlossen die Reisenden zusammenzulegen, um der Alten den Fahrschein zu bezahlen. Sie stieg wieder in den Autobus, der nun wieder ansprang. Da sagte ihnen die Alte: »Ihr hättet das früher tun sollen, aber ihr seid Egoisten; und da ich bei euch bin, werde ich euch noch etwas sagen: Ihr werdet für die Art und Weise, wie ihr lebt, bestraft werden; sogar das Gras und das Wasser werden euch fehlen! […].« Sie hatte ihre Drohung noch nicht beendet, fährt der Autor des Artikels in Estia fort, da war sie schon verschwunden … Niemand hatte sie aussteigen sehen. Man betrachtete sich und betrachtete die Fahrscheinabschnitte, um sich zu überzeugen, daß wirklich ein Ticket ausgegeben worden war (Eliade 1979, Bd. II, 352).
4. Intimität Der paganistische Mythos von Demeter und Persephone bleibt also in seiner christlichen Variante in der Volksfantasie der Griechen bis ins 20. Jahrhundert lebendig. Gatsos’ Gedicht über die Landschaft um Eleusis könnte als eine aktuelle Metamorphose dieses Motivs gedeutet werden und erinnert noch einmal daran, was die Menschen erwartet, wenn sie die Sakralität der Natur nicht respektieren. Die Rede von der Entsakralisierung, verstanden auch im breiten Kontext der Säkularisierung und Entzauberung in der Moderne, ist bekanntlich ein Topos des modernen Selbstverständnisses. Sakralität wird normalerweise fast ausschließlich innerhalb eines religiös-theologischen Paradigmas gedacht. Entweder im Sinne der großen theistischen bzw. monotheistischen Traditionen oder im antiken Polytheismus und Paganismus. Als sakral gilt dann etwas im Kontext einer religiösen Erfahrung: »Religiös« ist der Oberbegriff und »sakral« ist eine Kategorie desselben. Man könnte diesen Sachverhalt jedoch auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Die sakrale Erfahrung könnte als die ursprünglichere verstanden werden und das »Religiöse« wäre dann ein Derivat derselben. Damit wäre sie auch vom Religiösen entkoppelt.10 10
Zu einem breiteren Begriff des Sakralen, des Heiligen, vgl. den immer noch richtungsweisenden Artikel von Albrecht Dihle (1987) unter anderem zur Verschiedenheit des römischlateinischen und des griechischen Begriffs heilig: »An das Wort ἱερός knüpft auch die Religionskritik an, die nicht mehr einen ausgegrenzten Sakralbereich mit eigenen Verhaltensregeln, sondern die ganze, vernünftig geordnete und der menschlichen Vernunft erkennbare und deshalb verehrungswürdige Natur als heilig anerkennt.« (Dihle 1987, 8) Zur allmählichen Entsakralisierung der Natur schon innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition vgl. Encyclopedia of Religion 2005, Bd. 12, S. 7968, s.v. Sacred and Profane: »An important thesis
»Schlaf, Persephone, in den Armen der Erde«
Die Diskussion über eine von der Religion entkoppelte Sakralität floriert seit geraumer Zeit im Feld der Environmental Humanities. Einschlägige Begriffe sind u.a. Deep Ecology oder spirituelle Ökologie, Dark Green Religion, die Gaia Hypothesis, Ecophenomenology, Call of the Wild, Stewardship usw. Die Welt oder die Natur, die Erde oder den Kosmos im ökologischen Diskurs als »sakral« zu betrachten, verleiht ihnen einen intrinsischen Eigenwert und darüber hinaus einen spirituellen Mehrwert. Eine kurzsichtige wirtschaftlich-praktische durch Naturwissenschaft und Technik geprägte Mentalität eines Homo Faber 11 sieht eigentlich keine Natur mehr, sondern nur eine im Dienste des Menschen instrumentalisierbare Umwelt.12 Im Gegensatz zu diesem dominanten neuzeitlichen Paradigma postuliert die re-sakralisierende Einstellung einen immanenten Eigenwert der Natur und des Menschen, des Menschen eben als organischer Teil einer holistisch verstandenen Natur. Dieser Gegensatz zum anthropozentrischen und instrumentalisierenden Zugang zur Natur signalisiert auch eine andere moralische Einstellung, weil jetzt nicht nur Menschen ethischen Wert haben, sondern auch Tiere, Pflanzen, Berge, Landschaften, die ganze Natur. Dieser Einspruch wird auch gegen ein individualistisches Menschenverständnis erhoben. Menschen sind nicht zuerst isolierte Individuen, die dann in Beziehung zu anderen Individuen treten, sondern wir sind, indem wir a priori in Beziehungen stehen, wir sind, indem wir organischer Teil einer Welt sind, oder anders gesagt, der Mensch ist nicht bloß in der Welt, der Mensch ist – mit Heidegger gesagt – ein In-der-Welt-sein. Das ökologische Denken betont einen solchen allumfassenden Lebenszusammenhang und ist skeptisch gegenüber der klassischen Dichotomie von Subjekt und Objekt und insbesondere gegenüber der herrschenden Stellung eines Subjekt-Menschen über einer passiven Objekt-Welt (Mayer-Tasch 1999, 36f.). Der ökologische Diskurs lenkt die Aufmerksamkeit auf eine ursprüngliche Intimität des Menschen mit der Natur, mit dem Kosmos, eine Intimität, die auch als die »älteste Religion« der Menschheit bezeichnet worden ist und als ein Grundbestandteil aller traditionellen, indigenen Kulturen geschätzt wird (Barnhill und Gottlieb 2001, 7). Die Er-
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of secularization theory asserts that the desacralization of the world, especially of nature and its wonders as it was accomplished in the Israelite theology of holiness, and later transmitted by Christianity, was one of the fundamental preconditions for the worldliness of the modern era. If one does not regard this basic precondition as a conditio sine qua non, it is doubtless correctly identified.« Wie z.B. in dem gleichnamigen Roman von Max Frisch (1957). Dazu zählen auch »gut gemeinte« und umweltfreundliche, jedoch wirtschaftlich vorteilhafte Zwecke; vgl. Barnhill und Gottlieb 2001, 2: »Every tree and river, large mammal and small fish, now exists in relation to human action, knowledge, commerce, science, technology, governmental decisions to create national parks, international campaigns to save endangered species, and (God help us) leisure lifestyle choices about mountain bikes, offroad vehicles, and sport fishing.«
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fahrung von Sakralität setzt eine solche Intimität voraus. Der Begriff oder eigentlich das Erlebnis der Intimität ist wichtig als Modell, weil sie eine solche Beziehung des Menschen mit der Natur bezeichnet, die die Natur eben nicht mehr zu einem bloßen Objekt degradiert. Man könnte sogar sagen: Intimität ist die ursprüngliche Beziehung des Menschen zur Natur vor der entsakralisierenden Objektivierung. Es soll hier jedoch betont werden, dass Intimität nicht als ein »grüner Primitivismus« missverstanden werden sollte; die Idee der Intimität darf nicht zu einer kulturfeindlichen, esoterischen Regression verleiten.13 Intimität mit der Natur für den Menschen dürfte nicht den Atavismus eines grob vereinfachenden »zurück zur Natur« bedeuten. Die Conditio humana ist eindeutig durch den Ausgang aus der »natürlichen Situation« und dessen Unbedingtheit gekennzeichnet. Die Intimität sollte auch nicht mit der Animalität verwechselt werden. Tiere sind fundamental durch ihre Natur bedingt, während der Mensch durch seine Trennung von dieser Naturbedingtheit gekennzeichnet ist. Das Menschliche als conditio ist eben die Freiheit von der Naturnotwendigkeit. Besonders in seiner Sprachlichkeit zeigt sich der Mensch als unabhängig von der Natur. Zur Sprache gehören zwei fundamentale Eigenschaften, das Zeigen und das Nennen.14 Mit der Sprache zeigen wir die Dinge und gleichzeitig benennen wir sie. Damit aber Zeigen und Nennen überhaupt möglich sind, ist eine weitere Voraussetzung nötig, nämlich Abstand. Ohne die Erfahrung des Fernen, des Abstands, gelingt kein Zeigen und mithin kein Nennen, also keine Sprache. Das altgriechische Wort für Sprache ist Logos (λόγος) und das dürfte ein Hinweis darauf sein, dass die Fähigkeit des menschlichen Denkens und der menschlichen Vernunft in einem solchen Abstand von den Dingen, in einer solchen Unabhängigkeit von der Natur gründen. Durch diesen Abstand sind die Dinge und die Natur für den Menschen Gegen-stände,15 sie stehen ihm gegenüber, der Mensch ist nicht in den Dingen, obwohl er immer ein In-der-Welt-sein ist. Dadurch, dass der Mensch von seiner Umwelt Abstand nehmen kann, wird eben diese Umwelt zu einer Welt, eine Welt, die auch dann in der Sprache gezeigt und genannt werden kann. Menschen haben eben eine Welt, keine Umwelt. In den Worten Hans-Georg Gadamers: »Erhebung über die Umwelt dagegen ist für den Menschen Erhebung zur Welt und bedeutet nicht ein Verlassen der Umwelt, sondern eine andere Stellung zu ihr, ein 13 14 15
Vgl. z.B. dazu Horkheimer 2008, 135: »Immer wenn der Mensch vorsätzlich Natur zu seinem Prinzip macht, regrediert er auf primitive Triebe.« Hans-Georg Gadamer nennt sie die Rituale des Zeigens und des Nennens, vgl. Gadamer 1993, 400ff. Für eine gründliche Herausarbeitung dieses Ansatzes vgl. Figal 2006; vgl. auch Heidegger 1999, 174: »Besinnen ist ein Vorstellen. Auch das Tier stellt vor, aber das ist ein anderes Vorstellen: Eingesenkt in seine Triebe und somit festgebunden, steht das Tier nicht frei zu dem Vorgestellten. Anders der Mensch: Wenn er vorstellt, hält er etwas aus dem Ozean der Empfindungen, der an seinen Sinnen dahinrauscht, und stellt es in die ›mehrere Helle‹, die er als Mensch hat, ›nimmt es in helle Obdacht‹.«
»Schlaf, Persephone, in den Armen der Erde«
freies distanziertes Verhalten, dessen Vollzug ein sprachlicher ist« (Gadamer 1990, 448; Herv. im O.).16 Intimität bedeutet also kein Sichverlieren ins Animalische, sie muss immer im Einklang mit dieser fundamentalen, die menschliche Freiheit und Vernunft konstituierenden Fähigkeit der Abstandnahme betrachtet werden. Das Gedicht »Der Albtraum der Persephone« zeigt eindringlich die Hybris der gebrochenen Intimität mit der Welt, heute extrem übersteigert in der körperlosen virtuellen oder erweiterten Realität eines Metaverse. Die Heilung der Hybris ist für die Menschen wahrscheinlich jedoch noch eine Möglichkeit, weil die Intimität eigentlich nie gebrochen, sondern nur lange in Vergessenheit geraten ist und von den Menschen wieder anerkannt und in Leben integriert werden kann.
Literatur Allison, Graham T. und Kalypso Nicolaïdis: The Greek Paradox: Promise vs. Performance. Cambridge, MA: MIT Press 1997. Barnhill, David L. und Roger S. Gottlieb (Hg.): Deep Ecology and World Religions. New Essays on Sacred Grounds. New York: State University of New York Press 2001. Castoriadis, Cornelius: Interview in der Sendung des griechischen Fernsehens Paraskinio (Παρασκήνιο), Sommer 1984, https://archive.ert.gr/68811/, ab 57:00 (1. Februar 2022). Dihle, Albrecht: s.v. Heilig. In: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 14. Stuttgart: Anton Hiersemann 1987, 1–63. ELEFSINA Culture Guide: Διυλιστήρια Ελευσίνας (Πρώην »ΠΕΤΡΟΛΑ«), www.elefsinaculture.gr (5. Juni 2021). Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen, Bd. I: Von der Steinzeit bis zu den Mysterien von Eleusis. Übersetzt von E. Darlap. 2. Aufl. Freiburg: Herder 1978. Bd. II. Von Gautama Buddha bis zu den Anfängen des Christentums. Übersetzt von A. MüllerLissner und W. Müller. Freiburg: Herder 1979. Encyclopedia of Religion. 16 Bände. Hg. von Mircea Eliade. 2. Aufl. New York, London: Collier Macmillan 2005. Figal, Günter: Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie. Tübingen: Mohr Siebeck 2006. 16
Vgl. auch Gadamer 1990, 446f.: »Die Sprache ist nicht nur eine der Ausstattungen, die dem Menschen, der in der Welt ist, zukommt, sondern auf ihr beruht, und in ihr stellt sich dar, daß die Menschen überhaupt Welt haben. […] Welt haben heißt: sich zur Welt verhalten. Sich zur Welt verhalten erfordert aber, sich von dem von der Welt her Begegnenden so weit freihalten, daß man es vor sich stellen kann, wie es ist. Dieses Können ist ineins Welt-haben und Sprachehaben. Der Begriff der Welt tritt damit im Gegensatz zu dem Begriff der Umwelt, wie sie allem auf der Welt seienden Lebendigen zukommt.« Zur Beziehung zwischen Sprache, Welt und Abstand vgl. auch Raspitsos 2013, 148ff.
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Gadamer, Hans-Georg: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 6. Aufl. Gesammelte Werke, Band 1. Tübingen: Mohr Siebeck 1990. Gadamer, Hans-Georg: Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1992). In: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage. Gesammelte Werke, Band 8. Tübingen: Mohr Siebeck 1993, 400–440. Hatzigalanou, Arianna (Αριάννα Χατζηγαλανού): »Τα Παράλογα« του Μάνου Χατζιδάκι. Μια τολμηρή δουλειά του 1976 θα κυκλοφορήσει αυτό το Σάββατο μαζί με την εφημερίδα Επένδυση. In: Popaganda, 26. März 2015, https://popaganda.gr/ art/ta-paraloga-tou-manou-chatzidaki (11. Mai 2022). Heidegger, Martin: Vom Wesen der Sprache. Die Metaphysik der Sprache und die Wesung des Wortes. Zu Herders Abhandlung »Über den Ursprung der Sprache« (1939). Gesamtausgabe 85, hg. von Ingrid Schüßler. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1999. Homerische Hymne Εἲς Δημήτραν. In: Perseus Digital Library, https://www.perseus.t ufts.edu/hopper/text?doc=Perseus%3Atext%3A1999.01.0137%3Ahymn%3D2 (21. Oktober 2021). Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft [1967]. Frankfurt a.M.: Fischer 2008. Kostis, Kostas (Κώστας Κωστής): Τα κακομαθημένα παιδιά της ιστορίας. Η διαμόρφωση του νεοελληνικού κράτους. 18ος -21ος αιώνας. Athen: Πόλις 2013. Lawson, John C.: Modern Greek Folklore and Ancient Greek Religion. Cambridge: Cambridge University Press 1910. Mayer-Tasch, und Peter Cornelius: Politische Ökologie. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer Fachmedien 1999. Melas, Spyros (Σπύρος Μελάς): Από την ζωήν. Θαύματα. In: Εστία, 7. Februar 1940 ht tps://digitallib.parliament.gr/library.asp?item (26. Mai 2022). Papachristopoulos, Ioannis: Griechische Komponisten: Manos Hadjidakis/ Έλληνες μουσικοσυνθέτες: Μάνος Χατζιδάκις. Ιn: Hermes (Deutsch-Griechische Zeitschrift) 2 (2017): 35–39. Raspitsos, Kosmas: Die Latinisierung des Griechischen. Übersetzung, Verstehen und Sprache im Ausgang von Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013. Schah, Immanuel: Gedichte und Lieder aus der griechischen Kinder- und Jugendliteratur (Interlinearparaphrasen und Analysen), 2017, https://www.researchg ate.net/publication/338584894_Gedichte_und_Lieder_aus_der_griechischen_ Kinder-_und_Jugendliteratur_Interlinearparaphrasen_und_Analysen (15. Mai 2022). Stadtverwaltung Elefsina: Βιομηχανική Ανάπτυξη (Industrielle Entwicklung), https: //elefsina.gr/el/biomixaniki-epanastasi (26. Mai 2022).
Unsichtbare Zusammenhänge Die Bedeutungslosigkeit des Klimawandels für den fossilen Autoritarismus Manuel Clemens
Im Jahre 1817 erstellte der reisefreudige Naturforscher Alexander von Humboldt die erste Klimakarte. Die Daten hatte Humboldt über einen Zeitraum von 40 Jahren gesammelt, und sie stammen von 58 verschiedenen Wetterstationen (Schneider 2018, 119). Die Karte machte aus unzähligen einzelnen Wetterdaten die erste sichtbare Darstellung des Klimas. Das Wetter braucht so eine Karte eigentlich nicht. Denn im Gegensatz zum Klima ist das Wetter ja immer sofort sichtbar, weil es tagtäglich in seinen unterschiedlichen Formen erfahren wird. Es braucht keine besondere Abbildung, um seine Existenz zu begreifen, muss man nur aus dem Fenster schauen oder das Haus verlassen. Klima benennt dagegen etwas Abstrakteres, da es den Verlauf und den Trend des Wetters über längere Zeiträume – Jahre, Jahrzehnte – angibt. Es ist etwas Addiertes und Errechnetes, daher braucht es ein zusätzliches Verfahren, um dargestellt werden zu können. Das bedeutet: Klimakarten stellen aus dem sichtbaren und erfahrenen Wetter das Unsichtbare des Klimas heraus – und es ist genau dieses Zusammendenken von Unsichtbarem und Sichtbarem, das Leugner, Skeptiker und Ignoranten des Klimawandels nicht leisten wollen (oder können). Das Einzige, was für sie zählt, ist das konkret erfahrbare Wetter. Die Darstellung des Klimas, die Klimawissenschaft und der sich abzeichnende Klimawandel werden von ihnen nicht ernst genommen, und die Abstraktionshöhe der Klimafrage macht es ihnen leicht, den Wandel in Frage stellen, da Menschen stärker auf das Konkrete reagieren als auf das Unanschauliche: »Selten hat ein naturwissenschaftliches Phänomen für derartige Zwiespältigkeiten gesorgt. Während wir im Allgemeinen den Einschätzungen einer breiten Mehrheit von Naturwissenschaftlern vertrauen, wie sie der IPCC hinsichtlich des Klimawandels vorgestellt hat, sind Zweifel an diesem speziellen Votum an der Tagesordnung« (Gesang 2011, 15). Der folgende Beitrag befasst sich mit der Unsichtbarkeit des Klimawandels, der deshalb leicht zu leugnen ist, und den sich daraus ergebenden Problemen. Als Ausgangspunkt wird angenommen, dass es zur Skepsis, Ignoranz und Leugnung des Klimawandelns kommen kann, weil dieser für die unmittelbare Erfahrung zunächst
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nicht fassbar ist: Kommt es zu verstörenden Erfahrungen mit dem Klimawandel durch extreme Hitze, extreme Trockenheit oder extremen Regen, dann sind diese zwar als Wetterphänomene sichtbar und erlebbar, werden aber nicht in Korrelation mit einem sich wandelnden Klima gebracht. Außergewöhnliche Wetterereignisse werden dann bloß als singuläre Momente wahrgenommen und nicht automatisch in den Kontext des Klimawandels gestellt. Den Anstieg der globalen Temperatur um 1,5 Grad oder 2,0 Grad wird man an keinem Ort der Welt konkret spüren können, und auch er bleibt in diesem Sinne unsichtbar. Der Titel dieses Aufsatzes »Unsichtbare Zusammenhänge« hat jedoch noch eine weitere Dimension. Zweifel am und Ignoranz des Klimawandels ergeben sich nämlich nicht nur aufgrund der Abstraktion ihrer Darstellungen. Ihnen liegt auch eine ökonomische Dimension zugrunde: Schließlich führt es zu finanziellen Verlusten, wenn man das Klima schützt – und im Gegensatz zu den abstrakten Bildern des Klimawandels erfährt man klimaschützende Einschränkungen, Einsparungen und Verluste ganz unmittelbar und konkret. Somit stehen sich, wenn es um den Schutz des Klimas geht, immer zwei gegensätzliche Pole gegenüber: Auf der einen Seite Klimawandeldarstellungen, die aus dem Unsichtbaren zu kommen scheinen und die einzelnen Wetterphänomene miteinander verbinden. Und auf der anderen Seite konkrete Schutzmaßnahmen, die auf deutlich spürbare Einschränkungen drängen, die sichtbare Verluste nach sich ziehen. Dieser Brennpunkt ist so bekannt wie selbstverständlich. Weniger selbstverständlich ist vielleicht der Bezug zu den Theorien autoritärer Charakterstrukturen wie er im Untertitel mit der Formel »fossiler Autoritarismus« angedeutet ist. Ich führe dieses Theorem der Frankfurter Schule – das in der gegenwärtigen Verschiebung der politischen Tektonik neuer Autoritarismen wieder Aktualität erlangt hat1 – in die Diskussion ein, weil die wissenschafts- und abstraktionsfeindlichen Skeptiker, Ignoranten und Leugner nicht einfach nur profitgierig sind, sondern man auch einer »inneren« Dimension ihres Verhaltens nachgehen kann. Hierzu liefert das Konzept des autoritären Charakters das notwendige Handwerkzeug, da es sich sowohl auf den ökonomischen Geist als auch auf die unbewussten Dimensionen des menschlichen Verhaltens bezieht. Somit geht es in diesem Artikel um die unsichtbaren Korrelationen zwischen Wetter, Klima und Klimawandel sowie um den vom Realitätsprinzip gesteuerten autoritären Charakter, der nichtrealitätsprinzipgerechte Unsichtbarkeiten nicht ernst nimmt und bekämpft. Der autoritäre Charakter zeichnet sich demnach durch Eigenschaften aus, die ihn weder für das Unsichtbare noch für das Abstrakte sensibilisieren. In der klassischen Definition durch Erich Fromm (1980a; 1980b) und Theodor W. Adorno (Horkheimer und Adorno 2003; Adorno 2003) lassen sich folgende Hauptcharakteristi1
Zur Gegenwart des autoritären Charakters in der Politik siehe Clemens, Päthe und Petersdorff 2022; Stahl et al. 2020; Decker und Brähler 2018.
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ka finden: Der autoritäre Charakter verfügt über einen Wunsch nach Stärke, Härte und einfacher, hierarchischer Ordnung. Er drängt außerdem auf die klare und wertende Aufteilung in Innen und Außen, auf die fraglos einfache Trennung des Männlichen und Weiblichen, dem dazugehörigen, der Reproduktion verpflichteten Familienmodell. Er lehnt nicht nur Selbstkritik ab, sondern jede Form einer sich skeptisch ergründenden Selbstbetrachtung. Darüber hinaus zeigt er ebenfalls eine feindselige Ablehnung von Differenzierungen, Nuancen und überhaupt allem, was den Anschein des Intellektuellen hat, Bildung wird – wenn überhaupt – dann nur als abgepacktes Kanonwissen akzeptiert, dessen Verzerrtheit und Instrumentalisierung nicht infrage gestellt werden dürfen. Desweiteren drängt er auf die eindeutige Identifizierung von Homosexuellen und Geschlechtsnonkonformen. Fremde bzw. vermeintlich Fremde werden als zersetzende Kraft wahrgenommen und dienen als Projektionsfläche. Er verfügt über eine Opferbereitschaft gegenüber den (falschen) Eliten und glaubt letztlich daran, dass Gewalt gegenüber allem erlaubt ist, was einen vermeintlich bedroht oder den eigenen Wünschen und Vorstellungen entgegensteht. Es versteht sich fast schon von selbst, dass er den Klimawandel dem Bereich der Selbstkritik, des Schwachen, dem Unhierarchischen und dem Nuancierten zuordnet und somit auch zu dem, was nicht weiter zählt und ignoriert werden kann: Die Fakten sind zu wenig sichtbar, die Klimabilder zu ästhetisch – wieso sollte man so etwas Schwaches an sich heranlassen, zumal es sich gegen die eigene Bequemlichkeit und den Wohlstand richtet? (Vgl. Clemens, Päthe und Petersdorff 2022, 4f.). Sämtliche dieser Hauptcharakteristika verdichten sich im Zusammenhang von Klimawandel und fossilem Autoritarismus. Die Politikwissenschaftlerin Cara Daggett hat hierfür die griffige Formel »Petro-masculinity« gefunden (Daggett 2018, 2022).2 Fossile Energien betrachtet sie als Träger bestimmter männlicher Subjektivierungsformen – von ihnen werden aber auch Frauen geprägt, wenn sie sich dort einordnen. Petromaskuline Subjektivitäten konstituieren sich aus dem sicheren, privilegierten Lebensstil, den die Industrialisierung dem Westen ermöglicht hat. Forderungen, die Grenzen des Wachstums zu bedenken und sich mit erneuerbaren Energien in einer grünen, ökologisch bewussten Welt einzurichten, erleben diese Personen dann als Bedrohung ihres innersten Selbst, das sich beispielsweise gerade über die Größe, Kraft und Geschwindigkeit ihres Autos und anderer technischer Errungenschaften konstituiert.3 Ist diese maskuline Sicherheit 2 3
Ein erweiterter Essay dieses Aufsatzes ist vom Verlag Matthes und Seitz für November 2022 angekündigt, also nach Redaktionsschluss des vorliegenden Beitrags. Den Zusammenhang von Automobil und Maskulinität beschreibt Daggett ausführlich am Beispiel des »Rolling Coal« (Daggett 2018, 40). Hier wird der Dieselmotor umgebaut, damit man damit große Mengen an schwarzem Rauch aus dem Auspuff ausstoßen kann. Das machen petromaskuline Männer (und auch Frauen) besonders gerne, wenn sie Rad- oder Teslafahrer überholen, um ihre unbesiegbare fossile Kraft herauszustellen. Die entsprechenden Videos finden sich zuhauf auf Youtube und Instagram.
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bedroht, so Daggetts Argument, wendet man sich einer Politik des Autoritarismus zu, da diese die Stabilisierung des bedrohten Status verspricht und ein »Weiter so« garantiert (Daggett 2018, 35). Trump und seine energiepolitischen Versprechungen sind hierfür das beste Beispiel (ibid., 27). In dieser Fokussierung dürfte deutlich geworden sein, vor welche Probleme der abstrakte Klimawandel die Menschheit stellt. Petromaskulin sozialisierte Personen erleben den Übergang zu nachhaltigen Energie- und Antriebsformen als einen persönlichen Verlust, so sehr ist ihr Leben mit dieser Technologie der Verbrennungsmotoren verbunden. Ihr Prestige und Expertenwissen schwindet dahin, wenn plötzlich Energieformen im Fokus stehen, die aus einem Milieu kommen, das sie bisher stets als »schwach« abgewertet haben. Das zentrale Problem an dieser Stelle ist, dass es ihnen der unsichtbare Zusammenhang zwischen Wetter und Klima leicht macht, ihn phänomenologisch zu leugnen. Von den rechten politischen Strömungen wird dieses Thema dann begierig aufgegriffen.4 Um diesem Selbstbehauptungsmechanismus auf den Grund gehen zu können, muss etwas weiter ausgeholt und das autoritäre Syndrom in seiner Allgemeinheit beschrieben werden. So kommen die Ursachen für eine autoritäre Realitätsorientierung in den Blick, an die sich latent unsichere Menschen immer schon geklammert und versucht haben, diese Umklammerung immer dann zu verstärken, wenn man ihre (prekäre) Sicherheit in Frage stellt. Diese Reaktion findet man selbstverständlich nicht nur auf dem Gebiet der Petromaskulinität. Sie tritt immer dann auf, wenn selbstverständliche Gewohnheiten in Frage gestellt werden, die Infragestellungen aber auch schwach genug sind, um die Gewohnheiten im Modus der Beharrung verteidigen zu können.
1. Dimensionen des Sichtbaren und Handfesten: Der autoritäre Charakter Die theoretische Erfassung des autoritären Charakters beginnt im 20. Jahrhundert mit Gustave Le Bon und Sigmund Freud. Le Bon interessiert sich für die Konstitution und Eigenschaften von Menschenmassen und stellt fest, dass das Individuum darin leichtgläubiger, irrationaler und intoleranter wird. Individuelle Kulturleistungen wie Kritik und Reflexion verschwinden in der Masse und das Individuum verliert sich in ihr, indem es sich auf einen primitiveren Zustand zurückentwickelt, in dem es hypnotisiert einem Führer folgt (vgl. Le Bon 1982). Freud greift diese Beobachtung in Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) auf. Ihn interessiert vor allem, wieso die Masse hypnotisiert auf ihren Anführer reagiert. 4
2019 wollte die AfD die Leugnung des menschlichen Einflusses auf das Klima zum großen Thema machen (Kamann 2019).
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Le Bon hatte diesen Punkt vernachlässigt, weshalb Freud in seiner Untersuchung über die Massen zwar eine aufschlussreiche Darstellung der Regression des Individuums findet, jedoch keine Analyse dieses Mechanismus, also eine Klärung der Frage, aus welchem Grund diese primitive Rückentwicklung des Individuums auf eine kollektive Massenhypnose stattfindet. (Freud 1975) Die Antwort, die Freud findet, geht auf sein Modell des sich in der Familie ausbildenden Verhältnisses zwischen dem «Ich«, »Über-Ich« und »Es« zurück. Das »Über-Ich« identifiziert Freud dabei mit den Regeln und Geboten des Vaters, welche das »Ich« prägen und das »Es« im Zaum halten. Mit zunehmendem Alter des Heranwachsenden treten an die Stelle der väterlichen Autorität andere soziale Figuren, wie Erzieher, Lehrer und Vorgesetzte – oder eben der Redner vor einer Menschenmasse. Die Entstehung von Autorität beschreibt Freud vor allem in Totem und Tabu (1913). Hier nimmt er einen repressiven Urvater an, gegen den die Söhne rebellieren, um ihre Rechte durchzusetzen. Da jedes Individuum bzw. jede Familie diesen Prozess ontogenetisch noch einmal wiederholt, ist jeder Vater zunächst eine unhinterfragte Autorität, gegen die der Sohn rebellieren muss. Autorität wird von Freud somit weitgehend mit dem Patriarchat gleichgesetzt. Das Verhältnis zur Autorität gestaltet sich dabei nach der jeweiligen Ausprägung des Ödipuskomplexes. Für Freud ist das »Über-Ich«, also der Ort der Autorität, ein »Erbe des Ödipuskomplexes«. (vgl. Freud 1975, 274). Da der Heranwachsende sich mit dem Vater identifiziert, verspürt er im Laufe seiner Entwicklung irgendwann auch die gleiche sexuelle Lust auf seine Mutter wie der Vater. Da ihm dies vom Vater jedoch verboten wird, gerät er zum ersten Mal in seinem Leben in einen Konflikt mit der Autorität, der nur schwer lösbar ist. Für beide Momente – also für die Lust und das Verbot – ist der Vater der Ursprung, und das zukünftige Verhältnis des Sohns zur Autorität gestaltet sich von nun an dadurch, welchem Moment er mehr Gewicht verleiht. Ist es die Lust, so stellt er damit gleichzeitig auch die Autorität des Vaters in Frage; ist es das Verbot, umgeht er den Konflikt mit der Autorität und identifiziert sich mit dem von ihr befohlenen Verhalten. Der autoritäre Charakter, das sei hier schon vorweggenommen, wird dann das Individuum sein, das seine Wünsche nicht in der Freiheit, sondern in dieser rigiden Form der Unfreiheit befriedigt und diese Urform genauso beibehält wie auch in zahlreichen Varianten auf andere Situationen überträgt. Der Preis für Unterordnung und Hörigkeit ist, dass die eigenen Wünsche nicht befriedigt werden. Dies führt zu einem weiteren Gesichtspunkt: Die ausbleibende Befriedigung wird nämlich dadurch kompensiert, dass das Individuum stattdessen Anerkennung und Sicherheit seitens der Autorität erhält und diese auch aktiv sucht, d.h. versucht, der Autorität durch Gehorsam zu gefallen. Fromm spricht in diesem Kontext von einer Lust am Gehorsam (Fromm 1980, 168), weshalb es für ihn auch kein Wunder ist, dass es die Mächtigen schaffen, so viele Menschen zur Unterordnung zu »zwingen«.
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Allerdings gibt es für Fromm in der Charakterstruktur eines autoritären Menschen nicht nur die Lust zu gehorchen, sondern auch die Lust, selbst Macht auszuüben. Das heißt, gehorcht wird dann den Stärkeren, und die eigene Macht wird an den Schwächeren ausgeübt. Deshalb spricht er auch vom »autoritärmasochistischen Charakter« (ibid.). Fromms Problemzusammenhang besteht also mehr in der Unterordnung und dem Sichbeherrschenlassens und ist nicht so sehr die Folge von Lustverdrängung. Allerdings führt er mit der Beschreibung des autoritären Charakters als einen nach oben gehorchenden und nach unten befehlenden Menschen bereits die Formel ein, die später für Adorno wichtig wird und auch den zentralen Ausgangspunkt dieser Untersuchung darstellt. Das zentrale Problem für Adorno ist nämlich, dass die Triebumleitung, also die Lust am Ungehorsam dem Vater und anderen Autoritäten gegenüber, in der Unterordnung nicht vollständig befriedigt werden kann.5 Wird die Lust am Ungehorsam durch Anpassung kompensiert, dann ist ein Teil von dieser Lust immer noch unbefriedigt und muss verdrängt werden. Und es ist die Rückkehr des Verdrängten, das für Adorno den autoritären Charakter als Anhänger von Faschismus und Antisemitismus bzw. als Betrachter der Welt in Klischees und Feindbildern produziert.6 Der Antisemitismus zeigt für Adorno, dass der angepasste und mit ausbleibenden Ödipus- bzw. Autoritätskonflikt lebende Mensch Minoritäten hassen muss, die in seinen Augen in einer weniger triebunterdrückenden Zwangsgemeinschaft leben. Mit Blick auf Minderheiten und Außenseitern wird ihm bewusst, dass Anerkennung und Schutz durch Autoritäten doch nicht die höchste Lustbefriedigung darstellen. Diese Wahrnehmung führt jedoch nicht zur Anerkennung der Außenseiter oder sogar zu einer Orientierung an ihrer Non-Konformität und dem Besonderen, sondern zum Gegenteil: nämlich der erneuten autoritären Triebbefriedigung in Form einer (lustvollen) Verachtung von Außenseitern und den Schwächeren. Diese Umleitung stellt einen Vorgang dar, den Adorno als eine »falsche Mimesis« (ibid., 194) bezeichnet. Mimesis heißt für ihn, um es ganz kurz zu sagen, ein Vorgang, der es dem Menschen erlaubt, wieder mit seiner Natur in Kontakt zu treten, und das bedeutet auch die Möglichkeit, zu einer realen Triebbefriedigung zu gelangen. Falsch ist die Mimesis des autoritären Charakters für Adorno, weil dieser durch sein Hassen zwar aus seinem gehorsamen Korsett ausbricht, dies jedoch in einem Bereich geschieht, wo er sein Realitäts- und Gehorsamkeitsprinzip nicht verletzt. Er 5 6
Horkheimer und Adorno 2003; hier insb. das Kapitel »Elemente des Antisemitismus«. Der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent weist in seinem Vortrag aus dem Jahre 2021 »Rechtfertigung der Ungleichheit – Sozialpopulismus, Kulturkampf und Klimarassismus der radikalen Rechten« auf den oft konstruierten Zusammenhang zwischen Klimawandel und jüdischer Weltverschwörung hin. Der Piper Verlag kündigt außerdem ein Buch zu diesem Thema im September 2022 an, das nach Redaktionsschluss für diesen Sammelband erscheinen wird: Mathias Quent, Axel Salheiser und Christoph Richter, Klimarassismus. Der Kampf der Rechten gegen die ökologische Wende, München 2022.
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kann im Hass auf Minderheiten für kurze Zeit Erleichterung und Lust verspüren, jedoch ohne die Autorität in Frage zu stellen, was ja die eigentliche Lustbefriedigung darstellen würde. Im Hass auf die Minderheiten bildet sich die Lustbefriedigung in einem Bereich, der die Autorität nicht tangiert. Die falsche Mimesis führt desweiteren auch zu einer falschen Erkenntnis der Welt. In der »echten« Mimesis macht sich das Individuum der Natur ähnlich, in der falschen Mimesis ist es genau umgekehrt: Der Einzelne gleicht die Umwelt seiner Weltwahrnehmung an. Er passt sich nicht mehr einem fremden und mächtigeren Außen an, sondern das Fremde wird auf das Vertraute reduziert. Das Subjekt verkleinert sich dadurch, da es sich nicht durch neue Einsichten erweitert. Gleiches gilt für das Objekt, weil es auf das, was das Subjekt von ihm weiß, eingeschränkt wird. Diese Reduktion geschieht in der falschen Projektion dadurch, dass Triebregungen, die dem Subjekt eigen sind und die es ablehnt, von diesem nicht ausgelebt, sondern dem Objekt zugeschrieben und vorgeworfen werden. Seit Kant wird davon ausgegangen, dass ein Subjekt niemals das Objekt an sich erkennt, sondern nur, was es selbst in das Objekt projiziert. Die Wahrnehmung ist damit immer vom Subjekt abhängig, welches mit seinen Interpretationen versucht, die Lücke zwischen sich und dem Objekt zu schließen. Da sein Wissen über das Objekt nur Interpretationen sind, muss das Subjekt immer bereit sein, diese kritisch zu reflektieren und ggf. zu ändern. Geschieht dies nicht, kommt es nicht mehr, wie im Positivismus und im Idealismus, zu einem Austausch zwischen den beiden, und die Projektion wird falsch: Da es nicht mehr den Gegenstand reflektiert, reflektiert es nicht mehr auf sich und verliert so die Fähigkeit zur Differenz. Anstatt der Stimme des Gewissens hört es Stimmen; anstatt in sich zu gehen, um das Protokoll der eigenen Machtgier aufzunehmen, schreibt es die Protokolle der Weisen von Zion den anderen zu. Es schwillt über und verkümmert zugleich (ibid., 199). Damit erkrankt der intellektuelle Apparat des Individuums, er erklärt ihm die Welt nicht mehr, und das Individuum wird nicht mehr bzw. falsch über sich und die Welt aufgeklärt. Es erhält durch die falsche Projektion kein Mittel, um sich aus Herrschaft zu befreien. Alle Befreiung ist vergeblich, da die Reflexion über den eigenen Zustand zu beschränkt ist. Da es diese Schwäche nicht bemerkt, hält es sich für so stark, die Welt nach seinen Vorstellungen wahrnehmen und bilden zu können. Für Adorno ist dieses Subjekt paranoid; es leidet an Größen- und Verfolgungswahn, da die Welt zum Inbegriff von Projektionen geworden ist, es beurteilt sie nach subjektiven Zwecken und ist unfähig, die Vermittlung von Subjekt und Objekt zu denken. Durch das vergegenständlichende Denken tut es sich selbst und der Umwelt bereits jene Gewalt an, die ihm dann später in der Praxis selbst widerfährt. Dieser Realismus hat im Faschismus seinen Höhepunkt, der als ein Spezialfall der Paranoia angesehen werden kann.
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Die falsche Projektion des autoritären Charakters ist natürlich eng mit Halbbildung und der Kulturindustrie verbunden – »Paranoia ist das Symptom der Halbgebildeten« (ibid., 205). Sie besetzt alles, woran die Erfahrung nicht heranreicht, mit verkürzten Begriffen und Klischees und zeichnet sich, im Gegensatz zur Unbildung, dadurch aus, dass sie ihr beschränktes Wissen größenwahnsinnig als Wahrheit annimmt. Deshalb gibt es durch die falsche Projektion nur noch ein Denken in Klischees, das an die Stelle von realer Erfahrung und Phantasie tritt: »Das Wahrzunehmende ist im Prozeß der Wahrnehmung nicht mehr gegenwärtig« (ibid., 211). Dies ermöglicht in leeren Begriffen zu denken und die Welt in einfache Schemata aufzuteilen. Es kann beispielsweise nur noch zwischen Freund/Feind, zwischen Jude/ Nichtjude unterschieden werden, differenzierter zu urteilen wäre zu anstrengend und wird von der Gesellschaft auch nicht honoriert. Von Urteilen kann in diesem Zustand aber keine Rede mehr sein, die Gesellschaft ist auf den »urteilslosen Vollzug des Urteils regrediert« (ibid.). So jemand kann mit dem Unsichtbaren, das ihm Verluste beschert, nichts anfangen. Klima und Klimawandel – so werden die folgenden Kapitel zeigen – befinden sich aufgrund ihrer schwachen Begrifflichkeit auf der gleichen Stufe, wie alles, was diese Menschen den Außenseitern als schlechte Eigenschaften zuschreiben oder Verhöhnen: Weichheit, Schwäche, Schutzbedürftigkeit, Privilegierung, Sensibilität und Künstlertum. Deshalb gibt es ein Korrelationsproblem zwischen der Unsichtbarkeit des Klimas und seinem Wandel.
2. Dimensionen des Unsichtbaren: Das Klima und der Klimawandel Wie bereits gezeigt: Klima ist nur schwer sichtbar zu machen. Wenn aber schon das Klima (fast) unsichtbar ist, wie steht es dann erst um die Darstellbarkeit des Klimawandels? Um dieser Frage nachgehen zu können, beziehe ich mich im Folgenden auf die Phänomenologie des Klimas und des Klimawandels von Julien Knebusch (2008), der Möglichkeiten zur Erfahrung des Klimawandels sieht, komme aber zu dem gegenteiligen Schluss, nämlich dass man sich, wie bereits am Beispiel des autoritären Charakters ausgeführt, der Wahrnehmung vom Klima und seinem Wandel ziemlich gut entziehen kann.
Das Klima Klima als Stimmung. Fragt man »Wie ist das Wetter?«, ist diese Frage leicht zu beantworten. Jeder hat eine Antwort auf die Frage, wie das Wetter ist und ob man damit zufrieden sein kann. Das bedeutet im Anschluss auch, dass Wetterveränderungen gut nachvollziehbar festgestellt werden können. Wie ist das aber mit dem Klima? Selbst wenn ich in eine andere Klimazone reise, fragt mich niemand »Wie ist das
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Klima?« – man bleibt bei dem leicht zu erfassenden Wetter und fragt selbstverständlich: »Habt Ihr gutes Wetter?«. Damit aus der Erfahrung des Wetters bzw. aus der viel weniger direkten Erfahrung des Klimas auch tatsächlich eine greifbare Klimaerfahrung wird, dafür braucht es also einiges mehr als nur die Erfahrung. Laut Knebusch folgt daraus, dass Wettererfahrungen zeitlich ausgeweitet werden müssen, damit es zu einer Klimaerfahrung kommen kann. Das bedeutet, ich muss in der Lage sein, unterschiedliche Jahreszeiten über einen längeren Zeitraum hinweg zu vergleichen, um aus dem Wetter eine Dauer zu machen. Die Dauer entsteht durch die Verbindung der Erfahrung zu einer Intuition des Klimas, also zu dem, wie das Klima dauerhaft sein könnte: Meine innere Erfahrung des Wetters, wird anschließend mit dem Außen abgestimmt und führt zu einer Tiefe. Diese Tiefenerfahrung ist die Erfahrung des Klimas (ibid., 246f.). Jedoch – und das ist konstitutiv für die Sichtbarkeit des Klimas – brauche ich auch das Interesse an dieser Tiefenerfahrung und muss mich auf diese Stimmung einlassen. Habe ich dieses Interesse nicht, erfahre ich das Klima weiterhin bloß als singuläre Wettermomente, die – wenn es regnet – mein Vorhaben unterbrechen, jedoch keinen grundlegenden Wandel anzeigen, da das gewünschte Wetter schon wieder kommen wird. Klimaerfahrung geht somit auf die Gestaltung meiner Sinnlichkeit zurück. Fehlende Korrelationen. Anders gesagt, der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung bei Veränderungen im Klima ist sehr verschwommen, wenn nicht unsichtbar: Die ökonomischen Vorteile der Treibhausgasemission sind individuell bzw. lokal spürbar, die negativen Folgen wirken sich aber nur global aus und werden somit von den Verursachern nicht direkt gespürt. Die Freiheit der einen bedroht die Existenz der anderen, was die Freiheit aber nicht ausbremst, da die Verursacher nicht lokal sichtbar sind, sondern global-unspezifisch, so dass die Verursacher nicht zur Verantwortung herangezogen werden können. Die Strukturen, die dieses Korrelationsproblem hervorbringen, sind ebenfalls für die Individuen nicht einsehbar, auch wenn sie die Regeln vorgeben, nach denen sie agieren müssen. Sie spielen nicht nur mit, sondern ihnen wird auch mitgespielt, wie Günther Anders einmal geschrieben hat (1987, 1). Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass positive Handlungen ebenso unsichtbar bleiben können wie negative – klimaschützende ebenso wie klimaschädliche (Hardin 1970, 38). Durch diese Unsichtbarkeit und fehlende Korrelation erscheint das, was man vom Klimawandel wahrnimmt als sehr stark fragmentiert. Keiner weiß genau, was der andere macht, alles kann man auf die anderen zig Millionen Menschen schieben bzw. auf die Institutionen in denen sie agieren. Es gibt keine Strukturen, welche das fragmentierte Handeln und die fragmentierten Wahrnehmungen global entweder sanktionieren oder zum Guten hin koordinieren könnten. Um den Klimawandel zu sehen, kann man sich nicht auf das unmittelbare Wetter verlassen. Seine Sichtbarkeit hängt davon ab, ob man sich darum bemüht, in kritischen Zusammenhängen zu denken. Das bedeutet, sich auf Abstraktionen aus Wissenschaft und Politik einzu-
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lassen. Anders gesagt, wer das Klima nicht wahrnimmt, ignoriert auch den Klimawandel. Dies legt die Frage nahe, ob Klimaerfahrung nicht sogar die Voraussetzung für die Sorge um das sich verändernde Klima ist.
Klimawandel Klima als Begriff. Doch Klima ist nicht nur Stimmung. Es kann auch auf dem Gegenteil von Sinnlichkeit beruhen und abstrakt aufgefasst werden, nämlich als Begriff. Das sagt auch Gernot Böhme in seiner Phänomenologie des Wetters (2003, 148f.). Um das Klima und seinen Wandel festzustellen, muss ich ja die Wettererfahrungen, die ich über einen sehr langen Zeitraum gemacht habe, miteinander vergleichen. Diese Erfahrung muss erst einmal zu einer Klimavorstellung und dann auch noch zum Wandel dieser Vorstellung anwachsen. Das kann nicht alles von der Erfahrung geleistet werden, sei sie auch noch so sensibel, sondern muss über die begriffliche bzw. wissenschaftliche Abstraktion geschehen (Knebusch 2008, 249f.). Mit Begriffen, die weit entfernte Beobachtungen miteinander verbinden, kann ich dann auch ungewöhnliche Wetterphänomene miteinander vergleichen und sagen, dass dies wohl der Klimawandel sein müsse. Klimawissenschaft ist eine Datenwissenschaft, die lange Zeitperioden – wie das vor- und das nachindustrielle Niveau der Erderwärmung – vergleicht. Das übersteigt deutlich die menschliche Lebensspanne. Und selbst die Daten des Klimawandels sehe ich nur, wenn diese Daten über einen langen Zeitraum betrachtet und analysiert werden. Betrachte ich nur die Zeiträume zwischen 2018 und 2021 sehe ich nichts. D.h., umso länger und umso abstrakter ich mir den Klimawandel anschaue, desto klarer wird er. Klima in der Leugnung. Da sich aus der leicht zu leugnenden Stimmung wie aus der ebenfalls leicht zu leugnenden Abstraktion kein Vorteil ergibt, kann sich der homo oeconomicus oder – in einer extremeren Ausprägung der petromaskuline, autoritäre Charakter – schließlich leicht über diese Korrelationen hinwegsetzen. Dann müssen er oder sie weder ihren Sinnen, noch der Abstraktion glauben, was schlussendlich auch die Wissenschaft untergräbt. Auch muss man den Klimawandel ja nicht gleich komplett leugnen. Durch seine unsichere Darstellbarkeit kann man – sozusagen auf einer Stufe noch unterhalb der Leugnung – auch in Inaktivismus verfallen. Die Zone zwischen Inaktivismus und Leugnung könnte man dann als das Resultat einer ökonomischen Nutzenüberlegung verstehen, das jenseits von Leugnung und Nicht-Leugnung taxiert, was die weitere Schädigung der Umwelt finanziell alles einzubringen vermag. Zum Gefühl der Ohnmacht. Darüber hinaus kann der Inaktivismus aber auch an einem Gefühl der Ohnmacht liegen, das man angesichts der Fragmentierung und der globalen Dimension des Problems und der Handlunsgmöglichkeiten hat. Klimainaktivisten, die sich angesichts der großen Probleme und der schwierigen globalen Lösung schwach und klein fühlen, gehen ihrer Ohnmacht aus dem Weg, in-
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dem sie den Klimawandel einfach ignorieren oder eben leugnen. Dadurch werden sie wieder souverän gegenüber der Welt und erhalten eine neue Legitimation zum Handeln. Dieses Gefühl ist auch grundlegend für den autoritären Charakter. Gerade weil dieser nichts gegen die ungerechte Welt unternehmen kann, schafft er sich mit dem Hass und der Bekämpfung von Schwächeren eine Basis, die ihm das Handeln wieder erlaubt und ihn aktiv werden lässt. Ein einfaches Gefühl der Ohnmacht steigert sich in diesem Sinne vielleicht erst dann zur Klimaleugnung, wenn zur Beschreibung und Diskussion der Klimaproblematik individuelle Schuldzuweisungen und individuelle Handlungsanforderungen hinzukommen und radikale Lösungen umgesetzt werden sollen, die extrem in Alltag und Beruf, also in die basalen Lebensgrundlagen einschneiden. Deshalb kommt der Klimawissenschaftler Michael E. Mann zu dem Schluss, dass Schuldzuweisungen und radikale Maßnahmen eher das Gegenteil von optimistischem Engagement hervorrufen (Mann 2021, 91–134).7 Erich Fromm beschreibt im Jahre 1936 mit Blick auf die Rüstungsprogramme der Nazis Ohnmacht als ein widersprüchliches Gefühl, dass man erst dann bemerkt, wenn man ehrlich zu sich selbst ist. Davor lässt man sich von den eigenen – und man sollte hier hinzufügen: klimaschädlichen oder klimaleugnenden – Leistungen beeindrucken und ignoriert die Gefahren. Der Mensch, so Fromm, produziert eine Welt der großartigsten und wunderbarsten Dinge; aber diese sind seine eigenen Geschöpfe und stehen ihm fremd oder drohend gegenüber; sie sind geschaffen, so fühlt er sich nicht mehr als Herr, sondern als ihr Diener. Die ganze materielle Welt wird zum Monstrum einer Riesenmaschine, die ihm Richtung und Tempo seines Lebens vorschreibt. Aus dem Werk seiner Hände, bestimmt, ihm zu dienen und zu beglücken, wird ihm eine entfremdete Welt, der er demütig und ohnmächtig gehorcht. […] Vielleicht wird es der spätere Historiker noch rätselhafter finden als wir Zeitgenossen, daß, obwohl allmählich fast jedes Kind wußte, daß man vor Kriegen stand, die auch für den Sieger das entsetzlichste Leiden mit sich brachten, dennoch die Massen nicht mit verzweifelter Energie alles unternahmen, um die Katastrophe abzuwenden, sondern auch noch ihre Vorbereitungen durch Rüstungen, militärische Erziehung usw., ruhig geschehen ließen, ja sogar unterstützen (Fromm 1999, 189)Ersetzt man die Begriffe »Rüstung« und »Kriegsgefahr« durch »Industrie« und »Klimakatastrophen«, wird deutlich, dass das Gefühl der Ohnmacht die Menschen zum Weitermachen und Leugnen drängt, weil dies leichter auszuhalten ist als das, was eigentlich jedes Kind weiß.
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Ähnliche Reaktionen könnten auch hervorgerufen werden, wenn Klimawandel als struktureller Rassismus betrachtet wird (Williams 2021).
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Der autoritäre Charakter möchte in der Unmittelbarkeit seiner klaren und deutlichen Wettererfahrung bleiben. Diese Erfahrung möchte er weder Addieren, um sie als etwas Wandelbares erfahren zu können, noch möchte er sich von ihr trennen, um daraus einen kritischen Klimabegriff zu bilden. Aus dieser sturen Unmittelbarkeit bezieht er seine Sicherheit und Lustbefriedigung. So ist es dann ganz einfach: Da Klimaschutz Unlust hervorruft, leugnet man seine Notwendigkeit. Die Leugnung ist leicht, weil man den Klimawandel ja nicht sehen kann. Weil die Klimawissenschaft hier jedoch widerspricht, leugnet man dann auch die Wissenschaft und zählt sie zu seinen Gegnern. Und Gegner sind dann alle, die sich für das Klima engagieren – Wissenschaftler, Klimaschützer und progressive Politiker – da sie sein Streben nach Sicherheit und Lustbefriedigung reduzieren. Man macht aus ihnen Feindbilder und kann sich dann auch noch über diejenigen erheben (und aufregen), die den eigenen Lebensstil sowie die Grundlage für Sicherheit, Status und Prestige in Frage stellen.
3. Schlussfolgerung: Feindbild, Kompensation und Ohnmacht Wenn man einen Artikel mit Alexander von Humboldt begonnen hat und darin das Problem beschrieben wurde, wie autoritär geprägte Subjekte im Konkretismus des eigenen Egoismus verharren – wäre es da nicht naheliegend, am Ende auf seinen Bruder Wilhelm zu verweisen, der den modernen, neuhumanistischen Begriff der Bildung geprägt hat? Aber wie können den autoritären Charakter vor diesem Hintergrund die Grundsätze einer am Humanitätsideal orientierten Klimaethik erreichen, wenn diese von »Gleichheit« und »Generationengerechtigkeit« ausgeht (Gesang 2011, 48–55), während es ihm hauptsächlich um den Wohlstand der Nationen und der kontinuierlichen Bestätigung seines Nahbereichs geht? »Nachhaltigkeit« und »Verursacherprinzip« (ibid., 67) ist ebenfalls nichts für diesen Typus, der sich dem Schwachen und Unsichtbaren bzw. dem nur nachträglich Sichtbaren überlegen fühlt und deshalb jegliche Form der Ressourcenübernutzung für sich legitimiert. Es fehlt die Grundlage für Ansprechbarkeit, die jeder Bildungserfahrung zugrunde liegt. In dem kleinen Fragment »Theorie der Bildung« schreibt Wilhelm von Humboldt, dass das Subjekt eine ihm fremde Welt außerhalb seines Selbst braucht, welche vorgestellt und bearbeitet werden kann. Von ihr muss man so viel wie möglich ergreifen und mit ihr sich so eng wie möglich verbinden. Man muss die Welt ohne Vorurteile, Schablonen oder Angst an sich heranlassen, um in lebendiger, unreglementierter Auseinandersetzung mit ihr eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln: »Was also der Mensch nothwendig braucht, ist bloß ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit mög-
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lich mache« (von Humboldt 1980, 237). Das könnte durchaus für unsichtbare Zusammenhänge und Bedeutungsebenen sensibilisieren. Da dieser Vorschlag jedoch auf einen fossilen Autoritarismus trifft, könnte er dort so wenig aufblühen wie der Feminismus in einem petromaskulinen Umfeld. Andererseits kann auch nur die Bildung bilden. Deshalb hat man hier nie eine Wahl und Bildung muss als Lösung immer miteinbezogen werden. Der Extremismusforscher Mathias Quent trifft am Schluss seines Vortrags über Klimarassismus eine hilfreiche Unterscheidung, die angibt, welche Form der Bildung an dieser Stelle funktionieren könnte. Er schlägt vor, sich nicht auf einzelne Menschen zu konzentrieren und sich zu fragen, wie dieser, der da vielleicht schon gar nicht mehr erreichbar ist, dennoch erreicht werden könne. Stattdessen, so Quent, solle man mit Bildung im Allgemeinen und Klimabildung im Speziellen, versuchen, diejenigen zu erreichen, die noch ansprechbar sind aufgrund ihres Alters, Vorurteilslosigkeit und bereits bestehendem Engagement (Quent 2021, etwa ab Minute 56:00). Bildung trägt also nur zur Lösung des Problems bei, wenn sie nach dem Gießkannenprinzip verteilt wird, weil sie somit immer auch bei denen ankommt, die neugierig sind. Für die Verweigerungsfälle ist sie dagegen keine Lösung. Was macht man dann aber mit den zehn Prozent der Bevölkerung, die sich nach Quent vom wissenschaftlichen Diskurs und den seriösen Medien abgekoppelt haben, plus der weit größeren Gruppe, die den durch Menschen verursachten Klimawandel nicht so krass leugnen, aber in Skepsis und tiefen Inaktivismus verfallen sind? Vielleicht bleibt hier tatsächlich nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis die Zusammenhänge zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren so deutlich und spürbar werden, dass sie nicht mehr verleugnet werden können, weil sie genauso real geworden sind wie die derzeitigen ökonomischen Gewinne, Status- und Prestigesicherheiten und subjektive gewählte Identitätswünsche der fossilen Autorität. Das würde die Leugner schlussendlich entlarven, da sie auf die Realität des Klimawandels keine realen Antworten, keine reale Strategie haben, sondern lediglich über Feindbilder verfügen. Die Gefahr ist natürlich auch hier, dass die Entlarvung nicht in Richtung Wahrheit geht, sondern sich in der Verweigerungshaltung verschärft. Deshalb warnt der Ökologe Andreas Malm vor einem möglichen Fossil Fascism (Malm und das Zetkin Collective, 2021). Dieser könnte sich in einer martialischen Allianz zwischen den globalen Energiekonzernen und der globalen Rechten bilden, die in diesem Stadium ganz offen für ihre Interessen kämpfen könnten – entweder um alternative Energien und Klimaschutz zu verhindern oder nach einer eingetretenen Klimakatastrophe für den aus ihrer Sicht einzig effektiven Schutz einzutreten: einem neuen Nationalismus. In diesem Szenario würden die Feindbilder der Rechten (Klimaflüchtlinge, Pluralismus, Globalismus) dabei helfen, einen grünen Faschismus hervorzubringen, der die Energieversorgung für die eigene lokale Bevölkerung schützt und sie den anderen gnadenlos wegnimmt. Der einzig richtige Energie-
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bzw. Klimaschutz wäre dann die Konzentration auf die eigene Gruppenzugehörigkeit und die Bekämpfung der anderen. Zwischen dem Zuckerbrot der Bildung und den Peitschenhieben der Realität, könnte sich aber auch etwas Drittes ausbilden. Immerhin unterscheiden sich die mächtigen Technologiekonzerne im Silicon Valley von den Rechten darin, dass sie mit alternativen Energien experimentieren. Ihnen schwebt ein auf Transformation setzender grüner Kapitalismus vor, der nicht auf einen radikalen Bruch mit dem Bestehenden abzielt. Tesla hat mit der Entwicklung eines energiesparenden und petromaskulinen Autos einen Vorschlag in diese Richtung gemacht: Wenn nachhaltige Autos oft klein, niedlich und feminin wirken, dann muss man diese eben etwas aufmotzen und einen elektrischen SUV bauen. Dafür steht das Modell »Tesla Cybertruck«.8 Mag es auch das hässlichste Auto sein, dass nicht-petromaskulin orientierte Menschen jemals gesehen haben, so nimmt es denjenigen, die sich an diesen Maßstäben orientieren, nicht das gesamte Selbstverständnis auf einmal weg. Es wäre eine alternative Identifizierungsmöglichkeit für den Übergang von den fossilen zu nachhaltigen Energien und könnte heimlich damit beginnen, den fossilen Autoritarismus von Innen aushöhlen. Diese Schwächung des Autoritarismus könnte auch der Radikalisierung zum fossilen Faschismus entgegentreten.
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Zu Teslas Cybertruck im Zusammenhang mit Petromaskulinität siehe auch den entsprechenden Blogeintrag von Mario Herger (2020); zum Cybertruck selbst Smith 2019.
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Von der Umwelt- und Klimakritik zum Kritischen Humanismus Oliver Kozlarek Wir mögen nicht wissen, was das absolute Gute, was die absolute Norm, ja auch nur, was der Mensch oder das Menschliche oder die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau. Und ich würde sagen, daß der Ort der Moralphilosophie heute mehr in der konkreten Denunziation des Unmenschlichen als in der unverbindlichen und abstrakten Situierung etwa des Seins des Menschen zu suchen ist (Adorno 1996, 261). Die Aufklärung will, daß es den Menschen hier auf der Erde anständig gehe (Horkheimer 1989, 572).
1. Einleitung Dass die Menschheit einen kaum zu übersehenden Einfluss auf Umwelt und Klima hat und somit einen entscheidenden Faktor im nicht mehr zu bestreitenden Klimawandel darstellt, davon wird hier ausgegangen. Ich möchte im Weiteren aber ein paar Überlegungen anstellen, die sich aus der Frage nach den Konsequenzen dieser Einsicht für die Kritische Theorie ergeben. Dabei möchte ich nicht der Versuchung verfallen, einem neuen Thema eine neue Kritische Theorie aufzubürden. Auch wenn spektakulär inszenierte Debatten – z.B. unter der Signatur des Anthropozäns – den Widerstand gegen die Ideologie des Neuen schnell zu brechen drohen, soll hier einer bescheidenen Restbesonnenheit gefolgt werden.
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Vielleicht liegt das Falsche aber auch gerade in der Vorstellung der Notwendigkeit des permanent Neuen. Warum sollen denn neue Ideen, neue Theorien immer besser sein als alte? Und: Ist alles was neu erscheint wirklich neu? Der Verdacht drängt sich auf, dass die permanente Forderung des Wandels Teil der Ideologie sein könnte, die dafür sorgt, auch den Raum der Kritik zu destabilisieren, sodass die Erkenntnisse von heute morgen heute schon nicht mehr gelten sollen (vgl. Wolin 2008, x). Ich werde hier deshalb an der alten Kritischen Theorie festhalten, gleichzeitig aber dem Verdacht vorbeugen, Kritische Theorie dogmatisieren zu wollen. Ich glaube vielmehr, dass die Aktualität der Kritischen Theorie nicht darin besteht, sich immer wieder neu erfinden zu müssen, oder sich mit neuen Worten vor einem neuen Publikum feilbieten zu müssen, sondern dass ihr gegenwärtiger Wahrheitsgehalt darin liegt, dass die Welt, in der wir heute Leben und jene, welcher Kritische Theorie ihre Geburt in den 1920er und 1930er Jahren verdankt, nicht grundlegend verschieden sind. Meine erste These lautet deshalb, dass die alte Kritische Theorie auch heute noch gilt, weil die Welt, in der wir leben von einem robusten Kapitalismus geprägt wird, der seit etwa 30 Jahren konkurrenzlos ist. Das bedeutet auch, dass sich das Leben in der kapitalistischen Gesellschaft in Riesenschritten von einer in der Kultur der Aufklärung sich verdichtenden Vorstellung »menschlicher Gesellschaft« zu entfernen scheint. An dem Schlagwort des Neoliberalismus orientiert sich deshalb auch ein potenter kritischer Diskurs, dem es gelungen ist, zu zeigen, wie stark sich kulturelle Selbstverständlichkeiten eines konkurrenzlosen globalen Kapitalismus in allen möglichen Bereichen des menschlichen Lebens radikalisieren konnten. Interessant für unseren Zusammenhang ist dabei, dass sich – so die zweite These – die kapitalistische Kultur im neoliberalen Gewand in einer radikalen Kritik am Humanismus der Aufklärung zusammenzieht. Mit anderen Worten: Dem aktuellen Kapitalismus ist es heute ernster denn je mit der De(kon)struktion einer humanistischen Kultur, die sich über Jahrhunderte entwickeln konnte, nicht nur der Kritik an der zunehmenden Unmenschlichkeit den Boden zu entziehen, sondern an ihrer Stelle eine Kultur der Unmenschlichkeit zu propagieren, die von wissenschaftlichen und intellektuellen Diskursen – vom Postmodernismus über den Postkolonialismus bis hin zum aktuellen Posthumanismus – flankiert wird. Die dritte These: Vor dem Hintergrund dieser intellektuellen Konstellationen lassen sich auch viele der aktuellen umwelt- und klimakritischen Positionen verstehen, die sowohl in den politischen wie in wissenschaftlich-akademischen Debatten und Diskussionen in den letzten Jahrzehnten immer prominenter geworden sind. Obwohl die Dringlichkeit von Fragen zunehmender Umweltzerstörung und des damit einhergehenden Klimawandels nicht in Abrede gestellt werden kann, liegt meiner Ansicht nach ein großes Defizit vieler Beiträge zu diesen Themen gerade darin, dass sie nicht nur die damit verbundenen Probleme von der Tradition des Humanis-
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mus trennen wollen, sondern geradezu anti-, trans-, oder posthumanistische Positionen fördern. Ich möchte die daraus entstehenden Defizite und Trugschlüsse kurz darstellen, indem ich mich auf einen Aufsatz von Sighard Neckel beziehe (3, 4). Damit soll auch mein Anspruch unterstrichen werden, einem dezidiert kapitalismuskritischen Ansatz den Vorzug zu geben, für den die Frage nach dem Menschen im Mittelpunkt steht. Ein solcher Ansatz könnte an Marx anschließen. Ich möchte mich aber im Weiteren vor allem mit einer Art des weitergedachten Marxʼschen Humanismus beschäftigen, den ich bei einigen Vertretern der sogenannten »ersten Generation« der Frankfurter Schule entdeckt zu haben glaube, und den ich hier als »Kritischen Humanismus« kurz skizzieren werde (5). Zunächst soll aber mit der Absicht, das Problembewusstsein zu öffnen, an eine Beobachtung von Friedrich Tenbruck erinnert werden, der bereits in den 1980er Jahren von einer besorgniserregenden Tendenz berichtete, die er als »Abschaffung des Menschen« beschrieb (2).
2. Von der »Abschaffung des Menschen« Im Jahre 1984 hat der Soziologe Friedrich H. Tenbruck ein bemerkenswertes Buch veröffentlicht, dessen Aussagewert sich vielleicht heute erst richtig ermessen lässt. Getragen wird das Buch von einer Kritik am eigenen Fach, der Soziologie. Was genau Tenbruck der Soziologie vorwirft, macht der Untertitel des Buches deutlich, in dem lakonisch die »Abschaffung des Menschen« festgestellt wird (Tenbruck 1984). Nun ließe sich behaupten, dass schon bei einem oberflächlichen Blick auf das, was nicht nur in diesem Fach publiziert wird, ein Herauskürzen des Menschen aus den Sprachen der Sozialwissenschaften auffällig ist. Nicht Menschen, sondern »Gesellschaft«, »Systeme«, »Institutionen«, »Rollen« und immer häufiger auch »Kultur« prägen die Semantiken dieser Wissenschaften. Doch Tenbrucks Kritik geht weiter: Gerade der Soziologie wirft Tenbruck vor, sich in eine der humanistischen Tradition abgewandte wissenschaftliche Disziplin verwandelt zu haben. Eine »empirische Wissenschaft« wollte sie werden, sei aber dabei vor allem zum »Träger eines Weltbildes geworden«, das mit einer enormen »Macht« über »jedermanns Denken und Handeln« zu herrschen begann (Tenbruck 1984, 6). In seiner Besprechung des Buches erklärt Franz-Xaver Kaufmann: »Aus dieser Perspektive erscheint dann die Soziologie als Schlüsselwissenschaft der Moderne, als Exegese des God-terms ›Gesellschaft‹, als horizontbestimmende Lehre und damit als Quasi-Theologie des zeitgenössischen Selbstverständnisses« (Kaufmann 1985, 107). Kaufmann, der Tenbruck durchaus kritisch liest, vermutet hier eine »religionssoziologische Verfremdung der Soziologie« (ibid.) aber auch einen »konsequent aufklärerischen Gedanken« (ibid.). Aufklärerisch ist aber an diesem Buch vor allem der humanistische Anspruch. Die Grundeinsicht, Menschen würden nur noch als »Gesellschaftswesen« verstan-
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den, zeugt auch davon, dass es hier um ein Menschenbild gehen soll, das im klassischen Sinne vor allem in den »Geisteswissenschaften« begründet wurde (Tenbruck 1984, 7). Genau von dieser Tradition habe sich die Soziologie nach Tenbruck aber immer entschiedener entfernt. In ihr wird der Mensch immer weniger als Person, die in der Lage und im Recht sein soll, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und immer mehr als »technische Aufgabe« verstanden, die eben gerade durch die »Einrichtung der Gesellschaft zu lösen« und zu verwalten sei (ibid., 230). Damit ginge es der Soziologie aber schon gar nicht mehr um den Menschen, sondern nur noch um die Gesellschaft, der der Mensch vor allem ein Problem bedeutet, da er nur noch auf den »Konsum seiner Daseinsbedingungen« reduziert werde (ibid., 231). Je größer und wichtiger also die Gesellschaft werde, desto gebrochener erscheint der Mensch, beziehungsweise das, was von ihm im Weltbild der Soziologie noch übriggeblieben ist: Entsprechend der soziologischen Rollentheorien verkümmert er zu einem »Rollenträger« (ibid., 235). »Gesichtslose Rollenträger sind aber Menschen ohne individuelle Eigenschaften«, nicht solche, die noch in einem emphatischen Sinne »Ich bin« von sich sagen könnten (ibid., 235). Der zunehmend gebrochene Mensch werde konsequenterweise zu einem »Merkmalsvertreter« degradiert. Er eignet sich angesichts des Auslöschens seiner Eigenständigkeit »Identitäten« (vgl. 241) an, die zwar dem Wunsch folgten, aus dem mechanischen und rein instrumentellen Wesen auszubrechen, die sich aber letztlich in ebenso schematischen und medial kommunizierbaren »Leitbild[ern] der Politik« (ibid. 240) verdichten und sich je nach den konjunkturellen Themen und Problemzusammenhängen strategisch mobilisieren lassen. Wirklich authentisches am »Wollen« orientiertes Handeln ist nach Tenbruck nicht nur nicht gewünscht, sondern schier unmöglich geworden. Das Primat der Gesellschaft vor dem Menschen lässt neue Handlungsformen nur zu, wenn ihnen Veränderungen in der gesellschaftlichen Struktur vorausgehen. Der Funktionalismus wäre demnach keine falsche Sicht auf das soziale Handeln, sondern die Theorie, die symptomatisch und schonungslos die Verkümmerung kreativen menschlichen Handelns in der gesellschaftlichen Praxis beschreibt. Tenbruck meint: »Der zum Gesellschaftswesen degradierte Mensch muß nun auf die Veränderung der Gesellschaft setzen, die ihm die ›Selbstverwirklichung‹ ermöglichen soll« (ibid., 240–241). Die zunehmende Reduktion des Menschen gehe einher mit seiner Unterordnung unter die gesellschaftlichen Normen und einer zunehmenden Bevormundung. Tenbruck erwähnt in diesem Zusammenhang einen fast religiösen »Glauben an die Wissenschaft« und meint eine ebenso deutliche Tendenz hin zu einer »verwissenschaftlichten Zivilisation« zu erkennen (ibid., 247). Im Gefolge dieses Prozesses spielten die Sozialwissenschaften und die Soziologie eine entscheidende Rolle. An ihnen sei es nicht nur, jenes Welt- und Menschenbild zu artikulieren, auf dessen Grundlage die gesellschaftlichen Prozesse möglichst reibungslos und störungsfrei
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ablaufen können, sondern auch durch die Ausbildung von Gutachtern, Experten und Beratern (vgl. ibid., 243) – zum Beispiel: Sozialarbeiter, Journalisten, Lehrer – tief in die Lebenswelten der Menschen hineinzuwirken und damit die Imperative der »Gesellschaft« auf das Handeln der Menschen zu übertragen. »Abschaffung des Menschen« bedeutet demnach vor allem, den Menschen daran zu hindern, »in der Freiheit seiner eigenen Lebensführung und seines eigenen Gewissens« zu existieren (ibid., 255; Herv. O.K.). Eine breit angelegte Debatte im Anschluss an die Veröffentlichung dieses Buches ist ausgeblieben. Außer eines schnell verstummten Murrens aus den Reihen des eigenen Fachs hat Tenbrucks provokative Schrift keine seriöse Diskussion entfacht. Ich möchte den von Tenbruck gelegten Faden hier wieder aufnehmen, weil ich glaube, dass er mit der Frage nach dem Menschen und der Menschlichkeit in unseren Gesellschaften Stichwörter für eine Debatte geliefert hat, die vielleicht heute noch dringlicher ist als vor 40 Jahren. Damals ist es dem Scharfsinn und dem Mut eines noch in einer humanistischen Tradition stehenden Denkers zu verdanken, in seinem eigenen Fach die Zeichen einer Welt zu lesen, in der es um den Menschen nicht gut bestellt war. In den letzten Jahrzehnten haben poststrukturalistische und postmoderne, trans- und posthumanistische aber auch systemtheoretische und kulturalistische Diskurse diese Tendenz nicht nur verstärkt, sondern gerade auch die »Abschaffung des Menschen« durch eine Reduktion auf die Imperative der Gesellschaft und der Kultur immer aggressiver und kritikloser vorangetrieben.
3. Von der Abschaffung zur Pervertierung des Menschen Nun scheint im Vergleich zu dieser Diagnose die gegenwärtige Situation – auch in der Soziologie – eine andere zu sein: Die aktuellen Debatten besinnen sich wieder auf den Menschen. Vor allem die sogenannte Anthropozän-Debatte bezieht sich – wie der Name ja deutlich macht – ganz explizit auf den Menschen. Der Philosoph Sverre Raffnsøe fasst die Grundeinstellung des Anthropozändiskurses wie folgt zusammen: »the human being has taken on a new significance as a decisive factor in the world. The world seems to have turned towards the human, insofar as the human being is perceived as having a decisive impact on even very fundamental conditions in the world, and on how these conditions become evident and present themselves« (Raffnsøe 2016, xiii). Raffnsøe meint hier sogar einen »human turn« zu beobachten (ibid.). Für Sighard Neckel ist der Mensch im Rahmen der Theorien des Anthropozäns sogar wieder der »universelle Mensch«. Er erinnert aber auch daran, dass gerade diese Vorstellung vom soziologischen Denken als metaphysisch kritisiert und zurückgewiesen wurde. Dieser Kritik will er sich anschließen, denn insbesondere der
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metaphysische Gedanke von einer auf planetarischer Ebene agierenden Menschheit sei problematisch (Neckel 2020, 138). Unrealistisch sei daher auch die Forderung, der Mensch müsse im Sinne einer »world citizenry« klimaverantwortlich agieren und sich dabei an »planetary guidelines« orientieren. Solche Vorstellungen gehen nach Neckel nicht nur von falschen sozialontologischen Voraussetzungen aus – es gibt eine solche als Einheit agierende Menschheit nämlich nicht –, sondern sie kaschieren gleichzeitig die Tatsache, dass sie institutionell generiert werden und damit politischen Interessen folgen. Vor allem die Rolle der Vereinten Nationen hebt Neckel in diesem Zusammenhang hervor (vgl. ibid.). Die Konsequenzen fasst er folgendermaßen zusammen: The image of a global political subject amounts to a normative outreach of an ideal that infers from the diagnosis of global threats the constitution of a global actor without considering – as is known to sociology – the formation of global actors is not simply a function of their necessity. It is the task of sociology to scrutinise such a normative outreach instead of letting itself be guided by it (ibid.; Herv.i.O.). »Normative outreach« als institutionell generiertes und global propagiertes System von Handlungsimperativen ist aber nicht nur soziologisch problematisch, sondern birgt auch politische Probleme, die sich in einer planetarischen Bevormundungsund Überwachungsstrategie zusammenziehen, welche ihre Rechtfertigung nicht nur aus einer moralisierenden Selbstgewissheit ableitet, sondern auch der bereits von Tenbruck beobachteten systematischen »Abschaffung« von Mensch und Menschlichkeit in die Hände spielt. Damit ist auch klar, dass die Anthropozän-Debatte nicht einfach als Neuauflage der idealistischen Philosophie zu werten ist. Im Gegenteil: Dieser zufolge war die Universalität des Menschen in seiner Freiheit begründet. Davon ist im »normative outreach« der Anthropozänideologie nicht viel übriggeblieben. Sie widerspricht dem Humanismus der Aufklärung, der sich nach Kant auf die Formel, dass der Mensch jederzeit »als Zweck« und nicht als »Mittel« (Kant) verstanden werden solle, bereits in dem Moment, in dem sie die Menschen bewegen will, ihr Handeln, ja ihre Lebensführung, prioritär an Vorgaben zur Eindämmung des Klimawandels zu orientieren. Der aktuelle »human turn« stellt also keine Rückbesinnung auf die Werte der Aufklärung und des Humanismus dar, sondern pervertiert diese, indem er zwar moralistisch an sie anzuschließen scheint, ihnen letztendlich aber ihre tatsächliche Bedeutung vorenthält. Auch aus einer handlungstheoretischen Perspektive lässt sich auf den ersten Blick denken, dass die Theorien des Anthropozäns, bzw. die, die an diese anschließen, den Ansprüchen eines postmetaphysischen Denkens gerecht würden, das sich ja als Fortschritt des politischen und sozialen Denken verstehen ließe, weil es darauf besteht, reale Menschen in ihrer konkreten weltlichen Eingebundenheit
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zu begreifen. Ein wichtiges Indiz für eine solche postmetaphysische Ausrichtung wäre, dass diese Theorien häufig von relationalen Ontologien ausgehen, die den Menschen aus seiner Beziehung zur Natur oder den »Dingen« verstehen wollen (vgl. Raffnsøe 2016; Latour 2001). Allerdings fällt bei näherer Betrachtung auf, dass die Beziehungen der Menschen untereinander immer mehr aus dem Fokus geraten. Wer »Weltbeziehungen« (Rosa 2012) oder die Beziehungen der Menschen zu den Gegenständen und Dingen in der Welt oder zur Erde (vgl. Latour 2017) in den Mittelpunkt stellt, geht nicht mehr zwingend von einer Vorstellung des Menschen als sozialem Wesen aus. So wird der postmetaphysische Anspruch hier zwar formal eingelöst, letztendlich aber die dahinter liegende anthropologische These (dass der Mensch vor allem ein soziales Wesen sei) hintergangen. Ein Beispiel für diese Strategie ist das für den Anthropozän-Diskurs wichtige Werk von Bruno Latour. Darin geht es bekanntlich darum, eine Alternative für die im modernen Denken vorherrschende Trennung von Gesellschaft und Natur oder Sprache und Welt zu entwickeln (vgl. Gertenbach und Laux 2020, 151). Latour versucht, diese Aufgabe dadurch zu lösen, dass er »Existenzweisen« einerseits auf ihre vormenschlichen Ursprünge hin untersucht und andererseits danach befragt, welche Konsequenzen sie für die nichtmenschliche Welt hätten. Lars Gertenbach und Thomas Laux stellen hier einen »operativen Sinn« fest, der Latours Werk auszeichne und erklären: Dieser operative Sinn spielt eine Schlüsselrolle in Latours neuem Theoriemodell, denn er geht den sozialen Formen und konkreten Entitäten voraus. Entsprechend bleibt der Begriff auch nicht auf die menschliche Welt beschränkt. Alles Seiende ist in sinnhafte Prozesse eingespannt, Handlungsketten artikulieren eine Differenz, hinterlassen eine nachvollziehbare Spur und verknüpfen Ereignisse auf eine Weise, die sich von anderen Verbindungsmöglichkeiten unterscheidet […] (ibid., 171). Vor dem Hintergrund des hier entwickelten Arguments wäre es nicht falsch, auch in dieser Theoriekonzeption einen Beitrag zur »Abschaffung des Menschen« zu vermuten. Ganz abgesehen davon, dass Latour den Humanismus immer wieder ganz explizit bekämpft (vgl. Latour 1993), ist seine theoretische Grundstruktur so angelegt, dass sie den Bezug auf den Menschen aber auch auf Menschlichkeit und Humanität heuristisch wie normativ konsequent immer wieder unterwandert und überspringt. Wie ernst es einigen der Beiträge zur Anthropozän-Debatte mit der »Abschaffung des Menschen« ist, wird selten so deutlich wie bei Ewa Domańska: Climate change collapses the traditional dichotomy between natural and human history. I study anthropogenic soil change linked specifically to the decomposition of human bodies and remains […], I pose the question of how, through
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processes of mineralization and humification, do we unbecome human? So, my ›unbecoming human‹ (and with it, becoming humus, or a tree, all of which are post-human life forms made possible by various necromorphological procedures) also implies the ability to transcend the homo sapiens condition (Domańska 2020: 202). Wer meint, mit der Naturwerdung des Menschen die Kulturwerdung der Natur zu kompensieren, offenbart eigentlich bloß, wie beliebig plötzlich alles zu sein scheint. »Natur«, »Außenwelt«, »Erde« sind aber in der Semantik Latours und anderer Bedeutungsträger, die »Mensch« und »Humanität« nicht nur ersetzen, sondern, die dem Anspruch folgt, letzteren moralisch zu diskreditieren: Da die Geologen damit anfangen, den Begriff des ›Anthropozäns‹ zu verwenden […], ist es praktisch, künftig diese Vokabel zu verwenden, um in einem einzigen Wort die Bedeutung der Epoche zusammenzufassen, die von den wissenschaftlichen und industriellen Revolutionen bis heute reicht. Wenn die Geologen selbst, eher besonnene und ernsthafte Leute, aus dem Menschen eine Kraft machen, die es im Umfang mit den Vulkanen oder selbst der Tektonik der Erdplatten aufnehmen kann, dann ist etwas inzwischen sicher: Wir haben keinerlei Hoffnung mehr, morgen besser als gestern zu sehen, wie sich Wissenschaft und Politik definitiv unterscheiden (zit. in Gertenbach und Laux 2020, 243). Der Mensch wird hier nicht nur abgeschafft, sondern als negative Naturgewalt hypostasiert: Er wird zur Quelle allen Übels. Aus dieser Überzeugung, die nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch medienstrategisch sehr erfolgreich in der nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit verbreitet wird, knüpft sich ein Schuldkomplex, der sich nicht mehr nur auf das Problem einer gesellschaftlich und kulturell kontingenten Art der Naturbeherrschung reduziert, sondern sich gleichsam in einem pervertierten Menschenbild verdichtet, welches sich auch als später Siegeszug der Gegenaufklärung verstehen ließe und die Menschen zur gebrochenen Verfügungsmasse der Wirtschaft und der Politik macht. Neckel hat also Recht mit der Forderung, dass es einer kritischen Soziologie bedürfe, die den normativen Anspruch, der für diese kaschierten Bevormundungspraktiken verantwortlich ist, kritisch hinterfragen muss. Nur, wie kann diese aussehen? Neckel scheint auf diese Frage eine klare Antwort zu haben: Durch eine entschiedene Kritik der kapitalistischen Moderne und vor allem ihrer ungleichen Machtverteilung.
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4. Von der Bevormundung der »Klimasünder« zur Kritik des Kapitalismus An moralischen Überzeugungen orientiertes soziales und politisches Handeln führt nicht unbedingt in eine bessere Welt. Didier Fassin hat dies sehr überzeugend am Beispiel humanitärer Politik gezeigt. Auch wenn sich grundsätzlich nicht bestreiten lässt, dass es gut sei, Menschen in Not zu helfen, macht Fassins Untersuchung sehr anschaulich, dass institutionalisierte Praktiken humanitärer Hilfe Paternalismus und Ungleichheitsstrukturen rechtfertigen und folglich reproduzieren (vgl. Fassin 2012). Ähnliches gilt auch für die aktuelle Umwelt- und Klimakritik. Sie greift dort zu kurz, wo eine richtige Erkenntnis – die sich zuspitzende Umweltzerstörung und der sich daraus generierende Klimawandel – zum moralisierenden Druckmittel wird. Gerade dadurch lässt sich dann auch wieder eine Machtdifferenz etablieren: die »Guten«, die alles richtig machen, gegen die »Bösen«, denen die Verantwortungslast aufgebürdet werden soll. Selbstverständlich lässt sich der Verzicht auf den Gebrauch privater PKW oder die Reduktion des Fleischkonsums aus vielen Gründen rechtfertigen. Aber es wäre naiv und überheblich zu glauben, dass alle Menschen ihr Leben prioritär an Umwelt- oder Klimaschutzkriterien auszurichten hätten. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil die Menschen strukturellen Zwängen unterworfen sind, von denen sie sich oft gar nicht befreien können. So haben viele Menschen auf der Erde überhaupt keine andere Wahl, als jeden Tag mit ihrem alten Auto zur Arbeit zu fahren, Kinder in die Schule zu bringen und in den nächsten Supermarkt zu kommen. Es stellt sich also die Frage, ob die Schalthebel für eine umwelt- und klimafreundlichere Welt wirklich in den Händen der einzelnen Individuen liegen, oder ob die Weichen, die in eine umwelt- und klimafreundlichere Welt führen sollen, nicht ganz woanders gestellt werden müssen. Auch Neckel besteht mit Recht auf mehr Differenzierung in der Diskussion: »Just as there is no world citizenry able to act collectively to overcome the bleak consequences of the Anthropocene, it is also not simply humanity as such that has generated it« (Neckel 2021: 138). Diese Erkenntnis ist hier ganz zentral, denn sie verweist auf die Notwendigkeit eines differenzierten Verständnisses der Verantwortungslasten. Es ist eben nicht »die Menschheit«, die für die katastrophale Umweltzerstörung und die Folgeschäden verantwortlich ist, sondern ein bestimmtes System der Produktion und Verteilung. Neckel sieht dies mit Blick auf die globalen Unterschiede beim Ausstoß von Treibhausgasen bestätigt: »Sixty per cent of all greenhouse gases are produced by the wealthiest one-seventh of the world’s population (over 1 billion people), while close to 40 per cent (3 billion people) are responsible for only 5 per cent of emissions« (ibid., 139). Diese Klarstellung macht noch einmal deutlich, dass die Konzentration von Produktion, Konsum und Ka-
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pital in einem kaum zu übersehenden Zusammenhang mit entsprechend hohen Umwelt- und Klimabelastungen steht. Welche Konsequenzen ergeben sich aber aus solchen Erkenntnissen: Umweltund Klimakrisen werden wir nicht in den Griff bekommen, solange wir nicht ernsthaft nach ihren tatsächlichen Ursachen fragen. Dabei gilt vor allem auch, zu verstehen: Es ist nicht »der Mensch«, der gemäß dem aktuellen »human turn« immer mehr zu einem »Schädling« für »die Natur« und »die Erde« degradiert wird, sondern eine bestimmte Art der Produktion, Verteilung und Konsum, die schädlich für Natur und Menschen ist. Ausgehend von einer ähnlichen Erkenntnis hat im letzten Jahrhundert eine Gruppe marxistisch denkender Sozial- und Kulturwissenschaftler ganz entschieden auf eine kritisch reflektierte Restitution des Humanismus gesetzt, wie ich im Folgenden an zwei Beispielen zeigen möchte.
5. Vom »human turn« zum Kritischen Humanismus In einem wichtigen Aufsatz reagierte Max Horkheimer 1936 auf eine Stimmung, die wir heute auch im Zusammenhang mit der aktuellen Umwelt- und Klimakritik spüren. Sie führt zu einer Abwendung von den Menschen und einer gleichzeitigen emotionalen Hinwendung zum Nichtmenschlichen, zu den Tieren, zur Natur, zur Erde. Im Gegensatz zu vielen aktuellen Debatten sah Horkheimer in dieser Tendenz aber keine Lösung, sondern ein Problem: Die sentimentale Liebe zu Tieren gehört in dieser Gesellschaft mit zu den ideologischen Veranstaltungen. Es ist nicht eine allgemeine Solidarität, die sich selbstverständlich auch auf diese lebendigen Wesen erstreckte, sondern zumeist ein Alibi gegenüber dem eigenen Narzißmus und dem öffentlichen Bewußtsein, gleichzeitig ein Test, daß man der idealen Moral entspricht (Horkheimer 1988a, 85). Hier sind noch einmal die einzelnen Elemente auch der aktuellen »Ideologie« zusammengefasst: Sie entspringt einem narzisstischen Menschenbild, welches der »allgemeinen Solidarität« entschieden widerspricht, sie beruft sich auf eine emotionalisierte »ideale Moral« (Moralisierung), der niemand wirklich widersprechen mag und sie wendet sich von den Menschen allgemein ab, in einer radikal gegen die Aufklärung und gegen den Humanismus gerichteten Haltung. Die Erkenntnis dieser Problematik zeichnet, wie ich im Folgenden zeigen möchte, das Denken der Mitglieder der »Frankfurter Schule« aus. Sie ist außerdem an einen Humanismus gebunden, den ich hier als »Kritischen Humanismus« verstehen möchte. Dieser schließt ganz entschieden an die Notwendigkeit einer kritischen Gesellschaftstheorie an. Gerade die Einsicht der Unverzichtbarkeit von Gesellschaftskritik motivierte Horkheimers Vorstellung Kritischer Theorie, verweist aber auch
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auf eine Verpflichtung gegenüber dem aufklärerischen Humanismus. Die Absicht bestand darin, durch die Kritik der Unmenschlichkeit in unseren Gesellschaften, die Forderung nach einer menschlicheren Gesellschaft erstarken zu lassen (a). Einer der wichtigsten Beiträge Theodor W. Adornos zur Kritischen Theorie ist sicherlich seine insistente Kritik des Identitätsdenkens. Sie kulminiert in der Feststellung einer immer unbarmherzigeren Naturbeherrschung, für die Adorno aber nicht den Menschen verantwortlich machen will, sondern – ähnlich wie Horkheimer – die systematische Eliminierung der Menschlichkeit in unseren Gesellschaften (b).
a) Max Horkheimer: Anthropologie und Humanismus als kritische Sozialforschung Max Horkheimer war nicht nur der Stichwortgeber der »Kritischen Theorie«, sondern als Gründer und langjähriger Direktor des Institut für Sozialforschung steht sein Werk für ein ausgeklügeltes Forschungsprogramm, in dem interdisziplinäre kritische Sozial- und Kulturforschung das Bild einer durch und durch unmenschlich gewordenen Gesellschaft sichtbar werden lassen sollte. Der »Kritische Humanismus« Horkheimers lässt sich am besten im Sinne dieses Programms kritischer Sozial- und Kulturforschung verstehen. Auch wenn für ihn festgestanden haben mochte, dass dieses Programm von der Philosophie und deren Kompetenz der Begriffsarbeit geleitet werden müsse, darf sein Humanismus nicht mit dem Anspruch »philosophischer Anthropologie« verwechselt werden. Im Gegenteil: Jeder Versuch, einen normativen Begriff des Menschen außerhalb der gesellschaftlichen Bedingungen anzusetzen, ist ihm suspekt gewesen. Dennoch interessiert sich Horkheimer für die Menschenbilder, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft ausprägen konnten, weil sie den Charakter dieser Gesellschaft verraten. In diesem Sinne wird die Frage nach dem Menschenbild tatsächlich zu einer der Leitfragen seines kritischen Forschungsprogramms. Diesem Anspruch folgt er bereits in sehr frühen Schriften. Die Ergebnisse dieser Forschung fasst er an prominenter Stelle in seinem Vorwort zu den Studien zum autoritären Charakter von 1950 zusammen und betont dabei die anthropologische Orientierung auch dieses Werks. In deren Mittelpunkt stünde ein relativ neues Konzept – das Aufkommen einer ›anthropologischen‹ Spezies, die wir als den autoritären Menschentypus bezeichnen. Im Gegensatz zum Fanatiker früherer Zeiten scheint er die für eine hochindustrialisierte Gesellschaft charakteristischen Vorstellungen und Fähigkeiten mit irrationalen und antirationalen Vorstellungen zu verbinden. Er ist zugleich aufgeklärt und abergläubisch, stolz, Individualist zu sein und in ständiger Furcht, nicht so zu sein wie alle anderen, eifersüchtig auf seine Unabhängigkeit bedacht und geneigt, sich blindlings der Macht und der Autorität zu unterwerfen (Horkheimer 1987, ix).
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Horkheimers Humanismus ist nun mit dem Anspruch einer anthropologisch orientierten kritischen Sozialforschung auf das Engste verbunden. Dieser geht es nicht nur darum, dem »abstrakten« Humanismus des bürgerlichen Denkens einen Spiegel vorzuhalten, sondern das Bewusstsein für einen neuen Humanismus zu schärfen: Der Humanismus der Vergangenheit bestand in der Kritik der feudalistischen Weltordnung mit ihrer Hierarchie, die zur Fessel der Entfaltung des Menschen geworden war. Der Humanismus der Gegenwart besteht in der Kritik der Lebensformen, unter denen die Menschheit jetzt zugrunde geht, und in der Anstrengung, sie in vernünftigem Sinn zu verändern (Horkheimer 1988a, 290). In den Dienst dieses Humanismus will sich Horkheimer mit seinem Programm kritischer Sozialforschung stellen. Dieser forschungspragmatische Anspruch rechtfertigt auch die Rede von einem »aktiven Humanismus«. Dieser soll sich vor allem von jenem »abstrakten Humanismus« unterscheiden, dem Horkheimer einen ideologischen Zweck unterstellt, da durch ihn ein Menschenbild propagiert werde, dem nur einige Wenige gerecht werden können, obwohl es den Anspruch des Allgemeinen vertritt. Wie tiefverwurzelt diese anthropologisch-humanistischen Interessen in Horkheimers Denken waren, offenbart auch ein weiterer Text aus den 1930er Jahren: »Egoismus und Freiheitsbewegung – Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters« aus dem Jahre 1936. John Abromeit schreibt dazu: »The essay is in fact about the origins, proliferation, reproduction, and persistence into the present of the type of man that became dominant in the modern period, that is, bourgeois man« (Abromeit 2011, 262). Der empirischen Sozialforschung, wie sie in den Studien zum »autoritären Charakter« zum Ausdruck kommen, stellt Horkheimer jetzt also eine kulturhistorische, hermeneutische Methode an die Seite. Dies liegt in der Entscheidung begründet, sich nicht nur mit reinen Theorien beschäftigen zu wollen, sondern mit »historischen Personen, bei denen Theorie und geschichtliche Praxis zur Einheit wurden« (Horkheimer 1988b, 88). Letztendlich folgt aber auch dieses kulturhistorische oder kulturwissenschaftliche Interesse wieder einem gesellschaftskritischen Anspruch, denn es geht nicht nur darum, das Leben einzelner Persönlichkeiten nachzuzeichnen, sondern vielmehr darum, über diese einen Einblick in die »bürgerliche Epoche« zu bekommen, in der sich ein besonderer bürgerlicher Menschentyp ausbilden konnte. Dies bedeutet gleichzeitig, dass der bürgerliche Menschentyp nicht zeitlos und universell ist, sondern voller »Eigentümlichkeiten«, die »sich aus seiner historischen Funktion in der bürgerlichen Welt« ergeben (Horkheimer ibid., 26; vgl. auch Abromeit 2011, 268). In seinem Text arbeitet sich Horkheimer an der Frage nach dem Typen des »bürgerlichen Führers« ab, dem er paradigmatisch im Italien des 14. und 15. Jahrhundert – Cola di Rienzo (1313–1354) und Girolamo Savonarola (1452–1498) –, aber auch im
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Jakobiner Robespierre (1758–1794) begegnet. Ihnen allen unterstellt Horkheimer einen höchst ambivalenten Charakter. Er kommt zu dem Schluss, dass sie in Gesellschaft, Politik und Religion sowohl den Anspruch neuer Freiheiten als auch den der Unterwerfung, des Gehorsams und der Entsagung vertraten. Diese Ambivalenz in der Person versteht er aber nur als Spiegelung des Widerspruchs in der Gesellschaft. Während die Eliten das Recht auf Freiheit für sich in Anspruch nehmen, enthalten sie den »Massen« dieses Recht vor und verpflichten sie zu Gehorsam und Entsagung.1 Die Durchsetzung des eigenen Egoismus geht insofern bruchlos einher mit der moralischen Verurteilung des Egoismus der anderen. Der größere Teil der Menschheit sollte sich vielmehr daran gewöhnen, den eigenen Anspruch auf Glück zu meistern, den Wunsch zurückzudrängen, ebenso gut zu leben wie jener kleine Teil, der es sich eben darum gern gefallen ließ, daß, genaugenommen, seine Existenz von d[em] brauchbaren moralischen Verdikt verurteilt wurde. Diese Bedeutung der bürgerlichen Tugend als Herrschaftsmittel gewann stets größeres Gewicht (ibid., 17). Entsprechend dieses gesellschaftlichen Widerspruchs ist auch der bürgerliche Humanismus zwiespältig: [Er] zeigt ein doppeltes Gesicht. Er bedeutet unmittelbar die Verherrlichung des Menschen als des Schöpfers seines eigenen Schicksals. Die Würde des Menschen liegt in seiner Kraft, unabhängig von den Mächten der blinden Natur in und außer ihm zu handeln. In der Gesellschaft, in der sich dieser Humanismus ausbreitete, ist jedoch die Macht der Selbstbestimmung ungleich verteilt; denn die Energien hängen jedenfalls nicht weniger vom äußeren Schicksal ab als dieses von den Energien (ibid., 73).
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Einen ähnlichen Widerspruch hat der Soziologe Peter Wagner der Moderne attestiert (vgl. Wagner 1995). In seiner vielbeachteten Soziologie der Moderne geht Wagner davon aus, dass das Verständnis der Moderne unbefriedigend bleiben muss, wenn es entweder auf progressistische Narrative oder auf solche, die diese radikal verwerfen, beschränkt wird. Er schlägt deshalb eine »andere Erzählung der Moderne« vor, die davon ausgeht, dass Moderne vor allem als durch eine interne Spannung charakterisierte soziale Dynamik verstanden werden muss, die sich zwischen den Polen der »Freiheit« und der »Disziplin« generiert. Wenngleich dieses Verständnis dem Horkheimers ähnelt, insofern es ein Spannungsverhältnis im Kern der modernen Gesellschaft vermutet, weigert es sich doch, diese Ambivalenz auf die ungleiche Rollen- und Machtverteilung kapitalistisch-moderner Gesellschaften zurückzuführen. So erscheint in Wagners Analyse »Moderne« als eine zivilisatorische Bewegung, die gleichsam über die Köpfe der Menschen hinweg über diese herrscht. Im Gegensatz zu Horkheimers Analyse spielt bei Wagner der Klassenkonflikt keine entscheidende Rolle mehr. Im Gegenteil, Klassenunterschiede werden von ihm kulturalistisch interpretiert; er redet von »Klassenkulturen«, die an der Seite anderer Identitätsofferten existieren (vgl. ibid., 234).
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Die ungleiche Verteilung der Macht der Selbstbestimmung ist aber für Horkheimer kein Grund, dem Humanismus abzuschwören, denn das Problem ist nicht das Ideal eines selbstbestimmenden menschlichen Lebens, sondern die Unmöglichkeit seiner Realisierung unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Unmöglichkeit führt letztendlich zu einer Vergötterung derjenigen Menschen, die es tatsächlich geschafft zu haben scheinen:2 Je weiter der vom Humanismus verklärte abstrakte Begriff des Menschen von ihrer wirklichen Lage entfernt war, desto mehr bedingte die idealistische Vergottung des Menschen, die in den Begriffen der Größe, des Genies, der begnadeten Persönlichkeit, des Führers und so weiter sich bekundet, die Selbsterniedrigung, Selbstverachtung des konkreten Einzelnen« (ibid.).3 Horkheimer will dieser Situation nun gerade mit einer Verbindung von Humanismus und Sozialforschung entgegenwirken, denn nur so lässt sich Humanismus aus den Höhen der leeren Abstraktion wieder auf den Boden der gesellschaftlichen Realität zurückholen, indem er sich als »aktiver Humanismus« für eine menschlichere Gesellschaft einsetzt (vgl. Horkheimer 1988a, 289). »Aktiver Humanismus« im Sinne Horkheimers kritischer Sozialforschung ist also immer auf die konkreten Verhältnisse der jeweiligen Gesellschaft bezogen, welche sozialkritisch reflektiert werden müssten. Ohne diesen kritischen und praktischen Bezug auf die gesellschaftliche Realität bliebe der Humanismus »bloße Bekenntnis« und damit Ideologie (ibid., 290).
b) Theodor W. Adorno: Von der Naturbeherrschung zu einer menschlichen Gesellschaft Theodor W. Adornos Schriften können bisweilen den Verdacht einer radikalen Kritik am Humanismus wecken. In Minima Moralia heißt es: »Im innersten Gehäuse des Humanismus, als dessen eigene Seele, tobt gefangen der Wüterich, der als Faschist die Welt zum Gefängnis macht« (Adorno 2003: 155–156). Tatsächlich schließt Adorno aber an dem anthropologisch-humanistischen Anspruch Horkheimers an. Wie dieser glaubte auch Adorno, dass die gegenwärtige Gesellschaft einen »neuen Menschentypus« erzeuge, der nach einer »neuen Anthropologie« verlangt (Adorno 2017; 2006; auch: Breuer 2016, 98). Dabei unterscheidet sich auch Adornos Anthropologie deutlich von der Philosophischen Anthropologie: »Ihr Gegenstand ist nicht«, wie Nicholas Coomann sehr gut zusammenfasst, »der Mensch als positiv Vorgegebenes,
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Diese Hypostasierung des Menschen bemerkte auch Walter Benjamin (vgl. Benjamin 1991 [1921]). Heute wird die Funktion der »Vergöttlichung« der »Auserwählten« durch den Starkult in so gut wie allen Bereichen des öffentlichen Lebens fortgesetzt (vgl. Schreiner 2015).
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steriles Forschungsobjekt, sondern die Dynamik seiner gesellschaftlich und ökonomisch bedingten Deformation. Die Menschen und ihre Beziehungen sind einzig als Signifikanten ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs zu fassen, in den sie unlöslich verstrickt sind« (Coomann 2017: 62). Die Vorstellung von einer immer gleichbleibenden menschlichen Natur ist also auch Adorno suspekt gewesen, und er vermutete, dass diese, wenn überhaupt, nur in »einer auf Ausbeutung basierenden Gesellschaft« vorkommen könnte (Adorno 2006: 651). So beschränkt sich Adorno konsequenterweise darauf, den »neuen Menschentypus« zu beschreiben. Wichtige Ideen dazu finden sich in einer Vielzahl seiner Schriften. Wesentliche Grundideen gehen zurück auf die »Dialektik des Individuums« (Breuer 2016, 110), die sich im »Odyssee-Kapitel« der Dialektik der Aufklärung (vgl. Horkheimer/Adorno 1990, 50–87) Ausdruck verschafft, werden aber auch in einigen weiteren Texten umrissen. Vor allem zwei Texte sind in diesem Zusammenhang interessant: Die seit 2003 verfügbare und 2017 im Internationalen Handbuch für Philosophische Anthropologie wiederveröffentlichte Schrift »Notizen zur neuen Anthropologie« und der fragmentarische Text »Problem des neuen Menschentypus« (hier 2006). Eine »neue Anthropologie« ist für Adorno vor allem »die Theorie des neuen, unter den Bedingungen des Monopol- und Staatskapitalismus sich bildenden Menschentypus« und »steht in ausdrücklichem Gegensatz zur Psychologie« (Adorno 2017, 261). Was sich hinter dieser Aussage verbirgt, ist die Einsicht in eine neue Form der Gesellschaft, in der »das Individuum in relativer Geschlossenheit, Konstanz und Autonomie der Zielsetzung« – in »Freudscher Sprache als ›Ich‹« verstanden – nicht mehr existieren kann (Adorno 2006, 652). Wo Psychologie noch von der Voraussetzung des Individuums ausginge, müsse eine Anthropologie der aktuellen Gesellschaft sich von dieser Idee verabschieden. »Die Repräsentanten des neuen Typus sind keine Individuen mehr, d.h. die Einheitlichkeit, Kontinuität und Substantialität des Einzelnen ist aufgelöst« (Adorno 2017, 261). An die Stelle der Psychologie sieht Adorno nun den Behaviorismus getreten, nach dem die Personen sich nur noch blind den strukturellen Imperativen fügen. Besonders zwei der prägenden Begriffe in der Psychologie funktionieren in der neuen, postliberalen Gesellschaft und für ihren neuen Menschentypus nicht mehr: »Verdrängung« und »das Unbewusste«. Da die »Ichinstanz« fehle und durch eine Art »Kollektivsubjekt« substituiert würde, obliegt auch die Triebbefriedigung nicht mehr den Individuen, sondern werde eben auf dieses »Kollektivsubjekt« übertragen. Diese grundsätzlichen Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur haben nach Adorno kulturelle Konsequenzen: Anthropologie ist hier also nicht nur kritische Sozialforschung, sondern auch Kulturkritik. Einer neuen Art der Romanliteratur, die Adorno vor allem in den USA zu beobachten glaubte, unterstellt er, sich zum Werkzeug eines Betrugs zu machen, welcher nicht auf die inhaltliche Ebene begrenzt ist,
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sondern eher darin bestünde, den Lesern eine längst versiegte Möglichkeit vorzugaukeln: die Möglichkeit »man kann noch Erfahrungen machen« (ibid., 263). Indem Adorno explizit an Walter Benjamins Begriff der Erfahrung anknüpft, möchte er zeigen, dass der Verlust der Erfahrung durch die Illusion des Besonderen kompensiert wird. Diese Tendenz fand er in den USA besonders ausgeprägt: »Das Schändliche in Amerika besteht darin, daß gerade hier, wo das Besondere vom Allgemeinen absolut zerstört worden ist, wo anstelle der Erfahrung die Wiederholung des Immergleichen tritt, der Versuch gemacht wird, das Besondere als überlebend darzustellen« (ibid., 263).4 Der sozialkritische Charakter dieser Überlegungen liegt auf der Hand: »Universalität der gesellschaftlichen Herrschaft, die nichts mehr übriglässt, was nicht von oben her aus seinem Begriff, nämlich aus seiner ökonomischen Kategorie, bestimmt wäre?« (ibid.) Die Auflösung der Erfahrung geht also mit dem Verschwinden des Besonderen und Einzigartigen einher. Diese gesellschaftliche Tendenz wirkt auf den Menschen als Ganzen, der seine Individualität nur noch scheinbar erfährt, während er in Wirklichkeit immer mehr den Imperativen der Gesellschaft unterworfen ist. Eine gewisse Nähe zu Tenbrucks Kritik der »Abschaffung des Menschen« klingt hier an: Der Anspruch der Aufklärung, dass Menschen ihren Anlagen des Menschseins folgten, und dadurch frei werden, scheint hier bereits aufgegeben. Diese Überlegungen schließen bei Adorno aber auch an das Thema der Beziehung des Menschen zur Natur an. Dabei unterscheidet er zunächst die Vorstellung der Aufklärung im 18. Jahrhundert und die im 19. Jahrhundert und kommt zu dem Schluss, dass zwar in beiden der Begriff der Natur zentral sei, doch während es der Aufklärung des 18. Jahrhunderts um Naturrecht, um das »eingeborene Recht aller Wesen« und damit um Recht und Freiheit (Adorno 2017: 267) gegangen war, ging es im 19. Jahrhundert darum, den Menschen zu vermitteln, dass sie »Geschöpfe in einem Zusammenhang, aus dem es kein Entrinnen gibt« seien (ibid.). Mit anderen Worten: Der Glaube an die Natur bedeutet nun Glauben an die absolute Ordnung der Natur und ein sich Besinnen auf die Einschränkung der menschlichen Freiheit. Aus genau diesem Zusammenhang schlägt nach Adorno auch der »Nazismus« Kapital: »Die Gewalt des Nazismus, das was wirklich die Menschen daran so ergriffen hat, ist wahrscheinlich der Glaube, daß der Mensch selber es jener Art Natur gleichtun könne« (ibid., 268). »Es der Natur gleichtun« bedeutet in diesem Zusammenhang soviel wie: die Naturgewalten nun über andere Menschen einbrechen zu lassen, wobei der Ursprung aber nicht mehr in der Natur liegt, sondern im Menschen selbst.5
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Diesen Widerspruch manifestiert auch die Diagnose der »spätmodernen« Gesellschaft als »Gesellschaft der Singularitäten« von Andreas Reckwitz (vgl. Reckwitz 2017). Wie gesehen schlägt die Anthropozän-Debatte z.T. ganz ähnliche Töne an. Auch hier wird der Mensch zur Naturgewalt.
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Gerade diese, für die kapitalistischen Gesellschaften typischen Beziehungen der Menschen zur Natur, ist ein Thema, mit dem sich Adorno seit seiner Jugend beschäftigt hat. In einem sehr frühen Aufsatz mit dem Titel »Die Idee der Naturgeschichte«, der auf einen Vortrag von 1932 zurückgeht, entwirft der junge Philosoph einen Gedanken, der ihn bis in seine letzten Arbeiten beschäftigt – so noch in seinem philosophischen Hauptwerk Negative Dialektik von 1966. Adorno bedient sich hier nicht der Philosophie wegen ihrer Begriffskompetenz. Vielmehr scheint er in ihr ein kulturelles Zeugnis zu sehen, welches einen privilegierten Blick auf die kognitiven Einstellungen der bürgerlichen Gesellschaft zulässt. Philosophie dient Adorno hier also als Gegenstand seiner sozial- und kulturkritischen Untersuchungen, die letztlich Aufschluss über die Beziehung der Menschen zur Natur geben soll. In ihrem Buch Adorno on Nature (Adorno 2014) hat Deborah Cook Adornos Ideen zu diesem Thema zusammengefasst. Sie kommt dabei zu der Überzeugung, dass die kognitiven, im philosophischen Diskurs sich abzeichnenden Vorstellungen dieser Beziehung zu einer Realität kompatibel sind, die sich in immer unmissverständlicherer Weise gegen das Leben – und zwar sowohl das menschliche als auch das nichtmenschliche – richtet: […] Adorno is concerned that the primacy of the capitalist process of production, on which our lives now completely depend, will lead, quite literally, to the annihilation of all life on the planet because that process shackles us to our socially determined interest in our own individual survival in complete disregard of the more rational interests of our species (Cook 2014, 159). Vielleicht ließe sich behaupten, dass sich bis hierher Adornos Diagnose nicht zu sehr von der aktueller umwelt- und klimakritischer Theorien unterscheidet.6 Worin sich Adornos Ideen aber deutlich absetzen, ist in dem Ausblick, den sie zulassen. Nach Cook stand für Adorno nämlich fest, dass das Überleben auf unserem Planeten nur dann noch gelingen könne, wenn sich eine neue »Solidarität« aller Menschen auf dem Planeten entwickeln würde, deren neue Qualität aus einer grundliegenden »Sympathie« aller Menschen zueinander entspringen müsse. »Survival depends on sympathy with the human, with embodied and finite individuals whose diverse needs and interests make them all too vulnerable to the pain and suffering they must now endure« (ibid., 161). Nur ein solches realisiertes Menschsein würde schließlich auch die Möglichkeit bieten die Beziehung zwischen Menschen und Natur, oder besser: Gesellschaft und Natur so zu verändern, dass nicht mehr der Imperativ der Herrschaft über die Natur im Mittelpunkt stünde. Ein in diesem Sinne realisiertes menschliches Dasein würde allerdings schon eine andere Gesellschaft voraussetzen, in der die Organisation der
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Tatsächlich zitiert Cook in ihrem Buch einige dieser Theorien (Cook 2014, 121ff).
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Arbeit und damit der »Metabolismus« Mensch-Natur nicht mehr durch die Logik der kapitalistischen Gesellschaft vorgegeben wäre. Reconciliation would finally enable communication to take place between nature, the socioeconomic order and the human and non-human particulars over whom nature and society will always preponderate. […] Establishing freer intercourse between mind and body, ego and instinct, human beings would also improve their metabolism between themselves and the environing natural world (ibid., 161–162).
6. Repolitisierung der Menschlichkeit statt »Abschaffung des Menschen« Die »Abschaffung des Menschen«, die Friedrich Tenbruck schon in den 1980er Jahren beklagte, hat in den letzten Jahrzehnten eher noch zugenommen. Wie hier gezeigt werden sollte, gibt es Gründe, zu behaupten, dass die aktuellen umwelt- und klimakritischen Diskurse und Theorien diesen Trend zum Teil verstärken. Zwar lässt die Anthropozän-Debatte ein erneutes Interesse am Menschen erkennen. Vielen der Beiträge zu dieser Debatte scheint aber ein differenzierteres Problembewusstsein zu fehlen. Der eklatanten Evidenz, dass »der Mensch« den Planeten irreversibel verändert habe, folgt sehr undifferenziert die moralistische Verurteilung der Menschheit als solcher. Übersehen wird dabei die ungleiche Verteilung der Verantwortungslasten, die letztendlich mit einer ungleichen Verteilung von politischer und ökonomischer Macht einhergeht, welche die kapitalistische Moderne auszeichnet, die sich in den letzten 30 Jahren im Format des Neoliberalismus nicht nur sehr erfolgreich globalisieren konnte, sondern die nach der »kulturellen Wende« der Linken heute auch keinen ernstzunehmenden Widerstand mehr zu fürchten hat. Als Alternative zu dieser kurzgreifenden Kritik wurden hier einige Gedanken der »Frankfurter Schule« nachgezeichnet. Das Ziel bestand darin, der »Abschaffung des Menschen« mittels einer heute noch möglichen Restitution des Humanismus entgegenzuwirken. Dabei sollten nicht die Parolen eines altbackenen Humanismus wiederholt werden, in dem das ehrwürdige bürgerliche Bildungsideal wieder im Vordergrund stehen soll (vgl. Nida-Rümelin 2006), sondern, aus der Tradition der Kritischen Theorie ein »Kritischer Humanismus« sichtbar gemacht werden. »Kritischer Humanismus« stellt die Frage nach den Möglichkeiten, vor allem aber nach den Hindernissen für eine menschlichere Gesellschaft in den Mittelpunkt. Dieser Frage soll durch systematische kritische Sozial- und Kulturforschung nachgegangen werden. Die Ergebnisse, die dabei erzielt worden sind, lassen den Schluss zu, dass es nicht »der Mensch« oder »die menschliche Gesellschaft« sind, die pauschal für die Zerstörung der Umwelt und Natur in die Verantwortung genommen werden
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können, sondern, dass die Ursachen dafür vor allen in einer bestimmten sozioökonomischen Organisation der kapitalistischen Gesellschaften zu suchen ist, die sich in einer unaufhaltsam destruktiven Dynamik weiterentwickelt, welche sich in letzter Instanz gegen alles Leben auf der Erde richtet. Die Pointe dieser Kritik besteht nicht darin, sich vom Menschen abzuwenden, sondern, im Gegenteil, der humanistischen Tradition folgend, auf der Einrichtung einer Gesellschaft zu bestehen, in der sich die Menschen in ihrem vollen Menschsein entwickeln können. Nur ein real gewordener Humanismus, so die These, ermöglicht auch eine harmonischere Beziehung der Menschen zur Natur. Für eine umwelt- und klimagerechtere Politik würde sich daraus ergeben, dass sie sich unmissverständlich und prioritär für eine Repolitisierung der Menschlichkeit in unseren Gesellschaften einsetzen müsste.
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»Zur Bildung der Erde sind wir berufen« Zur Aktualität des poetischen Naturverständnisses der Frühromantik Georgios Sagriotis
Seitdem Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer den Begriff des Anthropozäns populär machten (Crutzen und Stoermer 2000; Crutzen 2002), ist die Klimaforschung zu einer Universalwissenschaft avanciert, in deren systematischem Zusammenhang sich ehemals voneinander unabhängige Zweige der Naturwissenschaft kreuzen. Diese Entwicklung entspricht der Betrachtung des Klimas als »Hyperobjekt«. Die Bezeichnung ist in zweierlei Hinsicht gerechtfertigt. Erstens stellt das Klima eine Art Fluidum dar, das Erdensysteme durchdringt. Dadurch entzieht es sich dem herkömmlichen wissenschaftlichen Zugang zu den Naturphänomenen. Zweitens wird gerade am Klima das Ausmaß menschlicher Beeinflussung und Umgestaltung der Natur ersichtlich, was es unmöglich macht, zwischen der menschlichen und der natürlichen Sphäre zu unterscheiden. Was dem Menschen als Gegebenes gegenübersteht und seine Anpassung erzwingt, offenbart sich als (Bei-)Produkt bewusster oder unbewusster menschlicher Tätigkeit. Die Wechselwirkungen zwischen den Menschen und der Natur, aber auch die zwischen organischer und anorganischer Welt erscheinen aus dieser Perspektive als unauflösbar verflochten. Dadurch werden aber nicht nur die Natur-, sondern auch die Kultur- und Humanwissenschaften in das Netz der Klimatologie eingezogen. Literaturtheorie und -wissenschaft sind von dieser Entwicklung nicht ausgenommen. Der schon in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts besonders im angloamerikanischen Sprachraum etablierte »Ecocriticism« erfährt im Kontext des Anthropozän-Diskurses eine Wandlung. Sie besteht – wie auch bei anderen humanwissenschaftlichen Disziplinen – hauptsächlich in einer Umorientierung des traditionellen ökologischen Paradigmas. Es wurde geprägt durch den Versuch, die Legitimität des neuzeitlichen Naturbeherrschungsmodells durch die Berufung auf die Einheit von Mensch und Natur zu hinterfragen. Erweist sich jedoch die Überwindung des Dualismus als eine Folge der Aktivität menschlicher Subjekte, so verliert die Intention der Kritik immer mehr den Boden unter den Füßen. Sie kann sich nicht mehr auf die Idee einer Natur stützen, die sich in ihrer ontologischen
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Konstitution nicht zum Objekt der Ausbeutung degradieren lässt, ohne sich an ihrem vermeintlichen Beherrscher zu rächen. Die Zurückweisung des Narzissmus einer Ratio, die sich frei von raumzeitlichen Bedingungen wähnt und in der Geschichte über die blinde Natur zu triumphieren sucht, muss durch die Vorstellung einer geschichtlichen, ontologisch destabilisierten Natur korrigiert bzw. ergänzt werden. Differenz und Identität zwischen menschlicher Welt und ihrer Umwelt müssen zusammengedacht werden. Dieser Forderung werden viele der neuen ökokritischen Ansätze im Grunde nicht gerecht. Anachronistisch wirkt die Idee, in literarischen Werken der Vergangenheit nach Belegen für eine alternative Konzeption des Mensch-Natur-Verhältnisses zu suchen. Selbst die Vorstellung, Literatur sei der privilegierte Ort der Manifestation dessen, was die neuzeitliche Vernunft zu unterdrücken trachtet, schlägt fehl. Die Stimme der Natur, die darin zum Ausdruck kommt, gibt menschliche Laute von sich. Das gilt selbst für die Idee eines harmonischen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur. Als Systemvorstellung teilt sie den Blick des Herrn, den sie verleugnet. So führt die Abkehr vom neuzeitlichen Subjekt nicht selten zur Evokation von Ontologien, in denen Geschichtlichkeit, Dynamik und Pluralität untergehen. Vor dem Hintergrund dieser Konstellation gewinnt die Romantik – und besonders die Frühromantik – eine neue Aktualität.1 Dass Ansätze für die Kritik des anthropozentrischen Herrschaftsdenkens bei den Romantikern zu suchen sind, ist keine neue Entdeckung. Seit 200 Jahren hat man immer wieder versucht, das naturphilosophische Repertoire der Romantik für Gegenvorschläge zum herrschenden Vorbild des menschlichen Selbstverständnisses in der Moderne nutzbar zu machen. Neu ist das wachsende Interesse an zwei weiteren Merkmalen des frühromantischen Denkens. Was das frühromantische Naturverständnis auszeichnet, ist nicht nur die Subjektivierung der Natur, die von dem Hauptstrom der Aufklärung zum leblosen Objekt der Ausbeutung erklärt wurde. Es ist ohnehin fraglich, ob die anthropomorphe Übertragung der Subjektinstanz auf die Natur den Anmaßungen der Subjektivität Einhalt gebietet. Genauso zentral für die Frühromantik ist allerdings die Zusammenführung von Naturphilosophie und Naturgeschichte, in der die Selbstgefälligkeit des Subjekts – und sei es auch der Natur als Subjekt betrachtet – ihre Grenze findet. Es handelt sich darüber hinaus – und das ist das zweite relevante Merkmal – um eine Destabilisierung der Subjektivität, die nicht im Sinne einer Nivellierung des Unterschieds zwischen Subjekt und Natur stattfindet, sondern als eine gegenseitige Durchdringung, die nicht als vollendet, sondern im Prozess begriffen wird. Inwiefern dieser Gedanke im Werk der Frühromantiker
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Nach Eva Horn und Peter Schnyder ist es die »Epoche eines Umbruchs von der Aufklärung bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der das Verhältnis von Mensch und Natur, Kultur und Klima in radikaler Weise neu gedacht wird« (Horn und Schnyder 2016, 11).
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konsequent verfolgt wurde, oder ob der Idealismus, in dessen Epoche die Frühromantik entstand, die Oberhand gewann, mag hier einmal dahingestellt bleiben. In jedem Fall ist die Romantik auch in Hinsicht der Debatten über Literatur und Anthropozän nicht nur als Inspirationsquelle, sondern vor allem als ein Feld der Auseinandersetzung zu betrachten.2 Dass die Romantik den ersten entscheidenden Schritt über den Anthropozentrismus der Aufklärung hinaus machte, legitimiert nicht per se den Rekurs auf ihre Tradition. Wer sich angesichts heutiger Probleme, darunter auch der Umweltkrise, auf das frühromantische Naturverständnis beruft, setzt sich der Gefahr aus, banal, wenn nicht sogar lächerlich zu wirken. War das romantische Programm der Versöhnung von Mensch und Natur schon in der Zeit um 1800 mit dem damaligen Stand der Wissenschaft, der Technik und der Gesellschaft inkompatibel, so scheint es heute meilenweit entfernt von jeder möglichen Anwendung auf die realen Verhältnisse. Allenfalls taugt es für einen eskapistischen Vorwand oder, schlimmer noch, als schmückendes Beiwerk eines Geschehens, dessen scheinbare Eigengesetzlichkeit unbeeinflussbar bleibt. Die Idee, eine neue, künstliche Mythologie zu entwickeln, sowie das Kokettieren der Romantiker mit der Theosophie besiegelten schließlich auch das Schicksal ihrer Lehren. Die Transformation der Romantik in ein Refugium für harmonische Fiktionen und realitätsfremde Fantasien ist allerdings nicht unbedingt unwiderruflich. Man darf sich fragen, ob die Idee einer »poetischen Ökonomie«, wie sie Novalis einmal vorschwebte, heute, nach der Erfahrung der katastrophalen Folgen des technischen Fortschritts, doch zeitgemäßer ist und die Grundlage für einen realisierbaren Plan des »Welthaushalts« bilden könnte.3 Ein solcher Plan hätte seine philosophische Begründung in der frühromantischen Neukonzeption des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, Mensch und Natur. In den Worten von Novalis fassen wir »die wahren Bande der Verknüpfung von Sub[jekt] und Obj[ekt]« nur in dem Maße, in dem wir »die Natur, oder Außenwelt, als ein menschliches Wesen ahnden« (Novalis 1978–1987, II, 670). »Innen« und »außen« werden durch Analogien miteinander verbunden. Das ist wiederum nur dann möglich, wenn die Fremdheit zwischen Subjekt und Objekt überwunden wird, ohne dass die Andersheit aufgehoben wird. Novalis präsentiert seinen Gedanken im Sinne einer Fichte-Kritik. Anstelle der
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Hierbei muss man Unterscheidungen innerhalb der Frühromantik vornehmen. Es ist z.B. oft bemerkt worden, dass die Gedanken von Schelling und Novalis in wichtigen Aspekten divergieren. Nur beim Letzteren, dessen Gedanken in diesem Aufsatz im Mittelpunkt stehen, scheint die oben erwähnte Gegenüberstellung von Vollendung und Prozess zu gelten. Vgl. Mahoney 1980, 21–29. Bestritten wird das von Uerlings 2016, 159–160. Vgl. die Ausführungen über den Begriff der Ökonomie bei Novalis in Becker und Manstetten 2004, 110–112.
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Dichotomie von Ich und Nicht-Ich lässt er die Beziehung zwischen Ich und Du treten: »(Statt N[icht]-I[ch] – Du)« (Novalis 1978–1987, II, 670).4 Die Idee der Ersetzung von Technik durch Kommunikation bzw. Liebe als Grundmodus der Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur (Sonoda 2011, 266–267) ist nur dann frei von Naivität, wenn Ich und Du nicht als gegebene personale Instanzen in Verhältnis zueinander treten, sondern ihre personale Identität im Verhältnis selbst bilden. Novalis’ Rede von einem »urspr[ünglichen] Sinn« als Ziel des »Romantisierens« kann missverstanden werden (Novalis 1978–1987, II, 334). Zwar muss man, will man Herrschaftslosigkeit begründen, der Natur lebendige Subjektivität zuerkennen. Sie muss aber nicht als präsente Wirklichkeit begriffen werden. Was Novalis hingegen für ursprünglich hält, ist die Möglichkeit einer Belebung, welche zudem durch das menschliche Subjekt selbst geleistet werden soll: »Die Welt hat eine ursprüngliche Fähigkeit von mir belebt zu werden – Sie ist überhaupt a priori von mir belebt – Eins mit mir« (Novalis 1978–1987, II, 343). Die Welt soll erst das Du werden, das sie immer schon ist. Die Liebe ist eine pädagogische, und zwar in dem doppelten Sinn, dass sie einen Bildungsprozess einleitet und dass sie selbst als Prinzip »unendlich ausbildsam, wie das individuelle Princip selbst« ist (Novalis 1978–1987, II, 344). Novalis nennt die Belebung der Natur durch den Menschen eine »höhere Bildung«, von der er meint, »sie streitet mit der mindern nicht« (Novalis 1978–1987, II, 343). Wegen der Akzentuierung des Einheitsgedankens in der Rezeption der Frühromantik ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dass die frühromantische Theorie der Natur im Grunde Teil eines pädagogischen Programms war, das sich weigerte, den Bildungsgedanken von der technischen Bewältigung des Naturverhältnisses zu isolieren. Natur lässt sich in der Frühromantik einzig durch Kultur verstehen, Technik durch Kunst. Im Mittelpunkt steht die Metapher des Technikers, der die Natur nicht so sehr als Lehrerin, sondern vor allem als Schülerin betrachtet, sie nicht beherrscht, sich ihr aber auch nicht ausliefert. Seine Aufgabe besteht nach Novalis darin, die Natur zu erziehen. Aus dieser umgekehrten naturpädagogischen Perspektive möchte ich hier das frühromantische Verständnis der Natur diskutieren. Ich beschränke mich dabei auf einige Punkte, die mir grundlegend für eine Orientierung zu sein scheinen. Die Vorstellung vom Erzieher als Gärtner gehört zu dem ältesten und beliebtesten Bestand pädagogischen Denkens. Sie vereinigt zwei Gedanken. Ist das Kind oder der Lehrling einer Pflanze vergleichbar, so ist die Möglichkeit der Herbeiführung des Ziels pädagogischer Einwirkung in ihm im Keim angelegt. Ist aber ein Gärtner für das Wachstum der Pflanze nötig, dann ist das Ziel, das in der Natur der Pflanze angelegt, aber von ihr selbst nicht zu erreichen ist, in der Absicht des
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Die Bedeutung der Distanzierung von Fichte ist umstritten. Vgl. Wanning 1997.
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Erziehers zu suchen. So schreibt z.B. Comenius: »Es ist die Eigenschaft alles dessen, was wächst, daß es im zarten Alter leicht gebildet und gebogen werden kann« (Comenius 1992, 50). Die Notwendigkeit der Gartenkunst kann aber auch anders begründet werden. Was wild wächst, kann der Ausbreitung fremder Samen durch den Wind zugeschrieben werden. In Rousseaus Nouvelle Héloïse bringt Julie Wolmer ihr Selbstverständnis als Mutter zum Ausdruck. Sie sei nur »die Dienerin des Gärtners. Wenn ich den Garten jäte und die schlechte Saat entferne, dann nur, um die gute zu kultivieren« (Rousseau 1865, 409, Übers. v. G.S.). In Émile wird bekanntlich die Gärtnermetapher mit Rousseaus Konzept einer negativen Erziehung in Verbindung gebracht, die darin besteht, den gefährlichen Einfluss der Kultur abzuwehren. Auf den ersten Seiten des Buches spricht Rousseau die ideale Erzieherin an: An dich wende ich mich, zärtliche und klarblickende Mutter, die du abseits von der großen Straße zu gehen und das heranwachsende Bäumchen vor dem Schock der menschlichen Irrtümer zu schützen wusstest! Pflege und tränke das junge Gewächs, bevor es stirbt; eines Tages werden seine Früchte deine Wonne sein. […] Die Pflanze wird durch Pflege aufgezogen, der Mensch durch die Erziehung (Rousseau 2019, 13). Rousseau weist hier entschieden zurück, dass die pädagogische Aufgabe darin bestünde, dem natürlichen Potenzial eine arbiträre Richtung zu geben. Ist diese Richtung nicht die der Pflanze vorbestimmte, dann bleibt ihr die Potenz der Natur entgegengesetzt. So wie zum Beispiel die Gewohnheit der Pflanze, deren senkrechtes Wachstum man verhindert. Lässt man sie später weiterwachsen wie sie will, wächst sie zunächst in der ihr aufgezwungenen Verborgenheit weiter, aber der Strom ihrer Säfte hat deshalb keineswegs seine ursprüngliche Richtung geändert, und lebt die Pflanze weiter, so wächst sie doch wieder in senkrechter Richtung (Rousseau 2019, 14). Dass Rousseaus Erziehungstheorie und noch mehr seine Idealisierung von Kindern und Natur Grundsteine für die deutsche Romantik im Allgemeinen waren, steht außer Frage. Das gilt auch für die Frühromantik. Im zweiten Teil des unvollendeten Romans Heinrich von Ofterdingen, der den Bildungsweg eines Dichters darstellen soll, führt der Protagonist ein Gespräch mit dem geheimnisvollen Erzieher Sylvester und zwar in dessen Garten. Nicht nur scheint Sylvester die ultimative Verkörperung jenes Fremden zu sein, der im ersten Teil des Romans von der blauen Blume erzählt, sondern er weiht Heinrich auch in die Mysterien der Erziehung ein. Heinrich, der am Anfang des Gesprächs zugibt, er wisse gar nicht, »was Erziehung heißt« (Novalis 1978–1987, I, 375), kommt über die Erinnerung an seinen Vater bald zur Feststellung der Analogie zwischen Garten- und pädagogischer Kunst. »Mein Vater ist auch ein großer Freund des Gartenlebens und die glücklichsten Stunden seines Le-
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bens bringt er unter den Blumen zu. Dies hat auch gewiß seinen Sinn für die Kinder so offen erhalten, da Blumen die Ebenbilder der Kinder sind« (Novalis 1978–1987, I, 377–378). Die unüberhörbaren Anklänge an Rousseau könnten den Leser leicht über den Wandel täuschen, dem der traditionelle pädagogische Gedanke unterworfen wird. Im Unterschied zu Rousseau, der von der gelungenen Erziehung erwartet, die Früchte des kultivierten Baumes ernten zu lassen, scheint Novalis dem pflanzlichen Wesen der Kindheit einen eigenständigen Wert beizumessen. Entsprechend verschiebt sich der Akzent der Wertsetzung vom Wachstumspotenzial auf den Frieden des vegetativen Daseins. Auch die Liebesneigung der Pflanzen sei mild. »Es ist keine verehrende Flamme; es ist ein zerrinnender Duft und so innig die Vereinigung der zärtlichen Seelen auch ist, so ist sie doch von keiner heftigen Bewegung und [k]einer fressenden Wuth begleitet, wie bey den Thieren« (Novalis 1978–1987, I, 378). Sehr deutlich zeigt sich dieselbe Verschiebung in Friedrich Schlegels Lucinde. Ihre Voraussetzung hat sie – ähnlich wie bei Novalis – in einer Erotisierung des Bildungsverhältnisses. Im Roman werden die Lehrjahre des Erzählers zu »Lehrjahren der Männlichkeit« (Schlegel 1962, 35), und die Stufen der Entwicklung der »nach natürlichen Gesetzen fortschreitende[n] Aufklärung« (Schlegel 1962, 9) entsprechen auch Stufen eines sich aufrollenden Liebesverhältnisses. Nun ist diese Liebe zunächst autoerotisch – eine Reminiszenz an Fichtes Grundlegung der Philosophie im sich selbst setzenden Ich. Von der »kleinen Wilhelmine« wird erzählt, ihre Vollkommenheit drücke sich in »Selbstzufriedenheit« aus (Schlegel 1962, 14), während Julius, der Ich-Erzähler, seine Einsamkeit und Sorglosigkeit »wie ein nachdenkliches Mädchen« (Schlegel 1962, 25) am Ufer des Bachs genießt. »[D]ie Wellen flohen und flossen so gelassen, ruhig und sentimental, als sollte sich ein Narcissus in der klaren Fläche bespiegeln und sich in schönen Egoismus berauschen« (Schlegel 1962, 25). Der Narzissmus lebt aber auch im binären Liebesverhältnis fort, der die Form der Schlafgemeinschaft annimmt. Das Recht auf Schlaf will Julius gegen die Arbeitsethik verteidigen. Das Bild dafür findet er in der Pflanze, die nicht mehr als Subjekt, sondern als das eigentliche Ziel der Bildung begriffen wird und eine Apotheose erfährt. »Um alles in Eins zu fassen: je göttlicher ein Mensch oder ein Werk des Menschen ist, je ähnlicher werden sie der Pflanze; diese ist unter allen Formen der Natur die sittlichste, und die schönste. Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren« (Schlegel 1962, 27; Herv. i. O.). Für die Menschheit, die Schlegel eine »unendliche Pflanze« (Schlegel 1962, 27) nennt, sei jemand wie Prometheus kein geeigneter Erzieher. Er beherrsche die angemessene Methode nicht, weil er dem rationalen Ordnungsdenken treu bleibe. Anders verfährt der sich als Dichter verstehende Julius. Ihm geht es um das »wundersam[e] Gewächs von Willkür und Liebe«. »[F]rei wie es entsprossen ist«, denkt er, »soll es auch üppig wachsen und verwildern, und nie will ich aus niedriger Ordnungsliebe und Sparsamkeit die
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lebendige Fülle von überflüssigen Blättern und Ranken beschneiden« (Schlegel 1962, 26). Den provokanten Äußerungen des Ich-Erzählers, der »das was wir Ordnung nennen« zerstören und sich »das Recht einer reizenden Verwirrung deutlich zueignen und durch die Tat behaupten« möchte (Schlegel 1962, 9), liegt die philosophische Auseinandersetzung Schlegels – auch Hardenbergs – mit Kant und Fichte zugrunde. Mit ihnen fassen die Frühromantiker Freiheit als das einzige mögliche Ziel von Erziehung. Die Rede von der Freiheitsbestimmung des Menschen, die sich bei Fichte findet, aber durch die Lehre Kants vorbereitet wird, ist nicht teleologisch gemeint. Wegen des Abstandes, der bei Kant den theoretischen vom praktischem Vernunftgebrauch und bei Fichte das endliche vom absoluten Ich trennt, bleibt trotz des Versuchs, die Kluft zu überbrücken, der Anspruch auf ihre mögliche Erfüllung inkongruent. Der Weg zur Freiheit kann allenfalls eine unendliche Annäherung an sie sein. Niemals wird ihre dennoch anzunehmende Möglichkeit verwirklicht werden können. Wiewohl sie die Verwirklichung des Reichs Gottes auf Erden unnachgiebig fordern, stimmen die Brüder Schlegel und Novalis mit ihren philosophischen Vorfahren überein. Die Notwendigkeit des Bezugs zum Unbedingten (das, was sie als die Hauptidee des Idealismus verstehen) ändere nichts daran, dass man überall nur Dinge, also Endliches finde. Dass sie gleichzeitig behaupten, das Absolute vermag trotzdem durch das Endliche hindurchzuscheinen, wird durch den folgenden Gedanken gerechtfertigt: Was man das »Absolute« nennt, kennt keine Grenzen, sonst wäre es eben nicht absolut. In diesem Sinne ist es unendlich. Dann darf man aber – so der Grundgedanke – die Unendlichkeit des Wegs zum Absoluten als eine Chiffre des nicht zu erreichenden, doch dadurch repräsentierten Absoluten fassen. So betrachtet, sind Endliches und Unendliches in ihrem ewigen Auseinanderfallen eins. Dieser spezifisch frühromantischen Dialektik, die dann von Hegel durch die Unterscheidung zwischen »schlecht« und »gut Unendlichem« verworfen wird, unterliegen im Denken von Schlegel und Novalis alle Begriffspaare, die Kant zu den sogenannten »Reflexionsbegriffen« zählte: »Einerleiheit und Verschiedenheit«, »Einstimmung und Widerstreit«, »Inneres und Äußeres«, »Materie und Form« (Kant 1787, 319–322). Die Struktur dieser Gegensätze, wodurch nach Kant jede Reflexion im Sinn der »Vergleichung« stattfindet, ist der Antithese von Ich und Nicht-Ich in Fichtes Wissenschaftslehre homolog. Wird die Grenze zwischen den Extremen verflüssigt, so verliert die starre Gegenüberstellung von Spontaneität und Rezeptivität, Aktivität und Passivität ihr absolutes Recht. Wie das Absolute qua Unendliches seine Reinheit vor dem Endlichen beschützt, indem es das Hinstreben des Endlichen zum Unendlichen zur unendlichen Aufgabe macht, so muss sich auch die reine Aktivität in der Passivität behaupten und als Passivität zu erkennen geben. Das lässt sich aufs Lob des Müßiggangs direkt übertragen: »Der Fleiß und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert, welche dem Menschen
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die Rückkehr ins Paradies verwehren. Nur mit Gelassenheit und Sanftmut, in der heiligen Stille der echten Passivität kann man sich an sein ganzes Ich erinnern, und die Welt und das Leben anschauen« (Schlegel 1962, 27). »Echt« wird solche Passivität genannt, weil sie nicht auf reduzierte Aktivität zurückgeführt werden kann. Es geht nicht um einen verminderten Kraftaufwand bei der Verfolgung gesetzter Ziele. Vielmehr handelt es sich um den Verzicht auf Zielsetzungen überhaupt. Sie sind als solche mit Endlichkeit behaftet. Denn wird ein Ziel gesetzt, so setzt sich gleichzeitig das ökonomische Verhältnis zwischen Zweck und ihm dienenden Mittel durch, in dem die ursprüngliche Spontaneität des Willens in einer Mechanik verschwindet. »Das Nützliche ist per se prosaïsch«, notiert sich Novalis, »jeder best[immte] Zweck ist ein consonirter [d.h. poesiearmer, Anm. G.S.] gehemmter Zweck« (Novalis 1978–1987, II, 537; Herv. i. O.). Wirklich passiv sein bedeutet dagegen, Zwecke in die Ferne zu rücken. Das ist der Prozess, den Novalis als »Poetisierung« bezeichnet. Als Prozess ist echte Passivität Passivitätsherstellung, damit aber auch – in Schlegels Worten – eine »absichtliche, willkürliche« Passivität (Schlegel 1962, 27). Dadurch erweist sie sich aber auch als ein Modus der Aktivität, und zwar als der höchste, sofern sie sich der Begrenzung der Freiheit widersetzt. Deswegen färbt sich bei Novalis das Gewächs blau. Es ist das himmlische Moment in der Natur. Man würde die programmatischen Intentionen der Frühromantiker missverstehen, wollte man darin nur oder vor allem eine gegen den rücksichtslosen Vormarsch der Aufklärung und die Vorherrschaft des technischen Prinzips gerichtete Vergöttlichung der Natur sehen, obwohl diese Dimension nie ganz wegzudenken ist – besonders wenn man die Weiterentwicklung der deutschen Romantik mit in Betracht zieht. Das frühromantische Konzept einer bewussten Verweigerung der Absichten ist der Versuch, die von Schiller in poetologisch-geschichtsphilosophischen Termini ins Spiel gebrachte Dialektik von Naivität und Sentimentalität zu Ende zu denken. Die gezielte Regression ins goldene Zeitalter der Kindheit bleibt laut Schlegel »einseitig« (Schlegel 1962, 27), solange sich die Vorstellung des makellos Natürlichen frei wähnt von der Kunst, die sie zum Ziel setzt. Steht Passivität gleichsam für die natürliche Seite des Subjekts – anders gesagt, für das Reale am Idealen –, so muss auch die Natur als Subjekt erfasst werden können. Philosophiegeschichtlich betrachtet ist dieser Gedanke ein Produkt der vom aufkommenden deutschen Idealismus unternommenen Synthese von Transzendentalphilosophie und Spinozismus. Hardenbergs Vorstellung von »Selbstberührung, Selbstheterogenisierung und Selbsterzeugung der Materie« (Mahoney 1980, 59) drückt ein Wechselverhältnis zwischen natura naturans und natura naturata aus, in dem sich bewusste Aktivität – nämlich Kunst – und unreflektiertes So-Sein – nämlich Natur – vereinen. Das legitimiert die Formel von der »gegenseitigen Durchdringung« (Uerlings 2016, 413) von Kunst und Natur, vor deren Hintergrund der Dualismus sein Recht einbüßt: »Die Natur hat Kunstinstinkt – daher ist es Geschwätz, wenn man Kunst und Natur unterscheiden will« (Novalis 1978–1987, II, 810). Zahlreiche ähnliche Formulierun-
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gen scheinen denselben Gedanken auszudrücken. Während Schlegel das Verhältnis von Mensch und Natur eher als ein agonales beschreibt, scheinen sie im Werk Hardenbergs immer schon im Sinne ihrer vollkommenen Versöhnung begriffen zu werden. Diese Feststellung wird durch den unterschiedlichen Stellenwert von Geschichte und Naturphilosophie im Denken der beiden Frühromantiker weitgehend bestätigt. Sie kann aber auch in die Irre führen. Wenn die Natur sich durch ihre unendliche schöpferische Kraft auszeichnet, dann liegt es nah, anzunehmen, alles was schöpferisch sei, muss auch naturhaft sein. Tatsächlich behauptet Novalis: »dichterische Natur ist Natur – ihr gebühren alle Eigenschaften der Letztern« (Novalis 1978–1987, II, 808). Andererseits ist diese Natur, in deren Kreislauf der Dichter verharren soll, nur insofern dichterisch, als sie mehr als bloße Natur ist. Novalis ist nicht der Ansicht, dass die Natur sich durch ihre ursprüngliche Schöpferkraft zum Naturkunstwerk schuf. Vielmehr habe sie sich allmählich in eine dichtende Natur verwandelt. Das Ursprüngliche ist somit ein Gewordenes, richtiger: ein Werdendes. Deswegen lässt sich das Verhältnis von Kunst und Natur nicht auf das einer Identität reduzieren. Kunst ist nicht unmittelbar Natur, sondern – um es in der frühromantischen Sprache zu sagen – die Natur der Natur, eine Natur zweiten Grades, die erst werden soll. Zwar fasst Novalis die Kunst als eine Selbstbespiegelung der Natur auf, aber im Spiegel sieht die Natur nicht sich selbst, wie sie ist, sondern ihr Anderes, das ihr zur »Potenzierung« verhilft. Inzwischen hat die Novalis-Forschung eine lange Zeit vorherrschende Auffassung weitgehend infrage gestellt. Diese besagte, dass das frühromantische Programm Hardenbergs sich darin erschöpfe, den Weg nach innen, wohin die Sehnsucht führe, einzuschlagen. Novalis schreibt aber: »Der erste Schritt wird Blick nach Innen, absondernde Beschauung unsres Selbst. Wer hier nur bleibt, geräth nur halb. Der zweyte Schritt muß wirksamer Blick nach außen, selbstthätige, gehaltne Beobachtung der Außenwelt seyn« (Novalis 1978–1987, II, 237). Entsprechend ist die Selbstverleugnung der Subjektivität im Namen der natürlichen Genialität nur ein erster Schritt. Ihm muss ein zweiter und komplementärer folgen, in dem Natur aus sich herausgeht. Kunst wird von Novalis nicht nur als das Wesen, sondern auch als »Compliment der Natur« (Novalis 1978–1987, II, 518) bezeichnet. Ohne diesen Übergang des Inneren ins Äußere bliebe die Selbstdurchdringung, welche Novalis mit seinem erotischen Vokabular auch Selbstumarmung nennt, eine leere Tautologie. Der Wert der Selbstgenügsamkeit besteht gerade darin, dass sie auf eine Außenwirkung verweist. Für den Wert des Naiven ist Reflexion konstitutiv. Daraus leitet Novalis einen Imperativ ab: »Alles Unwillkührliche soll in ein Willkührliches verwandelt werden« (Novalis 1978–1987, II, 378). Auch da, wo er dem Instinkt Kunst zuschreibt, impliziert die Zuschreibung eher ein Mögliches als ein Wirkliches: Der Instinkt ist Kunst, sofern er sich in Kunst verwandeln lässt. Damit schlägt die Naturmetaphysik in praktische Philosophie um. Was in der Natur und zugleich außerhalb steht, ist der Mensch, und ihm kommt dabei die
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Aufgabe zu, der Natur die Offenbarung ihrer Poesie durch die Vermittlung seiner eigenen Kunstpoesie zu ermöglichen. Durch die Modalität der Möglichkeit wird die Konstruktion zeitlich perspektiviert. Zwar dreht sie sich um die mystische Vorstellung einer Ehe zwischen Himmel und Erde, nur ist die »Natur des jetzigen Himmels und der jetzigen Erde« eine »prosaische«, wie Novalis schreibt. In der »Weltperiode des Nutzens« kann ihre Umarmung nur vertraglich stattfinden – eine Parodie auf Hardenbergs liebesmetaphysisches Credo. Ein »Weltgericht«, meint er, muss die neue, poetische Periode erst einführen, denn sie ist eine »gebildete« (Novalis 1978–1987, II, 547; Herv. i. O.). Das ist der Punkt, an dem die eigentümliche Lehre des »magischen Idealismus« anknüpft. Novalis führt den Begriff des magischen Idealismus im Rahmen der Entwicklung seines enzyklopädischen Projekts ein. Die romantische Enzyklopädie sollte die Aufhebung der Trennung zwischen den Einzelwissenschaften und die Wiederherstellung einer archetypischen Gesamtwissenschaft einleiten. Dabei fiel der Mathematik eine zentrale Rolle zu, und es steht fest, dass Novalis durch seine mathematischen und naturwissenschaftlichen Studien zu diesem Projekt angeregt wurde. Anders als bei der positivistischen Auffassung von Wissenschaftseinheit, erhoffte er sich von der Mathematik nicht die Garantie der Objektivität, sondern die Bestimmung des Rhythmus, in dem sich die getrennten Disziplinen miteinander verweben könnten. Die Methode der Vereinheitlichung bestand in der Entdeckung von kombinatorischen Möglichkeiten, basiert auf Analogieverhältnissen. Analogien kann aber nur in dem Maße kognitiver Wert zugesprochen werden, in dem sie als Ausdruck eines allgemeinen Symbolismus betrachtet werden, mit Novalis gesprochen, einer »Symphathie des Zeichens mit dem Bezeichneten« (Novalis 1978–1987, II, 499; Herv. i. O.). So strebte Novalis mit seiner Enzyklopädie eine Universalhermeneutik an, als deren Metaphysik der magische Idealismus gemeint war. Im Allgemeinen Brouillon, der Materialiensammlung für das unvollendete Projekt, personifiziert Novalis dieses Konzept. Der magische Idealist wird als Meister zweier entgegengesetzter transformierender Operationen vorgestellt. Er beherrsche die Kunst, Gedanken in Dinge oder Dinge in Gedanken zu verwandeln (Novalis 1978–1987, II, 535–536). Darin kommt nochmals die bereits diskutierte Vorstellung vom Verhältnis zwischen Natur und Subjekt zum Ausdruck. Die Verwirklichung des Geistes und damit auch der Freiheit, in der sich die unterschiedlichen Versuche der nachkantischen Philosophie kreuzen, betrachtet Novalis in wechselseitigem Abhängigkeitsverhältnis mit einer Bereitschaft, der Natur selbst Leben, Geist und Freiheit zuzugestehen. Eine solche Auszeichnung gebührt jedoch nur der mithilfe ihres Anderen entwickelten, d.h. der gebildeten Natur. Ganz konsequent nimmt der magische Idealismus die Gestalt eines Bildungsprogramms an, das uns aufgegeben ist: »Wir sind auf einer Mission. Zur Bildung der Erde sind wir berufen« (Novalis 1978–1987, II, 240; Herv. i. O.). Im Allgemeinen Brouillon taucht der Gedan-
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ke wiederholt auf. »Die magischen W[issenschaften] entspringen […] durch die Anwendung des moralischen Sinns auf die anderen Sinne – i.e. durch die Moralisierung des Weltalls, und der übrigen Wissenschaften« (Novalis 1978–1987, II, 508). Also ist die Lehre vom magischen Idealismus, wie Novalis selbst formuliert, eine »Bild[ungs]lehre d[er] Natur«, nach welcher der Mensch, der sich in anderer Hinsicht in ihr auflösen soll, der Natur gegenüber eine pädagogische Aufgabe übernimmt: »Die Natur soll moralisch werden. Wir sind ihre Erzieher – ihre moralischen Tangenten – ihre moralischen Reitze« (Novalis 1978–1987, II, 485; vgl. ibid., 482; Herv. i. O.). Bevor ich zum Schluss auf die Tragweite dieser Konzeption kurz eingehe, möchte ich das bisher Besprochene zusammenfassen. (1) Rousseau macht sich die herkömmliche pädagogische Gärtnermetapher zu eigen, vergleicht das Kind mit einer Pflanze, die aber nicht mehr an die Willkür des Gärtners angepasst werden soll, sondern durch die hegende Wirkung des Gärtners der Natur überliefert werden soll, von der sich auch der Gärtner unterrichten lässt. (2) Die deutsche Frühromantik übernimmt die Kind-Pflanze-Analogie, deutet sie aber um, indem sie das Programm einer Erziehung zur Kindheit schafft, in der Novalis eine »Überlegenheit […] in den allerhöchsten Dingen« sieht (Novalis 1978–1987, I, 375). Der rousseausche Ansatz wird auch von Schlegel dahin radikalisiert, dass Passivität, »Vegetieren«, ironischerweise zum Vorbild erhoben wird. (3) Dennoch stellt diese Passivität das aktive Prinzip dar, was Novalis dazu führt, dem Unwillkürlichen, dem Instinkt oder der Natur die Züge eines schöpferischen Subjekts zu verleihen. Dem ist hinzuzufügen, dass Naturprodukte in dieser Betrachtungsweise als stumme Wörter der Natur gefasst werden. Heinrich von Ofterdingen erkennt im gleichnamigen Roman in »jede[m] neue[n] Blatt, jeder[r] sonderbare[n] Blume« (Novalis 1978–1987, I, 377) die Geheimschrift der Natur, deren Text zu dechiffrieren und zu lesen sei. (4) Nach Novalis ist der Mensch aber nicht nur Leser der Natur, sondern auch ihr Erzieher. Denn erst nachdem er sie zum Sprechen bringt, wird die Natur wirklich zu dem, was er bei ihr voraussetzt, wenn er zu ihr in die Lehre geht. Dass der Mensch nicht nur der Lehrling der Natur ist, sondern zugleich ihr Pädagoge – Novalis spricht auch vom »Messias der Natur« (Novalis 1978–1987, I, 235) –, dass die Einheit von Kunst und Natur als ein Bildungsprogramm konzipiert wird, ist eine doppelte Metapher. Es ist gleichsam eine Rückkehr zur unmetaphorischen Vorstellung der Kultivierung der Erde durch den Menschen, gleichzeitig aber eine Umkehrung der Metapher von der Lehrerin Natur, deren Diener bei Rousseau der Mensch ist. Auch die Tätigkeit des romantischen Erziehers der Natur ist eine Art Technik, wie jedes andere Verhältnis eines Subjekts zu einem Objekt. Wie jede Technik ist sie reflektiert, im Bewusstsein dessen, dass das Verhältnis zum Objekt ein Selbstverhältnis des Subjekts gründet. Der spezifisch pädagogische Charakter dieses technischen Verhältnisses besteht jedoch darin, dass das Selbstverhältnis, das damit einhergeht, keins der Identität ist. Vielmehr muss der Erzieher, um den pädagogischen
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Abstand zu seinem Objekt zu halten, die Trennung von Subjekt und Objekt in sich selbst bewirken. Ohne die Entfremdung von sich selbst wäre er nicht in der Lage, seine Aufgabe zu erfüllen. Er schlüpft also in eine Rolle. In diesem schauspielerischen Setting findet er aber das Objekt in sich selbst wieder. Adornos Formel vom »Eingedenken der Natur im Subjekt« (Adorno 1997, 58) könnte hier wohl ihre Anwendung finden. Es ist gerade diese Trennung, die Einblick in die Möglichkeit der Vereinigung gewährt. Erst das gibt dem Erzieher das Recht und verpflichtet ihn zugleich, das Schülerobjekt als potenzielles Subjekt, seine Einwirkung als autonome Leistung des Objekts zu betrachten. Nicht nur der Erzieher als Mensch, sondern auch die eigene Technik erweist sich als ein Stück Natur, die sich erschafft. Poetisch – in der Terminologie der Frühromantik – ist dieser Schaffensprozess, insofern der Mensch mit seiner Technik der Kritiker ihres Kunstwerks ist. Auch das Buch, dessen Plot »without man« (Beer 2009, 17) geschrieben wurde, ist zu lesen. Kein anderer als der Dichter, Philosoph und Bergbau- und Salinenbeamte Novalis dachte konsequenter über die Möglichkeit der Kombination von Human- und Geowissenschaften nach. Auf die Bedeutung mineralogischer Motive in seinem Gesamtwerk und besonders in Heinrich von Ofterdingen ist schon oft hingewiesen worden. Im fünften Kapitel des Romans preist ein alter Bergmann seinen Beruf als einen »von Gott gesegnet[en]« (Novalis 1978–1987, I, 291). Der Grund für die Begeisterung scheint in der Vorstellung eines Spiegelverhältnisses zwischen Innen und Außen, Oben und Unten, Tiefe und Oberfläche sowie Vergangenheit und Zukunft zu liegen. Als Heinrich und der Bergmann eine unterirdische Höhle betreten, wo sie Knochen, anorganische Überreste von uralten organischen Wesen, finden,5 fragt sich Heinrich: Könnten dereinst diese schauerlichen Fremden, von der eindringenden Kälte hervorgetrieben, unter uns erscheinen, während vielleicht zu gleicher Zeit himmlische Geäste, lebendige, redende Kräfte der Gestirne über unsern Häuptern sichtbar würden? Sind diese Knochen Überreste ihrer Wanderungen nach der Oberfläche, oder Zeichen einer Flut in die Tiefe? (Novalis 1978–1987, I, 300–301) Ein Einsiedler, dem sie in der Höhle begegnen, setzt das Analogienspiel fort, indem er im Gespräch mit dem Bergmann einen Vergleich über dessen Tätigkeit anstellt. Ihr seyd beinah verkehrte Astrologen, sagte der Einsiedler. Wenn diese den Himmel unverwandt betrachten und seine unermeßlichen Räume durchirren: so wendet ihr euren Blick auf den Erdboden, und erforscht seinen Bau. Jene studieren die Kräfte und Einflüsse der Gestirne, und ihr untersucht die Kräfte
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Knochen wie Fossilien veranschaulichen die These »eines prinzipiellen Übergangs von anorganischer und organischer Materie« (Bark 1999, 298).
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der Felsen und Berge, und die mannigfaltigen Wirkungen der Erd- und Steinschichten. Jenen ist der Himmel das Buch der Zukunft, während euch die Erde Denkmale der Urwelt zeigt (Novalis 1978–1987, I, 307–308). Die typisch romantische Spiegelsymmetrie und Verdopplung der Richtung durchzieht den Text.6 Sie kreuzt sich jedoch mit der einen Richtung, die dem angesprochenen Divinationsverfahren eigen ist. Die Deutung muss dem Gedeuteten folgen.7 Zum Schluss erweist sich der Deuter des Vergangenen als »Kind des ewigen Friedens« (Novalis 1978–1987, I, 308). Die um 1800 herrschende Theorie der allmählichen Abkühlung der Erde8 dient als Darstellungsfläche des Gedankens einer Transformation der »erzeugende[n] Kraft« in »bildend[e], veredelnd[e] und gesellig[e] Kräft[e]«. Das »Gemüth« der Natur sei »empfänglicher und zarter, ihre Phantasie mannichfaltiger und sinnbildlicher, ihre Hand leichter und kunstreicher geworden. Sie nähert sich dem Menschen, und wenn sie ehmals ein wildgebährender Fels war, so ist sie jetzt eine stille, treibende Pflanze, eine stumme menschliche Künstlerinn« (Novalis 1978–1987, I, 309). Ich komme zu einem vorläufigen Fazit. Meines Erachtens besteht die Aktualität des poetischen Naturverständnisses der Frühromantik weder im Ideal der Universalwissenschaft noch in ihrer New-Age-Metamorphose, sondern gerade darin, dass es eine Alternative bietet, nicht nur zum gegenwärtig vorherrschenden Paradigma des Umgangs mit der Natur, sondern auch zu den bislang angebotenen alternativen Diskursen. Diese werden dominiert entweder von einer pseudoreligiösen Naturmythologie oder vom systemtheoretischen Gedanken einer Naturökonomie, die durch die menschliche Hybris destabilisiert wurde. Muss aber der Mensch – oder der Mensch unserer westlichen Kultur – die Illusion der Selbstherrlichkeit aufgeben und sich selbst als Teil der Natur betrachten, so kann man die alte Hybris als eine der Natur selbst betrachten, zu der der Mensch gehört. Es ist – im Sinne von Novalis – eine unmündige Erde, die sich noch als Umwelt von Geistern versteht.
Quellen Comenius, Johann A.: Große Didaktik. Stuttgart: Klett-Cotta 1992. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Riga: Johann Friedrich Hartknoch 1787.
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Bei der Besprechung derselben Stelle im Roman erkennt Lena Kugler nur diese Dimension (Kugler 2021, 23–24). In einer Aufzeichnung stellt Novalis die »Aehnlichkeit der histor[ischen] Geognosie und Orykt[ognosie] mit der Philologie« fest (Novalis 1978–1987, II, 419). Die Vorstellung der Abkühlung der Erde taucht auch in anderen Schriften von Novalis auf. Vgl. z.B. Novalis 1978–1987, II, 572–573. Sie begründet eine eschatologische Geschichtsphilosophie (vgl. Auer 2016, 63).
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Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Band 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, hg. v. Richard Samuel; Band 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. v. Hans-Joachim Mähl; Band 3: Kommentar und Register, hg. v. Hans Jürgen Balmes, Hamburg: Hanser 1978–1987. Rousseau, Jean-Jacques : Œuvres completes, Bd. 3. Paris : Librairie de L. Hachette 1865. Rousseau, Jean-Jacques: Émile oder Über die Erziehung. Stuttgart: Reclam 2019. Schlegel, Friedrich: Dichtungen, hg. v. Hans Eichner. München, Paderborn, Wien: Ferdinand Schöningh 1962.
Literatur Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Auer, Michael: Thermostatische Dichtung. Hölderlins Klimapoetik. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2016): 60–71. Bark, Irene: Steine in Potenzen. Konstruktive Rezeption der Mineralogie bei Novalis. Tübingen: Max Niemeyer 1999. Becker, Christian, und Reiner Manstetten: Nature as You. Novalis’ Philosophical Thought and the Modern Ecological Crisis. In: Environmental Values 13:1 (2004): 101–118. Beer, Gillian: Darwin’s Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth-Century Fiction. Cambridge: Cambridge University Press 2009. Crutzen, Paul J., und Eugene F. Stoermer: The »Anthropocene«. In: Global Change Newsletter 41 (2000): 17–18. Crutzen, Paul J.: Geology of Mankind. In: Nature 415 (2002): 23. Horn, Eva, und Peter Schnyder: Romantische Klimatologie. Zur Einleitung. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2016): 9–18. Kugler, Lena: Die Zeit der Tiere: Zur Polychronie und Biodiversität der Moderne. Konstanz: Konstanz University Press 2021. Mahoney, Denis F.: Die Poetisierung der Natur bei Novalis: Beweggründe, Gestaltung, Folgen. Bonn: Bouvier 1980. Sonoda, Muneto: Die Poetik des Novalis im Vergleich mit japanischer Dichtung und Poetologie. In: Herbert Uerlings (Hg.): Novalis. Poesie und Poetik. Berlin, New York: De Gruyter 2011, 261–272. Uerlings, Hubert: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart: Metzler 2016. Wanning, Berbeli: Statt Nicht-Ich – Du! Die Umwendung der Fichteschen Wissenschaftslehre ins Dialogische durch Novalis (Friedrich von Hardenberg). In: Fichte-Studien 12 (1997): 153–168.
Anthropocene Gaze: Neue Bilder auf die Welt im Zeitalter des Menschen Jonas Nesselhauf
Unter dem Titel »Παρατοξικά Παράδοξα« (›Paratoxische Paradoxa‹) eröffnete im Frühjahr 2017 eine Ausstellung im Benaki Museum in Athen, Griechenlands größtem privaten Museum.1 Gut ein Dutzend internationale Künstler:innen – darunter auch Eva Papamargariti, Loukia Alavanou, Vassilis Karouk und Andreas Angelidakis – setzten sich mit der veränderten Beziehung des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt unter den Vorzeichen des Anthropozän auseinander: Im Medium der digitalen Videokunst werden dabei etwa die klassische Natur-Kultur-Dichotomie hinterfragt, Alternativen zum Anthropozentrismus entworfen oder die utopischen Möglichkeiten des Posthumanismus ausgelotet.2 Damit eröffnete die Ausstellung im Benaki Museum als eines der ersten Kulturprojekte in Griechenland die künstlerisch-mediale Auseinandersetzung mit dem Anthropozän, das als radikales Denkmodell zwangsläufig auch neue Bilder in Fotografie, Film oder Animation hervorbringen muss bzw. nur darüber vermittelt werden kann. Dabei fordern die künstlerischen Interventionen immer wieder das ›herkömmliche‹ Sehen heraus – sei es etwa durch programmatische Blickumkehrungen oder durch die Dekonstruktion traditioneller Ästhetiken. Auffällig hierbei ist, dass die Auseinandersetzungen in den unterschiedlichen Medien (seien es Literatur oder Film, Bildende Künste oder Popmusik) häufig auf den wissenschaftlichen Anthropozän-Diskurs verweisen, oder mehr noch: im künstlerischen Schaffen tatsächlich auf konkrete natur- und geisteswissenschaftliche Konzepte zurückgreifen. Exemplarisch lässt sich dies anhand von drei (bild-)künstlerischen Herangehensweisen festmachen: Dem ›Blick von oben‹, den
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Damit lief die Ausstellung parallel zur »Documenta 14«, die im Sommer 2017 neben dem ›regulären‹ Standort in Kassel ebenso auch in Athen stattfand. Die Ausstellung entstand in Kooperation mit der griechischen non-Profit-Organisation »Polyeco Contemporary Art Initiative« (PCAI) und wurde durch eine »virtual dumpsite« ergänzt, die auch heute noch als »online parasitic body living [with]in the PCAI [web]site« existiert. Vgl. (zuletzt besucht: 30.04.2022).
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›Ästhetik/en der Zerstörung‹ sowie der Entwicklung ›nicht-menschlicher Perspektiven‹.
1. Der Blick von oben Als Félix Nadar (d.i. Gaspard-Félix Tournachon, 1820-1910) am Ende der 1850er Jahre mit seinem fotografischen Apparat in einen Heißluftballon steigt und – überhaupt nur etwa drei Jahrzehnte nach der technologischen Entwicklung dieses neuen Mediums – erstmals die Landschaft von oben aufnimmt (und so ganz nebenbei die Luftfotografie ›erfindet‹), eröffnet sich eine völlig neue Perspektive auf die bisher bekannte Welt. Denn zwar konnte auch bereits die Malerei entweder die gewaltige Weite einer Landschaft oder die unheimliche Tiefe von Schluchten und Kratern auf die Leinwand bannen, und so künstlerisch einen »striking effect« erzielen, den Edmund Burke (1729-1797) in seiner Philosophical Enquiry into the Sublime and Beautiful von 1757 dem Erhabenen zuordnet: »[W]e are more struck at looking down from a precipice, than at looking up at an object of equal height« (Burke 2015, 59). Doch das fotografische Herabblicken vom Korb des Heißluftballons aus bringt noch spektakulärere, weil ungewohnte Bilder hervor, denen ein panoramatisches Sehen innewohnt, das für die Menschen der Zeit ansonsten unerreichbar war. Gleichzeitig deutet sich in Nadars Luftaufnahmen des Pariser Stadtraums (Abb. 1) ein bislang ebenso unbekanntes Skalierungsproblem an: So zeigt die naturalistische ›Über-Sicht‹ von oben (dazu noch von einem sich bewegenden Flugobjekt aus) ja konkrete Häuser und Straßen, ist jedoch gleichzeitig verallgemeinerbar. Ebenso bleiben die darin lebenden und sich dort bewegenden Menschen zunächst visuell unsichtbar und sind nur durch die zivilisatorischen ›Spuren‹ der sich in die ›natürliche‹ Umgebung eingeschriebenen Stadt angedeutet. Gut ein Jahrhundert nach Nadar führen die ersten Aufnahmen der Erde vom Weltraum aus – als Begleiterscheinung des Wettkampfs um die Vorherrschaft im All entstanden – zu einer folgenreichen »Selbstbegegnung« (Anders 1994, 89) der Menschheit mit ihrem Heimatplaneten: Die als »Earthrise« bekannt gewordene Fotografie der Apollo 8-Astronauten (Abb. 2) symbolisierte nicht nur die Fragilität und Verletzlichkeit dieser »blue marble« und wurde für die aufkommende Umweltschutzbewegung zu einer wirkmächtigen Bildikone, sondern erweiterte erstmals den Blick von oben um eine planetare Dimension (vgl. Nesselhauf 2020, 14f.). Die Betrachter:innen-Perspektive wird hier noch abstrakter als bei Nadars Luftfotografien zuvor, wenn das ›Herauszoomen‹ nun die im unendlichen Raum ›schwebende‹ Erde – immerhin mit einem Äquatordurchmesser von 12.756,27 km – sichtbar werden lässt. Und: Indem das menschliche Leben in eine globale Größenordnung rückt, werden die systemischen Zusammenhänge des Ökosystems
Anthropocene Gaze: Neue Bilder auf die Welt im Zeitalter des Menschen
»Erde« angedeutet, und der lokale Blickwinkel des einzelnen Individuums durch eine scheinbar objektive Übersicht ersetzt. Inzwischen scheinen uns sowohl die Perspektiven von Nadar wie auch Apollo 8 bekannt, und Foto- und Filmaufnahmen aus der Luft werden heute längst inflationär gebraucht.3 Deren Allgegenwärtigkeit zeigt sich selbst an den täglichen Nachrichtensendungen, wenn bspw. bei der Berichterstattung von Naturkatastrophen auf Drohnen oder auf Material von Google Maps zurückgegriffen wird. Wir scheinen also nicht nur an die Übersicht ›von oben‹ gewöhnt, sondern akzeptieren (und vielleicht sogar: benötigen) diese als sinnstiftende Ästhetik zur räumlichen Einordnung.4
Abb. 1: Félix Nadar, Vues aériennes du quartier de l’Etoile, 16. Juli 1868, Fotoabzug auf Albuminpapier, 23 x 28,7 cm © Bibliothèque nationale de France Abb. 2: William Anders, Earthrise, 24. Dezember 1968, Fotografie, www.nasa.gov/multimedia/imagegallery/image_feature_1249.html
Umso ›unheimlicher‹ – im Freud’schen Sinne gleichzeitig vertraut und doch ungewohnt (vgl. Freud 2008, 145) – erscheinen bspw. die im Rahmen des großangelegten »Anthropocene Project« (2018/19) in Toronto und Ottawa ausgestellten Bilder und Filme der kanadischen Künstler:innen Jennifer Baichwal, Edward Burtynsky und Nicholas de Pencier. So wirken etwa riesige Industrieanlagen in der Perspektive von oben wie aus der futuristischen Science-Fiction; Tagebau, Plantagen oder
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Gerade im öffentlich-rechtlichen Fernsehen laufen regelmäßig teils mit Drohnen, teils mit einer Cineflex-Kameratechnik aufgenommene Dokumentationen mit Titeln wie NRW von oben, Der Rhein von oben oder Norddeutschland von oben. Hier erscheint, umgekehrt, Google Earth »as perhaps the most prominent manifestation and stimulant of this voracious contemporary appetite for views from above« (Dorrian 2013, 295).
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Müllkippen werden in panoramatischer Weite eingefangen; von Straßen, Rohren oder Kanälen zerfurchte Landschaften bilden abstrakte geometrische Flächen. Mit dieser Strategie der polyvalenten »disorientation and discovery« (Hackett 2018, 24) beschäftigt sich auf ähnliche Weise auch der in Berlin ansässige Künstler J. Henry Fair in seiner Werkreihe »Industrial Scars«:5 Die Perspektive von oben lässt auf den ersten Blick magische Landschaften entstehen – faszinierend uneindeutig und farbenfroh. Dass es sich dabei in Wirklichkeit um Industrielandschaften handelt, zeigt sich häufig erst bei genauerem Hinsehen. Die Fotografien spielen so nicht nur mit der kunstgeschichtlichen Tradition der Landschaftsmalerei, sondern brechen mit ebenjenen romantisierenden, verklärenden Darstellungen der Natur in ihrer (schon lange nicht mehr existierenden) idyllischen, paradiesischen ›Reinheit‹. Denn so uneindeutig und grenzenlos die Bilder durch die visuellen Inszenierungsstrategien von Übersicht und Skalierung auch wirken,6 wird so die gleich mehrfache Konstruktion der Landschaft – in der (Über-)Formung des Menschen ebenso wie als generelles Konzept nutzbarer Fläche – sichtbar. Doch zwangsläufig kommt bei Burtynsky ebenso wie bei Fair die Frage auf, inwiefern die teils irreversiblen menschlichen Eingriffe, der Raubbau an der Natur, auf diese Weise ›ästhetisiert‹ werden können: Stellt es also eine problematische Verklärung dar, die Umweltschäden als ›schön‹ zu inszenieren, oder ist es umgekehrt ausgerechnet dieser radikale Bruch, der zum Nachdenken anregt? Und tatsächlich könnte das Potential gerade in dieser Ambivalenz liegen, schließlich wirkt das einzelne Bild nicht nur »schön schaurig« (Schulte 2018, 26),7 sondern die fotografischen Aufnahmen von Burtynsky oder Fair benötigen fast immer auch ein zweites, genaueres Hinsehen: Erst dann (und teils auch nur durch den paratextuellen Titel) wird ersichtlich, ›was‹ genau dargestellt ist: Aquakulturen, Lithiumminen oder Steinbrüche. Denn sollte die visuelle Übersicht eigentlich für Klarheit sorgen, so wird dies durch den häufig eigentümlich skalierten Bildausschnitt konterkariert. Hinzu kommt, dass viele der Aufnahmen sich traditionell ordnenden Strukturen zu widersetzen scheinen – mal ist die Komposition nicht symmetrisch angeordnet, mal das Bild nicht an der Horizontlinie ausgerichtet. 5 6
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Vgl. die Website des Künstlers: https://www.jhenryfair.com/artefakte (30. April 2022). Bei der Luft- und Satellitenfotografie zeigt sich ein spannendes Paradox, denn je kleiner die gewählte Skalierung – bis hin zur Abbildung der gesamten Erde auf dem »Earthrise«-Foto –, umso deutlicher wird die Begrenztheit des (Lebens-)Raums. Umgekehrt scheint die Perspektive von oben die zur ›Ausbeutung‹ bereitliegende Natur, das dominium terrae der biblischen Genesis, eher zu unterstreichen, und die so ebenfalls in der Landschaft sichtbaren regelmäßigen Ordnungen und gar geometrischen Strukturen der menschlichen Eingriffe ästhetisch zu verklären. Diese Ambivalenz ist durchaus ein Merkmal der Erhabenheit – bereits Burke sprach dabei von einem »delightful horror« (Burke 2015, 60).
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Auffällig dabei ist, dass Menschen in der Regel ausgeklammert werden, in den jeweiligen Industrieanlagen keine Arbeitenden zu sehen sind – vielmehr geht es eher um die Folgen menschlichen Handelns, das sich bereits landschaftlich materialisiert hat. So implizieren die Fotografien fast schon eine menschenleere Welt, die nur noch über die zahllosen Spuren auf eine frühere Zivilisationstätigkeit hinweist. Und auch dies ist ja eine These des Anthropozän-Konzepts: Das anthropogene Einschreiben in die Erdgeschichte ist so drastisch und irreversibel, dass die indirekten Folgen ebenso wie die materiellen Relikte der menschlichen Aktivitäten auch dann noch messbar oder sichtbar sein werden, wenn es (eventuell irgendwann) längst keine Menschen mehr auf der Erde geben wird.
2. Ästhetik/en der Zerstörung Denn indem das 2000 von Paul Crutzen (1933-2021) und Eugene Stoermer (1934-2012) in die naturwissenschaftliche Forschung eingebrachte Anthropozän-Konzept8 nachweisen kann, dass (wie und wodurch) sich der Mensch kollektiv in die Erdgeschichte eingeschrieben hat, wird auch deutlich, in welch verhältnismäßig kurzer Zeit diese folgenreiche Entwicklung stattgefunden hat: So steht dem Alter der Erde (mit etwa viereinhalb Milliarden Jahren) die menschliche Zivilisationstätigkeit gegenüber, die mit der »Neolithischen Revolution« auf etwa 12.000 Jahre, mit der Industrialisierung und der Entwicklung der Watt’schen Dampfmaschine auf gut zweieinhalb Jahrhunderte, oder mit der Kernspaltung auf gerade einmal 83 Jahre zu datieren ist.9 So unterstreicht das Anthropozän als Denkfigur nicht nur die tiefenzeitliche Dimension – also das ›Einschreiben‹ des Menschen in die Erdgeschichte –, son8
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Nach einer ersten knappen Skizze (vgl. Crutzen/Stoermer 2000) wurde das Konzept später von Crutzen konkretisiert (vgl. Crutzen 2002a, 2002b); 2009 setzte die International Commission on Stratigraphy (ICS) unter der Leitung von Jan Zalasiewicz eine »Anthropocene Working Group« ein, um über die mögliche Etablierung des Anthropozän als neues Erdzeitalter zu beraten; eine endgültige Entscheidung hierzu steht allerdings noch aus. Zu den in der wissenschaftlichen (und dabei besonders geologischen und stratigraphischen) Anthropozänforschung kontrovers diskutierten Grundsatzfragen zählt dabei vor allem die definitive Festlegung eines »golden spike« – also eines Zeitpunkts, ab dem sich die menschliche Zivilisationstätigkeit nachweisbar auf planetarer Ebene in die Erdgeschichte eingeschrieben hat. Wurden zunächst die Neolithische Revolution (vor etwa 12.000 Jahren) sowie die Industrialisierung (ab dem späten 18. Jahrhundert) diskutiert, wird inzwischen vor allem die ›Entdeckung‹ der Kernspaltung (vgl. Meitner/Frisch 1939) und die daraus folgende Freisetzung von Radioaktivität als geeigneter geologischer Marker gewertet – sowohl aufgrund der globalen räumlichen Verbreitung, tiefenzeitlich wegen der hohen Halbwertszeit mancher Isotope wie auch durch deren wissenschaftliche Nachweisbarkeit in Baumringen oder Eisbohrkernen (vgl. Lewis/Maslin 2018, 310f.).
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dern auch die Prozessualität dieser Entwicklung: Mit der Veröffentlichung der sogenannten »Great Acceleration Graphs«10 wurden nicht nur zahlreiche wissenschaftliche Statistiken gebündelt und anschaulich visualisiert, was durchaus dem Anspruch der Anthropozän-Hypothese entspricht.11 Ebenso wird deutlich, dass die menschlichen Eingriffe in das Erdsystem zerstörerische Folgen auf ganz unterschiedlichen Ebenen haben können, die kausal miteinander zusammenhängen: Der Ausstoß umweltschädlicher Stoffe greift die schützende Ozonschicht an, die globale Erwärmung führt zum Abschmelzen der Polkappen, hat global aber bspw. auch weitere Auswirkungen auf zunehmend extreme Wetterverhältnisse.
Abb. 3 und 4: Ólafur Elíasson und Minik Rosing, Ice Watch Paris (Place du Panthéon, 3. Dezember 2015), © Wikimedia Commons, Verwendung unter Lizenz cc-by-2.0
Eine breit rezipierte künstlerische Auseinandersetzung mit solchen anthropogenen Zerstörungsprozessen ist das 2014 begonnene Projekt »Ice Watch« des isländisch-dänischen Künstlers Ólafur Elíasson und des grönländischen Geologen Minik 10
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Die zwei Dutzend Diagramme visualisieren die Veränderungen in unterschiedlichen sozioökonomischen Bereichen zwischen 1750 und 2010: Hierbei zeigen sich bereits bei Faktoren wie Bevölkerungswachstum, Urbanisierung oder Kohlendioxid-Ausstoß deutliche Zunahmen seit der Industrialisierung, dann aber in allen Bereichen (etwa Wasserverbrauch, Methan-Ausstoß, Bruttoinlandsprodukt) ein rapider Anstieg ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, der sich als »Great Acceleration« zusammenfassen lässt (vgl. Steffen et al. 2015). Waren die grundsätzlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse eines menschgemachten Klimawandels bereits seit mehreren Jahrzehnten bekannt – »Nearly everything we understand about global warming [today] was [already] understood in 1979« (Rich 2019, 3) –, so liegt der Vorteil des Denkmodells »Anthropozän« zweifellos darin, unterschiedliche Diskurse bündeln und in einer anschaulichen These zusammenbringen zu können, die wiederum anschlussfähig für die Geistes- und Kulturwissenschaften wie auch die künstlerische Praxis ist.
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Rosing: Parallel zur in Lima stattfindenden UN-Klimakonferenz wurden große Blöcke aus (bereits abgebrochenen, treibenden) arktischem Gletschereis auf dem Rådhuspladsen in Kopenhagen platziert; diese öffentlichkeitswirksame Aktion wurde im folgenden Jahr in Paris (Abb. 3 und Abb. 4) während der dortigen Klimakonferenz sowie 2018 in London wiederholt.12 Der Künstler nimmt damit nicht mehr nur eine Beobachterposition ein, wie noch bei den Fotografien zuvor, sondern eine deutlich aktivere Vermittlerrolle. Und mehr noch: Mit diesem ›Raubbau‹ am arktischen Eis scheint die Kunst ja aktiv in die Natur einzugreifen und so die menschliche Hybris des dominium terrae direkt zu spiegeln. Denn abgesehen von der ›unnatürlichen‹ Raumkulisse und dem obskur anmutenden Verwendungszweck geht mit dem aufwändig zu kühlenden Transport von mehreren Tonnen arktischen Eises ebenso ein großer logistischer Aufwand wie auch eine verheerende CO2 -Bilanz einher.13 Gleichzeitig erinnert das mitten in den europäischen Metropolen dahinschmelzende Eis durchaus an eine regelrechte ›Ästhetik des Hässlichen‹, wie sie etwa in (Gegen-)Reaktion auf Edmund Burke ein gutes Jahrhundert später vom Hegel-Schüler Karl Rosenkranz als Dialektik formuliert wurde: So müsse die Kunst zwar »das Häßliche in der ganzen Schärfe seines Unwesens vorführen, aber sie muß dies dennoch mit derjenigen Idealität tun, mit der sie auch das Schöne behandelt« (Rosenkranz 2007, 47). Und tatsächlich lässt sich auch beim »Ice Watch«-Projekt eine solche Spannung des Schön-Schrecklichen ausmachen14 – etwa allein bereits bei der Anlage der Installation, wenn ein ›Naturschauspiel‹ inmitten des urbanen Raums stattfindet: Die vor dem Pariser Panthéon, dem Kopenhagener Rådhus oder die Londoner Tate Modern drapierten Eisblöcke wurden vom ›natürlichen‹ arktischen ›Lebensraum‹ in die Tausende von Kilometern entfernten europäischen Metropolen gebracht und könnten damit wohl kaum in größerem Kontrast zur architektonischen Umgebung stehen. Andererseits besteht zweifellos auch eine Dialektik im quälend lang(sam)en Prozess der materiellen Zerstörung – physikalisch zwar nur ein ›trivialer‹ Aggregatswechsel, empathisch oder gar ethisch-moralisch allerdings die unwiederbringliche Auflösung eines über einen langen Zeitraum entstandenen Gletschers innerhalb nur 12
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In einer ähnlichen Aktion hat der britische Künstler Andy Goldsworthy bereits im Jahr 2000 gut ein Dutzend riesige Schneebälle (in Handarbeit im vergangenen Winter geformt) zum langsamen Abschmelzen in London verteilt (vgl. Wagner 2020, 186). Elíasson hat diese offenbar auf 35 Tonnen berechnet – wobei damit andererseits lediglich 33 Menschen von London nach Nuuk fliegen könnten, um sich das Abschmelzen in Grönland persönlich anzuschauen (vgl. Weinstock 2021, 105). Auch der mehrdeutige Name des Projekts ruft eine gewisse Ambivalenz hervor, kann doch »watch« sowohl ein interessiertes ›Betrachten‹, ein voyeuristisches ›Zuschauen‹ oder ein zufälliges ›Beobachten‹ bedeuten, aber auch ein kontrolliertes ›Überwachen‹ oder gar ein passives ›Abwarten‹ implizieren.
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weniger Tage. Diese Prozessualität, das fatalistische und nicht aufzuhaltende Abschmelzen der ›majestätischen‹ Eisblöcke, lässt sich durch Pressefotos und Bilder auf Sozialen Netzwerken auch noch nachträglich erfahrbar machen – wobei die Besuchenden offenbar sowohl von der Haptik als auch dem spannungsreichen Bildmotiv angetan waren: Unzählige Fotografien und nicht zuletzt Selfies unterstreichen die »Instagramability« des Kunstprojekts, und scheinen damit erneut zerstörerische Eingriffe in die Umwelt zu ästhetisieren. Und auch wenn sich die »Ice Watch«-Installationen in Kopenhagen, Paris und London für einen vielleicht zu plakativen Ansatz und einen unverhältnismäßigen Aufwand kritisieren lassen, können solche engagierten Interventionen im öffentlichen Raum sicherlich die realen Folgen des menschgemachten Klimawandels konkreter (und drastischer) in das Bewusstsein von Menschen bringen als dies wissenschaftliche Statistiken, Karten und Diagramme je könnten: Plötzlich schmilzt das arktische Eis direkt in den mitteleuropäischen Metropolen, dringen die Eisblöcke als nicht-menschliche Akteure einer (post-)avantgardistischen Performance in den privilegierten Komfortbereich des globalen Nordens ein.
3. Nicht-menschliche Perspektiven Wenn der Mensch (griech. ἄνθρωπος, Anthrōpos), als Subjekt im Zentrum der Anthropozän-Hypothese steht,15 einem (natur-)wissenschaftlichen Konzept, das sich trotz zahlreicher Vorläuferansätze in dieser Form so überhaupt erst zur Jahrtausendwende entwickeln konnte,16 und das seitdem künstlerisch oder literarisch aufgegriffen wird – dann dürfte sich auch der gesamte Anthropozän-Diskurs relativ einfach als hochgradig anthropozentrisch beschreiben lassen: Der Mensch blickt auf Biosphäre und Erdsysteme, und deutet diese mit seinem gegenwärtigen Wissen(sstand) aus.17 15
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Dies ist allerdings nicht unproblematisch, denn auch wenn die menschliche Zivilisationstätigkeit die Erde zwar in tiefenzeitlicher wie in planetarischer Dimension (teils irreversibel) verändert hat, so droht ein Sprechen vom Anthrōpos schnell zu einseitig zu geraten – schließlich belasten nicht alle Menschen in gleichem Umfang die Umwelt. Eine solche stärkere Gewichtung des globalen Nordens hat inzwischen auch zu Gegenvorschlägen wie etwa einem »Capitalocene« geführt (vgl. Moore 2016). So hatte bspw. der italienische Geologe Antonio Stoppani schon 1873 von einer »èra antropozoica« gesprochen (vgl. Lewis/Maslin 2018, 33f.; Nesselhauf 2020, 14), und auch erste, wenngleich frühe Beschreibungen des Treibhauseffekts stammen bereits aus dem 19. Jahrhundert (vgl. Fourier 1827). In ähnlicher Weise lässt ja Max Frisch aphoristisch zugespitzt seine Figur Herr Geiser sagen: »[D]ie Natur kennt keine Katastrophen« (Frisch 1981, 103), wenn selbst Überschwemmungen oder Vulkanausbrüche zwar den status quo zerstören, letztlich aber so auch die Grundlage für neues Wachstum legen. Daher gelte: »Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie
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So wichtig und wegweisend das Anthropozän als Konzept auch ist – nicht zuletzt zur Bündelung unterschiedlicher Ansätze aus Atmosphärenchemie, Geologie, Klimatologie etc. –, und so sehr es sich dadurch auch zur Vermittlung und Sensibilisierung einer breiten Öffentlichkeit eignet, entstehen dabei doch wieder zwangsläufig auf den Menschen fokussierte Narrative (vgl. Dürbeck 2018). Und mehr noch: Mit der geochronologischen Einordnung in Zeitalter wie »Holozän« oder »Anthropozän«, selbst mit dem Verständnis von systemischen Zusammenhängen oder letztlich auch mit den künstlerisch-medialen Auseinandersetzungen, bekommt die natürliche Umwelt ein weiteres Mal ein »menschliches Antlitz« (Schmieder 2014, 48). Dieser im Anthropozän-Diskurs grundsätzlich verankerten Agentialität des Menschen auch künstlerisch andere Perspektiven entgegenzusetzen, bedeutet zwangsläufig, das anthropozentrische Denken durch neue Imaginationen und Konstruktionen zu überwinden – und vielmehr »um das kulturelle Projekt der Natur« (Böhme 2016, 14) zu erweitern.18 Ausstellungen wie etwa »Inhuman« (Kassel, 2015) oder das bereits erwähnte Projekt »Παρατοξικά Παράδοξα« (Athen, 2017) bringen dabei künstlerische Positionen zusammen, die dezidiert einen nicht-menschlichen Blick einzunehmen versuchen: Der Mensch als alleiniges Subjekt wird so abgelöst, und bisherige Objekte werden zu neuen Akteuren (vgl. Latour 2010, 115f.) – entweder indem die Perspektive von Tieren und/oder Pflanzen eingenommen wird, oder indem über den Menschen hinausgehende, post- und transhumanistische Zukunftsvisionen entworfen werden, wodurch so »die Schnittstellen von organischer und digitaler Existenz verwischen« (Briegleb 2015, 110). Wenig überraschend kann besonders die Videokunst mit Blickwinkeln experimentieren, die sonst kaum zu erreichen sind, so zum Beispiel in dem etwa 13-minütigen Video »Precarious Inhabitants« (2017) der griechischen Künstlerin Eva Papamargariti (Abb. 5, Abb. 6 und Abb. 7), die auch Teil der Athener Schau im Benaki Museum war:19 Darin vermischen sich tatsächliche dokumentarische Aufnahmen der scheinbar unberührten Natur mit Bildern der menschlichen ›Ausbeutung‹; eine teppichartige Landschaft nimmt immer wieder neue Formen an; futuristische Strukturen und hybride Mischwesen als das fremde ›Andere‹ bevölkern eine computeranimierte, aber menschenleere Welt.
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überlebt« (ibid.), und diese dementsprechend anthropozentrisch als ›Katastrophe‹ definieren kann. Dabei handelt es sich natürlich um ein spannungsreiches Paradox, schließlich ist eine künstlerische Auseinandersetzung (fast) immer zwangsläufig an menschliche Sprachen und Zeichenstrukturen, an anthropogene Künste und Techniken gebunden. Und selbst die inzwischen zahlreichen Beispiele malender Affen oder Katzen greifen ja einerseits auf von Menschen entwickelte Materialien zurück bzw. ahmen dabei in der Regel zuvor gesehene Handlungen (des Malens) nach. Das Video findet sich online auf dem Vimeo-Kanal der Künstlerin: https://vimeo.com/226642043 (30. April 2022).
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Unmittelbar auffällig dabei ist, dass diese hochgradig assoziative Aneinanderreihung von Bildern zu collageartigen Sequenzen vor einer uneindeutigen, zunehmend entsprachlichten Geräuschkulisse20 kaum noch ein zusammenhängendes Narrativ aufweist. Vielmehr scheint sich hier ein nicht-durchschaubares ›Eigenleben‹ entwickelt zu haben – ein Erzählen, das offenbar weder vom menschlichen lógos gesteuert scheint noch von diesem vollends erfasst werden kann. Die einzelnen Szenen folgen dabei teils abrupt mit harten Schnitten, teils mit Überblendungen aufeinander, ohne dass hier eine Regelmäßigkeit auszumachen wäre. Und auch die Aufnahmen von Wildtierkameras sind in ähnlicher Weise als ein vermeintlich nicht-menschliches Sehen zu deuten, die zwar an einem bestimmten Ort aufgestellt wurden und die Flora und Fauna über ein dahinterstehendes Bildmedium erfahrbar machen, aber im Unterschied zur Naturdokumentation sonst passiv bleiben.
Abb. 5, 6 und 7: Eva Papamargariti, Standbilder aus »Precarious Inhabitants« (2017): 00:42 min.; 01:45 min.; 12:28 min.
Die Natur bei Papamargariti ist damit zunächst eine artifiziell überformte, vom Menschen geprägte Umwelt,21 die wohl überhaupt erst die unheimlichen Hybridwesen hervorbringt: Abfälle, (Mikro-)Plastik und Gifte gelangen in die Nahrungsketten und lassen die Tiere mutieren (vgl. Welsch 2020). Und auch die wellenförmig ausgerollte, sich immer wieder verändernde Landschaft mag als Hinweis auf die Willkürlichkeit anthropogener Eingriffe verstanden werden. Ob die titelgebenden ›prekären Bewohner‹ nun aber eher die Menschen oder vielmehr die unheimlichen Hybridwesen sind, die immer wieder plötzlich auftauchen und verschwinden, bleibt offen – bis in der Schlussszene des Videos, nachdem
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Über die elektronische Musik hinaus verschwindet die menschliche (zunächst noch englische) Sprache immer mehr und muss schließlich durch Untertitel ›lesbar‹ gemacht werden. Mehr als drei Viertel der (eisfreien) Erdoberfläche dürften inzwischen vom Menschen geprägt oder gar verändert worden sein – durch Landwirtschaft, Urbanisierung, Abholzung, Trockenlegung, künstliche Hügel, Flussbegradigungen etc. (vgl. Ellis/Ramankutty 2008, 440f.) –, sodass kaum noch von ›Biomen‹ als vielmehr von ›Anthromen‹ gesprochen werden kann.
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sich die animierte Teppichlandschaft ein letztes Mal ausrollt, ein großes, dinosaurierartiges Tier zwischen den Überresten technischer Objekte grast, die offenbar als Elektroschrott herumliegen: Die Spuren der ›Zivilisation‹ bleiben sichtbar, selbst in einer (dystopischen oder utopischen?) Zukunftsperspektive ohne Menschen. Doch postapokalyptisch dürfte das Ende des Videos nur aus menschlicher Sicht wirken, denn offenbar findet die Erdgeschichte durchaus eine Fortsetzung: Die Natur kennt nun mal keine Katastrophen, und wird sich wohl auch vom Menschen ›erholen‹ können.
4. Willkommen im Anthropozän Wenn im Zeitalter des Anthropozän – wann immer dessen zeitlicher Beginn von der International Commission on Stratigraphy verortet werden mag – die Mensch-Natur-Beziehungen neu gedacht und ausgehandelt werden müssen, dann kommt den Literaturen und Künsten eine besondere Rolle der Vermittlung und kritischen Reflexion zu (vgl. Dürbeck/Nesselhauf 2019, 15): Über die naturwissenschaftliche Beweisführung der eher abstrakten Annahme einer sowohl planetarischen wie auch tiefenzeitlichen Dimension menschlicher Zivilisationstätigkeiten hinaus, können künstlerische Projekte und Interventionen mit ihren Möglichkeiten der ästhetischen Erfahrbarkeit wohl durchaus einfacher eine breite Öffentlichkeit erreichen. So lässt sich etwa über Bilder und Narrative die Grundprämisse des Menschen als geologischer Macht, die sich in die Erdgeschichte eingeschrieben hat, fassbar machen, oder die Entgrenzung anthropogen verursachter Verschmutzungen der natürlichen Umwelt vom Mikroplastik in den tiefsten Ozeanen bis zu Chemikalien in der Atmosphäre veranschaulichen. Doch indem das Verhältnis von »Natur« und »Kultur« grundlegend neu gedacht und ausgehandelt werden muss, braucht es auch andere künstlerische Programmatiken: Traditionelle Formen der Naturlyrik, der Landschaftsmalerei oder der Umweltfotografie scheinen dabei kaum mehr angemessen, und so experimentieren Schriftsteller:innen und Künstler:innen in den vergangenen Jahren mit innovativen Ansätzen, die auch radikal neue Blicke eröffnen. Diese fordern immer wieder das ›herkömmliche‹ Sehen heraus und versuchen die Rezipierenden aus der bequemen ›Komfortzone‹ zu holen, sei es etwa durch programmatische Blickumkehrungen oder durch die Dekonstruktion klassischer Narrative und Ästhetiken. Die drei exemplarisch untersuchten Strategien – der fotografische ›Blick von oben‹, performative ›Ästhetiken der Zerstörung‹ sowie die Entwicklung ›nichtmenschlicher Perspektiven‹ durch Videokunst – zeichnen sich durch genau solche neuen Bilder und anderen Narrative aus: In ihrer Visualität bewegen sich diese Projekte zwischen dem Bekannten und dem Unheimlichen oder spielen mit der Dialektik zwischen Destruktion und Ästhetik.
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Gerade diese Spannungsverhältnisse sind es, die Betrachtende verunsichern und somit zum Nachdenken bringen können – und so bleibt zu hoffen, dass diese art engagé die wissenschaftliche Anthropozänforschung ergänzen und letztlich als Interdiskurs auf die Gesellschaft zurückwirken kann.
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Gesellschaftsentwürfe in zeitgenössischen griechischen Ökothrillern Am Beispiel von Nikos Komninos und Manolis Palavouzis Sofia Kokkini
Die Natur gilt als Inspiration für Dichter, Schriftsteller und Philosophen, seit die Menschen begonnen haben, Texte zu verfassen. Als Zufluchtsort, Bedrohung, personifizierte Natur oder einfach als Kulisse und Handlungsraum spielt die Natur im Laufe der Zeit in einer Vielfalt von Werken eine Rolle. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts treten neue Begriffe in Erscheinung und die Diskussion über Umwelt und Ökologie setzt ein. Spuren einer ökologisch orientierten Literatur finden sich bereits in der deutschen Romantik bei Novalis oder Eichendorff; nach Bühler »lässt sich der deutschsprachigen Romantik das Etikett einer romantischen Ökologie zuweisen« (Bühler 2016, 109). Die literarische Auseinandersetzung mit der globalen Umweltkrise, insbesondere seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, hat zu neuen literarischen Genres wie der Klimawandelliteratur, den Ökocomics und dem Ökothriller geführt (vgl. Dürbeck 2015, 245f.). Alle diese Textsorten befassen sich mit aktuellen Problemen, sie stellen die Umweltthematik ins Zentrum des Interesses und schlagen oftmals alternative Gesellschaftsentwürfe vor. So behandelt etwa der Ökothriller die Umwelt- bzw. Klimakrise mit dem Ziel, komplexe Probleme für eine größere Leserschaft zu verdeutlichen und diese darüber aufzuklären. Es geht dabei um »packende Krimis, die sich mit dem Zustand des Planeten befassen – und nur wenig Erfreuliches ausmalen« (Kolodziejczyk 2008), während sie gleichzeitig »die Umweltkatastrophe als Unterhaltungsschocker« benutzen (ibid.). Shawn Schollmeyer zufolge ersetzt die Sorge um das Klima frühere klassische Themen des Genres: One of the newest fiction subgenres emerging over the last decade is ecothrillers. Mixing high-octane adventure with an attention to the natural world and humanity’s effect on it, these novels have replaced the Cold War tensions of the classic spy thriller with our struggle to survive ecological threats (Schollmeyer 2007, 113, zit. Nach Otto 2012, 108).
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Darüber hinaus enthält der Ökothriller häufig eine politische Dimension und ist als eine Art Medium zu betrachten, das die Menschen für die Umweltproblematik und die dahinter stehenden Machtverhältnisse sensibilisieren möchte. Im Folgenden soll kurz skizziert werden, wie Ökothriller entstanden sind, und es werden Beispiele sowohl aus dem deutsch- als auch aus dem englischsprachigen Raum diskutiert. Der Beitrag fokussiert dann am Beispiel von griechischen Ökothrillern auf die politischen Gesellschaftsentwürfe, die imaginiert werden. Zum Schluss werden Überlegungen zur verwendeten Analysemethode angestellt. Ökothriller gibt es schon seit den 1980er-Jahren, als der amerikanische Investigativjournalist Carl Hiaasen mithilfe des Krimigenres die Leser auf ökologische Probleme aufmerksam machen wollte (Noller 2017). Zu dieser Zeit handelte es sich jedoch lediglich um ein eher unbedeutendes Subgenre im Kontext der Kategorie »Krimi«. Im Laufe der Zeit erschienen dann immer mehr spannende Romane, die Umweltkatastrophen und Klimakrisen thematisierten, sodass schließlich die Rede von einem neuen Genre aufkam. Nach Gabriele Dürbeck ist der Ökothriller aus der Mischung verschiedener Genre-Elemente entstanden, weshalb in diesem jungen Genre Charakteristika aus Science Fiction, Thriller und DokuFiktion zu finden sind (Dürbeck 2015, 245f.). So wie die zeitgenössische Science Fiction setzt er sich mit der Umweltkrise, Biotechnologien und ökologischen Fragen auseinander und wählt häufig die nahe Zukunft als Schauplatz für seine Handlung, um die Fantasie, aber gleichzeitig auch die Sensibilität der Leserschaft für gegenwärtige Phänomene anzuregen. Hinsichtlich der Thrillerelemente setzt der Ökothriller die genreübliche Spannungsdramaturgie ein, um Unterhaltung zu bieten. Unter DokuFiktion ist die Vermittlung von Wissen im Rahmen eines Romans mithilfe einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers oder anderer Expertinnen oder Experten zu verstehen. Ökothriller benutzen ebenfalls oft fiktive oder reale Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sowohl die Leserschaft als auch eine fiktive Gesellschaft über die Gefahr einer Katastrophe informieren. Der bekannteste und vielleicht immer noch meistgelesene deutschsprachige Ökothriller ist Frank Schätzings Der Schwarm aus dem Jahr 2004. Darin geht es um die Bedrohung der menschlichen Existenz durch eine unbekannte, nicht menschliche Schwarmintelligenz, die wegen der Verschmutzung und Ausbeutung des Meeres Rache an der Menschheit nehmen will. Im gleichen Jahr erschien in den USA der Ökothriller State of Fear, der auf eine Gruppe von Ökoterroristen fokussiert, denen vorgeworfen wird, Umweltkatastrophen verursacht zu haben, um die Öffentlichkeit von den Risiken der globalen Erwärmung zu überzeugen. Beide Romane gelten inzwischen als Klassiker des Genres, und man kann vermuten, dass sie als Inspiration für viele weitere Ökothriller gedient haben. Die Auseinandersetzung mit der Natur ist auch für die griechische Literaturszene kein neues Thema. Man denke an die Dichtung von Dionysios Solomos
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(1798–1857), in der die Natur die Macht des Universums ist, oder an die Erzählungen von Alexandros Papadiamantis (1851–1911), in denen die Natur mit den Menschen interagiert, die Sinne herausfordert und als Handlungsraum dient, in dem sich die Leidenschaften der Menschen entwickeln. In der Literatur des 20. Jahrhunderts rückt Natur in den Vordergrund, und besonders die Dichtung von Odysseas Elytis (1911–1996) verherrlicht die Natur an sich. Im Laufe der Zeit hat zunächst vor allem die Kinderliteratur1 systematischer begonnen, die Natur als Umwelt zu betrachten und zwischen diesen beiden Begriffen zu differenzieren. Ende des 20. Jahrhunderts und vor allem im 21. Jahrhundert – in jedem Fall viel später als in anderen Sprachräumen – setzt jedoch auch in der griechischen Literatur für Erwachsene2 die Auseinandersetzung mit Umweltkatastrophen und Veränderungen der Natur und generell eine ökologische Betrachtungsweise der Welt ein. Hinsichtlich der Ökothriller handelt es sich dabei um ein Genre, das noch nicht so weit verbreitet ist. Insofern betritt dieser Beitrag Neuland, wenn im Folgenden zwei Schriftsteller vorgestellt werden, deren Texte als Ökothriller gelesen werden können. Sowohl der Roman von Nikos Komninos Der Funke (Η σπίθα, 2020) als auch der zweiteilige Debütroman von Manolis Palavouzis Der vierte Reiter (Ο τέταρτος καβαλάρης) mit den Bänden Die Inkubation und Der Untergang (Η επώαση, 2018, und Ο όλεθρος, 2019) handeln von einer Pandemie, die die Menschheit bedroht. Im ersten Roman wird diese Pandemie als die einzige Möglichkeit dargestellt, die Menschen für die von ihnen verursachten Umweltprobleme und Naturkatastrophen zu sensibilisieren. Im zweiten hingegen geht es um den Virus der Beulenpest und eine Pandemie, die aus dem tiefsten Inneren der Erde und aus dem Herzen der Natur stammt, die aber noch stärker und aggressiver zu sein scheint als in der Realität des Jahres 1346, als die größte bekannte Welle der Beulenpest ausbrach. Im zweiten Roman von Palavouzis Das Jahr ohne Sommer (Έτος χωρίς καλοκαίρι, 2020) wird die Katastrophe durch einen in dieser Stärke noch nie dagewesenen Vulkanausbruch ausgelöst. Wissenschaftler, Wissenschaftlerinnen und andere Experten und Expertinnen übernehmen in diesen Romanen die Aufgabe, die Leserschaft über die Vorgänge zu informieren und in den meisten Fällen mit ihrer Expertise in letzter Sekunde die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren. Obwohl es Unterschiede sowohl in den drei Handlungsräumen als auch in den Lebensumständen der Menschen gibt, werden in allen drei Texten durch die Pandemie bzw. den Vulkanausbruch die Fundamente der Gesellschaft erschüttert. Die Regierungen und alle Organisationsmechanismen brechen zusammen, oder die Ent-
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Ein repräsentatives Beispiel ist der Roman von Galatia Grigoriadou-Soureli: Mir ist es wichtig (Εμένα με νοιάζει, 1997). Der Roman von Jorgos Zarkadakis: Der Durchgang (Το πέρασμα, 2004) und die Novelle von Michalis Makropoulos: Schwarzes Wasser (Μαύρο νερό, 2019) sind zwei Beispiele.
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scheidungsträger werden ohne ihr Wissen zu Marionetten und verlieren im Grunde ihre Macht. In der Folge entstehen neue Ideologien bzw. Gesellschaftsentwürfe, die die neuen Gesellschaftsformen bestimmen. Die Fiktionalisierung dieser Übergangsprozesse soll im Folgenden analysiert werden. Die Handlung des Ökothrillers Der vierte Reiter spielt in zwei Welten, die zugleich zwei Zeitebenen entsprechen. Die erste Welt ist die des Mittelalters, in der die Pest, der Schwarze Tod, von mongolischen Truppen nach Byzanz gebracht worden war und sich von dort über ganz Europa verbreitete. Die zweite Zeitebene führt in die Gegenwart, ins Jahr 2017, in dem die U-Bahn-Stationen in Thessaloniki im Bau sind, ein Arbeiter an einer Baustelle eine mittelalterliche Grabstätte entdeckt und so das Pestvirus nach fast siebenhundert Jahren freisetzt. Die Pest dezimiert die Bevölkerung und kennt keine Grenzen. Die wenigen verbliebenen Regierungen versuchen in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation eine Lösung zu finden, um die Übertragung der Krankheit einzudämmen. Doch nicht alle sind mit den für Europa beschlossenen Maßnahmen einverstanden: Südamerika hat bisher keinen Fall und keine Toten. Ministerpräsidenten und Minister aller südamerikanischen Länder treffen sich, um über die neue Lage zu diskutieren, doch der Ministerpräsident von Brasilien hat sich schon vor der Konferenz für einen anderen Kurs entschieden: »Es ist wichtig, dass wir so bleiben, wie wir jetzt sind. Es ist an der Zeit, dass Südamerika seinen rechtmäßigen Platz auf der geopolitischen Weltkarte beansprucht«3 (Palavouzis 2019, 136), sagt er und erteilt seiner Verteidigungsministerin das Wort: Wir schlagen daher vor, dass sich die Verteidigungsminister der anderen Länder unter unserer Führung auf eine gemeinsame Strategie verständigen. Alles, was auf dem Luft- oder Seeweg in den Kontinent einzudringen versucht, muss daran gehindert werden (ibid.). Die anderen Ministerpräsidenten befürworten seinen Vorschlag jedoch nicht und sind bereit, sich dem globalen Kampf gegen die Pestepidemie anzuschließen. Nach einer besonders hitzigen Diskussion ergreift der brasilianische Präsident erneut das Wort: »Wacht auf! Wir haben eine Chance, unser Volk zu retten, und ihr alle spielt die Humanisten? Ich glaube nicht, dass ihr euch wirklich so sehr für das Leben der anderen interessiert (ibid., 138). [...] »Schade, meine Freunde. Ihr hattet die Chance, aber jetzt habt ihr sie verpasst. Aber egal, ich nehme die ganze Verantwortung auf meine Schultern«, murmelte er und nickte kaum wahrnehmbar. Die Tür hinter ihm öffnete sich und eine Gruppe von Soldaten marschierte ein. Männer der brasilianischen Spezialeinheiten in
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Alle Übersetzungen aus dem Neugriechischen S.K.
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grünen Uniformen, kugelsicheren Westen, Helmen und Maschinengewehren mit Laser. Die Politiker erstarrten und zogen sich langsam zurück. Sie empfanden eine Mischung aus Schrecken und Entsetzen (ibid.). Er macht allen klar, dass er die Rolle des Alleinherrschers übernehmen werde, denn es sei deutlich, dass er keine Unterstützung von ihnen erwarte. Bald sind alle kaltblütig ermordet und er schwingt sich zum alleinigen und absoluten Machthaber von Südamerika auf. Der Ministerpräsident von Brasilien ist aber nicht der Einzige, der das Kriegsrecht verhängt. Andere Länder folgen seinem Beispiel. Die BBC-Nachrichtensprecherin berichtet unter anderem von Male, der Hauptstadt der Malediven, die sich vom Rest des Inselstaates abgespalten habe, was zu Kämpfen mit unzähligen Toten geführt habe. Zahlreiche Fälle seien von isolierten Inseln im Pazifik bekannt geworden, auf denen die Bewohner jeden Menschen erschießen, der sich ihrem Land zu nähern versucht, um auf diese Weise die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern (vgl. ibid., 366). Lateinamerika wiederum ist zu einem Raum geworden, in dem auf dem Altar der vermeintlichen nationalen Sicherheit Freiheit und Menschenrechte geopfert werden (vgl. ibid., 368). Die einfachen Menschen, beherrscht von Überlebensinstinkten, versuchen, ihr Leben und das Leben ihrer Familie zu retten. Die Usurpatoren der Macht streben jedoch nach absoluter Kontrolle und lassen keine individuelle Form der Freiheit mehr zu. Damit wird ein totalitäres politisches System mit Führerfiguren entworfen, die das Kriegsrecht und die Konzentration aller Macht in einer Hand durchsetzen. Dieser neue Gesellschaftsentwurf und besonders die Figur des brasilianischen Präsidenten erinnert an Niccolò Machiavellis Il principe (1532), in dem Machiavelli vermutlich4 den Herrschern Ratschläge zur Erlangung und zum Erhalt der Macht gibt. Machiavelli beschreibt einen absoluten Herrscher, der die Macht mit Gewalt an sich reißt (vgl. Coleman 2006, 472f.). Diejenigen, die nur auf die Macht der Überredung setzen, bezeichnet er als unbewaffnete Propheten ohne Chance in der politischen Arena ‒ der Führer darf keiner säkularen Ethik anhängen. Das oberste Prinzip ist Staatsräson, mantenere lo stato. Genau in diesem Sinn will auch der brasilianische Präsident wie ein absolutistischer Herrscher eine neue Gesellschaft zu seinen Bedingungen gründen.
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Machiavelli galt jahrelang als gerissener und rücksichtsloser Opportunist und sein Name wurde mit der Anwendung unkontrollierter Gewalt von Herrschern in Verbindung gebracht. Die aktuelle Literatur (u.a. Coleman 2006; Plangessis 2020) nennt Machiavelli jedoch einen Demokraten und liest sein Werk als Versuch, das Volk vor den Methoden des Herrschers zu warnen, damit es beim nächsten Versuch, den Herrscher zu stürzen, Erfolg hat. In diesem Sinne wollen auch Ökothriller abschreckende Beispiele zeigen und gleichzeitig ihr Publikum vor den Folgen einer absoluten ökologischen Katastrophe warnen.
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Machiavellis Werk ist zum Klassiker geworden; etwa tausend Jahre vor ihm gab es jedoch im antiken Athen einen Politiker namens Kleon, der ähnliche Ansichten vertrat. Thukydides überliefert Kleons Rede an die Bürger von Athen. Im Jahr 427 v. Chr. schlugen die Athener den Aufstand von Mytilene nieder, der ein Jahr zuvor ausgebrochen war, und beschlossen, alle erwachsenen Männer zu töten und Frauen und Kinder als Sklaven zu verkaufen (vgl. Betsakos 2022, 268f.). Diese Entscheidung musste von der Volksversammlung (Ekklisia tou Dimou) bestätigt werden. Kleon versuchte die Athener davon zu überzeugen, nicht von ihrer ursprünglichen Entscheidung abzuweichen. Im Rahmen einer realistischen Politik, die machiavellistische Ideen vorwegnimmt, charakterisiert Kleon den Hass der griechischen Städte und Bürger auf die athenische Hegemonie – er nennt sie Tyrannei – als zwar nachvollziehbar, aber dennoch unzulässig. Daher sei die exemplarische Bestrafung der Bürger von Mytilene notwendig (ibid., 281). Einer vergleichbaren Logik folgend vernichtet im Roman Der vierte Reiter der brasilianische Präsident seine politischen Gegner und setzt seinen individuellen Machterhalt als höchste Priorität; folglich kooperiert er nicht mit den anderen Ländern, um den Planeten vor dieser »Rache der Natur« zu retten, sondern schafft ein absolutistisches Regime mit einer von der restlichen Welt isolierten Gesellschaft. Palavouzis’ Roman Das Jahr ohne Sommer thematisiert einen Vulkanausbruch, dessen Gewalt so stark ist, dass graue Wolken den Himmel über der gesamten nördlichen Halbkugel verdunkeln. Die Temperaturen und das Klima im Allgemeinen werden davon stark beeinträchtigt. Jede bis dahin bekannte Gesellschaftsordnung bricht vollständig zusammen, was zu Anarchie führt, und die wenigen Überlebenden versuchen, der Kälte durch Emigration nach Süden zu entkommen. Auch dieser Ökothriller entwirft eine zweigeteilte Welt; der eine Teil spielt im Jahr 1815 in Frankreich am Ende der Napoleonischen Kriege, der andere in der Gegenwart. In beiden Welten bestimmen die Folgen eines Vulkanausbruchs das Leben der Menschen. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass sich in der von den neuen Umständen stark beeinträchtigten westlichen Welt keine neue Gesellschaftsform entwickelt und dass nach dem Scheitern der letzten Regierungen nur Anarchie und Gesetzlosigkeit herrschen. Mit Ironie wird die postapokalyptische Situation geschildert: Immer mehr Selbstmorde breiten sich in der westlichen Welt aus. Der graue Himmel scheint die Konsumenten des Westens und ihr tägliches Leben mehr beeinflusst zu haben als die wirtschaftlich schwächeren Länder, und nun verabschieden sie sich einzeln oder in Gruppen von dieser eitlen Welt, indem sie auf originelle Weise Selbstmord begehen. Waffen gibt es mehr als genug auf der Welt. Und Fantasie auch. Einige Regierungen stehen kurz vor dem Sturz, andere sind bereits vollständig zusammengebrochen. In den osteuropäischen Ländern ist das Kriegsrecht ver-
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hängt worden, und während die westlichen Länder mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind, müssen viele afrikanische Länder, die möglicherweise nicht von den unmittelbaren Auswirkungen des vulkanischen Winters betroffen waren, alleine mit allem fertig werden. (Palavouzis 2020, 281) Je schlimmer die Situation wird, desto unberechenbarer und aggressiver wird das Verhalten der Menschen, wie Markos, eine der Hauptfiguren des Romans, voraussagt: Die Menschen würden sich in wilde Bestien verwandeln, Protagonisten eines neuen Herr der Fliegen, primitive atavistische Instinkte würden geweckt werden, während Gesetze, moralische Schranken und gesellschaftliche Konventionen völlig ins Abseits gedrängt werden würden. Das Überleben des Stärksten hätte in einem Maß Vorrang, wie es sich Darwin in seiner Studie vor anderthalb Jahrhunderten nie hätte träumen lassen (ibid., 331f.). Die Katastrophe wird zum Anlass genommen, das logische Denken außer Kraft zu setzen, wodurch das Gesetz des Dschungels in der ehemals zivilisierten Welt dominiert. Gleichzeitig bietet sie die Motivation für die Äußerung rechtsextremer Ansichten. Ein Beispiel kommt aus der französischen Stadt Troyes, wo sich eine Gruppe von Rechtsextremisten gegen eine kleine Gruppe von Flüchtigen wendet. Der Platz, der der Stolz der Stadt war, war jetzt von einer Ansammlung von dunkel gekleideten Menschen eingenommen. In tätowierten Händen flatterten schwarze Fahnen mit Nazisymbolen und menschenverachtenden Parolen in französischer Sprache. Das Hakenkreuz wechselte sich mit antisemitischen Versen und blasphemischen Worten ab, die Hass und Rassismus verströmten (ibid., 465). Die neue Gesellschaft, die durch das Machtvakuum entstanden ist, könnte mit den vorstaatlichen Gesellschaftsformen verglichen werden, so wie sie in Platons Protagoras (um 390 v. Chr.) und in Aristoteles’ Politik (um 335 v. Chr.) erscheinen. Nach Platon sind Bescheidenheit und Gerechtigkeit fundamental für den Aufbau einer Gesellschaft, da sonst das Zusammenleben der Menschen nicht möglich sei. Aristoteles wiederum ist der Ansicht, dass der Mensch von Natur aus ein politisches Wesen sei und sich nur im Rahmen einer Gesellschaft entwickeln und im Wohlstand leben könne; außerhalb der Gesellschaft dominieren primitive Instinkte und die Menschen töten sich gegenseitig (vgl. Aristoteles, Politik, I, 1252a1-1253a39). Der dritte Ökothriller, Der Funke von Nikos Komninos, unterscheidet sich stark von den beiden bisher behandelten. Der Roman setzt im Jahr 2022 ein, als in Katar während der Fußballweltmeisterschaft eine Pandemie ausbricht, und thematisiert die Gründe für den Ausbruch ebenso wie die postapokalyptische Phase nach der Pandemie. Obwohl es sich nicht um eine Naturkatastrophe im eigentlichen Sinn handelt, verweist der Text auf die Umweltverschmutzung und die extreme
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Belastung der Natur durch den Menschen, denn die Pandemie, die mehrere Tausend Menschenleben fordert, ist von einer Gruppe von Wissenschaftlern ausgelöst worden mit dem Ziel, die Menschheit und den Planeten zu retten. Die Firma, die den Impfstoff zur Bekämpfung des Virus herstellt, implantiert mithilfe von Nanotechnologie eine Art kontrollierter Mikroorganismen in das menschliche Gehirn, um dieses in Richtung Umweltverantwortung und nachhaltigem Verhalten zu beeinflussen. Professor Bale ist der Initiator einer politischen Philosophie, die er »horizontalen Kollektivismus« nennt und der zufolge die sozialen Netzwerke zur Rettung des Planeten beitragen könnten. In seiner Arbeit argumentierte Dr. Bale, dass es keine Zukunft für die Menschheit oder den Planeten Erde geben würde, wenn die Menschen die Technologie der sozialen Medien nicht nutzen würden, um die Lücke zu füllen, die durch das fehlende kollektive Bewusstsein entstanden ist (Komninos 2020, 82). Sein Ziel und gleichzeitig sein größter Traum ist also »[e]in soziales Netzwerk, das sich entwickeln wird, um allen Bewohnern des Planeten ein kollektives soziales Bewusstsein zu vermitteln« (ibid., 85). Eine Gruppe von sechs Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen und einer Milliardärin, die sich die Rettung des Planeten zum Lebensziel gesetzt hat, nimmt diesen riskanten Versuch in Angriff. Im Laufe des Experiments ergeben sich jedoch abweichende Meinungen und es kommt zu einem tiefgreifenden Interessenkonflikt, der dem Experiment ein Ende setzt. Im Verlauf eines Streits zwischen Cecilia, der Milliardärin, und Sandy, der zweiten Frau der Gruppe, argumentiert Cecilia folgendermaßen: Wir, die Menschen, sind schreckliche Wesen. Und es ist Seine Schuld, wer auch immer Er ist. […] Und jetzt haben wir die Möglichkeit, das zu ändern. Wir haben die Möglichkeit, der Welt Glück zu bringen. Um uns, die Menschen, vor uns selbst zu retten. Damit wir aufhören, uns selbst zu verletzen. […] Wir müssen ihnen unsere bedingungslose Liebe schenken und sie dazu erziehen, das Gute zu tun. Nicht um im Jenseits ins Paradies zu gehen, sondern um in diesem Leben das Paradies zu finden. Das ist die Vision von Anfang an (ibid., 275). Sandy stellt daraufhin als Gegenargument nur eine Frage: »Wie nennt man diese Regierungsform, Cecilia? Aufgeklärte Herrschaft?« (ibid.) Ohne es zu wissen, lebt die Menschheit für kurze Zeit unter der Kontrolle einer aufgeklärten Herrschaft, der Gesellschaftsform, die nach dem Ausbruch der Pandemie vorherrscht. Die Entscheidungskontrolle durch die implantierten Mikroorganismen führt zu umweltfreundlichem Verhalten und folglich zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen. Was geschieht aber mit der Willensfreiheit des Menschen? Sowohl Platon als auch Jean-Jacques Rousseau haben diese Frage beantwortet. Platon lässt Sokrates im siebten Buch seines Dialogs Politeia (um 380 v. Chr.) das Höh-
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lengleichnis erzählen. Sokrates thematisiert dabei unter anderem die Notwendigkeit einer aufgeklärten Herrschaft, die aus den Philosophen-Königen besteht, und den Menschen helfen kann, sich von ihren Fesseln zu befreien, um das höchste Gut zu erkennen. Platon stellt der Demokratie eine Aristokratie des Geistes und der Moral entgegen (vgl. Betsakos 2022, 216). In beiden Gesellschaften sind die Menschen also in eigenem Interesse Sklaven einer aufgeklärten Herrschaft. Eine gänzlich andere Meinung vertritt Rousseau, nämlich dass die Menschen frei und keineswegs als Sklaven geboren sind. In seinem Werk Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des politischen Rechtes (1762) wird betont, dass die Zustimmung des Volkes der wichtigste Faktor bei der Schaffung einer Gesellschaft ist. Der Gesellschaftsvertrag, also der Wille zur Durchsetzung des Gemeinwohls, geht vom Volk aus und wird einem Herrscher bzw. einer Regierung übertragen (vgl. Plangessis 2020, 275f.). Diese Regierungsform ist aber für das Volk verantwortlich und handelt zu seinem Vorteil. Im Dialog zwischen Cecilia und Sandy wird also das fundamentale Dilemma erörtert, ob die Erlösung des Planeten mithilfe des freien Willens erfolgen kann oder ob in ihn eingegriffen werden muss. Bei der Analyse der drei Romane lässt sich feststellen, dass diese Texte keine neuen bzw. alternativen Gesellschaftsentwürfe anbieten. Vielmehr wird das Verhältnis von Staat und Individuum bzw. das Verhältnis von Herrscher und Untertan ausgelotet. Die Brücke zur Antike wird durch den offensichtlichen Rückgriff auf ältere Gesellschaftsentwürfe geschlagen, denn die fiktiven neuen Gesellschaften rekurrieren auf politische Formen der Vergangenheit und die Texte diskutieren Gesellschaftskonzepte der Antike oder solche aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Aus diesem Grund ist der Vergleich dieser Romane mit Texten der Vergangenheit als Analysemethode und als Hilfe bei ihrer Interpretation ausgewählt worden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in allen drei Romanen eine große Naturkatastrophe an den Grundfesten dieser fiktiven Gesellschaften rüttelt. Die Regierungen sind nicht mehr in der Lage, die Ordnung zu gewährleisten, bzw. ist es für die Bürgerinnen und Bürger nicht klar, wer die Macht übernommen hat und ihr Leben bestimmt. In anderen Fällen übernehmen sogar die primitiven Instinkte die Macht, was zur absoluten Zerstörung führt. Die tierischen Instinkte der Menschen erwachen und bestimmen ihr Handeln und so stellen diese Texte die Frage, ob ein neuer Gesellschaftsvertrag zwischen allen Menschen und unter bestimmten Voraussetzungen eine Lösung zur Rettung des Planeten sein könnte.
Quellen Komninos, Nikos (Νίκος Κομνηνός): Η σπίθα (Der Funke). Athen: Καστανιώτης 2020. Palavouzis, Manolis (Μανώλης Παλαβούζης): Ο τέταρτος καβαλάρης. – Η επώαση (Der vierte Reiter – Die Inkubation). Thessaloniki, Athen: Πηγή 2018.
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Palavouzis, Manolis (Μανώλης Παλαβούζης): Ο τέταρτος καβαλάρης. – Ο όλεθρος (Der vierte Reiter – Der Untergang). Thessaloniki, Athen: Πηγή 2019. Palavouzis, Manolis (Μανώλης Παλαβούζης): Έτος χωρίς Καλοκαίρι (Das Jahr ohne Sommer). Thessaloniki, Athen: Πηγή 2020.
Literatur Betsakos, Vasileios (Βασίλειος Μπετσάκος): Ο πολιτικός λόγος των αρχαίων Ελλήνων. Λόγος για την πόλη, τον πολίτη, το πολίτευμα. Λόγος για την πολιτική, τον πολιτικό, το πολιτικό. Athen: Πατάκης 2022. Bühler, Benjamin: Ecocriticism. Grundlagen – Theorien – Interpretationen. Stuttgart: J.B. Metzler 2016. Coleman, Janet: Ιστορία της πολιτικής σκέψης. Από το Μεσαίωνα μέχρι την Αναγέννηση, τόμ. Β΄. Athen: Κριτική 2006. Dürbeck, Gabriele: Ökothriller. In: Dies., und Urte Stobbe (Hg.): Ecocriticism. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2015, 245–257. Kolodziejczyk, Meike: Ökothriller. Die Natur schlägt zurück. In: Frankfurter Rundschau, 20. August 2008, https://www.fr.de/panorama/natur-schlaegt-zurueck11604412.html (26. Februar 2022). Noller, Ulrich: Neuer Trend: Der Öko-Thriller. Die Ökofrage ist im Mainstream angekommen. In: Deutschlandfunk Kultur, 22. August 2017, https://www.deutsc hlandfunkkultur.de/neuer-trend-der-oeko-thriller-die-oekofrage-ist-im-100. html (26. Februar 2022). Otto, Eric C.: »From a certain angle«: Ecothriller Reading and Science Fiction Reading The Swarm and Τhe Rapture. In: Ecozon@ 3:2 (2012): 106–121 Plangessis, Yannis (Γιάννης Πλάγγεσης): Νεότερη πολιτική και κοινωνική φιλοσοφία. Thessaloniki: University Studio Press 2020. Schollmeyer, Shawn: Apocalypse Now? Summer Ecothrillers. In: Library Journal 15 (June 2007). www.libraryjournal.com/article/CA6449590.html [inaktiver Link].
»Literatur und Ökologie« – aus der Sicht griechischer Schriftsteller
Im Rahmen der Tagung »Anthropogene Klima- und Umweltkrisen. Griechischdeutsche Beiträge zu Ecocriticism und Environmental Humanities« an der Nationalen und Kapodistrias -Universität Athen (11.-12. November 2021) wurde eine Podiumsdiskussion mit griechischen Autoren veranstaltet – Michalis Makropoulos, Jorgos Lambrakos, Dinos Siotis, Vangelis Iliopoulos und Tsimaras Tzanatos –, die aus diesem Anlass um einleitende Statements zum Thema »Literatur und Ökologie« gebeten worden waren. Sie werden hier wiedergegeben.
1. Michalis Makropoulos: Eco-fiction or just fiction? Michalis Makropoulos wurde 1965 in Athen geboren. Er studierte Biologie an der Universität von Athen und lebte neun Jahre in Thessaloniki. Seit elf Jahren lebt er mit seiner Familie auf Lefkas und verbringt lange Zeit in Delvinaki Pogoníou in Epirus, wo einige seiner Geschichten spielen. Seine letzten Novellen Schwarzes Wasser (Μαύρο νερό, 2019), Das Meer (Η θάλασσα, 2020) und Mars (Άρης, 2021) erschienen im Kichli-Verlag. Er hat insgesamt zwölf Prosawerke für Erwachsene veröffentlicht und sechs Kinderbücher und Erzählungen, die in verschiedenen griechischen Zeitschriften erschienen sind. Außerdem arbeitet er als Literaturübersetzer. Er hat mehrere Auszeichnungen und Preise gewonnen u.a. den Staatspreis für Prosawerke (2020) und den Staatspreis für Kinderbücher (2020).
Good evening, ladies and gentlemen. I want to thank the School of German Language and Literature and Professor Antonopoulou for the invitation, and all of you for being here with us today; and I’d like to open my little lecture with a naive wish – naive, because, first of all, I’m not really optimistic, and at the same time I know that pessimism is egotistic and a forbidden luxury, since I’m the father of two children, aged 14 and 12. I wish our children will grow up and prosper on a planet whose main present and future chal-
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Michalis Makropoulos/Jorgos Lambrakos/Tsimaras Tzanatos/Vangelis Iliopoulos/Ntinos Siotis
lenge, among lots of other unsolved challenges like famine or war or poverty, will at least have started being solved; and it’s the main present and future challenge because it will bring famine, it will bring war, it will bring poverty, disease. We all know what this problem is, we feel it on our skin when the temperature reaches unusual heights, we see it in our streets when they get flooded, we see it in our forests when one by one are being consumed by unprecedented fires; we see it in the extinction of all the plant and animal diversity, that’s been going on for decades accelerating each year, as the temperature rise is following a deadly, and self-powered from a point onwards, pattern. I cannot be pessimistic, but I am as long as we’ll keep on being what we unavoidably are: that is, consumers. I am a consumer. I speak in the first person. I cannot be otherwise, the fabric of my existence in our complex present world is inextricably woven with consumption: consumption of goods, consumption of services, as a necessity and as a commodity because I want to lead a »good« life, a full life as I and all of us see it today, being able to travel in my country and abroad, to enjoy the things I love and identify my well-being with them. To solve the problems that technology and consumerism generate, our sole solution seems to be by means of technology and consumerism: invent new clean technologies, change our car from a polluting one to a cleaner vehicle. It’s an oxymoron. But we’re here today not to talk just about the environment, but about literature too; about fiction, eco-fiction. In speculative fiction and science fiction – a genre that I love because I learned to love it when I was a kid and all these strange worlds, alien creatures, and space travels were the fuel for my imagination, a few years before I started writing my own first childish stories – ecology is not something new, and eco-fiction, maybe a trend but certainly a necessity today, has its roots in the past, when we started sensing – or, rather, started sensing again after an interval of technological optimism, when our arrogance far surpassed our powers – that we cannot just exclude ourselves from our environment and see our existence as an exceptional and privileged one, which gives us all the authority in the world to just use this world as a tool for our ends. To give just an example, the anthology titled Eco-fiction, which was published in 1971, included stories by Edgar Allan Poe, Daphne du Maurier, John Steinbeck, and Ray Bradbury, alongside obvious choices like James Ballard. But eco-fiction, or ecologically oriented fiction or nature-oriented or environment-oriented fiction, pick out whichever name or description you want, is just the husk, the shell, the casing, no matter how vital it is for the existence of the core inside this shell; and this core is man, and this core also is man’s language as a means of articulating all things felt by the inner self, in a constant exchange between what can be said and what must inevitably be left unsaid because it somehow slips between the words and phrases and at the same time is made felt by them, if the use of these words and phrases is clear and poetic; if the words are simple enough to carry all the reverberations and connotations of their long history; if the maker of the story, usually by being frugal
»Literatur und Ökologie« – aus der Sicht griechischer Schriftsteller
instead of showy and by having a practiced ear for the rhythm of the words to find the right balance in their coexistence, somehow manages to give to the word »tree«, for example, something pertaining not just to the word »tree« as a symbol, but to the tree in and of itself and to the way this tree exists as an inexpressible inner reality for the person who stands and watches it absorbed, who touches its leaves and feels its bark; who feels this tree and then gives to this elusive feeling the word »tree« which thus becomes a poetic symbol of this inner reality. Fiction as I see it, if it is also to be literature and poetry, is not just its genre or its themes, not just a narration of events, a surface of things happening, but also this other thing, this paradox inherent to man, which cannot be exactly expressed by words but is made of them. There’s eco-fiction, speculative fiction, and to deny the importance of our planet and the life it sustains, upon which our own life exists, would be stupid and self-destructive; but the core of every fiction is fiction itself, that is, the poetic existence of man through his words as symbols of an innerly felt and transformed outer reality. And, at the same time, for fiction to be really fiction, there must always be a story, a myth, and there’s for it an English word with Greek origins which I like, the word mythopoeia; the immersion of one’s story in the deep myth. It was first used by Tolkien, I think, meaning the integration of mythological themes and archetypes into fiction; but I use it in a broader sense. The first of my stories I’m going to tell you a few things about tonight is Black Water (Μαύρο νερό). Outwardly at least, it is a novella in the so-called »post-apocalyptic« genre, raising ecological concerns, since the story takes place in a wasteland on the Greek-Albanian border after hydrocarbon extraction operations with a method like fracking; but it is deeply Greek at the same time, following the long tradition that our literature has in the short form, in a constant dialogue with modern Greek poetry and visibly or invisibly connected with the tradition of the Greek folk song and backwards as far as the Greek tragedy. However, the true heart of the story is the love between its two protagonists, Father (anonymous and with a biblical capital F) and his invalid son Christophoros (Christopher, which means »the one who bears Christ«, but in this case is born by Father on his back; an inverted Christopher), who struggle to survive among deserted villages and wild mountains. From the 250 inhabitants that once lived in Father’s village, only twelve are left, elderly or middle-aged but grown prematurely old: the only young villager is Christophoros. They live surrounded by memories and things of deceased loved ones, themselves not different from ghosts, from the dead in the village cemetery, when they gather to bury a villager who committed suicide. The feeling of my story is similar, somehow, to the feeling one has when they read Juan Rulfo’s Pedro Páramo; and there is something reminding Andrej Tarkovskij’s Stalker when Father, with Christophoros on his back, is visiting the abandoned small churches around the village and on the mountains; and on their trips they’re sur-
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rounded by a nature both lush and poisonous, with rusted remains (pipes, oil well pumps) left behind when the extraction operations ended. The villagers are offered a chance to move into impersonal prefab houses, by a State whose every face is hostile, but for the people in my story one’s home is where one’s dead are buried. The Sea (Η θάλασσα), my second novella, was written in a way that may sound »unorthodox«, but which for me is rather usual. I wrote the first paragraph without having in my mind anything particular, just the feeling that is given by Andrej Tarkovskij’s (again) Polaroids and film stills – and, indeed, in the subterranean city where my anonymous heroine has taken shelter together with a few other survivors that have a mutation in six genes, after humanity is destroyed by a virus released from an ancient meteor uncovered as the sea ice melts, she watches three films by Tarkovskij – The Mirror, The Sacrifice, Stalker – and Chris Marker’s La Jetée. The way the story is told in La Jetée, not linearly but with a continuous backwardforward movement in time, is the way I narrate my story in The Sea. It’s a story of destruction and rebirth. Humanity is destroyed and is reborn by the sea (»by« in a two-fold way: causal and spatial). My heroine, flooded with memories from her life in a small village, with all the insignificant things that are the only ones that matter when they’re lost, leaves the subterranean city with her mate, another girl, and they travel towards the sea, which finally in my story is both an end and a beginning; a destination, but also a point of departure. And, being written somehow as a lyrical poem in prose, it is full of recurrent symbols used as leitmotifs, and first of all that of the sea itself: a symbol of femininity, of maturity, of the unknown that is both feared and coveted; a symbol of an end and a rebirth concurrently. My heroine, when she’s nine years old and has never yet seen the sea, comes across a stone up on the mountain, with an ammonite fossil in it (a message from an ancient sea), which has exactly the same shape as the meteorite that’s being uncovered when the ice melts (with the virus embedded in it like the ammonite fossil in the stone; »A sea like this, but of the greater world, must have passed once by our small world and left the meteor behind with another ammonite in it, incomprehensible for us, because we are as I was when I found the stone on the mountain«, says my heroine to her companion during their journey). Differently written in spite of being both in the »post-apocalyptic« genre, my two novellas have in common their poetic spare language and also their philosophical position; that of existentialism as I mean it, or rather as I feel it. *** So, there are the events and stimuli which make a story jump suddenly into the writer’s consciousness, and there is the story afterwards – there are the words. And there is the way the author or the storyteller is divided into the characters in his story, for them to be really him, at the beginning, and for him to be them as the story progresses.
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Eco-fiction or just fiction? It’s a matter of placing the emphasis on the first part of the term or on the second. Global climate change is our main challenge today and will also be in the future; but fiction, for its maker and its lover, has to do solely with man and his inner world whose fauna and flora are words. Thank you for your attention and your patience.
2. Jorgos Lambrakos: »The Blood and the Machine«. A few words about my work Jorgos Lambrakos gehört zu der jüngeren Schriftstellergeneration in Griechenland. Er wurde 1977 in Athen geboren. Er hat mehrere Bücher publiziert, Romane, Erzählungen und Essays. Seine Artikel über Kunst und Kultur werden regelmäßig in griechischen Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht. Der Titel seines letzten Romans ist Blut Maschine (2019). Er hat mehr als 20 Bücher aus dem Englischen übersetzt. Er lebt und arbeitet in Athen.
Good evening and welcome, people from abroad and from Greece. I would like to thank Professor Anastasia Antonopoulou and writer and Professor Danis Koumasides; it’s a pleasure and an honor for me to participate in this colloquium. Professor Antonopoulou asked me to make a short introduction to my work, especially to the books on topics like the relation between humans and machines, the impact of technoscience on everyday life, climate change and similar issues that are presented in futuristic, speculative fiction; finally, to mention some modern and contemporary writers I greatly appreciate, who have written on such issues. I will try to be as comprehensive as possible, starting from the very beginning. My first book, titled Notes from the Penthouse, was published in 2009 – its title implies Dostoyevsky’s Notes from Underground. A young man is restricted to a room by his own will, separated from the outer world, connected with it only by his computer – he is like a Japanese hikikomori. The human condition has exhausted him, he hates the human race and wants to extinguish it so as to save nature, which he thinks humans are destroying. He writes a nihilistic ecological manifesto so as to transmit the »monad-virus« to everyone and turn them all into monads, meaning that they will stay inside their homes, connect with each other only by computers and die there all alone. (His penname, The Monad, comes from Leibniz’s Monadology.) »Cyberspace is the monastery of our times«, he writes, and we are not far from similar living conditions, though they are exaggerated in the book. Literature, sometimes, needs to exaggerate, to exceed the limits: as Cioran used to say, »A book must be danger«. As far as my next three books are concerned, The Missing, Undergrounding and Dreamselling, the first two are theatrical plays and the third a poetry collection, so
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I will not discuss them, since they have different subjects. In 2014, two more books were published: the first, Postmodern Love, is a collection of three essays, two of them written by two other writers; in my essay I discuss the work of Michel Houellebecq. The subject is »The end of love in Houellebecq’s work«, but it also focuses on other dystopian aspects and perspectives of the contemporary and future world. Besides, Europe’s leading contemporary author has written futuristic novels, and the challenges that come from the impact of technoscience on everyday life, as well as the mechanization and even the extinction of our species, are among his favorite subjects. The second book published in 2014 is called Digital Narcissus and includes 13 short stories about the harmonious symbiosis, and also the relentless struggle, among humans, animals and machines. For example: Why did philosophers like Descartes remove the soul from animals? How does a person with two parents feel when he meets people who, with biotechnological means, have many parents of different sexual and gender identity? How does a boy murder his brother while playing electronic games in the digital Garden of Eden without being able to distinguish between the real and the virtual world? What happens to a hyperrational clerk when he catches the dangerous disease of… poetry? How can death be surpassed by moving into a kind of deathlessness in cyberspace? (Here, Monad, from my first book, reappears as dead but digitally alive, something that I include again in following books.) What happens to a businessman dedicated to the electronic safety of companies? How an artificial intelligence writes a short story? And similar stuff. The title Digital Narcissus is of course a transportation of the famous ancient Greek mythical figure of Narcissus into our digital age to stress our uninhibited narcissism in the social media. In 2016, one more collective volume of essays on postmodernism was published, called Postmodern Body. My essay is about cyberpunk, one of the most eccentric and interesting literary subgenres of the last decades. In particular, I have analyzed three books: Neuromancer by William Gibson, Snow Crash by Neal Stephenson and Ready Player One by Ernest Cline, showing how science fiction, when it is also good literature, can reveal to us aspects of the future that otherwise would be hidden. My next book (Charles Bukowski, cynic Dog, 2018) is not of interest for this presentation, and I just mention it because I like to combine aspects of the ancient Greek spirit with the modern Zeitgeist (I see Bukowski as a modern-day Diogenes, a guy both cynical and humane). I do the same in my most recent work, the novel Blood Machine, published in 2019. Here I have transferred the mythical family of the Aeschylean Oresteia, as we also know it by the other two great tragic poets of classical Athens, Sophocles and Euripides, in a future world. After the end of two more world wars (the one because of overpopulation, the other because of global warming), human beings have been transmutated to men-machines, living below Earth so as to avoid overheating, and all the people that haven’t been mechanized remain humans and suffer on the surface of the planet. It is a story of love and revenge, its
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integral themes being the struggle for power in the political and scientific sphere, the construction of perfect beings (bioangels), cloning etc. At the same time I use challenging narrative methods, such as introducing whole essays, alternative ends, inciting the reader to fill in or even change the plot etc. Apart from my nine books, I have translated books into Greek for the last 15 years. In relation to the topics that we are discussing, I have translated The New Utopia (1891) by Jerome Jerome, a satirical novella about a totally equated utopia which in fact proves to be a dystopian society, The Machine Stops (1909) by E.M. Forster, the first literary work that shows the coming of the internet and how it transforms human communication, six books by English philosopher John Gray, frequently concerned with the future of the human animal, and The Collapse of Western Civilization by scientists Naomi Oreskes and Erik Conway, about climate change. Regarding contemporary authors that I consider great on these topics, I would like to include, apart from Houellebecq, Pynchon, Atwood, de Lillo, Ted Chiang, Victor Pelevin, and David Mitchell. These authors are usually classified as mainstream; there are more form the SF scene (I have already mentioned three of them), and there are also books of social SF or speculative fiction, somewhere between mainstream literature and SF – bear in mind that these terms are not, and have never been, objective and must not be viewed as defining. Absolutely important for the challenges of our era are, in my opinion, earlier authors of the 20th century, such as Samuel Butler (19th -20th c.), Wells, Zamiatin, Stapledon, Asimov, Bradbury, Lem, Herbert, Dick, Le Guin, and Ballard. Before I close my speech, I would like to express a general view of mine, in an era where everything tends to be politicized: The author is not a politician, nor a judge, nor an activist, nor an instructor. When authors deal with the most crucial aspects of the human condition – and that’s exactly what poets, prose writers, playwrights, artists in general have done from ancient ages on –, they have to feel, think, understand, and show with their work, but not impose themselves or preach. The world is changing dramatically every day, but life still has permanent elements, constants (otherwise Homer would not still be, after almost three thousand years, the greatest poet of Western civilization), and the author is asked to compromise, by aesthetic means, two apparent opposites: the change within the recurrence of the same. The author is a signal of light, sometimes a signal of darkness, but leaves to the readers’ discretion whether, in what way and how much they will follow the signals sent. Thank you.
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3. Tsimaras Tzanatos: Zu »Fräulein Unglück« Tsimaras Tzanatos wurde in Athen geboren und lebte dort bis zu seinem Tod im September 2022. Er studierte Filmregie, Theater und Kunstgeschichte. Als Dramatiker trat er 2004 mit dem Text »Exodus« und 2009 mit »Zusammen nie« (nach dem Film Gegen die Wand von Fatih Akin) in Erscheinung. Im Dezember 2013 ist in Kontakt mit Gefangenen des Korydallos-Gefängnisses in Athen sein Theaterstück »K« entstanden, das von den Gefangenen selbst im Gefängnis aufgeführt wurde. Im Jahr 2014 wurde »Fräulein Unglück« als Erzählung veröffentlicht. 2018 wurde »Fräulein Unglück« auf dem Theater präsentiert und mit dem »Karolos Koun«-Preis für Dramatik 2018 für griechisches Drama ausgezeichnet. Das Stück wurde unter dem Titel »Signorina Infelicita« auf dem Theaterfestival Neapel 2019 in Italien aufgeführt. 2017 wurde sein Stück »Kostas Nouros: zweimal Fremder«, eine musikalische Biografie, beim Stadttheater Piräus aufgeführt, und anschließend in authentischen Tavernen von Piräus.
Die Erzählung »Fräulein Unglück« (Δεσποινίς Δυστυχία, 2012) ist kein Lebensausschnitt, sondern die Chronik eines Lebens. Die Chronik vom Ende des Lebens. Die Aufzeichnung einer Reihe von Lebensfragmenten. Das ist die Struktur der Erzählung. Es handelt sich um einen kompakten Roman über die Begegnung des Menschen mit dem Ende. Ende ist, was zusammenbricht. Immer wieder bricht die Welt zusammen. Genauso wie die menschlichen Wesen. Manchmal verstehen wir es, manchmal auch nicht. In beiden Fällen gehen wir einfach darüber hinweg und leben weiter. Doch in allen diesen Fällen wissen wir nie, ob das, was zusammenbrach, unsere Welt oder die Welt überhaupt ist… »Gesellschaft« und »Kultur« sind das, was der Mensch geschaffen hat, damit er seine eigene bedrohliche Natur nicht sehen muss. Um den Schwindel zu vermeiden, der durch den Anblick der ihm innewohnenden Leere verursacht wird. Dies erzählt »Fräulein Unglück« durch die dunkel leuchtende Maske des Unglücks, die die Zweideutigkeit des Lebens aufzeigen will. Und das bringt sie mit einem Satz auf den Punkt: »Ich bin nicht die Ursache. Ich bin das Ergebnis.« Der Schriftsteller und Dichter Giorgos Chimonas sagte: »Wenn die Wissenschaft der Versuch des Menschen ist, die Welt zu verstehen, dann ist die Kunst der Versuch der Welt, den Menschen zu verstehen.« Dies war schon immer ein Lebensmotto für mich. Und es ist mein Lebensanspruch, die Spuren des Lebens, die der Mensch in seiner Epoche hinterlässt, niederzuschreiben. Daher vertrete ich die Meinung, dass jedes Werk über seine Epoche sprechen soll, in der Sprache dieser Epoche. Wir haben unsere Existenz einem glücklichen Umstand des Universums zu verdanken, einem glücklichen, aber auch
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verdammten. Das ist unsere Tragödie. Aber auch die Definition der Tragödie: Unsere Gefangenschaft in einer Welt, über die wir keine Kontrolle haben. Unser einziger Ausweg ist, dies zu akzeptieren und das große Ganze zu sehen, das uns beinhaltet. Oder wie es in »Fräulein Unglück« als Motto oder als Prophezeiung heißt: »Εs kommen schwierige Zeiten auf uns zu, ihr verdammten Arschlöcher.« (Übersetzung aus dem Griechischen Konstantina Tsonaka und Erika Theochari)
4. Vangelis Iliopoulos: Kinderliteratur und Ökologie Vangelis Iliopoulos wurde 1964 in Athen geboren. Er studierte Pädagogik und Theologie an der Universität Athen. Seit 1984 ist er im Bereich der privaten Grundschulbildung tätig. Das Abenteuer der zerknitterten Socke (Η περιπέτεια της ζαρωμένης κάλτσας, 1995) ist sein erstes Kinderbuch, bekannt wurde er jedoch durch sein zweites mit dem Titel Der kleine Dreiecksfisch (Ο Τριγωνοψαρούλης, 1997). Dieser ungewöhnliche Fisch ist zu einem berühmten Helden der zeitgenössischen griechischen Kinderliteratur geworden. Seitdem hat Vangelis Iliopoulos eine große Anzahl von Kinder- und Jugendbüchern verfasst. Viele von ihnen wurden übersetzt und in Ländern wie Irland, Deutschland, Italien, Spanien, Serbien, Malaysia, Korea und China veröffentlicht. Viele Bücher von Vangelis Iliopoulos wurden ausgezeichnet, wie z.B. sein Jugendroman Thomas Qbit: Ein Reisender durch den Spiegel der Zeit (Θωμάς Qbit: Ταξιδιώτης στο κάτοπτρο του χρόνου, 2017), der den Staatspreis für Griechische Jugendliteratur 2018 gewann. Außerdem wurde er für den Astrid Lindgren Memorial Award und für den H.C. Andersen Award 2018 nominiert. Warum jetzt? »Die Menschheit schafft es nicht, die Klimakrise zu stoppen. Jetzt ist die Situation nicht bloß dringend: der Planet schreit nach Hilfe«, sagt Greta Thunberg in ihrem Appell im Vorfeld der UN-Klimakonferenz COP26 und fährt fort: »Zurzeit diskutieren die Staats- und Regierungschefs der Welt auf einem historischen Gipfel über das Klima, aber Zusagen ohne echte Maßnahmen reichen nicht mehr aus.« Während der Klimawandel unseren Planeten bedroht, richten sich alle Hoffnungen auf die UN-Klimakonferenz COP26 (26th UN Climate Change Conference of the Parties), die im schottischen Glasgow begonnen hat und als letzte Hoffnung gilt, um das Schlimmste zu verhindern. Rund 20.000 Vertreter aus 195 Ländern wollen unter anderem versuchen, wichtige Meinungsverschiedenheiten darüber auszuräumen, wie der Planet seine Treibhausgasemissionen reduzieren kann, um das Ziel des Pariser Abkommens von 2015 (COP21) zu erreichen, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur bis 2050 auf 1,5 °C zu begrenzen.
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Kann man mit den Kindern über all das sprechen? Und wie? Man kann nicht nur, man muss es sogar, würde ich sagen. Der Planet gehört den Kindern, seine Zukunft ist auch die Zukunft unserer Kinder. Aber wie können sie denn so schwierige Begriffe erfassen? Mithilfe von Märchen, die sich mit ihrer symbolischen und allegorischen Funktion an das Gefühl wenden. Die Kinder werden sich mit den Figuren identifizieren, genauso wie bei den klassischen Märchen, sie werden die Fehler der Erwachsenen kritisieren und selbst handeln. Der Klimawandel mag für sie in seiner geophysikalischen Realität schwer zu erfassen sein, aber in ihrem Alltag sind sie mit seinen Folgen schon längst vertraut. Welche Rolle spielt nun die Literatur? Sie wird zur Brücke zwischen dem Erlebten und der Erkenntnis, der Einsicht und dem Umgang mit dem Phänomen bzw. der Reaktion darauf. Das Kind erkennt das Phänomen und liest, wie andere Menschen es erlebt haben und wie sie damit umgehen, genauso wie das Kind selbst. Es erkennt das Phänomen an den Folgen in seinem eigenen Alltag. Es versteht die Gründe dahinter, beurteilt Verhaltensweisen, erkennt Fehler und deren Ursachen. Wenn sie es auch vereinfacht ausdrückt, scheut sich die Literatur für Kinder nie davor, die Missstände und die Strategien zu thematisieren, die zur heutigen Situation geführt haben. Literatur für Kinder sollte meines Erachtens oft sogar mutiger als Literatur für Erwachsene sein. An diesem Punkt möchte ich betonen, dass Zuversicht – die Hoffnung auf eine bessere Zukunft – ein Bestandteil der Literatur für Kinder sein muss. Wir dürfen die Kinder nicht enttäuscht mit dem Problem allein lassen. Wir müssen sie davon überzeugen, dass sie es bewältigen können, und ihnen auch Lösungen vorschlagen. Eine bessere Zukunft stellt für Kinder sowohl eine Herausforderung als auch eine Möglichkeit dar, und sie müssen sich auch dafür engagieren, um ihre Vorstellung davon zu verwirklichen. Genau das schlagen wir Kinderbuchautoren ihnen vor. Die klassische Märchenfigur wird am Ende Sieger und stellt die verlorene Harmonie wieder her. Kinder müssen die verlorene Harmonie der Natur selbst wiederherstellen. Ein Kinderbuchautor muss seine Fühler immer ausstrecken, um die Themen zu erfassen, mit denen sich Kinder in Zukunft als Erwachsene auseinandersetzen werden, und der Umweltschutz gehört zweifellos dazu. Aus dieser Überzeugung ist meine Kinderbuchreihe mit dem Titel Ökologeme entstanden. Die Reihe umfasst sieben Geschichten für Kinder – eine achte ist nun im Erscheinen –, welche die Kinder in die wichtigsten Umweltschutzthemen einführen, sie zum Handeln motivieren, kleine Änderungen im Alltag vorschlagen und umweltfreundliche Einstellungen, Verhaltensweisen und das Umweltbewusstsein fördern. Den Anlass zu der ersten Geschichte – die mit der Amsel im verbrannten Wald – bot der große Waldbrand auf dem Berg Pendeli 2003. Von der Klinik aus, in der gerade mein Sohn geboren worden war, beobachtete ich den Brand und dachte über die Verantwortung nach, die unsere eigene Generation den nächsten gegenüber hat. Später ist mir klar geworden, dass wir Kindern oft nur ein bruchstückhaftes Bild des
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Problems vorstellen, wenn wir ein Thema ansprechen. Aber ein Kind sollte eigentlich Probleme umfassend und vollständig betrachten können. Dadurch sind die folgenden sieben Geschichten entstanden: • • • • • • • •
Die Amsel fordert, dass der Wald gerettet wird (Aufforstung) Das Mittelmeer bin ich und ich bin nicht mehr da (Verschmutzung der Meere) Kinder in Aktion! Es ist an der Zeit, die Erde zu retten (Klimawandel) Wie soll die kleine Meerjungfrau auf der Müllinsel leben? (Abfallwirtschaft) Der neugierige Blitz löst das Energieproblem (»Sanfte« und alternative Energieformen) Mit meinem Fahrrad besiege ich das Auto (Umweltfreundliche Lebensweise – Radfahren) Die Vogelscheuche namens Kunterbunt und der alte gute Samen (Saatguterhaltung). Die achte Geschichte mit dem Titel Bouloubinos sagt dem Parlament, »das Zuhause aller ist die Erde« (Verwaltung des Planeten) wird gerade illustriert.
Unter den behandelten Themen gibt es einige, die unmittelbar zum Alltagswissen der Kinder gehören, z.B. die Abfallwirtschaft. Mit anderen Themen, z.B. dem Klimawandel, sind sie zwar vielleicht noch nicht ganz vertraut, aber sie müssen darüber informiert werden. Ich wollte die Bücher jedoch nicht mit trockenem Wissen füllen. Die Bücher wenden sich an Kinder zwischen 5 und 10 Jahren, und bei dieser Altersgruppe wendet man sich vorwiegend an das Gefühl und an das schon Erlebte. Die kleinen Leserinnen und Leser werden weiterführende Informationen und wissenschaftliche Erkenntnisse zu den angesprochenen Themen sowieso selbst finden, wenn es sie interessiert. Nach all den Jahren, in denen diese Bücher unter anderem auch in Schulen und Bibliotheken gelesen und sowohl in Theatern als auch in Schulen aufgeführt werden, nach all den Jahren, in denen die darin enthaltenen Lieder gesungen werden, ist mir bewusst geworden, wie sehr sich Kinder für Umweltschutzthemen interessieren. Dieses Jahr ist im allgemeinen Lehrplan für Grundschulen in Griechenland die Lehreinheit »Ich sorge für die Umwelt« im Rahmen der Workshops für Kompetenzförderung eingeführt worden. Die Grundschulpädagogen haben in diesem Zusammenhang nach Materialien zur Förderung des Umweltbewusstseins recherchiert und fanden sie vorwiegend in der Literatur statt in den rein informativen Texten.
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5. Dinos Siotis Ntinos Siotis wurde 1944 auf Tinos geboren. Er studierte Jura an der Universität Athen und Vergleichende Literaturwissenschaft an der San Francisco State University. Er lebte von 1971 bis 1989 in den USA und von 1997 bis 2004 in Kanada. Von Beruf war er Journalist und Medienberater der griechischen Botschaft in Ottawa und in den griechischen Konsulaten in San Francisco, New York und Boston. Von 1979 bis 2009 arbeitete er mit der bekannten Sonntagszeitung Το Βήμα της Κυριακής zusammen, in der er zahlreiche Kritiken und Artikel veröffentlichte. Er hat 13 politische und literarische Zeitschriften herausgegeben, 6 Gedichtsammlungen, einen Roman, eine Novelle und einen Band mit Erzählungen. Seine Gedichte sind in zehn Sprachen übersetzt worden. Seit Frühjahr 2005 ist er Herausgeber der Zeitschrift Poetix und seit Januar 2005 auch der Zeitschrift Tranz.ito. Im Jahr 2007 wurde ihm für seine Gedichtsammlung »Autobiografie eines Zwecks« der Staatspreis für Dichtung verliehen.
Brandstifter (I)1 Feuer entwerfen die neue Ära dem Wind ist kalt auf den verbrannten Bäumen Wracks von Büschen bluten auf schwarzen Steinen Brandstifter machen ihren Job gut während Politiker mit ihren starken Händen überall Aufforstung versprechen gestern wieder Ich begegnete zum ersten Mal meiner hieroglyphischen Zukunft blass war sie und dünn und ängstlich und sie kaute erblindetes Gras (Tinos, 2007; aus dem Griechischen von Filareti Karkalia)
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Beide Gedichte von Dinos Siotis stammen aus seiner Sammlung Ποιήματα πυρκαγιάς. Athen: Τυπωθήτω/Δαρδανός 2007.
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Ich befürchte Ich befürchte dass alles was vergangen ist unbeweint bleiben wird Und dass der See ohne Wasser bleiben wird ohne Mütter mit Badeanzügen und ohne Kinder die früh am Morgen fischen das große Übel kam und ging, indem es Wälder verbrannte und Maisfelder die Wut der Flammen hat nichts unverbrannt gelassen und alles ist verworren und enttäuschend in der Vorbereitung der vollständigen Auslieferung der Destruierung der Natur die Wurzeln sind verloren in dürrer Erde die Politiker gefangen in ihrer Gleichgültigkeit die Schnittwunden nehmen Klaglos die Erniedrigung des Windes hin (Tinos, 2007; aus dem Griechischen von Panagiota Kalogera)
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Autorinnen und Autoren
apl. Prof. Dr. Monika Albrecht lehrt Kulturwissenschaften an der Universität Vechta. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen kritischer und vergleichender Postkolonialismus, Memory Studies und Erinnerungspolitik, Transkulturalität und Migration, Gender und Diversity sowie der deutschsprachigen Kultur und Literatur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Letzte Veröffentlichungen: »Critical Post-Colonial Studies: Opening Up the Post-Colonial to a Broader Geopolitical View«. In: Oxford Research Encyclopedia of Literature. Oxford University Press, 2021 (doi.org/10.1093/acrefore/9780190201098.013.1283); Postcolonialism Cross-Examined: Multidirectional Perspectives on Imperial and Colonial Pasts and the Neocolonial Present, Routledge 2019; Europas südliche Ränder. Interdisziplinäre Perspektiven auf Asymmetrien, Hierarchien und Postkolonialismus-Verlierer (Hg.), transcript 2020. BachmannHandbuch. Leben – Werk – Wirkung (Hg. mit Dirk Göttsche), Metzler 2020. Prof. Dr. Anastasia Antonopoulou ist Professorin für Deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Vergleichende Literaturwissenschaft (mit besonderem Schwerpunkt in den deutsch-griechischen Literaturbeziehungen sowie in den intermedialen Beziehungen), Gender Studies und Übersetzung literarischer Texte. Letzte Veröffentlichung: Literarische Ägäis. Ein Kulturraum zwischen Mythos und Geschichte (Hg.), transcript 2021. Elli Carrano promoviert in Germanistik an der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen mit einer Dissertation im Rahmen der Kulturwissenschaften. Ihren Forschungsschwerpunkt bilden die Zeitstrukturen der Gegenwart in Verbindung zur Generationenforschung auf der Grundlage des zeitgenössischen vergleichenden literaturwissenschaftlichen Diskurses zwischen Deutschland und Südeuropa. Die Flexibilisierung des freien Marktes, die Globalisierung und die Eurokrise gehören ebenso zu ihren Forschungsinteressen. Darüber hinaus hat sie sich für längere
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Anthropogene Klima- und Umweltkrisen
Zeit mit den Gender Studies vom Protofeminismus bis heute befasst. Unter ihren Veröffentlichungen: »›Somos la generación cero‹«. Die literarische Codierung der Krise in Gabriele Santonis Aut-Aut und Anna-Katharina Hahns Das Kleid meiner Mutter. In: Meinecke, Eva-Tabea/Meyer, Anne-Rose/Neu-Wendel, Stephanie/Spedicato, Eugenio (Hg.): Aufgeschlossene Beziehungen. Italien und Deutschland im transkulturellen Dialog. Literatur, Film, Medien, Königshausen & Neumann 2019, 207–224. Dr. phil. Manuel Clemens studierte Kulturwissenschaften und Philosophie in Frankfurt (Oder) und Paris. In den USA promovierte er über den Begriff der Bildung und unterrichtet nach mehreren Station als Dozent an verschiedenen Universitäten in den USA, Mexiko und Australien in den Kulturwissenschaften in Vechta. Seine Forschungsschwerpunkte sind Romane und Theorien der Bildung, autoritäre und anti-autoritäre Subjektformationen, die Frankfurter Schule, Kulturtheorie und das Zeitalter der Aufklärung. Wichtige Publikationen sind eine Monographie zum Thema Bildung mit dem Titel »Das Labyrinth der ästhetischen Einsamkeit. Eine kleine Theorie der Bildung«. Gegenwärtig schließt er gerade ein Buch zum autoritären Charakter der Frankfurter Schule ab mit dem Titel »Politische Unmittelbarkeit. Der autoritäre und der anti-autoritäre Charakter«. Prof. Dr. Titika Dimitroulia ist Professorin im Fachbereich für Französische Sprache und Literatur an der Aristoteles Universität Thessaloniki, Übersetzerin und Literaturkritikerin. Sie hat Klassische Philologie, Neogräzistik, Romanistik und Übersetzung in Athen (Nationale und Kapodistrias – Universität) und in Paris (Sorbonne-Paris IV) studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Vergleichende Literaturwissenschaft, Theorie und Praxis der Übersetzung und Digital Humanities. Sie hat zahlreiche Monographien und Aufsätze zu den oben genannten Themenbereichen veröffentlicht. Ihr letztes Buch: Μετάφραση και μνήμη. Η μετάφραση ως μνήμη και η μνήμη στη μετάφραση, Athen 2021 (Übersetzung und Gedächtnis. Die Übersetzung als Gedächtnis und das Gedächtnis in der Übersetzung). Prof. Dr. Michael Hofmann ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Paderborn. Nach einem Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Bonn und Poitiers Promotion mit einer Dissertation über Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« (1990), Habilitation mit einer Studie zu Wielands Versepik (1997). Lehrtätigkeit u.a. in Nancy, Bonn, Lüttich, Istanbul, Tunis, Izmir, Havanna. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Aufklärung; Weimarer Klassik; Interkulturelle Literaturwissenschaft; deutsche Orient-Rezeption; Literatur nach Auschwitz; deutsch-türkische Literatur und Kultur, kritische Literaturdidaktik. Letzte Veröffentlichungen: Grundlagen einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturdidaktik (Hg. mit Sigrid Thielking, erscheint 2022); Der Flüchtling im globalen Nomadismus. Literatur-, medien- und kulturwissenschaftliche
Autorinnen und Autoren
Annäherungen (Hg. mit Jean Bertrand Miguoué und Miriam Esau unter Mitarbeit von Katharina Gabriel, erscheint 2022). Sofia Kokkini ist PhD-Kandidatin bei der Abteilung für deutsche Sprache und Philologie an der Aristoteles Universität von Thessaloniki. Ihr Dissertationsthema lautet »Szenarien für eine bessere Welt? Gesellschaftsentwürfe in der postapokalyptischen Literatur der Gegenwart.« Sie hat Anglistik und Germanistik studiert und jetzt studiert sie Politikwissenschaften. Ihre Forschungsinteressen beziehen sich auf die deutsche Romantik, die Ökokritik, die Ökologie bzw. die Öko-Dystopien, wie auch auf Fragen der Komparatistik in der europäischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Letzte Veröffentlichung: Resakralisierung der Natur im 21. Jahrhundert. Eine Studie zur Entwicklung der Naturauffassung seit der Romantik, Diplomica Verlag 2020. Dr. phil. Nikos Koskinas ist Assistenzprofessor für Neuere Deutsche Literatur am Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen. Er studierte Germanistik an der Universität Athen und promovierte an der Humboldt Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, zeitgenössisches deutsches Drama, Erinnerungskulturen und postmigrantische Literatur. Letzte Publikation: »Theater als ›bürgerlicher Totentanz‹? Erinnernde Vergangenheitsaufarbeitung in Rolf Hochhuths Der Stellvertreter und Thomas Bernhards Vor dem Ruhestand“. In: Szybisty, Tomasz und Joanna Godlewicz-Adamiec (Hg.): Literatura a polityka. Literatur und Politik, Warschau: Wydawnictwa Uniwersytetu Warszawskiego, 273–286. Dr. phil. Iordanis Koumasidis lehrt seit 2015 an der Universität Athen, der Griechischen Fern-Universität und der Universität von Westmazedonien. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen politische Philosophie und Kunstphilosophie, Literaturtheorie, kreatives Schreiben, Kulturwissenschaften, soziale und psychoanalytische Theorie. Außerdem ist er Übersetzer und Buchrezensent. Er hat vier Bücher veröffentlicht. Aus seinen Veröffentlichungen: Jean-Luc Godard – Η ελεγεία του έρωτα. Μια φιλοσοφική ανάγνωση, Athen, 2013 (Jean-Luc Godard – Die Elegie der Liebe. Eine philosophische Annäherung). Dr. Dr. Oliver Kozlarek (Dr. phil., Dr. en Humanidades), Profesor Titular an der Philosophischen Fakultät der Universidad Michoacana de San Nicolás de Hidalgo in Morelia, Mexiko. Von 2017 bis 2022 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Vechta tätig. Er war Visiting Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, an der New School for Social Research und der Stanford University. 2015 war er Edmundo O’Gorman Fellow an der Columbia University. Ausgewählte Veröffentlichungen: Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der
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Anthropogene Klima- und Umweltkrisen
globalen Moderne (transcript: 2011), Shaping a Humane World. Civilizations, Axial Times, Modernities, Humanisms (transcript 2012) (mit Jörn Rüsen und Ernst Wolff); Multiple Experiences of Modernity (Vandenhoeck & Ruprecht 2014), Postcolonial Reconstruction: A Sociological Reading of Octavio Paz (Springer 2016); Vielfalt und Einheit der Kritischen Theorie – Kulturwissenschaftliche Perspektiven (Springer 2020). Dr. Jonas Nesselhauf, geboren 1987 in Baden-Baden. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie der Kunstgeschichte. 2016 Promotion mit einer komparatistischen Arbeit zur Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Seit 2019 Juniorprofessor an der Fachrichtung Kunst- und Kulturwissenschaften der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Mediale Repräsentationen des Anthropozän, Kultur/en und Körperlichkeit/en, Gender Media Studies. Neuere Veröffentlichungen: Repräsentationsweisen des Anthropozän in Literatur und Medien/Representations of the Anthropocene in Literature and Media (Hg., mit G. Dürbeck, 2019); »Zur lyrischen Inszenierung ›natürlicher Heimat‹ — Der Blick auf den ›Heimatplaneten‹ in Durs Grünbeins Gedicht ›Tacchini‹ (2014)«. Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 5.1 (2020). Dr. phil. Kosmas Raspitsos wurde 1976 in Salamis (Griechenland) geboren. Nach einem Studium der Germanistik, Übersetzungswissenschaft und Philosophie in Athen, Berlin und Freiburg i.Br. promovierte er als Graduierten-Stipendiat der Friedrich Ebert Stiftung über Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer in Freiburg i.Br. 2016–2018 war er Lehrbeauftragter an der Universität Athen, Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur. Seit 2019 lehrt er Philosophie an der Universität Patras in Griechenland. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Hermeneutik, Sprachphilosophie, deutsch-griechische kulturelle Beziehungen, Philosophie der Religion. Letzte Publikationen: Martin Heidegger, Überlieferte Sprache und technische Sprache. Perispomeni Verlag Athen (Übersetzung ins Griechische, erscheint 2022). Epiphanie der Wahrheit in der Ägäis. Zu Martin Heideggers Griechenlandreisen In: Antonopoulou, Anastasia (Hg.), Literarische Ägäis. Ein Kulturraum zwischen Mythos und Geschichte, transcript 2021. Dr. phil. Georgios Sagriotis ist Assistenzprofessor für Philosophie der Neuzeit an der Universität Patras. Er hat an der Panteion Universität Athen Soziologie studiert und wurde dort mit einer Arbeit über Thomas Hobbes promoviert. Er war Postdoktorand an der Goethe Universität Frankfurt, Visiting Scholar an der Brown University in Rhode Island und Mitarbeiter am Lehrstuhl für neuere deutsche Literatur an der Universität Osnabrück. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören: klassische deutsche Philosophie, Philosophie und Literatur der Romantik, Kritische Theorie des 20. Jahrhunderts.
Autorinnen und Autoren
Dr. phil. Konstantina Tsonaka hat Pädagogik und Germanistik an der Universität Athen studiert, wo sie auch zum Thema »Prünhild, Brunnhild, Brünnhilde: Fremdheit und Androgynie im Lichte der Metamorphose der Figur Brunhildes in Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts« promoviert hat. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts, die Gender Studies, die Komparatistik, die Literaturdidaktik und die Übersetzung deutscher Literatur ins Griechische. Letzte Veröffentlichung: »Und zwischen unseren Herzen lag das Meer. Emanuel Geibels und Ernst Curtius’ gemeinsame Ägäis-Reise«. In: Anastasia Antonopoulou (Hg.): Literarische Ägäis. Ein Kulturraum zwischen Mythos und Geschichte, transcript 2021.
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Literaturwissenschaft Julika Griem
Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 2021, 128 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2
Klaus Benesch
Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter 2021, 96 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2
Werner Sollors
Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Renate Lachmann
Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic Februar 2022, 478 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-6118-7 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6118-1
Achim Geisenhanslüke
Der feste Buchstabe Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur 2021, 238 S., kart. 38,00 € (DE), 978-3-8376-5506-3 E-Book: PDF: 37,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5506-7
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12. Jahrgang, 2021, Heft 2: Zeit(en) des Anderen Januar 2022, 218 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-5396-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5396-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de